Buch Kleve Sozialarbeitswissenschaft Systemtheorie Postmoderne

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Heiko Kleve Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne Grundlegungen und Anwendungen eines Theorie- und Methodenprogramms

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Heiko Kleve

Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne

Grundlegungen und Anwendungeneines Theorie- und Methodenprogramms

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Lambertus

Heiko Kleve

Sozialarbeitswissenschaft,Systemtheorie und Postmoderne

Grundlegungen und Anwendungen einesTheorie- und Methodenprogramms

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Für Noah und Tanja.

ISBN 3-7841-1489-X

Alle Rechte vorbehalten© 2003, Lambertus-Verlag, Freiburg im BreisgauUmschlag, Gestaltung, Satz: Ursi Aeschbacher, Biel-Bienne (Schweiz)Herstellung: Franz X. Stückle, Druck und Verlag, Ettenheim

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

TEIL 1: SYSTEMTHEORETISCH-KONSTRUKTIVISTISCHE GRUNDLEGUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1. Soziale Arbeit als wissenschaftliche Praxis und als praktische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17I. Theorie und Praxis Sozialer Arbeit – zwei Seiten einer Form . . . 19II. Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21III. Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23IV. Autopoiesis und Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26V. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2. Soziale Arbeit als konstruktivistische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 30Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30I. Konstruktivismus als praktische Epistemologie der Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33II. Gesellschaftlicher Kontext der konstruktivistischen Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35III. Systemtheoretische Spielarten des Konstruktivismus . . . . . . . . 37IV. Schlussfolgerungen für die Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3. Systemtheorie und Ökonomisierung Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . 45Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45I. Ökonomisierung als Lösung sozialarbeiterischer Funktionsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46II. Ökonomisierung als Problem Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 51III. Zur Ambivalenz der Systemtheorie Sozialer Arbeit . . . . . . . . . 58

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INHALT

2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Postmodernes Wissen für die Soziale Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . 63Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63I. Lyotard im philosophischen Kontext der Debatte um die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65II. Von der modernen zur postmodernen Natur des Wissens und der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71III. Soziale Arbeit als postmoderne Profession und Disziplin . . . . 83

5. Die postmoderne Theorie Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88I. Ambivalente Realität Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90II. Ambivalenz der Moderne als real-historischer Ursprung Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98II.1 Soziale Arbeit als Reaktion auf die Ambivalenzen funktionaler Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 101III. Ambivalenz der Wissenschaft und Theorie Sozialer Arbeit . . 107

6. Sozialarbeit als postmoderne Profession ohne eindeutige Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118I. Vom modernen zum postmodernen Gemüts- und Geisteszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119II. Der identitätssprengende Generalismus Sozialer Arbeit . . . . . 120III. Die postmoderne Wandlungsfähigkeit Sozialer Arbeit . . . . . . 122IV. Postmoderne Sozialarbeit – Vorschlag für eine Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

3. TEIL: SYSTEMTHEORETISCH-KONSTRUKTIVISTISCHE UND POSTMODERNE ANWENDUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

7. Zwei Logiken des Helfens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131I. Selbstkonstruktive Logik des Helfens – ein Beschreibungs- und Erklärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134II. Selbstdekonstruktive Logik des Helfens – ein Beschreibungs- und Erklärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

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INHALT

8. Die sechs Schritte helfender Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 146Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146I. Kontextualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148II. Beschreibung der Probleme und Analyse der Ressourcen . . . . 153III. Bildung von Hypothesen über die Problembedingungen . . . . . 156IV. Zielfindung und Auftragsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161V. Handlungsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164VI. Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Rhizomatische Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

9. Mediation – Eine systemische Methode Sozialer Arbeit . . . . . . 170Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170I. Drei Fälle für die Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172II. Mediation – eine Methode Sozialer Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . 174III. Das Systemische der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177IV. Das Stufenmodell der Mediation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180V. Die Aktualität der Mediation in der Postmoderne . . . . . . . . . . . 189

10. Reframing in der systemischen Beratung und Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192I. Beratung und Supervision als Beobachten des Beobachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194II. Reframing als Mittel zum Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201III. Reframing in Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207IV. Epilog: Reframing als (De-)Konstruktion von Kontexten . . . . 212

LITERATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

NACHWEISE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

DER AUTOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

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Vorwort

Sozialarbeitswissenschaft, Systemtheorie und Postmoderne sind The-men, die das Theorie- und Methodenprojekt kennzeichnen, an dem ichseit einigen Jahren arbeite.Sozialarbeitswissenschaft steht dabei für eine wissenschaftliche Refle-xion der Sozialen Arbeit, die beginnt, aus ihrer Dominierung und Kolo-nialisierung durch andere Disziplinen herauszutreten. Inzwischen kön-nen diesbezüglich bereits erste vorsichtige Erfolge vermeldet werden.So ist es sicher nicht übertrieben zu sagen, dass sich eine scientific com-munity heraus differenziert hat, die an diesem Ziel arbeitet. Auch diemittlerweile von der Kultusministerkonferenz der Bundesländer undder Hochschulrektorenkonferenz verabschiedete Rahmenordnung fürden Studiengang Soziale Arbeit, die sich an der Sozialarbeitswissen-schaft, an der Fachwissenschaft Soziale Arbeit orientiert (siehe http://www.dbsh.de/rahmenstudien.pdf [7.6.2003]), kann ein Beleg dafürsein. Kritische Stimmen sind jedoch auch nicht überhörbar. So interpre-tiere ich die Einwände Christian Niemeyers (zum Beispiel 2003) gegendie Sozialarbeitswissenschaft vor allem so, dass wir die Traditionslinieder Sozialpädagogik in Deutschland nicht vergessen sollten; denn gera-de diese Linie steht für eine geistes- und sozialwissenschaftliche Be-gründung sozialer Wohlfahrts-, Fürsorge- und Erziehungspraxis.Zweifellos können wir jedoch davon ausgehen, dass mit dem Programmeiner Sozialarbeitswissenschaft die Konsolidierung einer Professionund einer Disziplin der Sozialen Arbeit voranschreitet. Dieses Voran-schreiten führt dazu, dass sich innerhalb der Sozialarbeitswissenschaftunterschiedliche theoretische und methodische Paradigmen konstituie-ren. In diesem Buch geht es um ein solches Paradigma, und zwar um ei-nes, das sich sowohl als systemtheoretisch-konstruktivistisch wie auchals postmodern versteht. Die Sozialarbeitswissenschaft – als Theorie-und als Methodenprogramm – soll mithilfe systemischer und postmo-derner Ansätze unterfüttert werden. Denn meine These ist, dass wir dieEntwicklung und Konstituierung der Sozialarbeitswissenschaft – so-wohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht – vorantreibenkönnen, wenn wir die Entwicklungen der Systemtheorie und der Post-moderne aufgreifen.

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VORWORT

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Diese These war bereits Ausgangspunkt unterschiedlicher Publikatio-nen, in denen ich versucht habe, ihre Stichhaltigkeit zu erhärten. Soging es mir 1996 in Konstruktivismus und Soziale Arbeit vor allem dar-um, die erkenntnistheoretische Grundlage der Systemtheorie darzustel-len und zu fragen, welchen Nutzen diese Theorie für die Soziale Arbeithaben könnte. In Postmoderne Sozialarbeit habe ich 1999 ausgeführt,dass als Strukturmerkmal der praktischen Sozialen Arbeit der Umgangmit und das Aushalten von Ambivalenzen angesehen werden kann unddass daher auch versucht werden sollte, die sozialarbeiterische Theorieals eine ambivalenzreflexive Theorie, als Inszenierung der Ambivalen-zen Sozialer Arbeit zu konzipieren. Die Sozialarbeit ohne Eigenschaf-ten aus dem Jahre 2000 führt vor, dass es in der Sozialen Arbeit nichtmöglich ist, klassischen Identitätskonzepten zu folgen; vielmehr liegtdie Stärke von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gerade darin,sich offen zu halten für eine Vielfalt von möglichen Identitäten undAufgaben. Und schließlich haben Britta Haye, Andreas Hampe-Gros-ser, Matthias Müller und ich mit dem Buch Systemisches Case Manage-ment (2003) erst kürzlich versucht, systemtheoretische und postmoder-ne Entwicklungen für eine methodische und ausgesprochen praxisrele-vante Konzeption der Sozialen Arbeit mit Einzelnen und Familiennutzbar zu machen.Die vorliegende Publikation unterscheidet sich von den genannten Bü-chern dadurch, dass sie breiter angelegt ist, alle bereits behandeltenThemen streift und damit vor allem zweierlei intendiert: Erstens will sieeine einführende Lektüre in die systemtheoretisch-konstruktivistischeund postmoderne Sozialarbeit bieten und zweitens kann sie als ein erstesResümee dieses Theorie- und Methodenprogramms gelesen werden.Einen einführenden Charakter hat das Buch insofern, da es Texte verei-nigt, die grundsätzliche Fragen der Theorie und Methodik Sozialer Ar-beit auf der Basis systemtheoretischer, konstruktivistischer und post-moderner Ansätze diskutieren, ohne dass allzu umfangreiches theoreti-sches Vorwissen bereits vorausgesetzt wird. Das benannte Theorie- undMethodenprogramm wird resümiert, weil das Buch unterschiedlicheThemen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe, do-kumentiert und zusammenfasst. Dabei können die Möglichkeiten undGrenzen eines systemtheoretischen, konstruktivistischen und postmo-dernen Ansatzes innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft bereits ausge-lotet werden.

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Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden grundlegen-de Thesen einer systemtheoretisch-konstruktivistisch orientierten Sozi-alarbeitswissenschaft referiert und diskutiert. Diese gehen insbesondereaus von der Theorie selbstreferentieller Systeme, die der Soziologe undtransdisziplinär arbeitende Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann(1927-1998) über mehrere Jahrzehnte (von Mitte der 1960er Jahre biszu seinem Tode 1998) im Anschluss an unterschiedliche Innovationenin der Kybernetik (Heinz von Foerster und Gregory Bateson), der Ma-thematik und Logik (George Spencer-Brown und Gotthard Günther) so-wie der Neurobiologie (Humberto Maturana und Francisco Varela) ander Universität Bielefeld entwickelt hat. Es wird die Frage gestellt, wiediese Theorie eine Sozialarbeitswissenschaft befruchten kann und wiedie Soziale Arbeit verstehbar ist aus der Perspektive der Systemtheorieder Bielefelder Schule.1 Dabei werden drei Fragerichtungen immer wie-der aufleuchten – erstens: Wie kann die Interaktion in der Sozialen Ar-beit, also die unmittelbare face-to-face-Kommunikation zwischen Sozi-alarbeiterInnen und KlientInnen beschrieben und erklärt werden? Zwei-tens: Wie ist Soziale Arbeit institutionell organisiert und was bedeutetdies für ihre alltägliche Praxis? Drittens: In was für einer Gesellschaftfindet Soziale Arbeit heute statt und welche Funktion erfüllt sie in die-ser? Diese Fragestellungen werden in den ersten beiden Kapiteln zu-nächst allgemein – vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von System-theorie und sozialarbeiterischer Praxis – diskutiert, während im 3. Ka-pitel die aktuellen Tendenzen der sozialarbeiterischen Ökonomisierungins Verhältnis gesetzt werden zu einer systemtheoretischen ReflexionSozialer Arbeit.

1 Mit der Bezeichnung Bielefelder Schule lehne ich mich an eine Formulie-rung von Peter Fuchs (2000, S. 158) an, der die Systemtheorie, die ausgehend von Niklas Luhmann zunächst an der Universität Bielefeld entwickelt wurde, aber inzwischen von verschiedenen WissenschaftlerInnen (Dirk Baecker, Peter Fuchs Theodor M. Bardmann u.a.) an unterschiedlichen wissenschaftlichen Ein-richtungen (zum Beispiel an der Privatuniversität Witten/Herdecke, der Fach-hochschule Neubrandenburg oder der Hochschule Niederrhein) weiter entwi-ckelt wird, dermaßen bezeichnet. „Luhmann würde sich entschieden gegen diese Bezeichnung gewehrt haben, aber ich brauche ein Wort für diese Theorie, die sich mittlerweile deutlich absetzt von Theorieangeboten derselben Branche. Im übrigen muß man das Wort Schule nicht von den Schülern her denken oder von Orten der Lehre, man kann es von ihm selbst aus denken als schola“ (ebd.).

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Im zweiten Teil des Buches wird die systemtheoretisch-konstruktivisti-sche durch eine postmoderne Perspektive ergänzt. Die These ist, dassSoziale Arbeit eine Profession und Disziplin ist, die die Gesellschaft aufpostmoderne Probleme aufmerksam macht und diese Probleme bear-beitet. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu Beginn des soge-nannten „sozialpädagogischen Jahrhunderts“ (Hans Thiersch) wurdedie Gesellschaft gewahr, dass die Ideale, die mit der Aufklärung und derModernisierung aller Lebensbereiche verbunden waren, nicht realisier-bar sind. Es zeigte sich, dass der Fortschritt kein lineares nur nach vornestrebendes Phänomen ist, sondern immer auch einher geht mit Rück-schritt. Lösung und Problem, Reichtum und Armut offenbarten sich alszwei Seiten einer Medaille – und inzwischen scheint klar: das eine istuntrennbar mit dem anderen verbunden. Insbesondere Friedrich Nietz-sche, später auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber vorallem die Philosophen der Postmoderne stehen für eine solche Diagnoseambivalenter gesellschaftlicher Entwicklung.Diese Ambivalenz der gesellschaftlichen Bewegung lässt erkennbarwerden, wofür die Soziale Arbeit gesellschaftlich zuständig ist: für dieBearbeitung der nicht-intendierten, der anderen, der problematischenSeiten gesellschaftlicher Entwicklung. Zu sehen, dass jede soziale Ent-wicklung in dieser Hinsicht ambivalent ist, dass sie mindestens zwei wi-derstreitende Seiten produziert, kann als postmodern bezeichnet wer-den. Postmoderne meint also, die Grenzen der Moderne und ihrer Idealezu reflektieren, offen zu werden für die unüberwindlichen Ambivalen-zen gesellschaftlicher Prozesse. Wie Soziale Arbeit in diesem Kontextals eine postmoderne Profession und Disziplin bewertbar ist, wird indrei Etappen entwickelt – erstens, im 4. Kapitel, geht es um eine Ein-führung in den Klassiker des postmodernen Denkens, in LyotardsSchrift Das postmoderne Wissen; zweitens, im 5. Kapitel, wird die his-torische Entwicklung sowie die Praxis und Theorie Sozialer Arbeitpostmodern gedeutet und drittens schließlich, im 6. Kapitel, wird einVorschlag unterbreitet, wie die leidige Identitätsfrage in der SozialenArbeit postmodern beantwortet werden könnte.Im dritten Teil des Buches werden die systemtheoretisch-konstruktivis-tischen und postmodernen Ansätze einer Sozialarbeitswissenschaft aufdie praktische Methodik Sozialer Arbeit bezogen. Hier geht es um dieFrage, wie die Praxis der Sozialen Arbeit ausgehend von den beschrie-benen theoretischen Grundlagen ihre Handlungen und Kommunikatio-

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nen strukturieren kann. Zunächst werden, in Kapitel 7, zwei gegensätz-liche Logiken des Helfens unterschieden, die selbstkonstruktive und dieselbstdekonstruktive Logik. Die Praxis neigt aufgrund ihrer Strukturendazu, eher selbstkonstruktiv zu helfen, potentiell KlientInnen an dasHilfesystem zu binden. Wie diese Logik jedoch durchbrochen werdenkann in Richtung einer selbstdekonstruktiven Logik der Hilfe zurSelbsthilfe wird anhand unterschiedlicher Möglichkeiten gezeigt. Diebeiden daran anschließenden Kapitel schlagen methodische Strukturie-rungshilfen, Phasenmodelle, für die Arbeit mit Einzelnen und Familien,Kapitel 8, und für die Vermittlung in Konflikten (Mediation), Kapitel 9,vor – beide Strukturen werden ausgefüllt mit systemtheoretisch-kon-struktivistischen und postmodernen Vorschlägen für das konkrete prak-tische Handeln. Schließlich wird im letzten Kapitel (10) die konstrukti-vistische Grundlage schlechthin für die beschriebenen Methodiken dis-kutiert, und zwar das Umdeuten, das Reframing. Reframing wird amBeispiel der Beratung und Supervision als ein Phänomen vorgestellt,das letztlich mit allen psychosozialen Veränderungen einhergeht.Erwähnt sei noch, dass ich die Kapitel 8 und 10 zusammen mit BrittaHaye, Professorin für Methoden Sozialer Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, verfasst habe; für diese ausgesprochen inspirieren-de Zusammenarbeit möchte ich ihr herzlich danken. Sehr geholfen ha-ben mir auch ihre sowohl bestätigenden als auch kritischen Kommenta-re, die die Entstehung dieses Buches begleitet haben. Meinen herzlichenDank möchte ich schließlich an Heinz J. Kersting, Andreas Hampe-Grosser und Matthias Müller richten, ihre freundschaftlichen Rückmel-dungen waren hilfreiche Verstörungen für mich – sie ermöglichten mir,brauchbare Antworten auf jene Fragen zu finden, welche während derFertigstellung dieses Buches bei mir immer wieder aufschienen.

Berlin, im Sommer 2003 Heiko Kleve

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Teil 1:Systemtheoretisch-konstruktivistische

Grundlegungen

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1. Soziale Arbeit als wissenschaftliche Praxis und als praktische Wissenschaft

Systemtheoretische Ansätze einer Praxistheorie Sozialer Arbeit

AUSGANGSPUNKTE

An den Anfang stelle ich zwei Fragen, denen bereits in vielen Publika-tionen nachgegangen wurde – erstens: Was kann die moderne System-theorie für die Soziale Arbeit leisten? Und zweitens: Wie kann system-theoretisches Denken sowohl zur wissenschaftlichen als auch zur prak-tischen Fundierung sozialarbeiterischen Handels beitragen?Im Gegensatz etwa zu Maja Heiner (1995, S. 440) bin ich der Meinung,dass bereits zahlreiche brauchbare Antworten auf diese Fragen formu-liert wurden (siehe etwa Hollstein-Brinkmann 1993; Pfeifer-Schaupp1995; 2002; Merten 2000). Dennoch ist es wohl nicht ganz falsch, wennHeiner (ebd.) konstatiert: „Überwiegend [...] wird die Systemtheorie inder Sozialen Arbeit schlicht und einfach kaum zur Kenntnis genommen,weder als Praxistheorie noch als Metatheorie.“ Dies kann m.E. als einDilemma angesehen werden, denn es wird im interdisziplinären Diskursvon der Physik bis hin zur Literaturwissenschaft kaum über ein Paradig-ma so heftig diskutiert, wie über die moderne Systemtheorie bezie-hungsweise deren erkenntnistheoretische Grundlage, den Konstrukti-vismus (vgl. zur Einführung: Watzlawick 1981; Schmidt 1987; 1992).Will die Soziale Arbeit, sowohl in ihrer Theorie als auch in ihrer Praxis,den Anschluss an interdisziplinäre Entwicklungen erreichen, um nichtzuletzt ihre eigene Wissenschaftlichkeit und praktische Glaubwürdig-keit zu bekräftigen, ist ihr zu raten, sich systemtheoretisch beziehungs-weise konstruktivistisch zu reflektieren. Ich habe an anderer Stelle dar-gestellt, inwiefern der systemtheoretische Konstruktivismus als Refle-xionstheorie Sozialer Arbeit konzipierbar wäre (vgl. Kleve 1996).Eine derartige Reflexionstheorie könnte sich gleichzeitig als Hand-lungstheorie verstehen; sie hätte dann aber auch kybernetische, neuro-biologische, psychologische und soziologische Forschungsergebnisseaufzunehmen, um in eine Praxistheorie Sozialer Arbeit zu emergieren.Nur so wird meiner Ansicht nach der „Ganzheitlichkeit“ Sozialer Ar-

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TEIL 1: SYSTEMTHEORETISCH- KONSTRUKTIVISTISCHE GRUNDLEGUNGEN

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beit, die soziale beziehungsweise gesellschaftliche Phänomenbereichegenauso tangiert wie individuell-personelle Ebenen, Rechnung getra-gen. In den Worten von Heino Hollstein-Brinkmann (1993, S. 193): „ei-ne Handlungstheorie Sozialer Arbeit, die [...] zugleich als Praxistheoriezu begreifen ist, also Interpretation konkreter Handlungszusammenhän-ge und daraus abgeleitete Forderungen für berufliches Handeln ein-schließt, [müßte] systemische Elemente zum Verständnis der funktiona-len und strukturellen Dimensionen mit verstehenden Ansätzen des sub-jektiv Gemeinten und Gewollten [...] verbinden“.Und genau diesem Postulat wird die moderne Systemtheorie bezie-hungsweise der systemtheoretische Konstruktivismus gerecht. Die ver-schiedenen systemtheoretisch-konstruktivistischen Theorieansätze er-lauben nämlich, die Operationsweisen biologischer, psychischer undsozialer Systeme einheitlich zu beschreiben beziehungsweise zu rekon-struieren, ohne aber deren spezifische, nicht aufeinander zu reduzieren-de Eigendynamik außer acht zu lassen. Vielmehr ist ein zentraler Aus-gangspunkt moderner systemtheoretischer Forschung, dass ein Ver-ständnis der Funktionsweisen der genannten Systemklassen nichtadäquat möglich ist, wenn sie (analytisch) jeweils aufeinander reduziertwerden. So erlaubt etwa der Marxismus, welcher die Psychodynamikauf soziale – genauer: ökonomische Prozesse – zurückführt, kaum einVerständnis der individuell-subjektiven Dynamik von Bewusstseins-prozessen, während etwa die Psychoanalyse soziale Dynamiken kaumbrauchbar rekonstruieren kann, da sie dieselben aus individuellen psy-chischen Prozessen ableitet. Dagegen können wir mit Hilfe der System-theorie Soziales aus Sozialem, Psychisches aus Psychischem und Bio-logisches aus Biologischem erklären.Obwohl die bisherigen Ausführungen und auch die zentralen Begriff-lichkeiten aus der systemtheoretisch-konstruktivistischen Forschung –wie Form, Komplexität, Kontingenz, Autopoiesis und Selbstreferenz –zunächst sehr theoretisch klingen mögen und einen unmittelbaren Be-zug zur sozialarbeiterischen Praxis schwerlich erkennen lassen, kannbei näherem Betrachten dieser Theoriekonstrukte ihre praktische Rele-vanz für Probleme von SozialarbeiterInnen augenscheinlich werden. Solautet meine These, dass die Inhalte, welche insbesondere von den ge-nannten Begriffen bezeichnet werden, an empirisch beobachtbare Phä-nomene der sozialen Praxis anschließbar sind und damit auf der ande-ren Seite praktisches sozialarbeiterisches Handeln wissenschaftlich be-

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... ALS WISSENSCHAFTLICHE PRAXIS UND ALS PRAKTISCHE WISSENSCHAFT

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gründen können. Ich möchte explizit darauf hinweisen, dass dieseThese diametral steht zu einem nicht selten zu hörenden Argument, dassnämlich die Systemtheorie, etwa die Theoriefigur der Autopoiesis, kei-ne Verknüpfung mit handlungsorientierten Ansätzen erlauben würde.Ich behaupte im Folgenden das Gegenteil: dass nämlich die Systemthe-orie ausgesprochen praktisch ist.

I. THEORIE UND PRAXIS SOZIALER ARBEIT – ZWEI SEITEN EINER FORM

Meiner Ansicht nach kann professionelle Soziale Arbeit nur geleistetwerden, wenn die handelnden SozialarbeiterInnen in der Lage sind, ers-tens: ihre Praktiken theoretisch zu reflektieren und zweitens: Theorienpraktisch zu integrieren. Deshalb ist es eher unpassend, von einem Ge-gensatz von sozialarbeiterischer Theorie und Praxis auszugehen. KeineSozialarbeiterin beziehungsweise kein Sozialarbeiter kann handeln,ohne von bestimmten (wo auch immer erworbenen) Vorannahmen aus-zugehen. Diese Vorannahmen, die ich allgemein als Theorie bezeich-nen möchte, leiten das Handeln und sind meist eine Mischung aus allenmöglichen psychologischen oder pädagogischen Annahmen und leben-spraktischen „Weisheiten“, denn die Soziale Arbeit selbst hat wenig ei-gene (wissenschaftliche) Theorien konstruiert, die als Grundlage desHandelns und Reflektierens dienen könnten.Aufgrund der praktischen Notwendigkeit von (wie auch immer gearte-ten) Theorien scheint es in Anlehnung an die Differenztheorie vonGeorge Spencer-Brown (1969) passend zu sein, Theorie und Praxis alszwei unterschiedene Seiten ein und derselben Form beziehungsweiseEinheit zu verstehen. Wenn SozialarbeiterInnen ihre Handlungen theo-retisch reflektieren (zum Beispiel während der Supervision oder Selbst-evaluation), sind sie explizit oder implizit gezwungen, die Unterschei-dung Praxis /Theorie ihren Selbstbeobachtungen als Differenzschemazur Informationsgewinnung zugrunde zu legen. Die UnterscheidungTheorie /Praxis ist in diesem Sinne eine notwendige Beobachtungsvor-aussetzung, da nach Gregory Bateson (1979) eine Information ein Un-terschied ist, der einen Unterschied ausmacht („a difference whichmakes a difference“). So informiert die Form der Differenz Theorie /Praxis zunächst einmal darüber, dass es einen Unterschied macht, obpraktisch gehandelt oder theoretisch reflektiert wird. Erst dieser Unter-

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schied ermöglicht weitere Differenzierung von Informationen; etwadarüber, ob es theoretisch begründbar ist, wie praktisch gehandelt wurdeoder ob mit Hilfe der Theorie andere Handlungsmöglichkeiten konstru-ierbar sind als jene, die möglicherweise erfolglos angewendet wurden.Sobald PraktikerInnen ihre Handlungen reflektieren beziehungsweise(selbst) beobachten, begeben sie sich zwangsläufig auf die Seite der The-orie; sie werden zu BeobachterInnen zweiter Ordnung, die ihre eigenenBeobachtungen beziehungsweise Handlungen beobachten. In einem ge-wissen Sinne werden reflektierende SozialarbeiterInnen quasi zu Wis-senschaftlerInnen ihrer Praxis, denn: „Wissenschaft operiert prinzipiellauf der Ebene der Beobachtungen zweiter Ordnung“ (Schmidt 1994, S.45). Auf der anderen Seite sind SozialarbeiterInnen uneingeschränktPraktikerInnen, sobald sie – wie bewusst oder unbewusst auch immer –theoriegeleitet ihre helfenden Tätigkeiten ausführen. Somit ist die Formder sozialarbeiterischen Theorie und Praxis also niemals von außen etwaobjektiv beobachtbar: SozialarbeiterInnen sind entweder TheoretikerIn-nen ihrer Praxis oder PraktikerInnen mit ihren Theorien. Sie unterschei-den beide Seiten (Theorie /Praxis), um sich zu entscheiden, auf welcherSeite sie jeweils – zwecks Informationsgewinnung – operieren wollen:auf der theoretischen zur Reflexion der Praxis oder auf der praktischenmit Hilfe von Theorien.Aus dieser Form können auch PsychologInnen oder SoziologInnen, diedie Soziale Arbeit (kritisch) beobachten und ihr beispielsweise Theo-riefeindlichkeit vorwerfen, nicht ausbrechen, denn sie stehen ja schonimmer auf der Seite ihrer sozialarbeiterisch nicht beachteten Theorien.Nebenbei gesagt, es sind wohl nicht selten derartige nicht-beachteteTheoretikerInnen, die, wenn sie SozialarbeiterInnen zur Beachtung ih-rer Theorien missionieren wollen, zu hören bekommen: „Ihr könnt unsnichts erzählen, wir kommen ja aus der Praxis.“ Damit PraktikerInnendies allerdings konstatieren können, benötigen sie wiederum Theorien;wenn auch in ablehnender Hinsicht.Fassen wir zusammen: Die zwei Seiten der Form Theorie /Praxis sindwechselseitig vermittelt beziehungsweise setzen sich jeweils voraus.Mit anderen Worten, die Theorie bestimmt, dass und sogar was praktischbeobachtet werden kann, während auf der anderen Seite die Praxis be-stimmt, dass und was theoretisch plausibilisierbar ist. Aus diesem Kreisgibt es kein Entkommen. Diesbezüglich kann es nur noch als eine Illu-sion gelten, dass der Zirkel, der die lästige Form generiert, welche zur

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Praxis Theorie benötigt und zur Theorie Praxis, durchbrochen werdenkann. Daher ist letztbegründetes objektives Wissen unmöglich. Wir os-zillieren vielmehr zwischen den beiden Seiten, das heißt theoretischesWissen verweist auf die Praxis, während die praktische Erfahrung aufdie Theorie verweist.Der Zaun zwischen der theoretischen und der praktischen Seite kannnichts anderes als eine Grenzlinie sein, bei deren Überqueren Sozialar-beiterInnen bestenfalls derart verstört werden, dass sie merken: die er-fahrbare (theoretische oder praktische) Komplexität ist größer als siedachten, denn die jeweilige (Theorie- beziehungsweise Praxis-)Wirk-lichkeit zeigte sich anders als erwartet. Um allerdings eine derartige Ver-störung, die neue Sichtweisen und Handlungsalternativen aufzeigenkann, auszulösen, sind SozialarbeiterInnen gezwungen, ihre (wenig pro-fessionellen) Alltagstheorien mit Hilfe von komplexen wissenschaftli-chen Theorien zu professionalisieren.

II. KOMPLEXITÄT

Systemtheoretisch gesehen lässt sich vor allem zwischen wissenschaft-licher Theorie und alltäglicher Praxis ein Komplexitätsgefälle konsta-tieren. Wenn also aus der Sicht der Praxis die wissenschaftliche Theo-rielandschaft beobachtet wird, dann stellt sich die Letztere in der Regelsehr unübersichtlich, vielfältig, hoch voraussetzungsvoll, kurz gesagt:enorm komplex dar. Sicherlich ist dies ein Grund dafür, warum sichPraktikerInnen eher vorsichtig oder misstrauisch auf theoretischem Bo-den bewegen. Von der anderen, der theoretischen Seite aus gesehen giltdasselbe in Bezug auf die Beobachtung der Praxis: Die praktischen Pro-bleme werden immer komplexer sein als die Möglichkeiten der wissen-schaftlichen Theorie, diese Komplexität vollends zu verarbeiten. Wie Niklas Luhmann (1990) ausführt, stellt sich der Wissenschaft derGesellschaft, also dem System, das Theorien kommuniziert, wie auchjedem anderen System grundsätzlich das Problem der Komplexität.Wenn es also darum geht, wie TheoretikerInnen und PraktikerInnensich gegenseitig, aber auch sich selbst (praktisch oder theoretisch) beo-bachten, dann wird „das Problem der Komplexität zum Ausgangsprob-lem jeder Beobachtung“ (ebd., S. 277f.).Komplexität konfrontiert BeobachterInnen mit der Einschränkung, dassdieselben nur selektiv beobachten können, das heißt sie können den Fo-

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kus immer nur auf bestimmte Brennpunkte richten und nur zwischen be-stimmten beobachteten Elementen Beziehungen herstellen. „Sowohloperativ als auch in der Beobachtung setzt Komplexität daher immer einReduktionsverfahren voraus, das ein Muster der Selektion von Beziehun-gen festlegt und andere Möglichkeiten der Verknüpfung von Elementenals bloße Möglichkeiten vorläufig ausschließt“ (Luhmann 1986, S. 267).Wenn also PraktikerInnen ihre Handlungen mit ausgesprochen komplexgebauten Theoriewerkzeugen (zum Beispiel der Systemtheorie) reflek-tieren, können sie zu völlig unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelan-gen, weil sie, um letztlich wieder handlungsfähig zu werden, nicht anderskönnen, als diese Komplexität zu reduzieren. Sie wenden sich aufgrundvon bestimmten selektierten Praxiserfahrungen bestimmten selektiertenTheoriekonstrukten zu, mit Hilfe derer sie wiederum aus der Fülle dermöglichen Handlungen ganz bestimmte selektieren.Insbesondere die Theorie und Praxis der konstruktivistisch orientiertenSupervision bezieht sich auf diese systemtheoretische Konzeption vonKomplexität. Konstruktivistische SupervisorInnen konfrontieren dieunter bestimmten praktischen Problemen leidenden SupervisandInnen(SozialarbeiterInnen, BeraterInnen, TherapeutInnen etc.) mit den unter-schiedlichen (möglichen) Deutungen oder Sichtweisen ihrer Probleme,wodurch für die SupervisandInnen häufig anderes sichtbar wird. DieSupervisandInnen gewinnen durch diese Differenzierung verschiedenerDeutungsmuster neue Informationen. Dadurch erhöht sich die Komple-xität beziehungsweise wird anders reduziert, das heißt es können anderetheoretische Relationen zwischen beobachteten Elementen der Praxiskonstruiert werden, die zu anderen, bestenfalls weniger problemati-schen Handlungen und Sichtweisen führen (vgl. ausführlich zum Bei-spiel Kersting 1992).Zusammenfassend können wir formulieren, dass die Demarkationsliniezwischen Theorie und Praxis als Grenze zwischen zwei unterschiedli-chen Komplexitäten verstanden werden kann, deren Überqueren zu inte-ressanten Irritationen führen kann; besonders dann, wenn auf der theore-tischen Seite systemisches Denken zirkuliert. Die moderne Systemtheo-rie reflektiert nämlich ausdrücklich ihre Schwäche, die unüberschaubareKomplexität der Praxis theoretisch reduzieren zu müssen. Daraus leitetsie nun eine These ab, die mit der Erfahrung sozialen Handelns kompa-tibel ist: Es könnte praktisch durchaus anders kommen als (theoretisch)erwartet.

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III. KONTINGENZ

Mit der Konstatierung des Komplexitätsproblems, das immer Selekti-onszwang und damit reduzierte Komplexität generiert, sind wir gleich-zeitig mit dem Phänomen der Kontingenz konfrontiert. Wenn also diePraxis dermaßen komplex ist, dass wir aus der Vielfalt möglicher Beob-achtungen etwa bezüglich eines sozialen Problems immer nur ganz be-stimmte auswählen können, also dermaßen selektieren müssen, dass nurdie wenigen, zeitlich sowie kognitiv und kommunikativ verarbeitbarenDeutungen in den Fokus gebracht werden können, dann bedeutet das:Wir hätten auch anders und damit anderes auswählen können. Was wiralso beobachten ist davon abhängig, wie wir aus der jeweiligen Komple-xität selektieren. Natürlich ist dieses Wie der Selektion keineswegs be-liebig. Vielmehr ist es neben vielen anderen (psychologischen, sozialen,kulturellen) Bedingungen von unseren theoretischen Präferenzen abhän-gig. Aber gerade aus diesem Grund ist die Selektion beziehungsweiseReduktion von Komplexität kontingent, das heißt, um es noch einmal zubetonen, sie könnte in Abhängigkeit von anderen psychologischen, sozi-alen, kulturellen oder theoretischen Bedingungen anders ausfallen.In diesem Sinne ist etwas kontingent, „was weder notwendig ist nochunmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aberauch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Er-fahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögli-ches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicherAbwandlungen“ (Luhmann 1984, S. 152).Sobald etwas komplex ist, werden BeobachterInnen dieser Komplexitätmit der Kontingenz konfrontiert, welche für SozialarbeiterInnen inmehrfacher Hinsicht als Unsicherheit erscheinen mag: Ob die Interven-tionen von SozialarbeiterInnen, die diese auswählten, da sie ihnen be-züglich der zu lösenden sozialen Probleme als hilfreich und adäquat er-schienen, auch in der gleichen Weise von den KlientInnen aufgenom-men werden, ist beispielsweise im höchsten Maße unsicher. Schließlichproduzieren sozialarbeiterische Interventionen Komplexität, das heißtsie erzeugen einen Spielraum möglicher Reaktionsweisen der KlientIn-nen. Dass die SozialarbeiterInnen gerade jene Reaktionen von den Kli-entInnen erwarten, die dann tatsächlich (sozialarbeiterisch) beobachtetwerden können, ist ebenfalls unsicher. Paradox formuliert: Sicher isteinzig und allein die Unsicherheit.

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Wenn auch (theoretisch gesehen) unwahrscheinlich, sind dennoch auchsich bestätigende Vorhersagen etwa bezüglich der Verhaltensweisenvon KlientInnen durch SozialarbeiterInnen möglich. Nach meinem Ver-ständnis moderner Systemtheorie sind „Prognosen über gesellschaftli-che Entwicklungen oder menschliches Verhalten“ (Heiner 1995, S. 433)ausgehend von dieser Theorie keineswegs „unmöglich beziehungsweiseunsinnig“ (ebd.), wie Heiner allerdings glaubt. Nur sind derartige Prog-nosen sicherlich nicht selbstverständlich. Nebenbei gesagt: Mir er-scheint das Streben nach genauer Vorhersagbarkeit komplexer Prozesseeine Voraussetzung für das burnout-Syndrom bei SozialarbeiterInnen zusein. Ist es denn nicht häufig so, dass SozialarbeiterInnen immer frust-rierter werden, wenn sie den Anspruch haben, genau vorauszuplanen,wie sich ihre Hilfe auf die KlientInnen auswirkt? Und ist es nicht geradedas Scheitern dieser Versuche, welches einige SozialarbeiterInnen zuder pessimistischen Überzeugung kommen lässt, nichts verändern zukönnen?Jedoch ist erfolgreiches Prognostizieren durchaus möglich; denn sozia-le Strukturen generieren sich durch „generalisierte Verhaltenserwartun-gen“ (Luhmann 1994, S. 139). „Erwartungen bilden sich mithin durchZwischenselektion eines engeren Repertoires von Möglichkeiten, imHinblick auf die man sich besser und vor allem rascher orientierenkann“ (ebd., S. 140). In diesem Sinne sind Erwartungen mehr oder we-niger stabile Komplexitätsreduktionen, die das Umgehen mit doppelterKontingenz erleichtern.Doppelte Kontingenz als Charakteristikum sozialer Interaktionen be-deutet, dass Personen die Kontingenz anderer Personen „als ein Problemmangelnder Erwartungssicherheit“ (Willke 1993, S. 280) und „die eige-ne Kontingenz [...] als Freiheitsgrade und Alternativspielräume“ (ebd.)erfahren. Personen können als Adressaten von Erwartungen angesehenwerden. Eine Person ordnet in dieser Hinsicht Verhaltenserwartungen –genauer: Selbsterwartungen und Fremderwartungen (vgl. Luhmann1984, S. 429). Diese Erwartungen können im Sinne von Heinz von Foer-ster (1988) trivialisieren, das heißt sich dermaßen stabilisieren, dass siein bestimmten sozialen Kontexten immer wieder dieselben Verhaltens-weisen erwartbar werden lassen. Damit kommen möglicherweise dieSelbsterwartungen und Fremderwartungen zur Kongruenz, was sich be-stätigende Verhaltensprognosen etwa von SozialarbeiterInnen bezüg-lich der KlientInnen ermöglicht. Dermaßen läuft die „Unsicherheitsab-

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sorption [...] über die Stabilisierung von Erwartungen, nicht über dieStabilisierung des Verhaltens selbst, was natürlich voraussetzt, dass dasVerhalten nicht ohne Orientierung an Erwartungen gewählt wird“ (Luh-mann 1984, S. 158).In der Sozialen Arbeit geht es allerdings gerade nicht darum, zukünftigeVerhaltensweisen von KlientInnen vorhersagen zu können. Meistenskönnen ohnehin lediglich die problematischen Verhaltensweisen, dasheißt jene stabilisierten beziehungsweise trivialisierten Handlungen,die den Ausgangspunkt für die soziale Hilfe bildeten, prognostiziert be-ziehungsweise erwartet werden. Außerdem sind gerade derartige Prog-nosen, besonders wenn sie latent über einen langen Zeitraum der Hilfeauftreten, eine Bedingung für die Erzeugung von sich selbsterfüllendenProphezeiungen: „Weil der Sozialarbeiter vom Klientensystem etwaserwartet, verhält es sich schließlich so. Diese Erwartung kann sich alsErmutigung auswirken. [...] Aber auch das Gegenteil ist der Fall. Wenndas Klientensystem nach Meinung des Sozialarbeiters unfähig ist, sichzu verändern (weil es zum Beispiel [nach Ansicht des Sozialarbeiters;H.K.] zu dumm ist oder weil die gesellschaftlichen Verhältnisse so undnicht anders sind), setzt der Sozialarbeiter so viele Signale (meist aufder Beziehungsebene), daß sie die erwarteten Ereignisse negativ mitbe-dingen [...]“ (Kersting 1992, S. 49).Soziale Probleme können wir allgemein als trivialisierte Erwartungenvon Verhaltenserwartungen definieren, die immer wieder dasselbe pro-blematische Verhalten herausfordern. Das heißt nicht, psychologisch zuverfahren und die sozialen Probleme in den psychischen Strukturen derKlientInnen zu lokalisieren. Vielmehr sind diese Erwartungserwartun-gen sozial determiniert: Sie sind über soziale Strukturen, d.h über Kom-munikation generiert. Problemlösung kann für SozialarbeiterInnen da-her nur bedeuten: Kommunikation mit den KlientInnen, um die sozialeKomplexität wieder zu erhöhen – oder mit Heinz von Foerster (1988, S.33) gesprochen: stets so zu handeln, dass die Anzahl der (Handlungs-)Möglichkeiten der KlientInnen vergrößert wird. Dass dies ein sehrkompliziertes und mithin häufig erfolgloses Unterfangen ist, wissenPraktikerInnen nur allzu gut. Nur die Theorie bot bisher keine ausrei-chenden Instrumente, um eine derartige Praxis zu erklären. Mit denKonzepten der Autopoiesis und Selbstreferenz, die sowohl die Operati-onsweise biologischer und psychischer als auch sozialer Systeme ver-anschaulichen, ändert sich dieses theoretische Defizit.

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IV. AUTOPOIESIS UND SELBSTREFERENZ

Die Konzepte der Autopoiesis und der Selbstreferenz erklären zweierlei– erstens: wie lebende Systeme als operational geschlossene Systemeoperieren und daher informationell von ihrer Umwelt unabhängig, abermateriell und energetisch von dieser abhängig sind; zweitens: dass dieoben genannten Systeme ihre Wirklichkeit konstruieren, da sie immernur an eigene Zustände beziehungsweise Informationen oder Operatio-nen anschließen können (vgl. dazu ausführlich Maturana/Varela 1984).Uns soll in diesem Zusammenhang besonders Luhmanns Adaption desAutopoiesis-Modells im Zusammenhang mit der Theorie selbstreferen-tieller Systeme interessieren (vgl. Luhmann, 1984). Diese Theorie er-scheint m.E. für den „ganzheitlichen“ Aufgabenreich Sozialer Arbeitbesonders passend zu sein. Da die „Gegenstände“ beziehungsweise dieThemen Sozialer Arbeit soziale Probleme sind (vgl. Engelke 1992), diesich kommunikativ repräsentieren aber auch biologische und psycholo-gische Auswirkungen haben, ist es zunächst sehr hilfreich, alle dreiPhänomenbereiche (Organismus, Psyche, Sozialität) anhand desselbenModells verstehen zu können: der Autopoiesis. „Der Begriff beziehtsich auf (autopoietische) Systeme, die alle elementaren Einheiten, ausdenen sie bestehen, durch ein Netzwerk eben dieser Elemente reprodu-zieren und sich dadurch von einer Umwelt abgrenzen – sei es in derForm von Leben [bei biologischen Systemen; H.K], in der Form vonBewußtsein [bei psychischen Systemen; H.K.] oder (im Falle sozialerSysteme) in der Form von Kommunikation“ (Luhmann 1986, S. 266).Alle Elemente derartiger Systeme müssen, damit sie sich als Identität,das heißt als System beziehungsweise Einheit von ihrer Umwelt diffe-renzieren können, selbstreferentiell operieren, also sich immer wiederauf ihre eigene operationale Einheit beziehen.Die Theorie selbstreferentieller Systeme geht mit der konstruktivisti-schen Erkenntnistheorie einher, die (neurophysiologisch, psychologischund soziologisch) verdeutlicht, dass Erkenntnisse beziehungsweise Be-obachtungen nichts mit einer unabhängig existenten Außenwelt zu tunhaben. Maturana und Varela (1984) haben gezeigt, dass das Nervensys-tem lebender Systeme keinen direkten Kontakt zu seiner Umwelt hat;seine eigenen Zustände sind ausschließlich durch Selbstkontakte, dieüber materielle und energetische Austauschprozesse mit der Umwelt an-geregt werden, determiniert. Eine derartige kognitive Autonomie leben-

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der Systeme bedeutet für ein erkennendes Subjekt: „daß es kein Innenund Außen gibt, keine Welt der dem Subjekt gegenüberstehenden Ob-jekte [, sondern...] daß die Subjekt-Objekt-Trennung, auf deren Annah-me sich die Myriaden von ‚Wirklichkeiten’ aufbauen, nicht besteht; daßdie Spaltung der Welt in Gegensatzpaare vom erlebenden Subjekt kon-struiert wird“ (Watzlawick 1981, S. 314).Aber nicht nur das subjektive Bewusstsein konstruiert selbstreferentiellseine Wirklichkeit mittels Unterscheidungen wie zum Beispiel innen/außen, Subjekt /Objekt usw. Auch Kommunikation, das heißt die Ein-heit der Differenz von Information, Mitteilung und Verstehen (vgl.Luhmann, 1984, S. 191ff.), zirkuliert in selbstreferentiellen Bahnen undunterscheidet (konstruiert) daher das, was sie kommuniziert, selbst. Mitanderen Worten: Wenn schon das Nervensystem selbstreferentiell ge-schlossen, also autopoietisch operiert (vgl. Maturana/Varela 1984),dann auch das Bewusstsein und erst recht Kommunikation (vgl. Luh-mann 1984). In dieser Hinsicht kommt Luhmann an unterschiedlichenStellen seiner Publikationen immer wieder zu der Feststellung: „NurKommunikation kann kommunizieren“. Bernd Woltmann-Zingsheim(1994, S. 292) formuliert dazu: „Die Kommunikation begnügt sich [...]in aller Regel nicht mit einem anonymisierten ‚es kommuniziert’, son-dern sie rechnet Kommunikation auf Handlungen zu. Sie unterstelltMotive, Absichten, Interessen, urteilt in ein ‚passives’ Erleben und ein‚aktives’ Handeln. Sie differenziert Akteure und rechnet Verantwort-lichkeiten zu. Sie ‚vergißt’ dabei in aller Regel, daß sie es ist, die sol-chermaßen Unterscheidungen trifft, daß sie sich selbst von ihrem beob-achteten ‚Objekt’ getrennt hat und rechnet dann das, was sie beobachtet,den beobachteten Phänomen zu“.Aus alledem folgt, dass SozialarbeiterInnen lebende, psychische odersoziale Systeme immer nur zu Selbstveränderungen anregen können,denn selbstreferentielle Systemstrukturen generieren ihre eigenen Re-geln, die aus ihrer Umwelt, also etwa von SozialarbeiterInnen, zwarverstört werden können aber niemals direkt, das heißt im unmittelbarenKontakt zielgerichtet veränderbar sind. So legen also die Kommunika-tionsregeln eines sozialen Systems (zum Beispiel einer Familie, einerOrganisation oder einer Gesellschaft) fest, welche Informationen durchdie Mitteilungen der beteiligten Personen differenziert werden und wiedieselben verstanden werden können. Daher unterscheiden sich nur all-zu oft, wie SozialarbeiterInnen täglich beobachten können, ihre inten-

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dierten Interventionsziele von den tatsächlich (kommunikativ) beob-achtbaren Ergebnissen, die ihre Interventionen bei den KlientInnen aus-lösen.

V. SCHLUSSFOLGERUNGEN

Im Folgenden sollen zusammenfassend fünf Aspekte referiert werden,die noch einmal auf den Punkt bringen, in welcher Hinsicht die moder-ne Systemtheorie die Theorie und Praxis Sozialer Arbeit befruchtenkann:

Erstens: Theorie und Praxis sind als zwei Seiten einer Form immer prä-sent, wenn sozialarbeiterisch gehandelt oder reflektiert wird. Daherbleibt SozialarbeiterInnen eigentlich gar nichts anderes übrig als sichtheoretisch auf die Praxis vorzubereiten und die Praxis theoretisch aus-zuwerten. Die Anwendung einer – wie auch immer konzipierten – Pra-xistheorie Sozialer Arbeit ist also unumgänglich.

Zweitens: Eine derartige Theorie sollte nicht auf die Möglichkeit ver-zichten, interdisziplinäre Standards zu nutzen; zumal diese, zumindestin Gestalt systemtheoretischer Aussagen, mit schon seit jeher konsta-tierten Praxiserfahrungen von SozialarbeiterInnen kompatibel sind.Was Dirk Baecker (1994a, S. 13) im Zusammenhang mit der Reflexionvon Management konstatiert, gilt gleichfalls für den Bereich SozialerArbeit, dass nämlich „die hochgetriebenen Abstraktionen der Theorien[...] als erstaunlich praxisnah erscheinen“.

Drittens: Die moderne Systemtheorie kann als Praxistheorie SozialerArbeit konzipiert werden, weil sie im Gefolge der Beschreibung vonKomplexitäts- und Kontingenz-Problemen sozialarbeiterisches Han-deln nicht nur begründen, sondern vor allem reflektieren kann. Das läuftnun keineswegs darauf hinaus, wie Heiner (1995, S. 435) glaubt, jedebeliebige Praxis Sozialer Arbeit zu rechtfertigen; ganz im Gegenteil:Wenn die Komplexität der Praxis und der Theorie viele verschiedene(kontingente) Möglichkeiten sozialarbeiterischer Handlungen anbietet,dann müssen sich SozialarbeiterInnen fragen beziehungsweise fragenlassen, warum sie gerade diejenigen Interventionen auswählen, die sieauswählen – oder: warum sie immer auf dieselbe möglicherweise un-passende Art intervenieren, obwohl sie auch anders könnten. Sozialar-

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beiterInnen sind unter systemtheoretischen Prämissen mehr als zuvordazu gezwungen, Verantwortung für ihre Interventionen zu überneh-men.

Viertens: Die sozialen Probleme sind keineswegs mit der Zuschiebungvon Verantwortung an die KlientInnen zu lösen, obwohl es für die Lö-sung der Probleme sicherlich hilfreich ist, wenn KlientInnen für ihr TunVerantwortung übernehmen. Alles soziale Handeln ist eingebunden inkommunikative Strukturen und entzieht sich damit individuellen Inten-tionen. Somit liegt die Aufgabe der Sozialen Arbeit nicht darin, psychi-sche Strukturen zu verändern, was die Aufgabe von Psychotherapie ist,sondern Kommunikationsmuster und -regeln dermaßen zu funktionali-sieren, dass KlientInnen ihre eingeschränkten Handlungsmöglichkeitenvergrößern können. So soll Soziale Arbeit eine Hilfe sein, die Personen,welche aufgrund von gesellschaftlichen Bedingungen vom Zugang zuden wichtigen Funktionssystemen (zum Beispiel Wirtschaft, Politik,Kunst, Erziehung etc.) ausgeschlossen sind, stellvertretend inkludiert,das heißt an gesellschaftlicher Kommunikation beteiligt (vgl. Baecker1994).

Fünftens: Da jede sozialarbeiterische Intervention immer Kommunika-tion ist, kann sie die psychische Autopoiesis der KlientInnen nicht ver-ändern; sie kann lediglich darauf hinwirken, Kommunikation zu funkti-onalisieren (vgl. Lüssi 1992, S. 71). Alle Veränderungen von Personenwährend der Hilfe sind Selbstveränderungen, die zwar von Kommuni-kation angeregt aber nicht determiniert sein können.

Schließlich lässt sich festhalten, die Soziale Arbeit hätte es beim An-wenden einer systemtheoretischen Praxistheorie gleichzeitig mit einerMetatheorie zu tun. Diese Theorie kann niemals die Unsicherheit sozi-alen Handelns sicherer machen, sie kann allerdings dessen Unsicherheitbegründen. So ergibt sich die Paradoxie, dass eine Soziale Arbeit, diedie Stärke einer wissenschaftlichen Absicherung sucht, ihre Praxis mitder Schwäche konfrontiert, dass sozialarbeiterisches Handeln nicht(mehr) als instruktive Interaktion denkbar ist.

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2. Soziale Arbeit als konstruktivistische Praxis

Anregungen für ein postmodernes Verständnis von Sozialarbeit

AUSGANGSPUNKTE

Systemtheoretisch-konstruktivistische Ansätze scheinen in der prakti-schen Sozialen Arbeit, aber auch in ihrer theoretischen Reflexion derzeitKonjunktur zu haben. Auf der einen Seite belegen (im Verhältnis zu an-deren psychosozialen Berufsgruppen) eine immer größere Anzahl vonSozialarbeiterInnen systemische Fortbildungen,2 während andererseitsder Berg von Publikationen zum Themenkreis systemtheoretisch orien-tierter Sozialer Arbeit ebenfalls wächst (siehe zum Beispiel Bardmannu.a. 1991; Bardmann/Hansen 1996; Hollstein-Brinkmann 1993; Kleve1996, 1999, 2000; Pfeifer-Shaupp 1995, 2002; Staub-Bernasconi 1995;Merten 2000; Miller 2001; Ritscher 2002).3 Davon ausgehend beginnenpraktizierende und theoretisierende SozialarbeiterInnen, ebenso wieetwa systemische PsychologInnen oder TherapeutInnen, ihr berateri-sches oder supervisorisches Tun konstruktivistisch, das heißt erkennt-nistheoretisch zu betrachten (siehe etwa Bardmann u.a. 1991; 1992;Kersting 1992; Kersting/Neumann-Wirsig 1992; Kleve 1996).

2 Dies könnte zumindest aus einer empirischen Untersuchung von Bettina Noack (1996), die sie am Berliner Institut für Familientherapie e.V. durchführte, geschlossen werden. Denn Noack stellte im größten Berliner Bildungsträger in Sachen systemischen Denkens und Handelns in der psychosozialen Praxis fest, dass „der prozentuale Anteil der SozialarbeiterInnen, die die Weiterbildung besuchen [in der Zeit von 1987 bis 1995; H.K.], nicht nur steigt, sondern den Anteil der zunächst am stärksten vertretenen Psychologen inzwischen über-steigt“ (ebd., S. 60).3 Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass sich die aufgeführten Publikationen auf die Vielfalt systemtheoretischer Konzepte beziehen, die von der Familientherapie, der klassischen (allgemeinen) Systemtheorie, der Kyber-netik bis hin zu jüngsten soziologischen Ansätzen reichen. Denn: „’Systemthe-orie’ ist heute ein Sammelbegriff für sehr verschiedene Bedeutungen und sehr verschiedene Analyseebenen. Das Wort referiert keinen eindeutigen Sinn“ (Luhmann 1984, S. 15).

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Dieses epistemologische, auf biologische, philosophische und soziolo-gische Theoriemodelle sich stützende Vorgehen (zum Beispiel in derSupervision oder Selbstevaluation) zeitigt nicht nur praktische Reflexi-onsgewinne im unmittelbaren Umgang mit KlientInnen, sondern esscheint die Chancen einer wissenschaftstheoretischen Fundierung derSozialen Arbeit zu erhöhen. Diesbezüglich passt systemisch-konstruk-tivistisches Denken in den Diskurs um die Entwicklung und Etablierungeiner Sozialarbeitswissenschaft (siehe grundlegend Engelke 1992; Mer-ten u.a. 1996; Puhl 1996). Meines Erachtens könnte die Verwissen-schaftlichung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit durch einAufgreifen von Theorieinnovationen, wie des Konstruktivismus, derSystemtheorie oder der Kybernetik, gestützt werden, ohne dabei denBlick zu sehr auf einige wenige theoretische Modelle einengen zu müs-sen (kritisch dazu siehe zum Beispiel Staub-Bernasconi 1995; Heiner1995). Bekanntlich ist der Konstruktivismus als transdisziplinäres Er-kenntnisprogramm mit seinen verschiedenen Spielarten (vgl. Knorr-Cetina 1989; Bardmann 1994, S. 45ff.), ähnlich wie die Sozialarbeit, einvielfältiges, kaum auf einen Nenner zu bringendes Unternehmen, dasetwa biologische, psychologische, kulturanalytische, kommunikations-theoretische und soziologische Forschungen integriert.Des Weiteren begünstigt eine konstruktivistisch reflektierte Soziale Ar-beit ein Abschiednehmen von traditionellen und in zunehmender Weiseunbrauchbaren Orientierungen von SozialarbeiterInnen. Eine derartigeOrientierung, die in einer lebensweltlich pluralisierten und funktionalausdifferenzierten Gesellschaft aus meiner Sicht nicht mehr passt, istetwa die Anschauung, KlientInnen seien von der gesellschaftlichenNorm abweichende Personen, die normalisiert werden müssten.4 DieDifferenz von Norm und Abweichung als Richtschnur Sozialer Arbeitkann nicht nur zu Stigmatisierungen im Sinne des labeling führen (vgl.etwa Baecker 1994, S. 94) und Problemkarrieren geradezu heraufbe-

4 Anders optiert Heino Hollstein-Brinkmann (1993, S. 187), der mit bezug auf Thomas Olk (1986) meint, „Normalisierungsarbeit“ als Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit entspräche einer funktional differenzierten Gesellschaft. Nur, was ist damit gewonnen, wenn diesbezüglich postuliert wird, dass zugleich der Fall normalisiert und die Norm individualisiert werden müsse? (Vgl. ebd., S. 189f.) Wie kann ein individueller Fall normalisiert werden, wenn gleichzeitig die Norm individualisiert wird? Vgl. dazu auch Kleve 2002a

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schwören, die personell und finanziell kaum noch bearbeitbar sind, sieist überdies auch soziologisch fragwürdig.Der Diskurs um eine konstruktivistische Perspektive Sozialer Arbeitkönnte dazu anregen, die Pluralisierung und Differenz von Lebenswel-ten sowie sozialer Wirklichkeitskonstruktionen im praktischen Handelnernster zu nehmen beziehungsweise für legitim zu halten. Ich jedenfallsplädiere für eine Praxis Sozialer Arbeit, die nicht sogleich darauf fokus-siert, entweder vermeintliches „soziales Anderssein“ über eine (wieauch immer gemünzte) Normalisierungsarbeit einzuebnen oder die kon-statierten „Abweichungen“ durch eine „fürsorgliche Belagerung“(Heinrich Böll), die Problemkarrieren schafft, zu verstärken. In Abgren-zung zu einer solchen normalisierenden beziehungsweise Probleme ver-stärkenden Sozialen Arbeit, kann eine sozialarbeiterische Orientierung,welche die Pluralität und Differenz von Realitätskonstrukten nicht zunegieren versucht, sondern ausdrücklich anerkennt, im philosophischenSinne als postmodern charakterisiert werden.5

Eine postmoderne Sozialarbeit orientiert sich daher an der Differenzvon Helfen versus Nicht-Helfen (Baecker 1994) und beschäftigt sichmit den Risiken, die die ausdifferenzierten Funktionssysteme der Ge-sellschaft (etwa Wirtschaft, Politik, Erziehung, Familie) schaffen, wennsie immer weniger Menschen die personelle Teilnahme (Inklusion) anihrer Kommunikation ermöglichen. Die exkludierten, von bestimmtenBereichen gesellschaftlicher Kommunikation ausgeschlossenen Men-schen werden diesbezüglich etwa in materieller oder sozialisatorischerHinsicht gefährdet. Diese Gefährdungen greift Soziale Arbeit auf, in-dem sie die gesellschaftlichen Exklusionsrisiken (zum Beispiel Mangelan Geld, Macht, Bildung oder Liebe) als soziale Probleme definiert undmittels Exklusionsvermeidung (Prävention), stellvertretender Inklusi-on, Inklusionsvermittlung oder Exklusionsbetreuung bearbeitet (vgl.

