Brennpunkte der Entwicklungspsychologie · 2017. 3. 16. · , an der sich unter Otto Ewerts Leitung...

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Leo Montada (Hrsg.) Brennpunkte der Entwicklungspsychologie Verlag W. Kohlhammer Stuttgart Berlin Köln Mainz

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Leo Montada

(Hrsg.)

Brennpunkteder Entwicklungspsychologie

Verlag W. KohlhammerStuttgart Berlin Köln Mainz

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Trudewind, Karl Wahlen und Inge Weber. Als Konsultanten waren eingeladenHannelore Grimm, Joe McV. Hunt, Jerome Kagan, Michael Lewis, HannsPapousek und Ina C. Uzgiris.»Sozialisation im Jugendalter« war das Rahmenthema einer dritten Arbeitsgruppe,deren Programm von Rolf Oerter geplant und betreut wurde. Als Konsultantendiskutierten John J. Conger, Lutz Eckensberger, James Garbarino, Martin L.Hoffman, Franz J. Moenks, Paul H. Müssen, Heide Reinshagen, Klaus A. Schnee-wind und Rainer Silbereisen mit Eva Dreher, Michael Dreher, Hans-Uwe Hohner,Hans-Viktor Hoffmann, Heinz Jenessen, Wilhelm Kalff,

Erhard Olbrich, Werner

Specht, Hans Arne Stiksrud und Wolfgang Wannenmacher.»Aufbau und Veränderung von Selbstkonzepten über die Lebensspanne« war dasThema einer vierten Gruppe, an der sich unter Otto Ewerts Leitung AnnemarieAllemann-TSchopp, Don M. DeVol, Sigrun-Heide Filipp, Christa Frielingsdorf,Horst Gräser, Wilhelm Kleine, Gabriele Köstlin

, Ulrich Kühl, Glenda Nogami,Falko Rheinberg, Brigitte Rollett, Ralf Schwarzer und Wolfgang Schweflinghausbeteiligten. Als Konsultanten waren Dieter Frey, Kenne th J. Gergen, HeinzHeckhausen, Monika Keller, Uwe Lauchen

, Michael Lewis, Jane Loevinger, Wulf-Uwe Meyer, David C. McClelland, Hans-Dieter Mummendey und Robert A.Wicklund eingeladen.Neben diesen inhaltlichen Schwerpunkten gewann die von Georg Rudinger organi-sierte »Methodenberatung« eine besondere Bedeutung, an der sich Paul B. Baltes,Peter M. Bentier, Hans-Jörg Henning, Ernst-Dieter Lantermann, Jan-Bernd Loh-möller, Claus Möbus und Franz Petermann mit spezifischen Beiträgen beteiligten.In Vorträgen, Kleingruppendiskussionen und individueller Beratung wurde dieAnlage der Datenerhebung (Längsschnitt-, Querschnitt-, Sequenzpläne, experimen-telle und quasi-experimentelle Pläne, Einzelfallanalysen), die Konstruktion vonMeßinstrumenten und Auswertungsplänen (Zusammenhangsanalysen,

Klassifika-

tionsverfahren, Zeitreihen-, Trendanalysen, multivariate varianzanalytische Ver-fahren und qualitative Analysen von Entwicklungsveränderungen) behandelt.

In zwei Bänden wird über dieses Seminar berichtet. Georg Rudinger ist Heraus-geber eines parallel zu diesem erscheinenden Bandes über »Methodenprobleme derEntwicklungspsychologie«. Der vorliegende Band »Brennpunkte der Entwicklungs-psychologie« enthält überarbeitete Fassungen der während des Seminars gehaltenenVorträge zu spezifischen Forschungsbereichen,

mit denen sich die einzelnen Arbeits-

gruppen vertiefend beschäftigten. Die Leiter der Arbeitsgruppen kommentierendiese Aufsätze und stellen sie in einen integrativen Rahmen.

Es darf erwartet werden, daß dies nicht die einzigen Publikationen bleiben,die

aus ISEP erwachsen werden. Nicht wenige der dort diskutierten Projekte werdeninzwischen durchgeführt oder sind bereits abgeschlossen. Die Diskussionen in Herlhaben die weitere wissenschaftliche Arbeit der Beteiligten in der einen oderanderen Weise beeinflußt. ISEP war nicht zuletzt ein Ort der persönlichen Begeg-nung, die im wissenschaftlichen Austausch und in kooperativer Forschung Früchtetragen wird.

Trier, im September 1979 Leo Montada

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Trends und Perspektiven der Forschung

Leo Montada

Entwicklungspsychologie auf der Suche nach einer Identität

Die Ankündigung eines Forschungsseminars für Allgemeine Psychologie, für Per-sönlichkeits- oder für Sozialpsychologie würde heute gewiß allgemeine Verwunde-rung auslösen. Als Gegenstand und damit als Titel eines Seminars mit dem Ziel,der Forschung Impulse zu geben, würde man spezifische inhaltliche oder metho-disdie Probleme, nicht aber eine Disziplin als Ganzes erwarten. Den Initiatorender im Sommer 1977 in Trier durchgeführten Veranstaltung schien es aber wederunsinnig noch erwartungswidrig, ein Forschungsseminar für Entwicklungspsycho-logie anzukündigen. Natürlich war der Name auch als Rahmen für verschiedene,aktuelle Forschungsfelder behandelnde Seminarprogramme gewählt, aber es warihm darüber hinaus auch eine eigene programmatische Funktion zugedacht. Wasist und zu welchem Zweck betreiben wir Entwicklungspsychologie? Dies ist imletzten Jahrzehnt zu einer Frage geworden, die auch Experten in Verlegenheitbringen kann. Von der Antwort wird aber Forschung und Anwendung geleitetsein. Übereinstimmung haben wir nicht zu erwarten.

Streit um Grenzen und Zugangswege

Gegenstand und Aufgaben der Disziplin können heute nicht als unstrittig verein-bart gelten. Baer & Wright schreiben 1974 im Annual Review of Psychology dasKapitel Entwidklungspsychologie und glauben sagen zu dürfen, »Developmentalpsychology may have a unique problem in this regard ... (it) needs to questionwhether it exists as a reviewable field« (Baer & Wright 1974, S. 1), und auf derSuche nach festem Grund fahren sie fort, »whether or not there is a developmentalpsychology, there is a child psychology« (ebd., S. 2), äußern sich aber skeptisch zurFrage, ob es notwendig und angemessen sei, für die Population der Kinder spe-zifische Gesetzmäßigkeiten zu postulieren, ob man nicht eher annehmen könne,die allgemeinen Gesetze des Verhaltens hätten auch bei jungen Menschen Geltung.Sie treiben die Häresie weiter und fragen, ob die Entwicklungspsychologie nichterst die Phänomene schaffe, die sie zu registrieren meint ».. . if the science of aculturebelieves that its members' development is age scheduled ... that its members'

development occurs in fixed sequences, can the culture . .. make that true?« (ebd.S

. 5). Wenn also die Entwicklungspsychologie ein »Märchenalter« annehmenwürde, werden sich Familien und Medien in ihren Angeboten und Erwartungendarauf einstellen. »Schulreife« als Voraussetzung zum Erlernen des Lesens kannals historisches Beispiel die These stützen, daß vorgeblich deskriptive Forschungin Wahrheit gesellschaftliche Fakten schaffen kann. Ist aber die Entwicklungs-

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Psychologie insgesamt ein Märchen, das Wahrheit wird, sofern ihre Behauptungennur verbreitet für wahr gehalten werden?Die Skepsis eines Baer oder Wright richtet sich gegen »klassische« entwicklungs-psychologische Konzeptionen, die von Rousseau bis Piaget, von Freud bis Erikson,von Stern bis Werner zu den grundlegenden Modellannahmen der Disziplin ge-hören: qualitativ unterscheidbare Stadien, die Existenz invarianter, notwendiger,also universaler Veränderungsreihen, die mehr oder weniger altersgebunden aufein definierbares Endniveau oder Stadium der Reife gerichtet sind. Wohlwill(1977) vertritt nochmals diese Konzeption und will den Begriff Entwicklungreserviert sehen für Veränderungen, die sich durch solche Modelle angemessen be-schreiben lassen.

Während Baer & Wright die Berechtigung der Annahme spezifischer Gesetz-mäßigkeiten von Veränderungen, die Entwicklung genannt werden,

in Zweifel

ziehen und als fraglich ansehen, ob solche eindeutig empirisch nachgewiesen seienund damit, ob der Entwicklungspsychologie eine abgrenzbare eigene Domänezukomme, wird der Wert der klassischen Modelle auch von anderer Seite in Fragegestellt. Veränderungen im Erwachsenen- und höheren Alter lassen sich nicht alsuniversal und auf einen Endpunkt gerichtet beschreiben. Handelt es sich deshalbnicht um Entwicklung? Sind nicht auch viele Veränderungen im Kindes- undJugendalter person-, gruppen- oder kulturspezifisch? Für wieviele Veränderungs-reihen konnten überzeugende empirische Belege für die Annahme einer invarian-ten, irreversiblen und zielgerichteten Sequenz von Veränderungsschritten beige-bracht werden? Wird die Domäne der Entwicklungspsychologie nicht allzu eng,

beharrt man auf den klassischen Modellvorstellungen?Die neuerlich wieder auflebende Analyse von Phänomenen des Wandels währendder gesamten Lebensspanne (Huston-Stein & Baltes 1976) führte zur Forderungnach einer Liberalisierung des klassischen Entwicklungskonzeptes. Die Definitions-merkmale Universalität, Invarianz, Irreversibilität, Unidirektionalität der Ver-änderungsschritte werden zur Disposition gestellt (Baltes in diesem Band). Wasist aber dann das Spezifikum jener Veränderungsprozesse, die wir Entwicklungnennen, was ist der Gegenstand der Entwicklungspsychologie?Unterstellen wir, daß Vorträge, Gesprächsrunden und die während des Seminarsdiskutierten Projekte eine repräsentative Auswahl entwicklungspsychologischerForschung und Theorienbildung darstellen, und suchen nach dem gemeinsamenNenner, werden wir uns schwer tun. Gibt es eine spezifische Problemsicht, gibt esspezifische Methoden, spezifische Personpopulationen und Zielgruppen als Defi-niens? Gibt es spezifische Veränderungen, abgrenzbar von Lern- oder Sozialisations-prozessen im allgemeinen? Viele Beiträge in diesem Band sind mühelos auch an-deren Teildisziplinen der Psychologie zuzuordnen. Ein Blick in die einschlägigenFachzeitschriften zeigt eine ähnliche Heterogenität der Ansätze.

