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BuchDer Gynäkologe Pawel Kukotzki, Abkömmling einer altenMedizinerfamilie, entzieht sich den Zwängen des stalinisti-schen Systems, indem er zeitweilig die Rolle des verantwor-tungslosen Trinkers spielt. Aber er ist eine Koryphäe seinesFachs, kann menschliche Schicksale wenden. Durch eine fastaussichtslose Operation rettet er zu Beginn des ZweitenWeltkriegs eine junge Frau vor dem Tod – und verliebt sichin sie. Jelena zieht mit ihrer Tochter Tanja zu ihm, und genauan diesem Tag erhält sie die Nachricht, daß ihr Mann an derFront gefallen ist. Eine schicksalhafte Fügung, denn fortanwird sie von einem Schuldkomplex gequält. Dennoch lebenPawel und Jelena eine harmonische Partnerschaft, bis einesTages eine hitzige Debatte über das Recht der Abtreibungihr Glück beendet – und wohl auch Jelenas Krankheit for-ciert. Mehr und mehr entgleitet ihr das reale Leben. Baldschon sitzt sie nur noch wie eine Puppe im Sessel, währendsie im Geiste eine spannende und läuternde Traumreise an-tritt. Was sie dabei sieht, denkt und durchlebt, spiegelt nichtnur ihre Sehnsüchte und Schuldgefühle, sondern nimmtauch vorweg, was ihre Tochter Tanja erst noch erleben wird.Vor dem Hintergrund eines halben Jahrhunderts russischerGeschichte verbindet »Reise in den siebenten Himmel« inhöchster erzählerischer Meisterschaft das Leben einer Handvoll Menschen verschiedener Generationen zu einem viel-schichtigen, mitreißenden Roman über Glück und Verzweif-lung, Leben und Tod, Schuld und Sühne. Zugleich stelltLjudmila Ulitzkaja die Frage nach Verantwortung und Moraldes Einzelnen angesichts der großen ethischen Fragen unse-rer Zeit.

AutorinLjudmila Ulitzkaja, Jahrgang 1943, arbeitete mehrere Jahreals Genetikerin, bevor sie zu schreiben begann. Seit dem Erscheinen von »Sonetschka« hat sie sich als Autorin welt-weit einen Namen gemacht und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. In Deutschland erschienen u. a. dieRomane »Medea und ihre Kinder« (1997), »Ein fröhlichesBegräbnis« (1998), die Novelle »Sonetschka« (1997) undder Erzählband »Olgas Haus« (1999). Ljudmila Ulitzkajalebt in Moskau.

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Ljudmila Ulitzkaja

Reise in densiebenten HimmelRoman

Aus dem Russischen vonGanna-Maria Braungardt

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Die russische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Kazus Kukockogo« bei EKSMO, Moskau

Die deutsche Übersetzung berücksichtigt nachträgliche Änderungen der Autorin.

Gefördert vom Literarischen Colloquium Berlinmit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltungfür Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin.

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuchessind chlorfrei und umweltschonend.

btb Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag,einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2003Copyright © 2000 by Ljudmila UlitzkajaCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001 by Verlag Volk & Welt GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: ArtothekSatz: Filmsatz Schröter GmbH, MünchenKR · Herstellung: Augustin WiesbeckMade in GermanyISBN 3-442-72828-2www.btb-verlag.de

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Die Wahrheit liegt auf der Seite des Todes.

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Erster Teil

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Seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts waren alle männ-lichen Vorfahren von Pawel Alexejewitsch Kukotzki Medizi-

ner. Der erste von ihnen, Awdej Fjodorowitsch, wird in einemBrief von Peter I. erwähnt, den dieser nach Utrecht schrieb,an den Anatomieprofessor Ruysch, bei dem der russische Impe-rator ein Jahr zuvor unter dem Namen Pjotr Michailow Anato-mievorlesungen gehört hatte. Der junge Herrscher bittet, den Sohndes Apothekergehilfen Awdej Kukotzki »in Gnaden« zum Stu-dium aufzunehmen. Woher der Name Kukotzki kommt, ist nichtbelegt, aber der Familienlegende zufolge stammte der Urahn Aw-dej aus dem Ort Kukuj, wo unter Peter I. eine deutsche Siedlungentstand.