5 Vgl. zum Diskurs über die Postmoderne zum Beispiel Wolfgang Welsch (1987; 1992), der immer wieder betont, dass postmodernes Denken als radikal modernes Denken zwar die Akzeptanz von Pluralität postuliert und damit der möglichen Vielheit und Differenz von Lebensentwürfen oder Realitätskonstruk-tionen gerecht wird, aber dennoch keineswegs mit Beliebigkeit zu verwechseln ist. Vielmehr gehe es um situative Verbindlichkeiten (vgl. Welsch 1992, S. 46) – sozusagen um Stimmigkeiten und Passungen „in-sich“ – von gleichberechtigt nebeneinander stehenden, sich möglicherweise gegenseitig widersprechenden Weltkonstruktionen.

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Baecker 1994; Fuchs/Schneider 1995; Bommes/Scherr 1996; Kleve1997; Merten 2000).Im Folgenden soll die Bearbeitung der sozialen Probleme auf der Hand-lungsebene von SozialarbeiterInnen reflektiert werden, um ausgehendvon fünf Theorieströmungen einige Vorschläge für einen systemtheore-tisch-konstruktivistischen Blick auf die Interaktionspraxis von Sozial-arbeiterInnen unterbreiten zu können.

I. KONSTRUKTIVISMUS ALS PRAKTISCHE EPISTEMOLOGIE DER SOZIALARBEIT

SozialarbeiterInnen haben es bei jedem KlientInnenkontakt in erster Li-nie mit erkenntnistheoretischen Problemen zu tun.6 Das sogenanntepsychosoziale Diagnostizieren beziehungsweise jede Problemdefiniti-on können wir als einen Erkenntnisprozess verstehen, bei dem die So-zialarbeiterInnen eine bestimmte (von den KlientInnen selbst oder vonanderen) als problematisch bewertete Wirklichkeit beobachten, be-schreiben und erklären (vgl. Simon 1995, S. 17). Von diesen Beschrei-bungen, Bewertungen und Erklärungen, die über das Medium Spracheerfolgen, hängt das gesamte weitere Vorgehen der Hilfe ab. Es machtfür den Verlauf der Hilfe also einen Unterschied, ob die Probleme derKlientInnen als Resultate ihrer individuellen Defizite beschrieben wer-den (psychoanalytisches Vorgehen) oder ob sie als Reaktionen auf so-ziale und familiäre Dynamiken verstanden werden (systemisches Vor-gehen); bei der ersten Betrachtungsweise wird sich der Fokus der Hilfealler Wahrscheinlichkeit nach auf den Klienten beschränken, der dieSymptome zeigt, während es bei dem zweiten Ansatz passend erscheint,das soziale Umfeld bei der Problemlösung mit einzubeziehen.

6 Siehe dazu auch, allerdings nicht von konstruktivistischen Konzepten aus-gehend: Eberhard (1987, S. 11), der betont, dass „die Erkenntnis- und Wissen-schaftstheorie das praktischste ist oder doch jedenfalls sein könnte, was die Phi-losophie zu bieten hat“. Denn: „Wir alle sind Erkenntnissuchende – die Erkennt-nistheorie sollte uns helfen, unsere Erkenntnisprozesse zu verstehen und zu entfalten. [...] Wir sind alle Anwender wissenschaftlicher Theorien – die Wis-senschaftstheorie sollte uns befähigen, die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse kritisch zu beurteilen“.

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Derartige Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen von Proble-men definieren beziehungsweise konstruieren erst die im Verlauf derHilfe bearbeitbaren Probleme. Soziale Probleme sind also keine objek-tiv gegebenen Sachverhalte, sondern Konstrukte, die kommunikativüber Sprache entstehen – zum Beispiel in Form von Hilfeplänen im So-zialpädagogischen Dienst der Jugendämter, in Vermerken oder Akten-notizen sowie nicht zuletzt in den Gesprächen zwischen Sozialarbeite-rInnen und KlientInnen.Wenn wir von der These ausgehen, dass die bearbeitbaren Probleme inihrer konkreten Beschreibung, Erklärung und Bewertung während derHilfe erst konstruiert werden, dann erscheint es lohnend, Soziale Arbeitkonstruktivistisch zu reflektieren; denn der Konstruktivismus beschäf-tigt sich mit der Frage: Wie erzeugen psychische und soziale Systemeihre Erkenntnisse beziehungsweise Beschreibungen von der Welt?Zunächst einmal beantwortet die Erkenntnistheorie des Konstruktivis-mus diese Frage ausgehend von biologischen, kybernetischen oder so-ziologischen Forschungsergebnissen sowie differenztheoretischen An-sätzen, die ich weiter unten näher vorstellen werde, folgendermaßen:Unsere Wirklichkeit ist durch Bewusstsein und Kommunikation kon-struierte Realität. Diesbezüglich gehen wir niemals mit einer Wirklich-keit an sich um, „sondern stets mit unseren eigenen ‚Erfahrungswirk-lichkeiten‘“ (Bardmann u.a. 1992, S. 11). Mit anderen Worten, weil wiruns als lebende Systeme ausschließlich auf unsere eigenen Zustände(zum Beispiel Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen oder Beschrei-bungen) beziehen können, muss alles, was wir wahrnehmen und für„objektiv“ gegeben halten, durch uns selbst hervorgebracht werden.Dieses Phänomen wird auch als Selbstbezüglichkeit oder Selbstrefe-renz bezeichnet. Beim Erkennen sind wir nicht in der Lage, die „Dingean sich“ zu erreichen, um zu sehen, wie sie „wirklich“ sind. Wenn wirdies versuchen, geraten wir in einen unendlichen Regress, das heißt, wirnehmen unsere eigenen Wahrnehmungen wahr, die eigene Wahrneh-mungen wahrnehmen etc.Wir können nur auf eigene Wahrnehmungen (Gedanken, Gefühle etc.)zurückgreifen, wenn wir uns auf etwas anderes beziehen wollen, dasheißt Fremd- beziehungsweise Umweltkontakt ist ausschließlich überSelbstkontakt zu realisieren. Im Sinne der Selbstbezüglichkeit ist „unserVerhältnis zur Welt wie das zu einem Spiegel, der uns weder verrät, wiedie Welt ist, noch wie sie nicht ist. Er zeigt uns, daß es möglich ist, daß

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wir so sind, und so zu handeln, wie wir gehandelt haben. Er zeigt uns,daß unsere Erfahrung lebensfähig ist“ (Varela 1981, S. 308). Beim Be-obachten der Welt finden wir lediglich unser Spiegelbild, das in Relationzu unseren Handlungen (Beobachtungen, Beschreibungen, Erklärun-gen, Bewertungen) entsteht. Demnach ist das Erscheinen der Wirklich-keit immer relativ, das heißt es hängt insbesondere von den konkretenpsychischen und sozialen (Handlungs-)Bedingungen der BeobachterIn-nen ab.

II. GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT DER KONSTRUKTIVISTISCHEN ERKENNTNISTHEORIE

Bereits die antiken Skeptiker vertraten relativistische Positionen, die dieMöglichkeit der Erkenntnis einer objektiven oder absoluten Welt be-zweifelten. Aber vor allem Philosophen wie Immanuel Kant, FriedrichNietzsche oder Ludwig Wittgenstein werden immer wieder zitiert,wenn es um konstruktivistische Erkenntnistheorien geht. Auch altemystische Anschauungen, die heutzutage vor allem durch die soge-nannte New-Age-Bewegung, aber auch in den Wissenschaften wiederzunehmende Beachtung finden (vgl. Capra 1992), lassen sich zum Teilkonstruktivistisch deuten. So schreibt zum Beispiel ein Kult-Autor derNew-Age-Bewegung, Carlos Castaneda (1972, S. 8), dass ihm der Ya-qui Indiander Don Juan erklärte, „die Welt des alltäglichen Lebens [sei]nicht wirklich oder so, wie wir es annehmen“, sie sei vielmehr „nur eineBeschreibung“. Castaneda fügt allerdings hinzu, dass „die Realität derWelt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen [wird], daß dieGrundprämisse [... des Schamanen Don Juan; H.K.], nämlich daß unse-re Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaumeine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden“ (ebd., S. 9).Dies dürfte sich in der heutigen postmodernen Zeit, in der soziologischeArbeiten die Individualisierung beziehungsweise Pluralisierung der Le-benswelten (vgl. etwa Beck 1986) oder die funktionale Differenzierung(vgl. etwa Luhmann 1986) beschreiben, geändert haben. Es lassen sichkaum noch einheitliche und allgemeingültige Normen oder Werte aus-machen, die gleichermaßen für alle Menschen bindend sein könnten.Der französische Philosoph Lyotard (1979; siehe ausführlich dazu 4.Kapitel) und viele andere sogenannte postmoderne Denker sprechen da-

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von, dass in der heutigen Zeit der Postmoderne, die großen „Metaerzäh-lungen“ der Moderne, wie etwa der Fortschritts- und Steuerungsmythosdes Kapitalismus oder der Emanzipationsgedanke des Marxismus, ihreGlaubwürdigkeit verloren hätten (vgl. zum Beispiel Welsch 1992;1993). Vielmehr bilden die Menschen oder soziale Systeme immer dif-ferenziertere Sichtweisen der Welt aus, die nicht aufeinander reduzier-bar sind. Daher können wir heute – etwa beeinflusst durch die rasanteEntwicklung der mobilitäts- und kommunikationsfördernden Technolo-gien (vgl. dazu auch Gergen 1996) – eine unübersehbare Vielfalt vonhäufig sehr gegensätzlichen Normen, Meinungen oder Weltbildern kon-statieren, die alle ein mehr oder weniger passendes Bild von der „Wirk-lichkeit“ vermitteln. Und speziell auf dieses Problem der Pluralität derSichtweisen reagiert der Konstruktivismus, indem er die Beobachtun-gen oder Beschreibungen der Welt als kontingent, das heißt als so, aberauch anders möglich, versteht.7

In einer postmodernen gesellschaftlichen Umwelt können auch Sozial-arbeiterInnen zunehmend beobachten, dass ihre fachlichen Sichtweisennur mögliche unter vielen anderen sind. Mit anderen Worten, psychoso-ziale PraktikerInnen werden mit der Relativität und der Selbstreferenzihrer Sichtweisen konfrontiert. SozialarbeiterInnen können immer we-niger davon ausgehen, allgemeingültige Normen zu besitzen, die auchfür das Leben ihrer KlientInnen bindend sein sollten oder könnten. Da-mit wird, wie bereits einleitend erwähnt, die traditionelle OrientierungSozialer Arbeit als Normalisierung von Abweichung fragwürdig. DassNormalisierung, verstanden als Intervention, die auf die Neutralisierungvon abweichenden Verhaltensweisen fokussiert, nicht nur soziologisch,sondern auch wissenschaftstheoretisch mehr als fragwürdig erscheint,werde ich im Folgenden zeigen. Eine auf Normalisierung von Abwei-chungen zielende Soziale Arbeit hat die Wiederherstellung einer Normim Auge, sie versucht also, instruktiv zu intervenieren, was aus kon-struktivistischer Sicht eine unmögliches Unterfangen darstellt – ganzgleich, ob es sich um die Angleichung an psychische oder soziale Nor-men handelt.

7 Kontingent ist nach Luhmann (1984, S. 152) „etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“.

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III. SYSTEMTHEORETISCHE SPIELARTEN DES KONSTRUKTIVISMUS

Das konstruktivistische Erkenntnisprogramm der Systemtheorie, wel-ches mir für eine postmoderne Soziale Arbeit passend erscheint, kannaus folgenden fünf Forschungsrichtungen zusammengefügt werden –erstens: der pragmatischen Kommunikationstheorie von Paul Watzla-wick (1969; 1974; 1976; 1977); zweitens: der Kybernetik zweiter Ord-nung von Heinz von Foerster (zum Beispiel 1993); drittens: der Kogni-tionstheorie von Humberto Maturana und Francisco Varela (zum Bei-spiel 1984); viertens: der Differenztheorie von George Spencer-Brown(1969) beziehungsweise eines verwandten Ansatzes von Gregory Bate-son (1972; 1979) und fünftens: der systemtheoretischen Soziologie vonNiklas Luhmann (zum Beispiel 1984).

Pragmatische Kommunikationstheorie: Im Zusammenhang von psy-chosozialer Praxis sind insbesondere die Forschungen zur menschli-chen Kommunikation von Paul Watzlawick und seinen MitarbeiterIn-nen, die sich auf die anthropologischen und psychiatrischen Forschun-gen von Gregory Bateson u.a. (zum Beispiel 1972) stützen, schon seitAnfang der siebziger Jahre vor allem durch die systemische Familien-therapie aufgenommen worden. Watzlawick bezeichnete sich bereits inden siebziger Jahren als Konstruktivist und vertrat die These, „daß diesogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation ist“ (Watz-lawick 1976, S. 7). Überdies führten Watzlawick und seine familienthe-rapeutischen KollegInnen den eminent konstruktivistischen Begriff desUmdeutens (Reframing) in die Therapie und Beratung ein (siehe aus-führlich dazu 10. Kapitel).Umdeuten wird als eine Methode verstanden, die explizit davon aus-geht, dass Wirklichkeit kommunikativ konstruiert wird und dass esdementsprechend möglich ist, Beschreibungen in einen anderen, einenneuen (Konstruktions-)Rahmen zu stellen (vgl. Watzlawick 1977). Diekommunikative Konstruktion eines anderen Rahmens führt bestenfallszu anderen Sichtweisen (bezüglich eines Problems) und fördert damitmöglicherweise andere, vielleicht problemlösende Handlungsweisen,die den Kreislauf des problemverstärkenden Verhaltens unterbrechen.

Kybernetik zweiter Ordnung: Während sich die Kybernetik (erster Ord-nung) als Steuerungstechnik versteht, die sich mit der Betrachtung vonRückkopplungsprozessen beschäftigt, welche sie objektiv beschreiben

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will, wendet die Kybernetik zweiter Ordnung ihren Blick den Beschrei-benden selbst zu. In der Kybernetik zweiter Ordnung geht es demnachum die Beschreibung der Beschreibung (der Beschreibenden) bezie-hungsweise um die Beobachtung der Beobachtung (der Beobachten-den). Diesbezüglich wird versucht, reflexiv die Handlungen nachzuvoll-ziehen, die BeobachterInnen ausführten, um die Wirklichkeit so zu er-kennen, wie sie sie erkannten. Dabei können „blinde Flecke“ sichtbarwerden, die Voraussetzung für erzeugte Erkenntnisse waren. DennWahrnehmung ist nie ganzheitlich; vielmehr teilt sie die Welt und kannnur auf einer Seite der Teilung weiteres wahrnehmen; die andere Seitebleibt als blinder Fleck, das heißt als Bedingung der Möglichkeit der er-zeugten Erkenntnis verborgen (vgl. Luhmann 1990a, S. 41).

Kognitionstheorie: Ihren Einzug in die Diskurse der Wissenschaftsthe-orien erhielten moderne konstruktivistische Anschauungen insbesonde-re seitdem NaturwissenschaftlerInnen, die vermeintlich Objektivstenunter den ForscherInnen, plausible biologische Gründe dafür lieferten,dass die erkannte Wirklichkeit eine Konstruktion ist. Aufgrund empiri-scher Forschungen (vgl. Schmidt 1987, S. 22) konzipierten Maturanaund Varela (zum Beispiel 1984) unser Nervensystem als ein operationalgeschlossenes System, das keinen unmittelbaren (direkten) Kontakt zuseiner Umwelt hat, sondern ausschließlich auf seine eigenen ZuständeBezug nehmen kann, also selbstbezüglich operiert. Die Umwelt kanndie Zustände dieses Systems nicht determinieren, sondern nur „verstö-ren“ beziehungsweise perturbieren, das heißt wie das System auf Ver-änderungen oder Einflüsse aus seiner Umwelt reagiert, hängt von seinereigenen Struktur ab.Das Nervensystem wird als operational geschlossener Bestandteil voneinem lebenden Organismus verstanden, das sich der organismischenSelbstreproduktion unterordnet, die ebenfalls operational geschlossenist. Entsprechend dieser Theorie wird jeder Organismus derart konzi-piert, dass er sowohl alle Bestandteile (Zellen), die ihn konstituieren, alsauch alle Informationen, die er für eine Orientierung in seiner Umweltbenötigt, selbst konstruiert. Maturana prägte für diesen Prozess den Be-griff der Autopoiese beziehungsweise Autopoiesis. Autopoietische Sys-teme sind informationell geschlossen, aber energetisch und materiell ih-rer Umwelt gegenüber offen.

Differenztheorie: Gregory Bateson (1979) definiert den Begriff der In-formation als einen Unterschied, der einen Unterschied macht. Informa-

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tionen sind demnach nicht irgendwelche Daten, die aus der Umwelt nuraufgenommen werden müssten, sondern sie werden vom erkennendenSystem erst konstruierbar, wenn das System Unterschiede (in seinerUmwelt) konstatieren kann, die es zur Erzeugung von systeminternen,sozusagen eigenen Unterschieden verarbeitet. Hieran lassen sich dieauch als Unterscheidungslogik bezeichneten Gesetze der Form vonGeorge Spencer-Brown (1969) anschließen. Mit Hilfe dieser Differenz-theorie lässt sich die Entstehung jeder Form von Wirklichkeit auf dasSetzen von Unterscheidungen zurückführen.Die Entstehung biologischer, psychischer und sozialer Systeme kanndiesbezüglich als das Setzen und Aufrechterhalten von System/Um-welt-Unterscheidungen beziehungsweise -Grenzen erklärt werden. DieAutopoiese wäre als der systeminterne Prozess (des Lebens, Denkensoder Kommunizierens) zu verstehen, der diese System/Umwelt-Gren-zen permanent aufrechterhält.Das Setzen von Unterscheidungen generiert also eine Zwei-Seiten-Form (System/Umwelt, Subjekt /Objekt), die notwendig ist, damit sys-temintern überhaupt etwas beobachtet (erkannt) werden kann; auf diepsychische Erkenntnis übertragen heißt das: Bevor erkannt werdenkann, müssen sich diejenigen, die erkennen wollen, von dem „Gegen-stand“, der erkannt werden soll, unterscheiden. Erst dann können wei-tere Unterscheidungen (Differenzierungen) angesetzt werden.

Soziologische Systemtheorie: Den Soziologen Niklas Luhmann be-trachte ich als denjenigen unter den konstruktivistischen Denkern, derin umfassendster Weise die verschiedenen konstruktivistischen Strö-mungen aufgenommen und diese in eine einheitliche Theorie integrierthat. Für die Soziale Arbeit erscheint mir die konstruktivistische System-theorie Luhmanns vor allem deshalb am brauchbarsten, weil sie die„Ganzheitlichkeit“ und Transdisziplinarität sozialen Handelns am ehes-ten erfasst.Luhmann nimmt den Begriff der Autopoiese von Maturana und Varelaauf und kennzeichnet damit die Funktionsweise von biologischen, psy-chischen und sozialen Systemen. Alle derartigen Systeme konstruierenWirklichkeiten, indem sie sich als Systeme im Vollzug ihrer Autopoiesisvon einer Unwelt unterscheiden. Dies geschieht aber auf jeweils eigen-ständige Weise, so dass biologische, psychische und soziale Systemenicht jeweils aufeinander zurückgeführt werden können. Anders gesagt,

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obwohl alle derartigen Systeme als selbstreferentielle und autopoietischeSysteme verstanden werden, kann nicht jeweils von einer Systemklasseauf eine andere geschlossen werden; vielmehr erscheint es passender, So-ziales aus Sozialem, Psychisches aus Psychischem und Biologisches ausBiologischem zu folgern. Denn alle genannten Systemklassen realisierenihre Autopoiesis auf einer eigenständigen (emergenten) Operationswei-se: biologische Systeme in Form von Leben (ständiger Zellneubildung),psychische Systeme in Form von Bewusstsein (Gedanke schließt an Ge-danke an) und soziale Systeme in Form von Kommunikation (mitteilen-des Verhalten schließt an mitteilendes Verhalten an).Biologische, psychische und soziale Systeme sind strukturell gekoppeltund ermöglichen sich damit gegenseitig. Sie müssen ihre Operationenimmer gleichzeitig vollziehen; denn sie setzen sich als System/Umweltwechselseitig voraus – konkreter formuliert: Kommunikation benötigtden Umweltfaktor Mensch genauso wie Bewusstsein den UmweltfaktorGehirn (Nervensystem, Körper) benötigt; dennoch entsteht etwa Kom-munikation nicht durch die Summierung der einzelnen Psychen, die ander Kommunikation beteiligt sind; sie ist vielmehr ein selektiver Pro-zess, der Welt-Komplexität anders reduziert als die beteiligten psychi-schen Systeme (vgl. ausführlich dazu Luhmann 1984; 1990).Allerdings benutzen die Psyche und die Kommunikation zur Konstruk-tion von Wirklichkeit dasselbe Medium: die Sprache. Diese wird psy-chisch aber anders verstanden als in Kommunikationssystemen undumgekehrt. Jedes System, ob nun die Psyche oder ein soziales System,reduziert Komplexität. Wie eine Person Kommunikationen, das heißtmitgeteilte Informationen versteht, hängt von ihrer Komplexitätsreduk-tion ab. Und wie Informationen innerhalb eines sozialen Systems mit-geteilt und verstanden werden können, hängt von der Struktur diesesSystems ab. Anders ausgedrückt, ein ausgesprochenes Wort ist im sozi-alen Kontext schon nicht mehr das, was es psychisch war, bevor es aus-gesprochen wurde. So hängt das Verständnis etwa von Worten nichtvon der Intention der beteiligten Personen ab, sondern vom sozialenKontext, der Bedeutungen zuschreibt.Genau genommen kann es in der Kommunikation niemals zu einemwirklichen Konsens kommen. Wenn Personen miteinander sprechen,dann werden die Worte, die in die Kommunikation eingebracht werden,bei jeder beteiligten Personen psychisch völlig unterschiedliche Assozi-ationen und Bedeutungen hervorrufen. Man kann sich zwar über Spracheund Worte verständigen, das geschieht aber ebenfalls sprachlich und

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wörtlich, das heißt kommunikativ und niemals indem eine Psyche an eineandere Psyche gekoppelt werden kann, um Gedanken auszutauschen.

IV. SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR DIE PRAXIS UND THEORIE DER SOZIALEN ARBEIT

Abschließend möchte ich fünf Punkte zusammenfassen, die verdeutli-chen sollen, was die Rezeption konstruktivistischer Modelle für dieSelbstbeschreibung der Sozialen Arbeit bedeuten könnte:

Erstens: Der Konstruktivismus, speziell die Kybernetik zweiter Ord-nung, sensibilisiert SozialarbeiterInnen für die Notwendigkeit der Re-flexion, das heißt der Beobachtung von BeobachterInnen etwa mittelsSupervision oder Selbstevaluation. Denn nur das Helfersystem selbstkann sich beim Unbrauchbarwerden seiner Deutungen bezüglich derprofessionsspezifischen Wirklichkeit passendere neue Sichtweisen kon-struieren. Dies leitet sich aus der informationellen Geschlossenheit au-topoietischer Systeme zwingend ab und gilt nicht nur im Hinblick aufdie psychische Systemreferenz der einzelnen HelferInnen, sondernebenso bezüglich der sozialen Systemreferenz der Interaktions-, Orga-nisations- und Funktionssystemebene (vgl. etwa Baecker 1994).Wenn sich SozialarbeiterInnen beobachten oder beobachten lassen,kann ihnen deutlich werden, dass ihre Unterscheidungen kontingentsind, das heißt dass andere (etwa umgedeutete) Beobachtungen, Be-schreibungen, Erklärungen oder Bewertungen andere Handlungen, dievielleicht passender sind, ermöglichen. In diesem Zusammenhang er-scheint es nicht erstaunlich, dass es SupervisorInnen waren, die im Kon-text Sozialer Arbeit als erste versucht haben, ihre Praxis und Theoriekonstruktivistisch zu reflektieren (siehe etwa Kersting 1992; Kersting/Neumann-Wirsig 1992). Denn in der Supervision geht es um Reflexion,das heißt um das Beobachten von BeobachterInnen, die bestrebt sind,problematisch bewertete Sichtweisen gegen brauchbarere auszuwech-seln. Es wird also von Kontingenz ausgegangen, von der Möglichkeit,dass bezüglich derselben Probleme beziehungsweise KlientInnen ande-re Sichtweisen konstruierbar sind, die anderes Handeln gestatten.

Zweitens: Wenn Wirklichkeit ein Konstrukt ist, können Sozialarbeite-rInnen ihre Erkenntnisse über die KlientInnen nicht objektivieren und

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etwa als Diagnose auffassen. Vielmehr stehen die Anschauungen derKlientInnen, zumindest epistemologisch betrachtet, gleichberechtigtneben denen der HelferInnen. Für den Hilfeprozess brauchbare Be-schreibungen, Bedeutungen oder Bewertungen der Probleme müssendaher kommunikativ im Hilfesystem, an dem sowohl KlientIn als auchSozialarbeiterIn beteiligt sind, erst erarbeitet werden. Bevor die Hilfebeginnen kann, muss also zusammen mit den KlientInnen eine gemein-same Problemdefinition konstruiert (beschrieben) werden (zum Bei-spiel in der Jugendhilfe während eines Hilfeplangespräches nach § 36Kinder- und Jugendhilfegesetz, SGB VIII). Diese Problemdefinition istnicht als Diagnose miss zu verstehen; denn sie wird nicht einseitig undallein vom Sozialarbeiter erstellt, sondern erscheint vielmehr als Kon-strukt eines interaktiven, kommunikativen Aushandlungs-Prozesses.Es ist davon auszugehen, dass eine soziale Situation (zum Beispiel einErstgespräch zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn) niemals durcheine Subjekt /Objekt-Beziehung im Sinne klassischer Erkenntnistheorieoder Diagnoseverfahren verstanden werden kann; denn die problembe-lasteten KlientInnen als die „Objekte“ der Sozialen Arbeit sind zugleichSubjekte; sie sind ebenso wie die SozialarbeiterInnen reflexive Syste-me, das heißt sie beobachten, wie die SozialarbeiterInnen (sie) beobach-ten und können ihr Verhalten (ihre weiteren Beobachtungen) daraufhineinstellen. Anders ausgedrückt, KlientInnen entziehen sich, wie allesandere, was beobachtet wird ebenso, einer beobachterunabhängigenBeschreibung; und dies aus zweierlei Gründen: zum einen, weil Sozial-arbeiterInnen ausgehend von ihren Unterscheidungen selbstreferentiellbeobachten (beschreiben, erklären, bewerten) und zum anderen, weildie KlientInnen den SozialarbeiterInnen ebenfalls als BeobachterInnengegenübertreten und ihr Verhalten dieser sozialen Situation entspre-chend ausrichten.Daher erscheint auch die Anamnese einer Problemgeschichte in einemanderen Licht; sie lässt sich ebenso wenig als objektiv verstehen undunterliegt vielmehr den Beobachtungsverhältnissen und Kontexten so-wie der Zeit. Wie ein Klient seine Problemgeschichte erzählt, ist zumeinen abhängig davon, welche Unterscheidungen er aktuell anwendet(Beobachtungs- und Zeit-Kontext8), um seine Geschichte zu (be-)deu-ten, und zum anderen, wo er sie wem erzählt (örtlicher und sozialerKontext). Mit einem Zitat von Milan Kundera (1973, S. 120) könnteman sagen, die Vergangenheit erscheint wie ein Kleid, „das aus schil-

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lerndem Taft geschneidert ist, und jedesmal, wenn wir uns nach ihr um-drehen, sehen wir sie in einer anderen Farbe“.

Drittens: Da Wirklichkeit als ein Konstrukt verstanden wird, das nichtals Widerspiegelung einer für alle objektiv gegebenen Realität geltenkann, sollten HelferInnen immer von einem Dissens zwischen ihrenWirklichkeiten und denen der KlientInnen ausgehen. Die Problememüssten also immer bis ins kleinste Detail konkretisiert und kontextua-lisiert werden (vgl. ausführlich dazu 8. Kapitel), um zumindest einen er-eignis- beziehungsweise momenthaften kommunikativen (und nichtpsychischen) Minimalkonsens auszuhandeln. Ebenso kann nicht von ei-nem stillschweigenden Konsens über das Ziel der Hilfe ausgegangenwerden. Was die KlientInnen selbst wollen und nicht was die HelferIn-nen wollen, wird zum ausschlaggebenden Punkt jedes Hilfeprozesses.

Viertens: Der Konstruktivismus lässt die SozialarbeiterInnen die Gren-zen ihrer Möglichkeiten sehen; indem konstruktivistische Konzepte dieSelbstreferenz der biologischen, psychischen und sozialen Phänomenehervorheben, wird deutlich, dass kein System aus seinen eigenen zirku-lären Kreisläufen ausbrechen kann. Damit erscheint die instruktive In-tervention beziehungsweise Interaktion als Mythos. Mit anderen Wor-ten, es sind die KlientInnen Sozialer Arbeit, die bestimmen, wie sie aufdie Interventionen der SozialarbeiterInnen reagieren.

Fünftens: Indem der Konstruktivismus im interdisziplinären Diskurs einneues Paradigma darstellt (vgl. Schmidt 1987), das auch naturwissen-schaftliche (zum Beispiel biologische und physikalische) Begründungerfährt, schließt sich eine konstruktivistisch reflektierte Soziale Arbeitdem sich wandelnden Wissenschaftsverständnis der Postmoderne an(siehe dazu Teil 2). Davon ausgehend könnte die Ausdifferenzierung ei-ner Wissenschaft Sozialer Arbeit, zumindest wenn diese sich selbst alskonstruktivistisch beschreibt, begünstigt werden (vgl. Kleve 1996,145ff.), zumal konstruktivistische Thesen mit ihrer Hervorhebung vonPhänomenen wie Kontingenz oder Komplexität dem sehr nahe kom-men, was PraktikerInnen täglich erfahren: der Unvorhersehbarkeit sozi-aler Zustandsveränderungen. Diesbezüglich hilft eine konstruktivisti-

8 Zum Aspekt der Zeit, welcher in Beratungen entgegen den sachlichen und sozialen Aspekten zumeist unterbelichtet bleibt, siehe Bardmann (1996a), Kleve (1999, S. 280ff.).

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sche Wissenschaft keinesfalls dabei, erkenntnistheoretische Sicherhei-ten oder Gewissheiten zu erzeugen und nicht-triviale Phänomene zutrivialisieren (vgl. von Foerster 1988); vielmehr trifft das Gegenteil zu:„Sie reflektiert die Unsicherheit der Erkenntnis und bietet dafür Gründean“ (Luhmann 1990a, S. 58). Allerdings lässt sich aus der Not der er-fahrbaren Unsicherheit von Erkenntnis und Wissen mit Heinz von Foer-ster (1988, S. 33) eine Tugend machen, die allen psychosozialen Helfe-rInnen empfohlen werden kann: „Handle stets so, daß Du die Anzahl derMöglichkeiten vergrößerst“ – und ich füge hinzu: ohne vorher wissenzu können, wie die (gewählten) Möglichkeiten konkret aussehen wer-den.

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3. Systemtheorie und Ökonomisierung Sozialer Arbeit

Zur Ambivalenz eines sozialarbeiterischen Trends

AUSGANGSPUNKTE

Sowohl Systemtheorie als auch Ökonomisierung sind zwei seit einigenJahren in der Sozialen Arbeit sehr angesagte Themen.Auf der einen Seite wird die Systemtheorie in ihren unterschiedlichenSpielarten in Wissenschaft und Praxis der Sozialarbeit derzeit stärkerals je zuvor thematisiert (siehe dazu 1. und 2. Kapitel). Es finden Tagun-gen zum Thema statt, Sammelbände erscheinen (siehe etwa Merten2000), und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter besuchen in zuneh-mendem Umfang die zahlreich angebotenen Fort- und Weiterbildungs-veranstaltungen zur systemischen Beratung/Familientherapie, Supervi-sion oder Organisationsentwicklung (vgl. beispielhaft dazu noch einmaldie empirische Untersuchung von Noack 1996).Auf der anderen Seite halten seit Anfang der 1990er Jahre – sowohl auf-grund der knappen öffentlichen Kassen als auch wegen der dysfunktio-nal wirkenden Organisationsstruktur beziehungsweise ineffektiven Ar-beitsweise der klassischen sozialen Dienste (vgl. Schweitzer 2000, S.17) – verstärkt betriebswirtschaftliche Denkmuster Einzug in die Sozi-alarbeit (vgl. etwa Müller 1997, S. 217ff.). Die Sozialarbeit ökonomi-siert sich, und – wie mir scheint – in einem rasenden Tempo. Viele So-zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verstehen sich bereits als Manage-rinnen und Manager, deren Aufgabe es ist, ihre Produkte auf dem Marktder sozialen Dienstleistungen erfolgreich anzubieten sowie effektiv undeffizient an ihre Kunden zu verkaufen. Und zum Teil wird diese (neue)ökonomische Orientierung, die die Soziale Arbeit in ihren Struktur-,Prozess- und Ergebnisqualitäten sowie in ihren Planungs- und Interven-tionsmöglichkeiten klarer, eindeutiger und sicher machen soll, selbstsystemtheoretisch begründet.Im Folgenden sollen die beiden genannten aktuellen Tendenzen Sozia-ler Arbeit, Systemtheorie und Ökonomisierung, theoretisch aufeinanderbezogen werden. Die Frage ist: Was und wie sieht man, wenn man die

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Systemtheorie der Bielefelder Schule benutzt, um Aspekte der sozialar-beiterischen Ökonomisierung zu beobachten. Und die These ist, dassman eine Ambivalenz zu Gesicht bekommt, die zunächst einmal undganz allgemein formuliert darin besteht, dass der aktuelle ökonomisch-betriebswirtschaftliche Trend in der Sozialarbeit ausgehend von sys-temtheoretischen Positionen sowohl begrüßt und gefördert als auch ra-dikal kritisiert und infrage gestellt werden muss.9

Die Ambivalenz des gleichzeitigen Begrüßens und Kritisierens der so-zialarbeiterischen Ökonomisierung will ich explizieren, indem ich zu-nächst die Sozialarbeit als Funktionssystem der Gesellschaft beschrei-be. Dabei werde ich die sozialarbeiterischen Probleme deutlich machen,die durch einen gezielten Einsatz von ökonomischen Konzepten bear-beitet werden können (I). Im Anschluss daran geht es mir um die andereSeite der Ambivalenz, also um jene Aspekte der Ökonomisierung Sozi-aler Arbeit, die aus systemtheoretischer Sicht radikal infrage zu stellensind (II). Schließlich möchte ich ausgehend von der systemtheoretischreflektierten Ambivalenz der Ökonomisierung resümierend einigegrundsätzliche Aspekte zur (ambivalenten) Brauchbarkeit der System-theorie für die Soziale Arbeit skizzieren (III).

I. ÖKONOMISIERUNG ALS LÖSUNG SOZIALARBEITERISCHER FUNKTIONSPROBLEME

Die sozialwissenschaftliche Systemtheorie der Bielefelder Schule ver-steht Soziale Arbeit – in Anlehnung an einen frühen Aufsatz von NiklasLuhmann (1973) zu den Formen des Helfens im Wandel gesellschaftli-cher Bedingungen – als ein soziales System, das in der Gesellschaft undfür die Gesellschaft soziale Hilfe anbietet. Inzwischen konnten verschie-

9 Ambivalenz lässt sich grundsätzlich als das Strukturmerkmal Sozialer Arbeit beschreiben, so dass schließlich auch bei einer (systemtheoretischen) Reflexion der Ökonomisierung Sozialer Arbeit nichts anderes aufscheint als das Zweilicht der Ambivalenz. Vgl. dazu ausführlich Kleve 1999, wo die These expliziert wird, dass „Sozialarbeit [...] so offensichtlich strukturell ambivalent [ist], daß ihre Ambivalenzen kaum erfolgreich invisibilisiert werden können“ (ebd., S. 20); siehe zu empirischen Befunden für die Ambivalenzthese Geissler 2000.

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dene systemtheoretisch orientierte Autoren, zum Beispiel Dirk Baecker(1994; 1997) oder Peter Fuchs (vgl. Fuchs/Schneider 1995; Fuchs2000), zeigen, dass es sich im Falle Sozialer Arbeit sogar um ein auto-nomes gesellschaftliches Funktionssystem handelt (vgl. zu dieser Dis-kussion Kleve 1999, S. 180ff.; Weber/Hillebrandt 1999). Ein gesell-schaftliches Funktionssystem, wie zum Beispiel das Funktionssystemder Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft, der Politik, der Religion,der Erziehung oder der Sozialen Arbeit, ist ein systemisch von anderengesellschaftlichen Bereichen (Funktionssystemen und Lebenswelten)abgegrenzter Kommunikationszusammenhang.Weil sich nach der soziologischen Systemtheorie der Bielefelder Schulenahezu die gesamte Gesellschaft in Funktionssysteme ausdifferenziert,wird davon gesprochen, dass unsere moderne Gesellschaft eine primärfunktional differenzierte Gesellschaft ist (vgl. Luhmann 1997). So seifür die moderne Gesellschaft beispielsweise nicht mehr die Differenzie-rung in Klassen und Schichten zentrale Ausdifferenzierungsform, son-dern, wie gesagt, die funktionale Differenzierung.10

Funktionssysteme erfüllen jeweils eine gesamtgesellschaftliche Funkti-on und strukturieren ihre jeweiligen Kommunikationen nach bestimm-ten Codes, denen spezifische Kommunikationsmedien zur Seite stehen.Somit wird systemtheoretisch in der Wirtschaft beispielsweise der CodeHaben/Nichthaben beziehungsweise Zahlen/Nichtzahlen oder imRechtssystem der Code Recht /Unrecht beobachtet. Als Medium derWirtschaft fungiert das Geld, welches Eigentum repräsentiert und durchZahlungen zum kommunikativen Einsatz kommt (vgl. Luhmann 1988).

10 Inzwischen wird allerdings insbesondere von Rodrigo Jokisch (1996) die These vertreten, dass innerhalb der funktionalen Differenzierungsform der modernen Gesellschaft bereits eine neue Form der sozialen Differenzierung kalibriert: eine auf systemische Reflexion aufbauende reflexive Differenzierung. Demnach scheint es durch die erfolgreiche evolutionäre Durchsetzung der funk-tionalen Differenzierung nicht mehr in Frage zu stehen, ob und dass die funkti-onalen Teilsysteme der Gesellschaft ihre Funktionen rational und rationell erfül-len, sondern wie sie diese Funktionen erfüllen, mit welchen Nebenfolgen und Auswirkungen auf ihre natürliche, personale und soziale Umwelt. In der refle-xiven Differenzierung wandelt sich also der zentrale Differenzierungsfokus von der Erfüllung der Funktionen zur Reflexion der Funktionen bezüglich der Fol-gen für die Umwelten der Funktionssysteme. Vgl. zur Diskussion reflexiver Dif-ferenzierung im Teilsystem Sozialer Arbeit Kleve (1997; 1999, S. 152ff./230ff).

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Die Kommunikation im Recht realisiert sich über das Medium Recht,das heißt über Gesetze, die die Rechtssprechung ermöglichen und damitzugleich Unrecht ausdifferenzieren (vgl. Luhmann 1993).Bezüglich der Sozialarbeit werden von den verschiedenen Autoren un-terschiedliche Codes beobachtet. Nach Dirk Baecker sei der Code derSozialarbeit die Differenz von Hilfe und Nicht-Hilfe, während das Me-dium, in dem sich dieser Code kommunikativ realisiert beziehungsweiseausdrückt, als Fürsorglichkeit zu bezeichnen sei (vgl. Baecker 1994). ImGegensatz dazu beobachtet Peter Fuchs als Code der Sozialarbeit dieUnterscheidung von Fall /Nicht-Fall und als Medium die Klienten11

(Fuchs/Schneider 1995). Ungeachtet dieser unterschiedlichen inhaltli-chen Positionen bezüglich des sozialarbeiterischen Funktionssystems(vgl. weiterführend Kleve 2000, S. 77ff.), lassen sich ausgehend vonbeiden Positionen dieselben Funktionsprobleme der Sozialarbeit beob-achten.Ein Funktionssystem ist ein autopoietisch organisiertes System, dasheißt die systemischen Kommunikationen, zum Beispiel die Kommuni-kationen von sozialer Hilfe, von Fürsorglichkeit, zirkulieren in einemkreisförmigen, einem selbstreferentiellen, selbstbezüglichen Netzwerk,das sich selbst permanent durch eigene Operationen hervorbringen be-ziehungsweise kontinuieren muss, damit es als System erhalten bleibenkann. Für soziale Hilfe heißt das: Das Funktionssystem Soziale Arbeitkontinuiert sich solange, solange es hilft, solange vom System genü-gend Fälle und damit genügend KlientInnen identifiziert (unterschie-den/bezeichnet, definiert, konstruiert) werden, denen Hilfe angebotenwerden kann und die diese Hilfe annehmen. Autopoiesis – ein Zentral-begriff der Theorie selbstreferentieller Systeme – bedeutet nämlich,

11 Kommunikationsmedien sind bestimmte (lose gekoppelte) kommunikative Formen, die zur Motivation und Annahme der spezifischen funktionssystemi-schen Kommunikationen führen. Demnach sind KlientInnen besondere Leute beziehungsweise Personen, die den Zusammenhang von Motivation und Annahme von sozialarbeiterischer Hilfe „nach allen Seiten hin augenfällig machen und die doch wieder in die Nicht-form-für-das-System (andere Perso-nen) zurückspringen können“ (Fuchs/Schneider 1995, S. 217). Allerdings muss man sich diesbezüglich fragen, ob auch die Gemeinwesenarbeit innerhalb des Mediums ‚Klient’ operiert. Denn Gemeinwesenarbeit zeichnet sich durch ihren sozialstrukturellen Fokus aus, der nicht in erster Linie oder überhaupt nicht kli-enten- beziehungsweise personenbezogen ausgerichtet ist.

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dass ein System ein Netzwerk von gleichartigen und permanent anein-ander anschließenden Operationen ist, die sich von einer Umwelt ab-grenzen, differenzieren. Das System realisiert seine Autopoiesis, seineSelbsterhaltung nur dann, wenn es permanent gleichartige Operationenhervorbringt, die aneinander anschließen, wenn es also, wie im FalleSozialer Arbeit, permanent soziale Hilfe leisten kann.Die Autopoiesis der Sozialen Arbeit bringt also, wie ich noch einmalbetonten will, die strukturelle Notwendigkeit dieses Systems in denBlick, dass es seine Kommunikationen von sozialer Hilfe kontinuierenmuss, will es sich erhalten. Insofern sind die Organisationen, die sichdiesem Funktionssystem zuordnen, laufend damit beschäftigt, Kriterienbereitzustellen, die – wie Baecker (1994, S. 28) formuliert – „in ausrei-chendem Maße Defizite zu identifizieren erlauben“. Denn mit jeder er-folgreichen Hilfe, mit jedem Klienten, dem geholfen wurde, der alsonun auf der Nicht-Hilfe Seite des Systems steht, „diskontinuiert sich dasSystem“ (ebd.). Soziale Arbeit ist, kurz gesagt, auf permanenten Pro-blemnachschub angewiesen; sie muss ständig neuen potentiellen Klien-tinnen und Klienten Hilfe anbieten können oder – wenn das nicht ge-lingt – ihren Adressatinnen und Adressaten in ausreichendem MaßeKriterien bereitstellen, dass diese sich immer wieder erneut Problemezurechnen können, damit soziale Hilfe weiterhin geleistet werden kann.Durch die beschriebene Autopoiesis der sozialen Hilfe geraten nun jeneAspekte ins Visier, die durch eine Ökonomisierung Sozialer Arbeit be-arbeitet werden könnten, nämlich dass Hilfe strukturell dazu tendiert,einerseits Klientinnen und Klienten an das Hilfesystem zu binden undandererseits deren Selbsthilfepotentiale nicht zu stärken, sondern zuschwächen. Helfen selbst ist also ein ambivalentes, zweischneidigesUnterfangen, das zwar in der Regel vorgibt, auf die Klientensystemeemanzipierend zu wirken und deren Selbsthilfepotentiale zu aktivieren,welches aber auch dazu beitragen kann, neue Abhängigkeiten und Hilf-losigkeiten zu schaffen. Reinhart Wolff (1990) bezeichnet dieses Phä-nomen als das zentrale Hilfeparadox Sozialer Arbeit. Und Dirk Baecker(1997a, S. 100) formuliert diesbezüglich, dass das “Funktionssystemder Sozialen Hilfe versucht, den Leuten zu helfen, unter der Bedingung,daß es so, wie es gegenwärtig arbeitet, nicht genau weiß, wie es die Leu-te, die es sich zu seinem eigenen Problem macht, wieder los wird [...]”.Speziell auf dieses Problem lassen sich etwa die mit der Ökonomisie-rung Sozialer Arbeit einhergehenden Konzepte des Case Managements

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beziehen (vgl. zum Beispiel Wendt 1997; Raiff /Shore 1993; Kleve u.a.2003). Case Management ist ein Verfahren des sozialarbeiterischenFall-Managements, in dem die ökonomischen Begriffe Effektivität undEffizienz zentrale Stichworte sind. Effektivität beschreibt in diesem Zu-sammenhang die Zielwirksamkeit sozialer Hilfen, „ob und in welchemMaße der mit dem Handeln beabsichtigte Erfolg eintritt“ (Wendt 1997,S. 46). Eine am Kriterium der Effektivität ausgerichtete Soziale Arbeitmisst sich also daran, welche Ziele sie tatsächlich erreicht, was sie beiihren Klientinnen und Klienten bezüglich der Problemlösung bewirkthat und nicht daran, welche guten Intentionen, Werte und Normen siehat oder hatte. Denn „Organisationen müssen sich an ihren Effekten undkönnen sich nicht länger an ihren Absichten messen lassen“ (Baecker1997, S. 53).Außerdem soll eine soziale Hilfe, die im Sinne des Case Managementsgeleistet wird, effizient sein. „Effizienz meint die Ergiebigkeit des Ein-satzes, die Relation des in der Vorgehensweise getriebenen Aufwandeszum Ertrag, also wie kostengünstig gearbeitet wurde“ (Wendt 1997, S.46). Offensichtlich hat Effizienz etwas mit der Zeit und mit dem Einsatzvon professionellem Personal zu tun, so dass man meinen könnte: Jekürzer eine soziale Hilfe ist und je weniger Professionelle tätig werden,desto effizienter, das heißt desto kostengünstiger ist sie. Darüber hinauskönnte vermutet werden: Je kürzer eine Hilfe ist und je weniger Profes-sionelle tätig werden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dasssich eine ineffektive und ineffiziente Abhängigkeitsbeziehung zwischenKlientsystem und Hilfesystem entwickelt.Aus diesem Grund wird im Case Management – einerseits – intensiv amFaktor Zeit gearbeitet. Mit anderen Worten, soziale Hilfen sind so kurzwie möglich und so lang wie nötig durchzuführen. Andererseits wirdversucht, so effektiv wie möglich die lebensweltlichen Ressourcen undNetzwerke der Klientinnen und Klienten, etwa Freunde, Verwandteoder Nachbarn, für mögliche Hilfeleistungen zu aktivieren. Alles das,was auch von Laien an Unterstützung angeboten werden kann, sollnicht von Professionellen übernommen werden. Den Klientinnen undKlienten soll im Prozess der Hilfe ein Maximum an Unabhängigkeitund Selbstverantwortung bewahrt bleiben. Die professionellen CaseManagerinnen und Manager haben in diesem Zusammenhang die Funk-tion der Koordination; zum Beispiel koordinieren sie den Einsatz unddie Verknüpfung der lebensweltlichen, informellen und der professio-

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nellen, formellen Hilfen, so dass der größtmögliche Nutzen für die Kli-entinnen und Klienten entstehen kann.Schließlich geht mit der Ökonomisierung Sozialer Arbeit durch dasCase Management eine radikale Kundenorientierung einher. Damit er-reicht man bestenfalls, dass die selbstreferentielle Autopoiesis sozialerHilfe stärker an fremdreferentiellen Kriterien ausgerichtet wird. Die Be-dürfnisse, Zielvorstellungen und Bewertungen der Klientinnen und Kli-enten bezüglich der sozialen Hilfe geraten so in den Mittelpunkt. Aucheine marktwirtschaftliche Steuerung der sozialen Dienstleistungen wirdin diesem Zusammenhang angestrebt (vgl. etwa Vogel 1997, S. 255ff.),so dass die Nachfrage der Kundinnen und Kunden – also sowohl der Kli-entinnen und Klienten als auch der finanzierenden Auftraggeber – nachsozialen Dienstleistungen bestimmt, welche sozialen Hilfen angebotenwerden. Nicht die Klientinnen und Klienten haben sich den Problemde-finitionen und Kategorisierungen der sozialen Dienstleister anzupassen,sondern umgekehrt: die helfenden Organisationen bieten das an, wasnachgefragt wird. Damit wird einem systemtheoretischen Postulat ent-sprochen, dass nämlich die „Programme [der sozialarbeiterischen Orga-nisationen; H.K.] an Personen und nicht Personen an Programme anzu-passen [sind]“ (Hollstein-Brinkmann 1993, S. 190; vgl. auch Kleve1996, S. 64ff.).

II. ÖKONOMISIERUNG ALS PROBLEM SOZIALER ARBEIT

Nachdem ich ausgehend von systemtheoretisch in den Blick geratenenFunktionsproblemen Sozialer Arbeit der sozialarbeiterischen Ökono-misierung das Wort geredet habe, soll nun die andere Seite der Ambi-valenz betrachtet werden. Genauso wie man aus systemtheoretischerSicht etwa Case Management-Konzepte oder die marktwirtschaftlicheKundenorientierung begrüßen kann, muss aus derselben Sicht vor allzuoptimistischen Erwartungen gewarnt werden. Dazu möchte ich im Fol-genden zwei Gründe anführen.

(1) Die geschilderte marktwirtschaftliche Steuerung sozialer Hilfen, diesich über Nachfrage regulieren soll, unterhöhlt genau das, was ich obenals Vorteil der Ökonomisierung Sozialer Arbeit dargestellt habe, näm-lich die an Effektivität und Effizienz orientierte fremdreferentielle Kun-

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denorientierung. Denn je deutlicher sozialarbeiterische Organisationenwie wirtschaftliche Unternehmen auf dem Markt sozialer Dienstleistun-gen um potentielle Kunden, das heißt um Klientinnen und Klienten so-wie um öffentliche und private Geldgeber konkurrieren, desto stärkersind sie gezwungen, sich der wirtschaftlichen Autopoiesis des Zahlensunterzuordnen. Eine zwar funktionssystemisch ausdifferenzierte, aberverstärkt an ökonomischen Kriterien ausgerichtete Sozialarbeit stehtalso vor der Gefahr, ihre gewonnene systemische Autonomie des sozi-alarbeiterischen Helfens (vgl. Merten 1997) gleich wieder an wirt-schaftliche Orientierungen, an die ökonomische Autopoiesis des Zah-lens zu verlieren. Denn sobald die wirtschaftliche Rationalität in den so-zialen Hilfesystemen stärker wird als die helfende, ist der eigeneprofessionelle Code Hilfe /Nicht-Hilfe außer Kraft gesetzt (vgl. auchVogel 1997, S. 256; siehe ansatzweise dazu ebenfalls Fuchs 2000).Auf einem „freien Markt“ sozialer Dienstleistungen können sich sozial-arbeiterische Organisationen als autopoietische Systeme der Wirtschaftnur dann reproduzieren, wenn sie einerseits ihre Konkurrenten, eben an-dere Organisationen Sozialer Arbeit, ausstechen und andererseits durchWerbung und Marketing immer wieder neue Personengruppen als Kli-entel gewinnen sowie permanent neue Hilfsbedürftigkeiten, neue Fällekonstruieren. Effektivität und Effizienz beziehen sich dann vermutlichnicht mehr so sehr auf den effektiven und effizienten Einsatz sozialerHilfen, um etwa – wie im Sinne des Case Managements – die Selbsthil-fepotentiale der Klientinnen und Klienten zu fördern. Vielmehr hat einewirtschaftliche Organisation aufgrund ihrer Autopoiesis effektiv und ef-fizient dafür zu sorgen, dass jederzeit genügend Gelder, genügend Zah-lungen eingefahren werden. Und Zahlungen werden sichergestellt, so-lange Klientinnen und Klienten als hilfsbedürftig gelten, als hilfsbedürf-tig konstruiert werden, solange etwa rechtlich zugesicherte Hilfen vonder öffentlichen Hand, von Krankenkassen oder anderen Trägern fürHilfsbedürftige finanziert werden.Zusammenfassend gesagt, je deutlicher und stärker sich die Soziale Ar-beit an ökonomischen Kriterien und Konzepten beziehungsweise amwirtschaftlichen Code orientiert, um so mehr gibt sie sich als eigenstän-diges, als autonomes Funktionssystem der sozialen Hilfe auf bezie-hungsweise entfernt sich von ihrem originären professionellen Selbst-verständnis. Wenn der Code der Sozialen Arbeit als Hilfe /Nicht-Hilfeoder als Fall /Nicht-Fall konzipiert beziehungsweise beobachtet wird,

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dann kann nicht der Preis, nicht das Zahlen „das ausschlaggebende Kri-terium der Hilfe sein – oder man hat es mit einem Wirtschaftsmarkt zutun“ (Vogel 1997, S. 256).12

(2) Die aus einer vermeintlich modernen Ökonomie importierten Effek-tivitäts- und Effizienzforderungen innerhalb der Sozialen Arbeit gehenvon recht simplen, man könnte auch sagen systemtheoretisch unreflek-tierten, unterkomplexen, ja von trivialen Rationalitäts-, Technologie-,Interventions- und Steuerungsvorstellungen aus. Diesbezüglich wird of-fensichtlich im Sinne einer (alten) Kybernetik erster Ordnung (vgl. Bae-cker 1993a, S. 18) an Vorstellungen einer zielgerichteten, planvollenund rationalen Steuerungs- und Interventionsmöglichkeit bezüglichpsychischer und sozialer Systeme festgehalten. Man glaubt weiter an diezielgerichtete Veränder- und Steuerbarkeit psychischer und sozialerSysteme, an den aufklärerischen Mythos der menschlichen Mach(t)bar-keit. Ausgehend von dieser Vorstellung ist es beispielsweise im Sinneder Ökonomisierung Sozialer Arbeit leicht, eine Erhöhung der Effekti-vität, der Zielwirksamkeit sozialer Hilfen zu fordern.Wenn wir nun aber systemtheoretisch nach den Möglichkeiten vonSteuerung und Intervention fragen, dann ergibt sich ein weitaus kompli-zierteres und weniger optimistisches Bild, dann steht grundsätzlich in-frage, ob ein kausaler, ein determinierender Zusammenhang zwischensozialarbeiterischen Handlungsintentionen und den Effekten auf derKlientenseite beobachtet werden kann (siehe dazu Fuchs 1999). Denn

12 An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die nach ökonomischen Kriterien orientierten Finanzierungen in der Sozialen Arbeit (zum Beispiel über Fachleis-tungsstundensätze) nicht der sozialarbeiterischen Professionalität, etwa der „Hilfe zur Selbsthilfe“-Orientierung grundsätzlich entgegenlaufen. Die am öko-nomischen Kalkül orientierten Finanzierungsformen machen die Kostenrech-nung für den Hilfebedarf pro KlientIn und Stunde (Fachleistungsstunde) erfor-derlich. Dementsprechend wird etwa die öffentliche Finanzierung der freien Träger der Wohlfahrtspflege von pauschalen Jahreszuwendungen umgestellt auf eine konkret leistungs-, zeit- und klientenabhängige Finanzierung. Dies könnte dann in Zeiten von sinkender Hilfe-Nachfrage oder von veränderten (insbeson-dere zurückgehenden) Auftragslagen der öffentlichen (finanzierenden) Träger gegenüber freien Trägern der Sozialen Arbeit zu dem nicht intendierten Effekt führen, dass KlientInnen „fürsorglich belagert“ werden, um sich als Träger, als Organisation auch weiterhin finanzielle Zuwendungen zu sichern (vgl. ausführ-licher dazu Kleve 1999, S. 200f.).

