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Braune Karrieren Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus HERAUSGEGEBEN VON CHRISTINE PIEPER · MIKE SCHMEITZNER · GERHARD NASER

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Braune Karrieren Dresdner Täter und Akteure im NationalsozialismusH e r a u s g e g e b e n v o n C H r i s t i n e P i e P e r · M i k e   s C H M e i t z n e r · g e r H a r d n a s e r

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Braune KarrierenBraune Karrieren Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus

H e r au s g e g e b e n vo n C H r i st i n e P i e P e r · M i k e s C H M e i t z n e r · g e r H a r d n a s e r

Sa n d St e i n V e r l ag

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InhaltInhalt

Vorwort und EinleitungVorwort und Einleitung

9 d i r k H i l b e rt

Grußwort

10 C H r i st i n e P i e P e r M i k e   s C H M e i tz n e r g e r H a r d n a s e r

Vorwort

13 C H r i st i n e P i e P e r M i k e s C H M e i tz n e r

Täter und Akteure im Nationalsozialismus Ein forschungsgeschichtlicher Überblick

Partei und VerwaltungPartei und Verwaltung

22 M i k e s C H M e i tz n e r

Martin Mutschmann und Manfred von Killinger Die »Führer der Provinz«

32 C H r i st i n e P i e P e r M i k e s C H M e i tz n e r

Karl Fritsch Stellvertretender Gauleiter und sächsischer Innenminister

41 C H r i st e l H e r Ma n n

Ernst Zörner, Hans Nieland und Eduard Bührer, Rudolf Kluge Oberbürgermeister und ihre Stellvertreter

51 a n n e kat r i n Ja H n

Cuno Meyer und Hellmut Walter Dresdens NSDAP-Kreisleiter

SA, SS, GestapoSA, SS, Gestapo

60 C H r i st i n e P i e P e r

Georg von Detten und Hans Hayn Die sächsischen SA-Gruppenführer und der »Röhm-Putsch«

66 s i e g f r i e d g r u n dMa n n

Arno Weser Der »Spucker«, aber auch Schläger

72 i r i n a s ut t n e r g u n da u l b r i C H t

Henry Schmidt Leiter des Judendezernats der Dresdner Gestapo

78 Ca r st e n s C H r e i b e r

Die Führer des Sicherheitsdienstes (SD) in Dresden

Verräter, Denunzianten, Verräter, Denunzianten, ÜberläuferÜberläufer

86 M i k e s C H M e i tz n e r

Arthur Kunze Die (un)freiwillige »Karriere« des SPD-Überläufers

94 Ca r st e n vo i gt

Kurt Sindermann Als kommunistischer V-Mann in den Fängen der Dresdner Gestapo

99 g e ra l d H aC k e

Hans Müller Der Dresdner Bibelforscher als Spitzel in höchsten Funktionen

JustizJustiz

106 Wo l f ga n g H oWa l d

Otto Georg Thierack Hitlers willfähriger Justizminister

1 15 b i r g i t saC k

Heinrich von Zeschau Ankläger beim Volksgerichtshof

120 g e ra l d H aC k e

Heinz Jung Sachsens Generalstaatsanwalt

128 C l au d i a ba d e

Alfred Häbler, Günther Jahn und Rudolf Fehrmann Heeresrichter und die »Kriegsnotwendigkeiten«

RassenhygieneRassenhygiene

136 Ca r i s-P e t ra H e i d e l Mat t H i a s l i e n e rt

Ernst Philalethes Kuhn Die Etablierung der Rassenhygiene als akademisches Lehrfach an der TH Dresden

144 Ma r i n a l i e n e rt Ca r i s-P e t ra H e i d e l

Hermann Jensen und Alois Boehm Personelle Vorhut zur Umsetzung der »Neuen Deutschen Heilkunde« am Johannstädter Stadtkrankenhaus Dresden

Fachleute der VernichtungFachleute der Vernichtung

154 b o r i s b ö H M

Alfred Fernholz Ein Schreibtischtäter im Dienste der »Volksgesundheit«

162 b i r g i t tö P o lt

Heinrich Eufinger Chefarzt der Frauenklinik Dresden-Friedrichstadt und Mitver-antwortlicher an der Zwangs- sterilisierung Dresdner Frauen

168 J u l i u s s C H a r n e tz ky

Horst Schumann Ein aktiver Anhänger der national sozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik

172 J u l i u s s C H a r n e tz ky

Paul Rost und Helmut Fischer Von den Krankenmorden auf dem Sonnen stein zur Shoah in Polen und Italien

WirtschaftWirtschaft

180 t H oMa s g ro s C H e

Georg Lenk Wirtschaftsminister Sachsens

187 H ag e n Ma r kWa r dt

Georg Bellmann Hauptgeschäftsführer der IHK Dresden

193 t H oMa s g ro s C H e

Arthur Dressler Die Firma Sturm – Zigaretten für die SA

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Evangelische KircheEvangelische Kirche

202 g e r H a r d l i n d e Ma n n

Friedrich Coch Ein aktiver Parteigenosse als sächsischer Landesbischof

208 g e r H a r d l i n d e Ma n n

Johannes Klotsche Ein Vertrauensmann Mutschmanns an der Spitze der Landeskirche

214 g e r H a r d l i n d e Ma n n

Walter Grundmann »Chefideologe« der sächsischen Deutschen Christen

Wissenschaft und SchuleWissenschaft und Schule

222 ko n sta n t i n H e r Ma n n

Arthur Göpfert Zehn Jahre kommissarischer Leiter des Volksbildungsministeriums

228 k u rt r e i n s C H k e Mat t H i a s l i e n e rt M i k e s C H M e i tz n e r

Wilhelm Jost »Führer-Rektor« der TH Dresden

238 H a n ka b l e s s e

Die Anstaltsleiter der sächsischen Napola Dresden-Klotzsche

Kultur und KunstKultur und Kunst

248 t H oMa s s C H a a r s C H M i dt

Arthur Graefe »Der Sachsenmacher« und das »Heimatwerk Sachsen«

255 n o r b e rt H a a s e

Will Vesper Der Schriftsteller und die national-sozialistische Bücher verbrennung in Dresden

262 C H r i st i n e P i e P e r

Hans Posse Museumsdirektor und Kunsträuber Hitlers

270 kat H r i n i s e lt

Hermann Voss Direktor der Staatlichen Gemäldegalerie Dresden und Hitlers »Sonderbeauftragter für Linz«

ArchitekturArchitektur

280 C H r i st i n e P i e P e r

Wilhelm Kreis Hitlers »Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe«

288 C H r i st i n e P i e P e r

Martin Hammitzsch und Angela Raubal Die Halbschwester Hitlers und ihr Ehemann

Angehörige berichtenAngehörige berichten

298 H e l l a H o lst e n

Irma Händel Regimetreue zwischen Begeisterung und Besessenheit

NachworteNachworte

306 P e t e r g ro H Ma n n

An Morgen erinnern

308 H a n s-P e t e r lü H r

Was nicht aufhört weh zu tun…

AnhangAnhang

312 Personenregister 316 Abkürzungen 317 Dank

318 Autoren 319 Bildnachweis 320 Impressum

Inhalt

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Partei und Verwaltung

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22 Pa rt e i u n d V e rwa lt u n gPa rt e i u n d V e rwa lt u n g Ma rt i n M uts C H Ma n n u n d Ma n f r e d vo n k i l l i n g e r 23

Martin Mutschmann und Manfred von KillingerMartin Mutschmann und Manfred von Killinger Die »Führer der Provinz«Die »Führer der Provinz«M i k e s C H M e i tz n e r

Von »Lumpen« und »Ehrabschneidern« oder: NS-Führer vor dem Obersten NS-ParteigerichtEs war wohl eines der bemerkenswertesten Verfahren der nationalsozialistischen Parteige-schichte, das da 1936/37 verhandelt wurde: Vor dem Obersten Parteigericht (OPG) der NSDAP standen sich gleich zwei maßgebliche »Führer der Provinz«1 als Kläger und Beklagter gegenüber. Es handelte sich bei ihnen um keine Geringeren als den inzwischen mächtigsten Mann Sach-sens, Martin Mutschmann, der seit 1935 alle entscheidenden Partei- und Staatsfunktionen in Händen hielt (NS-Gauleiter, Reichsstatthalter, Ministerpräsident), und Manfred von Killinger, der im innerparteilichen Machtkampf mit Mutschmann sein Amt als Ministerpräsident verlo-ren hatte, aber als hoher SA-Führer und Reichstagsabgeordneter noch keineswegs als »Unper-son« bezeichnet werden konnte.