Fortan findet sich der Name Kukotzki immer wieder – aufUrkunden oder in den Namenlisten der per Zarenerlaß inRußland eingeführten Schulen, deren Abschluß jungen Men-schen von »niederer Geburt« im Staatsdienst den Weg in denAdelsstand öffnete. Nach der Einführung der Beamtenränge er-warben die Kukotzkis durch ihre Verdienste die Zugehörigkeitzum »besten höchsten Adel in allen Ehren und Würden«. EinKukotzki wird erwähnt in der Liste der Hörer des Doktor Eras-mus aus Straßburg, des ersten westeuropäischen Arztes, der inRußland, neben anderen medizinischen Disziplinen, »Wehfrauen-kunst« lehrte.

Von frühester Kindheit an interessierte sich Pawel Alexejewitschheimlich für die Beschaffenheit alles Lebendigen. Manchmal,meist in der unausgefüllten Zeit vor dem Abendessen, schlüpfteer unbemerkt ins Arbeitszimmer des Vaters, holte stockenden Her-zens aus dem mittleren Regal des Bücherschranks mit den schwe-

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ren Schiebeglasscheiben die drei geliebten Bände der einst be-rühmten medizinischen Enzyklopädie von Platen und ließ sichdamit auf dem Fußboden nieder, in der gemütlichen Ecke zwi-schen Kachelofenvorbau und Schrank. Am Ende jedes Bandes gabes Pappfiguren, einen rotwangigen Mann mit schwarzem Schnurr-bart und eine hübsche, aber heftig schwangere Dame mit zuZwecken des Studiums der Leibesfrucht aufklappbarer Gebär-mutter. Wohl wegen dieser Figur, bei der es sich schließlich – wieman es auch drehte und wendete – um eine nackte Frau handelte,verbarg er seine Forschungen vor den Eltern, aus Angst, bei etwasUnschönem ertappt zu werden.

Wie kleine Mädchen unermüdlich ihre Puppen an- und aus-ziehen, so klappte Pawel stundenlang die Pappmodelle des Men-schen und seiner Organe auf und zu. Die Pappmenschen wurdenerst ihrer Hauthülle entledigt, dann der rosigfrischen Muskel-schichten; die Leber ließ sich herausnehmen, der Lungenbaumauf einem Stamm federnder Tracheen fiel heraus, und schließlichlagen die Knochen bloß, dunkelgelb und völlig tot wirkend. Als sei im Innern des menschlichen Körpers immer der Tod verbor-gen, nur äußerlich verhüllt von lebendigem Fleisch – doch dar-über würde Pawel Alexejewitsch sich erst bedeutend später Ge-danken machen.

Hier, zwischen Ofen und Bücherschrank, fand ihn eines Tagessein Vater Alexej Gawrilowitsch. Pawel erwartete einen Rüffel,doch der Vater, der von seiner gewaltigen Höhe auf ihn herab-blickte, machte nur spöttisch »Hm!« und versprach seinem Sohnetwas viel Besseres.

Das brachte er ihm ein paar Tage später tatsächlich: Leo-nardo da Vincis Traktat »Dell’anatomia«, auf achtzehn Blättern,mit Zeichnungen, Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Sabaschnikow in Turin herausgegeben. Ein unsagbar prächti-ges Buch, eines von insgesamt dreihundert numerierten Exem-plaren, mit einer Widmung vom Herausgeber. Alexej Gawrilo-

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witsch hatte einmal einen Angehörigen Sabaschnikows ope-riert.

Er gab seinem zehnjährigen Sohn das Buch in die Hand und riet ihm:

»Hier, sieh dir das an. Leonardo war der allererste Anatom seiner Zeit. Niemand hat die anatomischen Präparate besser ge-zeichnet.«

Der Vater sagte noch etwas, aber Pawel hörte nicht mehr hin –das Buch tat sich vor ihm auf, und seine Augen waren wie von hellem Licht geblendet. Die Vollkommenheit der Zeichnungenwurde noch vervielfacht durch die unglaubliche Vollkommenheitdes Dargestellten, sei es ein Arm, ein Bein oder der fischförmi-ge dreiköpfige Unterschenkelmuskel, den Leonardo intim »Fisch«nannte.