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in der Sozialarbeit haben wir es mit psychischen und sozialen Systemenzu tun, die als operational-geschlossene, als autopoietische Systemevorgestellt werden. Ein autopoietisches System ist operational seinerUmwelt gegenüber geschlossen, das heißt es kann von dieser lediglichzur Selbstveränderung angeregt, verstört werden. Wie ein autopoieti-sches System letztlich auf Störungen aus seiner Umwelt reagiert, dasliegt bei ihm selbst, das resultiert aus seiner inneren (gedanklichen oderkommunikativen) Struktur. Demnach ist es systemtheoretisch unwahr-scheinlich, dass sich etwa Klientinnen und Klienten von sozialen Hilfe-systemen zielgerichtet und planvoll ändern lassen. Mit anderen Worten,die Intentionen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die mit einerIntervention einhergehen, haben letztlich keinen Einfluss auf die tat-sächlichen Änderungsmöglichkeiten und Änderungen des Klientensys-tems. Das macht die Erfolge von sozialarbeiterischen Interventionenäußerst unsicher.Was eine professionelle Sozialarbeit allerdings kann und können muss,ist, soziale Prozesse zu initiieren und ökologische Rahmenbedingungenzu schaffen, die eine selbstbestimmte Veränderung von psychischen undsozialen Systemen in Richtung Problemlösung wahrscheinlicher ma-chen als ohne sozialarbeiterische Interventionen (vgl. Pfeifer-Schaupp1995; Kleve 1996, S. 105ff.). Und dass dies möglich ist, das beweist tag-täglich die Praxis und sollte in verstärktem Maße durch empirische So-zialarbeitsforschung genauer untersucht und dokumentiert werden.Dass Fremdveränderung von autopoietischen Systemen unmöglich ist,das heißt ja noch lange nicht, dass die Sozialarbeit durch ihre Interven-tionen nicht Selbstveränderungen von Systemen anregen kann. Viel-mehr ist der Sozialarbeit seit jeher ein systemtheoretisches Prinzip ein-geschrieben, nämlich das Postulat der Hilfe zur Selbsthilfe. Genau die-ses Prinzip wird mit der Bielefelder Schule der Systemtheorie auf hohemAbstraktionsniveau wissenschaftlich begründbar.Allerdings ist eine am ökonomischen Effektivitätsmodell orientierteSozialarbeit im höchsten Maße problematisch. Die Sozialarbeit kann si-cherlich ihren „Output“, ihre Prozessqualität genau beschreiben, siekann also das, was sie täglich macht und was gemacht wurde, beobach-ten und anhand von methodischen Orientierungen bewerten. Aber das,was sie bewirkt, der Grad ihrer Zielerreichung, ihr „Outcome“, ihre Er-gebniseffektivität beziehungsweise -qualität ist im Prozess des sozialar-beiterischen Handelns potentiell unbestimmbar, nicht prognostizierbar

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und auch nicht wirtschaftlich nach Effizienzkriterien quantifizierbar. Indieser Hinsicht ist professionelle Sozialarbeit darauf bedacht, entspre-chend ihrer Qualitätsstandards gelingende Hilfeprozesse zu initiieren,aber sie muss mit der Unsicherheit leben, dass (gelingende) Prozesseund (zielwirksame) Ergebnisse nicht zwangsläufig zusammen fallen.Daher ist der Sozialarbeit ein Management der Ungewissheit und Kon-tingenz, ein „postheroisches Management“ (Baecker 1994a) zu emp-fehlen, welches ihr ermöglicht, „mit Ungewißheit auf eine Art und Wei-se umzugehen, die diese bearbeitbar macht, ohne das Ergebnis mit Ge-wißheit zu verwechseln“ (ebd., S. 9). Das postheroische Management,das der Sozialen Arbeit gegenüber trivialen Ökonomisierungstenden-zen nahe gelegt werden kann, lässt sich in Organisationen offenbar nurlangsam durchsetzen, weil es „gegenläufig [ist] zu deren Prinzip derAbsorption von Ungewißheit, des Wegarbeitens des Zweifels“ (ebd.).13

Ein postheroisches Management ist der Sozialarbeit schließlich deshalbanzuraten, weil sie sich – wie alle Professionen, die mit nicht-trivialenSystemen arbeiten – strukturell rationalen Möglichkeiten der Zielplan-barkeit entzieht; vielmehr ist sie – wie man mit Luhmann und Schorr(1979, zum Beispiel S. 120) sagen könnte – von einem „Technologie-defizit“ gekennzeichnet, das heißt „eine allgemeine Prämisse rationalerTechnologien, nämlich eine zureichende Isolierbarkeit von kausalenFaktoren“ (ebd.), zum Beispiel hinsichtlich des Bewirkens einer sozia-len Problemlösung, erscheint in diesem hochkomplexen Feld unmög-lich. Im Vorfeld ist also kaum mit Sicherheit feststellbar, ob eine geplan-te sozialarbeiterische Intervention die Wirkungen zeitigen, verursachenwird, die intendiert werden. Immer erst im Nachhinein können Erklä-rungen gesucht werden, die vermeintliche „Wirkungen“ auf vermeintli-che „Ursachen“ zurechnen, also im Grunde genommen Kausalität kon-struieren.Da Kausalität keine objektive Größe, sondern eine konstruierte Erklä-rung ist, ist sie kontingent. So könnten in Abhängigkeit von anderen Be-

13 Es macht schon nachdenklich, wenn man sieht, dass die Ökonomie bezie-hungsweise das Management seit einigen Jahren bestrebt ist, das auszuhalten, anzunehmen, zu akzeptieren und zu integrieren, was die Sozialarbeit seit jeher kennt, aber nun durch vermeintlich moderne Konzepte aus der Betriebswirt-schaft zu eliminieren sucht: eben Ungewissheit, Ambivalenz, Kontingenz oder Chaos.

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obachtern andere Ursache/Wirkungs-Zusammenhänge konstruiertwerden. Dementsprechend können die Kausalzuschreibungen von Beo-bachter zu Beobachter völlig verschiedenartig sein, so dass es bei jederWarum-Frage dermaßen viele konstatierte Ursachen geben kann, „daßdie Frage, welche Ursache man für die wichtige hält, nicht zu entschei-den ist“ (Luhmann 1988a, S. 130). Denn die Vergangenheit, in der die„Ursachen“ verortet werden, ist vergangen und lediglich aus den viel-fältigen Perspektiven der Gegenwart erinnerbar. Mit Milan Kundera(1973, S. 120) lässt sich die Vergangenheit daher verstehen wie einKleid, „das aus schillerndem Taft geschneidert ist, und jedesmal, wennwir uns nach ihr umdrehen, sehen wir sie in einer anderen Farbe“.Deshalb kann in der Gegenwart quasi alles das erklärt werden, was dieseGegenwart an Erklärungen zulässt. Die Restriktionen der Erklärungensind also die Restriktionen der Gegenwart und nicht jene der Vergan-genheit. Denn die Plausibilität der Erklärungen ist von der Gegenwart,von den gegenwärtigen Erklärungs- und Beschreibungsmöglichkeitenund nicht von der niemals zugänglichen Vergangenheit abhängig (vgl.Kleve 1999, S. 280ff.).Weiterhin besteht in der Sozialen Arbeit eine „auf Metaebenen nicht be-hebbare Unsicherheit darüber [...], ob falsch oder richtig gehandelt wor-den ist“ (Luhmann/Schorr 1979, S. 120). Dies kann man in der postmo-dernen Moderne wohl so grundsätzlich formulieren wie es DietmarKamper (1999, S. 104) macht: „Es ist in allen wichtigen Dingen unmög-lich geworden, zu behaupten, daß ein Sachverhalt entweder falsch oderrichtig ist“.Mit einem Beispiel lässt sich das systemtheoretisch beschriebene Tech-nologiedefizit, die Unsicherheit über die Richtigkeit und Falschheit so-zialarbeiterischen Handelns verdeutlichen, und zwar mit dem von Tho-mas Mörsberger und Jürgen Restemeier (1997) dokumentierten Fall ei-ner Osnabrücker Sozialarbeiterin eines Allgemeinen Sozialen Dienstes(ASD). Diese Sozialarbeiterin betreute eine alleinerziehende Mutter,deren sechs Monate altes Kind – trotz sozialpädagogischer Betreuungund trotz des Einsatzes sozialpädagogischer Familienhilfe – infolgegrober Vernachlässigung durch die Mutter an Unterernährung verstor-ben ist. Aufgrund dieses tragischen Ereignisses ermittelte die Staatsan-waltschaft gegen die betreffende Sozialarbeiterin. Es kam zu einemStrafprozess. Die Staatsanwaltschaft warf der Sozialarbeiterin vor, Mit-schuld am Tode des Säuglings zu tragen. Ihr wurden Defizite in der

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fachlichen Arbeit unterstellt. Außerdem hätte sie prognostizieren müs-sen und können, dass die Mutter aufgrund ihrer Lebenssituation mit derVersorgung ihres Kindes so überfordert gewesen sei, dass es zu einemderartigen Ereignis wie dem Tod des Säuglings kommen könne.Dieser Sichtweise entsprach auch das Gerichtsurteil in erster Instanz, sodass die Sozialarbeiterin schuldig gesprochen wurde. Im ersten Berufs-verfahren wurde die Angeklagte dann freigesprochen, im zweiten wur-de das Verfahren schließlich – laut Strafprozessordnung wegen der ge-ringen Schuld des Täters und aufgrund des mangelnden öffentlichen In-teresse an der Strafverfolgung – eingestellt.Ohne diesen Fall hier genauer besprechen zu können, wird m.E. den-noch deutlich, welche Unsicherheit über die Möglichkeiten und Gren-zen Sozialer Arbeit bestehen und kaum ausgeräumt werden können.Was hätte die Sozialarbeiterin tun können, um den Tod des Kindes zuverhindern? Hätte sie überhaupt etwas dafür tun können? Muss es ande-re gesetzliche Rahmenbedingungen als das lebenswelt- und dienstleis-tungsorientierte Kinder- und Jugendhilfegesetz für die Jugendhilfe ge-ben, damit es zu solchen Vorfällen nicht kommt?Dies sind möglicherweise unbeantwortbare Fragen, oder es sind Fra-gen, auf die mit vielen konkurrierenden, ja widersprüchlichen Antwor-ten reagiert werden kann. Aber es wird sich kaum die eine richtige Ant-wort finden lassen.Diese Unbeantwortbarkeit und Unsicherheit, ja diese Kontingenz müs-sen die Soziale Arbeit und die Gesellschaft m.E. aushalten. Sozialarbeit,und dies kann auch eine Erkenntnis aus dem geschilderten OsnabrückerFall sein, bleibt trotz formaler (verrechtlichter, bürokratisierter, rationa-ler und ökonomisierter) Organisation und methodisch strukturierter In-teraktion den Unsicherheiten alltäglicher menschlicher Beziehungenausgesetzt, sie ist nur bedingt rationalisierbar. Denn sie agiert in einemFeld von psychischen und sozialen Systemen, die man in den Wortendes Kybernetikers Heinz von Foerster (1988) auch als nicht-trivialeSysteme bezeichnen kann. Nicht-triviale Systeme sind solche Systeme,deren Verhalten aufgrund ihrer komplexen inneren Struktur nicht vor-hergesagt werden kann. Auch wenn man weiß, welche Umweltprozesseauf solche Systeme einwirken, bleiben sie in ihrem Verhalten, in ihrenReaktionen potentiell unberechenbar. In diesem Sinne der Nicht-Trivialität betont der Familientherapeut undSupervisor Friedhelm Kron-Kless (1998, S. 30) – mit Bezug auf den ge-

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schilderten Osnabrücker Fall –, dass „Öffentliche Jugendhilfe insbeson-dere und die Öffentlichkeit allgemein [...] immer damit leben müssen,daß bei Hilfen zur Erziehung keine Erfolgsgarantien für ihr Wirken ge-geben werden können“. Und somit ist die ökonomische Größe der Ef-fektivität Sozialer Arbeit eine ausgesprochen unsichere Variable undnur sehr bedingt messbar.Zusammenfassend gesagt: Angesichts der dargestellten nicht-trivialen,hochkomplexen beziehungsweise systemisch-autopoietischen Operati-onsweise der Sozialen Arbeit sollte deutlich werden, dass die Ergebnis-se sozial(arbeiterisch)er Hilfen nicht in einer Weise antizipiert werdenkönnen, wie dies bei herkömmlichen betriebswirtschaftlichen Vorgän-gen (etwa in der Industrie) die Regel sein sollte. Es lassen sich im Pro-zess der Hilfe keine eindeutigen ökonomisch bewertbaren Zustände vo-rausdenken. Denn am Anfang jeder sozialen Hilfe können – auch nachgründlicher Kontext- und Zielplanung im Sinne des Case Managementsoder der systemischen Beratung – nur sehr vage und unsichere Aussa-gen darüber getroffen werden, wie der Endzustand beziehungsweise dasErgebnis der Hilfe konkret aussehen wird. Das „Endprodukt“ SozialerArbeit lässt sich nicht annähernd so konkret beschreiben wie das Ergeb-nis eines industriellen Produktionsprozesses, so dass es auch nur äu-ßerst unklar durch ökonomische Faktoren ausgedrückt werden kann.Soziale Arbeit ist eben keine (einfache) Produktion, sondern eine kom-munikative Ko-Produktion, ein Dialog (vgl. etwa Kleve 2000, S. 172)und sollte daher „postheroisch“ gemanagt werden.

III. ZUR AMBIVALENZ DER SYSTEMTHEORIE SOZIALER ARBEIT

Mit Hilfe der Grundbegriffe, Positionen und Perspektiven der sozial-wissenschaftlichen Systemtheorie der Bielefelder Schule ist es möglich,den derzeitigen Ökonomisierungsschub der Sozialarbeit zu beleuchten.Dabei ergibt sich allerdings ein Zwielicht, eine Ambivalenz. Genausowie die Systemtheorie die Ökonomisierung Sozialer Arbeit begrüßenkönnte, fordert sie dazu auf, diesen Prozess äußerst kritisch und nüch-tern zu sehen. Sie vermittelt kein eindeutiges und einheitliches Bild.Aus der Sicht der Systemtheorie bleibt auch die ökonomisierte Sozial-arbeit ein ambivalentes Gebilde, ja es ist ausgehend von jener sozialwis-senschaftlichen Systemtheorie, welche ich ansatzweise vorgestellt ha-

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be, generell unmöglich, Sozialarbeit als Wissenschaft oder als Praxiseindeutig zu fundieren. So schreibt Niklas Luhmann (1990b, S. 58),dass die Bielefelder Schule der Systemtheorie und insbesondere die mitihr einhergehende konstruktivistische Erkenntnistheorie die „Wissen-schaften [...] nicht fundieren [kann], [...] ihnen nicht Grundlagen, Argu-mente oder Gewissheiten anbieten [kann]“.Diese Aussagen müssen für jene Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiterenttäuschend sein, die nach wie vor daran festhalten, Soziale Arbeit ein-deutig und ambivalenzfrei fundieren oder definieren zu wollen, und diedies in den letzten Jahren möglicherweise verstärkt durch Anleihen ausder Betriebswissenschaft versuchen. Auch wenn die Sozialarbeit inzwi-schen vermehrt mit Größen wie Effektivität und Effizienz kalkuliert,wenn sie ihre Angebote in Produkte umschreibt oder die von der Kom-munalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung geforder-ten neuen Steuerungsmodelle huldigt, sie wird aus systemtheoretischerSicht dadurch keineswegs rationaler, planbarer oder technologischer.Das, was Sozialarbeit seit jeher auszeichnet, nämlich Ambivalenz undUnschärfe (vgl. Kleve 1999) sowie eine eher postmoderne brüchige,flexible Patchwork-Identität (vgl. Kleve 2000), bleibt auch nach demÖkonomisierungsschub erhalten. Wer dies akzeptieren kann und sichnicht scheut, sich immer wieder erneut kreativ mit dieser Ambivalenzauseinander zusetzen, dem sei die sozialwissenschaftliche Systemtheo-rie der Bielefelder Schule als Reflexionsgrundlage empfohlen. Denndiese Theorie reflektiert die Unsicherheit und die Kontingenz unsererErkenntnis, unserer Kommunikation, ja unseres psychischen sowie so-zialen Lebens und bietet dafür plausible wissenschaftliche Erklärungenund Gründe an.

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2. Teil:Postmoderne

Grundlegungen

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4. Postmodernes Wissen für die Soziale Arbeit

Soziale Arbeit im Lichte der Postmoderne Jean-François Lyotards

„Das postmoderne Wissen ist nicht allein

das Instrument der Mächte. Es verfeinert

unsere Sensibilität für die Unterschiede

und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkom-

mensurable zu ertragen. Es selbst findet

seinen Grund nicht in der Übereinstimmung

der Experten, sondern in der Paralogie

der Erfinder.“

Jean-François Lyotard (1979, S. 16)

AUSGANGSPUNKTE

Die Postmoderne, ob als Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaftoder als kultureller Ausdruck und künstlerische Haltung, ist in der deut-schen Sozialen Arbeit bisher wenig thematisiert worden;14 und dies, ob-wohl es für die Soziale Arbeit viele Anschlussstellen an postmoderneDiskurse gibt. Denn das, was in der Debatte um die Postmoderne the-matisiert wird, lässt sich grundsätzlich auf die Soziale Arbeit beziehen,zum Beispiel die Frage nach dem Umgang mit sozialer Vielfalt, mitPluralität. Gerade wenn man bedenkt, dass die Soziale Arbeit klassi-scherweise die Funktion hat, die sozial markierte Differenz von Normund Abweichung zu bearbeiten, also abweichendes Verhalten zu norma-lisieren versucht, drängen sich geradezu zwangsläufig postmoderne

14 Dies hat sicher auch damit zu tun, dass die postmoderne Debatte in der mar-xistisch beziehungsweise klassisch links-intellektuell dominierten deutschen Geistes- und Sozialwissenschaft eher kritisch bis ablehnend als positiv oder befürwortend aufgenommen wurde. Siehe ausführlich dazu Neumeister 2000.

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Fragen auf: Wie kann in einer immer pluraler werdenden Gesellschafteine klare Grenze zwischen Norm und Abweichung gezogen werden?Ist es ethisch vertretbar, vermeintlich abweichende Verhaltensweisenzu renormalisieren? Müsste die Soziale Arbeit nicht vielmehr dafür sor-gen, dass soziale Differenzen anerkannt, akzeptiert und nicht als zu nor-malisierende Devianzen stigmatisiert werden? Dies sind nur einige Fra-gen, die mit Hilfe postmoderner Ansätze wenn nicht beantwortet, sodoch differenziert diskutiert werden könnten.Weiterhin wäre auch daran zu denken, dass die Soziale Arbeit ihreSelbstreflexion postmodern wendet. Denn das, was der Sozialen Arbeitseit jeher Probleme macht, nämlich die Frage ihrer eigenen Identitäts-bestimmung, ließe sich postmodern relativ gelassen angehen. Denn diePostmoderne geht mit Identitäten spielerisch um, anerkennt beispiels-weise auch chamäleonhafte Identitäten, die zwischen unterschiedlichenSelbstbeschreibungen changieren, so wie die Identitäten von Sozialar-beiterinnen und Sozialarbeitern (siehe weiterführend dazu 6. Kapitelund grundsätzlich Kleve 2000).Wenn wir nun etwas genauer fragen, was die Postmoderne für die Sozi-ale Arbeit zu bieten hat, dann fallen sehr schnell die philosophischenAngebote des 1924 geborenen und 1998 verstorbenen französischenPhilosophen Jean-François Lyotard ins Auge. Denn Lyotard gilt als Be-gründer der philosophischen Postmoderne (vgl. Welsch 1987, S. 169).Mit seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Buch PostmodernesWissen (Lyotard 1979) hat er eine soziologische und philosophischeDebatte über postmoderne Philosophie und Wissenschaft, ja generellüber eine postmoderne Gesellschaft ausgelöst, die auch viele An-schlussstellen für die Soziale Arbeit bietet. So lautet meine These, dieich im Weiteren verfolgen will, dass die Soziale Arbeit von dem post-modernen Wissen Lyotards profitieren kann, dass, mit anderen Worten,Reflexionsgewinne möglich sind, wenn die Soziale Arbeit ausgehendvon der postmodernen Philosophie Lyotards betrachtet wird.Im Folgenden möchte ich daher vor allem zentrale Thesen aus LyotardsBuch Das Postmoderne Wissen diskutieren, sie mit neueren theoreti-schen Ansätzen und aktuellen praktischen Erfahrungen konfrontierenund schließlich immer auch auf Anschlussstellen für die Reflexion derSozialen Arbeit absuchen. Bevor ich jedoch dazu komme, will ich inden philosophischen Kontext einführen, in dem Lyotard – insbesondereaus Sicht der deutschen Geisteswissenschaft – verortet wird und darstel-len, was der Begriff „Postmoderne“ für ihn überhaupt bedeutet.

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I. LYOTARD IM PHILOSOPHISCHEN KONTEXT DER DEBATTE UM DIE POSTMODERNE

Im Jahre 1979 hat Lyotard Das postmoderne Wissen verfasst und damiteine geistes- und sozialwissenschaftliche Debatte um die Postmodernelosgetreten. In diesem Buch entwickelt er u.a. seine zentrale These vomEnde der großen Meta-Erzählungen der Moderne (Dialektik des Geis-tes, Hermeneutik des Sinns, Emanzipation des vernünftigen und arbei-tenden Subjekts) sowie vom Zerfallen gesellschaftlicher und kulturellerEinheitstendenzen in einander entgegengesetzte, unüberwindlich diffe-rente Diskurse und Sprachspiele. Darüber hinaus grenzt er sich ent-schieden von der Diskurstheorie und -ethik Jürgen Habermas’ ab, in derder Konsens als letztes und zentrales Ziel von Kommunikation behaup-tet wird. Lyotard räumt demgegenüber die Notwendigkeit eines kom-munikativen Gerechtigkeitskonzeptes ein, in dem das Aushalten vonsozialer Vielfalt, von Pluralität, das heißt von Differenzen und Dissen-sen, die die vermeintlichen Konsense sprengen, möglich sein muss.Dieses Gerechtigkeitskonzept entwickelt er in seinem 1983 veröffent-lichten philosophischen Hauptwerk Der Widerstreit (Lyotard 1983).Der deutsche Streit um die postmoderne Philosophie Lyotards ent-brannte nach einer Rede von Habermas, Die Moderne – ein unvollende-tes Projekt, die er 1980 anlässlich seiner Ehrung mit dem Adorno-Preisin Frankfurt am Main hielt. In dieser Rede bewertete er die postmoder-nen Tendenzen in der Philosophie als antimodern und neokonservativ.Habermas, der in seinen Schriften (zum Beispiel 1981) selbst gesell-schaftliche oder kulturelle Differenzen und vor allem die Differenz zwi-schen System und Lebenswelt beschreibt, plädiert – in Anlehnung anAlbrecht Wellmer – jedoch dafür zu versuchen, diese Differenzen, etwazwischen den Diskursen der Erkenntnis, der Ethik und der Politik wie-der in Einheitserfahrungen zu überführen (vgl. Habermas 1980, S.190f.); und zwar mit Hilfe der modernen Kunst, mit Hilfe der ästheti-schen Erfahrung, die nämlich die Erfahrung der Versöhnung von Diffe-renzen leisten könne. Für Habermas ist die Kunst jene gesellschaftlicheSphäre, die die Moderne dort, wo sie zu zerbersten drohe, wieder zu-sammenführen könne: bei der radikalen Ausdifferenzierung von gesell-schaftlichen Spezialstrukturen und -semantiken.Speziell auf diese These von Habermas reagiert Lyotard mit einem Auf-satz von 1982, der den Titel trägt: Beantwortung der Frage: Was ist

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postmodern? Mit diesem Text versucht er eine programmatische Be-stimmung des Postmoderne-Konzeptes zu formulieren. Kennern derPhilosophiegeschichte wird der Titel von Lyotards Aufsatz an die pro-grammatische Schrift zur Aufklärung von Immanuel Kant (1724-1804)von 1783 erinnern: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? FürWolfgang Welsch (1994, S. 30) deutet diese Anlehnung an Kants For-mulierung darauf hin, dass Lyotards Postmoderne-Konzept „eine aktu-elle Version von Aufklärung“ darstellt.Interessant ist diese Deutung deshalb, weil die Postmoderne gerade vonihren Kritikern als antiaufklärerische Strömung innerhalb der Philoso-phie bewertet wird (vgl. ausführlich dazu Neumeister 2000). Lyotardreagiert mit seinem Aufsatz auf eine derartige Bewertung und beziehtsich, wie erwähnt, insbesondere auf den Postmoderne-Kritiker JürgenHabermas (1980), mit dem er spätestens seit Ende der 1970er Jahre inAuseinandersetzung steht. Entgegen Habermas sieht Lyotard in der mo-dernen Kunst gerade nicht die Möglichkeit, die Differenzen der Moder-ne zu versöhnen, vielmehr vertritt er eine entgegengesetzte Position,dass nämlich – wie Welsch (1990, S. 95) ausführt – die postmodernePhilosophie aus dem Geist der modernen Kunst geboren wurde: „Diepostmoderne Philosophie artikuliert diskursiv, was die moderne Kunstkünstlerisch vorexerziert hat“.Dies nun zeigt Lyotard (1982) in seinem Aufsatz in drei Schritten: indem ersten Schritt setzt er dem künstlerischen Realismus-Konzept einKonzept der Reflexion beziehungsweise des Avantgardistisch-Experi-mentellen entgegen; in dem zweiten Schritt stellt er dem Kunst-Konzeptdes „Schönen“ das bereits von Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790)dargestellte (gewissermaßen postmoderne) Konzept des „Erhabenen“gegenüber, um schließlich nach der Beschäftigung mit der modernenKunst in einem dritten Schritt die Postmoderne auch als Philosophieemporsteigen zu lassen.

Erster Schritt: Entgegensetzung von Realismus und Reflexion bezie-hungsweise Experiment: Der Realismus (in der Kunst wie in der Philo-sophie) suche nach der einen objektiven Wirklichkeit, nach einer zen-tralen Verankerung, eben nach Realität, die es darzustellen gelte. Esgehe dem Realismus weiterhin um Ordnung, Einheit, Identität, Sicher-heit und um Popularität (vgl. Lyotard 1982, S. 36), anders gesagt: umdas Beenden, das Liquidieren des Experimentellen, des Avantgardisti-

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schen. Die Realität werde allerdings schon ausgehöhlt durch die Machtdes Kapitalismus, der „Gebrauchsgegenstände, Rollen des sozialen Le-bens und Institutionen“ (ebd., S. 36) so zurichte, dass deren („realisti-sche“) Darstellung „nur noch in Form von Sehnsucht oder Spott“ (ebd.),nur noch „als Anlaß von Leiden [...denn...] als [...] Befriedigung“ (ebd.)möglich sei. Denn wir leben nach Lyotard (ebd., S. 37) in einer Welt,„in der Wirklichkeit in einem Maße destabilisiert ist, daß sie keinenStoff mehr für Erfahrung gewährt, wohl aber für Erkundung und Expe-riment“ (ebd.).Auch wenn etwa Tendenzen der Fotografie oder des Films zu beobach-ten seien, die einem großen Publikumsgeschmack entsprechend vorge-ben, Wirklichkeit darzustellen, handele es sich hierbei lediglich um„Phantasmen des Realismus“ (ebd., S. 38), die sozusagen zum Trostund zur Ablenkung Scheinwirklichkeiten produzieren. Den realisti-schen Tendenzen grundsätzlich gegenläufig sei demgegenüber eine mo-derne Kunst, die sich reflexiv sich selbst zuwendet („Was macht Kunstzur Kunst [und Literatur zur Literatur]?“, ebd., S. 39) und ihre eigenenRegeln permanent experimentell in Frage stellt, die mit Formen, Farbenetc. experimentiert, die sich weiterhin einem kapitalistischen Kunst-Konzept entgegenstellt, dessen Kunstproduktion sich ausschließlich anden Bedürfnissen und der Kaufkraft derer ausrichtet, die diese Werkekonsumieren. Dieses moderne Kunst-Konzept des Avantgardistisch-Experimentellenkonkretisiert Lyotard in dem nächsten Schritt weiter, indem er es präzi-siert durch die Entgegensetzung von „schön“ und „erhaben“.

Zweiter Schritt: Entgegensetzung von „schön“ und „erhaben“: DieModerne geht für Lyotard aufgrund der Ausdifferenzierung verschie-denster Wirklichkeitsbereiche mit der „Erschütterung des Glaubens“(ebd., S. 42) an die eine Wirklichkeit einher. Die Moderne erlaube dieEntdeckung, „wie wenig wirklich die Wirklichkeit ist“ (ebd.). DieseEntdeckung sei bereits im Kantschen Konzept des Erhabenen präsent.Das Erhabene ist, um Kant zu zitieren, die „Erweckung eines Gefühlseines übersinnlichen Vermögens in uns“ (z. n. Welsch 1990, S. 89), esist damit nach Lyotard etwas, was sich einer Darstellung oder einerWirklichkeitswerdung entzieht. Das Erhabene sei weiterhin ein Gefühl,das entsteht, wenn man an etwas denkt, das man zwar ideell erahnenoder denken, aber niemals fassen und erfahren kann: etwa das Absolute,das Ganze, das Nicht-Mehr-Teilbare.

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Demgegenüber beruhe das Konzept des Schönen, auf dem Fassbaren,dem begrifflich und erfahrbar Darstellbaren, was geschmackliche undästhetische Übereinkünfte erlaube. Das Erhabene ist dagegen dasjenige,welches auf ein Anästhetisches (Welsch), ein Nichtdarstellbares an-spielt. Moderne Kunst ist für Lyotard nun jene Kunst, welche mittelsFormlosigkeit oder mittels der Vermeidung von allem Figurativen oderAbbildhaften zu zeigen versucht, „daß es ein Nicht-Darstellbares gibt.Sichtbar zu machen, daß es etwas gibt, das man denken, nicht aber sehenoder sichtbar machen kann: das ist der Einsatz der modernen Malerei“(Lyotard 1982, S. 43).Ausgehend von der Bestimmung der modernen Kunst als reflexives, ex-perimentelles Projekt, das nicht das Schöne, sondern das Erhabene, daseigentlich Nicht-Darstellbare im Sinn hat, versucht Lyotard im letztenSchritt seines Aufsatzes zu zeigen, was Postmoderne beziehungsweisepostmoderne Philosophie ist.

Dritter Schritt: Postmoderne Philosophie: Aufgrund Lyotards Ausfüh-rungen zur Moderne, zur modernen Kunst erübrigt es sich fast zu sagen,dass er die Postmoderne nicht eindeutig von der Moderne unterscheidenkann; vielmehr sieht er die Ideen der Moderne, der modernen Kunst ge-rade durch die Postmoderne verwirklicht (ebd., S. 45). Der entscheiden-de Unterschied, den er einführt und der einen modernen von einen post-modernen Geisteszustand unterscheidet, ist nämlich, dass der moderneGeisteszustand trauert und der postmoderne jubelt angesichts des Auf-lösens der einen Wirklichkeit und des Erblühens von vielen Möglich-keiten der experimentellen „Erfindung neuer Spielregeln, bildnerischeroder künstlerischer“ Art (ebd., S. 46). Die Moderne verweise zwar, zumBeispiel in der Kunst, bereits auf ein Nicht-Darstellbares, auf die Un-fasslichkeit der Wirklichkeit als Ganzes, aber sie betrauert das Verlo-rengegangene, das Entschwinden des Schönen in der Darstellung.Demgegenüber sei das Postmoderne „dasjenige, das im Modernen inder Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich demTrost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks,der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zuempfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellun-gen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondernum das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt“ (ebd.,S. 47).

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In der postmodernen Philosophie gehe es demnach darum zu zeigen,„daß es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielun-gen auf ein Denkbares zu finden, das nicht dargestellt werden kann“ (S.48). Und mit Kant plädiert Lyotard schließlich dafür zu sehen, welchenTerror die (Hegelsche) Illusion der (sog. dialektischen) Aufhebung desEntgegengesetzten im Einen mit sich bringt. Für diesen Terror des Einen,des Totalitären sei nämlich das 20. Jahrhundert (mit Phänomenen wie Fa-schismus und Stalinismus) das beste Beispiel; insofern komme es heutedarauf an, die Differenzen vor allen einebnenden Tendenzen zu retten.

Postmoderne ist für Lyotard also „nicht das Ende der Moderne [...], son-dern eine andere Beziehung zur Moderne“ (Lyotard 1987, S. 121), ein„Gemüts- und Geisteszustand“ (Lyotard 1981, S. 97), vielleicht könnteman auch sagen eine Reflexionsfigur, die für dreierlei steht: erstens fürdie Erfahrung und Anerkennung der Konstrukthaftigkeit der Wirklich-keit, zweitens für die Erfahrung und Anerkennung von unüberwindli-chen Differenzen in der Welt des Persönlichen und Sozialen und drit-tens für den experimentellen Umgang mit den Wirklichkeitskonstrukti-onen und Differenzen innerhalb unserer Wirklichkeiten.

*

Wenn wir angesichts von Lyotards Verständnis der Postmoderne fra-gen, wie die Soziale Arbeit ausgehend von diesem Konzept betrachtetwerden kann, dann lässt sich bereits sagen, dass die Soziale Arbeit vorallem methodisch in eine postmoderne Richtung tendiert. In einigen ak-tuellen Methodenströmungen, die mit den Attributen lebensweltorien-tiert oder systemisch-konstruktivistisch versehen werden, finden wirdie drei genannten groben Bestimmungsmerkmale der postmodernenGemüts- und Geisteshaltung wieder. Denn diese Methoden anerkennenerstens die individuelle und soziale Konstrukthaftigkeit von lebenswel-tlichen Wirklichkeiten, zweitens akzeptieren sie die Verschiedenartig-keit, die Differenz beispielsweise zwischen den Wirklichkeitskonstruk-tionen der Sozialarbeiter und jenen der Klienten und versuchen drittensmit diesen Differenzen spielerisch, experimentell umzugehen, sie zunutzen, um Problemlösungen der Klienten anzuregen, die zu deren le-bensweltlichen Kontexten passen.15 Methodischen Haltungen wie All-parteilichkeit und Kontextsensibilität oder Verfahren wie zirkuläres

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Fragen und Reframing liegen genau diese drei Bestimmungsmerkmalezugrunde.16

Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind methodisch daher vor allemKommunikationsexperten, die gemeinsam mit den Klienten etwas zukonstruieren haben, was sich nicht mehr von selbst versteht, nämlichWirklichkeitssichten über die Probleme, deren Entstehungsbedingun-gen, über mögliche Ziele der Problemlösung und über mögliche Hand-lungen zur Erreichung der Ziele (vgl. ausführlich dazu 8. Kapitel). Wennsich die Postmoderne durch eine zentrale Erfahrung auszeichnet, dannist es genau diese: dass sich eben nichts mehr von selbst versteht, dassdie Aushandlung, der Dialog, die Kommunikation an die Stelle der vor-mals vermeintlich harten Evidenz rückt.

15 Hans Thiersch (1993), theoretischer Begründer der sozialarbeiterischen Lebensweltorientierung, versteht diese methodische Richtung Sozialer Arbeit auch als Reaktion auf die gesellschaftliche Pluralisierung und Individualisie-rung der Lebenslagen. Lebensweltorientierung meint demnach: das Insistieren auf die „Eigensinnigkeit lebensweltlicher Erfahrung der AdressatInnen“ Sozia-ler Arbeit, sie ist „Versuch und Instrument der Gegenwehr zu den normalisie-renden, disziplinierenden, stigmatisierenden und pathologisierenden Erwartun-gen, die die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit seit je zu dominieren drohen“ (ebd., S. 13). Mit der Lebensweltorientierung wird der Versuch unter-nommen, dass klassische sozialarbeiterische Leitparadigma, das sich an der Dif-ferenz Norm/Abweichung beziehungsweise Konformität /Devianz orientiert, zu verabschieden, ja postmodern zu überwinden. Bei einer genauen Betrachtung der aktuellen Diskurse in der Sozialen Arbeit fällt auf, dass sozialarbeiterische Theorien und Methoden, allen voran die lebensweltorientierte und systemische Theorie und Methodik von vier Strukturmerkmalen gekennzeichnet sind, die für eine postmoderne sozialarbeiterische Perspektive sprechen: und zwar von der Betonung, erstens: der Kommunikation und des Dialogs, zweitens: der Aner-kennung von Differenz und Dissens, drittens: der Anerkennung der Grenzen des sozialarbeiterischen Handelns, viertens: von Reflexionsnotwendigkeiten (vgl. ausführlich zu diesen Punkten Kleve 2000, S. 59ff.).16 Diese methodischen Haltungen kommen aus der systemischen beziehungs-weise der systemisch-familientherapeutischen Beratung und Therapie, die sich inzwischen explizit dem postmodernen Diskurs zuordnen lässt; und dies nicht nur, weil es sowohl im postmodernen als auch im systemischen Diskurs um einen Abschied vom Prinzipiellen und Absoluten hin zum Akzeptieren des Plu-ralen und Differenten geht (vgl. Schweitzer /Retzer /Fischer 1992).

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Wie lässt sich nun der dargestellte postmoderne Gemüts- und Geistes-zustand begründen? Um dieser Frage nachzugehen, wenden wir uns imFolgenden explizit einigen zentralen Thesen aus Lyotards Programm-schrift Das postmoderne Wissen zu. In dieser Schrift wird zweierlei ge-boten, zum einen beschreibt Lyotard die Transformation von der Mo-derne zur Postmoderne, zum anderen skizziert er postmoderne Formender Wissenschaft. Damit stellt dieses Werk eine Begründung für dieNotwendigkeit der postmodernen Gemüts- und Geisteszustände dar.Weiterhin ist die Schrift soziologisch und philosophisch zugleich – insoziologischer Hinsicht beschreibt sie die sozialen Veränderungen, diezu einer Postmoderne führen, in philosophischer Hinsicht diskutiert siemoderne und postmoderne Legitimationsformen der Wissenschaft.Dies will ich nun etwas ausführlicher darstellen, wobei ich mich eherauf die philosophische Seite beschränke und die Legitimationskrise dermodernen Wissenschaft beschreibe sowie postmoderne Auswege ausdieser Krise diskutiere, um schließlich daraus Rückschlüsse für die Re-flexion der Sozialen Arbeit zu ziehen.

II. VON DER MODERNEN ZUR POSTMODERNEN NATUR DES WISSENS UND DER WISSENSCHAFT

Die Basis der Argumentation von Lyotard ist seine These – die er be-reits in der Einleitung seines Buches Das postmoderne Wissen knapperläutert (1979, S. 13ff.) –, dass sich die Legitimation des wissenschaft-lichen Wissens drastisch verändert. Dieses Wissen kann nicht mehr aufdie sogenannten großen Erzählungen der Moderne zurückgreifen, eskann nicht mehr vor ihren Hintergründen bestätigt werden, weil dieseErzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Und das Paradoxedaran ist, dass die Wissenschaft selbst, die sich im Rahmen dieser Er-zählungen legitimiert, die Glaubwürdigkeit dieser Erzählungen infragestellt. Denn: „Die Wissenschaft ist von Beginn an in Konflikt mit denErzählungen. Gemessen an ihren eigenen Kriterien, erweisen sich diemeisten als Fabeln“ (ebd., S. 13). Bevor dies deutlich wurde, also vor„den Transformationen, welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft,der Literatur und Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getroffenhaben“ (ebd.), griff die Wissenschaft auf die großen Erzählungen zu-rück. Dies ist ihr aber immer weniger möglich, und genau das ist mitpostmoderner Kondition der Wissenschaft gemeint.

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Welches sind nun die großen Erzählungen, die ihre Glaubwürdigkeitverlieren? Lyotard nennt insbesondere drei Metaerzählungen – Dialek-tik des Geistes, Hermeneutik des Sinns sowie Emanzipation des ver-nünftigen und arbeitenden Subjekts –, die ich etwas deutlicher herausstellen und auf die Soziale Arbeit beziehen möchte.

II. 1 Dialektik des Geistes

Hiermit ist die Höherentwicklung des Geistes, des menschlichen Be-wusstseins nach zyklischen Gesetzmäßigkeiten gemeint, was insbeson-dere von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) vertreten wurde.Demnach strebe die Geschichte des Geistes einem Ziel, einem Absolu-ten zu, das sich durch die (dialektische) Bewegung, durch den Dreisatzvon These, Antithese und Synthese verwirkliche. „Alle Verwirklichungdes Absoluten, als Natur wie als Geist, und damit alle Geschichte dieserVerwirklichung geschieht [...] dialektisch: Jedes gesetzte Stadium (The-sis) treibt seinen Gegensatz (Antithesis) hervor, beide sind in der folgen-den Synthesis aufgehoben, das heißt verneint, bewahrt und erhöht zu-gleich – so wie jeder Begriff aus sich den Gegenbegriff erzeugt und bei-de im Überbegriff aufgehoben sind“ (Müller /Halder 1958, S. 73f.).Bekanntlich hat Karl Marx (1818-1883) dieses dialektische Denkenvom Kopf auf die Füße gestellt; für ihn geht es nicht mehr um die Hö-herentwicklung des Geistes, sondern um die dialektische Verwirkli-chung der gesellschaftlichen Entwicklung, der materiellen Produktions-verhältnisse. Demnach ist Geschichte eine Geschichte von Klassenant-agonismen, von Klassenkämpfen, die im Ausgang der Urgesellschaft inder Sklavenhalterordnung sich manifestieren und ihren Weg findenüber unterschiedliche Klassenordnungen – vom Feudalismus über denKapitalismus bis hin zum Sozialismus – und sich schließlich dialektischaufheben in der klassenlosen Gesellschaft des Kommunismus.Die Metaerzählung der Dialektik der Geschichte (des Geistes oder derGesellschaft) gibt der Geschichte also ein klares (objektives) Ziel. Die-sem Ziel konnten sich auch die Wissenschaften unterordnen. Und nichtsanderes geschah ja auch beispielsweise in den sogenannten real-sozia-listischen Staaten, wo die zur Staatsideologie erklärte marxistische Di-alektik nicht nur das wissenschaftliche, sondern das gesamte soziale Le-ben zu programmieren versuchte.Aber auch die Soziale Arbeit der späten 1960er und der gesamten1970er Jahre ist geprägt von einer dialektischen, insbesondere marxis-

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tischen Sicht. Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsverhält-nissen (Hollstein/Meinhold 1973) hieß das Programm einer Kritik, diedeutlich zu machen versuchte, dass Soziale Arbeit zwei Möglichkeitenhabe: Im Klassenkampf der antagonistischen Kräfte könne sie auf dereinen Seite den Machthabern, dem kapitalistischen Bürgertum behilf-lich sein, die Macht zu sichern, indem sie nämlich daran mitarbeite, dieMassen, das Proletariat durch die Almosen „Geld und gute Worte“ „ru-hig zu stellen“. Auf der anderen Seite könne sie sich in dem historischenProzess zur Verwirklichung der Geschichte für das Proletariat entschei-den und es dabei unterstützen, – wie in den real-sozialistischen Staatenleninistisch gesagt wurde – seine „historische Mission“, die Errichtungeiner klassenlosen Ordnung zu erfüllen.Aus der heutigen Perspektive hören sich derartige Funktionsbestim-mungen Sozialer Arbeit reichlich anachronistisch an. Denn die Idee derdialektischen Bewegung der Geschichte des Geistes oder der Gesell-schaft scheint tatsächlich ihre Glaubwürdigkeit verloren zu haben ange-sichts der Weltlage, die wir seit Ende der 1980er Jahre beobachten kön-nen. Vielmehr scheinen Denker wie Friedrich Nietzsche (1844-1900),die die ewige Wiederkehr des Gleichen voraussagten, glaubwürdigerals Dialektiker. Das Einzige, was sich vorwärts bewegt, scheint dieWissenschaft und Technik zu sein mit immer neuen materiellen, physi-kalischen und chemischen, aber auch biologischen Möglichkeiten derNaturveränderung, was gleich zu bleiben scheint ist der menschlicheGeist, das Bewusstsein und seine soziale Lebensform, die Gesellschaft.Die alten Existenzängste sind nicht verschwunden, Armut, Hunger undNot regieren immer noch große Teile der Welt, und inzwischen kom-men mit den Flutkatastrophen auch die alten Naturängste wieder, dievor Jahrtausenden der Antrieb waren, die Wissenschaft und Technik zuentwickeln. Wissenschaft und Technik sollten die Menschen errettenvor den Naturgewalten. Mittlerweile sehen wir, dass der wissenschaft-lich-technische Fortschritt selbst das auslöst, was er einstmals beseiti-gen sollte: menschenlebengefährdende Naturereignisse.Wir kommen zurück zum eigentlichen Thema: Die Dialektik verliertihre Glaubwürdigkeit, dies zeigt sich vor allem angesichts der gesell-schaftlichen Entwicklung. Aber auch philosophisch liegen dafür Be-gründungen vor, die gar nicht so neu sind, eine der bedeutendsten ist si-cherlich Theodor W. Adornos Schrift Negative Dialektik (Adorno1966), in der nicht das dialektische Prinzip als Ganzes über Bord gewor-

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fen wird, sondern ausschließlich die Synthesis. Eine Dialektik ohne Syn-thesis, die sich für die Widersprüche interessiert, die Ambivalenzen ana-lysiert, die Gegensätze als Gegensätze, eben das Inkommensurable, wieLyotard sagen würde, akzeptiert, ist offenbar mehr denn je gefordert.Denn in postmoderner Zeit sind keine synthetischen Einheitsperspekti-ven gefragt, weil die Wirklichkeit sich eben nicht einheitlich zeigt. Da-her scheint keine „Wirklichkeitsbeschreibung tragfähig zu sein, dienicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt“ (Welsch 1990,S. 192), denn: „Ambivalenz ist das mindeste, womit man bei den gegen-wärtigen Weltverhältnissen rechnen muß“ (ebd.). Und dies gilt im be-sonderen Maße auch für die Soziale Arbeit, so dass eine diesbezüglicheWissenschaft die Ambivalenzreflexion als wichtige Methode zur Refle-xion nutzen kann.17

II.2 Hermeneutik des Sinns

Hiermit ist das Verstehen von Sinn gemeint, etwa Sinn-Verstehen vonTexten, aber auch von gesprochenen Worten. Das Problem der Herme-neutik scheint bereits im Begriff der Hermeneutik auf (vgl. Hörisch1998, S. 13ff.). Denn Hermeneutik verweist auf zweierlei Bedeutungen:Zum einen auf die Botschaft, die aus Texten spricht und die verstandenwerden kann, die gewissermaßen von Hermes, dem Götterboten aus dergriechischen Mythologie überbracht wird. Zum anderen kann Herme-neutik aber nicht nur den Prozess der Überbringung von Botschaftendurch Hermes meinen, sondern auch etwas Hermetisches, also etwasdicht Abgeschlossenes, aus dem nichts herausdringen kann. Wenn wir diesen eher etymologischen Zugang zur Hermeneutik mitma-chen, dann sehen wir, dass Sinnverstehen als das Verstehen von abge-schlossenen Botschaften betrachtet werden kann. Und so haben dieHermeneutiker der Theologie und Philosophie in den letzten Jahrtau-senden ja tatsächlich immer wieder versucht, die wahren Botschaftenvon Texten, etwa aus der Bibel und anderen „heiligen Schriften“ odervon philosophischen Klassikern, abschließend zu verstehen und sichdarüber gestritten, wer denn nun tatsächlich das Verstehen abschließenkann, weil er richtig verstanden hat.

17 Genau dies versuche ich in meinem Buch Postmoderne Sozialarbeit (Kleve 1999) vorzuführen. Ich komme auch hier noch einmal darauf zurück.

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Es kam sogar soweit, dass die Politik in den real-sozialistischen Län-dern ein Bündnis mit dieser Form von Hermeneutik geschlossen hat undein für alle mal versuchte, die Botschaft der Texte von Marx und Leninabschließend zu deuten und als Grundlage für die Regelung des gesam-ten sozialen Lebens zu nutzen. Was daraus geworden ist, haben wir inder jüngsten Geschichte gesehen. Nur noch eines dazu: Ich kann michsehr gut daran erinnern, wie diese Form von Hermeneutik auch die Me-thode meiner Deutschlehrer in der DDR war. Wenn wir als Schüler auf-gefordert wurden, über Erzählungen, Gedichte oder Romane zu disku-tieren und wir gefragt wurden, was der jeweilige Autor wohl gemeinthaben mag mit seinen Sätzen, dann wurde uns nach einer kurzen Dis-kussion die Antwort auf diese Frage vom Lehrer präsentiert; er kanntedie Botschaft der Texte, die abschließend dokumentiert und wieder ab-gefragt werden konnte. Mit einer solchen Form von Hermeneutik macht spätestens die Postmo-derne ein Ende; vielmehr nimmt sie die Erfahrung ernst, dass die Deu-tung und Interpretation von Texten niemals abschließbar ist, es sei dennin der Form von Macht. Aber bei Deutungsversuchen jedoch, die sichjenseits von totalitären Deutungsmächten vollziehen können, ist dieHermeneutik durch die Form der différence gekennzeichnet.Jacques Derrida (1988) bezeichnet mit diesem Begriff zweierlei, ers-tens dass jedes Sinnverstehen unabschließbar ist, auf eine unerreichbareZukunft hin aufgeschoben werden muss; denn es kann im Nachhineinimmer wieder infrage gestellt und neu verstanden werden; zweitens istSinnverstehen abhängig von Differenzen, von Unterschieden, zum Bei-spiel von den Kontexten, in denen es erfolgt: von den verschiedenenPersonen, die jeweils verstehen wollen (Sozialdimension), von den ver-schiedenen Zeiten, in denen zu verstehen versucht wird (Zeitdimensi-on), von den verschiedenen Erkenntnisinteressen, die Verstehen moti-vieren (Sachdimension).Auch das Verstehen der gesprochenen Worte, das in der Sozialen Arbeitja in jeder Beratungssituation erfolgen soll, steht mit einer postmoderngewendeten Hermeneutik in Frage, denn dafür gilt das Gleiche wie fürdas Textverstehen, es ist unabschließbar und kontextabhängig.18

18 Dies ließe sich sehr genau systemtheoretisch zeigen (siehe Luhmann 1984; Fuchs 1993), was ich hier jedoch nur erwähnen kann; siehe zu den Grundlagen der systemtheoretischen Kommunikationstheorie 1. und 2. Kapitel.

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Die Kontextabhängigkeit von Verstehen scheint leicht ersichtlich undsomit kaum erklärungsbedürftig. Denn wir wissen nicht nur in der So-zialen Arbeit, sondern auch im Alltag, dass unterschiedliche Personenunterschiedlich verstehen, dass Verstehen davon abhängig ist, wann et-was verstanden wird und schließlich auch davon, was das Verstehenmotiviert. Aber auch die zunächst vielleicht schwerer nachvollziehbareThese der Unabschließbarkeit lässt sich leicht nachvollziehen, wennman bedenkt, dass es unmöglich ist, die Gedanken von Personen durchKommunikationen zu erreichen (In die Köpfe kann man eben nicht hi-nein schauen!), erreichbar für die Kommunikation sind nur die gespro-chenen Worte, und diese müssen verstanden werden. Aber ob sie ver-standen wurden, kann immer nur im Nachhinein überprüft werden, etwadurch ein Nachfragen. Für dieses Nachfragen gilt wieder das Gleiche,es und die daraus folgenden möglichen Antworten müssen verstandenwerden. Aber ob sie verstanden wurden, kann nur im Nachhinein über-prüft werden usw. usf. Wir kommen nicht heraus aus der Form der dif-férence.Dies sollte uns in der Sozialen Arbeit zu denken geben. Denn wie oftneigen wir dazu zu glauben, schon verstanden zu haben, was die Klien-ten meinen oder wollen. Auch unsere klassischen Methoden (zum Bei-spiel die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers) ver-führen uns dazu anzunehmen, wir würden schon verstehen, wenn wirempathisch, kongruent und akzeptierend, annehmend kommunizieren.Dennoch: Wir sollten uns davor hüten zu schnell zu glauben, verstandenzu haben. Vielmehr ist angesichts der postmodernen Kondition hin-sichtlich der Unabschließbarkeit und der Kontextabhängigkeit des Ver-stehens, die Sensibilität für das Nicht-Verstehen, für die Unerreichbar-keit des „wirklichen“ Verstehens, für den permanent mitlaufenden Dis-sens auszubauen.

II.3 Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts

Hiermit sind genau genommen zwei Philosophien beziehungsweise Er-zählungen gemeint: Zum einen jene von Immanuel Kant, die die Eman-zipation des vernünftigen Subjekts anstrebt und die Jürgen Habermas inseiner Theorie der vernünftigen (rationalen) Kommunikation beerbt hatund zum anderen Karl Marx Idee der Emanzipation, der Befreiung desarbeitenden Subjekts aus der Unterdrückung durch nicht produktiv ar-

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beitende Besitzer der Mittel, mit denen die Arbeiter arbeiten, eben derProduktionsmittel. Beide Erzählungen verlieren in der Postmoderneihre Glaubwürdigkeit. Vom Glaubwürdigkeitsverlust der MarxschenAnschauung, dass die Geschichte auf ein dialektisch sich einstellendesZiel zustrebt, der Emanzipation der Arbeiter in der klassenlosen Gesell-schaft, habe ich oben bereits geschrieben. Deshalb soll hier die Eman-zipation des vernünftigen Subjekts problematisiert werden.Immanuel Kant, als ein wichtiger Begründer der Aufklärung, erhebt mitseiner Philosophie die Vernunft zum obersten Regulator der menschli-chen Erkenntnis und des menschlichen Zusammenlebens. Für ihn gehtdie Vernunft allen menschlichen Erkenntnismöglichkeiten (à priori)voraus, sie bildet die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, sie istin diesem Sinne transzendental. Obwohl Kant in der Kritik der reinenVernunft etwas zeigt, was Postmoderne und Konstruktivismus ebenfallsverdeutlichen, dass nämlich keine objektive Erkenntnis möglich ist,dass Erkenntnis vielmehr nur Dinge, wie sie für uns sind und nicht wiesie an sich sind, erkennen kann, ist seine Philosophie – im Gegensatz zuPostmoderne und Konstruktivismus – zwar implizit, aber nicht explizitrelativistisch (siehe dazu – mit einer etwas anderen Deutung – Welsch2000, S. 35f.). Denn Kant setzt die Erkenntnis zwar in Relation, in Ab-hängigkeit zu den erkennenden Subjekten, zu den Menschen, aber ernegiert diese Relativität sogleich wieder, wenn er in allen vernünftigen,aufklärungsfähigen menschlichen Subjekten die gleichen transzenden-talen Prinzipien am Wirken sieht: zum einen eben die Vernunft selbermit ihren Ordnungsbegriffen und Kategorien, zum anderen die An-schauungsformen von Raum und Zeit. Erkenntnis bringe nach Kantzwar nur selbstkonstruierte Erscheinungen hervor, aber diese Erschei-nungen müssen aufgrund der transzendentalen Bedingungen der Mög-lichkeit von Erkenntnis bei allen mit Vernunft ausgestatten menschli-chen Wesen dieselben sein.Eine Emanzipation des vernünftigen Subjekts bedeutet nun, dass dastranszendentale, allen Menschen zugängliche Prinzip der Vernunft auchdas menschliche Zusammenleben als praktisches Gesetz ordnen soll.Denn nur das verdiene allgemeine Anerkennung, zum Beispiel als Re-gel für den sozialen Verkehr, was vernünftigen Kriterien genüge, sozum Beispiel der kategorische Imperativ, der in unterschiedlicher Wei-se formuliert wird (zit. n. Ulfig 1999, S. 218): „Handle so, daß die Ma-xime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen

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Gesetzgebung gelten könne“. Oder: „Handle so, daß du die Menschheit,sowohl in deiner Person als in der Person eines anderen jederzeit zu-gleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Oder: „Handle so,als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemei-nen Naturgesetz werden sollte“.Obwohl Kant mit seinen drei kritischen Schriften – Kritik der reinenVernunft (1781/87), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritikder Urteilskraft (1790) – bereits andeutet, dass es Vernunft nur im Plu-ral gibt, wie dies der postmoderne Philosoph Wolfgang Welsch (1996)in seinem bedeutenden Werk zur transversalen Vernunft begründet,steht die aufklärerische Moderne für das Prinzip der einen Vernunft.Vernunft im Singular – das ist das Motto der Moderne. Nur ausgehendvon diesem Motto ist das aufklärerische Streben nach Wahrheit undVerständigung erklärbar. Dieses Streben führt schließlich zu zwei An-sichten: erstens dass die menschlichen Existenzfragen beantwortbarsind, wenn die Antworten mit Vernunft gesucht werden und zweitensdass alle, die die Antworten mit Vernunft, eben mit dieser einen Ver-nunft, mit der Vernunft (im Singular) suchen, zu denselben Antwortenkommen müssten.Die Fragen sind dann nur: Was passiert, wenn unterschiedliche Antwor-ten gefunden werden? Wer bestimmt bei einer Mehrzahl von unter-schiedlichen Antworten, wer die vernünftige Antwort hat? Unsere heu-tige Erfahrung kann uns lehren, dass solche Fragen in der Regel durchMacht entschieden wurden. Aber damit wären wir bereits bei MichelFoucault (1926-1984) einem anderen Denker der Postmoderne, nachdem es nicht die Vernunft ist, die die Bedingungen der Erkenntnis unddes menschlichen Zusammenlebens bestimmt, sondern Macht.In der Postmoderne jedenfalls zerbrechen die Vorstellungen der einenVernunft, auf die in gewisser Weise auch Habermas Diskursethik ba-siert. Denn in dieser Ethik wird der rationale, am Prinzip der kommuni-kativen Vernunft orientierte Konsens angestrebt, der geradezu zwangs-läufig sich einstellen würde, wenn die Diskursteilnehmer nach vernünf-tigen Regeln im herrschaftsfreien Raum kommunizieren. Auspostmoderner Perspektive ist dies nicht plausibel. Denn wie Lyotard(1979, S. 36ff.) mit Bezug auf Ludwig Wittgenstein (1889-1951) her-vorhebt, denken und kommunizieren wir in Form von Sprachspielen,von denen es eine Vielfalt gibt, die nicht von einem ordnenden Meta-Sprachspiel, schon gar nicht von einer obersten Vernunft bestimmt wer-

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den kann. Jedes Sprachspiel gehorcht eigenen begrenzten Regeln, diefür es, aber schon nicht mehr für andere Spiele gelten (müssen).Wenn dies nun besonders offensichtlich für die Postmoderne gilt, dannist Verständigung unwahrscheinlich und Dissens, Unabschließbarkeit,wie ich oben bereits mit Bezug zur Hermeneutik gesagt habe, alltäglicheErfahrung. Und meiner Ansicht nach ist dies auch in der Sozialen Arbeitso. Für uns Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter könnte das bedeuten, zurEinsicht zu gelangen, dass wir uns nicht mit Hilfe von Vernunft oder ra-tionaler Kommunikation aus den Fallstricken der vielen Sprachspielebefreien, emanzipieren können, wir spielen diese Spiele mit unserenKlienten wie mit unseren Kollegen. Wir sollten daher versuchen, einefür Professionen typische Haltung, nämlich die Haltung des Besserwis-sens zu verabschieden und uns öffnen für die vielfältigen Möglichkeitender Erkenntnis und des menschlichen Zusammenlebens. Freilich könn-ten wir angesichts der Unabschließbarkeit des Verstehens und Erken-nens, der Unerreichbarkeit oberster vernünftiger Prinzipien auch fata-listisch oder zynisch werden, ich jedoch plädiere für eine ironische Ge-lassenheit. Eine ironische Gelassenheit setzt paradox, ambivalent an:Sie weiß um die Beschränktheiten und Unabschließbarkeiten des Ver-stehens, aber versucht es dennoch immer wieder, sie öffnet sich geradefür die Möglichkeit des Nicht-Verstehens und des Nicht-Wissens, spieltmit Neugierde und der Möglichkeit, das Verstehen und Wissen in Ab-hängigkeit von sozialen, zeitlichen und sachlichen Bedingungen, Kon-texten, immer wieder anders ausfallen kann; kurz: ironische Gelassen-heit ermöglich das, was man mit Kontingenzbewusstsein und Komple-xitätstoleranz zusammenfassen könnte.