Den Stein ins Rollen gebracht hatte im Sommer 1936 der sächsische »Gaufürst«, der in sei-nem Antrag darum bat, »gegen Herrn von Killinger das Ausschlussverfahren aus der Partei einzuleiten«. Killinger habe Dritten gegenüber ihn – Mutschmann – als »Lump« und »Ehrab-schneider« bezeichnet und so seine »Ehre verletzt«.2 Was hier als bizarrer Streit um Worte be -gann, wuchs sich im Laufe des Parteiverfahrens zu handfesten Vorwürfen aus, die ein bezeich-nendes Licht auf den Charakter des Regimes und dessen Führer warf. Denn – anders als von Mutschmann vielleicht erwartet – begnügte sich Killinger nicht mit der Relativierung der von ihm erhobenen Vorwürfe. Er stellte beim OPG selbst den Antrag »auf Eröffnung eines Verfahrens […] gegen den Pg. Mutschmann mit dem Ziele denselben seiner Ämter zu entheben und ihn aus der Partei auszuschließen«. Als Gründe nannte er die »Beschimpfung und Verleumdung« seiner Person durch Mutschmann.3

Einmal in Fahrt, zögerte Killinger nicht, alle relevanten Belastungen gegen seinen Wider-sacher in Stellung zu bringen: Da war die Rede von brutalen Übergriffen im Landtag (März 1933), von Eigenmächtigkeiten und Enteignungen, von Morden an politischen Gegnern und nicht zuletzt von »schwersten Verfehlungen« der Wachmannschaften im KZ Hohnstein (1933/34).

Killinger machte Mutschmann persönlich verantwortlich für die dort erfolgte Folterung des vormaligen sozialdemokratischen Innenministers Hermann Liebmann, der seine früheren NS-kritischen Landtagsreden in Gegenwart Mutschmanns und »zum allgemeinem Gaudium« hatte verlesen müssen. Killingers Fazit war düster: »Der Nationalsozialismus wird nicht getragen von dem Vertrauen des Volkes, sondern stützt sich in Sachsen auf Furcht vor dem [Reichs-]Statthal-ter [Mutschmann].«4

Die Reaktion des Angegriffenen war bezeichnend genug: Zwar versuchten er und sein »Gau-beauftragter« viele Vorwürfe zu relativieren. Doch ließ er immer wieder durchblicken, dass er tatsächlich der Mann für die »härtere Gangart« war. Wie selbstverständlich ließ Mutschmann wissen, dass sogar Killingers Telefonanschlüsse durch die Gestapo überwacht worden waren, dass sich derselbe »schützend vor die gemaßregelten Juden stellte« und die von ihm (Mutsch-mann) geforderten »harten, notwendigen Maßnahmen« hintertrieb oder nur teilweise durch-führte. Seine Besuche im KZ Hohnstein bestätigte Mutschmann ebenso wie die Folterung des »SPD-Bonzen Liebmann«, wobei er davon abgeraten habe, »ihn weiter [!] zu misshandeln«. Seine Rechtfertigungsversuche machten nicht einmal vor dem Vorwurf des Lynchmordes halt. Wenn ein Renegat in der »Kampfzeit« der Bewegung in den Rücken falle, »dann ist er ein Todfeind der Bewegung und muss erwarten, dass die Bewegung ihn bei der Machtübernahme so behandelt, wie er es nach gesundem Volksempfinden verdient hat«. Killingers »Verleumdungen« erinner-ten ihn folgerichtig an das »Gehirn eines jüdisch-bolschewistischen Intellektuellen«.5

Wenn man einmal vom »Niveau« dieser OPG-»Verhandlungen« absieht, bleiben vor allem zwei Dinge erwähnenswert: einerseits die brutale Offenherzigkeit, mit der besonders Mutsch-mann seine Herrschaftspraxis zu legitimieren versuchte, andererseits die vorgebliche Milde, die sein Gegenspieler Killinger zu verströmen schien. Es wird im Folgenden zu klären sein, inwie-weit sich beide Protagonisten bei der Durchsetzung der Diktatur in den Vorgehensweisen und Methoden tatsächlich unterschieden. Das Verfahren, von dem bereits die Rede war, verlief indes im Sande, obwohl eine Klärung »im Interesse der Stellung der beiden Beteiligten und des Anse-hens der Partei« beim OPG erwünscht schien. Hitler selbst hatte jedoch mit der beruflichen Weglobung Killingers in den Auswärtigen Dienst des »Dritten Reiches« für eine ganz praktische Klärung der Fronten gesorgt. Wegen der nunmehrigen »räumlichen Entfernung« Killingers (er wurde Generalkonsul in San Francisco) musste das Verfahren Ende 1937 ausgesetzt werden.6

Karrierewege zweier RechtsextremistenDie Karrierewege der beiden Protagonisten sind inzwischen weitgehend bekannt.7 Beide ent-stammen derselben Alterskohorte und wurden spätestens während der Nachkriegskrise (1919 – 1923) politisch entscheidend geprägt. Von der sozialen Herkunft her unterschieden sie sich jedoch gravierend, wobei sie auch in dieser Hinsicht zwei verschiedene Rekrutierungsfelder des späteren NS-Führungskorps personifizierten. Während der 1879 geborene Mutschmann aus proletarisch-kleinbürgerlichen Verhältnissen kam und von Anfang an darauf bedacht war, sozial aufzusteigen, versuchte der 1886 geborene Killinger die prekäre landwirtschaftliche Welt des niederen Adels rasch hinter sich zu lassen. Auf die Fortführung des elterlichen Gutes bei Nossen legte er keinen Wert; vielmehr strebte er in jungen Jahren zum Militär. So absolvierte er eine Kadettenausbildung und wurde später Seekadett in der kaiserlichen deutschen Marine, dann – nach dem Besuch der Offiziersschule in Wilhelmshaven – Oberleutnant zur See auf Torpedoboo-ten und Kreuzern. Mutschmanns Karriere bewegte sich dagegen in bürgerlichen Bahnen: In der

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24 Pa rt e i u n d V e rwa lt u n gPa rt e i u n d V e rwa lt u n g Ma rt i n M uts C H Ma n n u n d Ma n f r e d vo n k i l l i n g e r 25

Killingers Wende zum Rechtsradikalismus vollzog sich direkt 1919: Durch das Kriegsende und die hierdurch bedingte Auslieferung der Kriegsflotte verlor der Torpedobootkommandant sein Schiff und jegliche beruflich-militärische Perspektive. Er, der – wie viele andere Offiziere – in den »roten« Kapitulanten die eigentlichen Hintermänner der Niederlage erblickte, heuerte bei der Marinebrigade Ehrhardt an, um sozialistisch-kommunistische Aufstände (wie im Früh-jahr 1919 in Bayern) mit militärischer Gewalt zu ersticken.10

Bevor sich die Wege beider Protagonisten kreuzten, hatten sie in unterschiedlichen Organi-sationen »erfolgreiche« rechtsradikale Karrieren verwirklicht: Der rhetorisch und intellektuell eher blasse Mutschmann setzte sich in der sächsischen NSDAP dank früher Verbindungen zu Hitler und finanzieller Ressourcen, durch brutalen Machtinstinkt und Organisationsgeschick rasch durch. 1925 bestätigte ihn Hitler als sächsischen Gauleiter der Partei, deren organisatorischen Auf- und Ausbau er weiterhin von Plauen aus betrieb, wo sich der Sitz der Gauleitung befand.11

Killinger war zu dieser Zeit als rechtsradikaler Terrorist schon einschlägig bekannt: Nach der erzwungenen Auflösung der Marinebrigade Ehrhardt hatte er zum harten Kern der illegal weiter existierenden Umsturzzelle gezählt, die jetzt als »Organisation Consul« (OC) traurige Berühmt-heit erlangte. Mit gezielten Attentaten auf Politiker der jungen Republik versuchte sie das ver-hasste politische System sturmreif zu schießen. Es war Killinger, der den Befehl zur Ermordung des bekannten demokratischen Politikers Matthias Erzberger gab;12 zwei Jahre später (1922) war er wiederum in das Attentat auf Reichsaußenminister Walter Rathenau verstrickt.