Sieht man einmal

davon ab, daß die untersuchten Stichproben durch mehr oder weniger präziseAltersangaben gekennzeichnet sind,

fällt es schwer, weitere Gemeinsamkeiten zu

entdecken. Aber das Alter der Probanden wird auch in der Allgemeinen oder derDifferentiellen Psychologie mitgeteilt.

Was soll die Altersangabe? Rechtfertigt die Wahl einer Stichprobe mit einemDurchschnittsalter von unter 18 Jahren eine Zuordnung zur Entwicklungspsycho-logie, während eine Stichprobe von Armeeangehörigen oder College-Sophomoreseine Untersuchung zur allgemeinpsychologischen macht? Aber auch Erwachseneund ältere Menschen entwickeln sich

, sagen die Gerontologen und die Anwälteeiner »life-span developmental psychology«.

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Niemand bestreitet, daß mit Entwicklung ein Prozeß der Veränderung gemeintist. Sollte man also nicht zumindest einen Altersvergleich erwarten,

wenn eine

Arbeit der Entwicklungspsychologie zugeordnet wird? Wir müssen feststellen,daß

die Mehrzahl der unter Entwicklungspsychologie rubrizierten empirischen For-schungsarbeiten keinerlei Altersvergleiche enthält (vgl. Thomaes Beitrag zudiesem Band). Was also ist Entwicklungspsychologie?Wir müssen Gollin & Moodys Forderung zustimmen, die 1973 im Annual Reviewof Psychology das Kapitel Entwicklungspsychologie verfaßten: »It ought to beincumbant upon authors to make clear the developmental implications of theirwork. Unless developmental implications are made explicit, the value of a reportfor developmental theory is severely restricted ...« (Gollin & Moody 1973, S. 42).Aber auch sie geben keinen Aufriß von Fragestellungen und Perspektiven, die eineentwicklungspsychologische Anlage oder Interpretation von Forschungsarbeitenausrichten oder zumindest eine angemessene Klassifikation von Arbeiten als ent-wicklungspsychologisch relevant oder irrelevant ermöglichen würden. Sie registrie-ren nur, daß weder die Wissenschaftler, die ihre Arbeiten den Herausgebern vonFachzeitschriften vorlegen, noch diese Herausgeber ein klar umrissenes Konzeptvon Entwicklungspsychologie haben können. Bedarf es eines weiteren Beleges fürdie Existenz einer Identitätskrise der Disziplin?Auch die Autoren dieses Bandes vertreten unterschiedliche Konzeptionen undspiegeln damit die allgemeine Situation. Es wird dem Leser nicht schwerfallen,kontroverse Positionen zu erkennen, die sich in der Wahl des Menschenbildes, in

den zugeordneten deskriptiven und bedingungsanalytischen Modellen niederschla-gen und zu unterschiedlichen Forschungsfragen und methodischen Zugangsweisenführen. Ober die Angemessenheit des zugrundegelegten Menschenbildes kann manstreiten (vgl. die Diskussion organismischer und mechanistischer Modelle beiReese & Overton 1970; Langer 1969), über die Nützlichkeit deskriptiver (Wachs-tum, Stadienfolge, Differenzierung usw.) oder bedingungsanalytischer Modelle(Reifung, Sozialisation, kumulatives Lernen, Konstruktion) ebenfalls.Einige Autoren dieses Bandes (Gergen, Wicklund, Müssen) nehmen in ihren Ana-lysen des Verhaltens und der Sozialisation nicht auf Entwicklungsniveaus desSozialisanden Bezug, während die Mehrzahl organismisch/interaktionistische Sicht-weisen präferiert, in denen die bereits geleistete Entwicklung als eine der Be-dingungen für weitere Veränderungen herausgestellt wird (Oerter, Rauh, Schnee-wind, Hunt). Kagan mag Reifungshypothesen nicht ausschließen, Garbarino oderMüssen bevorzugen Modelle des kumulativen Lernens (vgl. auch Stevenson zurSozialisation in China), während Aebli, Uzgiris, auch Eckensberger & Reinshagenoder Hoffman Entwicklung als sukzessiven Aufbau deuten.Diese Gegenüberstellung könnte fortgeführt werden. Wir dürfen uns aber durchsolche Divergenzen den Blick für die Identität der Disziplin nicht verstellen lassen.Konsens über den Gegenstand der Entwicklungspsychologie läßt sich eher durcheine Betrachtung ihrer spezifischen Aufgaben erreichen als in einer Diskussion derModelle und Zugangsweisen.

Fragen an die Entwicklungspsycbologie

Um dem Gegenstand der Disziplin und ihren spezifischen Anliegen näher zukommen, wählen wir also den eher ungewöhnlichen Weg, jene Aufgaben undProbleme zu skizzieren, die ihr von Anwendungsdisziplinen wie der Pädagogi-

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sdien, Klinisdien, Forensisdien Psychologie oder von Bildungs-, Wirtsdiafts- oder

Reditsinstitutionen vorgetragen werden.

Orientierung über die Psychologie einzelner LebensabschnitteVerbreitet hat man der Entwicklungspsychologie die Aufgabe einer möglichstumfassenden Orientierung über die Psychologie unterschiedlicher Lebensperioden

zugeschrieben. Was hat man von einem Säugling, einem Grundsdiulkind, einemJugendlichen, einem Erwachsenen, einem Greis zu erwarten? Welche Kompetenzen,Einstellungen, Interessen darf man voraussetzen? Welche Anforderungen sind an-gemessen, in welcher Hinsidit ist Schutz oder Schonung geboten? Welche Abwei-chungen vom Durchschnittsbild sind möglich, was bedeuten sie aktuell und fürdas weitere Leben? Wie ist das künftige Leben in günstiger Weise zu beeinflussen,welche präventiven Maßnahmen sind wann und in welcher Weise zu ergreifen?

Entwicklungspsychologie wird so zu einem Führer durch den Lebenslauf für alle,die in irgendeiner Weise Einfluß nehmen. Welche Entscheidungen auch anstehen- die Wahl eines Gesprächsthemas oder eines Geschenkes, die Festlegung vonUnterrichtsstoffen oder des Sorgerechts, die Regelung des Rentenalters oder dieBestrafung eines Vergehens - sie implizieren entwicklungspsychologische Erkennt-nisse oder Meinungen. Die Überzeugung ist weit verbreitet, daß die einzelnenLebensperioden ihre eigene Psychologie haben, und die Entwicklungspsychologiehat die Aufgabe übernommen, diese zu entwerfen.Die klassischen Phasenlehren sind bis heute eine einflußreiche Antwort, obwohldie heute lebende Generation von Wissenschaftlern diese Portraits von Lebens-laufsabschnitten in hohem Maße unbefriedigend findet (Wohlwill 1977). Das hatmehrere Gründe. Einmal sind in diesen typisierenden Phasenportraits inter-individuelle Unterschiede übersehen oder unterschätzt worden. Zweitens hat mandie Grenzen zwischen Phasen überbetont und damit auch deren Besonderheiten(Mönks & Hill diskutieren dieses Problem in ihrem Beitrag zur Psychologie desJugendalters). Eine präzisere empirische Abklärung machte drittens eine Konzen-tration auf jeweils nur eine oder wenige Variablen notwendig. Viertens wurdehinsichtlich einzelner Variablen eine beträchtliche Plastizität und Altersvarianzbeobachtet, wodurch sich das Interesse von der Deskription phasentypischerUnterschiede auf die Analyse ihrer Bedingungen verlagerte: Die Bedingungs-analyse setzt aber an der interindividuellen Variation und nicht an modalenMerkmalen an, auf die sich Phasendarstellungen konzentrieren.An die Stelle der globalen Entwürfe von Altersabschnittportraits trat also diesystematische empirische Analyse einzelner Variablen, deren Veränderung be-schreibend und erklärend analysiert wurde. Die Einengung des Gesichtsfeldes aufdie Analyse jeweils nur einer oder weniger Variablen wird heute aber allenthalbenals problematisch erlebt: Die Suche nach Zusammenhangsmustern zwischen mehre-ren Variablen dürfte in den kommenden Jahren deutlich zunehmen. Es wird abernicht mehr zu einem Wiederaufleben der am Lebensalter orientierten Phasenlehrenkommen. Das Lebensalter ist keine psychologische Variable und daher für ent-wicklungspsychologische Theorienbildung von begrenztem Wert. Die Forschunghat für die Mehrzahl der untersuchten Dimensionen eine beträchtliche Alters-variation in Funktion der realisierten Erwerbsbedingungen aufgezeigt. Alter er-klärt Veränderung nicht, kann also lediglich als grober und oft fehlleitender Indexfür die in einem Zeitabschnitt gegebenen Bedingungskonstellationen gewertet wer-den. Als Bedingungsvariable wäre dann eher »funktionales Alter« oder »Entwick-lungsalter« (vgl. Wohlwill 1977) vorzuziehen.