*

Wie legitimiert sich nun die Wissenschaft in der Postmoderne, alsonach dem Unglaubwürdigwerden der drei großen Metaerzählungen undwas könnte das für die Soziale Arbeit heißen? Lyotard sieht zwei wis-senschaftliche Legitimationen in der Postmoderne, die m.E. auch un-mittelbar die Soziale Arbeit tangieren, die Legitimierung durch die Per-formativität und die Legitimierung durch die Paralogie.

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II. 4 Postmoderne Legitimierung durch Performativität

Vordergründig werde die Wissenschaft nach dem Ende der großen Er-zählungen durch Performativität, was man vielleicht übersetzen könntemit Leistungsfähigkeit, Machtvergrößerung, legitimiert (vgl. Lyotard1979, S. 123ff.). Lyotard macht mit dieser These etwas deutlich, wasviele von uns im Alltag ohnehin oft vermuten und was noch einmal vor-führt, dass die Metaerzählungen, die immer auch mit Wahrheitssucheverbunden waren, tatsächlich verebbt sind: Wissenschaft habe nicht(mehr) das Ziel, Wahrheit zu finden, sondern Macht zu erhalten, ja zuvergrößern. „Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, umdie Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern“ (Lyotard1979, S. 135). Wissenschaft wird zu einer Produktivkraft, wird also ka-pitalisiert, ökonomisiert und ist, weil sie immer mehr auf teuere Technikangewiesen ist, geldabhängiger denn je. „Also kein Beweis, keine Ve-rifizierung von Aussagen und keine Wahrheit ohne Geld. Die wissen-schaftlichen Sprachspiele werden Spiele der Reichen werden, wo derReichste die größte Chance hat, recht zu haben. Eine Gleichung zwi-schen Reichtum, Effizienz und Wahrheit zeichnet sich ab“ (ebd., S.131).Wenn das Kriterium der Performativität, der Machtvergrößerung undLeistungsfähigkeit die Entwicklung der Wissenschaft bestimmt, dannwerden eben lediglich solche Wissenschaften gefördert, die in diesemSinne performativ sind. Damit bestimme schließlich auch das Geld, waswahr ist und wer recht hat. Denn Wahrheit werde an der Realität gemes-sen und diese werde über den Umweg der Technik von der Wissen-schaft beeinflusst, so dass sich rückwirkend das bestätigen könne, wasvon den Mächtigen über die Realität ausgesagt wurde. Denn dies ist das,was nun auch die Wissenschaftler erkennen können. So legitimiere sichWissenschaft über den Umweg der Performativität und Leistungsfähig-keit durch Macht und Geld. Wir können hier eine Zirkularität erkennen:Wissenschaft wird durch das Kriterium der Performativität von derMacht, von denjenigen, die Einfluss und Geld haben, legitimiert, diewiederum von der Wissenschaft legitimiert werden.Wenn wir die derzeitige Situation der Sozialen Arbeit betrachten, kön-nen wir uns fragen, ob wir nicht gerade Zeugen eines Prozesses sind, indem uns genau dieses Prinzip der Legitimierung durch Performativitätvorgeführt wird; es könnte also nicht nur für die Wissenschaft gelten,

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sondern im weiteren Sinne auch für wissenschaftlich sich begründendeProfessionen. Denn die Performativität der Sozialen Arbeit scheint der-zeit infrage zu stehen, so dass das Argument der knappen öffentlichenKassen dazu dient, drastische Kürzungen vorzunehmen. In einem ra-santen Tempo wird das Sprachspiel der Sozialen Arbeit, das wir viel-leicht mit den Unterscheidungen Helfen/Nicht-Helfen (vgl. Baecker1994) oder bedürftig /nicht bedürftig (Weber/Hillebrandt 1999) be-zeichnen könnten, vom ökonomischen Spiel der Effizienz überrollt (sie-he ausführlicher dazu 3. Kapitel). Und die Soziale Arbeit hat es schwer,sich dagegen zu wehren, ihr fallen kaum Gegenargumente ein, wenn ihrIneffizienz oder Ineffektivität, also die anderen Seiten der Performativi-tät vorgehalten werden. Vielleicht könnte die zweite postmoderne Legi-timationsgrundlage bei der Suche nach Gegenargumenten helfen: dieLegitimierung durch die Paralogie.

II.5 Postmoderne Legitimierung durch die Paralogie

Die Legitimierung durch die Performativität ist zwar jene von der Politikund der Ökonomie favorisierte Legitimationsform, die jedoch ebenfallszunehmend in eine Krise gerät. Dies ist, wie Lyotard (1979, S. 157) sagt,„die Krise [...] des Determinismus. Der Determinismus ist die Hypothe-se, auf der die Legitimation durch die Performativität beruht: Da diesesich durch ein Verhältnis Input /Output definiert, muß man annehmen,daß das System, in das man den Input einbringt, in einem stabilen Zu-stand ist; es gehorcht einer regelmäßigen ‚Bahn‘, wovon sich die stetigeund ableitbare Funktion erstellen läßt, die den Output entsprechend zuantizipieren erlauben wird“ (ebd.). Lyotard spricht hier offenbar davon,dass die Legitimierung durch die Performativtät das voraussetzt, wasHeinz von Foerster (1988) eine triviale Maschine nennt; eine solche Ma-schine lässt sich über den Input steuern, der Input bestimmt den Output.Die Pragmatik des postmodernen Wissens hat jedoch wenig Affinitätfür solche Maschinen (vgl. Lyotard 1979, S. 158), vielmehr ist sie ge-kennzeichnet von nicht-trivialen Prozessen, von Prozessen, deren Out-put nicht durch den Input gesteuert werden kann, die eigenen internen,nicht linearen Gesetzen gehorchen, die in ihren Reaktionen und Ergeb-nissen daher unvorhersehbar sind. Genau solche Prozesse kennzeichnendie Soziale Arbeit, die sich daher nur begrenzt durch Performativität,durch Effektivität und Effizienz legitimieren lässt.

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Aber die Soziale Arbeit ist nur ein Beispiel für ein Praxisfeld und eineWissenschaft, das von hochkomplexen Prozessen, um mit Niklas Luh-mann (1984) zu sprechen, von autopoietischen Systemen durchzogenist, die von außen nur begrenzt steuerbar und deren Verhalten keines-falls mit Hilfe des kausalen Determinismus erklärbar sind. Inzwischenbeziehen sich viele Wissenschaften auf derartige hochkomplexe Syste-me. Lyotard (1979, S. 163) führt als Beispiele die Quantentheorie unddie Mikrophysik heran. Je komplexer die Untersuchungsobjekte derWissenschaften werden, desto deutlicher wird, dass Ziel und Methodeder Wissenschaft nicht mehr durch Performanz gekennzeichnet sind,sondern durch die Paralogie.Paralogie bedeutet, dass wissenschaftliches Wissen nicht logisch, son-dern eben paralogisch funktioniert und geordnet ist, und zwar aus zweiGründen: erstens führt es genau genommen nicht dazu, eine Ordnung zusichern und zu legitimieren, sondern produziert permanent – sowohl inpositiver als auch in negativer Hinsicht – Neues, Unvorhersehbares,Überraschungen, Unsicherheiten, Risiken und Chancen; genau dies le-gitimiert weitere wissenschaftliche Forschung, für die das Gleiche gilt.Zweitens führt die Wissenschaft zur Produktion von differenten bis an-tagonistisch sich gegenüberstehenden „Wahrheiten“, die jeweils in sichselbst schlüssig, aber zueinander widersprüchlich sind. In einer Termi-nologie von Peter Fuchs (1992) könnte man vielleicht sagen, dass dieWissenschaften Polykontexturalität erzeugen, also in sich – auch aus lo-gischen Gesichtspunkten – schlüssige, aber zueinander in Widerspruchstehende Weltbeschreibungen.Für die Soziale Arbeit und für die auf sie bezogenen Wissenschaftenlässt sich daraus vielleicht lernen, dass die klassische Suche nach derSozialarbeitswissenschaft erfolglos ist, wenn sie intendiert, Sicherheitund Klarheit zu finden. Wenn Soziale Arbeit ihre Wissenschaftlichkeitausbaut, dann kann sie jedoch zweierlei gewinnen: zum einen natürlichbrauchbares, äußerst nützliches, als durchaus performatives Wissen undzum anderen aber auch weitere Pluralität und Unsicherheit – als Folgedes Wissenszuwachses. Mit Lyotard (1979, S. 163) gesagt: „Es ist nichtwahr, daß die Ungewißheit, das heißt das Fehlen von Kontrolle, sich indem Maße verringert, wie die Exaktheit wächst: Sie [die Ungewissheit;H.K.] wächst auch“.

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III. SOZIALE ARBEIT ALS POSTMODERNE PROFESSION UND DISZIPLIN

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Soziale Arbeit im Lichte derpostmodernen Philosophie Lyotards reflektiert werden kann, ja dassdieses Konzept Auswirkungen auf die Soziale Arbeit haben kann. Diesist freilich nicht erstaunlich, ist die Soziale Arbeit als eine sich wissen-schaftlich orientierende Praxis und als theoretische Reflexion dieserPraxis freilich genauso eingebunden in gesellschaftliche Transformati-onen, wie alle anderen gesellschaftlichen Sphären auch. Dennochscheint mir, dass die Soziale Arbeit ein ganz besonderes Verhältnis zurPostmoderne, zur postmodernen Philosophie im Besonderen und zurpostmodernen Reflexion der Gesellschaft im Allgemeinen entwickelnkönnte. Denn – wie ich an anderen Stellen bereits ausführlicher gezeigthabe (vgl. vor allem Kleve 1999; 2000): Die Soziale Arbeit ist bei ge-nauerem Hinsehen sowohl hinsichtlich ihrer Geschichte als auch hin-sichtlich ihrer Praxis sowie ihrer Theorie seit ihrer professionellen Aus-differenzierung ein postmodernes Unternehmen – zumindest implizit.Diese These mag erstaunen. Deshalb will ich sie erläutern, und damitgewissermaßen die implizite Postmoderne der Sozialen Arbeit explizie-ren.Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung Sozialer Arbeit lässt sozio-historisch, sozio-strukturell und wissenschaftlich etwas aufscheinen,was mit Lyotard als ein wesentliches Kriterium der Postmoderne ange-sehen werden kann, nämlich die Paralogie, genauer: die Ambivalenz.

III.1 Sozio-historische Genese der Sozialen Arbeit

Sozio-historisch ist leicht zu sehen und in Geschichtsbüchern zur Sozi-alen Arbeit immer wieder konstatiert sowie an unterschiedlichen Bei-spielen beschrieben worden (vgl. etwa Wendt 1995; Hering/Münch-meier 2000), dass die Soziale Arbeit als Profession, also als eine sichwissenschaftlich begründende und an Ausbildungsinstitutionen erlern-bare Praxis in der Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstan-den ist. Genau dies ist auch die Zeit, in der zum einen jene Transforma-tionen begannen, „welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft, derLiteratur und der Künste [...] getroffen haben“, wie Lyotard (1979, S.13) schreibt, und damit die Krise der Meta-Erzählungen (damals nocheher versteckt) zum Ausdruck brachten.

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Zum anderen ist das ausgehende 19. Jahrhundert eine Zeit, welche dieAmbivalenz der Moderne oder – mit Max Horkheimer und Theodor W.Adorno (1969) gesprochen – die Dialektik der Aufklärung augenschein-lich werden ließ. Spätestens jetzt wurde nämlich der moderne Januskopfoffenbar, der sichtbar machen kann, dass der Fortschritt nicht nur Reich-tum, Wissen, Rationalität und Ordnung mit sich bringt, sondern zugleichauch zur Steigerung von Armut, Unwissen, Irrationalität und Unord-nung führt. Schließlich wissen wir inzwischen, dass die Dialektik derAufklärung, die Widersprüchlichkeit der Entwicklung der Moderne ne-ben der – seit dem 11. September 2001 geradezu inflationär konstatier-ten – Zivilisation mit ihren Menschen- und Völkerrechten auch Faschis-mus und Stalinismus hervorgebracht hat.Zurück zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Zu eben dieser Zeit,und zwar 1886 schrieb ein sensibler philosophischer Geist, nämlichFriedrich Nietzsche (1844-1900) in Jenseits von Gut und Böse (S. 17):„Es wäre sogar noch möglich, daß was den Wert jener guten und ver-ehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen,scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt,verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein“. Auf genaudiese Ambivalenz, dass das Gute, das Erstrebsame untrennbar, ja nega-tiv dialektisch (denn es lässt sich nicht synthetisieren) mit dem Schlech-ten, mit dem, was man vermeiden will, verbunden ist, reagiert die Sozi-ale Arbeit. Sie belichtet – allein schon durch ihre gesellschaftliche Exis-tenz – die anderen, die Schattenseiten des Fortschritts und desReichtums, des Wissens und der Ordnung, indem sie ihre Legitimationaus der Existenz der Menschen bezieht, die aus welchen (sozialen, psy-chischen oder körperlichen) Gründen auch immer nicht fortschrittlichsein können, weil sie eben arm, ungebildet, ja – aus Sicht der Postulateder Moderne – unordentlich sind. Der sozio-historische Ursprung derSozialen Arbeit ist also die Ambivalenz der Moderne selbst. Oder etwasausführlicher und poetischer zusammengefasst: Die Sozialarbeit ent-springt dem maskierten Geist der Moderne, der nicht das halten kann,was er versprach, demaskiert ihn und entblößt damit, was ihm ins Ge-sicht geschrieben steht: das Vexierbild der Ambivalenz (siehe ausführ-licher dazu das folgende 5. Kapitel).

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III.2 Sozio-strukturelle Ambivalenz der Sozialen Arbeit

Die Paralogie in Form der Ambivalenz ist auch Markenzeichen der Pro-fession Soziale Arbeit. Diskursive Reflexe für diese Situation sind etwadie Klagen der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, dass sie zwi-schen vielen unterschiedlichen Stühlen sitzen (vgl. mit einer ähnlichenDiagnose auch Petrov 2000), beispielsweise sowohl (Klienten) helfenwollen als auch von gesellschaftlichen Institutionen (zum Beispiel demRecht) angehalten werden, dieselben zu kontrollieren. Neben dieserwohl prominentesten sozialarbeiterischen Ambivalenz habe ich an an-derer Stelle versucht, weitere solcher Ambivalenzen zu reflektieren(vgl. Kleve 1999, insbesondere S. 237ff.), die ich hier nur nennen kann:Ambivalenz der Kontexte, in denen von Sozialarbeit zugleich oft sehrUnterschiedliches und Widersprüchliches erwartet wird, Ambivalenzvon Berufsarbeit und Nächstenliebe, Ambivalenz von Macht und Ohn-macht, Ambivalenz von Hilfe und Nicht-Hilfe, Ambivalenz von Pro-blem und Lösung, Ambivalenz von Vergangenheit und Zukunft, Ambi-valenz von Ethik und Pragmatik.19

Die zahlreichen sozialarbeiterischen Struktur-Ambivalenzen führenschließlich dazu, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter Schwie-rigkeiten haben, eine eindeutige und klare, eine moderne Identität zukonstruieren. Mein These ist (vgl. Kleve 2000), dass sie dies auch nichtmüssen, wenn sie sich vom modernen hin zum postmodernen Gemüts-und Geisteszustand bewegen (siehe ausführlich 6. Kapitel). Dieser be-trauert nämlich nicht, wie ich bereits oben bezüglich der These, dass diepostmoderne Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst erwachsenist, das Verebben von Einheitserfahrungen, zum Beispiel von klarenIdentitätserfahrungen, sondern bejubelt die Möglichkeiten, die bei Dif-ferenzerfahrungen entstehen, zum Beispiel angesichts multipler bezie-hungsweise Patchwork-Identitäten. Ich gehe sogar so weit und sage,dass die Sozialarbeit die bereits erwähnte und postulierte Haltung der

19 Inzwischen liegen zwei Diplomarbeiten vor, die mit der von mir vorgeschla-genen Methode der Ambivalenzreflexion unterschiedliche sozialarbeiterische Praxisfelder untersuchen, ja erforschen und meine These der strukturellen Ambivalenz Sozialer Arbeit – zumindest für die erforschten Felder Fallarbeit (Geissler 2000) und parteiliche Soziale Arbeit mit Mädchen und Frauen (Ely 2002) – belegen können.

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ironischen Gelassenheit nur erlangen kann, wenn sie sich von der mo-dernen Identitätssuche verabschiedet und ihre ambivalente sozial-struk-turelle Form annimmt, ihre offene Identität experimentell und spiele-risch einsetzt.

III.3 Sozialarbeitswissenschaft als postmoderne, ambivalenzreflexive Wissenschaft

Inzwischen zeigt sich wohl deutlicher denn je, dass auch die Wissen-schaft der Sozialen Arbeit aus mindestens zwei Gründen nur postmo-dern zu haben ist: erstens, weil sie – zumindest, wenn sie sich nichtsvormacht – kaum anderes kann (und damit ist viel gewonnen), als hoch-komplexe Prozesse zu beschreiben und damit Instabilitäten, die die Pra-xis Sozialer Arbeit kennzeichnen, zu konstatieren; zweitens, weil sie alswissenschaftliches Programm in gewisser Weise auf das stößt, was diepostmoderne Philosophie Vernunft im Plural nennt. Beide Aspekte sol-len noch etwas deutlicher heraus gestellt werden.Wir haben bereits mehrfach erwähnt, dass es Soziale Arbeit, zum Bei-spiel hinsichtlich des Verstehens, mit Kontextabhängigkeit und Unab-schließbarkeit zu tun hat. Auch eine Sozialarbeitswissenschaft kanndiese Situation nicht verändern, sie kann der Praxis nicht mehr Sicher-heiten geben, aber sie kann die Unsicherheiten, die Instabilitäten be-schreiben, erklären und als unausweichlich bewerten. Wenn dies derSozialarbeitswissenschaft auf hohem wissenschaftlichen Niveau plau-sibel gelingt, dann hätte sie bereits viel erreicht. Denn sie könnte davonausgehend etwa die politischen Ökonomisierungsansprüche abwehren,die die Soziale Arbeit mit – vielleicht zu trivialen, aber kaum zu nichttrivialen Prozessen passenden – Effektivitäts- und Effizienzansprüchenin die Enge treiben. Wissenschaftlich könnte in dieser Hinsicht gezeigtwerden, was es angesichts instabiler, hoch komplexer Systeme für So-zialarbeiterinnen und Sozialarbeitern heißen könnte, effektiv und effizi-ent zu arbeiten. Die Forderung nach drei notwendigen Einstellungen,die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter spätestens nach dem Studi-um auszeichnen sollte, dürfte dabei sicherlich nicht fehlen; diese Ein-stellungen sind: Ambivalenztoleranz, Kontingenz- und Komplexitätsbe-wusstsein. Schließlich ist die Sozialarbeitswissenschaft auch als strukturelle Grö-ße, also als wissenschaftliche Disziplin innerhalb von Hochschulen

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nicht modern zu haben, sondern lediglich postmodern. Denn das Pro-blem der wissenschaftlichen Sozialen Arbeit war ja schon immer, dasssie für sich keinen klaren Kern, keinen reinen Gegenstandsbereich auf-finden konnte. Soziale Probleme, die man immer wieder als Themen, alsGegenstandsbereiche Sozialer Arbeit bewertet, befinden sich nun wahr-lich nicht in einem reinen Raum, der so etwas wie professional purityerreichbar erscheinen lässt. Vielmehr sind soziale Probleme politischwie wissenschaftlich heiß umkämpfte soziale Sachverhalte, die erstdurch mächtige gesellschaftliche Deutungsprozesse (zum Beispiel auchder Massenmedien) das werden, was sie aus unterschiedlichen Sichtenrecht unterschiedlich sind: eben sozial relevante soziale, psychische undkörperliche Probleme.Will die Wissenschaft der Sozialen Arbeit einen einigermaßen realitäts-nahen Zugang zu den sozialen Problemen ihrer Klienten finden, dannöffnet sie sich für die Pluralität der diesbezüglichen wissenschaftlichenDeutungen und hört darauf, was aus den sozialarbeiterischen Bezugs-wissenschaften Psychologie, Soziologie, Politologie, Jurisprudenz oderÖkonomie zu vernehmen ist. Sozialarbeitswissenschaft wird, will sie ihrThema, eben soziale Probleme, adäquat beobachten, beschreiben, erklä-ren und bewerten, etwas anstreben müssen, was eine Paralogie, aus mo-derner Sicht: eine identitätslogische Unmöglichkeit ist: sie muss zwi-schen den Identitäten der Psychologie, Soziologie, Politologie, Jurispru-denz oder Ökonomie driften, temporal, je nach den Erfordernissen maldie eine Identität annehmen, mal die andere. Dabei kann ihr sicherlichdie postmoderne Vernunftform der Transversalität (vgl. Welsch 1996)behilflich sein. Die postmoderne Notwendigkeit der Transversalität istschließlich eine plausible Erklärung dafür, warum Sozialarbeitwissen-schaft heutzutage eigentlich nicht mehr anders zu denken ist als trans-disziplinär.

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5. Die postmoderne Theorie Sozialer Arbeit

Ein möglicher Blick auf die real- und theorie-historische Entwicklung der Sozialarbeit /Sozialpädagogik

„Ambivalenz ist das mindeste, womit man bei den

gegenwärtigen Weltverhältnissen rechnen muß.“

Wolfgang Welsch (1990, S. 192)

AUSGANGSPUNKTE

Die Geschichte der Sozialen Arbeit kann sehr unterschiedlich erzähltwerden (siehe zu einschlägigen Publikationen Landwehr/Baron 1983;Müller 1988; 1997; Kunstreich 1997; 1998; Wendt 1995; Herring/Münchmeier 2000). In Abhängigkeit davon, von welchen erkenntnislei-tenden Fragestellungen die BetrachterInnen ausgehen, geraten unter-schiedliche Ereignisse in den Blick und können diese jeweils anderseingeschätzt, beschrieben, erklärt und bewertet werden. Ich gehe imFolgenden von der Frage aus, welche geschichtlichen, genauer: real-historischen Bedingungen dazu geführt haben, dass die Soziale Arbeitzu der Profession geworden ist, die wir heute beobachten können.Um diese Frage zu beantworten, möchte ich erstens die reale, empirischbeschreibbare Situation der Sozialen Arbeit zum einen an einem Bei-spiel meiner eigenen bisherigen Praxis und zum anderen theoretisch re-flektiert darstellen. Zweitens sollen die real-historischen und (m.E. nochaktuellen) gesellschaftlichen Probleme aufgespürt werden, auf die dieSoziale Arbeit mit ihrer Entstehung als ein gesellschaftlicher Lösungs-versuch reagierte. Drittens werden in diesem Zusammenhang die theo-retischen Bemühungen hinsichtlich einer Wissenschaft Sozialer Arbeitin den Blick genommen. Dabei soll deutlich werden, dass die Theorie-Geschichte unmittelbar mit der Real-Geschichte Sozialer Arbeit verwo-ben ist. Denn das, was sich in der gesellschaftlichen Situation SozialerArbeit und auch in der sozialarbeiterischen Praxis zeigt, kommt auch inder Theorie Sozialer Arbeit zum Ausdruck: Probleme mit der klaren

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Identifizierung, mit der Eindeutigkeit, mit der Abgrenzung des „Gegen-standes“. Genauso wie die Praxis genügt auch die Theorie Sozialer Ar-beit keinen modernen Postulaten nach klarer Identität, nach Eindeutig-keit, nach klaren Grenzen. Vielmehr ist sowohl sozialarbeiterische Pra-xis als auch sozialarbeiterische Theorie aufgeladen mit Identitätsprengender Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit, kurz: mit Ambiva-lenz.Mit Zygmunt Bauman (1991, S. 13f.) können wir sagen, dass Ambiva-lenz die Möglichkeit bezeichnet, „einen Gegenstand oder ein Ereignismehr als nur einer Kategorie zuzuordnen [...] Die Situation wird ambi-valent, wenn die sprachlichen Werkzeuge der Strukturierung sich als in-adäquat erweisen; entweder gehört die Situation zu keiner der sprach-lich unterschiedenen Klassen oder sie fällt in verschiedene Klassen zu-gleich [...], was immer der Fall ist, das Ergebnis ist das Gefühl derUnentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und infolgedessen des Verlus-tes an Kontrolle.“Soziale Arbeit, als Praxis und als Theorie, erscheint in dieser Weise am-bivalent. Die sozialarbeiterische Ambivalenz verunmöglicht es, dassSoziale Arbeit sich wie andere Professionen und Disziplinen eindeutigpraktisch und theoretisch identifiziert, sie bleibt diesbezüglich eine Pro-fession und Disziplin der Vielfalt, der Pluralität, der Heterogenität, derKomplexität, kurz: eine postmoderne Profession und Disziplin. DennPostmoderne heißt: „Mit Ambivalenz leben“ (Bauman 1991, S. 281),meint aber auch „eine entschlossene Emanzipation von dem charakte-ristisch modernen Drang, die Ambivalenz zu überwinden“ (ebd., S.127), bedeutet also die Akzeptanz von unüberwindbarer Vielfalt, Plura-lität, Heterogenität und Komplexität (vgl. grundlegend dazu Lyotard1979). Während es das Kennzeichen der Moderne ist zu versuchen, per-manent darum zu ringen, Ambivalenz zu beseitigen, sie in Eindeutigkeitzu verwandeln, bezeichnet Postmoderne einen „Gemüts- oder [...] Geis-teszustand“ (Lyotard 1988, S. 294), dem es darum geht, Ambivalenz zuakzeptieren und kreativ zu nutzen (vgl. auch Welsch 1992).Weil ich also erstens davon ausgehe und auch genauer zeigen werde,dass Soziale Arbeit eine ambivalente Profession und Disziplin ist undzweitens für eine Akzeptanz und einen kreativen Umgang mit dieserAmbivalenz plädiere, bezeichne ich meinen theoretischen Blick auf dieSoziale Arbeit als postmodern, lässt sich mein Theorieverständnis So-zialer Arbeit als postmodern charakterisieren.

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Wie eingangs bereits erwähnt, will ich in drei Schritten die Ambivalenzund damit die Postmodernität der Sozialen Arbeit darstellen, und zwar– in einem ersten Schritt – ausgehend von der ambivalenten Realität derSozialen Arbeit, die ich zunächst beispielhaft und dann auch theoretischabstrakter beschreiben möchte (I.). Diese ambivalente Realität wird imzweiten Schritt in einen real-historischen Kontext gestellt. Damit solldeutlich, soll erklärt werden, dass die Soziale Arbeit an dem Punkt derEntwicklung der modernen Gesellschaft entstanden ist, an dem die pro-blematische Seite des Fortschritts, an dem der Januskopf der Moderneeine eigene Profession, nämlich die Soziale Arbeit nötig machte (II.).Im dritten Schritt wird schließlich die Theorie- und Wissenschaftsent-wicklung Sozialer Arbeit betrachtet, um zu zeigen, dass die Problemebei der Bildung der Sozialarbeitswissenschaft ebenfalls aus dem Ur-sprung der Sozialen Arbeit aus der Ambivalenz der Moderne hervorge-hen und dass die Soziale Arbeit eine ambivalenzreflexive, postmoderneund transdisziplinäre Wissenschaft benötigt (III).

I. AMBIVALENTE REALITÄT SOZIALER ARBEIT

Wenn wir uns beispielsweise das Handlungsfeld anschauen, in dem ichu.a. gearbeitet habe, nämlich die als aufsuchende Soziale Arbeit durch-geführte Wiedereingliederungshilfe (in Berlin Einzelfallhilfe genannt)für „psychisch kranke Menschen“, dann kann die Ambivalenz SozialerArbeit sehr schnell deutlich werden. Die HelferInnen arbeiten in diesem Bereich mit KlientInnen unter-schiedlichen Alters, die häufig schon jahrelang Sozialhilfe beziehen,bei denen Ärzte und Psychologen verschiedene körperliche und psychi-sche Krankheiten diagnostiziert haben. Die meisten dieser KlientInnenhaben bereits kürzere oder längere Krankenhaus- beziehungsweise Psy-chiatrieaufenthalte hinter sich. Sie sind zudem häufig verschuldet undhaben wenig soziale Kontakte. Bei diesen KlientInnen handelt es sichum Personen, die oft von sich selbst glauben, dass ihnen nicht mehr ge-holfen werden kann, geschweige denn, dass sie sich selbst nachhaltighelfen können. Denn sie haben die unterschiedlichsten Professionen(insbesondere die Medizin und die Psychologie) erfolglos durchlaufen,ohne dass sich ihr Zustand wesentlich gebessert hat. Wenn dann Sozi-alarbeiterInnen vom Sozial- und vom Gesundheitsamt beauftragt wer-

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den, als Einzelfallhelfer tätig zu werden, dann konnten in der Regel an-dere Professionen nicht mehr helfen beziehungsweise können nochnicht (wieder) helfen.Daher scheint es so zu sein, dass SozialarbeiterInnen in diesem Arbeits-feld tätig werden, wenn die Probleme der Menschen so komplex, viel-fältig und diffus werden, dass der spezialisierte Blick der klassischenProfessionen nicht mehr oder noch nicht ausreicht. Die Situation istdann zumeist so, dass sich so viele Probleme (Krankheiten, insbesonde-re Süchte, Ängste, Schulden, Isolation etc.) kumuliert haben, dass Sozi-alarbeiterInnen in Zusammenarbeit mit den KlientInnen erst einmal ei-nen Überblick herstellen, Prioritäten setzen, neue Kontakte knüpfen etc.Dabei haben sie in der Regel dreierlei im Auge zu behalten: erstens:psychische Schwierigkeiten und Belastungen, zweitens: soziale Proble-me und drittens: gesundheitliche Themen. Sie können bezüglich derdrei Ebenen Psychisches, Soziales und Biologisches (Gesundheitliches)keine Ebene vernachlässigen, alle Ebenen sind in ihrer Arbeit relevant(siehe die folgende Übersicht 1).Wenn wir überdies in Anlehnung an Kurt Ludewig (1993, S. 123) ver-suchen würden, für die sozialarbeiterische Tätigkeit, die in diesem so-zialpsychiatrischen Bereich ausgeübt wird, einen eindeutigen Oberbe-griff zu finden, wird es ebenfalls schwierig. Ludewig unterscheidet hel-fende Tätigkeiten in vierfacher Weise, und zwar in Anleitung, Beratung,Begleitung und Therapie mit jeweils unterschiedlichen Aufträgen/Funktionen. Demnach geht es in der Anleitung darum, KlientInnen dabeizu helfen, dass diese ihre Möglichkeiten (etwa der Problemlösung) er-weitern können; während der Beratung soll dabei geholfen werden, dievorhandenen Möglichkeiten zu nutzen; die Begleitung unterstützt dabei,dass eine nicht veränderliche Lage (zum Beispiel bezüglich einer Be-hinderung) ertragen werden kann; und schließlich hat die Therapie dasZiel, Gesundung zu erreichen, mithin Leiden zu beenden. In meiner Tätigkeit als sozialpsychiatrischer Einzelfallhelfer, leitete ichzwar an, aber nicht nur, beriet ich, aber nicht nur, begleitete ich auch,aber nicht nur, ja ich therapierte manchmal sogar, aber wiederum nichtnur. In diesem Bereich kann keine Entweder/Oder-Haltung eingenom-men werden, sondern es wird ein Sowohl-Als-Auch im Hinblick aufBeratung, Betreuung, Begleitung und Therapie gefordert. Das, was ge-tan wird, kann nicht nur in eine Kategorie eingeordnet werden; vielmehrtreffen alle Kategorien zu, um diese Tätigkeit zu beschreiben. Konkret

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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Übersicht 1

heißt das dann etwa, dass Menschen mit den beschriebenen Problemenangleitet werden, zum Beispiel um einen Antrag auf Erwerbsunfähig-keitsrente zu stellen, dass sie Beratung erfahren, zum Beispiel bezüglichihrer Möglichkeiten, ihre Schulden zu tilgen, dass sie begleitet werden,zum Beispiel um die Ängste beim Einkaufen, auf dem Sozialamt oderin Arztpraxen zu ertragen oder dass mit ihnen therapeutisch gearbeitetwird, zum Beispiel um – etwa im Sinne der Kurzzeittherapie (zum Bei-spiel nach Insoo Kim Berg 1992) – ein Alkoholproblem anzugehen (sie-he auch Übersicht 2).

Biologisches Psychisches Soziales

Fokus gesundheitliche Fragen, körperli-che/physische Bedürfnisse

psychische/emoti-onale Fragen, psy-chische/emotio-nale Bedürfnisse

soziale Fragen, soziale Bedürf-nisse

Beispiele Ausstattung mit (gesunder) Nah-rung, Kleidung, Wohnraum etc.; (angemessener) Umgang mit dem eigenen Körper, mit Krankheiten etc.

kognitive und emotionale Bewäl-tigung/Verarbei-tung von Ereignis-sen (Ängste, Süchte etc.)

soziale Beziehun-gen in der Familie oder durch Freunde (Integra-tion); Zugang zu sozial-ökonomi-schen Ressourcen (Inklusion)

Methodische Orientierung I

Gleichzeitigkeit der Beachtung der unterschiedlichen (bio-psycho-sozialen) Ebenenim sozialarbeiterischen Handeln

Methodische Orientierung II

Gleichzeitigkeit der Beachtung der unterschiedlichen (bio-psycho-sozialen) Ebenenim sozialarbeiterischen Blick

(zum Beispiel im Sinne von Case Management: Koordina-tion unterschiedlicher Hilfen)

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DIE POSTMODERNE THEORIE SOZIALER ARBEIT

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Übersicht 2

Mit dem psychischen, sozialen und biologischen Bezug Sozialer Arbeit,mit der bio-psycho-sozialen Perspektive und den Begriffen Anleiten,Beraten, Begleiten und Therapieren ist das Handlungsspektrum der So-zialen Arbeit aber noch keineswegs endgültig beschrieben. Denn darü-ber hinaus wird in der Sozialarbeit betreut, kontrolliert, normalisiert, in-tegriert, inkludiert, erzogen, gebildet, verwaltet usw. usf. (siehe zu einerempirisch gewonnen Liste von 35 Begriffen Klüsche 1994, S. 93). Die-ser Befund der Ambi- besser: Polyvalenz kann auch ausgehend von ei-ner empirischen Studie zum Selbstverständnis von SozialarbeiterInnen

Anleitung Beratung Begleitung Therapie

Auftrag/Funktion

„Hilf uns, unsere Mög-lichkeiten zu erweitern!“

„Hilf uns, unsere Mög-lichkeiten zu nutzen!“

„Hilf uns, unsere Lage zu ertragen!“

„Hilf uns, unser Leiden zu beenden!“

Beispiele Hilfe bei Antrag-stel-lungen; Ver-mittlung von Informatio-nen bezüg-lich bestimmter Rechts-ansprüche etc.

Hilfe bei der Tilgung von Schulden; Erkennung und Nutzung eigener psy-chischer und/oder sozialer Ressourcen des Verhal-tens oder der Lebenswelt etc.

Hilfe beim Aushalten von Ängsten oder beim Umge-hen mit nicht veränderlichen Lebensumstän-den (zum Bei-spiel körperli-che oder psy-chische Krankheiten und/ oder Behinderun-gen)

Hilfe bei der Therapie von Süchten/Abhängig-keiten etc.

Methodische Orientierung I

Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Hilfeartenim sozialarbeiterischen Handeln

Methodische Orientierung II

Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Hilfearten imim sozialarbeiterischen Blick

(zum Beispiel im Sinne von Case Management: Koordination unterschiedlicher Hilfen)

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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und SozialpädagogInnen, die Wilhelm Klüsche (1994, S. 92) durchführ-te, bestätigt werden. Demnach ist das, was diese Professionellen leisten,„tatsächlich schwer zu operationalisieren, da die Fülle an beruflichenTätigkeiten, die zu übernehmen sind, in eine Vielzahl von Einzelaktivi-täten zerfallen“. Das, was wir als SozialarbeiterInnen tun, scheint so am-bivalent zu sein, dass uns eindeutige Klassifizierungen und homogenetheoretische Konzepte zu fehlen scheinen, um unsere Praxis zu beschrei-ben, zu erklären und zu bewerten.Bereits Alice Salomon (1928, S. 139f.) konstatierte diese Schwierigkeitund sah sie darin begründet, dass Soziale Arbeit sich auf die „Einheitdes Menschen“ bezieht: „So notwendig es aber auch ist, die verschiede-nen Erscheinungsformen der Not und ihre Ursachen deutlich zu erfas-sen, so vergewaltigt doch alle begriffliche Formulierung und Einteilungdas Leben in seiner Einheit und Mannigfaltigkeit. Der Mensch, dem alleWohlfahrtspflege gilt, ist ein unteilbares Wesen (Individuum das heißtUnteilbares). Man kann seine wirtschaftlichen, geistig sittlichen und ge-sundheitlichen Bedürfnisse nicht voneinander lösen und als gesonderteAngelegenheiten betrachten. Der Notstand, in dem ein Mensch sich be-findet, die soziale Schwierigkeit, die ihn trifft, hängen meist mit denverschiedenen Seiten seines Wesens zusammen. Die Ursachen der Notsind oft ebenso unlösbar miteinander verknüpft, wie die menschlichenBedürfnisse es sind. Man kann die Wirtschaft eines Menschen nichtvöllig von seiner Gesundheit und Bildung ablösen. Man kann seine Er-ziehung und Bildung nicht ohne Rücksicht auf berufliche und wirt-schaftliche Zwecke gestalten. Man kann seine Gesundheit nicht för-dern, wenn es ihm an Einsicht und Willen, an geistigen und sittlichenKräften fehlt und wenn die Wirtschaftslage eine gesunde Lebensweisezunichte macht. Darum ist der Mensch in seiner Einheit Gegenstand derWohlfahrtspflege, nicht seine wirtschaftliche Lage oder seine Gesund-heit oder seine Sittlichkeit.“Dass Soziale Arbeit nach Alice Salomon „die Einheit des Menschen“betrachtet und an dieser Einheit auch praktisch ansetzt, will ich mit demKonzept des doppelten Generalismus Sozialer Arbeit noch einmal dif-ferenzierter veranschaulichen. Im Sinne dieses Konzepts kann die Sozi-ale Arbeit als spezialisiert generalistisch und als universell generalis-tisch betrachtet werden (siehe dazu auch Übersicht 3).

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DIE POSTMODERNE THEORIE SOZIALER ARBEIT

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I.1 Spezialisierter Generalismus

Der spezialisierte Generalismus bezieht sich auf die Ambivalenz, dieVielfalt und Komplexität des (interaktiven und organisatorisch einge-bundenen) sozialarbeiterischen Handlungsbezugs, auf die Heterogeni-tät des sozialarbeiterischen Fallbezugs. Wie Klüsche (1994, S. 77) fest-stellt, sind die Tätigkeiten, die in der Sozialen Arbeit in den unter-schiedlichen Handlungsfeldern jeweils erbracht werden, „komplex undunscharf“. Diese Komplexität und Unschärfe resultiert zum einen dar-aus, dass Soziale Arbeit auf unterschiedlichen sozialen Ebenen ansetzt,auf der Ebene des Individuums oder der Familie (Einzel- und Familien-arbeit), auf der Ebene der Gruppe (soziale Gruppenarbeit) und auch aufeiner sozialstrukturellen Ebene, zum Beispiel eines Gemeinwesens(Gemeinwesenarbeit). Diesbezüglich ist Sozialarbeit sowohl individu-al- als auch sozialsystem-orientiert (vgl. Kleve 1999, S. 120ff./124ff.);mit anderen Worten, sie hat sowohl psychisch-individuelle als auch so-ziale Systeme im Blick und ist daher eine psycho-soziale Praxis. Aufdiesen doppelten Fokus von Individual- und Sozialsystemorientierung,von Verhaltens- und Verhältnisänderung verweist ebenfalls bereits Ali-ce Salomon (1928, S. 133), wenn sie schreibt, dass „Wohlfahrtspflege[...] mit der wechselseitigen Anpassung von Menschen und Lebensum-ständen zu tun [hat]. Sie hat entweder Individuen zu fördern oder zu be-einflussen, damit sie sich in ihrer Umwelt bewahren, oder sie hat Le-bensumstände, die Umwelt der Menschen so zu gestalten, daß sie da-durch geeigneter für die Verfolgung ihrer Lebenszwecke werden“.Genau genommen ist hier jedoch nicht ein Entweder/Oder gefragt;vielmehr wird eine Haltung des Sowohl-Als-Auch bezüglich Individu-al- und Sozialsystemorientierung eingenommen.Aber nicht nur die psychischen und sozialen, sondern auch die biologi-schen Systeme sind beispielsweise bezüglich der körperlichen Gesund-heit potentielle Themen der Sozialen Arbeit, wie wir gesehen haben.Soziale Arbeit hat also biologische, psychische und soziale Bedürfnisseim Blick und thematisiert die Probleme, die entstehen, wenn Menschenaus jenen gesellschaftlichen Systemen ausgeschlossen (exkuldiert)sind, welche ihnen in dieser Hinsicht die notwendige Bedürfnisbefrie-digung sichern. Soziale Arbeit versucht durch ihre Hilfe die Chancen ei-ner Wieder-Teilnahme (Re-Inklusion) in die sozialen Systeme der bio-logischen, psychischen und sozialen Bedürfnisbefriedigung (zum Bei-

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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spiel Wirtschaft, Erziehung/Bildung, Politik) zu erhöhen. Dabei kannsie sowohl am Verhalten der Menschen selbst als auch an den sozialenVerhältnissen ansetzen.

I.2 Universeller Generalismus

Der universelle Generalismus bezieht sich auf die Heterogenität des so-zialarbeiterischen Gesellschaftsbezugs, auf die Vielfalt der Aufgabendes gesellschaftlichen Funktions- und Berufssystems Soziale Arbeit.Wie Wilhelm Klüsche (1994, S. 76) feststellt, ergibt sich ein „Er-schwernis für die Ausbildung eindeutiger Konturen [...] aus der Vielfaltder Arbeitsfelder [in der Sozialen Arbeit; H.K.]. In der Regel sind be-rufliche Identitäten dadurch geprägt, daß umschriebene Arbeitsbereichespeziellen Berufsgruppen eindeutig zugeordnet werden können. Sozial-arbeiter /Sozialpädagogen arbeiten aber in sehr unterschiedlichen Tä-tigkeitsfeldern und Institutionen“. Wenn wir den Gesellschaftsbezugder Sozialen Arbeit betrachten, dann sehen wir, dass sich Soziale Arbeitpotentiell auf alle Bevölkerungsgruppen – gewissermaßen von der Ge-burt bis zum Tod – bezieht. So hilft Soziale Arbeit – als Prävention, In-tervention (Kuration) und Postvention (Rehabilitation) – jungen, er-wachsenen und alten Menschen, armen, süchtigen, behinderten, ob-dachlosen, kranken oder schuldenbelasteten Menschen und thematisiertderen Schwierigkeiten. Die Soziale Arbeit ist mittlerweile gesell-schaftsweit tätig. Ein Markenzeichen ist ihr gesellschaftsweiter Bezug,der nicht ausschließlich auf die „armen“ Bereiche der Gesellschaft ver-weist, sondern sich durch alle Bevölkerungsgruppen und -lagen, durchalle Lebenswelten hindurchzieht. So wird bereits im Jahrbuch der So-zialarbeit von 1978 diagnostiziert, dass die „‚Klientel‘ sozialer Arbeit[...] nicht mehr nur der randständige Jugendliche, der Kranke, der Kri-minelle [ist], sondern [...] tendenziell alle Teile der Bevölkerung. Durchden Ausbau öffentlicher Vorschulerziehung, durch die Ausweitung vonJungendbildungsmaßnahmen, durch den Ausbau von Familien-, Eltern-und Erziehungsberatung wird jeder tendenziell zu Klientel der Sozial-arbeit“ (zit. n. Schumann 1979, S. 69).

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DIE POSTMODERNE THEORIE SOZIALER ARBEIT

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Übersicht 3

Doppelter Generalismus Sozialer Arbeit

Soziale Arbeit als gesellschaftliches Berufs- und Funktionssystem

Soziale Arbeit als organisatorisches und interaktionelles Handlungssystem

Universeller Generalismus: Heteroge-nität des sozialarbeiterischen Gesell-schaftsbezugs

Spezialisierter Generalismus: Hetero-genität des sozialarbeiterischen Fall-bezugs

Prävention

Intervention

Postvention

Einzelfallarbeit(case-work, case-management)

Gruppenarbeit

Gemeinwesenarbeit

Sozialhilfe

Kinder- und Jugendhilfe

Familienhilfe

Behindertenhilfe

Obdachlosenhilfe

Suchthilfe

Krankenhilfe

Schuldnerhilfe

Rechtshilfe

Altenhilfeetc.

Biologischesinsb. Bedürfnisse,Körperfunktionen und -entwicklun-gen, Gefühle, Ökologisches etc.

Psychischesinsb. Bedürfnisse,Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Einstellungen, kognitive Entwicklungen etc.

Sozialesinsb. Bedürfnisse,Familiäres, Erzieherisches, Bildendes, Ökonomisches, Politisches, Rechtli-ches, Religiöses (Spirituelles), Künst-lerisches, Wissenschaftliches etc.

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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II. AMBIVALENZ DER MODERNE ALS REAL-HISTORISCHER URSPRUNG SOZIALER ARBEIT

Ich komme jetzt zur Frage, auf welche gesellschaftliche Situation, aufwelches gesellschaftliche Problem die Soziale Arbeit eine Antwort ist.Um diese Frage zu beantworten, sollen einige ausgewählte Aspekte derGeschichte der professionellen Sozialen Arbeit betrachtet werden.Bei den GeschichtsschreiberInnen der Sozialen Arbeit scheint darin Ei-nigkeit zu bestehen, dass die professionelle Soziale Arbeit, also sozial-arbeiterische Berufstätigkeit in der Zeit um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert entstanden ist. In dieser Zeit wurden etwa die ersten Schu-len gegründet, in denen Sozialarbeiterinnen (zunächst fast ausschließ-lich Frauen) ausgebildet wurden. Beispielsweise entstand auf Initiativevon Alice Salomon 1908 in Berlin eine soziale Frauenschule.Der Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert wird als der Zeitpunkt ange-sehen, an dem sich die soziale Hilfe von einer primär moralisch oder re-ligiös inspirierten „Mildtätigkeit“ (Luhmann 1973) deutlich zu wandelnbegann in die professionelle Soziale Arbeit, die wir heute kennen. Zu-gleich gilt diese Jahrhundertwende als Zeit, in der sich die moderne Ge-sellschaft als eine funktional differenzierte Gesellschaft (vgl. Luhmann1997) vollendete. Die professionelle Soziale Arbeit entstand also zu ei-ner Zeit, in der sich das Projekt der Moderne vollends in Europa undNordamerika etablierte.Die Moderne lässt sich als eine historische Periode kennzeichnen, „diein Westeuropa mit einer Reihe von grundlegenden sozio-kulturellenund intellektuellen Transformationen des 17. Jahrhunderts begann undihre Reife erreichte: (1) als ein kulturelles Projekt – mit dem Entstehender Aufklärung; (2) als eine sozial vollendete Lebensform – mit demEntstehen der industriellen [...] Gesellschaft“ (Bauman 1991, S. 348,Anm. 1). Ein Markenzeichen der Moderne ist das permanente Ringenum Ordnung, Eindeutigkeit, Rationalisierung, Kontrolle, Klassifizie-rung und Bestimmung, also um Ambivalenzfreiheit. Ein Ergebnis die-ses Ringens ist die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in voneinandergetrennte funktionale Systeme, die jeweils eigenständige Aufgaben fürdie gesamte Gesellschaft bearbeiten und jeweils eigenständige Codesund Medien zur Kommunikation heraus gebildet haben (siehe dazu diefolgende Übersicht 4).

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DIE POSTMODERNE THEORIE SOZIALER ARBEIT

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Übersicht 4

Ein damit einhergehendes Ergebnis ist die Differenzierung in Professi-onen, die Spezialisierung bestimmter Berufsgruppen für bestimmte,klar ein- und abgrenzbare gesellschaftliche Probleme (vgl. Stichweh1992; 1996). So zerteilen die klassischen Professionen – zum BeispielMedizin, Psychologie und Jurisprudenz – das, was Alice Salomon die„Einheit des Menschen“ genannt hat, in unterschiedliche Zuständig-keitsbereiche: Die Medizin bezieht sich auf die mit der Biologie zusam-men hängenden Themen, mithin auf das Körperliche des Menschen, diePsychologie auf das Psychische und die Jurisprudenz auf die Regelnund die Regelung des Sozialen, des zwischenmenschlichen Zusammen-lebens (siehe Übersicht 5).

Übersicht 5

Funktionssystem Code (Kommunikations-) Medium

Wirtschaft Zahlen/Nichtzahlen Geld beziehungsweise Eigentum

Recht recht /unrecht Recht (=Gesetze, Entscheidungen)

Wissenschaft wahr/unwahr Wissenschaftliche Erkenntnisse

Medizin gesund/krank Diagnose/Behandlung

Politik Macht /Ohnmacht Macht (öffentliche Ämter)

Religion Immanenz/Transzendenz Glaube

Erziehung/Bildung

gute/schlechte Zensuren „Das Kind“ beziehungs-weise Bildung

Medizin Psychologie Recht

Bezugspunkt Biologisches Psychisches Soziales

Funktion körperliche Gesundheit

psychische Gesundheit

Regelung des Sozialen

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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Was die moderne Gesellschaft ausmacht, ist also die Differenzierungund Spezialisierung der Aufgabenbereiche und die formal organisiertesowie bürokratisierte Strukturierung dieser Bereiche.Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde nun auch versucht, soziale Hilfe,also Armen- und Jugendfürsorge, Hilfe für kranke und behinderte Men-schen, für Menschen, die ihre biologischen, psychischen und sozialenGrundbedürfnisse nur angesichts der Hilfe anderer Menschen befriedi-gen können, zu modernisieren. So wurden bis hinein in die 1920er Jahrein den Städten Deutschlands die unterschiedlichsten sozialen Verwaltun-gen etabliert: das Wohnungsamt, Gesundheitsamt, Jugendamt, Wohl-fahrtsamt und Arbeitsamt (vgl. Salomon 1928, S. 141). Zusätzlich zu die-sen Einrichtungen forderte Alice Salomon den Ausbau der Sozialen Ar-beit auf den Gebieten der sozialen Erziehungsarbeit für Erwachsene, derVolksbildungsarbeit und der Familienfürsorge (ebd., S. 143f.).Das Spezielle der Sozialen Arbeit auf allen ihren unterschiedlichen Ge-bieten ist nun jedoch ein Prinzip, das der Differenzierungs- und Spezi-alisierungsordnung der Moderne entgegen läuft: nämlich den Menschenals Einheit beziehungsweise – wie ich im letzten Abschnitt ausgeführthabe – aus einer doppelt generalistischen, einer gesellschaftsweiten undbio-psycho-sozialen Perspektive zu betrachten. Die moderne Differen-zierungs- und Spezialisierungsordnung überantwortet biologische, psy-chische und soziale Probleme des Menschen jeweils unterschiedlichenProfessionen. Dieser Ordnung widerstrebt die Soziale Arbeit, jedes ihrerArbeitsgebiete muss „von den verschiedensten Gesichtspunkten aus be-trachtet werden [...]“ (ebd., S. 144). Denn in allen diesen Arbeitsberei-chen zeigt sich „die Unteilbarkeit des Menschen, der Zusammenhangseiner Bedürfnisse“ (ebd.). Wenn wir Spezialisierung und Generalismusals entgegen gesetzte Pole betrachten, dann lässt sich die Entstehung derSozialen Arbeit als paradoxer Prozess bewerten: Ihre Spezialisierung istihre Ent-Spezialisierung, ihr Generalismus. Diese spezialisierte Entspezialisierung, dieser Generalismus der Sozia-len Arbeit soll als ein Lösungsversuch des Problems der Ambivalenzder Moderne bewertet werden. Diese Ambivalenz drückt sich darin aus,dass die moderne Gesellschaft mit ihren Prinzipien der Differenzierungund Spezialisierung zwar angetreten ist, um Lösungen auf gesellschaft-liche Probleme zu erzielen, sie produziert mit diesen Prinzipien jedochzugleich Probleme. Auf diese Probleme reagiert nun die Soziale Arbeit,und zwar zum einen bezüglich der Ambivalenzen, die mit der funktio-

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nalen Differenzierung der Gesellschaft entstehen und zum anderen be-züglich der Probleme, die mit der professionellen Spezialisierung ein-her gehen.