Doch eine nachhaltige juristische Aufklärung blieb aus: Eine aus der Kaiserzeit überkom-mene Justiz behandelte die Mörder zumeist als »Patrioten«, sodass auch Killinger für seine Taten nur für wenige Monate hinter Gefängnismauern kam. Als Landesleiter des Bundes Wiking, wie sich die OC nun nannte, organisierte er auch weiterhin paramilitärische Einheiten in Sachsen, Thüringen und Schlesien. Am 1. Mai 1928 trat er schließlich mit seinen Anhängern der NSDAP in Sachsen bei und avancierte hier zum hauptamtlichen SA-Führer. Entscheidende Gründe für diese Kräftebündelung dürften in dem sächsischen Verbot des Bundes Wiking (1927), seiner nachlassenden Attraktivität im rechtsradikalen Milieu und der Suche der in Sachsen noch kaum entfalteten SA nach geeigneten Führern und Anhängern gelegen haben.13

Macht und VerbrechenKillingers Entschluss, an hervorgehobener Position in die Bürgerkriegsarmee der NSDAP zu wech-seln, sollte sich – an der Schwelle zur Weltwirtschaftskrise – für ihn als glückliche Fügung erwei-sen: Noch Anfang 1929 stieg er zum Chef der sächsischen SA, 1931 zum Chef der SA-Gruppe Mitte und 1932 zum Inspekteur Ost der Obersten SA-Führung auf. Sein Einfluss als SA-Führer wuchs mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die sich rasch zur Staatskrise weitete. Die sprunghaft steigende Anhängerschar sicherte ihm aber auch innerparteilich eine immense Hausmacht, was bereits 1929 mit seiner Berufung zum Fraktionsführer der sächsischen NSDAP im Landtag zum Ausdruck kam. Mutschmann wiederum erblickte in dem SA-Führer einen »mächtigen Widersa-cher«, der seine unangefochtene innerparteiliche Stellung plötzlich zu beeinträchtigen schien.14

Was folgte, waren erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Partei- und SA-Führer, die sich – wie eingangs gesehen – bis weit über das Jahr 1933 hinaus fortsetzen sollten. Dessen ungeach-tet gelang es beiden NS-Organisationen auf verschiedene Weise, das einstmals »rote Sachsen« sukzessive in eine braune Hochburg zu verwandeln. Während den Nazis zuerst im sächsischen Südwesten (Plauen – Zwickau – Chemnitz) der Durchbruch glückte, vermochte das dichte Netz

aufstrebenden sächsischen Textilmetropole Plauen gelang es ihm nach dem Besuch der Bürger- und Handelsschule, sich als Stickermeister mit Ehrgeiz und Organisationsgeschick »emporzu-arbeiten«. Nach ersten Führungspositionen als Abteilungsleiter und Geschäftsführer in mittel-ständischen Unternehmen gründete er 1907 eine eigene Firma.8

Für die politische Sozialisierung und Radikalisierung beider Protagonisten erwiesen sich Krieg und Nachkrieg als entscheidende Zäsuren. Mutschmanns erste Berührungen mit dem völkischen Antisemitismus war möglicherweise noch früher, sah er doch seine wirtschaftliche Existenz schon vor dem Ersten Weltkrieg durch die in Plauen ansässige ostjüdische »Ramsch«-Konkurrenz bedroht. Während der Mobilmachungstage 1914 soll er beim ersten Pogrom gegen Plauener Juden selbst handgreiflich geworden sein. Der Kriegsausgang wie die vermeintliche Bedrohung durch eine angebliche jüdische Hochfinanz und eine vorerst triumphierende »jü -disch-marxistische« Arbeiterbewegung ließen ihn dann 1919 mit dem Eintritt in den »Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund« (DSTB) endgültig in die Reihen des organisierten deutschen Antisemitismus treten. Drei Jahre später verstärkte er bereits die junge NSDAP.9

das sächsische kabinett vom 6. Mai 1933 v. l.: georg thierack (Justiz), georg schmidt (arbeit und Wohlfahrt), rudolf kamps (finanzen), Manfred v. killinger (Ministerpräsident), Martin Mutschmann (reichsstatthalter), Wilhelm Hartnacke (volksbildung), karl fritsch (inneres), friedrich günther (Chef der staatskanzlei), georg lenk (Wirtschaft), Magnus Wilisch (Ministerialrat in der staatskanzlei)

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28 Pa rt e i u n d V e rwa lt u n gPa rt e i u n d V e rwa lt u n g Ma rt i n M uts C H Ma n n u n d Ma n f r e d vo n k i l l i n g e r 29

nicht vor Synagogen-Schändungen zurückgeschreckt war, betätigte sich fortlaufend als antise-mitischer Hassprediger. Kaum eine seiner Reden kam ohne stereotype verschwörungstheore-tische Plattitüden und Gewaltandrohungen aus. Den antisemitischen Boykott-Tag im April 1933 bezeichnete er als »Generalprobe« für Schlimmeres: »Das nächste Mal geht es nicht so gemütlich zu. […] Wenn man einen Feind schlägt, dann muss man ihn vernichten.«26 Im Gegensatz zu Killinger versuchte er von Anfang an und mit persönlichem Eifer die Existenzgrundlagen von Juden oder jüdisch herkünftigen Deutschen (wie Victor Klemperer und Georg Gradnauer) zu zerstören. Hasskampagnen zur »Entjudung« Dresdens führte er gemeinsam mit dem Juden-Hetzer Streicher durch, und noch 1944 drängte er den SS-Chef Heinrich Himmler, die »Endlö-sung« auch zu Ende zu bringen.27

Persönliche Willkür zeigte sich ebenso bei der Verfolgung und Demütigung von politischen und religiösen Gegnern: Über den Fall Liebmann hinaus sorgte er 1935 – im Gegensatz zur reichs-weiten Praxis – für die Überstellung von 19 Pfarrern der evangelischen Bekennenden Kirche ins KZ Sachsenburg. Die Geistlichen hatten sich in einer Kanzelabkündigung gegen die germanisch-religiöse Deutsche Glaubensbewegung gewandt. Bezeichnend für Mutschmann war, dass er Ernst Lewek, den er noch aus Plauen kannte, als »Rädelsführer« der Pfarrerfronde erkannt haben wollte, obwohl dieser keinesfalls als solcher gelten konnte. Doch das störte Mutschmann nicht, war für ihn doch entscheidend, dass Lewek jüdische Wurzeln hatte und so die Verschwörungs-vorstellungen des »Sachsenführers« zu bestätigen schien.28

Persönliche Willkür übte Mutschmann aber nicht nur gegen politische und religiöse Gegner, selbst die eigenen Partei- und Verwaltungsspitzen blieben von seinen cholerischen Ausfällen und persönlich motivierten Säuberungsaktionen nicht verschont. Schlüsselfunktionen in Regie-rung und Verwaltung besetzte er meist mit servilen Gefolgsleuten, die häufig fachlichen Ansprü-chen nicht genügten. Die noch im Mai 1933 zu Ministern berufenen Karl Fritsch und Georg Lenk sind dafür Paradebeispiele; umgekehrt belegen sie aber auch Mutschmanns Praxis, selbst eigene Parteigänger urplötzlich fallen zu lassen – wie die Fälle Fritsch und Lenk im Jahr 1943. Oftmals reichte es aus, wenn Oberbürgermeister (wie Ernst Zörner in Dresden) populärer zu werden drohten als der »Sachsenführer« oder ihm aber als vermeintliche Konkurrenten zu gefährlich erschienen. Seine eigene Absetzung durch Mutschmann kommentierte Zörner denn auch 1937 mit einer Denkschrift an die Parteispitze, in der es hieß, dass Sachsen keinen Anspruch erheben könne, ein »Rechtsstaat« oder gar ein »Staat der Ehre zu sein«. Wer sich in diesem Land als »ein Charakter erweise«, werde »verfolgt und gedemütigt«.29