»Hier unten stehen Naturgeschichte, Zoologie und verglei-chende Anatomie«, sagte Alexej Gawrilowitsch zu seinem Sohn.»Du kannst ruhig herkommen und darin lesen.«

Die glücklichsten Stunden seiner Kindheit und Jugend verbrach-te Pawel im Arbeitszimmer des Vaters, bewunderte die Hand- undFußgelenke, die so komplizierte Bewegungen wie Pronation undSupination ermöglichten, staunte, fast bis zu Tränen ergriffen,über die Evolution des Blutkreislaufs von der einfachen Röhremit dünnen Muskelfasern beim Regenwurm bis zum sagenhaftenWunder des Herzens mit den vier Kammern – ein Rätsel, nebendem ihm das Perpetuum mobile vorkam wie eine Aufgabe für Sit-zenbleiber. Die Welt selbst erschien ihm wie ein grandioser ewi-ger Motor, angetrieben von seinen eigenen Ressourcen, die in derpulsierenden Bewegung vom Lebendigen zum Toten, vom Totenzum Lebendigen steckten.

Der Vater schenkte Pawel ein kleines Messingmikroskop mitfünfzigfacher Vergrößerung. Fortan waren Gegenstände, die mannicht auf den Objektträger legen konnte, für den Jungen uninter-

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essant. In der Welt, die nicht ins Blickfeld des Mikroskops paßte,nahm er nur wahr, was den wunderbaren Bildern im Okular glich.Das Muster auf einer Tischdecke zum Beispiel zog seinen Blickan, weil es an die Struktur der quergestreiften Muskulatur erin-nerte.

»Weißt du, Eva«, sagte Alexej Gawrilowitsch zu seiner Frau,»ich fürchte, Pawlik wird kein Arzt; mit seinem Kopf sollte er indie Wissenschaft gehen.«

Alexej Gawrilowitsch selbst trug sein Leben lang die doppelteBürde von Lehre und Heilpraxis – er leitete den Lehrstuhl fürFeldchirurgie und gab auch das Operieren nicht auf. In der kur-zen Zeit zwischen zwei Kriegen, dem russisch-japanischen und dem russisch-deutschen, begründete er eine moderne Schule derFeldchirurgie. Gleichzeitig versuchte er, das Kriegsministerium zu einer Reform des Systems der Feldlazarette zu bewegen, weil für ihn offensichtlich war, daß der bevorstehende Krieg anders,das gerade angebrochene Jahrhundert ein Jahrhundert der Kriegeneuer Dimensionen, neuer Waffen und neuer Militärmedizin seinwürde. Das Wichtigste sei deshalb die schnelle Evakuierung vonVerwundeten und die Schaffung zentraler spezialisierter Laza-rette.

Der deutsche Krieg begann beträchtlich früher, als Alexej Ga-wrilowitsch vermutet hatte. Er begab sich, wie man damals sagte,auf die Kriegsbühne. Er wurde zum Chef der Kommission er-nannt, für deren Schaffung er sich zu Friedenszeiten eingesetzthatte, und mußte sich förmlich in Stücke reißen, denn der Ver-wundetenstrom war gewaltig, doch die von ihm geplanten spezia-lisierten Lazarette standen nur auf dem Papier: Er hatte es zuFriedenszeiten nicht mehr geschafft, die Mauern der Bürokratiezu durchbrechen.

Nach einem heftigen Konflikt mit dem Kriegsminister verließer die Kommission und kümmerte sich nur noch um die mobi-len Lazarette. Seine rollenden Operationssäle, eingerichtet in Pull-

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man-Waggons, zogen sich zusammen mit der handlungsunfähi-gen Armee durch Galizien und die Ukraine zurück. Anfang neun-zehnhundertsiebzehn traf eine Artilleriegranate den OP-Wagen,und Alexej Gawrilowitsch fiel zusammen mit seinem Patientenund einer Krankenschwester.

Im selben Jahr wurde Pawel an der Medizinischen Fakultät derMoskauer Universität immatrikuliert, im Jahr darauf wieder ex-matrikuliert: Sein Vater war immerhin Oberst der Zarenarmee gewesen. Ein weiteres Jahr später wurde er dank der Fürsprachevon Professor Kalinzew, einem alten Freund seines Vaters, der Geburtshilfe und Gynäkologie unterrichtete, wieder Student. Ka-linzew nahm ihn zu sich an den Lehrstuhl und stellte sich schüt-zend vor ihn.

Pawel studierte mit derselben Leidenschaft, mit der ein Spielerspielt und ein Trinker trinkt. Seine Lernbesessenheit trug ihmden Ruf eines Sonderlings ein. Anders als seine Mutter, eine ver-wöhnte und launische Frau, bemerkte er die materiellen Ein-schränkungen kaum. Nach dem Tod des Vaters, so glaubte er, gabes nichts mehr zu verlieren.