II.1 SOZIALE ARBEIT ALS REAKTION AUF DIE AMBIVALENZEN FUNKTIONALER DIFFERENZIERUNG

Modernisierung der Gesellschaft heißt zunächst Auslagerung von ge-sellschaftlichen Aufgaben aus der Lebenswelt der Menschen hinein informal organisierte gesellschaftliche Systeme, heißt Differenzierungund Zergliederung der Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme(vgl. dazu sowohl Habermas 1981 als auch Luhmann 1997). Gewirt-schaftet wird also nicht mehr im eigenen Haus, nicht mehr durch Fami-lienarbeit, sondern in kapitalistischen Betrieben, erzogen und gebildetwerden die Kinder nicht mehr (nur) durch die Eltern, sondern in Kinder-gärten und Schulen.Zur Zeit der Entstehung der Sozialen Arbeit war es insbesondere dieDynamik des gesellschaftlichen Teilsystems Wirtschaft, das Problemeproduzierte, die selbst nicht mehr durch dieses System oder durch ande-re gesellschaftliche Systeme (zum Beispiel durch die Kirchen) lösbarwaren. Deshalb wollen wir beispielhaft vor allem dieses System be-trachten, um die Ambivalenzen in den Blick zu bringen, die zur Entste-hung der professionellen Sozialen Arbeit führten.Die Wirtschaft differenzierte sich im Rahmen der Industrialisierung,der Kapitalisierung der Gesellschaft als ein System heraus, das nach ei-genen, von den Lebenswelten der Menschen entfremdeten Gesetzen ge-steuert wird. Nicht die menschlichen Bedürfnisse leiten dieses Systeman, sondern die Gesetze der Kapitalmaximierung, wie wir dezidiert beiKarl Marx (1890) nachlesen können. Dieses System produziert Proble-me und lagert diese Probleme in die gesellschaftliche Umwelt aus. Ge-nau auf diese Probleme, die wir uns genauer anschauen wollen, reagier-te mit ihrem Entstehen die Soziale Arbeit.Im 19. Jahrhundert wuchsen im Zuge der Industrialisierung die Städte,immer mehr Menschen wanderten aus den ländlichen Gegenden in dierasant anwachsenden Städte der Arbeit nach. Wie Christoph Sachsseund Florian Tennstedt am Beispiel der Entstehung des „Elberfelder Sys-tems“ der Armenfürsorge beschreiben, wuchs die Stadt Elberfeld in der

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1. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer großen Industriestadt heran.Weil Elberfeld „1800 nur etwa 12.000, 1852 schon 50.364 und 1885106.492 Einwohner zählte, gehörte [sie] zu den am raschesten empor-wachsenden Fabrikstädten Deutschlands“ (zit. nach Kunstreich 1997,S. 75). Die Wirtschaft schaffte also Arbeitsplätze und suchte mithin Ar-beitskräfte, zog sie auch dort hin, wo die Fabriken waren, produzierteaber zugleich Arbeitslosigkeit und damit Einkommensarmut. Arbeitslo-sigkeit und damit Geldmangel, -not, und -armut sind die sozialen Pro-bleme, die die Industrialisierung, die Kapitalisierung der Gesellschaftim gleichen Maße produziert(e) wie Reichtum, wie Kapital. Und dieseProbleme wurden von der Wirtschaft selbst nicht bearbeitet, sie wurdenvielmehr aus ihrem Blick exkludiert. Die Menschen fühlten sich dahermit ihren Problemen der Armut auf sich selbst zurück geworfen.Auch die religiös inspirierte kirchliche Armenfürsorge brach – wie etwaexemplarisch am Beispiel von Elberfeld gesagt werden kann – mit demAnwachsen dieser Probleme zusammen. Die Summe des Hilfebedarfs„und die Zahl der Unterstützung suchenden Personen“ (ebd.) wuchsen„in so erheblicher Weise [...], daß die kirchliche Armenpflege in einebürgerliche Armenpflege umgestaltet werden mußte“ (ebd.). Mit derEtablierung der bürgerlichen Armenpflege, beispielsweise mit der Eta-blierung des „Elberfelder Systems“ (1853) begann die Modernisierungdes Armenwesens, die Rationalisierung sozialer Hilfe, kurz: die Entste-hung moderner Sozialer Arbeit, die dann beispielsweise im StraßburgerSystem (in Form von bezahlten Berufsarmenpflegern) bereits deutlichwurde (vgl. Kunstreich 1997, S. 77).Timm Kunstreich (1997, S. 70) bezeichnet dieses entstehende erste Sys-tem Sozialer Arbeit als ein re-aktives Modell, in dem Prinzipien der Ra-tionalisierung und Individualisierung, der Professionalisierung und derKolonialisierung durchgesetzt wurden. Rationalisierung und Individu-alisierung meinen die Verwandlung sozialer Ereignisse in individuelleDefizite; Professionalisierung bezeichnet die Vermittlung dieser Ver-wandlung, dieser Transformation in sozialen Verwaltungsinstitutionen;und Kolonialisierung kennzeichnet die Ausdifferenzierung „sozialerZensuren“, mithin dass Hilfe also zugleich eine Devianzkontrolle, einekontrollierende Durchsetzung sozialer Normen bedeutet.Aber auch ein zweites System der Sozialen Arbeit bildete sich heraus,und zwar ebenfalls in der Zeit des späten 19. Jahrhunderts, beispielswei-se in den USA, maßgeblich entwickelt von Jane Addams (1860-1935)

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in Chicago (vgl. dazu auch Staub-Bernasconi 1995, S. 43ff.) Hier rea-gierte man auf die anwachsende Armut, insbesondere der EinwanderIn-nen mit einem – wie Kunstreich (1997, S. 111) formuliert: pro-aktivenModell Sozialer Arbeit. Dieses Modell ist gekennzeichnet durch Prinzi-pien wie Aktivierung, Solidarisierung und Selbstregulierung. Aktivie-rung kennzeichnet das Bestreben, ein soziales Ereignis zu einem exis-tenziell wichtigen Thema zu erklären. Dieses Thema regt Solidarisie-rung an, führt dazu, dass etwas „gemeinsames Drittes“ entsteht, dassowohl die armen Menschen selbst als auch die HelferInnen zu gemein-samen Taten aktiviert. Schließlich erwächst daraus eine Selbstregulie-rung, die Menschen anregt, selbst mächtig zu werden (Empowerment),sich gegenseitig zu unterstützen und für soziale Verbesserungen zukämpfen.Abstrahiert von diesen beiden unterschiedlichen Reaktionsweisen Sozi-aler Arbeit auf die mit der Industrialisierung anwachsende Armut, lässtsich fest halten, dass die Entstehung der professionellen Sozialen Arbeitoffenbar aus zwei Prozessen resultiert:Erstens entsteht professionelle Soziale Arbeit aus den Prozessen derModernisierung der Wirtschaft, der Industrialisierung. Diese Prozesseführten zu einer Mobilisierung und Flexibilisierung der Menschen, zumBeispiel in Form von Landflucht, die die Industriestädte explosionsartiganwachsen ließ oder zur Auswanderung nach Übersee, meist in die USA(vgl. Kunstreich 1997, S. 72). In diesem Zusammenhang, so können wirganz allgemein formulieren, entstand die professionelle, also säkulari-sierte und in Berufsarbeit geleistete Soziale Arbeit. Soziale Arbeit kannals Versuch bewertet werden, die durch gesellschaftliche, insbesonderewirtschaftliche Modernisierung auseinander fallenden primären famili-är-lebensweltlichen Bezüge durch materielle und ideelle Hilfeleistun-gen zu kompensieren. So diagnostiziert auch Alice Salomon (1928, S.137): „Die Menschen sind von der Scholle losgelöst. Sie müssen der Ar-beit dorthin nachwandern, wo sie Gelegenheit zum Unterhalt finden. DieFamilie ist aufgerissen. Wie Flugsand, wie Blätter, die im Winde ver-weht werden, treibt die Arbeit sie von Ort zu Ort“. Dies führe nicht nurzu psycho-sozialen Entwurzelungserscheinungen, die „geistig-sittlicheNot“ (ebd.) mit sich brächten, auch „wirtschaftliche Not“ (ebd.), Armutwird produziert. Denn: „Der wirtschaftliche Anhalt, den früher Familieund Arbeitsverhältnis dem Einzelnen in Zeiten persönlicher Schwierig-keiten boten, besteht oft nicht mehr“ (ebd.). Hier seien nun „allgemeine

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Maßnahmen der Wohlfahrtspflege“ (ebd.) notwendig, um die Lücke zuschließen, wie man sagen könnte, zwischen individuellen Hilfe-Not-wendigkeiten und familiär-lebensweltlichen Hilfe-Möglichkeiten.Wir können aber auch sehen, dass nicht nur wirtschaftliche NotlagenSoziale Arbeit nötig machen, sondern dass sämtliche FunktionssystemeProbleme produzieren, die sie selbst nicht mehr bearbeiten können, diesie in ihre Umwelt auslagern und die von der Sozialen Arbeit aufgegrif-fen werden. Dabei wird deutlich, dass diese Probleme so unlösbar mit-einander verknüpft sind, wie die menschlichen Bedürfnisse selbst unddaher die bereits mehrmals erwähnte Perspektive von Alice Salomon er-fordern, nämlich an der „Einheit des Menschen“ anzusetzen. PeterFuchs und Dietrich Schneider (1995) meinen genau diese unlösbareVerknüpfung der von der Sozialen Arbeit zu bearbeitenden Probleme,wenn sie bezüglich des Funktionssystems Soziale Arbeit vom „Haupt-mann-von-Köpenick-Syndrom“ funktionaler Differenzierung sprechen.Denn bekanntlich kann die Figur von Carl Zuckmayer, der Hauptmannvon Köpenick, sich polizeilich nicht anmelden, weil sie keine Arbeithat, und Arbeit kann sie nur bekommen, wenn sie polizeilich gemeldetist. Mit anderen Worten, der Ausschluss (die Exklusion, zum Beispielaus der Wirtschaft in Form von Arbeitslosigkeit) aus einem Systemführt zu weiteren Ausschlüssen, so dass die davon betroffenen Personenmehr oder minder stark aus weiteren Teilen der Gesellschaft ausge-schlossen werden: „Generalbeispiel ist hier, daß mangelnde Zahlungs-möglichkeiten Chancen aktiver Inklusion in fast allen Inklusionsdomä-nen [in fast allen Funktionssystemen; H.K.] mindern“ (ebd., S. 209f.).Luhmann (1997, S. 630f.) formuliert diesen Effekt noch deutlicher,wenn er schreibt: „Denn die faktische Ausschließung aus einem Funk-tionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keinestabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtli-chem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen vonKarnevalveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und me-dizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränktdas, was in anderen Systemen erreichbar ist und definiert mehr oder we-niger große Teile der Bevölkerung, die häufig auch wohnmäßig sepa-riert und damit unsichtbar gemacht werden“. Auf die Möglichkeit sol-cher Exklusionslagen reagiert Soziale Arbeit; sie hat genau deshalb denMenschen in allen seinen Bezügen und Dimensionen im Blick. SozialeArbeit versucht – gewissermaßen als Interdependenzunterbrecherin –

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zu verhindern, dass Menschen, die aus Funktionssystemen ausgeschlos-sen sind, zugleich vom Ausschluss aus anderen Systemen bedroht wer-den.Zweitens resultiert die Entstehung der professionellen Sozialen Arbeitaus den Prozessen der Erodierung religiöser und moralischer Beweg-gründe und Möglichkeiten, effektiv und effizient soziale Hilfe zu leis-ten. In der Mitte und zum Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich, dassdie Folgeprobleme der Modernisierung, insbesondere der Industrialisie-rung nicht mehr erfolgreich bearbeitbar waren, durch klassische, vormo-derne moralisch oder religiös geleitete Hilfetätigkeiten innerhalb vonFamilien oder durch wenig institutionalisierte Ressourcenumverteilun-gen zwischen verschiedenen Schichten der Gesellschaft. Zum einen be-freite der Säkularisierungsprozess die Menschen zunehmend von den re-ligiös-moralischen Motivationen, Hilfe zu leisten, und zum anderenwurden – wie bereits erwähnt – die Familien durch Industrialisierungund Urbanisierung mit neuen Anforderungen (zum Beispiel nach sozi-aler Flexibilität und örtlicher Mobilität) konfrontiert, die schließlichdazu führten, dass Familien nur noch äußerst beschränkt fähig waren, ih-ren hilfebedürftigen Mitgliedern soziale, emotionale und materielle Hil-fe zu gewähren.Diese beiden Tendenzen zusammenfassend, können wir formulieren:Die Soziale Arbeit ist ein Ergebnis der Ambivalenz, dass die gesell-schaftliche Modernisierung nicht nur den gesellschaftlichen und indivi-duellen Wohlstand oder die psycho-soziale Stabilität steigert, sonderndass sie auch gegensätzliche Tendenzen wie Massenarmut und psycho-soziale Probleme produziert.

II.2 Soziale Arbeit als Reaktion auf die Ambivalenzen professioneller Spezialisierung

Meine These lautet: Soziale Arbeit wird dann tätig, wenn andere Pro-fessionen nicht mehr oder noch nicht tätig werden können, wenn dieSpezialisierung, die Zergliederung menschlicher Probleme in jeweilsbiologische, psychische oder soziale Dimensionen zu kurz greift, wennkein (moderner) Entweder/oder-, sondern ein (postmoderner) Sowohl-Als-Auch-Blick gefordert ist. Soziale Arbeit tritt also offenbar dann aufden Plan, wie Wilhelm Klüsche (1994, S. 81) schreibt, „wenn das Re-pertoire der Experten anderer Fachrichtungen zur Problemlösung nicht

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ausreicht oder die Schwierigkeiten der Klienten zu komplex, nicht ein-deutig fassbar oder zu langwierig sind. Man greift auf Sozialarbeiter /Sozialpädagogen zurück, um eine widersprüchliche, überfordernde,eben konflikthafte Situation anzugehen“ (ebd.).Die spezialisierten Professionen sind äußerst rational in der Bearbei-tung jeweiliger Spezialprobleme, sie sind aber offenbar nicht in der La-ge, kumulierte Probleme, Probleme, die aus der Wechselwirkung biolo-gischer, psychischer und sozialer Bedingungen resultieren, adäquat zubearbeiten. Mit anderen Worten, spezialisierte Professionen produzie-ren ein Zuordnungsproblem; sie exkludieren, wenn die Zuordnung zuihren speziellen Perspektiven nicht mehr möglich ist beziehungsweiseinkludieren erst gar nicht, wenn diese Zuordnung noch nicht möglichist. Genau dies ist ein Ansatzpunkt von Sozialer Arbeit; sie thematisiertund bearbeitet Probleme, die die Einnahme einer generalistischen Dop-pelperspektive, einer Perspektive der Ambivalenz erfordern. Dies könn-te exemplarisch am Beispiel einer sozialarbeiterischen Methode, deut-lich gemacht werden, und zwar anhand der Mediation.Da ich die Mediation im 9. Kapitel ausführlich vorstelle, will ich ledig-lich erwähnen, dass die Mediation unterschiedliche professionelle Per-spektiven vereint. Denn gerade die Vermittlung in Konflikten verlangtdie Einnahme einer mehrseitigen, einer ambi- beziehungsweise polyva-lenten Perspektive, die unterschiedliche professionelle Sprachen, Logi-ken und Denkweisen kombiniert; um eine derartige Kombination zuleisten, greift der spezialisierte juristische Blick, aber auch der speziali-sierte psychologische Blick zu kurz, vielmehr sind hier besonders Di-plom-SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen gefragt. Denn in derMediation sind eindeutig sachbezogene (zum Beispiel rechtliche, sozio-ökonomische) Dimensionen von Konflikten mit den psycho-sozialen,den emotionellen sowie den psycho- und beziehungsdynamischen Di-mensionen von Konflikten zu koppeln. Was sozialarbeiterische Bera-tung schlechthin auszeichnet, nämlich der doppelte Fokus auf die sozio-ökonomischen, auf die sachlich sozial-strukturellen und auf die psycho-sozialen Facetten des Lebens, kennzeichnet auch die Mediation (sieheÜbersicht 6).

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Übersicht 6

Zusammenfassend lässt sich sagen: Soziale Arbeit ist ein Ergebnis derAmbivalenz, dass die klassischen Professionen mit ihrer Spezialisie-rung zwar bestimmte, und zwar klar und eindeutig biologisch, psy-chisch oder sozial beschreibbare Probleme effektiv und effizient bear-beiten können, aber überall dort, wo die Einnahme einer mehrdeutigen,einer Ambivalenzperspektive nötig ist, in der Regel versagen. Genauhier ist Soziale Arbeit „als generalistisches Expertentum“ (Klüsche1994, S. 86) gefragt.

III. AMBIVALENZ DER WISSENSCHAFT UND THEORIE SOZIALER ARBEIT

Was für eine Wissenschaft braucht nun eine professionelle Soziale Ar-beit, die auf die Ambivalenz der Moderne reagiert und sich daher selbstals ambivalente, mehrdeutige Profession zu erkennen gibt? Diese Fragewill ich schließlich aus einer postmodernen Perspektive beantworten.Meine These ist, dass die Wissenschaft und Theorie der Sozialen Arbeitausgehend von der sozialarbeiterischen Praxis ebenfalls nur ambiva-lent und mehrdeutig, nämlich transdisziplinär und zwischen Theorieund Praxis stehend konstituiert sein kann. In der Betrachtung der Theorie-Geschichte Sozialer Arbeit zeigt sich,dass die wissenschaftlichen und theoretischen Versuche Sozialer Arbeit

Dimensionen der Sozialarbeiterischen Beratung und Mediation

sozio-ökonomische Dimension psycho-soziale Dimension

sach- beziehungsweise informationsorientiert

beziehungs- und/oder emotionsorientiert

Erweiterung kognitiver Kompetenzen (Wissen)

Erweiterung sozialer, emotionaler Kompetenzen

professionelle Kompetenzen/Grundlagen u.a.:

Rechtskompetenz; Verwaltungs-/Management-/ Organisations-Kompe-

tenz; sozialpolitische Kompetenz; Gemeinwesenkompetenz

professionelle Kompetenzen/Grundlagen u.a.:

Gesprächsführungskompetenz; Adressatenkompetenz;

Kontextkompetenz; Konfliktfähig-keit; Selbsterfahrung/Selbstreflexion

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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bereits seit ihren Anfängen den modernen Postulaten nach Differenzie-rung und Spezialisierung zuwiderliefen. Dies wird etwa von SilviaStaub-Bernasconi (1995, S. 49ff.) am Beispiel der Sozialarbeiterin und-wissenschaftlerin Jane Addams beschrieben. Moderne Wissenschaftfordert die klare Trennung zwischen Theorie und Praxis; diese Tren-nung ist in der Sozialen Arbeit nicht möglich. Und so hat in Jane Ad-dams’ praktischer Arbeit und in ihren Schriften das „Schisma zwischenDenken und Handeln, Theorie und Praxis, zwischen Philosophie, Ethikund Politik“ (ebd., S. 50) nicht stattgefunden. In einer modernen wis-senschaftlichen Orientierung, die Eindeutigkeit, Ausblendung der Am-bivalenz anstrebt, war es jedoch nicht möglich, eine solche Orientierunguniversitär zu etablieren: „Das, was hier eng zusammengehörte, näm-lich Individuum und Gesellschaft, Gefühl, soziale Empathie und Ratio-nalität, Wissenschaft, Wertbezug und Praxis auf allen sozialen Ebeneneiner Gesellschaft – kurz: Liebe, Macht und Erkenntnis – musste aus-einandergerissen, isoliert, domestiziert und mithin unschädlich gemachtwerden“ (ebd., S. 36). Wie dies konkret in Chicago mit der Arbeit vonJane Addams geschah, verdeutlicht Staub-Bernasconi (ebd., S. 36ff.) invier Schritten:Erstens zeigt sie, dass an der Universität in Chicago patriarchalischeMachtstrukturen dazu führten, eine nach Geschlechtern differenziertesozialwissenschaftliche Ausbildung zu etablieren, es kam zu einer „ge-schlechterhierarchischen Arbeitsteilung“ (ebd.), kurz: die Männer soll-ten wissenschaftliche Theorie und die Frauen die praktische Arbeit ma-chen. Zweitens wurde Jane Addams systemisch orientierte Sozialökolo-gie vom biologistisch orientierten Konzept der Humanökologie derChicago-Soziologie verdrängt; denn jenes Konzept lag quer zu den In-teressen der Machthaber, es erlaubte keine Legitimierung der kapitalis-tischen und hierarchischen Differenzierung der Gesellschaft, währenddieses Konzept genau diese Ordnung zu legitimieren versuchte. Drittenswidersetzte sich Jane Addams Wissenschaftsverständnis der eindeuti-gen Trennung von reiner und angewandter Theorie und Wissenschaft.Ihre theoretischen Bemühungen dienten genauso einer Praxis, die wirweiter oben mit Timm Kunstreich als pro-aktive Soziale Arbeit bezeich-net haben. Viertens waren in Jane Addams Ansatz Werte und Theorienmiteinander verknüpft, wurde in diesem Konzept nicht differenziertzwischen wertfreier Theorie, Werten und wertbezogener Praxis; viel-mehr hatte auch das Theoretisieren Werte der sozialen Praxis im Blick,

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nämlich – mit Kunstreich (1997, S. 111) gesprochen: Aktivierung, So-lidarisierung und Selbstregulation.Wollte eine Theorie, eine wissenschaftliche Orientierung akademischanerkannt werden, dann musste sie allerdings die beschriebenen Ebenen– etwa Theorie und Praxis, reine Theorie und angewandte Theorie so-wie Werte und Theorien – trennen, voneinander separieren. „Durch allediese Separierungen entwickelten sich allmählich zwei Bereiche: ZweiTypen von Wissen, zwei Typen von Theorien, zwei Typen von Wertho-rizonten, zwei Typen von Praxis, zwei institutionelle Netzwerke undzwei Sets von Kolleginnen und Kollegen. Soziale Arbeit wurde zurweiblichen, Soziologie zur männlichen Profession“ (Staub-Bernasconi1995, S. 39).Wenn wir uns nun aber von den modernen Postulaten nach Ambivalenz-freiheit, nach klarer Differenzierung und Trennung der Sphären verab-schieden, dann ergeben sich völlig neuartige Perspektiven, dann kanndas, was die Soziale Arbeit als Wissenschaft auszeichnet, völlig neu be-wertet werden. Und genau eine solche Orientierung erlaubt der Postmo-dernismus, so Heinz Günter-Vester (1993, S. 31f.): „Anders als der Mo-dernismus mit seiner Differenzierungsideologie, deren AuswüchseSchubladendenken, Berührungsängste und Vernichtung des Fremd- undAndersartigen sind, sieht der Postmodernismus in der Überschreitungund Überlappung von Differenzen etwas Positives, Begrüßenswertes.Der Modernismus hat einen Horror vor dem Eklektizismus, der Postmo-dernismus erhebt die Durchmischung von Unterschiedlichem zum kre-ativen Prinzip“.Dieses postmoderne Prinzip der Durchmischung und Grenzüberschrei-tung ist typisch für die Soziale Arbeit. Dies will ich im Folgenden amBeispiel der Theorie/Praxis-Differenz noch deutlicher zeigen; wobeizunächst die (moderne) Grenze zwischen Theorie und Praxis (3.1) undsodann die (postmoderne) Auflösung sowohl dieser Barriere als auchder Grenze zwischen den einzelnen Disziplinen in der Sozialarbeitswis-senschaft deutlich gemacht werden soll (3.2).

III.1 Theorie /Praxis-Differenz

Die Praxis /Theorie-Unterscheidung wird durch die sozialstrukturellefunktionale Differenzierung gesellschaftlich verfestigt. Aus soziologi-scher Perspektive kann man nämlich sehen, dass (wissenschaftliche)

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Theorie und (professionelle) Praxis zwei operational verschiedenartigsich ausdifferenzierenden Sozialsystemen zugerechnet werden können(vgl. Stichweh 1992): die Theorie dem gesellschaftlichen Funktionssys-tem Wissenschaft und die Praxis den davon differenzierten anderenFunktionssystemen, etwa der Wirtschaft, der Politik, dem Recht, der Er-ziehung, der Religion oder eben der Sozialen Arbeit. In dieser sozial-strukturellen Differenzierung von Theorie und Praxis wird die Praxisüblicherweise als professionelle Praxis, als Profession bewertet, die dasvon der Wissenschaft durch Forschung und Theoriebildung bereitge-stellte Wissen (lediglich) anwendet. Es wird also zwischen Wissen-schafts- und Anwendungssystem unterschieden (vgl. Luhmann 1977).In der soziologischen Betrachtung wird weiterhin deutlich, dass sich diejeweiligen wissenschaftlichen von den jeweiligen professionell-prakti-schen innersystemischen Orientierungsstrukturen und den darauf bezo-genen Handlungs- und Kommunikationsprozessen grundsätzlich unter-scheiden. „Man kann sagen: Wissenschaftssystem und Anwendungs-system haben je eigene Relationen zwischen Struktur und Prozeßausdifferenziert“ (ebd., S. 323). Diese differenten Ausdifferenzierungs-bewegungen von wissenschaftlichen und professionell-praktischenHandlungs- und Kommunikationsprozessen werden beispielsweise zufassen versucht, indem man Wissenschaft als eine Kommunikations-form begreift, die sich durch das Medium der „Wahrheit“ strukturiert,während die professionelle Praxis ihre Kommunikationen an dem Prin-zip der „Wirksamkeit“ ausrichtet (vgl. Merten 1997, S. 113).Diese je eigenen kommunikativen Bezüge machen eine einfache Inter-aktion zwischen Wissenschaft und Praxis unwahrscheinlich; es ist alsozu kurz gegriffen, sich vorzustellen, die Praxis wende die Theorien an,die die Wissenschaft bereitstellt. Beide, Wissenschaft und Praxis, habenje eigene, je spezifische und differente Selektionskriterien, die das Han-deln und Kommunizieren leiten, so dass wissenschaftliche Theorien inder Praxis (wenn überhaupt, dann nur) in einer von der Wissenschaftnicht determinierbaren Weise verwendet werden. Systemtheoretischformuliert, Wissenschaft und Praxis gehören zwei miteinander zwarstrukturell gekoppelten, aber operational differenten Systemen an, dieihre Umwelten nach jeweils anderen (eigenen) Kriterien beobachtenund dementsprechend die jeweiligen Umweltkomplexitäten anders (ei-genständig) reduzieren.Am anschaulichsten wird die Differenz zwischen Wissenschafts- undAnwendungssystem freilich vor allem, wenn man die unterschiedlichen

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organisatorischen Mitgliedschaften, Rollen und Personen betrachtet, de-nen wissenschaftliche beziehungsweise professionell-praktische Kom-munikationen als Handlungen zugerechnet werden; die einen, die Wis-senschaftler / innen, arbeiten an den Hochschulen, die anderen, die pro-fessionellen Praktiker / innen, in den verschiedensten Organisationenetwa der Sozialen Arbeit.Speziell in der Sozialen Arbeit haben wir es allerdings mit einer ganzbesonderen organisatorischen Form innerhalb der wissenschaftssyste-mischen Ausdifferenzierung zu tun, nämlich mit den Fachhochschulen.Fachhochschulen sind aufgrund ihrer geschichtlichen Entwicklung undihres besonderen Auftrags, nämlich in erster Linie wissenschaftlich ge-bildete Praktiker / innen und in zweiter Linie praktisch versierte Wissen-schaftler / innen auszubilden, wissenschafts- und forschungspolitischexplizit abgegrenzt von Universitäten oder anderen Hochschulen. Ob-wohl Fachhochschulen wissenschaftliche Einrichtungen sind, lassen siesich m.E. dennoch nicht klar dem binären Schema Wissenschafts-/ An-wendungssystem unterordnen. Denn sie nehmen gewissermaßen eineambivalente Zwischenstellung ein, eine Stellung zwischen Wissen-schafts- und Anwendungssystem. Insbesondere die Sozialarbeit, die alsDiplomstudiengang, anders als alle anderen Studiengänge in der BRD,lediglich an den Fachhochschulen vertreten ist, lässt sich als ein imhöchsten Maße ambivalentes Konstrukt betrachten (siehe folgendeÜbersicht 7).

Übersicht 7

Diese ambivalente Zwischenstellung der Sozialen Arbeit in den Feldernvon Theorie und Praxis, die es ausgesprochen schwer macht, zwischensozialarbeiterischer Disziplin und Profession klar zu unterscheiden, die

Theorie Praxis

Disziplin Profession

Wissenschaftssystem Anwendungssystem

„Wahrheit“ als Medium „Wirksamkeit“/ „Angemessenheit“ als Medium

Fachhochschulen als ambivalente Orte zwischen Theorie und Praxis

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mithin die jeweils orientierenden Selektionskriterien (siehe oben) vonWissenschaft und Praxis geradezu ununterscheidbar werden lässt, bieteteinen fruchtbaren Boden, um erfolgreiche Theorie-Praxen und Praxis-Theorien in der Sozialen Arbeit zu konstruieren.

III.2 Theorie /Praxis- und Disziplin-Überschreitung

Soziale Arbeit entzieht sich allen klaren Differenzierungen zwischenWissenschaft und Praxis; und dies in zweifacher Hinsicht: zum einen istes ihr bisher – zumindest in Deutschland – nicht vergönnt gewesen, inden Reigen der klassischen modernen, an der Universität vertretenenwissenschaftlichen Disziplinen aufgenommen zu werden, zum anderensprengt sie jegliche wissenschaftliche Disziplingrenzen, da sie nicht erstaus modischen Erwägungen in den letzten Jahren, sondern seit ihrerAusdifferenzierung als Ausbildungsdisziplin Inter-, Multi- und Trans-diziplinarität benötigt und postuliert (vgl. Kopperschmidt 1996). In die-sem Sinne passt Soziale Arbeit nicht hinein in die klassischen, moder-nen Schemata; vielmehr könnte man davon sprechen, dass Soziale Ar-beit eine postmoderne Disziplin und Profession ist.Soziale Arbeit ist nicht fassbar mit den hergebrachten, auf Identität undOrdnung ausgerichteten Konzepten von Disziplin und Profession. DieHeterogenität und Pluralität, die Ambivalenz des gesellschaftlichenEinsatzes Sozialer Arbeit, die – wie wir gesehen haben – für die Bear-beitung der Ambivalenzen der funktionalen Differenzierung und derprofessionellen Spezialisierung zuständig ist, sprengt und überschreitetjede human- und sozialwissenschaftliche professionelle und disziplinä-re Grenze. Nicht nur professionell, sondern auch wissenschaftlich be-zieht sich Soziale Arbeit daher auf die biologischen und psychischenund sozialen Ebenen des Menschlichen und muss daher aus den unter-schiedlichen Human- und Sozialwissenschaften Wissen integrieren(siehe die folgende Übersicht 8).Die Sozialarbeitswissenschaft muss jedoch bei der wissenschaftstheo-retischen Begründung ihrer ambivalenten Stellung zwischen Theorieund Praxis und zwischen den Disziplinen nicht bei Null anfangen, son-dern könnte sich insbesondere an zwei Diskurse anschließen: an denDiskurs der Transdiziplinarität postmoderner Wissenschaften und andie Systemtheorie.

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III.2.1 Transdisziplinarität als postmodernes Wissenschaftspostulat

Hier sollen insbesondere die Ansätze zu transdisziplinären Konzeptenvon Richard Münch (1995) und Wolfgang Welsch (1996) angeführtwerden. Beide Konzepte lassen sich besonders deutlich auf die Konsti-tution der wissenschaftlichen Sozialen Arbeit übertragen. Mit Münch(1995, insbesondere S. 145ff.) lässt sich das Sozialarbeitsstudium be-sonders wegen seiner zweifachen Mittlerrolle – erstens – zwischen The-orie und Praxis und – zweitens – zwischen den unterschiedlichen Diszi-plinen als ein transdisziplinärer Studiengang beschreiben. Denn derar-tige Studiengänge „widersprechen den ehrwürdigen Prinzipien derWissenschaften und der Praxis, weil sie zwischen ihnen liegen. Siescheinen der zwangsläufigen Ausdifferenzierung von immer neuenTeildisziplinen und der beruflichen Spezialisierung entgegenzulaufen“(ebd., S. 146). Dies sei allerdings nur die vordergründige Beobachtung,denn hintergründig „handelt es sich um Studiengänge, die einerseitseine Marktlücke schließen und so das Spektrum der Berufe um den neu-en Beruf des Moderators erweitern und andererseits dem Wissen ein-zelner wissenschaftlicher Disziplinen das langsam zu erarbeitende Wis-sen über Möglichkeiten ihrer Verknüpfung hinzufügen“ (ebd.; Hervor-hebung von mir; H.K.). Damit wird im Prinzip das zuvor spezifizierteAufgabenfeld der Sozialarbeitswissenschaft umschrieben, die es sichzur Aufgabe machen könnte, ein neues, ein besonderes Spezialwissenzu konstruieren, „dessen Spezifikum in der Verknüpfung von anderemSpezialwissen besteht“ (ebd.).Obwohl sich Münch freilich nicht eigens auf eine Sozialarbeitswissen-schaft bezieht, wenn er von neuen transdisziplinären Studiengängenspricht, die die Studiengänge der Zukunft sein könnten, dann fällt den-noch ins Auge, dass seine grundsätzlichen Ausführungen präzis die Si-tuation des sozialarbeiterischen Studiums an Fachhochschulen um-schreiben; dazu zwei Beispiele – erstens: Auf der einen Seite ist ein we-sentlicher Aspekt dieser Studiengänge eine besondere Qualität derStudierenden, die nämlich bereits häufig über ausgewiesene Praxiser-fahrungen verfügen oder neben dem Studium in der Praxis tätig sind(vgl. ebd., S. 142ff.). Auf der anderen Seite sind die „Praxisanteile der-neuen transdisziplinären Studiengänge [...] von elementarer Bedeutungfür deren Erfolg, weil nur auf diesem Wege das Berufsfeld erschlossenund das dafür erforderliche praktische Wissen mitsamt der praktischen

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Übersicht 8

Vermittlung zwischen dem Wissen verschiedener Disziplinen an dieStudierenden vermittelt werden kann“ (ebd., S. 147). Zweitens: Dietransdisziplinären Studiengänge bestehen aus „Anteilen von Lehrveran-staltungen zu bestimmten Problemstellungen, zu denen mehrere Diszi-plinen einen Beitrag leisten, Seminare mit Dozenten aus mehrerenFachdisziplinen, die in der Lehre exemplarisch so zusammenarbeiten,

Dimensionen der Theorie Sozialer Arbeit

Biologisches Psychisches Soziales

Körperliche Bedürfnisse

... und alle damit zusammen hängenden Fragen der körperli-chen (gesundheitli-chen) Entwicklung

Psychische Bedürfnisse

... und alle damit zusammen hängenden

Fragen der psychi-schen und emotionalen

Entwicklung

Soziale Bedürfnisse

... und alle damit zusammen hängenden

Fragen der sozialen Entwicklung und Ein-bindung (Inklusion,

Integration)

Medizin

Biologie

Ökologie

etc.

Psychologie

Pädagogik (Erzie-hungswissenschaft)

Psychiatrie

etc.

Sozialwissenschaften/Soziologie

Jurisprudenz

Politologie

Ökonomie(Betriebs- und Volks-

wirtschaftslehre)

etc.

Philosophie / Ethik / Theologie / Wissenschaftstheorieder Sozialen Arbeit /Hilfe

Transdisziplinarität der Sozialarbeitswissenschaft... Verknüpfung des Spezialwissens aus den Bezugswissenschaften

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wie es in der Praxis selbst erforderlich ist“ (ebd.). Die Koordination die-ser interdisziplinären Forschung und Lehre (zum Beispiel im Projekt-studium) hätte im Falle der Sozialarbeit die Sozialarbeitswissenschaftzu leisten, die dafür sorgt, dass das interdisziplinär erarbeitete sozialar-beiterische Wissen transdisziplinär reflektiert, verbunden und systema-tisiert wird.Dass eine derartige Mittlerrolle zwischen verschiedenen Disziplinendurch die Sozialarbeitswissenschaft überhaupt gelingen kann und nichtan der Inkommensurabilität (Unvergleichbarkeit) disziplinären Wissensscheitert, lässt sich mit Welsch (1996, insbesondere S. 946ff.) verdeut-lichen. Denn aus der postmodernen Perspektive, die sowohl die Diffe-renz als auch die Einheit, sowohl die Independenz (Unabhängigkeit) alsauch die Interdependenz (Abhängigkeit) etwa von disziplinären wissen-schaftlichen Rationalitäten plausibilisiert, wird erkennbar, dass „Diszi-plinen [...] nicht durch einen ‚Kern‘ konstituiert [sind], sondern um netz-artige Knoten [...]“ (ebd., S. 947). Besonders die Aufgabe einer Sozial-arbeitswissenschaft läge nun darin, die „Stränge“ (ebd.) und die„Verbindungslinien“ (ebd.) der relevanten Disziplinen auszuarbeitenund zu verfolgen. Wenn dies gelänge dann wird man Sozialarbeitswis-senschaft selbst nicht anders als transdisziplinär beschreiben können(vgl. dazu auch Kopperschmidt 1996).Welsch betont überdies, dass ein Übergang zur Transdisziplinaritätweitreichende wissenschaftspolitische Folgen hätte: „Forschungsinsti-tutionen und Universitäten hätten das Feld des Wissens nicht mehr nachterritorialen Herrschaftsbereichen, Dominien, Disziplinen, Fächern zugliedern, sondern hätten Transdisziplinarität zum Strukturprinzip zu er-heben. Die faktisch transdisziplinäre Verfassung der disziplinären Ge-halte wäre von Anfang zur Geltung zu bringen“ (Welsch 1996, S. 947).Diese transdisziplinäre Verfassung lässt sich bezüglich der Sozialen Ar-beit bereits latent beobachten, sie muss sich nur noch sozial-kommuni-kativ manifestieren – und zwar durch die institutionelle Verankerungder Sozialarbeitswissenschaft als die Koordinationswissenschaft der in-terdisziplinären Zugänge auf soziale Probleme, die die Interdisziplina-rität erst zum transdisziplinären Verbindungswissen transformiert.

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III.2.2 Systemtheorie als transdisziplinäres Basiskonzept

Schon früh hat sich die Soziale Arbeit an systemtheoretischen Konzep-ten orientiert (siehe zu den Entwicklungslinien Hollstein-Brinkmann1993). Wie keine andere wissenschaftstheoretische Orientierung erlaubtdie Systemtheorie offenbar etwas, was die Soziale Arbeit als Wissen-schaft benötigt, nämlich einen Blick, der die Disziplingrenzen sprengtund – mit Alice Salomon gesprochen – die „Einheit des Menschen“ inden Fokus zu rücken. In der Sozialen Arbeit finden unterschiedliche sys-temtheoretische Orientierungen ihre Anwendung (siehe Merten 2000;Staub-Bernasconi 1995); ich beziehe mich hier auf die Theorie selbst-referentieller Systeme von Niklas Luhmann (1984; 1997).Wie andere Systemtheorien auch, erlaubt diese Theorie das, was die So-zialarbeitswissenschaft benötigt, nämlich heterogene, aber zusammenhängende Ebenen des Menschlichen, eben Organismus (biologischesSystem), Psyche (psychisches System) und soziales System (Interakti-on, Organisation, Funktionssystem, Gesellschaft), mit homogenen Be-griffen zu beschreiben und bietet der Sozialarbeit damit ein Instrumen-tarium an, das Verschiedenartiges transdisziplinär vergleichbar undverbindbar darzustellen und zu systematisieren vermag. Da ich bereitsmehrfach an anderen Stellen versucht habe zu zeigen, wie die System-theorie diesbezüglich einsetzbar ist (siehe etwa Kleve 1999; 2000, ins-besondere S. 179ff.), soll hier der Begriffsapparat systemtheoretisch-konstruktivistischen Denkens nicht noch einmal eigens expliziert wer-den. Dennoch soll knapp die wissenschaftstheoretische Methode derSystemtheorie vorgestellt werden, die es erlaubt, grundsätzlich Ver-schiedenartiges nach einheitlichen, nämlich nach funktionalen Kriteri-en zu betrachten: die funktionale Analyse.Die Methode der funktionalen Analyse erlaubt es, verschiedenartigeSysteme unter dem Fokus der Funktionalität zu beobachten. Funktiona-lität heißt in diesem Zusammenhang, dass ein System oder spezifischeSystemzustände von Organismen, Psychen und Sozialsystemen struk-turelle Lösungen von funktionalen systemischen Anforderungen bezie-hungsweise Problemen sind. Die Funktionalanalyse geht davon aus,dass die strukturellen Lösungen von funktionalen Systemproblemenselbst zum Problem werden können und dass es daher den Einsatz vonalternativen, von funktional äquivalenten strukturellen Lösungen be-darf. Diesbezüglich wird Vorhandenes als kontingent, als auch anders

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möglich betrachtet und Verschiedenes als vergleichbar. Die Frage beieiner funktionalen Systemanalyse bezieht sich darauf zu ermitteln, ers-tens: auf welche Fragen reale Zustände eine Antwort, auf welche Pro-bleme sie eine Lösung sind und zweitens: welche alternativen Antwor-ten diese Fragen ebenfalls beantworten, beziehungsweise welche funk-tional äquivalenten Lösungen bezüglich der funktionalen Problemeebenfalls möglich sind.Obwohl die Funktionalanalyse eher professionell, mithin bei der prak-tischen Lösung von sozialen Problemen hilfreich sein kann, eröffnet sieinsbesondere auch einer Wissenschaft den Blick auf das Gemeinsamedes Verschiedenen, „die sich nicht auf die akademischen Richtungs-kämpfe beschränken [kann]“ (Mühlum/Bartholomeyczik/Göpel 1997,S. 241): nämlich der Sozialarbeitswissenschaft. Wenn diese Wissen-schaft nun eine eigenständige Leistung vollbringen will, dann müssteihre „eigentliche Bedeutung“, so ist Albert Mühlum (ebd.) schließlichzuzustimmen, statt „in der weiteren Differenzierung (als Einzelwissen-schaft) [...] in ihrer Integrationsleistung liegen, ob als ‚Integrationswis-senschaft‘, ‚transdisziplinäre Wissenschaft‘ oder ‚Querschnittswissen-schaft‘ [...]“. Ich optiere für Soziale Arbeit als transdisziplinäre Wissen-schaft, als Wissenschaft zwischen Theorie und Praxis und zwischen den(Bezugs-)Disziplinen.

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6. Sozialarbeit als postmoderne Profession ohne eindeutige Identität

Eine Umdeutung, ihre Begründung und Auswirkung

AUSGANGSPUNKTE

„Überall, wo sich Sozialarbeiter treffen oder wo über Sozialarbeit ge-schrieben wird“, so stellt Peter Lüssi (1992, S. 23) fest, „kommt auf dieeine oder andere Art die Identitätsproblematik des Berufes zur Spra-che“. Womöglich gehört es bereits „zur beruflichen Identität des Sozi-alarbeiters, ein Identitätsproblem zu haben [...]“ (ebd.). Die Identität der Sozialarbeit versteht sich nicht von selbst, sie ist frag-würdig, sie muss offenbar immer und immer wieder be- und verhandelt,be- und ersprochen, be- und erschrieben werden. Die Liste der Konzep-te, die auf diese Problematik reagieren und die die Soziale Arbeit ausdem vermeintlichen Defizit ihrer Identitätsproblematik heraus helfenwollen ist lang. Denn in der Geschichte der Sozialen Arbeit wurde be-reits viel versucht, um das Identitätsproblem zu lösen. Soziale Arbeithat viel ausprobiert, um ihr berufliches Selbstverständnis eindeutigerund sicherer zu machen. Sie hat andere Wissenschaften zu Rate gezo-gen (etwa Pädagogik, Soziologie, Psychologie, Jurisprudenz), um aus-gehend von deren theoretischen Konzepten und Reflexionen sich selbstzu bestimmen, sie hat sich an diversen psychotherapeutischen Schulenorientiert, um ihre Uneindeutigkeit in den Griff zu bekommen, um mehrKlarheit und Selbstsicherheit zu gewinnen, und jüngst versucht sie sichzu fundieren, schärfer zu konturieren mittels Ökonomisierung, alsodurch den Einbezug insbesondere betriebswirtschaftlicher Konzepte,die die Effektivität und Effizienz des sozialarbeiterischen Tuns nichtnur steigern, sondern auch eindeutig messbar machen sollen (siehe aus-führlich dazu 3. Kapitel).Was ist nun aber von allen diesen Versuchen der sozialarbeiterischenIdentitätsfindung, ja der Identitätsfixierung und -festschreibung zu hal-ten? Meine Antwort darauf ist ambivalent, denn sie lautet: zugleich sehrviel und sehr wenig – sehr viel, wenn es darum geht, Soziale Arbeit mittheoretischen Konzepten, neuen Methoden, mit bisher außergewöhnli-

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SOZIALARBEIT ALS POSTMODERNE PROFESSION OHNE EINDEUTIGE IDENTITÄT

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chen Reflexionen und vielversprechenden Verfahren hinsichtlich ihrerAufgaben flexibler und erfolgreicher zu machen; sehr wenig, wenn da-mit das Identitätsproblem der Sozialen Arbeit gelöst werden soll. Denndieses Problem ist nicht lösbar, weil es gar keins ist.Diese Aussage wird sicherlich überraschen. Verdeutlichen wir uns je-doch, dass die infrage stehende Identität der Sozialarbeit in ihrer Unsi-cherheit, Fragilität, Unschärfe lediglich ein Problem darstellt, wenn wirvon einem Identitätspostulat ausgehen, wenn wir eine Klarheit der eige-nen Identität als notwendig und erstrebenswert erachten, dann wird die-se Aussage meines Erachtens schon verständlicher. Und wir gehen inder Regel von einem solchen Postulat aus. Wir glauben an die vermeint-liche Notwendigkeit und das vermeintlich Erstrebenswerte einer klarenIdentität. Denn – so haben uns etwa die Philosophen Theodor W. Ador-no (1966) und Gilles Deleuze (1968) veranschaulicht – wir ordnen imSinne der alteuropäischen Schulen der Metaphysik, zum Beispiel imSinne der Hegelschen Dialektik die Vielfalt, das Uneindeutige, das Wi-dersprüchliche, das Nicht-Identische, das Differenzierte der Identitätunter. Identität soll Ausgangs- und Endpunkt unserer Selbst- undFremdbeschreibungen sein; es gilt, das unübersichtlich Differenzierteauf übersichtliche Identitäten zu beziehen. Meine These ist jedoch, dasswir damit einem überholten, der Sozialarbeit nicht angemessenen mo-dernen Geistes- und Gemütszustand aufsitzen, obwohl wir – nicht nurbezüglich der Sozialarbeit, sondern hinsichtlich unserer Gesellschaftschlechthin – bereits einen postmodernen Gemüts- und Geisteszustandbrauchen.

I. VOM MODERNEN ZUM POSTMODERNEN GEMÜTS- UND GEISTESZUSTAND

Der moderne Gemüts- und Geisteszustand mutet uns zu, ja überfordertuns damit, überall Ordnung, Eindeutigkeit, überall Identität erzeugen, al-les eindeutig identifizieren zu müssen, er hält es nicht aus, wenn etwassich unseren klaren, Übersichtlichkeit anstrebenden Identifizierungenentzieht, wenn etwas aufgrund seiner Differenz und Pluralität nicht aufden Punkt gebracht werden kann, wenn es widersprüchlich, mehrdeutig,ambivalent ist und bleibt (vgl. Bauman 1991). Im Gegensatz dazu of-fenbaren uns postmoderne Konzepte einen versöhnlicheren Umgang mit

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Differenz, mit dem Nicht-Identischen, mit Vielfalt, Unübersichtlichkeitund Ambivalenz (vgl. exemplarisch Welsch 1987; Vester 1993).Die Postmoderne als Gemüts- und Geisteszustand (vgl. Lyotard 1981)akzeptiert die Differenziertheit unserer Welt in ihrer Vielfalt, sie strebtnicht mehr nach Eindeutigkeit, nach Identität. Sie gibt dieses Bemühenauf und stellt sich auf Unübersichtlichkeit ein, fragt vielmehr nachbrauchbaren, kreativen, konstruktiven Weisen im Umgang mit Vielfaltund Unübersichtlichkeit. Genau einen solchen postmodernen Umgangbenötigt die Soziale Arbeit, einen Umgang mit ihrer Identitätsproble-matik, der ihre offene, fragile, vielfältige, widersprüchliche, ambivalen-te Identität akzeptiert, sich darauf einstellt. Die Postmoderne erlaubt es,aus der modernen Not der sozialarbeiterischen Identitätsproblematikeine postmoderne Tugend der sozialarbeiterischen Identität der Identi-tätslosigkeit zu machen. Diese Umdeutung wird mit Hilfe der postmo-dernen Wissenschaft begründbar (siehe Kleve 1999), die ihre Legiti-mierung in der Paralogie (vgl. Lyotard 1979, S. 175ff.), im akzeptiertenund konstruktiven Umgang mit Widersprüchlichkeit, Unordnung, Cha-os findet (vgl. dazu 4. Kapitel).Mit der Postmoderne im Rücken unserer professionellen Selbstbestim-mung konstruieren wir also eine paradoxe Identität, deren maßgeblicheEigenschaft eben Identitätslosigkeit, mit Theodor Bardmann (1996, S.16) gesprochen: Eigenschaftslosigkeit ist: „Eigenschaftslosigkeit ist diehervorragende und maßgebliche Eigenschaft der praktischen Sozialar-beit“. Ihre unreine Identität, ihre „‚Schmuddeligkeit‘ ist nicht ihr Ma-kel, sondern ihr Markenzeichen, nicht ihr Defizit, sondern ihre Kompe-tenz“, mehr noch: „Eigenschaftslos zu sein ist ihr Erfolgsrezept,Schmuddeligkeit ihr Prinzip [...]“ (ebd.).

II. DER IDENTITÄTSSPRENGENDE GENERALISMUS SOZIALER ARBEIT

Die Sozialarbeit ist nicht eindeutig fassbar, nicht klar identifizierbar,weil sie von vielen Widersprüchen durchwachsen (siehe Lüssi 1992,24ff.), von Paradoxien des professionellen Handelns besonders starkbetroffen (siehe Schütze 1992), vielfältigen Ambivalenzen ausgesetzt(siehe Mühlum u.a. 1997, S. 183ff.), ja aus erkenntnis-, wissenschafts-,sozial- und praxistheoretischer Perspektive strukturell ambivalent (sie-he Kleve 1999) ist. Diese Widersprüche, Paradoxien und strukturellen

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Ambivalenzen der Sozialen Arbeit hängen zusammen mit ihrem dop-pelten Generalismus (vgl. 5. Kapitel). Demnach ist Sozialarbeit einer-seits bezogen auf ihre gesellschaftliche Funktion (universell) generalis-tisch beziehungsweise multi-funktional und andererseits ist sie fallbe-zogen (spezialisiert) generalistisch. Soziale Arbeit ist universell generalistisch, weil sie inzwischen gesell-schaftsweit tätig ist, sich von der Geburt bis zum Tode allen Lebenspha-sen der Menschen widmet, mittlerweile in allen Bevölkerungsgruppen,Lebenswelten, Milieus etc. angetroffen werden kann, kurz: potentiellkeine Person von ihren Angeboten (mehr) ausschließt. Sozialarbeit istzu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Ambivalenz der Moderne, ausder „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) geboren. DennModernisierung (etwa Rationalisierung, Spezialisierung, Bürokratisie-rung, Verrechtlichung etc.) und Aufklärung (zum Beispiel Säkularisie-rung, Individualisierung) sind janusköpfige Gestalten, deren Fortschrei-ten bis in alle Gesellschaftsbereiche hinein beides produziert, ja poten-ziert: Lösungen und Probleme, Reichtum und Armut, Wissen undUnwissen, Chancen und Risiken. So expandiert mit der gesellschaftli-chen Ausbreitung der Modernisierung ebenfalls die Soziale Arbeit, diesich auf die überall in der Gesellschaft anzutreffenden Bereiche der di-versen Probleme, der Armut, des Unwissen und der Risiken bezieht.Sozialarbeit ist spezialisiert generalistisch, weil sie sich jeweils zwar(zum Beispiel organisatorisch) auf bestimmte Arbeitsgebiete, auf spezi-fische Handlungsfelder, AdressatInnen, Probleme etc. bezieht, sich aufdiese begrenzt, aber dabei einen – klassisch gesprochen: „ganzheitli-chen“ Ansatz favorisiert. Demnach ist Soziale Arbeit von ihrer profes-sionellen Grundauffassung, ja von der Legitimation ihrer Existenz bio-psycho-sozial orientiert. Anders als andere Professionen, die von ihrenSelbstverständnissen her tendenziell eher Ausschnitte des Menschli-chen, also nur das Biologische (MedizinerInnen), nur das Psychische(PsychologInnen) oder nur das Soziale (zum Beispiel JuristInnen) bear-beiten, bearbeitet Soziale Arbeit (fallbezogen) alle diese Bereiche zu-gleich, ist sie keine Entweder/Oder-, sondern eine Sowohl/Als Auch-Profession. Diese professionelle Grundhaltung der Sozialarbeit erkann-te bereits Alice Salomon (1928, S. 139f.), als sie betonte, dass es in derWohlfahrtspflege, ob diese nun wirtschaftliche, gesundheitliche, erzie-herische/pädagogische, familiäre oder psychische Notstände bearbeitet(bekämpft, lindert, verwaltet etc.), um die „Einheit des Menschen“ geht.

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Aufgrund ihrer spezialisiert-generalistischen Orientierung steht die So-zialarbeit fast zwangsläufig zwischen vielen Stühlen, handelt sie sichvielfältige Ambivalenzen ein, ist sie mit den widersprüchlichen System-und Lebenswelten der Menschen konfrontiert. Genau daraus resultiertihre fragmentierte Identität, pointiert ausgedrückt: ihre Identität derIdentitätslosigkeit. Daraus erwachsen auch ihre sozialen Funktionen,die man als vermittelnde, transversale Funktionen bezeichnen kann.

III. DIE POSTMODERNE WANDLUNGSFÄHIGKEIT SOZIALER ARBEIT

Wie uns die Soziologie lehrt ist die Gesellschaft in vielfältige Funkti-onsbereiche differenziert (vgl. etwa Luhmann 1997), in denen unter-schiedlichste professionelle Tätigkeiten ausgeführt und besondere Spe-zialsprachen gesprochen werden, auf die sich die Menschen erfolgreichbeziehen müssen, wollen sie ihre physische und psychische Reproduk-tion sichern. Unser Leben ist abhängiger denn je von funktionalen Sys-temen, an denen wir ankoppeln müssen, deren Sprachen wir zwar nichtsprechen, aber doch so verstehen sollten, dass wir die systemischen Er-wartungen entschlüsseln können, die uns orientieren, wenn wir einerArbeit nachgehen oder eine solche suchen, wenn wir Rechtsansprücheeinlösen, Massenmedien gebrauchen, MedizinerInnen, PsychologInnenoder JuristInnen aufsuchen, PädagogInnen unsere Kinder anvertrauenetc.Soziale Arbeit ist für ihre KlientInnen, die Schwierigkeiten beim Ver-stehen dieser Spezialsprachen oder beim Realisieren der gesellschaft-lich kommunizierten Erwartungen haben, eine Expertin, die dabei hilft,die Spezialsprachen zu entschlüsseln und die systemischen Erwartun-gen zu erfüllen. Dazu benötigt die Sozialarbeit eine offene Identität,eine Identität der Identitätslosigkeit, eine collagenhafte, fragmentierteIdentitätsform, metaphorisch formuliert: die Fähigkeit, sich wie einChamäleon der jeweiligen Umwelt, das heißt den unterschiedlichenSpezialsprachen, Verständnissen, Sitten, Gebräuchen, Kulturen adä-quat anzupassen.SozialarbeiterInnen sind in dieser Hinsicht keine „Fachspezialisten“,sondern „Kommunikationsvirtuosen“ (Münch 1995), deren Leistung inder Transprofessionalität und Transdisziplinarität liegt, das heißt imÜberspringen von Professions- und Disziplingrenzen, sie sind professi-

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onelle Nomaden, Grenzgänger zwischen den vielfältigen Differenzenunserer Gesellschaft. Mit dem Soziologen Richard Münch (1995, S.146) könnte man sagen, dass die Sozialarbeit zur Gruppe jener neuenBerufe gehört, welche der „zwangsläufigen Ausdifferenzierung von im-mer neuen Teildisziplinen und der beruflichen Spezialisierung“ zumin-dest teilweise entgegenläuft, zu den Berufen die „ein neues Spezialwis-sen“, ein Spezialwissen zweiter Ordnung herstellen, „dessen Spezifikumin der Verknüpfung von anderem Spezialwissen besteht“. Innerhalb derbis zum Extrem gesteigerten gesellschaftlichen Differenzierung undSpezialisierung ist Sozialarbeit daher unverzichtbar, weil sie sich in Lü-cken und Spalten zwischen den Differenzen und Spezialisierungen ein-nistet und damit für ihre KlientInnen Übergänge schafft, Brücken baut,Fähren betreibt. Mit Peter Albers (2001) könnte man auch sagen, dassSozialarbeit so etwas ist „wie Gelenkschmiere, die den Karren am Lau-fen hält“.Die professionelle Form der (identitätslosen beziehungsweise identitäts-offenen) Sozialarbeit ist ein Spiegel für deren gesellschaftliche Aufgabeder Kommunikationsstiftung zwischen kommunikativ differenzierten,verschiedensprachigen Räumen, Sphären, Perspektiven. Dies ist seitdem Bestehen professioneller Sozialarbeit eine ihrer wesentlichen Leis-tungen, die mittlerweile auch von anderen Professionen gefordert underwartet wird. Auch andere Professionen (zum Beispiel die Medizin)sollen ihre Grenzen öffnen für neue Ansätze, alternative Behandlungs-formen, „ganzheitlichere“ Methoden, Austausch mit anderen wissen-schaftlichen Disziplinen, koordinierende, vermittelnde Aufgaben. Wasandere Professionen erst jetzt verstärkt versuchen, war allerdings immerschon Kern der Sozialer Arbeit. „Damit wird die Sozialarbeit zur Trend-setterin künftiger Professionsentwicklungen, weil Probleme, die andereProfessionen gerade erst zu sehen beginnen, der Sozialarbeit schon lan-ge vertraut sind“ (Knoll 2000, S. 36).Dies wird bereits am Beispiel des Studiums deutlich (siehe dazu auch 5.Kapitel). Denn inzwischen wird von universitären Studiengängen etwasgefordert, was das fachhochschulische Studium der Sozialarbeit seit je-her prägt, nämlich zum einen die hybride, unreine, dialogische Stellungzwischen Theorie und Praxis und zum anderen die nicht minder diffuseund bestenfalls Dialoge eröffnende Platzierung zwischen unterschiedli-chen wissenschaftlichen Disziplinen. So fordert etwa Münch (1995, S.145ff.) die verstärkte Schaffung von transdisziplinären Studiengängen.

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Mit Münch können wir davon ausgehen, dass Sozialarbeit zu solchentransdisziplinären Studiengängen der Zukunft gehört, denn sie erfülltzwei Aspekte, die solche Studiengänge kennzeichnen: Erstens sind dieStudierenden solcher Studiengänge von besonderer Qualität, da sie häu-fig bereits über ausgewiesene Praxiserfahrungen verfügen oder nebendem Studium in der Praxis tätig sind. Die transdisziplinären Studien-gänge bestehen – zweitens – aus „Anteilen von Lehrveranstaltungen zubestimmten Problemstellungen, zu denen mehrere Disziplinen einenBeitrag leisten, Seminare mit Dozenten aus mehreren Fachdisziplinen,die in der Lehre exemplarisch so zusammenarbeiten, wie es in der Pra-xis selbst erforderlich ist“ (ebd.).Die Soziale Arbeit ist also mit der Form ihrer Ausbildung bereits gut aufdem Weg, wie man sagen könnte. Es kommt allerdings darauf an, eineSozialarbeitswissenschaft zu etablieren, die den weiteren Weg aus-kundschaftet und bahnt, die den institutionellen Rahmen für die Dialogezwischen Theorie und Praxis sowie zwischen den Bezugswissenschaf-ten organisiert, diese Dialoge moderiert, koordiniert, mediiert, supervi-diert. Die Sozialarbeitswissenschaft als disziplinäre Entsprechung derprofessionellen Identität der Identitätslosigkeit hätte schließlich auchdazu beizutragen, dass die Sozialarbeit ihre Identität weiterhin offenhält, dass sie endlich erkennt, worin die Stärke, die Kompetenz, der Er-folg, die Zukunft der Sozialarbeit liegt: eben in ihrer Offenheit, Fragili-tät, Collagenhaftigkeit, Ambivalenz. Also halten wir nicht weiterhin analten, überkommenen Forderungen fest, verabschieden wir endlich dieIdentitätspostulate, akzeptieren wir unsere offene Identitätsform, unsereIdentitätslosigkeit und widmen uns den Aufgaben, die unsere KlientIn-nen und die Gesellschaft uns stellen.

IV. POSTMODERNE SOZIALARBEIT – VORSCHLAG FÜR EINE UMDEUTUNG

Wenn ich dafür plädiere, die Soziale Arbeit als postmoderne Professionzu verstehen, dann geht es mir also um eine Umdeutung, um ein Refra-ming, und zwar in der Hinsicht, dass das, was klassischerweise als Ma-kel, als zu behebendes Defizit der Sozialen Arbeit betrachtet wird, ebenihre Vielfältigkeit und Diffusität als funktionale Normalität bewertetwerden sollte. Mit anderen Worten: In der Schwäche, sich als Sozialar-

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beit nicht klar identifizieren zu können, liegt die Stärke, die eigentlichProfessionalität sozialarbeiterischer Praxis. Denn gerade die Mehr-deutigkeit, die komplexe Vielschichtigkeit der Welt ist für moderneProfessionen ein Problem, ist etwas, das sie ausschließen wollen. Mo-derne Professionen streben nach Eindeutigkeit, klar abgrenzbare, diffe-renzierte Bezugsthemen, Handlungsbereiche und Aufgaben. ModerneProfessionen, zum Beispiel die Berufe des Arztes, des Psychologen unddes Rechtsanwalts, sind entstanden mit der Moderne, das heißt mit demOrdnen, Rationalisieren und Differenzieren der Welt. Moderne Profes-sionen beziehen sich demnach auf bestimmte Ausschnitte des Mensch-lichen, die Medizin bezieht sich auf das Körperlich-Biologische, diePsychologie auf das Psychisch-Seelische, das Recht auf das gesetzteNormativ-Soziale. Moderne Professionen sind klar und eindeutig spezi-alisiert. Sie sind Ergebnis gesellschaftlicher Differenzierung, also Er-gebnis von Arbeitsteilung und Spezialisierung. Moderne Professionenwaren und sind (noch) in der Lage, ein eindeutig von anderen Professi-onen abgegrenztes Berufswissen und ein eindeutiges gesellschaftlichesMandat zur Ausübung ihres Berufs zu erlangen. Dazu ist, wie ich ver-sucht habe zu zeigen, die Sozialarbeit allerdings nicht in der Lage.Deshalb sprechen ihr VertreterInnen einer modernen Professionstheorieden Status einer eigenständigen und vollwertigen Profession ab (siehedazu etwa erneut Stichweh 2000) oder versuchen, auch in der Sozialar-beit diese Eindeutigkeit zu finden (siehe dazu etwa Merten 1997). Ichoptiere weder für das Eine noch für das Andere. Ich plädiere vielmehrdafür, bei der Bewertung der Sozialen Arbeit den Maßstab zu verändernund nicht mehr von modernen, sondern von postmodernen Kriterienauszugehen. Die moderne Professionstheorie ist für die Beschreibungder Sozialen Arbeit nicht angemessen, denn Sozialarbeit ist keine Pro-fession, die auch nur ansatzweise modernen Prinzipien von Rationalität,Ordnung, Eindeutigkeit und Differenzierung gerecht wird; sie ist viel-mehr eine strukturell ambivalente, eine mehrdeutige Profession, ja ihrMarkenzeichen ist die postmoderne Mehrdeutigkeit, die Identitätslosig-keit. Es ist meines Erachtens ein aussichtsloser Kampf, wenn die Soziale Ar-beit angesichts ihrer, aus der Perspektive der klassischen Professionengesprochen: „semi-professionellen“ Eigenart versucht, professionelleEindeutigkeit, Identität und Ordnung zu erringen. Denn die uneindeuti-ge Stellung der Sozialen Arbeit in und zwischen den Systemen der mo-

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dernen Gesellschaft ist gerade das, was die Soziale Arbeit auszeichnet,was ihre Spezifik, ihren postmodernen Professionskern ausmacht. Undgenau dies ist meine These, die ich noch einmal formulieren will: SozialArbeit kann als postmoderne Profession bewertet werden, weil sie keineandere Wahl hat, als sich der uneindeutigen Heterogenität, den vielfäl-tigen Ambivalenzen in ihrem sozialstrukturellen und semantischen Feldzu stellen und diese anzunehmen, mit ihnen zu leben. „Mit Ambivalenzleben“ (Bauman 1991, S. 281), Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit,Mehrwertigkeit anerkennen – das ist das Kriterium der Postmoderne,wie mit Zygmunt Bauman gesagt werden kann.„Mehrwertigkeit und Mehrdeutigkeit sind natürlich keine Erfindungendes Postmodernismus, treten nicht erst in der Postmoderne auf. Aber diePostmoderne hat ein anderes Verhältnis zu [...] Ambivalenz als die Mo-derne“, wie der Soziologe Heinz-Günter Vester (1993, S. 44) formuliert.Während die Moderne (noch) versuchte, Ambivalenzen, Widersprücheund Paradoxien etwa durch die dialektische Methode, durch den dialek-tischen Dreischritt, These, Antithese, Synthese, in einer abschließenden,transzendenten, synthetischen Einheit stillzustellen, favorisiert die Post-moderne eine Negative Dialektik ohne Synthese (vgl. grundsätzlich dazuAdorno 1966), eben die Annahme der Thesen und Antithesen in ihrerGegensätzlichkeit. Negative Dialektik „tendiert nicht auf die Identität inder Differenz jeglichen Gegenstandes von seinem Begriff;“, wie Theo-dor W. Adorno (1966, S. 148) – gewissermaßen ein früher postmodernerPhilosoph – sagt, „eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist einedes Zerfalls: der zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt der Be-griffe“ (ebd., S. 148).In diesem Sinne ist postmodernes Denken ein Differenzdenken (und keinIdentitätsdenken), welches das Differente als different, eben als nicht-identisch akzeptiert. Während mit dem modernen Begründer der Dia-lektik, nämlich mit Hegel, die Identität von Identität und Differenz be-tont wird, betont der Postmodernismus, zum Beispiel in Form der Sys-temtheorie, die Differenz von Identität und Differenz (vgl. Luhmann1984, S. 26). Daher ist postmodernes „Differenzdenken immer auch Kri-tik der Identitätsphilosophie“ (Kamper 1995, S. 21).Warum die Sozialarbeit genau einer solchen postmodernen differenz-theoretischen Auffassung bedarf, warum sie mit Ambivalenz lebenmuss und es ihr mithin nicht gelingen kann, den eindeutigen Kriteriender klassischen Professionen zu genügen, habe ich anhand der beidenGeneralismen versucht herauszustellen.