Wenn sich also selbst langjährige NS-Funktionäre über den Provinzdespotismus des »Sach-senführers« mokierten, bleibt die Frage zu beantworten, weshalb sich Mutschmann über einen so langen Zeitraum unangefochten behaupten konnte. Die rabiate Verdrängung von vermeint-lichen und tatsächlichen Konkurrenten ist nur eine Erklärung, eine weitere hat mit seinem engen und frühen Vertrauensverhältnis zu Hitler zu tun; sein fanatischer Rassismus und Antisemitis-mus und sein Organisationsgeschick ließen ihn selbst in Kriegszeiten als unersetzbar erschei-nen. In Sachsen selbst profilierte sich Mutschmann seit 1936 mit der Schaffung eines »Heimat-werks Sachsen« und einer damit verbundenen Sachsenpropaganda nicht nur als »150-prozenti-ger Natio nal sozia list, sondern auch 250-prozentiger Landesfürst«. Der von ihm – auch gegen die Berliner Zentrale – beförderte »Sachsenstolz« imponierte zudem nicht wenigen »Untertanen von ›König Mu‹«, die über dessen sonstige Befähigungen eher die Nase rümpften.30

Gewaltsames EndeHatte Gewalt bei der von Mutschmann und Killinger errichteten Diktatur eine entscheidende Rolle gespielt, so spielte sie diese auch bei ihrem Untergang. Das kriegerische Ende des »Dritten Reiches« riss beide Protagonisten mit in den Tod. Für den vormaligen SA-Führer und Minister-präsidenten kam dieses gewaltsame Ende allerdings vor dem 8. Mai 1945 und vor der Exekution seines ungeliebten Nachfolgers. Killingers früher Tod hatte ausgerechnet mit seiner Karriere im Auswärtigen Amt zu tun, die ihn vom eingangs erwähnten Posten des Generalkonsuls in San Francisco bis zum Gesandtenposten in Bukarest führte. Während seiner Zeit als Gesandter war Killinger in die spannungsgeladene Judenpolitik dieser Diktatur involviert gewesen. So holte er »deutsche Judenberater« ins Land und »versuchte generell, bei den dortigen Regierungen eine

reichstheaterfestwoche, Mai 1934: adolf Hitler (Mitte), zweiter von links Manfred von killinger, daneben Hans Hayn und Martin Mutschmann (rechts) auf dem theaterplatz in dresden

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106 J u St i zJ u St i z ot to g e o r g t H i e raC k 107

Otto Georg ThierackOtto Georg Thierack Hitlers willfähriger JustizministerHitlers willfähriger JustizministerWo l f ga n g H oWa l d

Im Herbst 1941 hatte sich Hitler zu einem schärferen Vorgehen gegen die Widerstandsbewegung im Protektorat Böhmen und Mähren entschlossen und den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich mit der Führung der Geschäfte des Reichsprotektors beauftragt. Heyd-richs Ziel war es zunächst, die »autonome« Protektoratsregierung, an deren Spitze Alois Elias stand, auszuschalten. Nach der überraschenden Verhaftung von Elias diente dazu ein schneller Schauprozess gegen ihn und den Prager Oberbürgermeister Otakar Klapka, der wegen der pro-pagandistischen Wirkung vor dem Volksgerichtshof stattfinden sollte. Dessen Präsident Otto Thierack stimmte diesem Plan bereitwillig zu. Heydrich und Thierack beschlossen, die Anklage unter Missachtung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft der Gestapo zu überlassen, die Elias binnen zwei Tagen die »Anklageschrift« zustellte – die eigentlich zuständige Reichs-anwaltschaft hätte dafür einige Wochen benötigt. Bereits nach weiteren zwei Tagen, am 1. Okto-ber 1941, fand die Verhandlung des Volksgerichtshofs unter Leitung seines Präsidenten Thierack vor etwa 200 ausgewählten Zuhörern im Sitz der Stapo-Leitstelle Prag statt. Trotz dürftiger Beweislage wurde Elias wegen »Feindbegünstigung« und »Vorbereitung zum Hochverrat« zum Tode verurteilt. Ebenso erging es einen Tag später Klapka.

Heydrich war mit Thierack zufrieden: »Trotz verschiedener Behinderungsversuche durch das Reichsjustizministerium und Staatssekretär Schlegelberger gelang es, dank der vorzüglichen Unterstützung und dem politischen Verständnis des Präsidenten Dr. Thierack innerhalb von drei Tagen nach der Verhaftung zur Verhandlung mit abschließendem Urteil zu kommen.«1 Franz Schlegelberger, der damals als Minister amtierte, sollte später im Nürnberger Juristen-prozess Thieracks Verhalten als »unzweideutigen Beweis seiner Parteihörigkeit« werten. Jeden-falls hatte Thierack in Heydrich und Himmler nun wichtige Verbündete in seinem Streben nach dem Amt des Reichsjustizministers gewonnen.

Lebensweg von Otto Georg ThierackThierack galt als »Alter Kämpfer«, da er bereits 1932 in die NSDAP eingetreten war, 1934 trat er in die sächsische SA ein und brachte es zum Rang eines Gruppenführers. Geboren am 19. April 1889 in Wurzen, studierte Thierack Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg und Leipzig, wurde 1914 promoviert und nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Referendardienst, unter anderem am Landgericht Dresden, wurde er 1920 Gerichtsassessor am Landgericht Leipzig. 1921 zum Staatsanwaltschaftsrat in Leipzig ernannt, wechselte er 1926 zur Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Dresden. Unterlagen, die über seine Tätigkeit im sächsischen Justizdienst Aufschluss geben könnten, sind nicht auffindbar. Die NS-Presse berich-tete später, Thierack habe der nationalsozialistischen Bewegung in politischen Prozessen »wert-volle Dienste« geleistet.2

Nach der »Machtergreifung« in Sachsen 1933 bestätigte Gauleiter Martin Mutschmann Thie-rack, der nach dem Rücktritt der Regierung Schieck bereits als Justizminister amtierte, in diesem Amt. Er betonte in einem Aufruf, er habe »Männer berufen, die in jahrelangem Kampf in der vordersten Front der Nationalsozialistischen Bewegung an der Befreiung unserer sächsischen Heimat und unseres deutschen Vaterlandes vom Joche marxistisch-liberalistischer Herrschaft mitgewirkt haben.«3 Thieracks Amtssitz war zunächst in der Hospitalstraße 7, wo sich heute wieder das Sächsische Staatsministerium der Justiz befindet. Persönlicher Referent wurde sein Vertrauter Herbert Klemm, den er später als Staatssekretär in das Reichsjustizministerium nach-holen sollte. Thieracks Zeit als sächsischer Minister war von vornherein begrenzt. Im Rahmen der Gleichschaltung der Länder hatte er vornehmlich die Überleitung der Justizverwaltung auf das Reich vorzubereiten.

Mit Eifer machte er sich unmittelbar nach Amtsantritt an die personelle Umgestaltung der Justiz. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« bot ihm hierfür die Hand-habe. Nach eigenem Bekunden habe er »mit harter Hand« die Justiz von Marxisten und Juden gesäubert. Insgesamt seien von 18 700 überprüften Personen mehr als 250 entlassen und mehr als 500 Orts- und Friedensrichter ihres Amtes enthoben worden.4 Thieracks besonderes Inter-esse sollte sich, wie für einen NS-Juristen typisch, auf das Strafrecht und das Strafvollzugsrecht richten. So sorgte er für eine Verschärfung des Strafvollzugs, etwa durch die Einführung militä-rischer Formen in den Gefängnissen, die Abschaffung der Gefängnisbeiräte und der Gefängnis-fürsorge sowie die Entfernung »undeutscher« Schriften aus den Anstaltsbüchereien. »Sehr am Herzen«, wie er betonte, lag ihm auch die Ausbildung des juristischen Nachwuchses, die er auf Kosten klassischer Fächer mit nationalsozialistischen Inhalten wie etwa der »Rassenkunde und -pflege« füllte. Er empfahl angehenden Juristen die Mitgliedschaft in der SA, der SS oder im Stahlhelm. Nach Auflösung der selbständigen Berufsvereinigungen der Juristen und korporati-ver Eingliederung in den BNSDJ (Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen) waren die Voraussetzungen für eine »Verreichlichung« der Justiz geschaffen. Thierack, der diesen Prozess begrüßte, wirkte hieran beflissen mit.

Dies sollte ihm nicht zum Schaden gereichen. Denn nach dem endgültigen Übergang der Länderjustizbehörden auf das Reich zum 1. April 1935 ernannte Hitler ihn, der keinerlei richter-liche Erfahrung aufzuweisen hatte, auf Vorschlag des Reichsjustizministers Franz Gürtner noch am gleichen Tag zum Vizepräsidenten des Reichsgerichts. Am Reichsgericht in Leipzig waren trotz der zunehmenden Anpassung an die Ziele der Nationalsozialisten unter dem Präsidenten Dr. Erwin Bumke hochqualifizierte Juristen tätig, denen Thierack fachlich kaum ebenbürtig war.