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Wir können die globale Aufgabe der Orientierung in drei verschiedene,wenn auch

miteinander verflochtene Aspekte differenzieren. Es handelt sich um die Prognosevon Veränderungen, die Begründung von Interventionszielen und die Planungvon Interventionsmaßnahmen.

Prognose der Ausprägung und Veränderung von Personvariablen

Jede Maßnahme, sei sie optimierend, präventiv oder korrektiv, fußt auf entwick-lungspsychologischen Prognosen. Ohne Vorhersage von Entwicklungsverläufen,

drohenden Störungen oder »spontanen« Remissionen, fehlt jeder Entscheidung dierationale Grundlage: Eine Maßnahme mag dringend geboten sein, sie mag über-flüssig, unwirksam oder gefährlich sein, wir wissen es nicht (Montada & Filipp1977).Zwei Aufgaben der Prognose sind zu unterscheiden

, eine allgemeine und einedifferentielle. Die allgemeine Vorhersage von Veränderungen bzw. von Nicht-Veränderungen basiert auf Altersnormen einer Population oder auf beobachtetenEntwicklungstendenzen und Zusammenhangsmustern (vgl. die Beiträge von Rauh,Uzgiris, Kagan, Lewis & Brooks, Conger, Mönks & Hill, Eckensberger & Reins-hagen). Gibt es ein Wachstum der Wechsler-Intelligenz nach dem 20. Lebensjahr?Wann können Kinder im allgemeinen das Lesen erlernen? Wann fremdeln sie?Dies sind typische Fragen.Hiervon zu unterscheiden sind differentielle Vorhersagen für einzelne Personenoder Klassen von Personen

. Welche entwicklungspsychologischen Befunde undTheorien erlauben eine solche differentielle Prognose? Als Basis dienen heute meistStabilitätsdaten, wie wir sie aus den großen Längsschnittuntersuchungen kennen.

Sie erlauben es, die Stabilität oder Veränderung der interindividuellen Unter-schiede auf einer Dimension über mehr oder weniger lange Zeit vorauszuschätzenund damit die Stabilität oder Veränderung der Position einer Person in der Rang-reihe der Altersgruppe anzugeben. Die Berkeley-Growth-Study für die Entwick-lung der Intelligenz (Bayley 1968), Terman & Oden (1959) für die EntwicklungHochbegabter, die Fels-Studie für einige Persönlichkeitsmerkmale (Kagan & Moss1962), Clarizios Studie zur »spontanen« Remission (d. h. hinsichtlich der Bedin-

gungsfaktoren nicht aufgeklärten Remission) von Störungen (Clarizio 1969) sindbekanntere Beispiele. Wo liegen die Leistungsgrenzen dieses Verfahrens?Die heute vorliegenden empirischen Daten lassen hinsichtlich der Mehrzahl deruntersuchten Dimensionen beträchtliche Instabilität der relativen Position über dieZeit erkennen. Sie erlauben somit keine präzise Vorausschätzung.

Instabilität be-

deutet, daß es beträchtliche interindividuelle Unterschiede in den entwicklungs-mäßigen Veränderungen gibt. Instabilität heißt aber nicht Zufälligkeit oder Ge-setzlosigkeit. Als erstes müßte man fragen,

ob Personenklassen mit hohen vonPersonenklassen mit niedrigen Stabilitätskoeffizienten unterschieden werden kön-nen. In der Fels-Studie hat man diesen Weg beschritten und für die VariablenAggressivität bzw. Passivität unterschiedliche Stabilitätskoeffizienten für männ-liche und weibliche Probanden errechnet (Kagan & Moss 1962).

Als zweites könnte

man bei Instabilität Klassen mit gleichen Veränderungsmustern zu identifizierensuchen, also z. B. eine Klasse mit stetigem IQ-Anstieg von einer Klasse mit steti-gem IQ-Abfall unterscheiden (Sontag et al. 1958). Regelhafte Änderungsmustersind prognostisch nutzbar zu machen.

Die Schwierigkeit wird in der Regel weniger in der Unterscheidung von Ände-rungsmustern als in der Identifikation jener Merkmale liegen,

die eine Personen-

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klasse mit spezifischem Entwicklungsverlauf definieren. Dies können Charakte-ristika der Person, ihrer Umwelt oder ihrer Bezüge zur Umwelt sein, und zwarnicht nur aktuell gegebene, sondern zeitlich mehr oder weniger weit zurücklie-gende. Die Suche nach solchen definierenden Merkmalen wird geleitet sein durchHypothesen über das Bedingungsgefüge von Entwicklungsverläufen, also durchEntwicklungstheorien.Ohne empirisch fundierte Entwicklungstheorie, sondern lediglich auf der Basisempirisch ermittelter Stabilitätskoeffizienten oder Verlaufsmuster steht jede Pro-gnose auf schwachem Fundament, auch wenn - wie etwa im Falle des Intelligenz-koeffizienten zwischen dem Grundschulalter und dem Erwachsenenalter (Bloom1973) - die Stabilitätskoeffizienten hoch sind. Wir können auf solche Stabilitäts-koeffizienten nur dann eine gültige Vorhersage gründen, wenn wir die Bedingungenfür die Stabilität oder Instabilität kennen. Vermuten wir, daß diese in der Ent-wicklungsumwelt liegen, müssen wir uns z. B. fragen, ob Stabilität vielleicht durchdie gleichbleibende Qualität der sozioökologisdien Umwelt (für alle oder eineMehrzahl der Mitglieder der Untersuchungspopulation) bedingt sei, bei welchenUmweltveränderungen in welcher Entwidklungsperiode die Stabilität erhaltenbleibt, bei welchen sie geringer wird? Eine solche Bedingungsanalyse ist entwederdurch Interventionsforschung (McV. Hunt in diesem Band) oder durch eine diffe-rentielle Entwicklungspsychologie zu leisten, in der stabil bleibende Gruppen mitGruppen unterschiedlicher Entwicklungsmuster vergleichend analysiert werden(Thomae in diesem Band über die Zielsetzungen von Längsschnittstudien). Stabili-tätsdaten müssen ergänzt werden durch eine Voraussage des Auftretens und derVariation der Stabilitätsbedingungen im Prognosezeitraum.Die Abklärung, welche Umwelt- oder Personvariablen, zu welchem Zeitpunkt derEntwicklung erfaßt, bei welchen Personklassen zur Prognose herangezogen werdenmüssen, scheint eine entmutigend komplexe Forschungsaufgabe zu sein. Sie wirdsich zudem ständig neu stellen, da sich die Menschen ändern und die Welt, in dersie leben. Daß Entwicklungspsychologie wohl von Generation zu Generation neugeschrieben werden muß, darauf deuten die teilweise überraschend großen Unter-schiede zwischen nicht einmal weit auseinanderliegenden Geburtenjahrgängen hin(Baltes, Cornelius & Nesselroade 1978).

Begründung von Entwicklungs- oder InterventionszielenSelbstverständlich kann auch die Entwicklungspsychologie aus Seinssätzen keineSollsätze ableiten. Es wäre aber kurzsichtig und würde die Realität verkennen,wollte man leugnen, daß entwicklungspsychologische Forschung vielfältige prä-skriptive Implikationen für Zielwahl und zielbezogene Entscheidungen hat(Brandtstädter & Montada 1977; Montada & Filipp 1977).So liefert die beschreibende Entwicklungspsychologie Altersnormen, die Bezugs-punkte für die Festlegung individueller Sozialisationsziele, für Erwartungen undAnforderungen, für die Diagnose von Störungen oder allgemeiner für die wer-tende Beurteilung von Personen und ihren Verhaltensweisen liefern. Darüberhinaus haben entwicklungspsychologische Schulen ontogenetische Veränderungs-reihen als Trends interpretiert, bei denen sich Endformen oder Reifestadien aus-machen lassen, die als Zielpunkte geleiteter Entwicklung begriffen werden. Bei-spiele hierfür sind etwa die formallogischen Operationsstrukturen bei Piaget, dieStufe der prinzipienorientierten Moralität bei Kohlberg, die realitätsangepaßte Be-dürfnisbefriedigung und genitale Sexualität bei Freud, Ich-Identität bei Erikson,Selbstaktualisierung bei Maslow usw. (Montada & Filipp 1977).