Anfang neunzehnhundertzwanzig mußten sie »zusammenrük-ken« – in ihrer Wohnung wurden noch drei weitere Familien ein-quartiert, Witwe und Sohn behielten nur das ehemalige Arbeits-zimmer. Die Universitätsprofessoren, die unter der neuen Machtim Amt geblieben waren, konnten ihnen nicht helfen – auch siehatte man ziemlich eingeengt, zudem saß ihnen der Revolutions-schreck noch in den Knochen: Die neue Macht hatte bereitsdemonstriert, daß ein Menschenleben, um das diese maroden Intellektuellen zu kämpfen gewöhnt waren, keine Kopeke mehrwert war.

Eva Kasimirowna, Pawels Mutter, hing an materiellen Dingenund war habsüchtig. Sie stopfte in das Arbeitszimmer fast alles,was sie noch aus Warschau besaß: Möbel, Geschirr, Kleidung.Das ehrwürdige Arbeitszimmer des Vaters, einst geräumig und

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schlicht, wurde zum Lagerraum, und soviel Pawel die Mutterauch bat, sich von Überflüssigem zu trennen – sie schüttelte nurden Kopf: Es war alles, was ihr vom früheren Leben gebliebenwar. Dennoch mußte einiges verkauft werden, und so versetzte sieauf dem Flohmarkt nach und nach ihre zahllosen Truhen vollerSchuhe, Kragen und Servietten, wobei sie über jeder KleinigkeitTränen des endgültigen Abschieds vergoß.

Die Beziehungen zwischen Mutter und Sohn kühlten ab, wur-den immer schlechter, und nach einem weiteren Jahr, als die Mut-ter den anstößig jungen Filipp Iwanowitsch Lewschin heirate-te, der einen kleinen Chefposten bei der Eisenbahn hatte, gingPawel aus dem Haus, behielt sich aber das Recht vor, die Biblio-thek des Vaters weiterhin zu benutzen.

Aber er schaffte es nur selten, zu seiner Mutter zu gehen. Er studierte und arbeitete, übernahm in der Klinik viele Dienste undübernachtete, wo es sich gerade ergab, meist in der Wäschekam-mer, was ihm die alte Wäschefrau gestattete, die nicht nur PawelsVater, sondern auch seinen Großvater gekannt hatte.

Er war schon einundzwanzig, als seine Mutter noch ein Kindbekam. Der erwachsene Sohn offenbarte ihr Alter, worunter diesich jung gebende Eva Kasimirowna litt. Sie bedeutete Pawel, daßseine Gegenwart in ihrem Haus unerwünscht war. Die Beziehungzwischen Mutter und Sohn brach ab.

Einige Zeit später trennte sich die Medizinische Fakultät vonder Universität, es gab Umstrukturierungen. Professor Kalinzewstarb, an seine Stelle kam ein anderer, ein Günstling der Partei,ohne jeden wissenschaftlichen Ruf. Seltsamerweise war er Pawelwohlgesonnen, er behielt ihn als Assistenten am Lehrstuhl. DerName Kukotzki war in Medizinerkreisen genauso bekannt wieBotkin und Pirogow.

Pawels erste wissenschaftliche Arbeit galt bestimmten Gefäß-anomalien, die zu Fehlgeburten im fünften Schwangerschafts-monat führten. Die Anomalie betraf die kleinsten Kapillargefäße

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und interessierte Pawel deshalb, weil er über Möglichkeiten nach-dachte, die Prozesse in den peripheren Bereichen von Blutkreis-lauf- und Nervensystem zu beeinflussen; sie schienen ihm leich-ter zu steuern als die in zentralen Abschnitten. Wie alle Assistentenbetreute Pawel Patienten in der Klinik und hielt zweimal wö-chentlich Sprechstunden ab.

Als Pawel eines Tages eine Frau untersuchte, die immer wie-der im vierten oder fünften Schwangerschaftsmonat Fehlgeburtenhatte, stellte er fest, daß er ein Magengeschwür mit Metastasensehen konnte – sehr deutlich eine in der Leber, etwas schwächereine im Mittelfell. Er unterbrach die Untersuchung nicht, über-wies die Patientin aber an einen Chirurgen. Nachdem sie ge-gangen war, saß er noch lange im Sprechzimmer, bevor er dienächste Patientin aufrief, und versuchte zu verstehen, was ihm dawiderfahren war, wieso er diese schematische farbige Darstellungeiner fortgeschrittenen Krebserkrankung gesehen hatte.

