Böses Blut - nukmed.insel.ch · Der Aderlass (griechisch: Phlebotomie) ist ein Heilverfahren, das...

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Auflage: 162855 Gewicht: Seitenaufmachung, gross 30. November 2015 SEITE 26 Böses Blut GESUNDHEIT Der Aderlass gehört zu den ältesten Heilverfahren. Weniger bekannt ist, dass das therapeutische Ablassen von Blut auch in der modernen Schulmedizin seinen Platz hat – namentlich in der Behandlung seltener Blutkrankheiten. Als die Pflegefachfrau Annlys Gerber mit der Nadel auf Jaroslav Radakovic zukommt, streckt er ihr bereits entspannt-lächelnd seinen Arm entgegen. Was für die meisten Leute eine Horrorvorstellung ist, kann dem 56-jährigen Marketingfachmann aus Zollikofen keine Furcht mehr einflössen. Allwöchentlich lässt er sich im Spital Blut abzapfen, reine Routine also. Und er weiss, dass ihm die Prozedur guttut. Denn Radakovic leidet an einer schweren Blutkrankheit. Zur Behandlung dieses Grundleidens benötigte er allein dieses Jahr schon rund hundert Bluttransfusionen. Zu viel Eisen oder . . . Diese Therapie stabilisierte zwar seinen Krankheitszustand, brachte aber auch eine unliebsame Nebenwirkung mit sich: Durch die vielen Transfusionen gelangtezuvielEisen,einnatürlicher und lebensnotwendiger Bestandteil des Blutes, in den Organismus des Patienten. Ein gefährlicher Zustand, der in der Medizin als erworbene «Eisenüberladung » oder Hämochromatose bekannt ist. Dieser Eisenüberfluss hat langfristig gravierende Folgen für die Gesundheit: Er kann lebenswichtige innere Organe wie Leber, Herz und Bauchspeicheldrüse angreifen. Häufig betroffen sind auch die Gelenke. Und bei einer Schädigung der Hirnanhangdrüse gerät sogar der Hormonhaushalt durcheinander und kann bei Männern zu Testosteronmangel führen und bei Frauen zu vorzeitigen Wechseljahren. «Leider verfügt der menschliche Körper über keinen aktiven Mechanismus dafür, das überschüssige Eisen auszuscheiden», erklärt Alicia Rovó (55), Leitende Ärztin Hämatologie am Berner Inselspital. Deshalb muss das überflüssige und deshalb schädliche Eisen aufandere Weise aus dem Körper gebracht werden. Das kann medikamentös geschehen – mit sogenannten Eisenchelatoren, die das Eisen aktiv über Stuhl oder Urin aus dem Körper ausscheiden. Nachteil: Diese Medikamente sind teuer und mit möglichen unerwünschten Nebenwirkungen behaftet. Eine natürlichere und praktisch nebenwirkungsfreie Methode, das schädliche Übermass an Eisen loszuwerden, ist hingegen der altbekannte Aderlass – ein Heilverfahren, das schon die alten Griechen kannten (vgl. Kasten unten). «Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Patient genug Blut hat», präzisiert Hämatologin Rovó. Ist diese Voraussetzung erfüllt, hat der Aderlass aber Vorteile

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Auflage: 162855Gewicht: Seitenaufmachung, gross

30. November 2015

SEITE 26

Böses BlutGESUNDHEIT Der Aderlass gehört zu den ältesten Heilverfahren. Wenigerbekannt ist, dass das therapeutische Ablassen von Blut auch in der modernenSchulmedizin seinen Platz hat – namentlich in der Behandlung seltenerBlutkrankheiten.

Als die Pflegefachfrau Annlys Gerber mit der Nadel auf Jaroslav Radakovic zukommt,streckt er ihr bereits entspannt-lächelnd seinen Arm entgegen. Was für die meistenLeute eine Horrorvorstellung ist, kann dem 56-jährigen Marketingfachmann ausZollikofen keine Furcht mehr einflössen.

Allwöchentlich lässt er sich im Spital Blut abzapfen, reine Routine also. Und er weiss,dass ihm die Prozedur guttut. Denn Radakovic leidet an einer schweren Blutkrankheit.Zur Behandlung dieses Grundleidens benötigte er allein dieses Jahr schon rundhundert Bluttransfusionen.

Zu viel Eisen oder . . .

Diese Therapie stabilisierte zwar seinen Krankheitszustand, brachte aber auch eineunliebsame Nebenwirkung mit sich: Durch die vielen TransfusionengelangtezuvielEisen,einnatürlicher und lebensnotwendiger Bestandteil des Blutes, inden Organismus des Patienten.

Ein gefährlicher Zustand, der in der Medizin als erworbene «Eisenüberladung » oderHämochromatose bekannt ist. Dieser Eisenüberfluss hat langfristig gravierende Folgenfür die Gesundheit: Er kann lebenswichtige innere Organe wie Leber, Herz undBauchspeicheldrüse angreifen.