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Angesichts der besonderen professionellen Situation der Sozialen Ar-beit, die sich durch die Identität der Identitätslosigkeit ausdrückt, kön-nen wir die Sozialarbeit als eine besondere, als eine postmoderne Pro-fession bewerten. Diese Bewertung deckt sich auch mit der Sichtweisedes soziologischen Professionstheoretikers Fritz Schütze (1992), derebenfalls nicht mehr versucht, die Soziale Arbeit mithilfe der modernenProfessionskriterien zu verorten. Schütze ist wohl derjenige Professi-onstheoretiker der Sozialarbeit, der bisher am deutlichsten gesehen hat,dass die Sozialarbeit eine Profession neuen Typs ist, eine „‘bescheide-ne‘ Profession“, die den klassischen professionellen Kriterien nicht ge-nügen kann, deren Professionalität allerdings gerade darin zum Aus-druck kommt, mit strukturellen Widersprüchen, mit „Paradoxien desprofessionellen Handelns“ (ebd., S. 146ff.) besonders stark konfrontiertzu sein und mit diesen umzugehen, umgehen zu können. Diese Parado-xien, die von Regine Gildemeister (1997, S. 69) als „systematische Pro-blemstellen in der Interaktion Sozialarbeiter-Klient“ bezeichnet werdenund die „‚in der Natur der Sache‘ liegen, das heißt sich aus der Strukturdieses [bestimmten professionellen; H.K.] Handelns herleiten“, lassensich in vielfältigen Beschreibungen und Typisierungen verdeutlichen(vgl. ausführlich dazu auch Kleve 1999; 2000).Allen diesen Typisierungen ist gemeinsam, dass sie als strukturelle so-zialarbeiterische Ambivalenzen, als nicht zu überwindende sozialarbei-terische Widersprüche angesehen werden können. Jede/r Sozialarbei-ter / in muss in den alltäglichen professionellen, kommunikativen Voll-zügen diese Ambivalenzen aushalten und akzeptieren, ja gerade diesmacht die Professionalität der Sozialen Arbeit aus.Wie der Umgang mit Ambivalenzen produktiv und ‚gesund’ ist, wirdschon aus der psychodynamischen Perspektive ersichtlich. So bedeutetfür die Psychoanalytikerin Thea Bauriedl (1980, S. 32) psychische Ge-sundheit, eine „Spannungstoleranz im Feld zwischen ambivalenten Po-len“ entwickeln zu können, die das freie Bewegen zwischen wider-sprüchlichen Polen ermöglicht und nicht gekennzeichnet ist durch die„Abspaltung oder Verdrängung“ (ebd.) eines Pols, um sich so der‚krankhaften‘ Situation einer scheinbaren Widerspruchsfreiheit, Ein-deutigkeit oder logischen Klarheit des Lebens zu erfreuen – mit der fürSozialarbeitern unmöglichen Konsequenz, nämlich intra- und intersub-jektiven Konflikten permanent ausweichen zu müssen. Damit werdenunserem Denken und Handeln und der Professionalität der Sozialen Ar-

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2. TEIL: POSTMODERNE GRUNDLEGUNGEN

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beit allerdings große Leistungen abverlangt. Denn SozialarbeiterInnenhaben zu versuchen, wie mit Dietmar Kamper (1995, S. 28) formuliertwerden kann, „empfindlich zu werden für die Ambivalenzen [nicht nur;H.K.] der Sprache und sich immer auf zwei Seiten des Problems zu-gleich aufhalten zu können“.Um eine solche ambivalenzreflexive Haltung einnehmen zu können,hilft eine postmodernen Gemüts- und Geisteshaltung, die in einer er-folgreichen Sozialen Arbeit wohl immer schon eingenommen und nurnicht als solche benannt wurde.

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3. Teil:Systemtheoretisch-

konstruktivistische undpostmoderne Anwendungen

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7. Zwei Logiken des Helfens

Ambivalenz- und systemtheoretische Betrachtungen

AUSGANGSPUNKTE

Derzeit befindet sich die Berliner Jugendhilfe – sowohl die öffentlichenals auch die freien Träger – in einer Verunsicherungsphase, ja in einerKrise. Diese Krise ist vor allem finanzpolitisch verursacht: Der Stadt ist– aus den unterschiedlichsten Gründen – das Geld ausgegangen. Überallsoll und muss gespart werden, freilich auch (manchmal kann man denEindruck haben: vorrangig) in der Sozialen Arbeit mit Kindern, Jugend-lichen und Familien. Parallel zu diesen Sparaufforderungen, zu diesenwirtschaftlichen Notwendigkeiten, die Berliner Jugendhilfe „umzusteu-ern“, wird seit geraumer Zeit ebenfalls von neuen fachlichen Konzeptengesprochen, die Einsparungen erlauben, ohne jedoch die sozialpädago-gische Fachlichkeit zu unterlaufen beziehungsweise zu reduzieren – imGegenteil: Durch solche Konzepte wie Sozialraumorientierung (Merten2002) oder Case Management (Wendt 1997, Neuffer 2002, Kleve u.a.2003) soll nicht nur die sozialpädagogische Effizienz (Wirtschaftlich-keit: Verhältnis von Aufwand und Nutzen), sondern auch die Effektivi-tät Sozialer Arbeit (Zielwirksamkeit: Verhältnis von Zielen und Ergeb-nissen) erhöht werden.Die Idee, die sowohl in der Sozialraumorientierung als auch im CaseManagement Effizienz- und Effektivitätssteigerungen verspricht, isteine neue Fachlichkeit, eine neue Philosophie des Helfens. Abgesehenvon veränderten Finanzierungsbedingungen, die zum Beispiel darin be-stehen, die marktwirtschaftlich orientierten und wirkenden Fachleis-tungsstundensätze durch Sozialraumbudgets zu ersetzen, geht dieseneue Philosophie des Helfens davon aus, dass professionelle Hilfennicht das alleinige Mittel sein können und sein sollen, um Kinder, Ju-gendliche und Familien zu unterstützen. Vielmehr wird eine Flexibili-sierung der Hilfen postuliert, eine Kreativität gefordert, die professio-nelle Helferinnen und Helfer dazu ermahnt, stärker als zuvor die sozia-len Ressourcen des Gemeinwesens, das heißt des Sozialraumes zunutzen sowie die persönlichen und sozialen Ressourcen der Klientinnenund Klienten zu aktivieren und zu fördern.

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Genau genommen ist diese Ressourcenorientierung nicht neu, vielmehrwird mit ihr das in Deutschland auch gesetzlich verankerte Prinzip derSubsidiarität eingefordert, das darin besteht, dass das, „was einzelne,kleinere Institutionen (wie zum Beispiel die Familie), Gruppen (zumBeispiel Verbände) oder Körperschaften (zum Beispiel Gemeinden,Länder, Kirchen) aus eigener Kraft tun können, [...] ihnen nicht von ei-ner jeweils übergeordneten Instanz oder dem Staat durch Macht entzo-gen werden [darf], damit die Kompetenz des jeweils personennäherenLebenskreises erhalten bleibt“ (Schmitz-Elsen 1993, S. 939). Denn dasheißt auf der anderen Seite, dass die kleineren Einheiten, zum Beispieldie Familien, die Nachbarschaften, ja die Bürgerinnen und Bürger,selbst aktiv werden können und müssen, um ihre Belange zu klären, ihreProbleme zu lösen, bevor sie professionelle Instanzen beauftragen, dieszu tun. Daher wird mit dem Subsidiaritätsprinzip „die Verantwortungder jeweils personennäheren Instanz angesprochen, Aufgaben, die vonihr selbst bewältigt werden können, aufzugreifen und nicht deren Erle-digung der übergeordneten Instanz zu überlassen“ (ebd.).Konzepte der Sozialraumorientierung und des Case Management sollenversuchen, die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips auf der Ebene desEinflusses professioneller sozialpädagogischer Hilfen zu managen, siesollen Individuen, Eltern und Familien dabei unterstützen herauszufin-den, erstens, was sie selber tun, wie sie selber aktiv werden können, umsich bei Problemen erfolgreich zu helfen und, zweitens, wo die Grenzender Selbstaktivität liegen, wann und wie also professionelle Leistungennotwendig und angemessen sind.Die Vermutung, die gehegt wird, besteht freilich darin, dass es einenunausgeschöpften Puffer von sozialräumlichen sowie persönlichen undlebensweltlichen Ressourcen der Klientinnen und Klienten gibt, der vonprofessionellen Fachkräften (zum Beispiel von Case Managerinnen undCase Managern) jeweils aufgespürt und wirksam aktiviert werden kann,damit sozialpädagogische Hilfen effizienter (kostengünstiger) und ef-fektiver (zielwirksamer) werden können (bezogen auf die Sozialpäda-gogische Familienhilfe dazu Kleve 2000a). Diese neue beziehungswei-se das Subsidiaritätsprinzip sehr ernst nehmende Form sozialpädagogi-scher Arbeit verspricht langfristig nicht nur Spareffekte, sondern aucheine Aufwertung und einen Ausbau des sogenannten bürgerschaftlichenEngagements und schließlich die Weiterentwicklung der Fachlichkeitbeziehungsweise Professionalität der Sozialen Arbeit (und nicht derenAbbau).

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ZWEI LOGIKEN DES HELFENS

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Neben den beiden genannten Konzepten Sozialraumorientierung undCase Management, die dazu dienen sollen, die Selbstaktivität der Bür-gerinnen und Bürger bei der Lösung ihrer Probleme zu fördern, lassensich freilich viele weitere methodische Orientierungen der Sozialen Ar-beit nennen, die eine derartige Zielrichtung eingeschlagen haben. Einesolche Orientierung ist sicherlich auch die systemische Perspektive inder Sozialen Arbeit (zum Beispiel Pfeifer-Schaupp 2002). Ein Beispielfür eine systemische Initiative, um die Selbstaktivität von Familiendurch Soziale Arbeit erfolgreich zu fördern, soll im Folgenden etwasnäher dargestellt werden, und zwar das Projekt-Triangel, das der Di-plom-Psychologe und systemische Familientherapeut Michael Bieneim Rahmen des Kinder- und Jugendhilfezentrums Girlitzweg in Berlinaufgebaut hat. Allerdings will ich hier nicht die konkreten methodi-schen Prinzipien und Verfahrensweisen erläutern (kurz und knapp dazuBiene 2003). Mir geht es vielmehr um zwei ausdrücklich theoretischeFragestellungen – erstens: wie das, was das Triangel-Projekt anbietetund realisiert, wissenschaftlich beschrieben werden kann und zweitens:wie wissenschaftlich erklärt werden kann, was dieses Projekt durch sei-ne Arbeit erreicht.Ich setze in diesem Beitrag nicht vorrangig methodisch, sondern theo-retisch an, weil ich denke, dass das, was in diesem Jugendhilfeprojektrealisiert wird, eine Herausforderung für die sozialarbeiterische Theoriedarstellt. Wenn die Theorie diese Herausforderung ernst nimmt, auf-greift und befriedigende Beschreibungen und Erklärungen konstruiert,die hinreichend abstrakt, also verallgemeinerungsfähig sind, bestehtnicht nur die Möglichkeit des Erkenntnisgewinns; vielmehr kann dieTheorie dann vielleicht auch Projekte stimulieren, die das beherzigen,was sie beschreibt und erklärt, was sie der Praxis nahe legt. Dennoch isteine solche Theoriearbeit nicht mehr und nicht weniger als ein hypothe-sengenerierendes Unterfangen, es wird also nicht versucht oder behaup-tet, die Wahrheit, die Objektivität zu finden. Der Anspruch besteht –ganz bescheiden – lediglich darin, brauchbare Beschreibungen und Er-klärungen zu liefern, die das einzufangen vermögen, was in der erfolg-reichen Praxis des Triangel-Projektes geleistet wird und die mithin füreine komplexe Praxis ausreichend komplex sind.Aber was wird durch die Arbeit von Triangel überhaupt geleistet? Waskann theoretisch beschrieben werden, wenn wir dieses Projekt beobach-ten? Meine These ist, dass die Arbeitsergebnisse von Triangel zwei un-

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3. TEIL: SYSTEMTHEORETISCH- KONSTRUKTIVISTISCH UND POSTMODERN

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terschiedliche, ja gegensätzliche Logiken des Helfens in den Blick brin-gen. Triangel zeigt uns, dass die Praxis die Wahl hat und sich entschei-den kann, wie sie helfen will, und zwar entweder im Sinne einer(ineffizienten und ineffektiven) selbstkonstruktiven Logik oder im Sinneeiner (sehr effizienten und sehr effektiven) selbstdekonstruktiven Logik,die die Logik von Triangel-Hilfen ist. Diese beiden gegensätzlichen Hilfelogiken sollen im Folgenden sowohlbeschrieben als auch erklärt werden, und zwar jeweils aus zwei theore-tischen Perspektiven, zum einen aus der Perspektive einer Ambivalenz-theorie des Helfens (Kleve 1999) und zum anderen aus der Perspektiveder sozialwissenschaftlichen Systemtheorie der Bielefelder Schule, ins-besondere der Theorie autopietischer Systeme (vor allem Luhmann1984; 1997).

I. SELBSTKONSTRUKTIVE LOGIK DES HELFENS – EIN BESCHREIBUNGS- UND ERKLÄRUNGSVERSUCH

Die selbstkonstruktive Logik des Helfens führt vor allem zu zwei Er-gebnissen, nämlich erstens zu langen, ja möglicherweise sogar zu end-losen Hilfen und zweitens zu Hilfemustern, die die Klientinnen und Kli-enten vom Hilfesystem abhängig und unselbstständig machen. Die Hil-fe ist selbstkonstruktiv in dem Sinne, dass sie aufgrund ihrer eigenenDynamik permanent Hilfe beziehungsweise Hilfenotwendigkeiten her-vorbringt, sie ist selbstkonstruktiv, weil sie Hilfemuster erzeugt, die im-mer erneut Hilfe und kein Hilfeende konstruieren. Diese, wie wir sicherschnell zugeben werden, problematische Logik des Helfens kann mitzwei theoretischen Ansätzen etwas näher erklärt werden, und zwar zu-nächst mit der Ambivalenztheorie des Helfens und sodann mit der The-orie autopoietischer Systeme.

I.1 Ambivalenztheorie des Helfens

Nach dieser Theorie geht jede Hilfe mit der Gefahr von nicht intendier-ten, nicht gewollten Effekten einher (Kleve 1999, S. 270ff.). Diese Ge-fahr besteht darin, dass jede Hilfe dazu führen kann, dass gerade nichtgeholfen, sondern Unselbstständigkeit und Inaktivität der Klienten her-ausgefordert wird, dass die Klienten vom Hilfesystem abhängig wer-

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den. Wie kann diese Gefahr erklärt werden? Sie kann damit erklärt wer-den, dass jede helfende Interaktion zu einer Rollenasymmetrie, einerRollenungleichheit, einem Rollengefälle von Helfern und Hilfsbedürf-tigen führt. Indem eine Person einer anderen, eben hilfsbedürftigen Per-son, hilft, wird quasi automatisch der einen Person, der hilfsbedürftigen,ein Defizit unterstellt, das die andere, helfende Person, zu beheben ver-sucht.Wenn eine solche Interaktion in einem professionellen Setting ge-schieht, in dem von vornherein reziprokes, also gegenseitiges Helfeneher ausgeschlossen ist, wie bei professionellen (in Berufsarbeit geleis-teten) Hilfen, und sich solche einseitig gerichteten helfenden Interakti-onen über einen längeren Zeitraum wiederholen, dann wird die erwähnteRollenasymmetrie festgeschrieben. Es bilden sich Strukturlogiken,Muster aus, die dazu führen, dass die Beteiligten in ihren jeweiligen Rol-len verharren und sich gegenseitig entweder die Hilflosigkeit bezie-hungsweise die Möglichkeit zu helfen unterstellen und bestätigen. DieseForm der Rollenausdifferenzierung und ihre spezifische Systemrationa-lität innerhalb professioneller Hilfesysteme wird durch die Betrachtungdes zweiten theoretischen Ansatzes noch deutlicher.

I.2 Theorie autopoietischer Systeme

Nach dieser Theorie, die auf Niklas Luhmann (1984; 1997) zurückgehtund zuerst von Dirk Baecker (1994; 1997) auf die soziale Hilfe ange-wandt wurde, ist professionelles Helfen eine spezifische Kommunikati-on in der modernen Gesellschaft, die sich zu einem eigenen Funktions-system der sozialen Hilfe ausdifferenziert hat. Genauso wie Wirtschaft,Politik, Wissenschaft, Kunst oder Religion bildet das professionelleHelfen einen speziellen gesellschaftlichen Funktionsbereich mit eige-nen Gesetzmäßigkeiten und Logiken aus. Genauso wie die anderenFunktionssysteme der Gesellschaft ist das System der sozialen Hilfe einautopoietisches System, ein System, das sich durch seine eigenen Ope-rationen, im Fall der sozialen Hilfe durch das Helfen, permanent selbstreproduzieren und erhalten muss. Denn Autopoiesis heißt, dass ein Sys-tem seine Systemhaftigkeit, seine „Existenz“ (das heißt seine Differenzzur Umwelt) dadurch aufrechterhält, dass es Operationen (zum BeispielHelfen, helfende Kommunikationen) produziert, die weitere Operatio-nen des selben Typs herausfordern und schaffen.

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Das Hilfesystem der Sozialen Arbeit wird also dadurch angetrieben underhält sich dadurch als System, dass es permanent Hilfe, helfende Kom-munikationen produziert. Man kann daher das System der sozialen Hil-fe auch als eine rückgekoppelte Maschine beschreiben, die zugleichHilfe und damit Hilfsbedürftigkeit produziert sowie Hilfsbedürftigkeitund Hilfe voraussetzt, damit sie laufen kann. Denn nur wenn das Sys-tem helfen, helfende Kommunikationen produzieren kann, kontinuiertes seinen systemischen Kommunikationszusammenhang. Und helfendeKommunikationen können nur produziert werden, wenn das System dersozialen Hilfe die Rollen Helfer und Klient ausdifferenziert. Dazu musses freilich Personen Probleme zuschreiben, und zwar Probleme, die sobeschaffen sind, dass sie durch Hilfe als potentiell lösbar erscheinen.Oder es muss Personen die Möglichkeit bieten, sich selbst oder anderenProbleme zuzuschreiben, die dann ebenfalls als durch die Hilfe des Hil-fesystems lösbar erscheinen. Denn erst die Beobachtung von Proble-men, die von der Hilfe gelöst werden können, von Defiziten, die durchdie Hilfe behoben werden können, legitimiert das professionelle Hel-fen. Nach der Systemtheorie ist diese Autopoiesis des Helfens dem sozialenFunktionssystem der sozialen Hilfe strukturell eingeschrieben und darfnicht verwechselt werden mit den psychischen, den subjektiven Intenti-onen, den persönlichen Absichten der professionellen Helferinnen undHelfer. Die strukturelle Logik der Autopoiesis des Helfens vollziehtsich sozusagen hinter dem Rücken der helfenden Akteure. Daher wer-den also nicht die Helferinnen und Helfer, die menschlichen Akteureverdächtigt, wenn ich jetzt in Anlehnung an Dirk Baecker (1994, S. 93,ausführlicher dazu auch Kleve 1999, S. 199ff.) drei Verdachtsmomentenenne, denen ein solches Helfen grundsätzlich unterliegt; vielmehr pro-blematisiere ich die autopoietische, sich unabhängig von den Helfernvollziehende Strukturlogik, die zum Motivverdacht, zum Stigmatisie-rungsverdacht und zum Effizienzverdacht des Helfens führt.Mit dem ersten Verdacht, dem Motivverdacht, geht die Skepsis einher,ob die Hilfe wirklich denjenigen hilft, denen sie Hilfsbedürftigkeit at-testiert, oder ob sie nicht eher der Selbsterhaltung des Hilfesystems unddessen Organisationen dienlich ist, wie dies die Autopoiesis des Hel-fens nahe legt. Vor allem wenn die Bezahlung der Hilfeleistung amFaktor Zeit, wie zum Beispiel bei der marktwirtschaftlich orientiertenFinanzierung über Fachleistungsstundensätze, gekoppelt ist und nicht

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am Erfolg, wird augenscheinlich, dass Organisationen der sozialen Hil-fe nicht unbedingt das Ziel haben, Hilfen zu beenden, sondern sie wei-terzuführen – zumindest dann, wenn keine neuen Personen in Aussichtsind, denen Hilfe angeboten werden kann, die als Klientinnen und Kli-enten Hilfe begehren. Denn nur die Weiterführung der Hilfe sichert denGeldfluss, der nötig ist, um die Organisation zu erhalten.Das professionelle Helfen unterliegt zweitens dem Stigmatisierungsver-dacht, weil solches Helfen zuallererst erfordert, dass Personen zu Kli-entinnen und Klienten werden, denen bestimmte Probleme zugeschrie-ben, die mit Problemmarken versehen werden. Um diese markiertenProbleme generieren sich dann Systeme, die psychische Aufmerksam-keiten und soziale Kommunikationen stimulieren, um diese Problemezu diagnostizieren, zu definieren, zu differenzieren, zu klassifizieren, zusystematisieren, kurz: festzuschreiben, um dann zu versuchen, sie zu lö-sen. Die Frage wäre, ob nicht die Problemmarkierung die Probleme erstzu dem macht, was sie dann für die helfenden Fachkräfte und die Hilfs-bedürftigen sind und ob damit die Problemlösung schwieriger, ja aus-sichtsloser wird, als vor der Markierung.Drittens unterliegt Helfen einem Effizienzverdacht, der zu der Frageführt, ob Hilfe uneffizient ist, weil sie die Potentiale der Selbsthilfe eherverdeckt als hervorholt. Der Effizienzverdacht verweist damit auf diebereits erläuterte Ambivalenztheorie des Helfens, dass Helfen auch zurAbhängigkeit von den Helfern, zur Unselbstständigkeit der Klientenführen kann, statt zur Selbsthilfe und Emanzipation.An diesem Punkt möchte ich die Beschreibung und Erklärung der selbst-konstruktiven Logik des Helfens beenden. Ich hoffe, es ist deutlich ge-worden, welche problematische Logik das Helfen in sich birgt. Undwenn wir der Systemtheorie vertrauen, dann können wir sogar davonausgehen, dass diese Logik alltäglich ist, dass sie sich permanent hinterdem Rücken der helfenden Akteure, der Sozialarbeiterinnen und Sozi-alarbeiter, Erzieherinnen und Erzieher, Psychologinnen und Psycholo-gen, so wie beschrieben abspielt. Aber wo und wie ist eine andere Logikdes Helfens möglich? Um diese Fragen zu beantworten, brauchen wirnur unseren Blick auf die Ergebnisse und die Praxis des Projekts Trian-gel richten. Diese Ergebnisse und diese Praxis veranschaulichen meinesErachtens eine Logik des Helfens, die ich als selbstdekonstruktive Logikbezeichnen und im Folgenden theoretisch, also (hoffentlich) hinrei-chend abstrakt, um verallgemeinerbar zu sein, beschreiben und erklärenmöchte.

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II. SELBSTDEKONSTRUKTIVE LOGIK DES HELFENS – EIN BESCHREIBUNGS- UND ERKLÄRUNGSVERSUCH

Die selbstdekonstruktive Logik des Helfens führt zu Hilfemustern, diedie Dekonstruktion, die das Ende der Hilfen zum Ziel haben, indem sieKlientinnen und Klienten die Chance geben, unabhängig zu werden vonder Hilfe oder während der Hilfe selbst aktiv zu werden und damit dieRollenasymmetrie so zu verändern, dass sie aufgrund ihrer gewonnenenoder gestärkten Kompetenz selber anfangen, anderen zu helfen. MeineVermutung ist, wie gesagt, dass diese selbstdekonstruktive Hilfe, jeneist, welche das Projekt Triangel vorführt. Denn, so meint Michael Biene(2003, S. 4), „der Zustand in dem KlientInnen im Jugendamt, Sozial-dienst oder bei anderen Hilfeeinrichtungen erscheinen, [ist] nicht in ers-ter Linie Ausdruck ihrer Persönlichkeit oder ihrer Familiendynamik,sondern Ausdruck der ihnen bekannten oder von ihnen erwarteten Rolleim Hilfeprozess“. Wenn das Hilfesystem Klientenrollen erwartet, diemit Hilflosigkeit einhergehen, die vor allem der Fremdhilfe bedürfen,dann zeigen sich die Klienten entsprechend. Daher kann die Hilfe selbst-dekonstruktiv werden, wenn versucht wird, „aus den Beziehungsmus-tern zwischen Helfenden und KlientInnen, die eine wirkliche Hilfe er-schweren oder verunmöglichen, ‚auszusteigen‘“ (ebd.), so dass die Kli-entinnen und Klienten aktiv werden und Verantwortung übernehmenkönnen.Um dieses, wie ich sage: selbstdekonstruktive Verständnis von profes-sioneller Hilfe theoretisch zu beschreiben und zu erklären, bietet es sichwieder an, zunächst von der Ambivalenztheorie und sodann von der so-ziologischen Theorie autopoietischer Systeme auszugehen.

II.1 Ambivalenztheorie des Helfens

Auch diese Form des Helfens ist ein ambivalentes Unterfangen. Wäh-rend die selbstkonstruktive Hilfe-Logik ambivalent ist, weil sie potenti-ell dazu tendiert, statt Hilfe Abhängigkeit und Unselbstständigkeit zuerzeugen, scheint der selbstdekonstruktiven Hilfe-Logik die Reflexiondieser Gefahr eingeschrieben zu sein. Denn sie markiert von den erstenMomenten ihres Anlaufens eine andere Ambivalenz, und zwar die, dassprofessionelle Hilfe nur anläuft, um sobald wie möglich wieder beendetzu werden, weil sie in Selbsthilfe übergeht. Das Ziel professioneller hel-

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fender Beziehungen ist das Beenden dieser Beziehungen. Genau in die-sem Sinne ist diese Hilfe-Logik selbstdekonstruktiv; ihr ist ein Dekon-struktionsprinzip inhärent.Dieses Dekonstruktionsprinzip verhindert, dass die Hilfe die mit ihreinhergehende Rollenasymmetrie zementiert. Vielmehr wird die Rol-lenasymmetrie permanent durch die Hilfe selbst infrage gestellt und da-hingehend befragt, ob den Hilfebedürftigen durch eine mögliche Hilfetatsächlich geholfen wird, oder ob nicht vielmehr das begleitete Nicht-helfen beziehungsweise das Aushalten, gerade nicht mehr zu helfen,wenn nicht unbedingt geholfen werden muss, hilfreich ist. Diese Logik des Helfens sperrt sich vor der Etablierung von Hilfemus-tern, die Michael Biene „Abgabemuster“ nennt. Den Hilfebedürftigenwird eben nicht das abgenommen, was als vermeintliches Problem gilt,zum Beispiel die Erziehung eines Kindes. Im Gegenteil: Die Klientinnenund Klienten werden damit konfrontiert, dass sie sich nur selbst erfolg-reich helfen können, indem sie etwa andere Formen der erzieherischenInteraktion lernen oder einüben. Bei diesem Lernen oder Einüben ver-mögen die Helfer professionelle und differenzierte Unterstützung zu ge-ben. Wie sieht diese Unterstützung nun aus theoretischer Perspektiveaus?Um dies zu verdeutlichen, komme ich zur zweiten theoretischen Orien-tierung: zur soziologischen Theorie autopoietischer Systeme.

II.2 Theorie autopoietischer Systeme

Mit dieser Theorie kann zunächst sichtbar werden, dass die Hilfe, dienach der selbstdekonstruktiven Logik verfährt, ebenfalls gefährlich ist– allerdings nicht für die Klientinnen und Klienten, wie die selbstkon-struktive Logik, sondern für das Hilfesystem selbst. Denn wir hatten jagesehen, dass dieses System, wie jedes andere gesellschaftliche Funkti-onssystem, autopoietisch operiert und somit als Hilfesystem auf die Au-topoiesis, die Selbsterhaltung des Helfens angewiesen ist, will es sichals System erhalten. Es muss immer wieder Hilfe konstruieren, An-schlussmöglichkeiten für weitere Hilfe schaffen, damit es sich als Sys-tem vollziehen kann. Aber wem soll es helfen, wie soll es seine Auto-poiesis realisieren, wenn sich die Klientinnen und Klienten vom Systememanzipieren, wenn sie selbstständig werden und die Helferinnen undHelfer dann vielleicht gar nicht mehr brauchen?

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Sicherlich ist die Gefahr, dass die Fachkräfte keine Personen mehr fin-den, denen sie Hilfen anbieten können, so groß nicht – auch nicht, wennsie im Sinne der selbstdekonstruktiven Hilfe-Logik arbeiten. Sie helfendann gewiss effektiver und effizienter, aber machen sich nicht überflüs-sig. Vor den Toren des Systems warten noch viele Leute, und immerneue kommen dazu, die Hilfe begehren, die also potentielle Klientinnenund Klienten sind. Denn die Gesellschaft produziert permanent sozialeLagen, die Hilfe notwendig machen. Ich glaube, dies muss ich nicht ei-gens begründen, es ist evident, es ist augenscheinlich.Aber auch wenn das Hilfesystem sich nicht selbst überflüssig macht,seine Autopoiesis, seine Selbsterhaltung nicht gefährdet, wenn esselbstdekonstruktiv hilft, scheint das System das, was mit dieser Hilfe-Logik notwendig ist, nur sehr verhalten, nur in den sprichwörtlichen ho-möopathischen Dosen aufnehmen und umsetzen zu können. Vielleichtist das System, wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme auch, sostrukturkonservativ, dass es nur sehr langsam Neues praktizieren kann.Außerdem hat sich vielleicht noch nicht wirklich herum gesprochen,dass ein Hilfesystem möglicherweise hilfreicher helfen kann, wenn esdie andere Seite der Hilfe, nämlich die Nichthilfe beziehungsweise dieBegrenzung der Hilfe als eine Option neben der Hilfe mit einbezieht.Nicht überall, wo Angebote gemacht werden können zu helfen, ist Hel-fen die richtige Option. Denn die begleitende Nichthilfe könnte geradeangemessen sein, um hilfreich zu sein, um Menschen zu aktivieren, sichselbst zu helfen (Baecker 1994; 1997).Die selbstdekonstruktive Logik des Helfens muss jedoch nicht aus-schließlich paradox gedacht werden. Und möglicherweise erkennt dasTriangel-Projekt selbst gar nicht, dass es mit dieser Paradoxie arbeitet.Oder diese Paradoxie erscheint als eine Konzession an all jene, welchedie Möglichkeiten von Hilfe im Zuge von Sparmaßnahmen einschrän-ken wollen. Daher will ich nicht weiter bei dieser paradoxen Form desHelfens durch Nichthilfe bleiben, sondern eine weitere Ausprägung derselbstdekonstruktiven Hilfe-Logik beschreiben und erklären. DieseForm kann einerseits recht schnell systemtheoretisch plausibilisiert wer-den, stellt die Systemtheorie aber andererseits auch vor eine aufwendi-gere Erklärungssuche.Wie Michael Biene mir mehrfach berichtet hat, wirkt die Selbstverän-derung der Interaktionen im Hilfesystem unmittelbar auf die an diesemSystem gekoppelten Klientensysteme, zum Beispiel auf Eltern-Kind-In-

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teraktionen oder allgemein auf die familiären Interaktionen des Klien-tensystems. Wenn also im Hilfesystem angefangen wird, zum Beispielwährend der Fallkonferenzen, in Teamgesprächen, in Supervisionen, inspontanen Gesprächen unter Kolleginnen und Kollegen und natürlichauch mit den Klientinnen und Klienten, wertschätzend und akzeptierend,authentisch und empathisch zu kommunizieren, dann fangen mit hoherWahrscheinlichkeit die Klientinnen und Klienten ebenfalls an, in ihrenSystemen in ähnlicher – wie ich sagen würde: konstruktiven, förderli-chen und problemlösenden – Weise zu kommunizieren.Carl Rogers scheint recht gehabt zu haben, als 1959 formulierte: „Wirkönnen [...] mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass eine Beziehung,in der der Therapeut einen hohen Grad an Kongruenz oder Authentizi-tät, eine sensitive und gründliche Empathie, einen hohen Grad an Be-achtung, Respekt, Zuneigung für den Klienten, und in dieser HinsichtBedingungslosigkeit zeigt, mit hoher Wahrscheinlichkeit eine effektivetherapeutische Beziehung ist. Diese Qualitäten sind offensichtlich dieprimär veränderungsverursachenden Einflüsse auf Persönlichkeit undVerhalten“ (zit. n. Kersting 2002a, 11f.).Wie sieht die systemtheoretische Erklärung dieses Phänomens aus?Nach der Theorie autopoietischer Systeme sind Menschen Einheiten auspsychischen und biologischen Systemen, die an sozialen Systemen par-tizipieren. Die drei genannten Systeme – biologisches System, psychi-sches System, soziales System – setzen sich zwar wechselseitig voraus(keines kann ohne die jeweils anderen existieren), aber sie können sichnicht direkt beeinflussen, sie sind auf der Ebene ihrer jeweiligen Auto-poiesis von außen unbeeinflussbar. Die einzige Möglichkeit dieser Sys-teme, sich zu ändern, ist die Selbstveränderung. Dazu können interneoder externe Ereignisse der Systeme beitragen, immer aber bestimmt dasSystem selbst, ob und wie es sich selbst verändert – und wenn es diestut, dann jedenfalls nach Maßgabe der eigenen Möglichkeiten der Ver-änderung.Wenn aber, wie gesagt, neben internen Ereignissen auch externe Ereig-nisse eine systemische Selbstveränderung anregen können, so liegt aufder Hand, kann eine Selbstveränderung eines Systems, zum Beispieldes Hilfesystems, eine Selbstveränderung eines anderen Systems, zumBeispiel des Klientensystems, anregen – ob und wie diese Veränderunggeschieht, liegt jedoch in der Autonomie des jeweiligen Systems selbst,hängt davon ab, wie das jeweilige System die Ereignisse in seiner Um-welt aufgreift und verarbeitet.

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An diesem Punkt liegt eine Erklärung, ja eine systemtheoretische Bestä-tigung der Arbeit von Triangel: Die Triangel-Teams machen es genaurichtig, wenn sie nicht direkt versuchen, die Probleme ihrer Klientinnenund Klienten zu lösen, sondern wenn sie sich selbst in dem Sinne ver-ändern, wie sie es von ihren Klienten erwarten. Genauso wichtig, wiedie Arbeit mit den Klientinnen und Klienten, wenn nicht sogar bedeu-tender, sind daher „explizite Abstimmungsprozesse zwischen den betei-ligten Helfenden“ (Biene 2003, S. 4). Den „Klienten neue Rollenange-bote zu machen, setzt in der Regel eine sehr genaue Abstimmung derRollen, Verantwortlichkeiten und Vorgehensstrategien zwischen denverschiedenen beteiligten Instanzen voraus“ (ebd.). Aus der Perspektiveder Helferinnen und Helfer gesprochen: Die Fremdveränderung derKlientinnen und Klienten kann niemals direkt, sondern nur über denUmweg der Selbstveränderung des Hilfesystems erfolgen. Eigentlichgeht man bei dieser Vorgehensweise keinen Umweg, sondern den Kö-nigsweg des Helfens – zumindest aus der Perspektive der Theorie auto-poietischer Systeme. Wenn die Klientinnen und Klienten in Hilfepro-zessen aktiv werden und Verantwortung übernehmen sollen, dann mussdas Hilfesystem genau dies auch von den ihnen erwarten (können), ja esihnen mit allen Konsequenzen, die das dann hat, zutrauen und entspre-chende Rollenangebote machen.Schwieriger wird eine systemtheoretische Erklärung, wenn wir von ei-nem weiteren Phänomen ausgehen, das Michael Biene mir beschriebenhat, dass nämlich die Klienten die Selbstveränderungen des Hilfesystemimmer so aufgreifen, wie das Hilfesystem sie ihnen vormacht, so dasssie dieses gewissermaßen spiegeln. Wenn sich das Hilfesystem also inder oben beschriebenen Art und Weise hinsichtlich seiner Interaktionenändert, dann ist eine Änderung des Klientensystem hoch wahrschein-lich. Diese Korrelation zwischen Hilfesystem und Klientensystem trifftdann vermutlich auch im negativen Fall zu: Wenn das Hilfesystem sichin einer die Klientinnen und Klienten abschätzigen Weise verhält, durchbestimmte Hilfeangebote den Eintritt in die Unmündigkeit herausfor-dert, dann wird genau dies von den Klientinnen und Klienten gespie-gelt.Dennoch: nach der Systemtheorie ist dieses Bedingungsverhältnis zu-nächst unwahrscheinlich, ungewöhnlich, aber gewiss nicht unmöglich.Wenn es möglich, ja sogar beobachtbar wird, dann sollten wir uns jedochfragen, welche Bedingungen eintreten müssen, was passieren muss, da-

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mit genau dies eintritt, damit ein solches Verhältnis des Spiegelns ent-steht. Ich möchte dazu drei Vermutungen formulieren:

Erste Vermutung: Ich habe es bereits erwähnt, dass Menschen als Ein-heiten psychischer und biologischer Systeme an sozialen Systemen par-tizipieren. Diese soziale Partizipation regelt sich durch das, was die so-ziologische Systemtheorie Inklusion (Luhmann 1995) nennt, nämlichdurch das kommunikative Relevantwerden von Personen in sozialenSystemen. Und wie, mit welchen Eigenschaften, Verhaltensweisen, per-sönlichen Potentialen, Personen in sozialen Systemen relevant werdenkönnen, bestimmen maßgeblich die sozialen Interaktionen und andereKommunikationen, zum Beispiel Aktennotizen, Hilfepläne etc. Wennalso mündliche Interaktionen und auch schriftliche KommunikationenKlientinnen und Klienten mit defizitorientierten Begriffen bezeichnenoder ausschließlich die hilfsbedürftigen Seiten der Klienten fokussieren,werden sich die Personen, die Klienten ja zuallererst sind, möglicher-weise nicht anders zeigen können als defizitär und problembelastet.Wenn allerdings andere kommunikativen Angebote in der Interaktionund im Schriftverkehr gemacht werden, Klientinnen und Klienten alsaktive, mit Potentialen ausgestatte Personen betrachtet werden, die sichselber am besten kennen und damit auch am besten helfen können, dannscheinen plötzlich andere Persönlichkeitsanteile der Klienten auf (dazuauch de Shazer 1988; 1991). An diesem Punkt bestätigt sich die kon-struktivistische Sichtweise, die die methodische Prämisse von MichaelBiene (2003, S. 4) teilt, „dass wesentliche zwischenmenschliche Proble-me durch die Art bedingt sind, wie die Beteiligten über den anderenMenschen beziehungsweise das Problem mit diesem Menschen den-ken“, wie sie über dieses Problem sprechen und schreiben. Selbstdekon-struktive Hilfen schaffen es, von der Problemsprache zu einer Lösungs-, einer Ressourcensprache zu wechseln.Die Klientinnen und Klienten können dann sozial anderes inkludieren,anderes, und zwar für die Problemlösung nützlicheres wird plötzlichnicht nur sichtbar, sondern auch nutzbar, realisierbar (dazu auch Kleve1999, S. 295). Für sich selbst und für andere oftmals überraschend, kön-nen Klientinnen und Klienten dann aktiv und zu Personen werden, diesich selbst helfen, die selbstbewusst ihre eigenen Schwierigkeiten ange-hen. Meine Vermutung ist, dass das Triangel-Projekt Klientinnen undKlienten solche problemlösenden Inklusionen anzubieten vermag.

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Zweite Vermutung: Die Triangel-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiterschaffen es, einem Postulat von Niklas Luhmann (1997a, S. 72) zu fol-gen, und zwar „ein weniger technisches, dafür [...] ein mehr menschli-ches Verständnis“ ihren Klientinnen und Klienten gegenüber zu prakti-zieren. Dies ist ihnen wohl deshalb möglich, weil sie ausgesprochenstark (statt inhalts- beziehungsweise sachorientiert) beziehungsorien-tiert sind. Denn ich denke, sie arbeiten beispielsweise im Sinne der ge-nannten Beratervariablen von Rogers, also authentisch/kongruent, ak-zeptierend, wertschätzend und empathisch.

Dritte Vermutung: Wahrscheinlich koppeln sich die Triangel-Mitarbei-ter durch ihre starke Beziehungsorientierung sehr eng an das Klienten-system an, ohne jedoch der selbstkonstruktiven Hilfe-Logik aufzusit-zen. Sie werden nicht zu unselbstständig machenden Fachkräften, dieihre Hilfe unermesslich weit ausdehnen, sondern zu relevanten bezie-hungsweise signifikanten Anderen der Klientinnen und Klienten. Mitder Systemtheorie könnten wir vielleicht sagen, dass es zu einer sehr en-gen strukturellen Kopplung zwischen beiden, zwischen Hilfesystemund Klientensystem kommt. Und erst diese enge strukturelle Kopplungführt wohl zu den effektiven Interaktionsbeziehungen, die durch dieSelbstveränderung auf der einen Seite zur angeregten Selbstverände-rung auf der anderen Seite führen.Hilfesystem und Klientensystem verkoppeln sich zu einem ko-evoluti-ven Verhältnis, das möglicherweise zu einem Phänomen führt, das CarlGustav Jung für etwas andere, noch ungewöhnlichere Ereignisse als er-folgreiche Hilfen Synchronizität genannt hat (Capra 1991, S. 407). DieSysteme synchronisieren sich, schwingen sich offenbar aufeinander ein.Und dieses Sich-aufeinander-Einschwingen geht dann ja nicht selten soweit, dass diejenigen, denen erfolgreich geholfen wurde, irgendwannetwas Ähnliches machen, wie die professionellen Helfer: nämlich hel-fen, andere Menschen, die in der gleichen Lage sind, in der sie waren,unterstützen. Genau dies zeichnet Triangel schließlich aus, dass diesesProjekt nämlich ehemaligen Klientinnen und Klienten ermöglicht, an-deren zu helfen, die in der gleichen Lage sind, wie sie es waren. Wenn derzeit also in der öffentlichen und der freien Jugendhilfe nichtimmer aus fachlichem Ehrgeiz, sondern – wie eingangs erwähnt – weilgespart werden soll, nach erfolgreichen Hilfekonzepten gesucht wird,dann kann sicher viel vom Projekt Triangel, das heißt von der Etablie-

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rung einer selbstdekonstruktiven Hilfelogik gelernt werden. Meine the-oretischen Beschreibungs- und Erklärungsversuche haben dies hoffent-lich gezeigt. Vor allem sollte eines zumindest in Ansätzen deutlich ge-worden sein: Effektive und effiziente Hilfen können recht einfachentwickelt werden, und zwar vor allem dadurch, dass wir uns selbst, dasheißt unsere helfenden Kommunikationen im Sinne der beschriebenenselbstdekonstruktiven Logik verändern. Aber vielleicht ist genau dasdas Schwerste.

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8. Die sechs Schritte helfender Kommunikation

Eine Handreichung für die Praxis und Ausbildung Sozialer Arbeit mit Britta Haye

AUSGANGSPUNKTE

In der Praxis und Ausbildung der Sozialen Arbeit stellt sich immer wie-der die Aufgabe, die professionelle und exemplarische Fallarbeit ange-messen zu strukturieren. Schon Alice Salomon und Mary Richmondstellten sich die Frage nach der Strukturierung des methodischen Vor-gehens und bezogen sich in ihren Büchern zur Sozialen Diagnose aufdas klassische medizinische Konzept von Anamnese (gr.-lat.; Erinne-rung, und zwar im Sinne von Vorgeschichte), Diagnose (gr.-fr.; unter-scheidende Beurteilung, Erkenntnis, und zwar im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Erklärung) und Behandlung (vgl. Müller 1988, S. 145). Die-ser klassische methodische Dreischritt kann auch noch heutigen Sozial-arbeiterInnen dazu dienen, ihr praktisches Handeln, ihr Kommunizierenmit den KlientInnen zu planen und durchzuführen.Kurt Eberhard (1999) ist sogar der Meinung, dass dieser Dreischritt im-mer dann zum Einsatz kommt, wenn persönliche, kollektive oder ge-sellschaftliche Probleme zu lösen sind. Auch wenn er nicht die genann-ten Begriffe Anamnese, Diagnose und Behandlung verwendet, sondernvon phänomenalen, kausalen und aktionalen Erkenntnisinteressenspricht, um diesen Dreischritt zu bezeichnen, beschreibt er doch genaudie anamnestischen, diagnostischen und behandelnden Erkenntnis- undHandlungsprozesse. Denn das phänomenale Erkenntnisinteresse lässtsich mit der anamnestischen Frage: „Was war und ist los?“ umschrei-ben; das kausale Erkenntnisinteresse ist angeleitet durch die diagnosti-sche Frage: „Warum ist das so?“; und das aktionale Erkenntnisinteressefragt nach der Behandlungsmöglichkeit: „Was ist zu tun?“. Wir könnendavon ausgehend auch sagen, dass es erstens darum geht, die aktuelleSituation mit ihrer Vorgeschichte zu beschreiben, zweitens soll erklärtwerden, welche Ursachen die in der aktuellen Situation beobachtbarenWirkungen erzeugen, und drittens geht es um ein Bewerten von Hand-lungsmöglichkeiten hinsichtlich der Lösung der Problemsituation.

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DIE SECHS SCHRITTE HELFENDER KOMMUNIKATION

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Übersicht 9

Dieses Drei-Schritt-Modell soll im Folgenden jedoch – im Sinne aktu-eller Anforderungen Sozialer Arbeit – in sechs Schritte differenziertwerden, die sich allerdings durchaus auf die Kategorien von Anamnese(phänomenale Frage), Diagnose (kausale Frage) und Behandlung (akti-onale Frage) beziehen lassen:

Übersicht 10

1. Schritt 2. Schritt 3. Schritt

Anamnese Diagnose Behandlung

PhänomenalesErkenntnisinteresse

KausalesErkenntnisinteresse

AktionalesErkenntnisinteresse

Was war und ist los? Warum ist das so? Was ist zu tun?

Beschreibung Erklärung Bewertung von Hand-lungen und Hand-lungsentwurf

1. Schritt 2. Schritt 3. Schritt 4. Schritt 5. Schritt 6. Schritt

Kontext-ualisie-rung

Beschrei-bung der Pro-bleme und Ana-lyse derRessour-cen

Bildung von Hypo-thesen

Zielfin-dung und Auf-tragsklä-rung

Handlung / Intervention

Evalua-tion

Anamnese Diagnose Behandlung

Phänomenale Frage:

Was war und ist los?

Kausale Frage:

Warum ist das so?

Aktionale Frage

Was ist zu tun?

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Besonders betonen möchten wir, dass alle sechs Schritte in Kommuni-kation, Kooperation und Dialog mit den KlientInnen und KundInnen er-arbeitet, ausgehandelt werden sollten. Wir unterscheiden zwischen Kli-entInnen und KundInnen; KlientInnen sind die AdressatInnen SozialerArbeit, während KundInnen die finanzierenden Auftraggeber (zum Bei-spiel Jugend-, Sozial- und Gesundheitsämter, Krankenkassen) sind (vgl.zur Begründung dieser Unterscheidung Kleve u.a. 2003, S 43f.). Wie dieeinzelnen Schritte nun zu verstehen und auszufüllen sind, soll Themader folgenden Ausführungen sein. Dabei werden wir ebenfalls in sechsSchritten vorgehen, zunächst also darstellen, wie kontextualisiert wird(I.), dann die Problembeschreibung und Ressourcenanalyse darstellen(II.), einige Aspekte der Hypothesenbildung erläutern (III.), die Zielfin-dung und Auftragsklärung beschreiben (IV.), skizzieren wie Handlun-gen geplant werden können (V.), um schließlich knapp die Evaluationzu erläutern (VI.). Den Abschluss unserer Ausführungen bildet eine sogenannte rhizomatische Nachbemerkung, in der wir die Linearität unse-rer theoretischen Darstellungen mit der komplexeren Zirkularität derPraxis konfrontieren.

I. KONTEXTUALISIERUNG

Da wir grundsätzlich von einer systemischen Sichtweise Sozialer Ar-beit ausgehen, sind wir der Meinung, dass die bio-psycho-sozialen Pro-bleme der KlientInnen nur verstanden und erfolgreich gelöst werdenkönnen, wenn sie in dem Kontext betrachtet werden, in dem sie gezeigtwerden. Uns interessieren in der Sozialen Arbeit soziale Kontexte, alsosoziale Rahmen und Zusammenhänge, in denen Verhalten gezeigt wird,in denen es als Kommunikation, das heißt als Mitteilung von Informati-onen verstanden wird (vgl. Luhmann 1984, S. 191ff.). Wir können mitder systemischen Theorie davon ausgehen, dass zwischenmenschlichesVerhalten nur verständlich beziehungsweise erklärbar wird, wenn wires in dem Rahmen betrachten, in dem es sich realisiert (vgl. Simon/Stierlin 1984, S. 198). Dafür lassen sich unterschiedliche Belege anfüh-ren, so zum Beispiel die Forschungen, die zur Entwicklung der systemi-schen Familientherapie führten (siehe Bateson u.a. 1969).Diese in erster Linie kommunikationstheoretischen Studien, die in den1950er Jahren durchgeführt wurden, offenbarten am Beispiel schizo-

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DIE SECHS SCHRITTE HELFENDER KOMMUNIKATION

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phrenen Verhaltens, dass der Sinn dieses Verhaltens nur verstandenwerden kann, wenn es in seinem familiären Kontext gesehen wird. AmBeispiel des Verhaltens von als schizophren diagnostizierten Familien-mitgliedern wurde also deutlich, dass Schizophrenie nicht nur das Sym-ptom eines Patienten ist. Vielmehr entdeckten Gregory Bateson und sei-ne Kollegen, dass schizophrene Verhaltensweisen Resultat einer (para-doxen) Kommunikation in einem bestimmten sozialen Kontext sind(vgl. dazu auch Watzlawick u.a. 1969, S. 171ff.). Will man diese Ver-haltensweisen beeinflussen, so reicht es demnach nicht, individuell be-ziehungsweise personenzentriert anzusetzen, sondern es ist erforder-lich, die Familie und ihr Umfeld zumindest in die Diagnostik und mög-lichst auch in den Behandlungsplan mit einzubeziehen.Wenn man die Verhaltensweisen und allgemein die Probleme der Kli-entInnen in ihren sozialen Kontexten analysieren und behandeln soll,dann ist es während der sozialarbeiterischen Fallarbeit ausgesprochenwichtig, zunächst etwas durchzuführen, was wir Kontextualisierungnennen (vgl. ausführlicher zur Kontextualisierung Kleve u.a. 2003, S.97ff.). Diese Kontextualisierung ist im Grunde genommen das, was inder Klinischen Sozialarbeit bereits als die Person-in-der-Situation-Per-spektive beschrieben wird (vgl. Kling-Kirchner 2000, S. 107). Das Pos-tulat, eine solche Perspektive einzunehmen, hat die Soziale Arbeitschon immer von der individuumsorientierten klassischen Psychothera-pie unterschieden. Dies unterstreicht Fritz B. Simon (1983, S. 349f.),wenn er konstatiert, dass die bereits erwähnte systemische Familienthe-rapie ihre Wurzeln nicht nur in der Schizophrenieforschung, sondernauch in der Sozialen Arbeit hat. Denn „beides sind Bereiche, die die Er-fahrung vermitteln, daß das menschliche Individuum nicht ‚kleinstetherapiefähige Einheit‘ ist“ (ebd.).Wie soll nun kontextualisiert werden? Wir schlagen vor, dass sich diesozialarbeiterische Kontextualisierung grundsätzlich auf mindestensdrei Bereiche bezieht: auf den lebensweltlich-familiären Kontext, aufden sozio-ökonomischen Kontext und schließlich auf den Hilfesystem-Kontext.

Der lebensweltlich-familiäre Kontext: Dieser Kontext umfasst denKontext, den wir auch als Integrationsbereich (vgl. Kleve 2000, S.45ff.) bezeichnen könnten, als einen Bereich, in dem Personen als ganzeMenschen relevant werden. In diesem Kontext ist der Mensch einge-

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bunden in Familien- und Freundschaftsbeziehungen und teilt mit ande-ren Menschen bestimmte Werte und Normen. In der Familie oder unterFreunden kann alles Persönliche, das heißt kann alles, was gedacht oderwann auch immer getan wurde, Thema von Kommunikation werden. Inder Systemtheorie spricht man davon, dass vor allem Intimsysteme wieFamilien oder Paarbeziehungen etwas ermöglichen, was in den anderenTeilen der Gesellschaft nicht realisiert werden kann: die Komplettbe-treuung der Person, die Inklusion (vgl. Luhmann 1995) (vielleicht bes-ser: Integration) der Gesamtpersönlichkeit (vgl. Fuchs 1999a).Ein Verfahren, das sich in der Praxis bewährt hat, um insbesondere denfamiliär-intimen Kontext zu analysieren, ist das aus der Familienthera-pie stammende Genogramm (siehe zu den Symbolen und Visualisie-rungsregeln Schlippe/Schweitzer 1996). Genogramme dienen der über-sichtlichen Darstellung von komplexen Informationen über Familien-systeme. Ein Genogramm kann bis zu drei Generationen umfassen undwird in der Regel gemeinsam – diskursiv, dialogisch – mit den Famili-enmitgliedern oder den einzelnen KlientInnen erarbeitet.Ein Genogramm ist eine (Re-)Konstruktion der familiären Vergangen-heit aus der jeweiligen sozialen, sachlichen und zeitlichen Perspektive;insofern offenbart ein Genogramm nicht, wie die familiäre Geschichtewirklich war, sondern wie sie „hier und jetzt“ (Zeitdimension) aus derPerspektive der entsprechenden Person(en) (Sozialdimension) bezüg-lich einer bestimmten in der Beratung zu bearbeitenden Problemstel-lung beziehungsweise bezüglich eines bestimmten Themas (Sachdi-mension) beschrieben wird/werden kann.Das Genogramm wird in der Regel ausgehend von einem jeweils infra-ge stehenden Klienten erarbeitet. In das Bild lassen sich dann wichtigeFakten einschreiben: Name, Alter, Geburts- und eventuell Todesdaten,Datum der Heirat, eventuell auch des Kennenlernens, Daten der Tren-nung und Scheidung, Wohnorte, Herkunftsorte der Familie, Ortswech-sel, Krankheiten, Symptome, Todesursachen, Berufe. Interessant sindauch weitere Informationen, die sich im Gespräch über das Genogrammherausdifferenzieren: Eigenschaften, die Personen zugeschrieben wer-den – auch besondere Fähigkeiten, Auffälligkeiten und Stärken, Begrif-fe zur Kennzeichnung der jeweiligen Familienatmosphäre, Hinweiseauf bestimmte immer wiederkehrende Themen in der Familie, Tabusund ‚weiße Stellen‘ im Genogramm (zum Beispiel Familienmitglieder,von denen nur wenig oder nichts bekannt ist), Ressourcen, besondere

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Leistungen der Familie. „Das Wichtigste bleiben jedoch die Geschich-ten, die zu den Genogrammdaten erzählt werden. Sie bilden den Hinter-grund für ein neues Verständnis der Gegenwart“ (Schlippe/Schweitzer1996, S. 131). Die Erarbeitung eines Genogramms dient einem zweifachen Ziel: ers-tens soll die aktuelle (Familien-)Situation visualisiert werden mit allendazu gehörenden Personen; und zweitens sollen aktuelle und vergange-ne Themen neu, das heißt anders als bisher beschrieben werden, undzwar bestenfalls so, dass Ressourcen entdeckt werden können, die beider Lösung aktueller Schwierigkeiten/Probleme hilfreich sind. MittelsGenogrammen sind also nicht lediglich problematisch bewertete As-pekte, Eigenschaften von Personen, Familienthemen etc. zu explizie-ren, sondern insbesondere auch Stärken, Ressourcen von Personen undvor allem die (verschütteten, bisher ausgeblendeten) ‚Schätze‘ der Fa-milie, die es gilt, schätzen zu lernen.