Von diesem Tag an verfügte Pawel Alexejewitsch Kukotzki überdiese sonderbare, aber nützliche Gabe. Er nannte sie seinen »In-nenblick« und forschte in den ersten Jahren vorsichtig, ob viel-leicht einer seiner Kollegen etwas Ähnliches kannte, wurde abernie fündig.

Mit den Jahren festigte sich seine innere Sehkraft, sie wurdeschärfer und gewann an Differenzierung. In manchen Fällen saher sogar Zellstrukturen, die mit Ehrlichs Hämatoxilin gefärbtschienen. Bösartige Veränderungen hatten eine intensive lila Fär-bung, Bereiche aktiver Wucherungen flimmerten in kleinkörni-gem Purpurrot. Einen Embryo sah er ab den ersten Tagen derSchwangerschaft als leuchtendes hellblaues Wölkchen.

Es gab Tage und Wochen, da sein »Innenblick« verschwand.Pawel Alexejewitsch arbeitete weiter, untersuchte Patienten, ope-rierte. Die gewohnte professionelle Sicherheit verließ ihn nicht,aber im Innern regte sich leise Unruhe. Der junge Doktor warnatürlich Materialist und duldete keine Mystik. Sein Vater und er

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hatten immer über die Mutter gespottet, die mondäne Sitzun-gen mit Tischerücken besuchte und mystischen Magnetismus-Albernheiten frönte.

Pawel Alexejewitsch behandelte seine Gabe wie ein autonomes,von ihm unabhängiges Wesen. Er quälte sich nicht mit Fragenüber die Natur dieser Erscheinung, er nahm sie als ein nützlichesHilfsmittel für seinen Beruf. Allmählich stellte sich heraus, daßsein »Innenblick« ein Asket und Frauenhasser war. Selbst ein zuüppiges Frühstück beeinträchtigte ihn, so daß Pawel Alexeje-witsch sich angewöhnte, ohne Frühstück auszukommen und erstmittags oder, wenn er nachmittags Sprechstunde in der Poliklinikhatte, abends zu essen. Was die körperliche Nähe mit Frauen an-ging, so schloß sie stets für eine Zeitlang jede Durchsichtigkeitder von ihm untersuchten Patienten aus.

Er war ein guter Diagnostiker, seine medizinische Praxis hatteeine solche unlautere Stütze im Grunde nicht nötig, aber die wis-senschaftliche Arbeit schien um Hilfe zu bitten: Das Schicksalder Gefäße barg Geheimnisse, die sich ihm jeden Moment zu öff-nen versprachen. So geriet sein Privatleben in einen gewissenKonflikt zu seiner Wissenschaft; er trennte sich von seiner punk-tuellen Bindung, einer OP-Schwester mit kalten, sicheren Hän-den, und ging Liebesbeziehungen vorsichtig aus dem Weg; erempfand eine leise Scheu vor dem weiblichen Drang zum Ver-einnahmen und gewöhnte sich an die Enthaltsamkeit. Sie war fürihn keine schwere Prüfung – wie alles, was man sich selbst er-wählt. Hin und wieder gefiel ihm mal eine Krankenschwester odereine junge Ärztin, und er wußte sehr gut, daß er jede hätte habenkönnen, aber sein »Innenblick« war ihm wichtiger.

Seine freiwillige Keuschheit mußte er ständig verteidigen – erwar allein, gemessen an der bettelarmen Zeit reich, auf seinemGebiet berühmt, nicht unbedingt schön, aber männlich und durch-aus anziehend, und aus all diesen Gründen, von denen bereits ei-ner gereicht hätte, setzte jede Frau, die seinen interessierten Blick

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bemerkte, sofort zu einem solchen Sturm auf ihn an, daß PawelAlexejewitsch oft nur mit knapper Not entkam.

Einige seiner Kolleginnen vermuteten sogar einen Defekt, densie seinem Beruf zuschrieben: Was für ein Verlangen konnte schonein Mann empfinden, der jeden Tag von Berufs wegen mit sensi-blen Fingern im geheimsten weiblichen Dunkel herumtastete?

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Außer der traditionellen Neigung zur Medizin hatten dieMänner der Familie Kukotzki noch eine weitere Eigenheit:

Sie eroberten ihre Frauen wie Kriegstrophäen. Der Urgroßvaterhatte eine gefangene Türkin geheiratet, der Großvater eine Tscher-kessin, der Vater eine Polin. Der Familienüberlieferung zufolgewaren alle diese Frauen, eine wie die andere, irrsinnig schön. Dochdie Beimischung von fremdem Blut hatte kaum Einfluß auf dasÄußere dieses Stammes kräftig gebauter Männer mit hervortre-tenden Backenknochen und früher Glatze. Ein Porträt des Urah-nen Awdej, eine Lithographie eines unbekannten Meisters ein-deutig deutscher Schule, von Pawel Alexejewitschs Nachkommenbis heute aufgehoben, zeugt von der Dominanz dieses Blutes, dasdie Familienmerkmale durch die Zeiten bewahrte.