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In mehreren Beiträgen zu diesem Band wird die positive Wertung der als End-formen begriffenen Stadien einer Entwicklungssequenz ebenfalls deutlich: so inEckensberger & Reinshagens Strukturanalyse des moralischen Urteilens

,in Mc

Clellands Stufenmodell der Typen des Machtmotivs, in Loevingers Konzeptionder Ich-Entwicklung, in Schneewinds Diskussion der Kompetenz zur Selbstopti-mierung, in Hoffmans Analyse der Empathiegenese. Daß die jeweils als entwick-lungsmäßig reifere Formen interpretierten Stufen als Ziele geleiteter Entwicklungfungieren, zeigt sich daran, daß erzieherische und therapeutische Interventions-programme an diesen deskriptiven Entwidklungsstudien ausgerichtet werden.Viele vorschulische Förderungsprogramme haben sich an Aufgabenreihen derGenfer Schule oder anderen Entwicklungssequenzen (Hunt in diesem Band)orientiert, die lediglich als Deskription der kognitiven Entwicklung konzipiertwaren. Die Therapieziele der Psychoanalyse und anderer Schulen sind an denEnd- und Reifestadien orientiert. Kohlbergs Beiträge zur Moralerziehung sindebenfalls an seiner Entwicklungsskala ausgerichtet (Kohlberg 1971).Daß das entwicklungsmäßig Spätere auch das Erstrebenswertere sei, wird vielfach

ohne weitere rationale Begründung akzeptiert. Lediglich vor dem Hintergrundverbreiteter naturphilosophischer Grundüberzeugungen verwundert dies insofernnicht, als die Entwicklungspsychologie lange Zeit vorgab,

den »natürlichen« Ent-

wicklungsverlauf mit den »natürlichen« Entwicklungszielen zu beschreiben.Daß dieser Anspruch und damit das Begründungsargument problematisch seinkann, darauf haben jene Forscher hingewiesen, die Entwiddung (vor allem diePersönlichkeits- und Sozialentwicklung) nicht als ein-,

sondern als mehrdimensio-

nalen Prozeß mit individuell unterschiedlichen Richtungen ansehen,welche durch

unterschiedliche sozioökologische Einflüsse mitbestimmt werden (vgl. hierzu vorallem die Beiträge von Baltes, Oerter, Mönks & Hill und Conger). Wo es abernicht einen einzigen (»natürlichen«) Endpunkt, sondern mehrere Entwicklungs-möglichkeiten gibt, brauchen wir weitere Kriterien zur Bewertung und Auswahlvon Zielen. In der Psychologie der Jugendzeit und des Erwachsenenalters ist dieMultilinearität von Veränderungsreihen die Regel (auf mögliche Ausnahmen wei-sen die Beiträge von Loevinger, McClelland, Eckensberger & Reinshagen sowieSchneewind hin).In anderer Weise liefern entwicklungspsychologische Bedingungsanalysen Beiträgezur Begründung von Entwicklungs- und Interventionszielen. Bedingungsanalysenliefern Gesetzmäßigkeiten, in denen Voraussetzungen (Mittel, Subziele symboli-siert als A) für das Erreichen bestimmter Wirkungen (»Endziele«, symbolisiertals B) spezifiziert werden. Durch die Verknüpfung normativer Prämissen (Fest-legung eines anzustrebenden Endzieles B) und empirisch begründeter Gesetzes-prämissen (Sätze nach Art »Wenn A dann B«) werden Mittel als Subziele be-gründet, weil sie als Voraussetzung für das Erreichen der normativ gesetzten»Endziele« anzusehen sind

. Die Endziele sind gesetzt und nicht begründet, wäh-rend die vorzuschaltenden Subziele aus empirisch fundierten Entwicklungsgesetzenrational abgeleitet werden (Brandtstädter & Montada 1977).Die entwicklungspsychologische Bedingungsanalyse leistet nun eine Ausweitungder Grenzen für eine derartige rationale Begründung von Zielentscheidungen, undzwar aus folgenden Gründen: Spezifisch entwicklungspsychologische Perspektiven- wie die Beobachtung langfristiger Aus- und Nebenwirkungen, die Beobachtungspäterer Derivate von Merkmalen und die Verflechtung von Entwicklungslinienin unterschiedlichen Funktionsbereichen - weiten die Betrachtung auf Derivate,Spät- und Nebenfolgen und Zusammenhangsmuster aus.

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Jede rationale Begründungsargumentation, wie sie oben geschildert ist, enthältzwar notwendigerweise die Setzung eines Zieles (normative Prämisse). Das Er-reichen dieser gesetzten Ziele kann aber wiederum auf Folgen, Derivate oderNebenwirkungen untersucht und unter Betrachtung dieser nach dem gleidienMuster rational bewertet werden. Letztziele sind also nicht immer vorgegeben,sondern in einer aktuellen Begründungsargumentation als solche gesetzt. Jede

Setzung ist ein willkürlicher Abbruch rationaler Begründung unter Bezugnahmeauf weitere Folgen der Erreichung dieses Ziels. Von einem definitiven Ziel zusprechen, würde aber heißen, daß das Erreichen dieses Ziels keine weiteren Folgenhaben würde. Selbstverständlich kennt die Psychologie in diesem Sinne keineletzten Ziele. Jedes Ziel ist prinzipiell auf weitere Folgen hin zu analysieren. DerBereich rational begründbarer Entscheidungen, d. h. Entscheidungen, die prinzipiellauf empirisch gesichertem Gesetzeswissen fundiert werden können, ist prinzipiell

unbegrenzt, so lange man nicht den Bereich psychologischer Begriffs- und Theo-

rienbildung verläßt.Die praktischen Probleme, die Zusammenhänge, die Nebenwirkungen, Spätfolgenoder Derivate einzuschätzen, wird vielleicht nie gänzlich zu bewältigen sein, abermit fortschreitender Erkenntnis werden die Entscheidungshilfen zunehmend grö-ßere Gültigkeit haben. Welche Ziele eines Vaters für seinen Sohn, eines Bildungs-systems für die jugendlichen und erwachsenen Schüler begründbar sind, muß ent-wicklungspsychologische Forschung erweisen. Angesichts der Schwierigkeiten, ineiner aktuellen Entscheidungssituation alle Folgen einer Zielentscheidung zu pro-gnostizieren, verwundert es allerdings nicht mehr, wenn an die Stelle inhaltlich-konkreter, mit Geltungsanspruch vorgetragener normativer Setzungen Konzeptewie Selbstoptimierung (Schneewind in diesem Band) oder Selbstaktualisierung(Rogers 1961) treten. Nach diesem Modell ist es das Ziel geleiteter Entwicklung,die Kompetenz der Entscheidung jedem Einzelnen zu übertragen. Wie er dieKompetenzen der Selbstoptimierung erwerben kann und welche Barrieren diesemZiel entgegenstehen mögen, muß allerdings entwicklungspsychologisch orientierteSozialisationsforschung erweisen. Solche Barrieren wurden in rigider Gewohn-heitsbildung, in mangelnder Autonomie des Wertens, in ängstlicher Fixierung anAutoritäten oder Wertüberzeugungen und in einer geringen sozialen oder kommu-nikativen Kompetenz gesehen (Brandtstädter & Schneewind 1977). Wird Selbst-optimierung als »Endziel« gesetzt, werden uns entwicklungspsychologische Er-kenntnisse dieser Art die Zwischenziele nennen. Soll Selbstoptimierung selbstrational begründet werden, muß entwicklungspsychologische Forschung die Folgenerreichter Selbstoptimierung ausmachen.

Bewertung von Entwicklungsbedingungen und Gestaltung von Interventionsmaß-nahmen

In Anlehnung an eine von Baltes (1973) vorgeschlagene Formel können wir Ver-halten und Verhaltensänderungen (V) als Folge (f) aktueller (ti) und/oder zeit-lich unterschiedlich weit zurückliegender (ti-n) Personvariablen (P), Variablen desVerhaltens oder der Verhaltensänderung (V) und/oder Umweltvariablen (U)ansehen:

Vt = f (Pti - tl-n» Vti - tl-n> Uti - U-n)

Die entwicklungspsychologische Bedingungsanalyse unterscheidet sich z. B. von derallgemein-, differentiell- oder ökopsychologischen durch folgende zwei Besonder-heiten. Einmal werden nach Möglichkeit nicht punktuell beobachtete Verhaltens-

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weisen, sondern Verhaltensänderungen und Änderungsreihen (also z. B. eine Ent-wicklungskurve der Intelligenz) als abhängige Variable betrachtet, zum anderenwird untersucht, inwieweit Charakteristika des Entwicklungsstandes als Bedin-gungsvariablen eine Rolle spielen. Verhaltensänderungen, die unabhängig vomEntwicklungsstand in jeder Lebensperiode einer Person möglich sind, sind nichtentwicklungsabhängig, sie können unter allgemeinpsychologischer Perspektiveuntersucht werden. (Vgl. die Beiträge Weinerts und Kails zur Gedächtnisentwick-lung.)Die Analyse des Entwicklungsniveaus (und -Verlaufs) als einer der Bedingungs-variablen kommt in den klassischen Konzepten Reifestand und sensible Periodebesonders anschaulich zum Ausdruck: Effekt und Effizienz von Einflußfaktoren,gleich welcher Art, werden als eine Funktion des Entwicklungsniveaus betrachtet.Insofern mögen Altersnormen oder allgemeiner jede Beschreibung von Entwick-lungsniveaus, welches deskriptive Modell - Wachstum, Differenzierung, Stufen-und Phasenfolge - auch gewählt wird, einen nützlichen Beitrag zur entwicklungs-psychologischen Bedingungsanalyse leisten.Eine Entwicklungsabhängigkeit von Einflußfaktoren können wir immer dannvermuten, wenn eine Veränderung der korrelativen Zusammenhänge zwischenantezedenten und abhängigen Variablen als Funktion des Alters (Lebensalter,Entwicklungsalter oder »funktionales Alter«) vorzufinden ist (Montada & Filipp1977).Die Entwicklungsabhängigkeit von Bedingungsfaktoren liegt auf der Hand, wenneine Veränderungsreihe als Aufbauprozeß beschrieben werden kann, wie dies fürsensumotorische (Piaget 1969; Uzgiris in diesem Band), sprachliche (McNeill1970), kognitive (Aebli 1970 und in diesem Band), sozialkognitive (Hoffmansowie Eckensberger 8c Reinshagen in diesem Band), motivationale (Heckhausen1974) oder die Gedächtnisentwicklung (Kail in diesem Band) formuliert wurde. EineWeiterentwicklung wird immer auch als Funktion der bereits geleisteten Entwick-lung interpretiert, Interventionsmaßnahmen müssen sich am Stand des Aufbau-prozesses orientieren. Eine Gleichsetzung von Entwicklung mit lebensalterkorre-lierten Veränderungen scheint in dieser Betrachtung zu eng und daher wenigglücklich: Wir können jede Veränderungsreihe mit einem inneren sachlogischenZusammenhang (Thomae 1959; Heckhausen 1974) als Entwicklung interpretieren,also unabhängig vom Lebensalter jeden Aufbauprozeß mit einer Logik der einzel-nen Veränderungsschritte (vgl. Aeblis Beitrag).Die entwicklungspsychologische Betrachtungsweise wird besonders deutlich, wenndie Verflechtung - die Zusammenhangsmuster - mehrerer Veränderungsreihenbetrachtet werden (vgl. Rauhs Beitrag für eine ausführliche Diskussion). JedesStufenmodell, das mehr als eine Variable umfaßt, enthält notwendigerweise An-nahmen über die Zusammenhänge zwischen diesen. Eine Stufe wird als integriertesSystem betrachtet, in dem verschiedene Subsysteme zu einer Gesamtstruktur ver-einigt werden. Piagets Konzept der Gesamtstruktur (Piaget 1970) beinhaltet diegegenseitige Abhängigkeit der Entwicklung verschiedener operatorischer Schemata(Klassifikation, Seriation, deduktives Schließen, Zahl). Rauh unterscheidet in ein-leuchtender Weise synchrone von diachronen Zusammenhangsmustern. Letzterelassen sich als Voraussetzungs-Folgezusammenhang interpretieren, wie er in jedemAufbauprozeß postuliert wird. Der schrittweise Erwerb von Kompetenzen zurRollenübernahme als Voraussetzung für den schrittweisen Aufbau moralischerUrteilsstrukturen (Selman 1976; Kohlberg 1976) ist ein Beispiel. Der Zusammen-hang zwischen sozialer und intellektueller Entwicklung (Ainsworth 1973), die