Häufig betroffen sind auch die Gelenke. Und bei einer Schädigung derHirnanhangdrüse gerät sogar der Hormonhaushalt durcheinander und kann beiMännern zu Testosteronmangel führen und bei Frauen zu vorzeitigen Wechseljahren.«Leider verfügt der menschliche Körper über keinen aktiven Mechanismus dafür, dasüberschüssige Eisen auszuscheiden», erklärt Alicia Rovó (55), Leitende ÄrztinHämatologie am Berner Inselspital. Deshalb muss das überflüssige und deshalbschädliche Eisen aufandere Weise aus dem Körper gebracht werden.

Das kann medikamentös geschehen – mit sogenannten Eisenchelatoren, die das Eisenaktiv über Stuhl oder Urin aus dem Körper ausscheiden. Nachteil: Diese Medikamentesind teuer und mit möglichen unerwünschten Nebenwirkungen behaftet. Einenatürlichere und praktisch nebenwirkungsfreie Methode, das schädliche Übermass anEisen loszuwerden, ist hingegen der altbekannte Aderlass – ein Heilverfahren, dasschon die alten Griechen kannten (vgl. Kasten unten).

«Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Patient genug Blut hat», präzisiertHämatologin Rovó. Ist diese Voraussetzung erfüllt, hat der Aderlass aber Vorteile

gegenüber der medikamentösen Therapie: Er ist effizient, nebenwirkungsarm und vorallem viel kostengünstiger. Zum Vergleich: Im Fall von Jaroslav Radakovic käme eineBehandlung mit Tabletten auf rund 3500 Franken pro Monat zu stehen – stattdessengehtderZollikofenerviermal300 Milliliter Blutablassen, das vom Aufwand her etwa demnormalen Blutspenden entspricht.

. . . zu viele Blutkörperchen

Ausser bei der krankhaften Eisenüberladung, die auch genetisch bedingt sein kann,wird der Aderlass heute vor allem noch bei einer anderen seltenen Blutkrankheiteingesetzt: der Polyzythemia vera. Hier haben die Betroffenen nicht zu viel Eisen,sondern zu viele rote Blutkörperchen (Erythrozyten).

Auch diese Krankheit muss behandelt werden; denn sie macht das Blut dick undhemmt so den Blutfluss – es drohen Thrombosen, Schlaganfälle und Infarkte. KeinWunder, arbeiten die meisten Schweizer Spitäler bis heute mit Aderlässen – so etwaauch die in Thun, Burgdorf oder Langenthal. Selbst in einem vergleichsweise kleinenSpital wieLangenthal werden im Jahr rund 40 medizinisch verordnete Aderlässedurchgeführt.

Kaum Nebenwirkungen

Und von den rund 450 Patientinnen und Patienten mit der Eisenspeicherkrankheit oderPolyzythemia vera, die zurzeit am Inselpital registriert sind, werden zwischen 20 und30 Prozent mit den Aderlässen behandelt. Pro Jahr macht das über 200Aderlassanwendungen, die in Bern vorgenommen werden. «Diese alteBehandlungsmethode ist hocheffizient und hat praktisch keine Nebenwirkungen», lobtFachärztin Alicia Rovó.

«Wir können noch lange nicht auf sie verzichten.» Unterdessen hat Jaroslav Radkovicsein Blut abgegeben. «Ich bin nur etwas müde, sonst geht es mir aber gut», atmet erauf und nippt an einer kräftigenden Bouillon. Dann nimmt die Pflegefachfrau AnnlysGerber den vollen Beutel mit dem kranken Blut, entsorgt ihn diskret in einemSchrank. «Sondermüll», zwinkert sie ihrem Patienten zu. Und beide lachen.Stefan Aerni

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ADERLASS

Eine der ältesten Behandlungsformen

Der Aderlass (griechisch: Phlebotomie) ist ein Heilverfahren, das bereits seit derAntike bekannt ist. Die Idee dahinter: Mit regelmässigem Blutablassen könnevermieden werden, dass das Blut «schlecht» werde und «verderbe ». Überdieskönnten Aderlässe für ein Gleichgewicht der «Körpersäfte » sorgen. Sehr beliebtwaren Aderlässe im Mittelalter, als sie zu einer Art Allheilmittel für alle möglichenLeiden wurden. Damals kam es infolge von exzessiven Aderlässen manchmal sogar zuTodesfällen.

Selbst als um 1630 der Mechanismus des Blutkreislaufes entdeckt wurde und damitdie den Aderlässen ursprünglich zugedachten Wirkungen widerlegt wurden, hielt sichdas Verfahren. Neben dem schulmedizinischen Einsatz von Aderlässen gegen einigeseltenen Blutkrankheiten (vgl. Haupttext) wendet auch die Naturheilmedizin das alteVerfahren heute noch an – mit der Absicht , den Körper zu «entgiften». Dieses

Versprechen ist wissenschaftlich allerdings nicht haltbar. Besser sieht die Datenlagebei einem anderen Krankheitsbild aus: Neuere Studien konnten nachweisen, dassAderlässe einen erhöhten Blutdruck moderat senken können. sae

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