Auch Pawel Alexejewitschs Ehe war im Krieg geschlossen,schnell und überraschend. Seine Frau Jelena Georgijewna war allerdings weder Gefangene noch Geisel; zum erstenmal sah er sieim November zweiundvierzig in der sibirischen Kleinstadt W.,wohin die Klinik, die er leitete, evakuiert worden war, und zwar auf dem Operationstisch. Ihr Zustand war so, daß Pawel Alexe-jewitsch begriff: Das Leben dieser Frau, deren Gesicht er nochnicht gesehen hatte, lag nicht in seiner Hand. Sie war mit demNotarztwagen eingeliefert worden, ziemlich spät. Sehr spät.

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Mitten in der Nacht wurde Pawel Alexejewitsch von seinerAssistentin Valentina Iwanowna gerufen. Sie war eine erstklassigeChirurgin und wußte, daß er ihr vollkommen vertraute, aber dieswar ein besonderer Fall. Warum, hätte sie nicht erklären können.Sie schickte jemanden zu ihm nach Hause, ließ ihn wecken undbat ihn zu kommen. Als er den Operationssaal betrat, schon ge-waschen, bereit zur Operation, setzte sie gerade das Skalpell an,um die vorbereitete Bauchdecke aufzuschneiden.

Er stand hinter Valentina Iwanowna. Sein besonderer Blickschaltete sich ganz von selbst ein, und er sah nicht mehr das Ope-rationsfeld, an dem Valentina Iwanowna hantierte, sondern dengesamten weiblichen Körper – die überaus anmutige, leichte Wir-belsäule, den schmalen Brustkorb mit den feinen Rippen, das einwenig zu hoch gelegene Zwerchfell, das sich langsam zusammen-ziehende Herz, beleuchtet von einer blaßgrünen Flamme, die imTakt mit dem Muskel flackerte.

Er sah – und niemand hätte das verstanden, niemandem hätteer dieses Gefühl erklären können – einen vollkommen vertrautenKörper. Selbst der dunkle Fleck am rechten oberen Lungenflügel,Spur einer Tuberkulose in der Kindheit, war ihm so lieb und be-kannt wie die Umrisse eines Flecks auf der Tapete am Kopfendedes Bettes, in dem man jeden Abend einschläft.

Das Gesicht der jungen, von innen so wunderbar gebauten Frauzu betrachten war ihm irgendwie peinlich, dennoch blickte erkurz über das weiße Laken hinweg, das sie bis zum Kinn be-deckte. Er bemerkte lange braune Augenbrauen mit einer buschi-gen Franse am Ansatz und schmale Nüstern. Und kreideweißeBlässe. Aber die Verlegenheit, die er beim Betrachten ihres Ge-sichts empfand, war so groß, daß er den Blick senkte, dorthin, woder perlmuttfarbene gewundene Darm liegen mußte. Der Wurm-fortsatz war geplatzt, Eiter in die Darmhöhle gelangt. Bauchfell-entzündung. Genau das hatte auch Valentina Iwanowna festge-stellt.

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Eine schwache gelbrosa Flamme, die nur er sehen konnte, lau-warm und duftend wie eine seltene Blume, erleuchtete die Frauund war zugleich ein Teil von ihr.

Außerdem registrierte er, daß die Hüftgelenke wegen der zuflachen Gelenkpfanne sehr labil waren. Eigentlich nahe an derLuxation. Und das Becken war sehr schmal, bei einer Geburtkonnte die Schamfuge gedehnt werden oder gar reißen. Aber dieGebärmutter war reif, sie hatte bereits eine Schwangerschaft hin-ter sich. Es war also einmal gutgegangen. Die Vereiterung hattebereits beide Eierstöcke erfaßt sowie die dunkle, bangende Ge-bärmutter. Das Herz schlug schwach, aber ruhig, doch die Ge-bärmutter strömte Entsetzen aus. Pawel Alexejewitsch wußte seitlangem, daß die einzelnen Organe auch ihre eigenen Gefühlehaben. Aber konnte man das etwa laut sagen?