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Zusammenhänge zwischen verschiedenen Motivsystemen (Unabhängigkeitsmotivals Vorläufer für Leistungsmotiv, vgl. Heckhausen 1971) sind andere.Hypothesen über Zusammenhangsmuster werden in diesem Band von mehrerenAutoren formuliert, so von Kagan über die Verzahnung von kognitiver und so-zialer Entwicklung, von Hunt über die Verflechtung von Lernmotivation undintellektueller Entwicklung, von Hoffman über kognitive Entwicklung als Vor-aussetzung des Mitfühlens, dieses als Voraussetzung des prosozialen Verhaltens,von Kail oder Reese über den Einfluß des Aufbaus von Wissen

, Speicherungs-und Abrufstrategien auf der einen und Veränderungen der Gedächtnisleistungauf der anderen Seite. Die Analyse der Zusammenhänge zwischen Vorläufernund Voraussetzungen auf der einen, Derivaten und Folgen auf der anderen Seiteist ein spezifischer Ansatz einer systemorientierten entwicklungspsychologischenBedingungsanalyse.Interventionsforschung als ein Teilgebiet der entwicklungspsychologischen Be-dingungsanalyse ist an den gleichen Fragestellungen zu orientieren. Welche Maß-nahmen sind bei welchen Voraussetzungen geeignet, ein gegebenes Interventions-ziel zu erreichen? Welche kurzfristigen, welche langfristigen Folgen sind zu er-warten?

Letzteres ist nur durch multivariate follow-up Studien zu erfassen, die die lang-fristige Wirkung bestimmter Sozialisations- und Interventionsbedingungen auf-zeigen können. Solche follow-up Studien sind in der entwicklungspsychologischenLiteratur nicht gerade häufig. Skeels' Studie über das Lebensschicksal von Heim-kindern nach einem kurzzeitigen Förderungsprogramm im Kleinkindalter (Skeels1966), Sears' (1961), Kagan & Moss' (1962) Untersuchungen über die Auswirkun-gen familiärer Sozialisationsvariablen auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung,Levitts (1957) und Lewis' (1965) Überblicksreferate zur Genese pathologischerStörungen, Glück & Glücks (1968) Monographie über die Sozialisationsbedingun-gen der Delinquenz oder Glenn Eiders Studie (1974) über die Auswirkung dergroßen wirtschaftlichen Depression gehören zu den selteneren Ausnahmen. JedeEntscheidung über Sinn oder Notwendigkeit einer Intervention setzt neben einerPrognose der weiteren ungeleiteten Entwicklung eine Prognose über die Effektivi-tät der Interventionsmaßnahmen voraus, wobei die Langzeitwirkungen ebenso zubetrachten sind wie die Interaktionen mit Entwicklungsvoraussetzungen und weite-ren Bedingungsvariablen. Mit welchen Methoden sind angemessene Beiträge zurentwicklungspsychologischen Fundierung einer Interventionsplanung zu gewin-nen?

Ein Großteil der uns zur Verfügung stehenden Korrelationsdaten muß diesbezüg-lich mit Skepsis beurteilt werden. Vergegenwärtigen wir uns Cattells Kovaria-tionsmatrix mit den drei Dimensionen Personen

, Variablen und Meßzeitpunkteund die verschiedenen Möglichkeiten der Analyse von Kovariation (R, Q, S, O,P

, T-Analyse) (Cattell 1966; Bäkes, Reese & Nesselroade 1977), dann müssen wirmit Bedauern feststellen, daß uns heute fast ausschließlich mit R-Techniken ge-wonnene Daten vorliegen, die lediglich einen Zusammenhang zwischen Variablenangeben, ohne aber die Zeitdimension und damit die Stabilität oder Veränderungdieses Zusammenhangs über die Zeit zu erfassen.Ein Beispiel: Unterschiede im Erziehungsstil der Mütter werden mit Unterschiedenin bestimmten Merkmalsdimensionen (beispielsweise Aggressivität) der Kinderkorreliert. Wir wissen aus diesen R-Korrelationen nicht

, ob sich Veränderungenim Erziehungsstil der Mütter ebenfalls in Veränderungen der korrelierten Merk-malsdimensionen der Kinder niederschlagen (vgl. Abb. 2). Hierzu brauchten wir

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Variablen

1 2

1

2

Pe

rso

ne

N

\\

Variablen

Abb. 1: R-Korrelation: Aus der Kovariationsmatrix wird eine Facette betrachtet,

die dieKovariation zwischen 2 oder mehr Variablen bei 2 oder mehr Personen zu1 Zeitpunkt angibt.

Variablen (V)

1 2

N

Variablen

Abb. 2: P-Korrelation: Aus der Kovariationsmatrix wird eine Facette betrachtet,

die dieKovariation zwischen 2 oder mehr Variablen zu 2 oder mehr Zeitpunkten bei1 Person angibt.

Korrelationen auf der Basis intraindividueller Veränderungen, die mit P-Tech-niken analysiert werden können.Gegen eine voreilige Generalisation von Kovariationen des Typs R auf Kovaria-tionen des Typs P sprechen eine Anzahl von Argumenten. Interpretieren wirz. B. eine Korrelation zwischen Erziehungsstil und Aggressivität als Ursache-Folge-Beziehung und planen eine Intervention zur Reduzierung hoher Aggressivi-tät über eine Veränderung des Erziehungsstils, müßten wir zuvor die Wirkungeneiner Veränderung des Erziehungsstils auf den Sozialisanden untersucht haben.Trotz gegebener Kovariation des Typs R braucht eine Umstellung des Erziehungs-stils nicht den erwünschten Effekt zu haben. Beispielsweise könnte sich die Aggres-sivität bereits auf einem bestimmten Niveau stabilisiert haben, oder die Eltern

mögen zwischenzeitlich ihren erzieherischen Einfluß eingebüßt haben. Wir brau-chen also im engeren Sinn entwicklungspsychologische Studien: Wir benötigenKorrelationsanalysen, die die Veränderungen der Kovariation zwischen Sozialisa-tions- und Meßvariablen erfassen, korrelationsstatistische Kausalanalysen undInterventionsstudien experimenteller oder quasiexperimenteller Natur (vgl. Mon-tada & Filipp 1976).

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Nun haben wir in der entwicklungspsychologischen Literatur zwar experimentelleUntersuchungen im Überfluß, aber vielfach nicht die geeigneten, was weiter untenausgeführt wird: Erstens ist die Mehrzahl der Untersuchungen nicht entwick-lungspsychologisch angelegt, zweitens handelt es sich meist um Laborunter-suchungen mit Ungewisser ökologischer Validität.

Forderungen an die entwicklungspsychologiscbe Forschung

Die vorstehende Aufgabenanalyse kann als Herausforderung an die Disziplin ver-standen werden. Will sich die Entwicklungspsychologie den skizzierten Aufgabenstellen, wird sie ihre Forschungspraxis überdenken müssen. Die angesprochenenProbleme sind gewiß nicht leicht zu lösen, müssen aber angepackt werden. Diefolgenden Thesen fassen die wichtigsten Desiderata zusammen, die in aktuellenDiskussionen formuliert werden.