Der sozio-ökonomische Kontext: Dieser Kontext kann auch als der In-klusionsbereich (vgl. Kleve 2000, S. 45ff.) beschrieben werden, als einBereich, in dem die Personen nur teilweise, ausschnitthaft als Rollenträ-ger, zum Beispiel als ArbeitnehmerInnen, KäuferInnen, SchülerInnen,KlientInnen etc., teilnehmen und mit anderen Personen interagieren, diesich ebenfalls in einer solchen Rolle befinden, zum Beispiel in einerprofessionellen Berufsrolle. In diesen Kontexten werden im Gegensatzzum lebensweltlich-familiären Kontext, wo die Gesamtperson relevantwird, je nach den kommunikativen Erfordernissen, je nach den Inklusi-onsnotwendigkeiten und -möglichkeiten immer nur bestimmte Persön-lichkeitsteile inkludiert, im sozialen Verkehr relevant.Wichtig ist dieser Kontext vor allem deshalb, weil die moderne Gesell-schaft funktional differenziert, das heißt in unterschiedliche Systemezergliedert ist, an denen wir teilnehmen, inkludieren, dazu gehörenmüssen, um unsere physische und psychische Existenz zu sichern. Sol-che Systeme wie das Wirtschafts-, das Erziehungs-/Bildungs-, das Ge-sundheits- oder das Politiksystem sind damit gemeint. Ohne Chancen,an diesen Systemen teilzunehmen, könnten wir unser Überleben nichtsichern, könnten wir kein Geld verdienen, um uns zu ernähren, zu klei-den oder zu wohnen, könnten wir keine Bildung erwerben, um uns Ver-dienstmöglichkeiten zu sichern etc. Daher bringt gerade die Exklusionaus diesen Systemen Soziale Arbeit auf den Plan, die Exklusionen zu

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verhindern oder – wenn bereits eingetreten – durch stellvertretende In-klusion und Exklusionsverwaltung zu kompensieren sucht. In der Sozi-ologie der Sozialen Arbeit wird daher davon gesprochen, dass die ge-sellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit als Exklusionsprävention,Re-Inklusion oder Exklusionsverwaltung bezeichnet werden kann (sie-he ausführlicher zu dieser Diskussion Kleve 2000, S. 77ff.).An diesem Punkt lässt sich nicht nur die Wichtigkeit der Explizierungdieses Kontextes begründen, sondern auch, warum Soziale Arbeit ange-sichts der auf Inklusion und Exklusion bezogenen Funktion bio-psycho-sozial anzusetzen hat: „Die bio-psycho-soziale Orientierung der Sozial-arbeit wird leicht verständlich, wenn man bedenkt, daß jedes individu-elle Ausgeschlossensein von Menschen aus gesellschaftlichen Syste-men, somatisch (biologisch), psychisch oder eben sozial wirken kann.Umgekehrt können auch die biologischen, psychischen und sozialenSystemebenen der Menschen das individuelle Ausgeschlossensein be-dingen. Da Sozialarbeit eben dieses soziale Ausgeschlossensein auswirtschaftlichen, politischen, rechtlichen oder pädagogischen Systementhematisiert und bearbeitet, hat sie alle möglichen Bedingungen, die die-ses Ausgeschlossensein bewirken und/oder damit einhergehen, eben so-ziale, psychische und somatische Bedingungen, zu beachten“ (Kleve/Ortmann 2000, S. 115).Im Einzelnen gehören zum sozio-ökonomischen Kontext u.a. infrastruk-turelle Gegebenheiten wie Arbeitsmöglichkeiten, die Ausstattung mitmedizinischen, erzieherischen, schulischen u.a. Dienstleistungssyste-men sowie die Möglichkeiten und strukturellen Behinderungen der Kli-entInnen, an diesen Einrichtungen zu partizipieren. Zu Beginn der Hilfesollte es eine gründliche Analyse dieser kontextuellen Bedingungen ge-ben, um vor diesem Hintergrund die Probleme und Ressourcen der Kli-entInnen, ihre jeweiligen Zugangsmöglichkeiten verstehen zu lernen.

Der Hilfesystem-Kontext: Dieser Kontext gehört ebenfalls, wie der so-zio-ökonomische Kontext, zum Inklusionsbereich. Seine Betrachtungerscheint wichtig, weil KlientInnen Sozialer Arbeit häufig bereits unter-schiedliche andere Hilfesysteme durchlaufen haben, bevor sie zu Fällender jeweils aktuellen Sozialen Arbeit werden, sie haben möglicherweisebereits eine Problemgeschichte durchschritten. Die Frage ist dann, wassie bereits an Erfahrungen gesammelt haben, welche Bedeutung dieseanderen Hilfesysteme für sie hatten oder immer noch haben. Des Wei-

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teren kann es im Verlauf der Hilfe wichtig sein, mit den anderen Helfe-rInnen Kontakt aufzunehmen, um Absprachen zu treffen, das weitereVorgehen gemeinsam zu koordinieren (zum Beispiel mittels einer Hil-fekonferenz). Die beteiligten HelferInnen können ebenfalls visualisiertwerden, um die mögliche Komplexität des Hilfesystemkontextes zu be-trachten. Wichtig ist also, dass die anderen Helfersysteme bekannt sind,die jeweiligen Ziele kommuniziert werden könne, um gegenseitige Be-hinderungen und Doppelbetreuungen zu vermeiden.

II. BESCHREIBUNG DER PROBLEME UND ANALYSE DER RESSOURCEN

Ein zentraler Schritt der helfenden Kommunikation ist die Beschrei-bung der jeweiligen Probleme und die Analyse der Ressourcen, an wel-che während der Phasen der Zielfindung und der Handlungsplanung an-geschlossen werden kann.

Beschreibung der Probleme: Aus systemischer Sicht sind Problemekeine objektiven Gegebenheiten, sondern sozial konstruierte Phänome-ne. Sie differenzieren sich ausgehend von der Unterscheidung Normund Abweichung. Ohne diese Unterscheidung, die einen Soll-Wert,eben die Norm und einen Ist-Wert, eben die aktuelle Abweichung zukonstatieren erlaubt, können keine Probleme beobachtet werden (vgl.Kleve 1996, S. 27ff.; 2001). Die Frage ist jedoch, wer diese Differenzvon Norm und Abweichung wie setzt und beobachtet. Handelt es sichum eine Differenzsetzung und -beobachtung, die von den KlientInnenselbst vorgenommen wird? Rechnen sich die KlientInnen die Problemealso zu, oder wird ihnen von anderen, die eine bestimmte Differenz vonNorm und Abweichung zugrunde legen, ein Problem zugerechnet? Die-se Fragen der Attribution, der Zurechnung sind in der Phase der Fallar-beit zunächst zu thematisieren. Im weiteren Verlauf sollte dann die Pro-blemanalyse dreidimensional erfolgen: bio-psycho-sozial. Was SozialeArbeit von anderen Professionen unterscheidet, ist nämlich ihr dreifa-cher Fokus auf die biologischen, psychischen und sozialen Systeme undBedürfnisse von Menschen, ihr spezialisierter Generalismus (vgl. Kle-ve 2000, S. 94ff; Kleve 2002b).

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Übersicht 11

Ein wichtiger Aspekt bei der Problemdefinition ist die rechtliche SeiteSozialer Arbeit. Unsere Sozialgesetze sind problem- und individuums-zentriert, das heißt immer auf einen konkreten Einzelfall bezogen. Wirmüssen also individuelle oder familiäre Probleme in den Blick bringen,definieren können, mithin Probleme Individuen oder Familien zurech-nen, um bestimmte rechtlich zugesicherte Hilfen (zum Beispiel im Sin-ne des KJHG oder des BSHG) einleiten zu können. Mit anderen Wor-ten, um Hilfen ausgehend von rechtlichen Regelungen zu finanzieren,müssen in der Regel Symptom- beziehungsweise Problemträger identi-fiziert werden. Dies bringt mindestens zwei Probleme mit sich: zum ei-nen das Problem, dass das Umfeld, die sozialsystemischen und struktu-rellen Ebenen der Problembedingungen zunächst einmal unberücksich-tigt bleiben und zum anderen das Problem, dass die Ressourcen, diebesonderen Fähigkeiten, das, was klappt, nicht ins Blickfeld gerät.Gerade deshalb ist die systemische Sichtweise hier hilfreich, um das po-tenziell Ausgeblendete einzublenden: die sozialsystemischen Bedingun-gen der Probleme und die Ressourcen. Besonders die systemisch-lö-sungsorientierte Sicht versucht, den Aspekt der Ressourcen so radikalwie keine andere Beratungs- und Therapiemethode zu berücksichtigen.

Bio-Psycho-Soziale Gleichzeitigkeit Sozialer Arbeit

Biologisches Psychisches Soziales

Fokus gesundheitliche Fragen, körperli-che/physische Bedürfnisse

psychische/emo-tionale Fragen, psychische/emo-tionale Bedürf-nisse

soziale Fragen, soziale Bedürf-nisse

Beispiele Ausstattung mit (gesunder) Nah-rung, Kleidung, Wohnraum etc.; (angemessener) Umgang mit dem eigenen Körper, mit Krankheiten etc.

kognitive und emotionale Bewältigung/Verarbeitung von Ereignissen (Ängste, Süchte etc.)

soziale Beziehun-gen in der Familie oder durch Freunde (Integra-tion); Zugang zu sozial-ökonomi-schen Ressourcen (Inklusion)

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Demnach zeigt diese systemische Perspektive die Notwendigkeit auf,nicht in einer „Problemtrance“ zu verharren (vgl. etwa de Shazer 1988;1991), sondern die Probleme nur so lange in den Mittelpunkt der Be-trachtung zu stellen, bis eine sinnvolle Problembeschreibung erarbeitetwurde.Schließlich wollen wir – und damit laufen wir zumindest der Argumen-tation der radikalen Lösungsorientierung eines Steve de Shazer entgegen(vgl. ebd.) – betonen, dass die Problembeschreibung auch aus bezie-hungsdynamischen Gründen wichtig ist. Denn wir können von zweierleiausgehen, und zwar erstens davon, dass sich die Wahrscheinlichkeit, er-folgreich zu helfen, erhöht, wenn die Beteiligten (KlientInnen, KundIn-nen und HelferInnen) ihre Beziehungen als produktiv, kooperativ, wert-schätzend und wohlwollend empfinden; zweitens erhöht sich die Wahr-scheinlichkeit einer erfolgreichen Hilfe je größer die Veränderungsbe-reitschaft der KlientInnen ist. Unsere Erfahrung legt es nahe, davonauszugehen, dass die SozialarbeiterIn/KlientIn-Beziehung sich produk-tiver, kooperativer und wertschätzender gestalten lässt und die Verände-rungsbereitschaft der KlientInnen wächst, wenn zunächst die Problemedurch den aufmerksamen Fokus der Beratungskommunikation gewürdigtwerden.

Analyse der Ressourcen: Neben der Problembeschreibung ist der Res-sourcenanalyse besondere Bedeutung beizumessen. Letztlich schließenwir damit an zwei klassische sozialarbeiterische Postulate an, und zwarerstens an das Prinzip, dort anzufangen, wo der Klient steht und zwei-tens an die Maxime, von den Stärken des Klienten auszugehen. Wir können mindestens vier Ressourcendimensionen unterscheiden:

Erstens: Persönliche Ressourcen: Damit sind alle Fähigkeiten der Kli-entInnen gemeint, die sie biologisch, psychisch und sozial erworben ha-ben, zum Beispiel Humor, Sensibilität, Talente, Gesundheit, handwerk-liches Geschick, verzeihen können, Hilfe annehmen können, im Lebeneinen Sinn sehen können, Bindungsfähigkeit etc.

Zweitens: Lebensweltlich-soziale Ressourcen: Damit sind alle aus derSicht der Beziehungspartner guten, also konstruktiven, unterstützenden,wertschätzenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn etc.gemeint.

Drittens: Soziale Ressourcen im Gemeinwesen der KlientInnen: Damitsind beispielsweise Mitgliedschaften in Vereinen gemeint, hilfreiche

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Beziehungen zu Ärzten, Psychologen, Pfarrern etc., kooperative Kon-takte zu Schulen, Kirchgemeinden oder anderen jeweils relevanten oderhilfreichen Einrichtungen im Gemeinwesen beziehungsweise Sozial-raum.

Viertens: sozio-ökonomische Ressourcen: Damit sind alle materiellen,sozialen und ökonomischen Ausstattungen gemeint, wie etwa einen Ar-beitsplatz besitzen, etwas Vermögen (zum Beispiel durch Erbschaft) er-worben zu haben, Bildungsabschlüsse nachweisen zu können, ange-messenen Wohnraum zu nutzen etc.Für HelferInnen, die ihren Ressourcenblick schärfen wollen, kann essinnvoll sein, Ressourcen dadurch zu erkennen, dass sie das, was sienormalerweise (etwa in ihrer eigenen Lebenswelt) als selbstverständ-lich und alltäglich ansehen, als besonders beachtenswert, als nicht all-täglich bewerten. Mit anderen Worten, alles das, was gut, brauchbar,hilfreich ist, beziehungsweise was an Beziehungen positiv und kon-struktiv läuft und was an materiellen Ausstattungen Sicherheit bietenkann, lässt sich als Ressource ansehen. Ferner können bestimmte Pro-blembeschreibungen auch mittels der „sanften Kunst des Umdeutens“(vgl. Watzlawick 1977), durch das Reframing (vgl. Haye/Kleve 1998)in Ressourcen transformiert werden. Durch Reframing lassen sich dieBewertungen und Bedeutungen von Phänomenen (zum Beispiel vonSymptomen) verändern. Günstigenfalls lassen sich problematische Be-wertungen in weniger problematische beziehungsweise als für den kon-struktiven Fortgang der Beratung stützende Bewertungen transformie-ren. Wir werden noch erläutern, dass die systemische Sichtweise, Sym-ptome als nützliche, beziehungsgestaltende Phänomene zu betrachten,eine solche Umdeutung darstellt.

III. BILDUNG VON HYPOTHESEN ÜBER DIE PROBLEMBEDINGUNGEN

Aus konstruktivistischer Sicht (vgl. Kleve 1996) können wir niemalsdie wahren oder wirklichen Gründe für ein bio-psycho-soziales Pro-blem ermitteln (vgl. exemplarisch für das Symptom ADHS dazu Baer-wolff 2002). Denn psychische und soziale Systeme strukturieren sichnach komplexen und eigenen, von außen nicht direkt beobachtbarenRegeln. Und jeder Beobachter beobachtet nach ganz spezifischen undselbstreferentiellen Mustern – mit anderen Worten: jeder Beobachter

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beobachtet anders. Daher lassen sich aus unterschiedlichen sachlichen,sozialen und zeitlichen Dimensionen möglicherweise unendlich vieleGründe beziehungsweise Ursachen für Probleme aufführen.Diese Dimensionen können – auch innerhalb von Selbstreflexionen inSupervisions- und Evaluationsprozessen – mit folgenden Fragen einge-grenzt werden – Sachdimension: „Anhand welcher theoretischer Vor-annahmen und auf der Grundlage welcher Informationen erkläre ich dasProblem?“; Sozialdimension: „Wer erklärt das Problem und aus wel-cher Perspektive?“; Zeitdimension: „Wann erkläre ich das Problem?“.Erklärungen, also Beschreibungen über das Warum, über die Ursachenvon Beobachtungen, sind kontingent, sie könnten in Abhängigkeit dersachlichen, sozialen und zeitlichen Dimensionen „so, aber auch anders“ausfallen. Auch Beschreibungen, also was beobachtet wird beziehungs-weise welche Phänomene dem Beobachter als Realität erscheinen, undBewertungen, die die Bedeutung des Beobachteten markieren, können„so, aber auch anders“, also kontingent sein.In dieser Hinsicht sind Hypothesen zunächst (noch) unüberprüfte Erklä-rungen über die möglichen Bedingungen, Gründe beziehungsweise Ur-sachen der jeweils relevanten Probleme. Sie dienen dazu, weitere Über-legungen (vor allem bezüglich der Problemlösung/Handlungsplanung)anzuregen. Hypothesen sollten daher die bekannten Informationen desFalls in sinnvoller Weise zu Erklärungen verknüpfen. Hypothesen sindweiterhin im Konjunktiv, in der Möglichkeitsform zu formulieren. DieHypothesenbildung arbeitet deshalb – wie in Anlehnung an den Schrift-steller Robert Musil (1930/42, S. 16) gesagt werden könnte – mit demMöglichkeitssinn: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier istdies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er-findet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm vonirgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es ist, dann denkt er: Nun, es könn-te wahrscheinlich auch anders sein“.Weiterhin empfehlen wir beim Bilden von kausalen Hypothesen vierAspekte zu beachten:

Erstens: Hypothesen sollten beziehungsdynamisch formuliert sein. Er-klärungen für die problematischen Verhaltensweisen sollten sich alsoauf die Interaktionen beziehen, in deren Kontext diese Verhaltenswei-sen als (Re-)Aktionen bezüglich anderer Verhaltensweisen gezeigt wer-den. Mit anderen Worten, die am Problem beteiligten beziehungsweisevom Symptom betroffenen Personen sollten in die Erklärungen einbe-

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zogen sein. Aus beziehungsdynamischer Sicht könnten wir auch vonder Perspektive, von dem Reframing (s.o.) ausgehen, dass Symptomeoder Probleme beziehungsgestaltend wirken, einen Sinn machen kön-nen, eine Funktion erfüllen und einem Zweck dienen. Mit psychoanaly-tischer Terminologie wäre hier auch von dem so genannten „sekundä-ren Krankheitsgewinn“ (Freud 1942, S. 202ff.) zu sprechen. Wir solltenalso schauen, in welchen Beziehungen das jeweilige Symptom oderProblem welche „positive“ Wirkung, welche Funktion, welchen Sinnhat.

Zweitens: Hypothesen sollten erklären, wie, das heißt aufgrund welcherAnnahmen, Modelle, Sichtweisen, kurz: „inneren Landkarten“ der Kli-entInnen Probleme zustande kommen beziehungsweise aufrecht erhal-ten werden. Denn mit Watzlawick u.a. (1974) können wir davon ausge-hen, dass Probleme inadäquate Lösungsversuche sind, die mit bestimm-ten Sichtweisen, Annahmen, Modellen beziehungsweise „innerenLandkarten“ der KlientInnen einhergehen. Menschen, die sich Proble-me zuschreiben, überlegen, wie sie diese lösen können. Genau dieseÜberlegungen können aber durch die daraus resultierenden Handlungendie Probleme erst zementieren oder verstärken, das heißt – paradox ge-sagt: die Lösung beziehungsweise der Lösungsversuch wird selbst zumProblem. Daher ist es wichtig, die Aussagen der KlientInnen dahinge-hend auszuwerten, ob sich in ihnen derartige problematische Sichtwei-sen, Annahmen oder Modelle über die Probleme beobachten lassen.Außerdem sollten die bisherigen Lösungsversuche mit den KlientInnenbesprochen werden, um zu sehen, warum diese nicht greifen konntenund möglicherweise das Problem verstärkten.

Drittens: Hypothesen sollten relevante Ereignisse in den Blick bringen,die das Problem möglicherweise bedingen könnten. Hierbei sind die na-türlichen Lebenszyklen von Menschen und Familien zu beachten, diemarkante Punkte aufweisen, an denen mit individuellen und sozialen An-passungen reagiert werden muss. In Abhängigkeit davon, wie diese An-passungen gelingen, kann es zu Problem- beziehungsweise Symptombil-dungen kommen. Als Unterstützung für diesen Aspekt der Hypothesen-bildung kann beispielsweise die folgende Tabelle als grobes Rasterdienen, die den natürlichen Lebenszyklus von Familien mit seinen unter-schiedlichen Stationen, Ereignissen und Entwicklungsaufgaben deutlichmacht.

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Übersicht 12

Familiärer Lebenszyklus

Phase Zu bewältigende Aufgaben

Paarbildung

• Aufeinander einstellen• Klären gegenseitiger Erwartungen• Einüben von Verhaltensmustern• Ausgleich von Wertvorstellungen• Differenzierung zu den Herkunfts-familien (Regeln finden, welche Herkunftsfamilie setzt sich durch?)

Geburt eines Kindes

• Erweiterung des 2-er Systems• Paarbeziehung sollte neu geregelt werden• Mutter-Kind-Symbiose sollte gelöst werden• Einsetzen gruppendynamischer Prozesse• Dreiecksbildung (kann stabilisierende und kon-fliktmildernde Funktion für die Paar-beziehung haben)

Kind kommt in die Kita /Schule

• Einsetzen sozialer Kontrolle durch öffentliche Institutionen• Kind lernt andere Beziehungen und Wert-vor-stellungen kennen (Loyalitätskonflikte)• „Leistung“ wird thematisiert• Autonomiebestreben des Kindes verstärkt sich und ruft u.U. Verlustängste bei den Eltern hervor

Heranwachsen des Kindes

• Entwicklung geschlechtlicher Identität• Infragestellung elterlicher Autorität• Hinwendung zu peer-groups• Ablösung vom Elternhaus• Eltern sollten Kind mehr Autonomie und Ver-antwortung zugestehen

Auszug des Kindes

• Übergang zum 2-er System• Eltern sollten sich wieder als Paar definieren• Bewältigung des Verlustes des Kindes• Kind baut sich eine Paarbeziehung auf (Symp-tome können auftreten, weil Autonomiebestrebun-gen evtl. boykottiert werden; Kind phantasiert: es würde etwas Schlimmes passieren, wenn ich raus gehe)

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Neben diesen eher natürlichen, zeitbedingten Ereignissen kommen häu-fig weitere (zum Beispiel externe, sozio-ökonomische) Ereignisse dazu,die als Belastungen und damit als problemauslösend wirken; zum Bei-spiel könnten das Ereignisse wie Trennungen und Scheidungen, Erkran-kungen, Umzüge, früher Tod, Arbeitslosigkeit, Unfall, Gründung einerZweitfamilie etc. sein.

Viertens: Sozialarbeiterische Hypothesen sollten sozio-ökonomischeFaktoren zur Problemerklärung einbeziehen. Derartige Faktoren sindbeispielsweise gesellschaftliche Veränderungen (zum Beispiel die Ver-einigung der beiden deutschen Staaten), gesamtgesellschaftliche Wirt-schaftskrisen (zum Beispiel strukturelle Arbeitslosigkeit), Veränderun-gen der Rollenanforderungen an die Geschlechter (Gender-Thematik),politische und rechtliche Strukturvorgaben (zum Beispiel Veränderungbeziehungsweise Abbau der Infrastruktur wie Schließung wichtigerEinrichtungen), aber auch Geld- oder Wohnraummangel etc.

Zusammenfassend gesagt geht es bei der Hypothesenbildung um die Er-arbeitung von handlungsleitenden Ideen, die nicht wahr, sondern bes-tenfalls brauchbar beziehungsweise nützlich sind bei der weiteren Ar-beit mit den KlientInnen. Denn die Bestätigung über die Brauchbarkeitunserer Hypothesen erfahren wir nur im Dialog mit den KlientInnen. In-sofern empfehlen wir immer mehr als eine, möglicherweise auch sichwidersprechende Hypothesen zu bilden, die den KlientInnen angebotenwerden können oder von denen während der Arbeit ausgegangen wer-den kann. Mit Helm Stierlin (1989, S. 151) ist es uns wichtig zu bemer-ken, dass es „nicht darum [geht], die eine ‚richtige’, sondern eine sinn-volle Hypothese zu finden oder, vielleicht besser: zu erfinden. DieseHypothese sollte dann jederzeit auf Grund neuer Informationen verwor-fen, modifiziert oder durch eine zutreffendere ersetzt werden können.Anders als zum Beispiel klassisch psychoanalytisch orientierte Profes-sionelle gehen wir nicht davon aus, dass der „Widerstand“ gegenüber

Phase Zu bewältigende Aufgaben

Neuorientierungs-/Altersphase

• Ende der Berufstätigkeit• Suche nach neuem Lebenssinn• Geburt von Enkeln• Umgang mit Pflegebedürftigkeit

Tod • Abschied

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einer Deutung beziehungsweise Hypothese deren Richtigkeit beweist,im Gegenteil: bei „Widerstand“ gegenüber einer Hypothese ziehen wirselbst diese in Zweifel und suchen – auch gemeinsam mit den KlientIn-nen – eine neue. Dies resultiert aus den oben genannten beziehungsge-staltenden Aspekten der Wertschätzung und des Akzeptierens der klien-tären Meinungen und Überzeugen und aus der Kontingenz und Fehlbar-keit jeder Hypothesenbildung.

IV. ZIELFINDUNG UND AUFTRAGSKLÄRUNG

Die Zielfindung und Auftragsklärung sind Aspekte, die im klassischenmethodischen Dreischritt neben der Kontextualisierung und Evaluationnicht explizit benannt werden. Daher wollen wir zunächst erklären, wa-rum diese Aspekte aus unserer Sicht besonders wichtig sind.Ausgehend vom systemisch-lösungsorientierten Ansatz versuchen wirdie Aufmerksamkeit der KlientInnen auf eine zufriedenstellende bezie-hungsweise problemfreie Zukunft zu fokussieren. Dafür ist es sinnvoll,die anzustrebenden Ziele gemeinsam mit den KlientInnen zu definieren.Idealerweise sind die Ziele der KlientInnen in den Mittelpunkt zu stel-len. Denn dies ist die Voraussetzung, die Basis für eine kooperative,partnerschaftliche Gestaltung des Hilfeprozesses. Außerdem forderteine (post)moderne Soziale Arbeit die noch zu besprechende Evaluati-on, die nur durchgeführt werden kann, wenn die tatsächlich erreichtenErgebnisse der Hilfe mit den vereinbarten Zielen verglichen werdenkönnen (Aspekt der Effektivität). Auch möchten wir auf die Unterschei-dung von Positionen und Interessen hinweisen. Die Positionen sind diegeäußerten Absichten und Wünsche und verdecken häufig die „eigent-lichen“ Bedürfnisse und Interessen der KlientInnen, die die Grundlagefür die Zielformulierung sein sollten. Um zu verdeutlichen, wie wir Po-sitionen von Interessen unterscheiden, möchten wir das folgende, viel-leicht bekannte Beispiel anführen:

Zwei Schwestern streiten sich um eine Apfelsine, beide äußern denWunsch, die Apfelsine zu besitzen. Der Kompromiss, zu dem gelangen,ist, die Apfelsine zu teilen. Wie sich dann heraus stellt, wollte eineSchwester die Schale der Apfelsine zum Kuchenbacken benutzen, wäh-rend die andere das Fruchtfleisch essen wollte. Wäre es den beiden vor-

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her gelungen, ihre eigentlichen Interessen, ihre Ziele heraus zu finden,hätten sie eine bessere Lösung vereinbaren können.

Bei der Zielfindung erscheint es uns sinnvoll, die zunächst geäußertenPositionen und Wünsche auf ihre nicht artikulierten Bedeutungsgehaltezu befragen. Denn erst die Bedeutungen, die hinter Positionen undWünschen stehen oder mit diesen latent einher gehen, ermöglichen dieExplizierung der eigentlichen Ziele unserer KooperationspartnerInnen.Bei der Zielfindung sind aus unserer Sicht weiterhin vor allem folgendeAspekte zu beachten (vgl. Walter /Peller 1994): Ziele sollten eindeutigdefiniert werden, sie sollten so konkret, überschaubar und klein wiemöglich sein. Beispielsweise ist aus dieser Sicht die häufig formulierte„Selbstwerterhöhung“ in sozialarbeiterischen Hilfe- und Zielplanungeneine eher unangemessene Beschreibung, weil sie sehr schwer zu opera-tionalisieren ist – es sei denn, das Ziel der „Selbstwerterhöhung“ wirddurch konkret beschriebene Verhaltensweisen operationalisiert, an de-nen diese – sowohl für die KlientInnen in der Selbst- als auch für dieHelferInnen in der Fremdwahrnehmung – erkennbar ist. Zielformulie-rungen sollten in unserem Sinne also operationalisierbar sein, das heißtkonkrete Verhaltensweisen benennen, die von den KlientInnen in abseh-barer Zeit auch erreichbar und überprüfbar („messbar“) sind. Weiter-hin sollten Ziele positiv formuliert sein, also keine Negationen, was mannicht mehr tun will, enthalten. Beispielsweise könnte in dieser Diktiondas Ziel „Ich will nicht mehr rauchen“, das eine Negation enthält, trans-formiert werden in das Ziel: „Ich will wieder gut atmen können.“ DasPostulat der positiven Formulierung von Zielen resultiert aus der Erfah-rung, dass es Menschen leichter fällt, negativ bewertete Verhaltenswei-sen durch andere, positive bewertete Verhaltensweisen zu ersetzen, alsdie negativ bewerteten Verhaltensweisen einfach nicht mehr zu tätigen.Wir wollen also den Fokus der Aufmerksamkeit nicht auf ein Defizit,nicht auf einen Verlust lenken, sondern auf einen Gewinn, eben auf dieMöglichkeit, neues positives Verhalten zu erlernen beziehungsweisezeigen. Damit betonen wir, dass Ziele dazu dienen sollen, funktionaleÄquivalente für problematisch bewertete Verhaltensweisen zu finden.Mit anderen Worten geht es bei der Zielfindung darum zu erfragen, wasstatt des problematischen Verhaltens getan werden beziehungsweise er-reicht werden soll.Während der Zielvereinbarung sollte differenziert werden, wer waswann mit wem wie wozu erreichen beziehungsweise tun möchte. Bei

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diesen Fragestellungen gerät bereits die Auftragsklärung ins Blickfeld.Bei der Auftragsklärung stellt sich der Sozialen Arbeit jedoch ein be-sonderes Problem. Denn wir haben es zumeist mit einer triadischen Be-ziehung zu tun, die sich strukturiert durch die Aufträge der KlientInnen,der KundInnen und der HelferInnen. Wir unterscheiden zwischen Kli-entInnen und KundInnen, jene sind die so genannten Hilfsbedürftigen,die AdressatInnen Sozialer Arbeit, diese sind die auf der Grundlage dersozialrechtlichen Bestimmungen Hilfe einleitenden und finanzierendenStellen (zum Beispiel Sozial-, Jugend-, Gesundheitsamt, Gerichte,Krankenkassen etc.). Die eigentlichen HelferInnen sind zumeist Sozial-arbeiterInnen von unterschiedlichen freien Trägern, oder LehrerInnen,ErzieherInnen, ÄrztInnen etc., die in dem Auftragsklärungsprozessdurch eine koordinierende Fachkraft (zum Beispiel durch eine/n CaseManagerIn) einbezogen werden sollten. Denn wir gehen auch davonaus, dass die in den Fall involvierten HelferInnen – häufig ohne es zuexplizieren – jeweils eigene Ziele beziehungsweise Aufträge verfolgen.Die Aufgabe während der Auftragsklärung besteht darin, die mögli-cherweise unterschiedlichen beziehungsweise widersprüchlichen Zieleund Aufträge offen zu legen und im Sinne der KlientInnen miteinanderzu vermitteln. Es geht hierbei um einen Einigungs- und Koordinations-prozess, der das Ziel hat, dass die Aufträge miteinander kompatibel sindund den Kriterien von Effektivität und Effizienz entsprechen.Effektivität meint, dass die vereinbarten Ziele in tatsächliche Ergebnis-se, Erfolge transformiert werden (Zielwirksamkeit). Effizienz bringtzum Ausdruck, dass sich die Arbeit an ökonomischen Kriterien orien-tiert, dass mit so wenig Aufwand an Personal und Zeit, sprich: an Kos-ten wie möglich der größtmögliche Nutzen erreicht wird. Aus unsererErfahrung können wir sagen: je größer die Klarheit der erarbeiteten Zie-le ist, je deutlicher sie sich also an unseren Empfehlungen anlehnt, destomehr Engagement und Motivation zeigen alle Beteiligten bei der Ziel-erreichung.Schließlich ist bei der Zielerarbeitung zu beachten, dass mit den Klien-tInnen über die Auswirkungen der Zielereichung gesprochen wird.Denn die Erreichung der Ziele kann neben den gewünschten Effektenauch nicht intendierte Nebeneffekte zeitigen. Über die Möglichkeit dernicht erwünschten Effekte sollten sich die KlientInnen wie die Sozial-arbeiterInnen bewusst sein. So könnte gefragt werden: „Stellen Sie sichvor, Sie haben Ihr Ziel erreicht, was ist dann anders? Was haben Sie

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dann erreicht, können Sie dann? Und was müssen Sie möglicherweiseauch lassen oder aufgeben? Was ist der Preis, den Sie zahlen müssen,oder den Sie zu zahlen bereit sind, um Ihre Ziele erreichen?“

V. HANDLUNGSPLANUNG

Bevor wir die Phase der Handlungsplanung beschreiben, möchten wirmit einem metaphorischen Hilfe-Postulat beginnen:

Kluge und erfolgreiche HelferInnen werden hungrigen Menschen, dieam Ufer eines Meeres, Sees oder Flusses leben, nicht jeden Tag einenFisch zum Essen bringen, sondern sie lehren, sich diesen Fisch selbstzu fangen.

In diesem Postulat verbirgt sich eine entscheidende Ethik jeder Sozial-arbeit beziehungsweise Hilfe, nämlich Hilfe anzubieten, die Selbsthilfeermöglicht, die die Hilfe wieder zu beenden erlaubt. Diese Ethik ent-spricht einem alten Postulat Sozialer Arbeit, Menschen nicht von Hilfeabhängig zu machen, sondern Emanzipations- beziehungsweise Ver-selbstständigungsprozesse anzuregen. Mit Reinhart Wolff (1990, S. 22)können wir jedoch davon ausgehen, dass jede Hilfe mit einem gegentei-ligen Trend, ja einem Paradox einher geht: „Hilfe stärkt nicht in jederHinsicht, sondern sie macht auch abhängig und schafft schiefe Ebenen.Insofern schwächen die vielfältig entwickelten Hilfesysteme in der mo-dernen Gesellschaft möglicherweise die Kräfte, die sie stützen wollen.Das ist das zentrale Hilfeparadox der modernen Gesellschaft“.In dieser Paradoxie verbirgt sich eine andere, wichtige Paradoxie Sozi-aler Arbeit, dass nämlich eine helfende Beziehung dann erfolgreich (ge-wesen) ist, wenn sie beendet werden kann. HelferInnen beginnen einehelfende Beziehung mit dem Ziel, sie so schnell wie möglich wieder zubeenden. Nebenbei gesagt gilt das auch für andere Professionelle, zum Beispielfür Ärzte oder Rechtsanwälte. Der Patient ist dann geheilt, wenn ernicht erneut den Arzt aufsuchen muss. Der Klient ist dann zufrieden,wenn er den Rechtsanwalt nicht mehr benötigt. Natürlich kann die Hilfenur erfolgreich sein, wenn die Beziehung – wie oben bereits erwähnt –tragfähig ist und durch den Faktor der gegenseitigen Sympathie struk-turiert wird, aber auch nur dann, so wollen wir gleich hinzufügen, wenn

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klar ist, dass diese Beziehung nach Erreichung der vereinbarten Zielebeendet wird. Dieser professionelle Kern der helfenden Beziehung inder Sozialen Arbeit ist von Anfang an den KlientInnen gegenüber zu be-tonen, was auch heißt, dass der mögliche Ablösungsprozess bei der Be-endigung gestaltet werden muss. Vor dem Hintergrund ethischer, moralischer und professioneller Ver-antwortung (vgl. dazu etwa DBSH 1997) sind der Kreativität von Inter-ventionen keine Grenzen gesetzt. HelferInnen können auch ungewöhn-lich wirkende Wege beschreiten (zum Beispiel Reframing, vgl. 10. Ka-pitel; oder Provokationen, vgl. Kersting 1991) – vorausgesetzt diehelfende Beziehung ist tragfähig. Mit Watzlawicks Unterscheidung vonBeziehungs- und Inhaltsaspekten der Kommunikation (vgl. Watzlawicku.a. 1969) können wir sagen, dass ungewöhnliche Wege dann beschrit-ten werden können, wenn die Beziehungsebene aus beiden Perspekti-ven (aus der Sicht der KlientInnen und aus der Sicht der HelferInnen)durch Sympathie und hohe Wertschätzung gekennzeichnet ist. Wenndies der Fall ist, dann können auf der Inhaltsebene provozierende Inter-ventionen gesetzt werden, die die KlientInnen in Richtung Problemlö-sung aktivieren oder sie motivieren, neue Denk- und Handlungsmög-lichkeiten auszuprobieren. Zum Beispiel kann ein Reframing auch ein-gesetzt werden, um bisher problematisch bewertete Verhaltensweisenpositiv zu konnotieren. Wir gehen – ganz konstruktivistisch – davonaus, dass alle Beschreibungen, zum Beispiel von Problemen, mindes-tens zwei Seiten haben, wovon die eine zumeist ausgeblendet bleibt.Dies haben wir bereits thematisiert bezüglich des so genannten „sekun-dären Krankheitsgewinns“. Außerdem müssen wir eine professionelle Verantwortungsbegrenzungthematisieren, die darin besteht, dass wir zwar als HelferInnen auf derGrundlage unserer Problembeschreibungen, Ressourcenanalysen undkausalen Hypothesen für unsere Handlungen und Interventionen auchverantwortlich sind und uns natürlich besonders für die Wirkungen, diedaraus resultieren, interessieren, aber nicht die Macht und den Einflusshaben, diese Wirkungen zu prognostizieren und zu determinieren. Ni-klas Luhmann und Karl Eberhard Schorr (1979) prägen dafür den Be-griff „Technologiedefizit“. Ein solches Technologiedefizit ist allen Pro-fessionen, die „people processing“, also Arbeit am und mit Menschenbetreiben, eigen. Demnach besteht während der Hilfe die Unsicherheit,dass wir nicht wissen können, welche Wirkungen aus welchen Ursa-

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chen folgen und dass wir demnach nur Wahrscheinlichkeiten prognos-tizieren können. Mit Heinz von Foerster (1988) können wir formulie-ren, dass wir es bei allen Menschen oder bei allen psychischen und so-zialen Systemen mit nicht-trivialen Systemen zu tun haben, derenHandeln und Kommunizieren potentiell selbstbestimmt und von außennicht steuerbar ist. Daher können wir uns zwar seinem ethischen Impe-rativ anschließen: „Handle stets so, dass du die Anzahl der Möglichkei-ten erweiterst“ (ebd., S. 33). Aber wir werden vorher nie mit Sicherheitwissen können, welches diese Möglichkeiten sein werden.Bei der Handlungsplanung ist es weiterhin ratsam, die Sprache der Kli-entInnen zu beachten, einen sprachlichen Zugang zu ihnen zu finden,uns auf die klienteneigene Sprache einzustellen, bestenfalls mit derSprache der KlientInnen zu sprechen (vgl. Watzlawick 1977), um dieHandlungsschritte zu beschreiben. Dieses Vorgehen resultiert aus zweiAnnahmen: erstens sind wir der Meinung, dass die Empathie in der hel-fenden Beziehung erhöht wird, wenn wir uns auf die Sprache der Klien-tInnen einstellen. Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, dasswir die Beziehungsseite der Hilfe in Richtung Wertschätzung, Koope-ration und gegenseitiger Achtung ausbauen. Zweitens glauben wir, dassHandlungen, die in das Wertesystem der KlientInnen passen, eher um-gesetzt werden können, als von außen heran getragene Handlungsemp-fehlungen. Und dieses Wertesystem drückt sich aus in der Sprache derKlientInnen, so dass wir versuchen sollten, Handlungen zu planen undumzusetzen, die in diesem Sprachsystem beschrieben werden können.Watzlawick soll in diesem Zusammenhang seinen Therapeutenkollegenempfehlen: „You have to speak in the language of the clients!“ (persö-liche Aussage Andras Wienand)Betonen wollen wir, dass sich dieses sprachsensible Herangehen vonpsychoanalytisch orientierten Vorgehensweisen unterscheidet. Dazueine Metapher:

Den KlientInnen von psychoanalytisch orientierten TherapeutInnenwird nachgesagt, dass sie irgendwann lernen, ihre Träume nach denTheorien von Freud oder Jung und den entsprechenden Metaphern zustrukturieren. Bei uns sollte dies genau umgekehrt sein: Nicht unsereKlientInnen sollten so träumen wie wir, oder wie unsere theoretischenund methodischen Protagonisten und Vorbilder es von ihnen erwarten,sondern umgekehrt: wir sollten die metaphorische und die Traumspra-

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che der KlientInnen erlernen, um uns an ihren kognitiven Modellen undinneren Landkarten anzukoppeln.

Schließlich können wir bei der Beschreibung der Handlungsschritte vonden Regeln ausgehen, die wir bereits bei der Zielfindung nannten. Diegeplanten Handlungen sollten so konkret wie möglich zum Ausdruckbringen, wer was wann wo mit wem wie und wozu tun soll, um die de-finierten Ziele zu erreichen. Weiterhin empfehlen wir die folgendendrei Postulate von Insoo Kim Berg (1991, S. 30): „Repariere nicht, wasnicht kaputt ist! Wenn du weißt, was funktioniert, mach mehr davon!Wiederhole nicht, was nicht funktioniert, mach etwas anderes!“ (ebd.).Bei der Handlungsplanung versuchen wir letztlich, Ausnahmen zu denproblematischen Zeiten, Situationen zu fokussieren. Es geht darum zufragen, wann und wo die Probleme nicht oder weniger auftreten undwas dann anders ist beim Handeln beziehungsweise was dann funktio-niert. Das Handeln, das in diesen Ausnahme-Situationen gezeigt wird,gilt es zu untersuchen und in andere Situationen zu übertragen.Solche Ausnahmen können zugleich als Ressourcen unserer KlientIn-nen angesehen werden, mit denen wir weiter arbeiten können. Wir bau-en auf die Stärken, auf das, was funktioniert. Zugleich aktivieren wirmit dieser Orientierung die Selbstbestimmung der KlientInnen. Dennwir setzen dort an, wo die KlientInnen bereits die Fähigkeiten undHandlungen zeigen, die sie benötigen, um ihre Probleme zu lösen. Wir„kitten“ also keine Defizite, indem wir von außen etwas Neues einfüh-ren (wollen), sondern wir ermöglichen die Aktivierung dessen, was dieKlientInnen bereits können und tun, ohne dies häufig selbst zu wissen.Genau dadurch erreichen wir dann das, was viele SozialarbeiterInnen inihren Hilfeplänen als Ziel benennen: eine Erhöhung des „Selbstwertge-fühls“ der KlientInnen. Und dies führt dann bestenfalls dazu, dass dieKlientInnen wieder fähig werden, ohne Hilfe zu leben.

VI. EVALUATION

Im letzten Schritt wird nun das, was erreicht wurde, gemessen anhandder vereinbarten Ziele. Dabei ist natürlich der Prozess zu berücksichti-gen, der dazu führt, dass sich anfangs vereinbarte Ziele verändern. Den-noch wird verglichen, ob tatsächlich die Ergebnisse erzielt wurden, diedie KlientInnen während der Hilfe erreichen wollten (Effektivität). Au-

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ßerdem ist das Verhältnis von Aufwand (Zeit und Personal) und Nutzen(Effizienz) zu beschreiben. Wie viel Geld wurde für die jeweilige Hilfeausgegeben und welcher Nutzen ging damit einher? Der Nutzen kannfreilich nur bestimmt werden durch Befragungen der Beteiligten, insbe-sondere der KlientInnen. In der Regel – so banal es klingen mag – solltees allen Beteiligten, vor allem natürlich den KlientInnen nach Beendi-gung der Hilfe besser gehen.

RHIZOMATISCHE NACHBEMERKUNG

Obwohl wir die sechs Schritte helfender Kommunikation in einer line-aren Abfolge vorgestellt haben, verlangt die Praxis ein anderes Vorge-hen. In der Praxis wird sich diese Linearität durch Schleifen verkomp-lizieren; zwischen den Schritten wird hin- und hergesprungen werdenmüssen, so dass sich kein linearer, sondern ein zirkulärer Zeitpfeil, eherein Netz abzeichnet (siehe die Abbildung unten). Der Prozessablauf dersechs Schritte ist praktisch nur zirkulär vorstellbar, das heißt die Reali-sierung jedes Schritts kann immer auch den Rückverweis auf die je-weils vorgängigen Schritte erfordern. Diese zirkuläre Struktur nennenwir mit den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guat-tari eine rhizomatische Struktur. Eine solche Struktur ist die Struktur ei-nes Rhizoms, einer netzwerkartigen Wurzel, eines verwobenen Ge-spinstes. „Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem ande-ren verbunden werden.“ (Deleuze/Guattari 1980, S. 16). Dies wird inder folgenden Visualisierung deutlich:Unser methodisches Vorgehen ist also nicht linear, sondern verwoben,rückläufig, vorläufig, fragmentarisch, hin- und hergehend kurz: rhizo-matisch. Dies ist leicht einzusehen, wenn wir – erstens – bedenken, dassSoziale Arbeit grundsätzlich in Kommunikation abläuft. Alle sechsSchritte sind kommunikative Schritte. Und die Grundlage dieser Kom-munikation, das, worüber gesprochen wird, kann sich – zweitens – per-manent ändern, nämlich die Probleme der KlientInnen. Es können neueFakten hinzu kommen, so dass der Fall neu eingeschätzt werden muss(1. Schritt), obwohl man sich beispielsweise bereits damit beschäftigt,über die Ziele zu sprechen, diese auszuhandeln (4. Schritt). Auch dieEvaluation (6. Schritt) wird permanent mitlaufen müssen, immer – wäh-rend jedes einzelnen Schrittes – wird man sich fragen und bestenfalls

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bereits dokumentieren, was erreicht wurde, wird man dies bewerten undeinschätzen. Der sozialarbeiterische Problemlösungsprozess ist sokomplex, weil er niemals linear ablaufen, niemals im Sinne einer indus-triellen oder technischen Dienstleistung verstanden werden kann. Denner ist nicht nur ein Prozess, ein Werden, er bezieht sich auch auf Prozes-se, in unserem Fall auf das Werden von psychischen und sozialen Sys-temen, von einzelnen Personen und von Familien.

Übersicht 13

Können Sie mir für diese Übersicht bitte einenstimmigen Ausdruck schicken? Danke. In der Datei war sie leider „zerhackt“.

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9. Mediation – Eine systemische Methode Sozialer Arbeit20

Ein Rabbi hält in seinem Wohnzimmer regelmäßig als Dorfrichter Gerichts-sitzungen ab. Eines Vormittags kommt ein höchst erregter Dorfbewohnerund schildert die Untaten eines seiner Nachbarn. Der Rabbi hört sich allesan und sagt am Ende: „Da hast Du aber Recht.“ Kaum zwei Stunden spätertaucht der Nachbar auf. Er schildert in allen Einzelheiten, was sich derandere alles hat zuschulden kommen lassen. Der Rabbi hört wiederum auf-merksam zu und sagt schließlich: „Da hast Du aber Recht.“ Die Frau desRabbi, die aus der Küche das Geschehen mitverfolgt hat, betritt das Wohn-zimmer und stellt ihren Mann zur Rede: „Sag mal, bist Du eigentlich nochbei Trost. Erst kommt die eine Seite, und Du sagst: ‚Da hast Du aber Recht.‘Kurz darauf kommt die Gegenseite, und auch da sagst Du: ‚Da hast Du aberRecht.‘ So geht das doch nicht! Das kannst Du doch im Ernst nichtmachen!“ Der Rabbi denkt eine Weile nach und sagt: „Da hast Du aberRecht“.21

AUSGANGSPUNKTE

Um ihre Arbeit für die Klienten gewinnbringend zu gestalten, verab-schieden sich Mediatoren, also professionelle Konflikt-Vermittler, vonder üblichen beziehungsweise unreflektierten Vorstellung, dass es inKonflikten zwischen zwei Parteien eine Partei gibt, die Recht hat, dieauf der Seite des Richtigen, des Wahren oder des Guten steht und einePartei, die Unrecht hat, die also auf der Seite des Falschen, des Unwah-ren oder des Bösen ihr Unwesen treibt. Mediatoren lehnen das alte Dog-ma der klassischen Logik ab, dass Beobachtungen, Beschreibungen, Er-klärungen und Bewertungen (in der Welt beziehungsweise über etwasin dieser Welt) entweder wahr oder falsch sind. Im Gegensatz dazu ste-

20 Ich danke Jürgen Schroeder-Banzhaf, Diplom-Psychologe und verantwort-licher Dozent der Weiterbildung Konflikt-Mediation an der Hochschule „Alice Salomon“ Berlin, für hilfreiche Anregungen und Kommentare zu einer früheren Version des Textes.21 Siehe zu dieser Geschichte Trenkle 1999, S. 175f.

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hen Mediatoren auf der Seite des Und beziehungsweise des Sowohl-Als-Auch und befinden sich damit – beispielsweise mit Wassily Kandinsky,auf den sich Ulrich Beck (1993, S. 9ff.) mit seinem Plädoyer für dasUnd beruft – auf der Höhe der Zeit. Denn das 20. und mit Sicherheitauch das gerade angebrochene 21. Jahrhundert sind – im Gegensatzzum 19. Jahrhundert, in dem das Entweder-Oder regierte – vom Undgeprägt: „Dort [im 19, Jahrhundert; H.K.]: Trennung, Spezialisierung,das Bemühen um Eindeutigkeit, Berechenbarkeit der Welt – hier [im 20und 21. Jahrhundert; H.K.]: Nebeneinander, Vielheit, Ungewißheit, dieFrage nach dem Zusammenhang, das Experiment des Austausches, deseingeschlossenen Dritten, Synthese, Ambivalenz“ (ebd., S. 9).In einer sehr zugespitzten, die mediative Grundhaltung und deren kon-struktiv ambivalente Auswirkung aber gerade deshalb sehr veranschau-lichenden Form wird dieses Und beziehungsweise Sowohl-Als-Auch inder Geschichte vom Rabbi (siehe oben) überaus deutlich. In den Wortendes systemischen Ansatzes Sozialer Arbeit könnten wir die Haltung desRabbi mit Allparteilichkeit bezeichnen. Allparteilichkeit (multidirectio-nal partiality) ist ein Prinzip, das von dem Familientherapeuten IvanBoszormenyi-Nagy in den 1960er Jahren erarbeitet wurde und das in derFamilientherapie eine Haltung umschreibt, „die es dem Therapeuten er-möglicht, sich empathisch in jedes Familienmitglied, seine Positionenund insbesondere seine Notlage innerhalb der Familie einzufühlen, sei-ne Verdienste zu erkennen und diesen entsprechend für ihn Partei zu er-greifen“ (Simon/Clement/Stierlin 1999, S. 29). Genau diese Haltungstellt nun auch ein zentrales Prinzip jeder Mediation, ja die Grundhal-tung von Mediatoren dar. Nur wenn Mediatoren eine allparteiliche Hal-tung einnehmen, ist es möglich, dass die am Konflikt beteiligten Streit-parteien das Ziel erreichen, das die Mediation ihnen verspricht, nämlichdass sie am Ende des Mediationsprozesses eine gemeinsame und ein-vernehmliche Lösung erarbeiten, die beiden Parteien als Gewinn er-scheinen kann. Die Mediation wird also von einer grundsätzlich syste-mischen Orientierung strukturiert: von der Allparteilichkeit der Medi-atoren.Dass nicht nur dieses Prinzip der Mediation der systemischen Orientie-rung Sozialer Arbeit entspricht, sondern dass die Mediation – so zumin-dest meine These – als eine (relativ) neue Methode der Sozialen Arbeitals ein grundsätzlich systemisch ausgerichtetes Verfahren bewertetwerden kann, soll im Folgenden eingehender gezeigt werden.

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Zunächst möchte ich allerdings exemplarisch drei Fallbeispiele darstel-len, die mögliche Handlungsfelder für Mediatoren verdeutlichen kön-nen. Alle Fallbeispiele stammen aus meiner eigenen Praxis beziehungs-weise aus der Praxis von Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zu-sammen an Supervisionen teilnahm und sind selbstverständlich soverfremdet, dass nicht auf die realen Gegebenheiten zurück geschlossenwerden kann (I.). Im Anschluss daran will ich verdeutlichen, warumMediation als eine (generalistisch und lebensweltlich orientierte) Me-thode der Sozialen Arbeit verstanden werden kann (II.), um sodann ex-plizit das Systemische der Mediation anhand von zentralen mediativenVerfahrenselementen heraus zu stellen (III.). Schließlich soll die Medi-ation in die gegenwärtige Gesellschaftsentwicklung als eine sozialar-beiterische Methode eingeordnet werden, die ein neues Verhältnis vonFunktionssystemen und Lebenswelten deutlich macht (IV.).

I. DREI FÄLLE FÜR DIE MEDIATION

Simone ist neun Jahre alt und lebt bei ihrer Mutter. Ihre Eltern, Frau undHerr Müller, haben sich vor kurzem – nach einer längeren Krisensitua-tion – getrennt. Herr Müller zog inzwischen aus der gemeinsamen Woh-nung aus und lebt jetzt bei seiner neuen Partnerin. Frau Müller blieb mitSimone in der Wohnung und möchte dort auch wohnen bleiben. Die El-tern einigten sich darauf, dass Simone zweimal in der Woche von ihremVater abgeholt wird und dass Vater und Tochter dann zwei bis dreiStunden gemeinsame Zeit verbringen. Diese Kontakte liefen einigeWochen lang problemlos – bis Simone psycho-somatische Auffällig-keiten zeigte. Sie klagt seit einiger Zeit immer wieder über anhaltendeKopf- und Bauchschmerzen. Frau Müller nimmt mit ihrer Tochter vieleArzttermine wahr. Auch die schulische Situation von Simone hat sichverschlechtert. Bestärkt durch die Kinderärztin glaubt die Mutter inzwi-schen, dass die Symptome ihrer Tochter mit den Kontakten zum Vaterzu tun haben. Daher beendet sie diese Kontakte. Herr Müller ist mit demKontaktabbruch nicht einverstanden und kann seine Frau nicht verste-hen. Da seine Bemühungen, sich mit seiner Frau zu verständigen, kei-nen Erfolg haben, droht er mit einem gerichtlichen Verfahren. Da diesseine Frau auf jeden Fall verhindern will und sie kürzlich in einer Zeit-schrift etwas über ein außergerichtliches Verfahren zur Konfliktver-

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mittlung, nämlich über Mediation, gelesen hat, fragt sie ihren Mann, ober sich auf eine solche Vermittlung einlassen würde. Ihr Mann willigtein und beide begeben sich auf die Suche nach einer Möglichkeit zurMediation.

*

Der Kinderladen Zauberzwerge existiert bereits knapp elf Jahre und istin einem großen überregionalen Träger eingebunden. Vier Erzieherin-nen und ein Erzieher arbeiten dort – ohne hierarchische Struktur, son-dern „basisdemokratisch“ organisiert – mit Kindern im Alter zwischenein bis sechs Jahren. Diese Arbeit, die in enger Kooperation mit den El-tern stattfindet, lief bisher reibungslos. Dennoch wurde zwischenzeit-lich bereits mehrmals Team-Supervision in Anspruch genommen, be-sonders um die eigenen Ressourcen im Team und spezielle Arbeitsspe-zialisierungen gemeinsam zu organisieren. Seit einiger Zeit klageneinige Mitarbeiterinnen allerdings über Schwierigkeiten mit einer Kol-legin, die häufig zu spät zur Arbeit erscheint. Da immer zwei Erzieherzusammen arbeiten, fällt dieses morgendliche Fehlen besonders ins Ge-wicht. Die Aufgaben am Morgen, zum Beispiel die Kontakte mit denEltern, die die Kinder zum Kinderladen bringen, die Ankommensspielemit den Kindern, die Planung des Tages sind von einem Erzieher alleinkaum zu schaffen, so dass das Fehlen der häufig ein bis zwei Stundenzu spät kommenden Erzieherin ausgesprochen stark spürbar ist. Im Er-zieherteam herrscht daher bereits große Unzufriedenheit. Es bildetensich schon zwei Parteien heraus. Die einen zeigen Verständnis für dasZuspätkommen, da die Kollegin Konflikte in ihrer eigenen Familiehabe und häufig verzweifelt und traurig wirke, die anderen äußern klar,dass diese Konflikte nicht ihre Arbeit im Kinderladen beeinträchtigendürften. In einem sind sich die Erzieherinnen allerdings einig, sie wol-len mit ihrem Supervisor sprechen, ob er bereit ist, mit ihnen an diesemProblem zu arbeiten. Nach einem Telefonat sagt dieser allerdings, dasser keine Supervision, sondern Mediation vorschlage.

*

Herr Konrad ist Bewohner einer Zwei-Zimmer-Wohnung in BerlinPrenzlauer Berg. Er gehört mit 35 Jahren zu den älteren Semestern der

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Philosophie Studierenden. Aus diesem Grund hat er beschlossen, seinStudium, das bereits zwanzig Semester dauert, schnellstens zu beenden.So hat er begonnen, seine Magisterarbeit zu schreiben. Täglich arbeiteter mindestens sechs Stunden an seinem Thema. Seit einiger Zeit kanner dieses Arbeitspensum, das er vor allem gegen Nachmittag beginnt,nicht mehr durchhalten. Morgens arbeitet er regelmäßig bei einem Pa-ketdienst, so dass er bezüglich seiner Magisterarbeit auf die Nachmit-tags- und Abendstunden angewiesen ist. In dieser Zeit beginnt nun aberdie ältere Dame, die in der Wohnung unter ihm lebt, laut Radio zu hörenoder fern zu schauen, und zwar in einer Lautstärke, dass er sich gestörtfühlt und das Schreiben an seiner Arbeit oft nicht fortsetzen kann. Auchnach mehrmaligen persönlichen Beschwerden und Klopfen auf den Bo-den, besserte sich die Situation nicht. Vielmehr wurde ihm deutlich,dass die Dame offenbar nur noch schwer hören könne und sie deshalbihr Radio und ihren Fernseher so laut stellen müsse. Nachdem HerrKonrad die fristgerechte Fertigstellung seiner Arbeit in Gefahr sieht,ruft er bei seiner Hausverwaltung an, um dort über sein Problem zu be-richten. Nachdem man sich zunächst ratlos fühlt, weil man um das Pro-blem der alten Dame weiß, schlägt man ihm dann vor, eine Mediationin Anspruch zu nehmen und auch seine Nachbarin dafür zu gewinnen.