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108 J u St i zJ u St i z ot to g e o r g t H i e raC k 109

Er soll in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit an diesem Gericht den Beinamen »Völkischer Beobach-ter« erhalten haben,5 offensichtlich weil er der Partei über die politische Haltung seiner Kollegen berichtet haben soll. Doch bald sollte sich ein neues, für Thierack angemesseneres Amt finden.

Thierack als Präsident des VolksgerichtshofesThierack wurde am 1. Mai 1936 zum Präsidenten des Volksgerichtshofs (VGH) ernannt. Dieser war kurz nach dem Freispruch kommunistischer Funktionäre, unter anderem Georgi Dimitroffs, im »Reichstagsbrandprozess« errichtet worden. Seine Gründung beruhte jedoch eher auf mit-telfristigen Bestrebungen, in effizienten Strafverfahren die politischen Hauptgegner aburteilen zu können.6 Dem VGH wurden die bisher dem Reichsgericht vorbehaltenen erstinstanzlichen Zuständigkeiten für Hoch- und Landesverratssachen übertragen. Später kamen auch Straftaten nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, zum Beispiel Wehrkraftzersetzung, hinzu. Etwa zeitgleich mit der Ernennung Thieracks wurde der VGH ordentliches (Straf-)Gericht, stand damit auf gleicher Stufe wie das Reichsgericht; ihm wurde eine selbständige Reichsanwaltschaft als Anklagebehörde angegliedert.

Bekannt und berüchtigt ist vor allem die Verhandlungs- und Spruchpraxis des VGH unter Roland Freisler, dem Nachfolger Thieracks ab 1942. Aber schon unter Thierack begann die Ent-wicklung zu einer reinen Terrorjustiz, die auch durch die Ausdehnung der Strafgewalt auf das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren sowie durch die Kriegssituation beeinflusst wurde.7 Eine die Konturen im politischen Strafrecht verwischende Auslegung und eine exzessive Straf-zumessungspraxis setzte bereits während der Präsidentschaft Thieracks ein, wie der eingangs geschilderte Fall Elias und der Anstieg der Todesurteile zeigen.

Ideologisch überhöhte Thierack, der sich gerne als »Chefpräsident« titulieren ließ, die Arbeit am VGH als »Kampf auf Leben und Tod« für das Volk und sah die Richter seines Gerichts »im Schützengraben« gegen die politischen Gegner des Nationalsozialismus kämpfend. Seine Bemü-hungen, die von ihm begehrte Sonderstellung des VGH auch dadurch zu erreichen, dass das Gericht Hitler direkt unterstellt wurde, blieben allerdings erfolglos.

Zu seiner Auffassung der Rechtsprechungsaufgabe des VGH schrieb Thierack kurz nach seinem Amtsantritt: Der Richter müsse »auch erfassen können, welche Aufgaben und Ziele der Nationalsozialismus sich und seinem Volke stellt [...]«.8 Er forcierte deshalb eine entsprechende Schulung und Erziehung der Richter. Die von ihm geforderte politische Rolle des Richters und damit die Veränderung der Funktion des Strafrechts lässt sich insbesondere seinen späteren Verlautbarungen als Reichsjustizminister entnehmen: »Im allgemeinen muss sich der Richter des Volksgerichtshofs daran gewöhnen, die Ideen und Absichten der Staatsführung als das Primäre zu sehen, das Menschenschicksal, das von ihm abhängt, als das Sekundäre. Denn die Angeklagten vor dem Volksgerichtshof sind nur kleine Erscheinungsformen eines hinter ihnen stehenden größeren Kreises, der gegen das Reich kämpft.«9

Das Strafrecht hatte nach der NS-Doktrin die Aufgabe, die »Volksgemeinschaft«, deren Wil len allein die NS-Führung zum Ausdruck brachte, zu schützen und denjenigen, der sich gegen sie stellte, aus der Gemeinschaft auszustoßen und »auszumerzen«. Die »Volksgemeinschaft« wurde zum höchsten Rechtsgut stilisiert. So kam es zur Verlagerung von der Strafbarkeit der Tat auf die Strafbarkeit des – gegen den NS-Staat und damit gegen die Gemeinschaft gerichteten – verbre-cherischen Willens, zur analogen Anwendung von Straftatbeständen zuungunsten des Täters, zu einem Ausufern des Strafrahmens und zum Abbau prozessualer Rechte des Angeklagten.

Der VGH war unter Thierack Vorreiter dieser Praxis. So verurteilte der Erste Senat des VGH unter seinem Vorsitz 1938 drei Leipziger Jugendliche wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu mehrjährigen Freiheitsstrafen, weil diese die Hitlerjugend abgelehnt und zum Teil zu bekämp-fen gesucht hatten. In der Urteilsbegründung hieß es unter anderem: »Hinter dieser im Interesse der Ruhe und Erhaltung der deutschen Volksgemeinschaft und des gesicherten Bestandes des nationalsozialistischen Deutschlands notwendigen abschreckenden Wirkung der Strafe muss die Persönlichkeit des einzelnen Täters zurücktreten.«10

In seinen Urteilen tendierte er meist zur höchstzulässigen Strafe. Noch in den letzten Mona-ten seiner Tätigkeit am VGH verurteilte Thierack mehrere tschechische Widerstandskämpfer wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung zum Tode und leitete damit über in die letzte Phase des VGH, in der unter der Präsidentschaft Roland Freislers Todesurteile am Fließband ergingen. Thierack jedoch sollte nun bald die Erfüllung seines Karrierestrebens erleben.

Thierack als ReichsjustizministerAm 19. Januar 1941 war Reichsjustizminister Dr. Franz Gürtner gestorben, das Reichsjustizminis-terium wurde danach lediglich kommissarisch durch Staatssekretär Prof. Franz Schlegelberger geführt. Hitler, der eine tiefe Abneigung gegen Juristen hegte, hatte es mit einer Neubesetzung des Ministerpostens nicht eilig. Zudem wetteiferten die Parteijuristen misstrauisch bis feind-selig und mit vorauseilendem Gehorsam um die Führungsposition und um die Gunst Hitlers. Hans Frank, »Reichsrechtsführer« und Präsident der Akademie für Deutsches Recht, geriet im Sommer 1942 in Misskredit des »Führers«. Freisler hatte nie die Achtung Hitlers erworben. Ähn-

reichsjustizminister dr. otto georg thierack bei der feier zur amtsübernahme am 26. august 1942, v. l.: roland freisler, franz schlegelberger, otto georg thierack, Curt rothenberger

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Hermann Jensen und Alois Boehm Hermann Jensen und Alois Boehm Personelle Vorhut zur Umsetzung der Personelle Vorhut zur Umsetzung der »Neuen Deutschen Heilkunde« »Neuen Deutschen Heilkunde« am Johannstädter Stadtkrankenhaus Dresdenam Johannstädter Stadtkrankenhaus DresdenMa r i n a l i e n e rt · Ca r i s-P e t ra H e i d e l

»Das Rudolf-Heß-Krankenhaus, ärztliche Forschungsanstalt für natürliche Heilweise, ist am 5. Juni [1934] seiner Bestimmung übergeben worden. Die Gesamtleitung des Hauses wurde dem Oberarzt Dr. Jensen übertragen. Damit wird das bisherige Stadtkrankenhaus Johannstadt neben der Krankenheilung dem Zwecke zugeführt, biologische Forschungsstelle und Fortbildungs-stätte für Ärzte zu sein. Der Stellvertreter des Führers hat die Genehmigung zur Anwendung seines Namens gegeben, um durch dessen Einsatz das Interesse zu betonen, das er an der Erfor-schung der umstrittenen Methoden der naturgemäßen Heilung nimmt.«1 So klangen die Presse-meldungen über die Profilierung des 1901 eingeweihten Dresdner Stadtkrankenhauses zum »Biologischen Zentralkrankenhaus für das Deutsche Reich«. Die Oberärzte der Kranken haus-abtei lun gen wurden teilweise ausgewechselt, neues Personal sollte die nationalsozialistische Gesundheitspolitik wissenschaftlich untermauern.2 Zwei Männer, die sich bereits in der NSDAP einen Namen gemacht hatten, wurden als Garanten dafür eingesetzt: Hermann Jensen und Hermann Alois Boehm. Aber warum sollten ausgerechnet ein Chirurg und ein Rassenhygieniker die Erforschung alternativer Heilverfahren vorantreiben?