Entwicklungspsychologie statt Psychologie einzelner LebensperiodenEin Blick in die Fachzeitschriften zeigt, daß ein nicht geringer Teil der unter Ent-wicklungspsychologie rubrizierten Forschungsarbeiten keines der oben herausge-stellten Attribute aufweist. »Contemporary developmental psychologists primarilyfocus on specific behaviors displayed by immature organisms at a single age«kritisiert McCall (1977, S. 337), nachdem er feststellt, daß überhaupt nur derkleinere Teil der Publikationen in den Fachorganen irgendwelche Altersvergleicheenthält (vgl. auch Thomaes Beitrag, S. 31). In der Tat sagen experimentelleUntersuchungen mit einer einzigen Altersstichprobe lediglich etwas über die Effek-tivität der experimentellen Variablen, als solche aber noch nichts über Entwick-lung. Die Analyse der Verarbeitung von Ereignissen wie Gebären eines Kindes,Scheidung oder Arbeitslosigkeit ist allein durch deren Klassifikation als »kritischeLebensereignisse« noch nicht entwicklungspsychologisch ergiebig, auch wenn solcheErfahrungen an bestimmte Lebensperioden gebunden sind.Untersuchungen werden entwicklungspsychologisch interessant, wenn die Wirkungder experimentell realisierten oder der Lebensumstände in verschiedenen Periodender Entwicklung, auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau, also vergleichenduntersucht wird; wenn ihre Auswirkungen auf weitere Veränderungen mittel- undlangfristig analysiert, wenn ihre Interaktion auch mit zeitlich weit zurückliegen-den Einflußfaktoren, bzw. deren aktuellen Repräsentationen, bzw. den aus diesenresultierenden Systemmerkmalen geprüft werden.Wenn keine dieser Kernfragen gestellt ist, können wir eine Untersudiung nicht alsentwicklungspsydiologische qualifizieren. Eine Altersangabe zur gewählten Stich-probe reicht nicht aus, auch wenn in einer zusammenfassenden Interpretationmehrerer unabhängig konzipierter Untersuchungen Altersvergleiche angestelltwerden können. Das heißt, daß solche Untersuchungen allenfalls entwicklungs-psychologisch auswertbar sind; sie sind aber nicht als solche angelegt.Schon um der Gefahr einer Überzeichnung der für einen Lebensabschnitt spe-zifischen Besonderheiten zu entgehen (Mönks & Hill weisen in ihrem Beitrag aufdieses Problem hin), ist systematische vergleichende Analyse notwendig, vor allemaber ist weder über die Genese noch über die weiteren Veränderungen etwas inErfahrung gebracht, wenn die Betrachtung auf einen Abschnitt beschränkt bleibt.Notwendigerweise bleibt die Analyse also deskriptiv (Wohlwill 1977), Entwick-lungsgesetze können auf diese Weise nicht erarbeitet werden. Wie sollte man sichaber dem Problem Entwicklung nähern?

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Analyse von Veränderungen statt Dokumentation von Altersunterschieden

Sehen wir die Analyse intraindividuellen Wandels als Gegenstand der Entwick-lungspsychologie, finden sich im strengen Sinne in der bisherigen Forschungslite-ratur nicht viele einschlägige Untersuchungen. Was wir meist haben,

ist eineDokumentation von Altersdifferenzen hinsichtlich einzelner Meßvariablen sowiehinsichtlich der Wirkung bestimmter Maßnahmen oder Ereignisse, wie z. B. spe-zifischer Lernanordnungen oder Sozialisationsbedingungen.Ist das Ziel die Gewinnung von Altersnormen, müssen nach Möglichkeit reprä-sentative Stichproben hinreichend vieler Alterspopulationen untersucht werden.

Dies wurde meist mit Querschnittsplänen zu leisten versucht, in denen Stichprobenverschiedenen Alters zum selben Zeitpunkt beobachtet und verglichen werden kön-nen. Die ermittelten Differenzen wurden anschließend interpretiert,

als seien sie

durch einen Wandel zustandegekommen. Eine solche Deutung mag in einigenFällen angemessen sein, in anderen ist sie falsch. In jedem Falle aber ist nur durcheine Längsschnittuntersuchung zu entscheiden,

ob sie zutrifft oder nicht.

Schaie (1965) und Bäkes (1968) haben darauf aufmerksam gemacht,daß sich die

in Querschnittsuntersuchungen eingehenden Stichproben nicht nur hinsichtlich desAlters, sondern auch hinsichtlich ihres Geburtsjahrgangs (man spricht von Genera-tions- oder »Kohorten«-Zugehörigkeit) unterscheiden: Beobachtete Differenzenkönnen auf Alters- oder auf Generationsunterschiede oder auf beides zurückge-führt werden. Die Variablen Alter und Generationszugehörigkeit sind konfun-diert. Wenn wir beispielsweise zwischen zwei querschnittlich erfaßten Altersstich-proben keine Unterschiede finden, können wir das nicht als Fehlen intraindividuel-len Wandels in dieser Altersspanne interpretieren, es mag sein, daß die jüngereKohorte z. B. wegen verbesserter Bildungseinrichtungen den Stand der älteren infrüherem Alter erreicht hat. Eine Längsschnittanalyse könnte ergeben,

daß beide

Kohorten in der fraglichen Altersspanne ein Wachstum aufweisen.Eine rasch

wachsende Zahl empirischer Befunde zeigt in vielen Bereichen überraschend deut-liche Unterschiede auch zwischen Kohorten

, deren Geburtsjahre nicht weit aus-einanderliegen (Baltes, Cornelius & Nesselroade 1978).Ein zweites Problem hat gleiches Gewicht: Altersdifferenzen in Querschnittsunter-suchungen sind nur als Mittelwertdifferenzen interpretierbar,

können also allen-

falls einen durchschnittlichen Entwicklungstrend angeben.Interindividuelle Unter-

schiede in den Entwicklungsverläufen sind nicht erfaßbar. Die individuellen Ver-änderungsmuster können aber in Richtung,

Ausmaß und Verlaufsform außer-

ordentlich unterschiedlich sein: Einige mögen viel gewinnen,andere nichts, wieder

andere mögen verlieren. In der Querschnittsbetrachtung sind unterschiedliche Ver-läufe aber nicht identifizierbar

.Inwieweit der Durchschnittswert die individuellen

Entwicklungsverläufe repräsentiert, ist wiederum nur durch eine längsschnittlicheBetrachtung abzuklären.In der Kritik der Längsschnittmethodik (vgl. Schaie 1965) wurde darauf hinge-wiesen, daß hier die Variable Alter (wohlgemerkt eines einzelnen Geburtenjahr-gangs) und historische Zeit (d. h. die entwicklungsrelevanten Ereignisse familiärer,schulischer, politischer, ökonomischer Art usw., denen dieser Jahrgang begegnet)konfundiert ist. Dies zusammen mit anderen Problemen (Testungseffekte, syste-matische Stichprobenveränderung, vgl. Baltes 1968) mindert auch den Wert derLängsschnittmethode für die Gewinnung generalisierbarer Altersnormen.

Man hat daher komplexere Pläne, z. B. das Hintereinanderschalten mehrererLängsschnitte mit mehreren Kohorten vorgeschlagen. Aber auch dies garantiert

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nicht die Gewinnung universell gültiger, d. h. auf weitere Kohorten generalisier-barer Altersnormen. Mit solchen Plänen lassen sich aber die Varianzanteile der in

den einfachen Plänen konfundierten Variablen Alter, Kohorte und Meßzeitpunktbestimmen. Insofern erlauben sie die Identifikation von Entwicklungsbedingungen,wenn sich zwischen Kohorten oder zwischen Meßzeitpunkten verschiedene Ent-wicklungsverläufe ergeben. Es ist dann eine Frage der weiteren Analyse, dieUrsachen dieser Unterschiede detailliert abzuklären.

Dies aber führt bereits über das Problem der Gewinnung von Altersnormen hin-aus und zur entwicklungspsychologischen Bedingungsanalyse hin. Hier kommt derLängsschnittmethode eine besondere Bedeutung zu. Nur sie erlaubt es, Zusammen-hangsmuster zu erkennen, Voraussetzungen und Vorläufer, Folgen, Derivate undNebeneffekte zu erfassen (vgl. Thomaes Beitrag zu diesem Band).

Analyse differentieller Entwicklungsverläufe

Die Querschnittsmethode als Instrument entwicklungspsychologischer Forschungist mit den genannten Einschränkungen allenfalls zur Erfassung universeller Ver-änderungen, nicht aber differentieller angemessen. Lange Zeit war die Entwick-lungspsychologie die Psychologie der Kindheit und Jugend, jener Epoche desmenschlichen Lebens, in der trotz aller Unterschiedlichkeit zwischen Einzelnen

oder zwischen Gruppen und Kulturen eine größere Zahl universaler Verände-rungslinien beobachtbar oder besser: abstrahierbar schien. Die Entwicklung senso-motorischer Fertigkeiten, das quantitative Wachstum der Intelligenz, Abfolge undAufbau von Erkenntnis- und Sprachstrukturen usw., dies alles verläuft in einemweiten Spektrum von Entwicklungsumwelten in sehr ähnlichen Linien, vielleichtunterschiedlich rasch und unterschiedlich weit, aber in der gleichen Folge (vgl.Kagans Beitrag zur Diskussion des Universalitätskonzeptes).Man hat den Begriff Entwicklung vielfach gleichgesetzt mit solchen universalen,d

. h. in einem weiten Spektrum von Umwelten in ähnlicher Weise gegebenen Ver-änderungen (Wohlwill 1977). Die Phasenlehren enthalten implizit oder explizitdiese Gleichsetzung, in Stadienmodellen wie denen Piagets oder Kohlbergs ist sieenthalten (vgl. auch die Beiträge Kagans und Uzgiris' zu diesem Band). In diesemSinne wurde Entwicklung von Prozessen wie Lernen oder Sozialisierung abge-hoben. Die zugeordneten Erklärungsweisen sind Reifungstheorien, die auf einepsychologische Bedingungsanalyse verzichten, oder Theorien, die eine sachlogischnotwendige Sequenz von Aufbauschritten postulieren, wie es konstruktivistischePositionen vorsehen (vgl. Aeblis Beitrag zu diesem Band). In letzteren wird heutenicht das Tempo, d. h. die Altersmarken der Veränderung als universal ange-sehen, sondern lediglich die Sequenz der unterscheidbaren Aufbauschritte (z. B.Piaget 1970). Auf Alter als organisierende Variable wird weitgehend ver-zichtet.