Ja, Kinder wirst du nicht mehr gebären. Er ahnte noch nicht,von wem die vor seinen Augen sterbende Frau keine Kinder mehrbekommen würde. Er schüttelte den Kopf, um die Geisterbilderzu verscheuchen. Valentina Iwanowna hatte die Darmwindungglattgezogen und war zum Wurmfortsatz vorgedrungen. Alles warvoller Eiter.

»Alles säubern. Alles raus.«Nicht mehr zu retten. Verfluchter Beruf, dachte Pawel Alexeje-

witsch, bevor er Valentina Iwanowna die Instrumente abnahm.Pawel Alexejewitsch wußte, daß Ganitschew, der Leiter des

Hospitals, Penicillin besaß. Er war ein Dieb und Schieber, PawelAlexejewitsch aber etwas schuldig. Doch würde er ein paar Am-pullen rausrücken?

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In den ersten Tagen, als Jelena nicht starb, aber auch nicht rechtlebte, sah Pawel Alexejewitsch in der durch einen Wandschirm

abgeteilten Ecke des Krankenzimmers nach ihr und spritzte ihreigenhändig Penicillin, das für verwundete Soldaten bestimmtwar und ihnen nun zum zweitenmal gestohlen wurde. Sie kamnicht zu Bewußtsein. Dort, wo sie sich befand, gab es sprechendeWesen, halb Menschen, halb Pflanzen, und ein Sujet, bei dem sieso etwas wie die Hauptheldin war. Fürsorglich auf ein riesigesweißes Leintuch gebettet, hatte sie das Gefühl, selbst dieses Lei-nen zu sein, und leichte Hände schienen an ihr zu nähen, jeden-falls spürte sie das Stechen winziger Nadeln, und dieses Stechenwar sogar angenehm.

Außer diesen liebevollen Nähern waren da noch andere Per-sonen, feindselige, Deutsche wohl, vielleicht sogar in Gestapo-Uniformen, und sie wollten nicht nur einfach ihren Tod, sondernmehr, Schlimmeres als den Tod. Dabei sagte etwas Jelena, daß dasalles nicht ganz wirklich war, halb Täuschung, und daß bald je-mand kommen und ihr die Wahrheit eröffnen würde. Überhauptahnte sie, daß alles, was mit ihr geschah, mit ihrem Leben undTod zusammenhing, daß aber dahinter etwas viel Wichtigeresstand, und das hatte mit der Offenbarung der endgültigen Wahr-heit zu tun, die wichtiger war als das Leben selbst.

Einmal vernahm sie ein Gespräch. Eine tiefe Männerstimmeverlangte nach einem Blutbild. Die Stimme einer alten Frau wiesihn ab. Jelena stellte sich das Blutbild als einen großen Glaskastenmit summenden farbigen Röhren vor, die auf geheimnisvolleWeise mit der Gebirgslandschaft zu tun hatten, in der das alles geschah.

Eines Tages waren auf einen Schlag die Landschaft, die farbi-gen Röhren und die imaginären Wesen verschwunden, und siespürte, daß jemand auf ihr Handgelenk klopfte. Sie öffnete die

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Augen. Das Licht war so grob und hart, daß sie blinzelte. EinMann, dessen Gesicht ihr bekannt vorkam, lächelte und sagte:

»Na also, sehr schön, Jelena Georgijewna.«Pawel Alexejewitsch war verblüfft: Ihre Augen schienen viel

größer als das ganze Gesicht.»Waren Sie das, dort?« fragte sie Pawel Alexejewitsch.Ihre Stimme war schwach, wie aus Papier.»Kann durchaus sein.«»Wo ist Tanetschka?« fragte sie, aber die Antwort hörte sie nicht

mehr; sie schwebte wieder zwischen Farbflecken und sprechen-den Pflanzen.

Tanetschka, Tanetschka, Tanetschka, sangen Stimmen, und Je-lena beruhigte sich: Alles war in Ordnung.

Bald darauf kehrte sie endgültig zurück. Alles rückte an seinenPlatz: die Krankheit, die Operation, das Krankenzimmer. Deraufmerksame Doktor, der sie nicht hatte sterben lassen.

Wassilissa Gawrilowna kam sie besuchen, ein Auge durch einLeukom getrübt, auf dem Kopf ein bis zu den Augenbrauen her-untergezogenes dunkles Tuch. Sie brachte Moosbeerensaft unddunkles Gebäck. Zweimal hatte sie die Tochter mit.