Der Begriff der Neuen Deutschen Heilkunde war schon Ende der 1920er Jahre, während der Diskussion über eine »Krise der Medizin«, die wiederum aus der erkennbaren Diskrepanz zwi-schen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Umsetzung in effiziente Therapien erwachsen war, geprägt wor den. Zudem verfestigte sich die Auffassung, dass die an den Uni-versitäten gelehrte naturwissenschaftlich begründete Medizin nicht in der Lage sei, alle Krank-

heiten und ärztlichen Erfahrungen zu erfassen, dass diese aber dennoch wichtig für die ärztliche Praxis seien.3 Außerdem verunsicherten die Erfolge alternativer Heilweisen die Ärzte. Sie waren einem erhöhten Konkurrenzdruck ausgesetzt und sahen sich zugleich in großer Abhängigkeit von den Krankenkassen. Deshalb forderten sie sowohl eine größere Autonomie bei der Thera-piewahl aus verschiedenen medizinischen Konzepten als auch ein Zurückdrängen des Einflusses der Krankenkassen.

Die Nationalsozialisten griffen den bereits von biologistisch orientierten Ärzten benutzten Begriff einer Neuen Deutschen Heilkunde auf.4 Sie versprachen eine Synthese der Schulmedizin mit den für effektiv befundenen alternativen Therapieverfahren. Damit sollte der Arzt zum alleinigen Gesundheitsführer seiner Patienten werden, Wissen über eine gesunde Lebensweise sowie erbbiologisches und rassenhygienisches Gedankengut nicht nur verbreiten, sondern dessen Umsetzung auch kontrollieren und steuern können. Den Ärzten wurden also weitrei-chende Möglichkeiten der Prophylaxe und Therapie, aber auch eine exklusive Position in Aus-sicht gestellt.

Das Rudolf-Heß-Krankenhaus sollte in diesem umfassenden Sinn zu einem Zentrum der Neuen Deutschen Heilkunde entwickelt werden. Während einer vorbereitenden Besprechung der Reichsärzteführers Gerhard Wagner mit Vertretern der Stadt sowie der NS-Volksgesundheit am 9. Mai 1934 wurde deshalb festgelegt: »Die Neuheit, Vielheit und – teilweise – weltanschau-liche Bedingtheit und politische Bedeutung der […] Maßnahmen und Einrichtungen erfordert unbedingt Zusammenfassung der Leitung in einer Hand. Dafür kann nur in Betracht kommen ein ausgezeichneter ärztlicher Fachmann, der zugleich große Erfahrung im Krankenhausdienst und in der Heranbildung von Schwestern im Geiste der Braunen Schwesternschaft besitzt und der ferner altbewährter Nationalsozialist ist.«5 Diese Beschreibung traf in besonderem Maße auf Hermann Jensen zu.

Hermann Johann Hans Jensen wurde am 30. April 1895 in Schleswig geboren. Er studierte in Kiel Medizin und bestand dort 1917 das Physikum. Als aktives Mitglied der Landsmannschaft »Troglodytia«6 folgte er deren Wahlspruch »Ne feriare feri – Sei Hammer, nicht Amboss«. Nach Ableistung des Kriegsdienstes setzte er sein Studium fort. 1920 wurde Jensen die ärztliche Approbation erteilt und an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Kiel promo-viert. Möglicherweise haben seine Heirat mit Charlotte Dorothea Marie Pabst und die Geburt ihres ersten von drei gemeinsamen Kindern im Oktober 1921 ihn veranlasst, sich rasch als prak-tischer Arzt niederzulassen.7 Von 1921 bis 1927 war er als Arzt in eigener Niederlassung in Süder-hastet (Holstein) tätig und soll bereits hier von der Gemeinde ein Haus mit sechs bis acht Betten für chirurgisch Kranke zur Verfügung erhalten haben.8 Jensen entschloss sich 1928, eine fach-ärztliche Ausbildung für Chirurgie zu absolvieren und arbeitete deshalb seit dem 1. September als Volontärarzt und seit dem 1. April 1929 als Assistenzarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Hannover 1 (Nordstadtkrankenhaus).

Jensen trat am 1. Mai 1928 der SA9 und schon vor 1933 auch der NSDAP sowie dem NSD-Ärz-tebund (NSDÄB) bei. Bereits 1932 erzwang er den Eintritt ihm unterstellter Mitarbeiter in die NSDAP unter Androhung ihrer Entlassung.10 Kurz nach der Machtübernahme der National sozia-listen wurde Jensen zum Oberarzt ernannt. Ein Zeitzeuge berichtete: »Bei der Machtübernahme durch die N.S.D.A.P. im Jahre 1933 stellte sich der Oberarzt der Chirurgischen Abteilung […] an die Spitze der Ärzteschaft.« Sein persönliches Fortkommen scheint also eine Folge seines politischen

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Engagements gewesen zu sein. Weiter heißt es: »U.A. versuchte Dr. Jensen die Gründung einer Braunen Schwesternschaft mit einseitig nationalsozialistischer Einstellung durchzusetzen.«11 Als Braune Schwestern bezeichneten sich bereits seit 1924 einige der NSDAP und deren Ideologie nahestehende Gruppierungen, die sich »ganz besonders für die Pflege verwundeter SA-Männer und für die Betreuung hilfsbedürftiger Parteigenossen«12 eingesetzt hatten. In Hannover hatte sich Erna Mach seit 1932 »um die Erfassung nationalsozialistisch gesinnter Schwestern im ›Gau Süd-Hannover-Braunschweig‹ bemüht.«13 Jensen soll seine »guten Parteibeziehungen« nach der Machtergreifung dazu genutzt haben, der Hannoveraner nationalsozialistischen Schwesternor-ganisation eine Sonderstellung zu verschaffen.14 Am 30. Oktober 1933 eröffnete in Hannover die erste staatlich anerkannte Krankenpflegeschule der NS-Schwestern, geleitet von Jensen.15 Am 28. März 1934 wurde die Gründung der Schwesternschaft der N.S.V. verfügt, um die Braunen Schwestern in eine straffe Struktur einzubinden und auch das Pflegepersonal gleichzuschalten.

Als das Johannstädter Klinikum zum Modellkrankenhaus avancieren sollte, musste es auch über eine nationalsozialistisch gesinnte Schwesternschaft verfügen. Jensen, der Protegé Wag-ners, schien also der richtige Mann in Dresden: Er hatte sowohl seine gefestigte nationalsozia-listische Gesinnung als auch Durchsetzungsvermögen demonstriert und war erfahren bei der Führung und Ausbildung von NS-Schwestern. Er nahm daher bereits an der vorbereitenden Besprechung am 9. Mai 1934 in Dresden teil, auf der unter anderem festgelegt wurde, dass er zum Oberarzt der Chirurgischen Abteilung ernannt würde. Jensen, dem erst am 1. Juni 1934 der Facharzt für Chirurgie zuerkannt wurde, der als Oberarzt einer chirurgischen Abteilung erst seit einem Jahr Erfahrung gesammelt hatte, verdrängte damit den seit 1918 amtierenden Hans Seidel, der in den Ruhestand versetzt wurde. Zugleich sollte Jensen als ärztlicher Leiter des gesamten Krankenhauses fungieren.16 Bisher waren alle Oberärzte ebenso wie der Verwaltungs-leiter lediglich der Stadtverwaltung untergeordnet. Zudem wurde die 1932 geschlossene Schwes-ternschule des Johannstädter Klinikums ebenfalls unter Jensens ärztlicher Leitung als Reichs-mutterhaus der NS-Schwesternschaft mit Schwesternschule am 1. Juli 1934 wiedereröffnet.