Die Hinwendung zu differentiellen Entwicklungsverläufen beruht auf zwei Moti-ven. Erstens ist das Interesse an Entwicklungsbedingungen und Interventionsmög-lichkeiten zu nennen. In Sequenz und Geschwindigkeit universale Veränderungenlassen eine Bedingungsanalyse nicht zu. Nur Variation kann auf ihre Bedingungenhin analysiert werden. Variation muß also aufgesucht oder hergestellt werden,damit etwas über Entwicklungsbedingungen in Erfahrung gebracht werden kann.Dementsprechend ist das Interesse an einer differentiellen Entwicklungspsycho-logie, das bereits in einigen der frühen Längsschnittstudien in differenzierter Formgegeben war (vgl. Thomaes Beitrag), durch die Analyse der Erfahrungsabhängig-

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keit der intellektuellen Entwicklung und die Suche nach Förderungsmöglichkeiten(Hunt 1961) wieder belebt worden. Damit in Zusammenhang ist das Bedürfnisnach individuellen Prognosen zu nennen. Gäbe es keine Unterschiede, hätten wirkeinen Anlaß, nach individuellen Prognosen zu fragen.Die Forderung nach einer differentiellen Entwicklungsspychologie ist aber auchdurch die Analyse von Phänomenen des Wandels im Erwachsenen- und höherenAlter angeregt worden. Die »life-span developmental psychology« (Goulet &Baltes 1970 und die folgenden Bände der West Virginia Konferenzen) hat aufdie Bedeutung von Lebenskrisen, altersspezifischen Entwicklungsaufgaben, auf dieBedeutung gesellschaftlicher und politischer Veränderungen, die auch nach Ab-schluß von Kindheit und Jugend zu Entwicklungen führen, hingewiesen.Universelle Veränderungen stehen hier nicht mehr im Vordergrund. Eine Riditungder Entwicklung, interpretiert als Fortschritt auf ein einziges definierbares End-niveau, läßt sich wohl kaum angeben, Irreversibilität der Veränderungen scheintzumindest nicht generell gegeben. Die Veränderungen sind kultur-, subkultur-oder personspezifisch, je nach Lebensschicksal, je nach gesellschaftlichen Anforde-rungen, je nach krisenhaften Erfahrungen. Ist es trotzdem sinnvoll, von Ent-wicklung zu sprechen? Gewiß dann, wenn man im Sinne Thomaes sprechen kannvon einer »Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die be-stimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufes zuzu-

ordnen sind« (Thomae 1959, S. 10). Gewiß auch dann, wenn in diesen individuel-leren Verläufen spezifische vorausgegangene Erfahrungen (und damit die zu einembestimmten Zeitpunkt gegebenen Kompetenzen, Einstellungen oder Motivationen)als Bedingungen weiterer Veränderungen mit in die Betrachtung einbezogen wer-den, wenn also die Verarbeitung bestimmter Ereignisse oder Erkenntnisse nurunter Berücksichtigung der bisherigen Entwicklung adäquat analysiert werdenkann. Diese Betrachtung macht eine Differenzierung des Entwicklungsbegriffs not-wendig, stellt aber eine konsequente Erweiterung des Gegenstandsbereiches derDisziplin dar. Dies erfordert eine Hinwendung zu den person- oder gruppen-spezifischen Entwicklungsverläufen in der Kindheit oder Jugend, insofern als hierein Schlüssel für das Verständnis der Veränderungen im Erwachsenen- und höhe-ren Alter zu finden ist.

Es wäre aber - wie oben bereits gesagt - verfehlt, eine differentielle Entwicklungs-psychologie nur auf die Veränderungen im Erwachsenenalter beschränken zu wol-len. Wegen des Fehlens universaler Verläufe in dieser Periode wurde die Betrach-tung differentieller Veränderungen nur gefördert. Die Behauptung universalerVerläufe in Kindheit und Jugend beruht - was psychologische Variablen anbe-langt - auf einer Abstraktion. Wir haben vom Säuglingsalter an differentielleFormen und/oder Geschwindigkeiten des Wandels. Die Abstraktion universalerSequenzen und altersgebundener Veränderungsschritte müßte zumindest durch dieAngabe ergänzt werden, in welcher Bandbreite von Umweltvarianten und ge-schätzten Anlagevarianten die individuellen Variationen zu vernachlässigen sind.Halten wir zusammenfassend fest: Nur eine differentielle Entwicklungspsychologieermöglicht individuelle Prognosen, eine Bewertung von Entwicklungsbedingungenund eine Planung von Interventionsmaßnahmen.

Analyse sozioökologischer Verhältnisse statt Experimentieren im Labor

Bronfenbrenner karikierte die Entwicklungspsychologie als »the science of thestränge behavior of children in stränge situations with stränge adults for the

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briefest possible periods of time« (Bronfenbrenner 1977 S. 513) und zitiert sodannLarsons Auswertung dreier Jahrgänge (1972-1974) einschlägiger Zeitschriften:76 Vo aller Untersuchungen waren Experimente im Laboratorium, deren öko-logische Validität nicht einzuschätzen ist. Wir dürfen von der Analyse möglicherEntwicklungsbedingungen in kontrollierten Laborsituationen nicht ohne weiteresAufschluß über die wirklichen Einflußfaktoren in realen Lebenssituationen erwar-

ten. Zwar mögen Experimente im Labor Modellfunktion für die Gestaltung vonEntwicklungsumwelten gewinnen, sie mögen auch Licht in komplexe Zusammen-hänge realer Lebenssituationen bringen. Sie leisten dies aber nur, wenn sie inKombination mit ökologischen Experimenten (Stevensons Bericht über die Soziali-sation in China kann als Großexperiment verstanden werden), mit Modellver-suchen (Head-Start und andere Versuche der intellektuellen Frühförderung, vgl.Hunts Beitrag) oder in Kombination mit der Analyse gegebener sozio-ökologischerUmwelten gesehen werden, wie sie in den Beiträgen von Garbarino, Conger oderMönks & Hill dargestellt wird.Bevor wir aber die Ähnlichkeiten zwischen den im Laboratorium realisierten undden in realen Lebenssituationen gegebenen Bedingungen beurteilen können, brauch-ten wir eine präzise Beschreibung beider. Da wir aber erst am Beginn einer syste-matischen Öko-Psychologie (vgl. Kaminski 1977) stehen, ist die Frage vorerst nurmit großen Unsicherheiten zu beantworten. Grundsätzlich pessimistisch stimmtallerdings Bronfenbrenners Forschungsprogramm, in dem die Ökologie als ein ver-schachteltes System von Strukturen mit Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystemenverstanden wird.

Mikrosysteme stellen die Sozialbeziehungen zwischen einer sich entwickelndenPerson und der unmittelbaren Umgebung in Familie, Schule, Arbeitsplatz usw.dar. Traditionellerweise ist psychologische Forschung auf dieses Mikrosystemkonzentriert, wobei zudem durch die Strukturierung in »antezedierende« Umwelt-variablen und »konsequente« Person- oder Entwicklungsvariablen lange Zeit eineeinseitige Akzentuierung vorgenommen wurde: Die Reziprozität der gegenseitigenEinflußnahme und damit der Anteil der Sozialisanden an der Herstellung der siewiederum betreffenden Umweltvariablen wurde bis vor kurzer Zeit in der For-

schungsplanung übersehen (vgl. dagegen Papouseks Analyse der Mutter-Kind-Beziehungen).Mesosysteme enthalten die Beziehungen zwischen verschiedenen Umweltaus-schnitten (Familie, Schule, Freundschaftsgruppen, Kirche, Arbeitsplatz usw.), dasExosystem umfaßt spezifische Sozialstrukturen, wie die wesentlichen Institutionender Gesellschaft (also Schul-, Arbeits-, Verkehrs-, Verwaltungs-, Presse-, Nachbar-schaftssysteme usw.). Als Makrosystem werden schließlich die übergeordnetenwirtschaftlichen und sozialen, erzieherischen, gesetzgeberischen und politischenSysteme bezeichnet, die zum Teil die Merkmale der untergeordneten Systemebestimmen.Bronfenbrenner macht darauf aufmerksam, wie außerordentlich beschränkt unser

üblicher Forschungsansatz ist. Es lassen sich nämlich unterschiedliche Wechselwir-kungen betrachten, zwischen Systemen auf gleicher und auf unterschiedlichenEbenen. Die Möglichkeiten der Ansatzpunkte für bedingungsanalytische Studienwie für Interventionen wachsen schlagartig unter einer solchen Perspektive. Ange-sichts dieser Komplexität des Ökosystems scheinen die Chancen einer Simulationvon Systemausschnitten und ihrer Interaktionen im Laboratorium ausgesprochengering.Ein Nutzen von Laborexperimenten kann daher allenfalls in ihrer Modellfunktion

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für die Gestaltung einzelner Systemausschnitte gesehen werden, die Übertragbar-keit ihrer Ergebnisse ist aber auch dann jeweils zu untersuchen. McCall (1977)bedauerte kürzlich zurecht, daß viele Experimentalisten sich mit der Identifikationvon Faktoren begnügen, die zwar im Labor einen bestimmten Effekt erzeugenkönnen, von denen wir aber nicht wissen

, ob sie diesen oder vergleichbare Effektein biotischen Situationen tatsächlich erzeugen, falls sie dort überhaupt realisiertoder realisierbar sind. Etwas einseitig auf die Analyse bereits realisierter Variantensozio-ökologischer Umwelten festgelegt,

fordert McCall, daß sich die Entwids-

lungspsydiologie mit jenen Umweltaspekten zu beschäftigen habe,die die Ent-

wicklung tatsächlich kontrollieren.Interventionsplanung und -forschung,

durchaus mit dem Ziel der Innovation, sind

aber gleichermaßen legitime Aufgaben der Disziplin. Leontjew hat dies gegenüberBronfenbrenner betont: »Es scheint mir

, daß amerikanische Forscher ständig ver-suchen zu erklären, wie das Kind zu dem wird

,was es ist, wir in der UdSSR

suchen zu entdecken, wie das Kind werden kann, was es noch nicht ist!« (Bronfen-

brenner 1977, S. 528). Bronfenbrenner greift diese Kritik in seinem Plädoyer füreine experimentelle Ökologie auf: Das Experimentieren im ökologischen Kontext(also Feldexperiment und systematisch kontrollierter Modellversuch) ist nur inTeilbereichen der Entwicklungspsychologie in angemessenem Umfang geplant oderdurchgeführt.