Der Doktor sah anfangs zweimal am Tag nach Jelena, dann kamer wie zu allen nur noch bei der morgendlichen Visite. DerWandschirm wurde weggeräumt. Jelena stand nun wie die ande-ren Patienten auf und lief allein zum Waschbecken am Ende desFlurs.

Drei Monate behielt Pawel Alexejewitsch sie auf seiner Station.Jelena hatte in einem morschen Holzhäuschen am Stadtrand

eine Ecke gemietet, abgeteilt durch einen Kattunvorhang. DieHausherrin, die ebenfalls morsch aussah, war äußerst zänkisch.Vor Jelena hatte sie bereits vier Untermieter rausgeworfen. Diesibirische Stadt, in der vor dem Krieg kaum fünfzigtausend Ein-wohner lebten, platzte vor Evakuierten aus den Nähten: ein Rü-stungsbetrieb, in dessen Konstruktionsbüro Jelena arbeitete, ein

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Medizinisches Institut mit dazugehörigen Kliniken und zweiTheater. Abgesehen von den Häftlingsbaracken unweit der Stadtwar hier in den Jahren der Sowjetmacht keine einzige mensch-liche Behausung gebaut worden. Die Menschen lebten dichtge-drängt wie die Ölsardinen, nutzten jeden Spalt, jede Höhle.

Am Tag vor Jelenas Entlassung fuhr der Doktor mit Dienst-auto und Chauffeur zu ihrer Wohnung. Die Hausherrin erschrakvor dem Auto und verkroch sich in der Kammer. Auf Pawel Alexejewitschs Klopfen öffnete Wassilissa Gawrilowna. Er hattesie kaum begrüßt, da traf ihn der Geruch von Abfall und Un-sauberkeit. Ohne seinen Schafpelz auszuziehen, war er mit dreiSchritten bei dem Vorhang, schlug ihn beiseite und warf einenflüchtigen Blick in das Armennest. Tanja saß mit einem weißenKätzchen auf dem großen Bett in einer Ecke und sah ihn erschrok-ken, aber mit Interesse an.

»Packen Sie schnell Ihre Sachen, Wassilissa Gawrilowna, wirziehen um«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung.

Die schwierige Patientin in einer solchen Kloake zu lassen, nach-dem sie sich wie durch ein Wunder wieder aufgerappelt hatte, warundenkbar.

Nach fünfzehn Minuten war der ganze Hausrat in einem gro-ßen Koffer und einem Bündel verstaut, Tanja angezogen, und diedrei Mädchen, die junge Katze eingerechnet, saßen auf demRücksitz des Autos.

Pawel Alexejewitsch fuhr sie zu sich nach Hause. Die Kli-nik war in einer alten Villa untergebracht, Pawel AlexejewitschsWohnung lag im selben Hof in einem Anbau. Früher waren hiereinmal Gesindestube und Küche gewesen. Man hatte den großenOfen repariert – hier wurde das Essen für die Patienten gekocht –und den Raum geteilt, so daß Pawel Alexejewitsch zwei Zim-mer mit separatem Eingang bewohnte. In einem Zimmer brachteer nun diese Familie unter. Seine künftige Familie.

Am ersten Abend, allein mit Tanja – Jelena sollte erst am näch-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Ljudmila Ulitzkaja

Reise in den siebenten HimmelRoman

Taschenbuch, Broschur, 512 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-72828-2

btb

Erscheinungstermin: Januar 2003

Russland am Ende der Revolution. Der berühmte Gynäkologe Pawel Kukotzki will sich denallgegenwärtigen Zwängen des neuen Systems nicht unterordnen und flüchtet in die Rolledes verantwortungslosen Trinkers. Doch dann rettet er einer jungen Frau mit einer fastaussichtslosen Operation das Leben und verliebt sich in sie. Jelena zieht mit ihrer Tochter Tanjazu Pawel - und erhält am selben Tag die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Das Gefühl, anseinem Tod mitschuldig zu sein, wird sie nie wieder verlassen. Über viele Jahre leben Pawelund Jelena in einer harmonischen Ehe. Es gelingt ihnen immer wieder, sich dem gierigen Griffdes Sowjetregimes zu entziehen - bis eine schreckliche Auseinandersetzung ihr Glück zerstört.Vor dem Hintergrund eines halben Jahrhunderts russischer Geschichte erzählt dieses grandioseEpos von Schuld und Sühne, von Glück und Verzweiflung, von Leben und Tod.