Jensen sah als Chirurg zwar keine Möglichkeiten, sich unmittelbar der wissenschaftlichen Untersuchung der Naturheilverfahren zu widmen. Er propagierte aber als Ziel jeglicher ärztli-cher Tätigkeit: »Der Wert irgendeiner Behandlungsmethode richtet sich doch danach, wie gut es uns gelingt, mit tragbarer wirtschaftlicher Belastung und geringem Risiko, ein möglichst gutes Dauerergebnis, d. h. Wiederherstellung des kranken Menschen, zu erzielen. […] Wir dürfen uns nicht abschließen gegenüber Anschauungen und Methoden, die uns vielleicht ferner liegen. Vielmehr müssen wir uns ernsthaft bemühen, gerade sie auf ihren Wert und ihre Erfolgsmög-lichkeit zu prüfen […].«17 Dieses Credo vertrat er als Leiter der 1935 gegründeten Fortbildungs-schule am Rudolf-Heß-Krankenhaus ebenso wie nach deren Einbindung in die 1938 neu gegrün-dete Dresdener Akademie für ärztliche Fortbildung als deren stellvertretender Vorsitzender. Er galt als guter Operateur, insbesondere für die Nagelung von Schenkelhalsfrakturen, von der sogar ein Lehrfilm angefertigt wurde.18 Die Chirurgische Abteilung des Rudolf-Heß-Kranken-hauses war, wie das Stadtkrankenhaus Friedrichstadt und selbst das Diakonissenkrankenhaus, aber auch zur Durchführung von Zwangssterilisationen verpflichtet, die vom Erbgesundheits-gericht angeordnet waren.19

Persönlich hatte Jensen den frühen Tod seiner ersten Frau zu verkraften. Er schloss 1939 die Ehe mit Vera Habert. Dieser Ehe entstammen zwei Kinder. Jensens beide ältesten Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg.

Jensen soll am Rudolf-Heß-Krankenhaus keinerlei politischen Druck ausgeübt haben.20 Mög-licherweise bestand dafür am Klinikum selbst keine Notwendigkeit, war doch allen Mitarbeitern bewusst, im Fokus der nationalsozialistischen Führung zu stehen. Der damalige Oberarzt der Chirurgischen Abteilung des Friedrichstädter Klinikums, Albert Bernhard Fromme, bezeichnete ihn hingegen als »erheblichen Nationalsozialisten, mit dem er keine über das Unerlässliche hinausgehende Kontakte pflegte, nie privat«.21 Andererseits scheint Jensen in Dresden nicht mehr parteipolitisch aktiv gewesen zu sein und widmete sich offenbar insbesondere der Leitung seiner Chirurgischen Abteilung. Er soll gern gegen 23 Uhr noch einmal auf Station nach dem Rechten gesehen haben22 und stellte während der Bombenangriffe seine Villa in der Waldpark-straße als Notunterkunft für die Säuglinge in der Kinderklinik sowie der benachbarten Staatli-chen Frauenklinik zur Verfügung. Während andere Ärzte sich vor der Roten Armee in Sicherheit brachten, berichtete Jensen noch am 6. Juni 1945 in einem Brief: »Mir persönlich geht es relativ gut. Ich bin gleichfalls keine Stunde [aus Dresden] fort gewesen und habe jetzt schon wieder über 500 Patienten zu betreuen. Die Arbeit wächst von Tag zu Tag.«23 Jensen wurde 1945 ver-mutlich im Klinikum verhaftet und in ein russisches Lager oder Gefängnis gebracht. Dort zog er sich eine Sepsis zu und wurde in das Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt verlegt, wo ihm Fromme noch ein Bein amputierte.24 Dennoch verstarb Jensen am 16. März 1946 in der Klinik.

Um die Neue Deutsche Heilkunde im nationalsozialistischen Modellkrankenhaus zu etab-lieren, sollte auch rassenhygienisches Gedankengut im Klinikum, bei den Fortbildungsveran-staltungen und in der NS-Schwesternschule verbreitet werden. Zu diesem Zweck wurde ein weiterer altgedienter Parteigenosse nach Dresden beordert.

Hermann Jensen während einer ärztlichen visite am rudolf-Heß-krankenhaus

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logische Erfassung der gesamten deutschblütigen Bevölkerung und die Ausschaltung »asozia-len, abträglichen Erbgutes« durch dauernde Asylierung und zwangsweise Sterilisierung.31 Von Juni 1933 bis Juli 1934 leitete Boehm die Abteilung »Rassenhygiene« im Reichsausschuss für den Volksgesundheitsdienst. Hier setzte er sich intensiv für die Umsetzung des »Gesetzes zur Ver-hütung erbkranken Nachwuchses« ein.32

Im August 1934 wurde die seit 1932 geschlossene Pathologische Abteilung des Johannstädter Klinikums wiedereröffnet und Boehm unterstellt. Im November 1934 wurde er zudem zum Hono-rarprofessor für »Rassenpflege« an der Universität Leipzig ernannt, obwohl er mit nur einigen wenigen Publikationen kaum den hohen Ansprüchen genügen konnte. Auch an der Staatsaka-demie für Rassen- und Gesundheitspflege, die am Deutschen Hygiene-Museum eingerichtet worden war, hielt er Vorlesungen über »Allgemeine und menschliche Vererbungslehre«. Anders als offenbar Jensen blieb er parteipolitisch aktiv. Im Gau Sachsen leitete er von 1934 bis 1937 das Disziplinargericht des NSDÄB. Ab Herbst 1934 war er zudem als Mitglied des Erb gesund heits ober-gerichts in Dresden an Entscheidungen über Zwangssterilisierungen beteiligt. Sein wissenschaft-liches Interesse galt zunehmend der Vererbungslehre. So war er einer der Herausgeber des in zwei Jahrgängen erschienenen Periodikums »Probleme der theoretischen und angewandten Genetik und deren Grenzgebiete«,33 in dem er aber nicht selbst veröffentlichte.

Im März 1937 wechselte Boehm auf besonderen Wunsch des Reichsärzteführers an das Erb-biologische Forschungsinstitut der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse.34 Hier bildete er Ärzte »auf dem Gebiet der experimentellen Genetik aus, führte selbst Versuche an Drosophila durch und erstellte ab 1939 auch erbbiologische Abstammungsgutachten«.35 1938 setzte er seine Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Rostock durch. 1939 wurde

Hermann Alois Boehm wurde am 27. Oktober 1884 in Fürth als Sohn eines praktischen Arztes geboren. Von 1903 bis 1910 studierte er an der Universität München Medizin. 1911 erhielt er die ärztliche Approbation und wurde in München promoviert. Im selben Jahr begann Boehm zu -nächst an der Universität München seine Weiterbildung zum pathologischen Anatomen, die er an den Universitäten in Jena und Göttingen fortsetzte. Vom 15. Januar 1915 bis zum 1. Februar 1919 diente er als Sanitätsoffizier.25 1919 nahm Boehm eine Tätigkeit als Pathologe am Kranken-haus rechts der Isar in München auf. Im selben Jahr heiratete er Katharina Tietje. Das Paar hatte gemeinsam vier Kinder, die in den Jahren 1926 bis 1935 geboren wurden.26

Nach Kriegsende begann Boehm, sich parteipolitisch zu engagieren, zunächst 1920/21 im Alldeutschen Verband. Seine eigentliche politische Heimat fand er 1923 in der NSDAP. Für seine Teilnahme am Hitlerputsch im November 1923 in München erhielt er später den »Blutorden«. Am 1. September 1923 trat er außerdem der SA bei. Während des Verbots von NSDAP und SA engagierte er sich 1924/25 im Völkischen Block27 und im Deutsch-Völkischen Offiziersbund (1923 – 1926). Nach der Neugründung der NSDAP 1925 trat Boehm ihr mit der Mitgliedsnummer 120 erneut bei. Mit Wiedereintritt in die SA 1931 stieg er rasch in den Stab der Obersten SA-Führung auf und avancierte bis 1942 zum SA-Sanitäts-Gruppenführer.

1931 schied Boehm aus dem Krankenhausdienst aus und arbeitete bis 1933 als Referent für Rassenhygiene im NSDÄB.28 Auf dessen dritter Reichstagung im Dezember 1932 referierte er über Rassenhygiene und Nationalsozialismus: »Nationalsozialist kann nur sein, wer bewußt oder unbewußt rassisch fühlt; und wer echt rassisch empfindet, muß Nationalsozialist sein.«29 Die besondere Pflege müsse »dem deutschblütigen, deutschfühlenden, körperlich und seelisch gesunden Menschen nordischer Prägung« gelten.30 Dazu forderte er unter anderem die erbbio-

stadtkrankenhaus dresden-Johannstadt, verwaltungsgebäude neubau im rudolf-Heß-krankenhaus

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sein Institut zunächst zu einem Lazarett umfunktioniert und erst 1941 eingeschränkt wieder eröffnet. Da die geplante ordentliche Professur für Boehm an der Universität Rostock scheiterte, nahm er schließlich zum 1. Januar 1943 eine Berufung an die Universität Gießen als ordentlicher Professor für Rassenhygiene und Direktor des Instituts für Erb- und Rassenpflege an.