Systeme statt Einzelvariablen als Gegenstand der Forschung

Die wissenschaftliche Psychologie ist sich bewußt, daß sie nur Modelle über Aus-schnitte des Mensch-Umwelt-Systems konstruieren kann. Wie groß müssen dieAusschnitte aber sein, damit unsere Sicht nicht in gefährlicher Weise eingeschränktwird? Die genannten programmatischen Aufsätze McCalls und Bronfenbrenners(vgl. auch Baltes in diesem Band) warnen vor einer isolierten Betrachtung einzel-ner Bedingungsvariablen und lenken den Blick auf größere Systemausschnitte:statt uni- oder bivariater Forschung verlangt diese Ausweitung des Blickfeldesmultivariate Ansätze. Die heutigen Verfahren multivariater Datenanalyse werdennicht ausreichen, dieses Forschungsprogramm zu realisieren,

man darf sich aber

durch die Begrenztheit verfügbarer Methoden den Blick für die Aufgaben nichtverstellen lassen.

Entwicklungspsychologische Problemstellungen verlangen notwendigerweise einemultivariate Betrachtung (Nesselroade & Reese 1973). Die Disziplin untersuchtnicht nur die aktuellen Wirkungen gegebener Einflußfaktoren; sie sieht vielmehrderen Wirkungen als Funktion der Entwicklungsniveaus; sie fragt nach den Ein-flüssen unterschiedlich weit zurückliegender Bedingungskonstellationen, nach lang-fristigen Aus- und Nebenwirkungen von Sozialisations- und Interventionsbedin-gungen, nach der gegenseitigen Verflechtung verschiedener, im Wandel befindlicherFunktionsbereiche, also nach Zusammenhangsmustern zwischen Veränderungs-reihen, sie fragt nach Vorläufern und Derivaten personspezifischer Merkmaleusw.

Aber die Ausweitung der Perspektive auf eine Vielzahl von Variablen macht eineOrdnung, eine Systematisierung notwendig. Die Konstruktion angemessenerSystemmodelle ist der notwendige zugeordnete Schritt. Paradigmatisch kann diesdurch die Entwicklung der Entwicklungspsychologie der Gedächtnisprozesse belegtwerden (Weinerts Beitrag in diesem Band). Wie in anderen Forschungsbereichenauch (vgl. Ewert zur Selbstkonzeptforschung) tauchte nach der deskriptiven,

auf

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die Registrierung von Altersunterschieden abzielenden Forschung das Bedürfnisnach theoretischer Durchdringung auf. Die Klärung der Zusammenhänge zwischenverschiedenen intellektuell/kognitiven Veränderungen (Wissen, Strategien, Denk-stvukturen) und der Entwicklung von Gedächtnisleistungen wurde begonnen undstellt die Aufgabe der künftigen Forschung dar. An die Stelle von Altersverlaufs-kurven für Erinnern bildhaften Materials oder für Reproduktion semantischenMaterials werden komplexe Funktionsmodelle treten. Diese Modelle leisten Dia-gnose und Prognose von Leistungen und Leistungsveränderungen und spezifizierenAnsatzpunkte für eine Intervention.Schritte auf eine solche Systemkonstruktion hin werden von mehreren Autorendieses Bandes diskutiert. Auf Zusammenhangsmuster zwischen motivationalen,kognitiven, gedächtnismäßigen und sozialen Variablen weisen u. a. Weinert, Reese,Kail, Kagan, Uzgiris, Papousek & Papousek, Lewis & Brooks, Hunt hin. DieSystemkonstruktion scheint dadurch erschwert zu sein, daß eindeutige Beziehungenzwischen Systemkomponenten nicht die Regel sind. Die Veränderung einerVariablen kann unterschiedliche Wirkungen haben, je nach Wert der anderenElemente des Systems, so wie eine Leistung des Systems oder eine Veränderungauf mehrere Weisen Zustandekommen kann.

Ausblick

Es fehlt also der Entwicklungspsychologie nicht an Aufgaben. Es fehlt auch nichtan Forschungsperspektiven. Neue Methodologien werden entwickelt, wie der vonRudinger (1979) herausgegebene, parallel zu diesem erscheinende Band ausweist.Es fehlt auch nicht an entwicklungspsychologischem Interesse, wie die von Schmitz(1977) vorgelegte Trendanalyse und die laufenden bzw. geplanten For-schungsprojekte zeigen. Die Entwicklungspsychologie ist gewiß selbst ein sich ent-wickelndes System (Looft 1972; Weinert in diesem Band). Leider fehlen uns diePrognoseinstrumente, um ihr künftiges Schicksal mit Sicherheit voraussagen zukönnen. Aber da sich diese Wissenschaft noch in ihrem Jugendalter befindet, ist esden ihr verpflichteten Wissenschaftlern gewiß nachzusehen, wenn sie optimistischin die Zukunft blicken.

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Page 12: Brennpunkte der Entwicklungspsychologie · 2017. 3. 16. · , an der sich unter Otto Ewerts Leitung Annemarie Allemann-TSchopp, Don M. DeVol, Sigrun-Heide Filipp, Christa Frielingsdorf,

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Hans Thomae

50 Jahre Längsschnittforschung: Ein Beitrag zur Trendanalyse derEntwicklungspsychologie

Einführung

Nach der von Bättig (1976) vorgenommenen Analyse der »Psychological Ab-stracts« der von 1958 bis 1974 verzeidmeten psychologischen Literatur gehört dieEntwicklungspsychologie zu jenen, die zwischen 1969 und 1973 ein stetiges Wachs-tum aufwiesen. Es war freilich bescheiden gegenüber jenem in der PädagogischenPsychologie, der Psychophysiologie und der Klinischen Psychologie. Nach Bättig(1976) und Schmitz (1979) ist zwischen 1970 und 1974 bzw. 1975 eine leichte Ab-nahme entwicklunsgpsychologischer Veröffentlichungen zu verzeichnen. DieseStagnation kann unter anderem mit Klassifikationsproblemen zusammenhängen.So können unter Umständen viele entwicklungspsychologische Studien zum Vor-schulalter und Schulalter in pädagogisch-psychologischen Zeitschriften publiziertund deshalb auch unter diesem Stichwort klassifiziert werden.

Gleiche Klassifikationsprobleme dürften sich auch in bezug auf den entwicklungs-psychologischen Bereich »Sozialisation« ergeben, der unter Developmental Psydio-logy 8,5 % (1965), 2,7% (1970) bzw. 5,4% (1975) der hier klassifizierten Arbei-ten ausmacht. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch ein Teil der unter Sozialpsycho-logie verzeichneten Beiträge hier einzuordnen wäre. Insofern können wir den vor-liegenden Trendanalysen entnehmen, daß die Entwicklungspsychologie eher zu den»Wachstums«- als zu den »Schrumpf«-fächern der Psychologie gehört, mag ihrequantitative Repräsentanz gegenüber jener der Klinischen Psychologie auch be-scheiden anmuten. Bei der seit 1967 auf jeden Fall zu verzeichnenden Zunahmeentwicklungspsychologischer Literatur ist eine bemerkenswerte Konstanz bezüglichder untersuchten Altersgruppen, Funktionsbereiche und der generellen Forschungs-pläne zu verzeichnen. Die Altersgruppen 2,1-12 Jahre werden berücksichtigt in58,6% bis 68,6% der Publikationen (1970). Im Jahre 1975 pendelten sie sichwieder auf 64,7 % ein. Zwei Drittel der Publikationen, welche sich auf empirischeForschung stützen, konzentrieren sich also auf eine Dekade. Bezüglich des unter-suchten Gebietes sind die in der heutigen Allgemeinen Psychologie I untersuchtenProblembereiche Wahrnehmung, Lernen, Kognition, Sprache zwischen 39,4%(1965) und 53,7% in 1970 am stärksten vertreten. Im Jahre 1975 wird wieder einmittlerer Wert von 44 % erreicht. Demgegenüber sind Beiträge zur Entwicklungs-psychologie der Motivation weit schwächer vertreten. Immerhin stieg ihr Anteilvon 1965 bis 1970 von 15,1 auf 20,1%

, was vor allem mit dem großen Inter-esse an der Entwicklung prosozialer Aktivität zusammenhängen dürfte.

Noch bemerkenswerter aber ist, daß über die Hälfte der Studien sich auf eine

Altersgruppe beziehen, d. h. weder einen querschnittlichen noch einen längsschnitt-lichen Vergleich ermöglichen. Die Publikationen aus Längsschnittuntersuchungenerreichten nach einem Tiefpunkt von 1,7% im Jahre 1970 wieder einen Anteilvon 4% im Jahre 1975 (absolut 37). Wesentlich aus den Resultaten der vonSchmitz (1979) vorgenommenen Trendanalyse its vielleicht noch die Tatsache, daßunter den theoretischen Ansätzen jener von Piaget erst im Jahre 1975 mit 11,8%

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