1945 wurde er von der amerikanischen Militärverwaltung entlassen und führte nun eine Privatpraxis in Gießen. 1947 wurde Boehm im Zuge der Ermittlungen zum Nürnberger Ärzte-prozess vernommen. Hier gab er unter anderem zu Protokoll, dass er im November 1940 Beden-ken geäußert habe bezüglich der Durchführung der Euthanasie in Deutschland: »1) die unschöne Art der Be nach rich ti gung der Angehörigen, 2) das Fehlen eines Versuches, die Zustimmung der Angehörigen zur Durchführung der Euthanasie einzuholen, 3) die Angabe fingierter Todes-ursachen«.36 Er verurteilte lediglich »die Durchführung des Euthanasie-Programms, wie sie in Deutschland während des letzten Krieges geübt wurde«, nicht jedoch die Ermordung von geis-tig und körperlich Behinderten generell.37 Nachdem er noch die vollen Pensionsansprüche für seine Tätigkeit an der Gießener Universität erstritten und genossen hatte, verstarb Boehm am 7. Juni 1962 in Gießen.

Mit Jensen und Boehm wurden 1934 zwei in der NS-Bewegung seit langem aktive Ärzte an das Rudolf-Heß-Krankenhaus berufen, die es zu einem Zentrum der Neuen Deutschen Heil-kunde profilieren sollten. Jensen, der insbesondere die Gründung der NS-Schwesternschaft befördert hatte, sah nun als Leiter des gesamten Klinikums seine Karrierewünsche vermutlich als erfüllt an. Auch wenn er als Chirurg durchaus gute Arbeit leistete und sich verantwortungs-bewusst seinen Patienten und der Leitung des Klinikums widmete, hat er hier in Dresden den-noch aufgrund seines offensiven Eintretens für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik und der Verstrickung in die Zwangssterilisationspraxis weiterhin an der Durchsetzung der NS-Politik mitgewirkt. Der »alte Kämpfer« Boehm konnte zwar in Dresden selbst nicht die von ihm erhoffte Breitenwirkung erzielen und auch kein Zentrum der rassenhygienischen Forschung etablieren. Er propagierte aber offensiv rassenhygienisches Gedankengut und hat an dessen praktischer Umsetzung aktiv mitgewirkt. Während Jensen in Dresden 1947 in der Haft umkam, lebte Boehm in Gießen weitgehend unbehelligt, bevor auch er mit 78 Jahren verstarb.

Anmerkungen

1 Krankenhausnachrichten, Dresden, in: Zeitschrift für das gesamte Krankenhauswesen 30 (1934) 14, S. 331.

2 Zur Geschichte des Rudolf-Heß-Krankenhauses vgl. Ma-rina Lienert: Das Stadtkrankenhaus Dresden-Johannstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Albrecht Scholz/Caris-Petra Heidel/Marina Lienert: Vom Stadtkranken-haus zum Universitätsklinikum, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 105 – 142.

3 Vgl. Dethlef Bothe: Neue Deutsche Heilkunde, Husum, 1991, S. 22.

4 Diese verstanden darunter eine »dreifache Reinheit«: ei ne äußere Reinheit des Körpers, eine innere Reinheit sowie eine kollektive Reinheit zur Verbesserung der »Ras- se«. Vgl. Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 227.

5 Stadtarchiv Dresden, Stadtgesundheitsamt, Personalakte H78, Dr. Hauffe, Protokoll der Verhandlung über organi-satorische Änderungen im Stadtkrankenhaus Johannstadt und Wiedereröffnung der Schwesternschule vom 9. 5. 1934.

6 Johannes Mai: Die Geschichte der Chirurgie in Dresden, Med. Diss., Dresden 1958, S. 132.

7 Stadtarchiv Hannover, Personalakte Hermann Jensen.8 Mai (wie Anm. 6). Siehe auch A[ugust] Borchard/W[alter]

v. Brunn (Hg.): Deutsches Chirurgen-Verzeichnis, 3. Aufl., Leipzig 1938, S. 314.

9 BArch, BDC, Jensen, Hermann.10 Vgl. Birgit Breiding: Die Braunen Schwestern, Stuttgart

1997, S. 103.11 Entnazifizierungsakte Ernst Ewald. In: NdS. 171. Hann.

Nr. 7332. Zitiert nach: Breiding (wie Anm. 10).12 Gespräch mit der Generaloberin Käte [sic!] Böttger. Ziel:

23 000 NS.-Schwestern., in: Berliner Illustrierte, Nachtaus-gabe, 20. 11. 1936. Zitiert nach: Breiding (wie Anm. 10).

13 Breiding (wie Anm. 10), vgl. weiter ebd., S. 100 – 105.14 Ebd., S. 105 f.15 Ebd., S.111 f.16 Vgl. Stadtarchiv Dresden (wie Anm. 5).17 Hermann Jensen: Naturheilkunde und Chirurgie, in: C.

Adam [Hg.]: Die natürliche Heilweise im Rahmen der Ge-samtmedizin, Jena 1938, S. 299.

18 Mai (wie Anm. 6).19 Inwieweit hier tatsächlich solche Sterilisationen durch-

geführt worden sind, ist nicht überliefert, aber ebenso wenig ist Widerstand dagegen dokumentiert.

20 Mündliche Auskunft von Hildegard Dietrich-Schneider am 10. 11. 1994, mündliche Auskunft von Theodor Matthes am 10. 7. 2000.

21 Mündliche Auskunft von Friedrich Karl Fromme am 5. 7. 2000.

22 Mündliche Auskunft von Theodor Matthes am 10. 7. 2000.23 Brief von Hermann Jensen an Dr. Ernst vom 7. 6. 1945,

Privatbesitz.24 Schriftliche Auskunft von Elisabeth Schenk vom 10. 7. 1995.25 BArch, BDC, Alois Böhm, SA-Personalbogen.26 Ebd.

27 Der Völkische Block war eine von NS-Anhängern gegrün-dete Wahlplattform, die ihre Politik »in die Parlamente tragen und diese von innen heraus attackieren wollte«. Robert Probst: Völkischer Block in Bayern (VBl), 1924/25, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexi-kon-bayerns.de/artikel/artikel_44636 (25. 3. 2011)

28 Vgl. Matthias Schwager: Die Versuche zur Etablierung der Rassenhygiene an der Leipziger Universität während des Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung des Lebens und Wirkens von Hermann Alois Böhm, Med. Diss., Leipzig 1992, S. 24 f.

29 Hermann Boehm: Rassenhygiene und Nationalsozialis-mus, in: Ziel und Weg 5 (1932), S. 11, zitiert nach: Schwager (wie Anm. 28), S. 26.

30 Ebd., S. 12.31 Ebd., S. 14.32 Hermann Boehm: Die Aufgaben des Kreisarztes bei der Aus-

führung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuch-ses, in: Zeitschrift für Medizinalbeamte 46 (1933), S. 309 ff.

33 Probleme der theoretischen und angewandten Genetik und deren Grenzgebiete, Leipzig 1 (1937) – 2 (1938).

34 Schwager (wie Anm. 28), S. 54.35 Ebd.36 Eidesstattliche Erklärung von Hermann Boehm vom 28. 2.

1947, Affidavit concerning the administration of the eu-thanasia program, http://nuremberg.law.harvard.edu/php/pflip.php?caseid=HLSL_NMT01&docnum=2357&numpages=3&startpage=1&title=Eidesstattliche+Erklaerung..&color_setting=C

37 Ebd.

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Dresden war – mit Blick auf den 13. Februar 1945 – nicht nur eine »Stadt der Opfer«, sondern ebenso eine wichtige Gauhauptstadt im »Dritten Reich«, in der viel zu viele Täter und Akteure ihre »Arbeit« verrichteten. Der Sammelband mit 33 Auto-ren und 42 Beiträgen stellt nicht nur SA-, SS- und Gestapo-Leute vor, sondern auch Repräsentanten aus der Justiz, der Medizin, der Wirtschaft, der Architektur, der Kirche, der Wissenschaft und der Kunst. Diesem weiten Personenkreis und seinen Wegen und Motiven nachzuspüren, ist das Grundanliegen dieses Buches.

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