II. MEDIATION – EINE METHODE SOZIALER ARBEIT

Alle drei dargestellten Fälle sind Fälle, in denen eine Mediation, eineKonflikt-Vermittlung, greifen konnte. Denn in allen Fällen geht es umKonflikte zwischen mindestens zwei Parteien, die bereits unterschiedli-che soziale, psychische, psycho-soziale und/oder psycho-somatischeAuswirkungen auf die beteiligten Personen haben. Die Fälle unterschei-det allerdings das konkrete Konfliktfeld; im ersten Fall geht es um einenKonflikt infolge einer Trennung/Scheidung, genauer gesagt um einenKonflikt bezüglich der Umgangsregelung; im zweiten Fall handelt essich um einen Teamkonflikt; im dritten Fall geraten Nachbarn in Streitmiteinander. Mit diesen drei Bereichen sind die Felder der Mediation al-lerdings noch keineswegs erschöpfend aufgelistet. Auch bei interkultu-rellen Konflikten, im außergerichtlichen Täter /Opfer-Ausgleich, beiStreit innerhalb von Familien, zum Beispiel zwischen Eltern und Kin-dern, im Schulbereich, das heißt bei Konflikten zwischen Schülern oder

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zwischen Schülern und Lehrern, im wirtschaftlichen Management so-wie in der Politik ist Mediation einsetzbar. Dennoch kann Mediation alseine typisch sozialarbeiterische Methode bewertet werden, die ihreWurzeln insbesondere in den USA hat (vgl. Besemer 1993; Galuske1998, S. 191).Dort wurde professionelle Mediation in den 1960er und 1970er Jahrenals eine Alternative zum gerichtlichen Streitverfahren, nämlich als eineaußergerichtliche Streitvermittlung entwickelt und hat sich inzwischenerfolgreich in unterschiedlichen Lebensbereichen, aber insbesonderebei der Beratung in Phasen der Trennung und Scheidung zur einver-nehmlichen Konfliktlösung bewährt. In den 1930er Jahren des letztenJahrhunderts wurden an kalifornischen Gerichten Beratungsstellen auf-gebaut, deren Ziel eine sogenannte „Versöhnungsberatung“ war. Nacheiner Erprobungsphase in verschiedenen amerikanischen Bundesstaa-ten in den 1970er Jahren ist in Kalifornien 1980 ein Gesetz in Kraft ge-treten, das alle Fragen des Sorgerechts und der Umgangsregelung dergetrennten beziehungsweise geschiedenen Elternteile im Vorfeld dergerichtlichen Klärung obligatorisch einem außergerichtlichen mediati-ven Konfliktregulierungsverfahren zuführt. In den USA haben laut Ro-land Proksch (vgl. Galuske 1998, S. 191) bereits mehr als die Hälfte derBundesstaaten entsprechende Regelungen auf verbindlicher bezie-hungsweise freiwilliger Basis eingeführt. Aber auch in der Bundesrepu-blik Deutschland nahmen in den 1980er und 1990er Jahren die Diskus-sionen über die Möglichkeiten von Mediation zu, so dass inzwischenebenfalls über gesetzliche Verbindlichkeiten in Sachen Mediation de-battiert wird und bereits erste diesbezüglich Ergebnisse vorliegen.Einerseits soll Mediation im Rahmen der Jugendhilfe realisiert werden,und zwar im Falle der Trennung/Scheidung von Eltern bezüglich ein-vernehmlicher und vor allem am Kindeswohl orientierter Sorgerechts-und Umgangsregelungen sowie ebenfalls bei Konflikten in der gesetz-lich geforderten Kooperation von professionellen Fachkräften und Kli-enten etwa während der Hilfeplanung (siehe dazu beispielhaft Senats-verwaltung für Schule, Jugend und Sport Berlin 1999). Andererseits hatsich der Gesetzgeber auf Bundesebene zu der Einführung eines Gesetzeszur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung entschlossen(siehe Bundesgesetzblatt 1999, S. 2400). Demnach sollen, zum Beispielin Berlin seit Mitte 2001 (vgl. Das Grundeigentum 2000) bestimmten zi-vilgerichtlichen Verfahren zwingend Schlichtungsverfahren bezie-

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hungsweise Mediationen vorangestellt werden. Erst wenn dieses außer-gerichtliche Verfahren scheitert, wird das Gericht tätig. Dies betrifftzum einen vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem bestimmtenStreitwert (inklusive Mietstreitigkeiten), zum anderen sollen auch nach-barschaftsrechtliche Streitigkeiten und Streitigkeiten über die Verlet-zung der persönlichen Ehre außergerichtlich geregelt werden.In allen diesen Bereichen eröffnen sich neue Felder Sozialer Arbeit.Denn Mediation ist – wie ich knapp ausführen will – aufgrund ihrer ge-neralistischen (a) und lebensweltlichen (b) Orientierung eine typischsozialarbeiterische Methode.

(a) Generalistisch ist Mediation deshalb, weil diese Methode die Kom-bination unterschiedlicher professioneller Sprachen, Logiken bezie-hungsweise Denkweisen erfordert; um eine derartige Kombination zuleisten, sind besonders Diplom-Sozialarbeiter /Sozialpädagogen durchihre inter-, multi- und transdisziplinäre Ausbildung im Rahmen einerSozialarbeitswissenschaft geeignet. Wie im nächsten Abschnitt bei derDarstellung des Stufenmodells der Mediation noch deutlich wird, sindin der Mediation eindeutig sachbezogene (zum Beispiel rechtliche, so-zio-ökonomische) Dimensionen von Konflikten mit den psycho-sozia-len, den emotionellen sowie den psycho- und beziehungsdynamischenDimensionen von Konflikten zu koppeln. Das, was sozialarbeiterischeBeratung schlechthin auszeichnet, nämlich der doppelte Fokus auf diesozio-ökonomischen, auf die sachlich sozial-strukturellen und auf diepsycho-sozialen Facetten des Lebens, kennzeichnet auch die Mediation.

(b) Lebensweltorientiert ist Mediation vor allem deshalb, weil sie eineAlternative zum gerichtlich institutionalisierten, soziologisch gespro-chen: zum funktionssystemisch aus den Lebenswelten ausgegliedertenVerfahren der juristischen Streitregelung darstellt. Die Mediation ist ge-wissermaßen der Versuch, das, was im Zuge der Modernisierung derGesellschaft aus den (privaten) Lebenswelten ausgelagert wurde (sieheausführlich dazu Habermas 1981), nämlich die Regelung bestimmterKonflikte, durch funktionssystemische Gerichtsverfahren, wieder näheran die Lebenswelten heran zu holen. Während in Gerichtsverfahren so-zusagen instrumentelle Kommunikationspraktiken (zum Beispiel recht-lich begründete Entscheidungen der Richter) zum Tragen kommen,wird in der Mediation verständigungs- beziehungsweise aushandlungs-orientiert, kurz: dialogisch kommuniziert. Mit anderen Worten: In Ge-

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richtsverfahren strukturiert das funktionssystemische Medium Rechtdas Verfahren, während in der Mediation ein zwar durch Soziale Arbeitvermitteltes, moderiertes, aber dennoch lebensweltliches Medium dasVerfahren strukturiert: das Medium der alltäglichen, moralisch undnormativ aufgeladenen Sprache.

Im Gegensatz zur gerichtlichen Konfliktregelung wird in der Mediationzur Streitbeilegung keine Entscheidung von einem Außenstehenden,sprich: von einem Richter, getroffen, sondern die Konfliktregelung wirdvon einem Mediator (bestenfalls) so strukturiert, dass die Streitparteienselbst in die Lage versetzt werden, eine einvernehmliche Vereinbarungzur Konfliktlösung zu erarbeiten. Während das Gerichtsverfahren ge-wissermaßen lebensweltdistanzierte Strukturen und dementsprechendesExpertenwissen voraussetzt, nämlich die richterliche Kenntnis von Ge-setzen zur Urteilsverkündung, geht die Mediation von den Selbstorga-nisationspotentialen der Streitenden aus, die allerdings in einem – zwardem funktionssystemischen Kontext der Sozialen Arbeit angehörenden,aber dennoch: lebensweltnahen Moderationsverfahren konstruktiv be-gleitet werden. Und diese konstruktive Begleitung geht nicht zuletzt vonsystemisch orientierten Prinzipien Sozialer Arbeit aus.

III. DAS SYSTEMISCHE DER MEDIATION

Systemische Sozialarbeit ist inzwischen eine so vielschichtige und kom-plexe Methodik, dass es unmöglich ist, den sozialarbeiterischen Begriffdes Systemischen in seiner Bedeutungsvielfalt hier auch nur ansatzwei-se zu klären (siehe dazu etwa Lüssi 1992; Pfeifer-Schaupp 1995; Staub-Bernasconi 1995; von Schlippe/Schweitzer 1996; Milowitz 1998; Mil-ler 2001). So will ich lediglich betonen, dass ich von einem systemisch-konstruktivistischen Ansatz ausgehe, der für die Felder der Sozialen Ar-beit, insbesondere für deren Theorie sowie für die Supervision und Or-ganisationsberatung im Umfeld des Instituts für Beratung und Supervi-sion Aachen entwickelt wurde (siehe grundsätzlich dazu etwa Bardmannu.a. 1991; 1992; Kersting 1992; Bardmann/Hansen 1996; Kleve 1996;1999). Demnach wird Soziale Arbeit selbst als ein (Funktions-)Systeminnerhalb der Gesellschaft verstanden, das Organisations- und Interak-tionssysteme ausdifferenziert und eine ambivalente, genauer: eine dop-

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pelte Zwischen-Stellung in der Gesellschaft einnimmt: erstens steht eszwischen anderen Funktionssystemen (etwa zwischen Wirtschaft, Poli-tik, Recht, Erziehung/Bildung, Wissenschaft, Religion, Massenmedien,Kunst etc.), deren ausgelagerte Probleme, deren Exklusionen es inklu-diert und in Organisationen und Interaktionen bearbeitet; andererseitssteht es als intermediäre Instanz zwischen diesen Funktionssystemenund der Lebenswelt, wobei es dieser hilft, die desintegrierenden Erwar-tungen, die Inklusionsanforderungen jener auszuhalten und zu erfüllen(vgl. ausführlich dazu Kleve 1999, S. 184ff./210ff.).Uns interessieren bezüglich der Mediation insbesondere Interaktions-systeme, also Kommunikationssysteme, die entstehen, wenn anwesen-de Personen (zum Beispiel Klienten und Mediatoren) in einem konkre-ten sozialarbeiterischen Kontext (zum Beispiel in der Mediation) ihresprachlichen und nicht sprachlichen Verhaltensweisen als Mitteilungenvon Informationen verstehen. In solchen Interaktionssystemen geltendie Axiome zwischenmenschlicher Kommunikation, die Paul Watzla-wick und seine Mitarbeiter vom Mental Research Institute Palo Alto er-arbeitet haben (siehe Watzlawick u.a. 1969), also u.a.: dass man in In-teraktionssystemen nicht nicht kommunizieren kann; dass jede Kom-munikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt hat, wobeidieser die Bedeutung von jenem bestimmt; dass Kommunikation digi-tale und analoge Anteile hat, wobei diese (zum Beispiel in Form vonKörpersprache, Betonung etc.) komplex und vieldeutig, während jene(zum Beispiel in Form von Buchstaben, Wörtern und Sätzen) eher ein-deutig sind; und dass Kommunikationen kreisförmig verlaufen, genaugenommen keinen (eindeutigen) Anfang und kein (eindeutiges) Endehaben. Die vermeintlich eindeutige Struktur von Kommunikation mitihren Anfängen und Enden, mit ihren Ursachen und Wirkungen wirdvon den beteiligten miteinander kommunizierenden Personen jeweilsrecht unterschiedlich interpunktiert, ja konstruiert.Das zuletzt genannte Axiom verdeutlicht uns die Konstrukthaftigkeitunserer Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen der Welt: weilunsere Welt so komplex (vielschichtig, unübersichtlich, möglichkeits-reich) ist, müssen wir diese Komplexität – wie uns insbesondere die so-zialwissenschaftliche Systemtheorie lehrt (siehe Teil 1) – erstens auf einpsychisch (kognitiv) und zweitens auf ein sozial (kommunikativ) verar-beitungsfähiges Maß reduzieren. Dass diese Konstruktion von Welt,diese Reduktion von Komplexität auch solche unterschiedlichen Wirk-

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lichkeiten erzeugt, die im zwischenmenschlichen Bereich zu Konfliktenführen, braucht im Kontext der Mediation zwar kaum eigens erwähnt zuwerden. Dennoch will ich das bekannte Beispiel von Watzlawick u.a.(1969, S. 58) zitieren, in dem diese Konflikte generierenden Konstruk-tionen von Welt deutlich werden, und zwar jenes Beispiel vom sich zu-rück ziehenden Ehemann und der nörgelnden Ehefrau: „Ein oft zu beo-bachtendes Eheproblem besteht zum Beispiel darin, daß der Mann eineim wesentlichen passiv-zurückgezogene Haltung an den Tag legt, wäh-rend seine Frau zu übertriebenem Nörgeln neigt. Im gemeinsamen In-terview beschreibt der Mann seine Haltung typischerweise als einzigmögliche Verteidigung gegen ihr Nörgeln, während dies für sie einekrasse und absichtliche Entstellung dessen ist, was in ihrer Ehe ‚wirk-lich’ vorgeht: daß nämlich der einzige Grund für ihre Kritik seine Ab-sonderung von ihr ist. Im wesentlichen erweisen sich ihre Streitereienals monotones Hin und Her der gegenseitigen Vorwürfe und Selbstver-teidigungen: ‚Ich meide dich, weil du nörgelst’ und ‚Ich nörgle, weil dumich meidest’“.In dem Beispiel wird deutlich, dass es zu einer völlig unterschiedlichenKonstruktion von Wirklichkeit, genauer: von Kausalität, von Ursacheund Wirkung bezüglich des vermeintlich selben Phänomens (in unseremFall: des Ehekonflikts der beschriebenen Partner) kommen kann. Ausihrer jeweiligen Perspektive haben die Partner trotz der Unterschiedlich-keit ihrer Verhaltenserklärungen und -begründungen dennoch jeweilsrecht: Denn der Mann wählt sein zurück ziehendes „passives“ Verhalten– aus seiner subjektiven Sicht – aufgrund des Nörgelns seiner Frau; wäh-rend sie – aus ihrer Perspektive betrachtet – nörgelt, weil er sich zurückzieht. Beide (beziehungsweise ihre Verhaltensweisen) sind allerdingsTeile dieses interaktiven Problemsystems, mehr noch: Ihre Verhaltens-weisen bilden dieses System allererst und halten es durch die jeweiligenineinander verschränkten Handlungen in seiner destruktiven Dynamikaufrecht. In dieser systemischen Sichtweise lässt sich kein allein Schuldiger oderVerursacher ausmachen. Die Therapie, die Lösung des Problemsystemsbestände demnach nicht darin, verursachende Personen der „pathologi-schen“ Situation zu finden, um diese zu therapieren; vielmehr wäre einemögliche Lösungsstrategie das Erkennen des Musters, das zu den sichgegenseitig bedingenden Handlungen führt, um sodann diesen Kreis derimmer wiederkehrenden Verhaltensweisen mittels alternativer Verhal-tensweisen durchbrechen zu können.

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Festzuhalten bleibt bis hierher, dass die konstruktivistische Position, diedie beiden Erklärungsweisen (Ehemann: „Meine Frau verursacht dasProblem, weil sie nörgelt.“; Ehefrau: „Mein Mann verursacht das Pro-blem, weil er sich zurück zieht“.) zunächst annimmt, mit einer allpartei-lichen Haltung des Und beziehungsweise des Sowohl-Als-Auch einher-geht. Denn die konstruktivistische Position anerkennt die Vielfalt vonmöglichen Wirklichkeitssichten und kann daher gleichzeitig unter-schiedlichen, ja auch sich gegenseitig widersprechenden Wirklichkeits-sichten (wie auch in der eingangs beschriebenen Geschichte vom Rabbideutlich wurde) zustimmen.Wer allerdings an die klassische Logik glaubt, nach der es nur eineWirklichkeit gibt, für deren Beschreibungen entweder die Wertung„wahr“ oder „falsch“ gilt, der kann nicht allparteilich sein, der suchtnach der einen wirklichen Beschreibung. Dass eine solche Suche für dieMediation unangemessen, ja für deren konstruktiven Fortgang zerstöre-risch wäre, kann spätestens deutlich werden, wenn wir das mediativeStufenmodell betrachten.

IV. DAS STUFENMODELL DER MEDIATION

Nach diesem Modell haben Mediatoren die Aufgabe, den Prozess infünf – zirkulär miteinander vernetzten und nur analytisch trennbaren –Stufen zu gliedern: 1. Stufe: Begrüßung und Einführung; 2. Stufe: Dar-stellung der Positionen beziehungsweise Sichtweisen; 3. Stufe: Vertie-fung, von den Positionen zu den Interessen, Gefühlen und Konflikt auf-recht erhaltenen Mustern; 4. Stufe: Lösungssuche; 5. Stufe: Erarbeitungeiner einvernehmlichen Vereinbarung.

1. Stufe: Begrüßung und Einführung: In dieser Phase geht es neben derBegrüßung und Einstimmung auch darum, den Konfliktparteien die Re-geln der Mediation mitzuteilen, ihnen deutlich zu machen, dass der Me-diator eine allparteiliche Haltung einnimmt sowie den Prozess struktu-riert, während die Inhalte von den Klienten bestimmt werden. Des Wei-teren kann es wichtig sein zu erwähnen, dass der Mediator die Lösungfür den Konflikt nicht kennt und daher keine inhaltlichen Vorgabenmacht, er aber weiß, dass der Prozess der Mediation die Wahrschein-lichkeit erhöht, dass am Ende eine einvernehmliche Lösung des Konf-liktes und eine diesbezügliche Vereinbarung steht. Schließlich wird vor

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allem während der ersten Stufe der besondere – zwar lebensweltnahe,aber doch professionelle – Kontext geschaffen, den Mediation darstellt.Wie ich noch eingehender zeigen werde, ist dieser Kontext der Media-tion, mit seinen besonderen Regeln und Kommunikationsformen dieVoraussetzung für den Erfolg eines Mediationsprozesses.

2. Stufe: Darstellung der Positionen beziehungsweise Sichtweisen: Indieser Phase sind die Konfliktparteien eingeladen, ihre persönlichen Po-sitionen beziehungsweise Sichtweisen bezüglich des zu mediierendenKonflikts zu schildern. Dabei hat der Mediator die Aufgabe, das Gesag-te durch Paraphrasieren zu „spiegeln“ beziehungsweise mit solchenWorten zu vermitteln, dass es ebenfalls vom jeweils anderen Konflikt-beteiligten angehört werden kann. Wichtig dabei ist, dass der Mediatorhier – im Gegensatz zur nächsten Stufe – eindeutig sach- beziehungs-weise inhaltsbezogen paraphrasiert, das heißt ohne die emotionalenKommunikationsanteile zu verbalisieren. Gerade dadurch kann der In-halt von der jeweils anderen Konfliktpartei eher angenommen und alsArgument überdacht werden. Im Sinne der bereits erwähnten pragmati-schen Kommunikationstheorie von Watzlawick und Mitarbeitern könn-te man also sagen, dass es in dieser Phase vornehmlich um die Sachas-pekte der Konfliktkommunikation geht.Beispielsweise konnte die Mutter des ersten geschilderten Falls in die-ser Phase ihre Position deutlich machen, dass sie den Kontakt ihrerTochter mit dem Vater nicht mehr wünsche, ihn abgebrochen habe, weilsie – unterstützt von der Kinderärztin – davon ausgehe, dass dieser Kon-takt zu den körperlichen Symptomen des Kindes führe. Der Vater äu-ßerte heftig und aufgebracht sein Unverständnis darüber, dass die Mut-ter sich von der Kinderärztin sagen lasse, was sie tun soll. Außerdem be-stritt er vehement, dass der Umgang mit seiner Tochter zu derartigenProblemen führen könne.Im zweiten Fall wurde das Thema des zu spät Kommens der Kollegineingebracht. Wobei zunächst noch nicht deutlich wurde, wie sich dieKonfliktparteien gruppieren, wer also beispielsweise (potentiell) auf derSeite der besagten Kollegin steht und wer die Gegenposition einnimmtund die Pünktlichkeit oder verbindliche Arbeitsorganisation einklagt.Im dritten Fall wurde das Thema Ruhestörung vom Mieter, Herrn Kon-rad, sogleich zum Thema gemacht. Die Mieterin, deren Verhalten An-lass für Herrn Konrads Mediations-Initiative war, äußerte zunächst,dass sie sich keiner Ruhestörung bewusst sei, sondern dass sie ihr Radio

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und ihren Fernseher lediglich so einstelle, dass sie etwas von dem hört,was dort gesagt wird.Nun könnte man annehmen, dass diese Phase der Mediation nicht son-derlich wichtig erscheint, weil die Streitparteien ohnehin jeweils etwasanhören, was sie aufgrund der bereits eskalierten Auseinandersetzun-gen bereits kennen: nämlich die unterschiedlichen Positionen im Konf-likt. Dies wäre allerdings ein Fehlschluss. Denn das Neue an der jetzi-gen Situation ist der andere Kontext, in dem die Positionen jetzt ange-hört werden: Möglicherweise sitzen die Beteiligten zum ersten Mal miteinem Dritten zusammen, der ein Gespräch über den Streit, ja der denStreit selbst moderiert, der weiterhin bestimmte Regeln eingeführt hat(zum Beispiel „Ausreden lassen““, „Keine Beschimpfungen!“, „KeineGewalt!“ „90 Minuten Gesprächszeit für eine Mediationssitzung!“) undder schließlich sogar das mit verständlichen, allparteilichen, positiv undempathisch orientierten Worten zusammenfasst und paraphrasiert, wasgesagt wird. Dies schafft eine völlig neue Situation, in der die Beteilig-ten Distanz zum Streitthema gewinnen, in der sie ihre Äußerungen, ihreSelbstwahrnehmungen spiegeln, ja brechen lassen können, und zwar ander Gestalt des Mediators. Schon dies allein erhöht die Wahrscheinlich-keit, dass der Streit konstruktiver angegangen wird, dass sich die Partei-en einander eher als vorher zuhören.Systemisch formuliert führt die Mediation zu einem Kontextwechseldes Streits. Ein Kontext ist ein von einer Umwelt anderer Kontexte un-terschiedener Raum, in dem bestimmte Regeln des Kommunizierensgelten, bestimmte Handlungen mit bestimmten Bedeutungen und Be-wertungen verbunden werden (vgl. Simon/Clement/Stierlin 1999, S.183ff.). Mediation ist daher ein Kontext, in dem die Regeln der Kom-munikation, zum Beispiel die Darstellung der Positionen und Sichtwei-sen des Streits vom Mediator so strukturiert werden, dass Streitparteienwieder ins Gespräch kommen, sich wieder zuhören. Dies wird in dernächsten, ja vielleicht sogar wichtigsten Stufe noch deutlicher.

3. Stufe: Vertiefung beziehungsweise von den Positionen zu den Inter-essen, Gefühlen und Konflikt aufrecht erhaltenden Mustern: In der drit-ten Stufe wird versucht, das bei der Kommunikation der sachlichen Po-sitionen und Sichtweisen Ausgeblendete einzublenden: die hinter denPositionen versteckten und verborgenen Interessen (a), die mit denKonflikten einhergehenden, häufig „tief“ sitzenden Emotionen (b) und

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schließlich auch die systemischen Muster des sich selbst verstärkendenKonfliktkreislaufs (c).

(a) Die Mediation trennt beziehungsweise unterscheidet die in der zwei-ten Stufe artikulierten Positionen beziehungsweise Sichtweisen von dennicht gleich sichtbaren, selten deutlich artikulierten Interessen. DennMenschen in Konflikten „erstarren“ in gewissem Sinne, wiederholenpermanent die gleichen Muster, die gleichen Positionen, zeigen im Sin-ne Watzlawicks immer „mehr des selben“ problematischen Verhaltens(vgl. Watzlawick u.a. 1974), verstärken dies, ohne dadurch jedoch ausdem Konflikt heraus zu kommen.Zum Beispiel reagierten einige Kolleginnen der eingangs beschriebe-nen regelmäßig zu spät kommenden Erzieherin mit Vorwürfen: wiekönne sie ihre Kolleginnen im morgendlichen Stress alleine lassen,welch geringes Verantwortungsbewusstsein habe sie für den Kinderla-den, wie wenig sei sie an ihrer Arbeit interessiert etc. Auf diese Positi-onen zeigte die Kollegin abwehrendes, rechtfertigendes Verhalten. Biszu dem Punkt, als der Kinderladen beschloss, sich professionelle Hilfebeim Supervisor zu suchen, spitzten sich die Vorwürfe und Rechtferti-gungen im genannten Sinne des „Mehr desselben“ weiter zu, und dieKollegin blieb – aufgrund einer vermeintlichen Krankheit – sogar eineganze Woche ihrer Arbeit fern. Erst mit dem Anruf beim Supervisorwurde dieser Kreislauf des „Mehr desselben“ unterbrochen.Frühestens wenn die Interessen, die hinter den Konflikten liegen, arti-kuliert werden, können häufig erst Schritte in Richtung Problemlösunggegangen werden. Wie kann man sich nun das Verhältnis von eingefah-renen Positionen/Sichtweisen und Interessen vorstellen? Dazu ein Bei-spiel von Christoph Besemer (1993, S. 25):„Zwei Schwestern streiten sich über eine Orange, die sie beide habenwollen. Schließlich kommen sie überein, die Frucht zu halbieren. Dieeine nimmt nun ihre Hälfte, isst das Fruchtfleisch und wirft die Schaleweg. Die andere wirft stattdessen das Innere weg und benutzt die Scha-le, weil sie damit einen Kuchen backen will.“Wie Besemer (ebd., S. 26) sagt, zeigt das Beispiel, dass „selbst unter-schiedliche Interessen sehr gut zu einer optimalen einvernehmlichenLösung zusammen geführt werden, wenn man Positionen (‚Ich will dieOrange.‘) auf Interessen hin (‚Ich will das Fruchtfleisch essen.‘ – ‚Ichwill die Schale zum Backen.‘) untersuchen und erst dann entschieden

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würde.“ Auch in unserem Fall Kinderladen Zauberzwerge konnten inder Mediation derartige Interessen schließlich artikuliert werden:Es zeigte sich nämlich, dass die Kollegin ihren Dienst grundsätzlich erstmittags beginnen wollte, und dass es sogar zwei andere Kolleginnengab, die lieber morgens arbeiten wollten. So konnte schließlich ein neu-er veränderter Dienstplan erarbeitet werden, der diese komplementärenInteressen berücksichtigte.

(b) Aber nicht nur die Interessen sind oft verborgen, sondern auch jeneGefühle, welche über die Wut hinaus gehen: Gefühle der Verletzung,der Trauer, der Verzweiflung. Mediatoren haben daher neben ihrer sys-temischen, etwa allparteilichen Orientierung ebenso Postulate der klien-tenzentrierten Beratung nach Carl Rogers zu beachten; sie nehmen eineempathische Haltung ein, die es ihnen erlaubt, sensibel auch solche Ge-fühle anzusprechen, die nicht explizit artikuliert werden, sondern die ausder Gestik, Mimik, Haltung, Lautstärke, Aussprache/Betonung, Wort-wahl etc. der jeweiligen Konfliktpartei, also aus den analogen Kommu-nikationsanteilen hervor scheinen. Diese emotionalen Kommunikati-onsanteile verbalisieren sie beziehungsweise ermutigen die Klienten,ihre Gefühle selbst zu artikulieren.So geschah es in der Mediation, die das eingangs zitierte Beispiel desNachbarschaftskonfliktes nach sich zog, dass einerseits der Mieter HerrKonrad seinen Druck äußern konnte, die Magisterarbeit termingerechtabgeben zu müssen. Auch seine Gefühle der Verzweiflung und Panik,die bei ihm entstanden, als er aufgrund des „Lärms“ aus der Wohnungunter ihm, an der Arbeit nicht konzentriert weiter schreiben konnte,brachte er zu Gehör. Andererseits wurde auch deutlich, unter welcherstarken Schwerhörigkeit die alte Dame litt und dass sie es aufgrund un-bestimmter Ängste vor medizinischen Eingriffen bisher versäumt hatte,die Ohren ärztlich überprüfen zu lassen, um sich eventuell ein Hörgerätanzuschaffen. Überdies wirkte die Nachbarin ängstlich und überfordertmit dem Konflikt, in dem sie – aus ihrer Sicht – völlig überraschend undnatürlich unbeabsichtigt hinein geraten war.Das Verbalisieren der emotionalen Kommunikationsanteile erhöht dieWahrscheinlichkeit, dass sich die Konfliktparteien einander annähern,dass ihre verfestigten Positionen aufweichen, gegenstandslos werdenoder (bestenfalls) gänzlich verschwinden, dass sie Verständnis für dieLage des jeweils Anderen aufbringen, kurz: dass sie miteinander in eine

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konstruktivere Beziehung eintreten, in der sie sich wieder stärker achtenund anerkennen können. Daher wird in dieser Phase hauptsächlich aufdie (emotionale) Beziehungsseite der Kommunikation fokussiert undman kann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Konfliktparteien ei-nen entscheidenden Schritt weiter kommen in Richtung einvernehmli-cher Konfliktlösung.

(c) Schließlich kann die dritte Stufe der Mediation auch zur Metakom-munikation der Beteiligten über ihre systemischen Konfliktmuster füh-ren. Diesbezüglich weisen die Mediatoren die Konfliktparteien auf Hin-dernisse, Grenzen, Barrieren hin, die es ihnen bisher verunmöglicht ha-ben, Schritte in Richtung Konfliktlösung zu gehen; sie werden dabeietwa eingeladen, nicht in ihrer Beziehung über den Konflikt zu kommu-nizieren, sondern über ihre Beziehung selbst zu kommunzieren (Meta-kommunikation). Erst bei solch einer Metakommunikation können dieKonfliktparteien sehen, welche Spiele sie spielen, in welchen Konfliktverstärkenden Mustern sie verfangen sind, die sie möglicherweise le-diglich aufgeben, nur verlernen müssten, um konstruktiver miteinanderumzugehen, um neue, brauchbarere Spiele einzuüben, andere Verhal-tensmuster zu probieren.Wenn beispielsweise die in diesem Kapitel erwähnten Eheleute, die je-weils „nörgelndes“ oder „zurück ziehendes“ Verhalten zeigen, „überihre individuellen Definitionen der Beziehung [...] metakommunizie-ren“ (Watzlawick u.a. 1969, S. 59) würden, könnten sie ihr problemati-sches Muster erkennen. Da sie dies bisher allerdings nicht tun, wird „ih-re Interaktion zu einer Ja-nein-ja-nein-ja-nein-Oszillation, die theore-tisch ad infinitum andauern kann, praktisch aber fast unweigerlich zuden typischen gegenseitigen Vorwürfen von Böswilligkeit oder Ver-rücktheit führt“ (ebd.).Metakommunikation heißt auch, Distanz zu gewinnen, ein Stück ausder konfliktträchtigen Beziehung heraus zu treten. Diese Distanz er-möglicht es häufig erst, dass die Beteiligten sich nüchterner, überlegterund weniger affektiv aufgewühlt auf die Suche nach Lösungen begebenkönnen.Bevor diese Lösungssuche als Inhalt der nächsten Stufe beschriebenwird, bleibt noch einmal festzuhalten, dass die Aufdeckung der Interes-sen, das Verbalisieren von Gefühlen und die Metakommunikation aus-gesprochen hilfreiche, wenn nicht gar notwendige Möglichkeiten sind,um der Konfliktlösung näher zu kommen. Aufgrund des Prinzips des

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Aufdeckens des Verdeckten, des Einblendens des Ausgeblendeten, sowill ich schließlich noch betonen, könnte man die dritte Stufe der Me-diation im philosophischen Sinne auch als eine Phase der Dekonstrukti-on (Jacques Derrida) bezeichnen – zumindest wenn wir in Anlehnungan Peter Engelmann (1990, S. 31) sagen, dass die Dekonstruktion „eine‚Lektüre’ der Welt [ist], die das Ausgegrenzte wieder ans Licht bringt“(siehe ausführlich dazu auch Kleve 1999, S. 52ff.; siehe grundlegendebenso de Shazer 1988, S. 117ff.).

4. Stufe: Lösungssuche: Nachdem beide Konfliktparteien die konkre-ten, sachbezogenen (2. Stufe) und die affektiven Seiten, aber auch diejeweiligen Interessen und die Konfliktmuster (3. Stufe) kennen gelernthaben, nachdem sie sich emotional näher gekommen sind, einandermehr Verständnis als vorher entgegen bringen konnten, beginnt die Su-che, die Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten. Diesbezüglich kannman sich gemeinsam im Sinne eines Brainstormings auf die Suche be-geben; es kann zunächst einmal – in einem ersten Schritt – alles, wasden beiden Konfliktparteien oder auch dem Mediator einfällt, aufgelis-tet, aufgeführt werden, um sodann – in einem zweiten Schritt – das aus-zuwählen, was aus der Sichtweise beider als machbar erscheint, so dassschließlich – in einem dritten Schritt – die genauen Verhaltensweisenfür die Lösungsumsetzung so konkret wie möglich erarbeitet werden.Aber hier beginnt bereits die fünfte Mediationsstufe. Bevor wir zu die-ser kommen, soll die zentrale Orientierung der Mediatoren beschriebenwerden, die die Lösungssuche aus systemischer Sicht begleitet: die Res-sourcenorientierung.Im Gegensatz zum Gerichtsverfahren, geht die Mediation nicht davonaus, dass einem System von außen (etwa durch eine Richterentschei-dung) eine Lösung vorgegeben werden kann; in systemischer Termino-logie formuliert: Das Mediationsverfahren orientiert sich an Selbstorga-nisationsfähigkeiten der Konfliktparteien, es lehnt – aus theoretischerund aus ethischer Sicht – „instruktive Interventionen“ (siehe dazu zumBeispiel Kersting 1991) nahezu gänzlich ab. Eine wesentliche Voraus-setzung für die Selbstorganisation, für die – von Mediatoren zwar mo-derierte, aber dennoch auf die eingebrachten Inhalte der Klienten basie-rende Lösungserarbeitung – sind die Ressourcen der Konfliktparteienselbst. In der systemischen Sozialen Arbeit wird als Ressource, wie inder systemischen Therapie, „jedes Potential verstanden, das die Verhal-tensoptionen eines Systems erhöht und damit seine Lebens- und Pro-

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blemlösefähigkeit verbessert. Eine Ressource kann materiell-wirt-schaftlicher, sozialer, emotionaler oder intellektueller Natur sein“ (Si-mon/Clement/Stierlin 1999, S. 275). Die Ressourcenorientierungbetont die „Verhaltensmöglichkeiten, die einem Klientensystem zurVerfügung stehen“ (ebd.); sie setzt – in klassisch sozialarbeiterischer,quasi vorwissenschaftlicher Sprache gesagt – also dort an, wo die Kli-enten selbst stehen. Mit nochmals anderen Worten gesagt: Nach derRessourcenorientierung verfügen – auch wenn es ihnen nicht bewusstist – die Klienten immer schon über die „Weisheit“ der möglichen Kon-fliktlösungen. Dies kann in dem folgenden Beispiel deutlich werden:Ich habe bereits erwähnt, dass sich eine Lösung im beschriebenen Kon-flikt der Erzieherinnen des Kinderladens Zauberzwerge ergab, als klarwurde, dass es unterschiedliche, aber sich gegenseitig ergänzende Inte-ressen der Erzieherinnen gab: Die bisher morgens regelmäßig zu spätkommende Erzieherin wollte lieber mittags beziehungsweise nachmit-tags arbeiten und zwei andere Erzieherinnen lieber morgens. Aus diesenInteressen konnte ein neuer Dienstplan erarbeitet werden, der eine Kon-fliktlösung darstellte. Im Konflikt zwischen der älteren schwerhörigen Nachbarin und demStudenten Herrn Konrad konnte die Lösung gefunden werden, dassHerr Konrad seiner Nachbarin in deren Auftrag Kopfhörer kauft, undsie in Zukunft damit sowohl Radio hört als auch fernsieht. Des Weiterenwar es ein Erfolg der emotionalen Annäherung, dass sich die Nachbarinso öffnete und berichtete, dass sie keine Verwandte und Freunde mehrhabe, so dass Herr Konrad vorschlug, sie zum Beispiel beim Arztbesuchbezüglich der Gehöruntersuchung zu begleiten.Im Fall des strittigen Umgangs konnten, nachdem die Ängste der Mut-ter und des Vaters artikuliert waren (die Mutter ängstigte sich wegendes Gesundheitszustandes ihrer Tochter und der Vater wegen der ange-drohten dauerhaften Einstellung des Umgangs), ebenfalls neue Ideenerarbeitet werden: Mutter und Vater einigten sich darauf, dass sie mitder Tochter gemeinsam eine Kinderpsychologin aufsuchen werden, umüber die Symptome der Tochter und deren mögliche Bedingungen zusprechen. Beide kamen zu dem Punkt, dass es für die Tochter – trotzTrennung – wichtig sei, beide Eltern als Kontakt- und Vertrauensperso-nen zu behalten.Die Ressourcenorientierung ist ein wesentlicher Aspekt, der die obenbeschriebene Lebensweltnähe der Mediation zum Ausdruck bringt.

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Denn es werden keine Lösungen von außen vorgeschrieben, die Medi-atoren instruieren hier nicht, vielmehr nehmen sie eine „Hebammen-funktion“ ein, sie helfen, das zu gebären, was die Konfliktparteien anVerhaltensmöglichkeiten selbst entwickeln und realisieren können, waszur Lösung des Konflikts beiträgt.

5. Stufe: Erarbeitung einer einvernehmlichen Vereinbarung: Die letzteStufe, die ich vorstellen möchte, konkretisiert die Lösungen so, dass siepraktisch umsetzbar sind. Dabei ist aus systemischer Sicht darauf zuachten, dass die Verhaltensweisen und Handlungen, die mit der einver-nehmlichen Lösung einhergehen, so konkret wie möglich erarbeitetwerden. Es geht also darum, in einem Vertrag, auf den sich beide Kon-fliktparteien verbindlich einigen, festzuschreiben, was wann wer wowie mit wem und wozu tun muss, um die erarbeiteten Lösungen umzu-setzen. Erst wenn dies gelingt und wenn die erarbeiteten Lösungen tat-sächlich greifen, was erst in einer nachfolgenden Evaluation feststellbarist, kann die Mediation als erfolgreich bewertet werden.

Übersicht 14

Stufenmodell der Mediation

Stufe Thema Aufgabe des Mediators

1 Begrüßung und Einführung. Markierung des Kontextes Medi-ation durch Einführung der gel-tenden Kommunikations-regeln.

2 Darstellung der Positionen beziehungsweise Sichtweisen.

Paraphrasieren der sachlichen Aspekte des Konflikts (Fokus auf Sachthemen der Kommuni-kation).

3 Vertiefung: von den Positionen/ Sichtweisen zu den Interessen, Gefühlen und Konflikt erhalten-den Mustern.

1. Trennung der Positionen/Sichtweisen von den dahinter liegenden Interessen.2. Verbalisieren der emotionalen Aspekte/ Erlebnisinhalte des Konflikts.3. Metakommunikation über die Muster der Konfliktkommunika-tion.

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Ich will am Ende der Darstellung des mediativen Stufenmodells nocheinmal auf den wichtigen Aspekt hinweisen, dass sich die Mediations-stufen in der Praxis zirkulär vernetzen. Da jede nach der 1. Stufe denDurchgang durch die jeweils vorher liegende/n Stufe/n voraussetzt,kann es durchaus passieren, dass zum Beispiel von der 4. Stufe (Lö-sungssuche) noch einmal auf die 3. Stufe (Vertiefung) zurück gegangenwerden muss, weil etwa die Thematisierung der Gefühle noch Raum be-nötigt, bevor die Konfliktparteien sich auf die Lösungssuche einlassenkönnen. In diesem Sinne erfordert das mediative Stufenmodell einehohe Sensibilität und Erfahrung des Mediators, um abzuschätzen, wannzur jeweils nächsten Stufe übergegangen werden kann oder wann es nö-tig ist, eine bereits bearbeitete Stufe nochmals zu durchlaufen.

V. DIE AKTUALITÄT DER MEDIATION IN DER POSTMODERNE

Die Mediation ist eine kommunikative, kognitiv wie emotional dialogi-sche, verfahrensorientierte, prozedurale Methode Sozialer Arbeit, sie istalso bezüglich der Aufgabe der Mediatoren weniger inhalts- als prozes-sorientiert: Die Mediatoren geben nicht vor, was in der Mediation kom-muniziert wird, sondern strukturieren, wie in der Mediation kommuni-ziert wird; sie bestimmen inhaltlich nicht die Ziele, sondern strukturie-ren den Weg zu einem Ziel, das die Konfliktparteien selbst inhaltlicherarbeiten. Dieser Vorgehensweise liegen zwei zentrale Annahmen zu-grunde – erstens: dass der mediative Weg, das heißt die Struktur des be-schriebenen Stufenmodells bei allen, aber insbesondere bei „fest gefah-renen“, „verstrickten“, hoch emotionalisierten Streitigkeiten die Wahr-

Stufe Thema Aufgabe des Mediators

4 Lösungssuche Brainstorming: Schaffung eines Kontextes, in dem alle Lösungs-ideen artikuliert und aufgelistet werden können.

5 Erarbeitung einer einvernehmli-chen Vereinbarung.

Konkretisierung der Lösungs-ideen und gründliche Vorberei-tung ihrer Umsetzung; Ver-schriftlichung in Form einer gemeinsamen Vereinbarung.

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scheinlichkeit einer einvernehmlich erarbeiteten Konfliktlösung erhöht;und zweitens: dass es keine befriedigenden und angemessenen Lösun-gen geben kann, die den Konfliktparteien nur von außen angeraten wer-den müssten, sondern dass es strukturierter, aushandlungs- und verstän-digungsorientierter, kurz: dialogischer Kommunikation zwischen denKonfliktparteien bedarf, damit eine für sie passende Lösung von ihnenselbst erarbeitet werden kann.Daher ist Mediation ein Verfahren, das auch aktuellen ethischen Postu-laten gerecht wird (siehe etwa Honneth 2000). Diese Postulate fordernnicht mehr, was aus ethischer oder moralischer Hinsicht „richtig“ und„falsch“ ist, sondern legen Verfahren, Prozeduren, Methoden nahe, wieMenschen, die sich über Normen und Werte streiten, diesen Streit auch– hinsichtlich Fragen nach „guten/richtigen“ in Abgrenzung zu „unan-gemessenen/bösen/falschen“ Normen und Werten – konstruktiv aus-tragen können: nämlich diskursiv, dialogisch, kommunikativ. Weil un-ter heutigen Gesellschaftsbedingungen die individuellen Lebensidealein so hohem Maße divergieren, kann „die Ethik angesichts moralisch-praktischer Konflikte nicht mehr bestimmte Werte [zum Beispiel hin-sichtlich der Fragen: ‚Was sollen wir tun?’ ‚Was ist ein gutes Leben?’;H.K.], sondern nur noch ein spezifisches Lösungsverfahren normativempfehlen“ (ebd., S. 140): zum Beispiel den Diskurs beziehungsweiseDialog.Dem ethischen Diskurs- beziehungsweise Dialog-Postulat geht die Ge-sellschaftsdiagnose einer Postmoderne voraus, in der allgemeinver-bindliche Erzählungen, „Metaerzählungen“, wie Jean-François Lyotard(1979) sagt, an denen Menschen ihre Lebenswege und Moralvorstellun-gen ausrichten können, mehr und mehr erodieren. Auch gesellschaftli-che Funktionssysteme, etwa formal organisierte Institutionen (zum Bei-spiel Gerichte), sind somit immer weniger in der Lage, adäquate Orien-tierungen für die Lebenswelten bereit zu stellen oder gar für dieseEntscheidungen zu treffen, die den Erwartungen und Erfordernissendieser Lebenswelten entsprechen sowie den Bedürfnissen der Men-schen gerecht werden. Deshalb zeichnet sich langfristig die Notwendig-keit ab, den Menschen selbst wieder das in die Hände zu geben, was ih-nen von den großen Institutionen der Moderne (auch von einer stark auf„Fremdhilfe“ ausgerichteten Sozialarbeit) auf immer breiteren Gebie-ten abgenommen wurde: das eigene Leben zu planen und diesbezügli-che Entscheidungen zu treffen.

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Die Mediation ist ein Weg in Richtung lebensweltorientierter Sozialar-beit; sie hilft in einer Art postmoderner Professionalität dabei, dass dieLebenswelten unterstützt werden, das (wieder) selber in die Hand zunehmen und zu tun, womit die traditionellen Funktionssysteme der Mo-derne (zum Beispiel das Rechtssystem) mehr und mehr überfordertsind: angemessene Werte und Normen für ein gelingendes Leben eigen-verantwortlich zu konstruieren.

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10. Reframing in der systemischen Beratung und Supervision

Ein Beispiel für praktizierten (De-)Konstruktivismusmit Britta Haye

AUSGANGSPUNKTE

Mit anderen Beobachtungen kann anderes beobachtet werden, so lässtsich eine der zentralen Thesen des system- und differenztheoretischenKonstruktivismus in einem Satz zusammenfassen. Die Inhalte von Be-obachtungen, das heißt von (psychischen) Wahrnehmungen und (sozi-alen) Kommunikationen erscheinen damit als kontingent, also als „et-was, was weder notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie esist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“ (Luhmann1984, S. 152). Diese Kontingenz können KlientenInnen von BeraterIn-nen und SupervisorInnen vor allem dann am eigenen Leibe spüren,wenn in Beratungs- und Supervisionsprozessen mittels Reframing, alsodurch das Wechseln von Rahmen der Wahrnehmung und Kommunika-tion, die sanfte Kunst des Umdeutens (vgl. Watzlawick u.a. 1974, S.116ff.) praktiziert wird.Wie alle Künste bestimmte Sinne ansprechen und diese schärfen, hatauch Reframing den Effekt, einen speziellen, wie wir vermuten, in unsallen angelegten Sinn zu sensibilisieren: den Möglichkeitssinn à la Mu-sil.22 Wenn die Entwicklung des Möglichkeitssinnes in der Supervisiongefördert wird, dann ist es wahrscheinlich, dass dieser sich immer dannbemerkbar macht, wenn beobachtet wird, dass Beobachtungen, genau-er: Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen (vgl. Simon 1995,S. 17ff.) beziehungsweise Wirklichkeitskonstruktionen, die KlientIn-

22 „Wenn es aber einen Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es ist, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein“ (Musil 1930/42, S. 16).

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nen über ihre Probleme mitteilen, auch anders sein könnten. Und das istfast immer der Fall.Reframing ist nun genau jene Methode, die das (Aus-)Denken undKommunizieren von anderen Wirklichkeitskonstruktionen bezüglichder als problematisch erfahrenen alten Beobachtungen möglich macht.Die Möglichkeit, Beobachtungen, Beschreibungen usw. umzukonstru-ieren, besteht deshalb, weil alle Beobachtungen oder Beschreibungen,indem sie bestimmte Sichtweisen eingrenzen beziehungsweise einblen-den, andere ausgrenzen beziehungsweise ausblenden.23 Indem Refra-ming andere Sichtweisen zu Tage fördert, blendet es Ausgeblendetesein. Diesbezüglich lässt sich Umdeuten auch als eine Form der Dekon-struktion verstehen (vgl. auch de Shazer 1988, S. 117ff.). Denn es bieteteine „‚Lektüre‘ der Welt, die das Ausgegrenzte wieder ans Licht bringt“(Engelmann 1990, S. 31), wofür der Begründer dekonstruktionistischenDenkens, Jacques Derrida, plädiert (vgl. ebd.).24

Im Folgenden wollen wir versuchen darzustellen, wie in der Beratungund Supervision umgedeutet, das heißt dekonstruiert und wieder neukonstruiert werden kann. Dazu werden wir zunächst ausführen, wie wirsystemisch-konstruktivistische Beratung und Supervision konzeptuali-sieren, nämlich als Beobachten des Beobachtens. Beim Beobachten desBeobachtens können KlientInnen und SupervisandInnen ihre Wirklich-keitskonstruktionen umdeuten, indem sie nämlich die Komplexität, Re-lativität und Kontingenz ihrer beobachteten Welt erfahren. Dadurchwird es ihnen möglich, ihre Beobachtungen in andere Kontexte einzu-

23 Vgl. Hans-Christoph Vogel (1996), der dies am Beispiel der Organisations-entwicklung verdeutlicht, die er als Einblenden des Ausblendens konzeptuali-siert.24 Wer an diesem Punkt moniert, dass wir mit philosophischen Begriffen, wie zum Beispiel mit dem der Dekonstruktion, zu freizügig umgehen, dem sei mit-geteilt, dass wir diesbezüglich so verfahren wie (systemisch-konstruktivisti-sche) BeraterInnen und SupervisorInnen im Umgang mit Beschreibungen: sys-tematisch unsystematisch, sprich: respektlos und offensiv eklektizistisch (vgl. Bardmann/Hansen 1996, S. 18). Außerdem sind wir der Meinung, dass gerade durch das Aufgreifen von Begriffen und Beschreibungen aus anderen Professi-onen, insbesondere aus der Soziologie und Philosophie, besser verstehbar wird, was in der psychosozialen Beratung geschieht, nämlich die Veränderung von Sinnsystemen, welche KlientInnen in problematische Situationen geführt haben (vgl. zum Beispiel auch de Shazer 1991).

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ordnen, das heißt Unterscheidungen zu treffen, die Unterschiede ma-chen. Das Treffen von Unterscheidungen ist die Grundoperation desBeobachtens und damit der Konstruktion von Wirklichkeiten.Bevor wir uns allerdings dem Unterscheiden in der Supervision wid-men, wollen wir Ihnen, wie im Laufe des weiteren Textes noch häufi-ger, zur Auflockerung einen Witz erzählen. Denn Witze basieren in derRegel auf Umdeutungen. Bei dem folgenden Spruch handelt es sichnicht eigentlich um einen Witz, sondern vielmehr um einen Aphorismusvon Friedrich Nietzsche (1878, S. 576): „Schlechtes Gedächtnis. – DerVorteil des schlechten Gedächtnisses ist, daß man dieselben guten Din-ge mehrere Male zum ersten Mal genießt.“

I. BERATUNG UND SUPERVISION ALS BEOBACHTEN DES BEOBACHTENS

I.1 Unterscheidung und Kontext

Ein schlechtes Gedächtnis muss nicht unbedingt negativ sein, ihm kanndurchaus ein (positiver) Sinn zugeschrieben werden; es kommt ganzdarauf an, in welchem Kontext es beobachtet wird. Dies führt uns wie-derum zu der (konstruktivistischen) These, dass sich die beobachteteWelt immer auch anders beobachten lässt. Die Relevanz dieses Satzeserscheint besonders dort bedeutend, wo andere Sichtweisen zu Tage ge-fördert werden sollen, wo Menschen, die ihren Alltag als problematischbewerten, AnsichtenmaklerInnen (vgl. Kersting 1992, S. 20) begegnen:in der Supervision und Beratung. Aber, wie ist es möglich, dass Beob-achtungen kontingent sind, dass sie auch anders getroffen (gesetzt) wer-den können? Um diese Frage beantworten zu können, deren Klärungauch Voraussetzung für das Verstehen unseres Reframing-Konzeptesist, werden wir zunächst darstellen, was konstruktivistische Beratungund Supervision für uns bedeutet, wenn wir sie als Beobachten des Be-obachtens bezeichnen.Nach dem system- beziehungsweise differenztheoretischen Konstrukti-vismus entsteht Wirklichkeit durch einen Konstruktionsakt von Beob-achtern. Als Beobachter gelten nicht ausschließlich mit Bewusstsein be-gabte menschliche Subjekte, sondern alle (biologischen, psychischenoder sozialen) Systeme, die sich in Differenz zu einer Umwelt setzenkönnen, um weitere Unterscheidungen zu treffen (vgl. etwa Luhmann

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1990, S. 68ff.).25 Für beobachtende Systeme gewinnt etwas immerdann Realität, wenn mittels einer Operation des Unterscheidens die eineund nicht die andere Seite dieser Unterscheidung bezeichnet wird. DieForm der Unterscheidung, das heißt die Einheit der zwei unterschiede-nen Seiten, kann selbst nicht beobachtet, das heißt unterschieden undbezeichnet werden. Anders gesagt, ein System kann im Moment seinerBeobachtung selbst nicht beobachten, wie es seine Umwelt beobachtet,das heißt unterscheidet und bezeichnet. In einer ausschließlich auf denMenschen bezogenen Formulierung: Das eigene Sehen kann im Augen-blick des Sehens selbst nicht gesehen werden. Unterscheidungen ope-rieren also blind.Erst zu einem späteren Zeitpunkt (im nächsten Augenblick) kann ver-sucht werden, das eigene (vergangene) Beobachten zu beobachten; diesgeschieht allerdings auch wieder ohne selbst beobachtbar zu sein, es seidenn, es wird von anderen Beobachtern beobachtet. Derartige Beobach-tungsformen, die wir permanent vollführen, weil wir niemals die Welt„an sich“ beobachten, sondern (selbstreferentiell) ausschließlich unsereeigenen Beobachtungen, die möglicherweise fremde Beobachtungenbeobachten, werden Beobachtungen zweiter Ordnung genannt. Das Be-obachten zweiter Ordnung operiert offensichtlich zirkulär beziehungs-weise rekursiv, denn es bezieht sich mit jeder Operation auf das (eigene)Netzwerk, welches es selbst permanent reproduziert.26 Dermaßen zir-kulär prozessiert sowohl die (psychische) Wahrnehmung als auch die(soziale) Kommunikation. Solche Rekursionen führen zu Reflexionen, das heißt zum Bedenkendes eigenen Denkens oder zum Kommunizieren über das Kommunizie-ren (Metakommunikation), wenn sich die Psyche beziehungsweise dassoziale System mit den eigenen Beobachtungen selbst beobachtet. Dies-

25 Der differenztheoretische Ansatz, der insbesondere auf George Spencer-Brown (1969) und Gregory Bateson (1972; 1979) zurückgeht, scheint sich mit-tlerweile im systemtheoretischen (radikalen und operationalen) Konstruktivis-mus als Erklärungsmodell der Wirklichkeitsgenese durchgesetzt zu haben. So lässt sich der hier relevante Konstruktivismus auch als Theorie des Unterschei-dens bezeichnen.26 Derartiges Beobachten ist im Prinzip jener Prozess, den Humberto R. Maturana und Francisco Varela (zum Beispiel 1984) und im Anschluss daran Niklas Luhmann (zum Beispiel 1984) als Autopoiesis bezeichnet haben.

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bezüglich muss sich dasselbe (psychische oder soziale) System von sichselbst unterscheiden,27 was paradox ist, wenn von der Zeit abstrahiertwird – wie gesagt, wenn eigenes Beobachten beobachtet wird, dann istdieses beobachtete Beobachten immer schon vergangenes Beobachten.Wenn dasselbe System sich im Prozess der Reflexion von sich selbstunterscheidet, dann beobachtet es sich selbst mittels der Unterschei-dung, mit der es sich von seiner Umgebung unterscheidet: der System/Umwelt-Differenz. In dieser Hinsicht kommt es zu einem Wiederein-tritt (re-entry) der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene. Nurso kann ein System selbst beobachten, dass es sich von seiner Umweltunterscheidet; diesbezüglich wird es ihm möglich, sich als erlebendoder handelnd zu beobachten, je nachdem ob es seine Zustandsverände-rungen sich selbst (Selbstreferenz) oder seiner Umwelt (Fremdreferenz)zurechnet.Zusammenfassend können wir sagen, mit jeder Operation des Beobach-tens entsteht eine Form mit zwei Seiten, von der die eine und nicht dieandere Seite bezeichnet wird, die weitere Unterscheidungen und Be-zeichnungen herausfordert. Derartiges Unterscheiden und Bezeichnenproduziert eine Vielfalt von weiteren Differenzierungsmöglichkeiten,die Selektionszwang oder Ent- beziehungsweise Unterscheidungs-zwang herausfordern. An diesem Punkt kommt die Komplexität insSpiel, die das Ausgangsproblem jeder Beobachtung zu sein scheint (sie-he ausführlich dazu 1. Kapitel). Denn es gibt immer mehr Unterschei-dungsmöglichkeiten als jene, die im Moment aufgegriffen werden kön-nen, so dass Beobachter, die das Beobachten beobachten, sagen können:Es hätte auch anders unterschieden und bezeichnet werden können.Diesbezüglich erscheinen die Inhalte der Beobachtungen als relativ zuden Beobachtern und damit als kontingent.Unterschiedliche Beobachter beobachten gerade das, was sie beobach-ten, weil es für sie Sinn macht. Denn beobachten lässt sich in Anleh-nung an Bateson (1972; 1979)) immer nur ein solcher Unterschied, derim Netzwerk der (vergangenen) Beobachtungen einen (bedeutsamen

27 Sobald sich ein Beobachter selbst beobachten will, muss er also zugleich derselbe und nicht derselbe sein, ansonsten würde er sich nicht von sich selbst unterscheiden können, um sich zu beobachten. Allerdings dürfte er dies nicht, wenn er das Paradoxieverbot der Theorie der Logischen Typen von Alfred North Whitehead und Bertrand Russel (1925) ernst nehmen würde.

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beziehungsweise sinnvollen) Unterschied ausmacht und damit als In-formation registriert werden kann. In dieser Hinsicht sind zuvor getrof-fene Unterscheidungen der Kontext für die weiteren Unterscheidungenund Bezeichnungen. Ein Kontextwechsel, das heißt Reframing wäre indieser Hinsicht also ein Ausbruch aus den tradierten Gewohnheiten desUnterscheidens und Bezeichnens, um andere Anschlussdifferenzierun-gen zu ermöglichen.28 Dies hört sich theoretisch leichter an als es prak-tisch möglich ist.Deshalb möchten wir anmerken, dass das Setzen von Unterscheidungenzwar kontingent ist, weil es als Reduktion von Komplexität bestimmteUnterscheidungen eingrenzt, während es das Potential aller anderenausgrenzt und damit einen Kontext für die nächsten Unterscheidungengeneriert. Kontingenz heißt aber nicht, wie wir noch genauer sehen wer-den, dass das Unterscheiden beliebig ist. Umdeuten als das Setzen vonanderen Unterscheidungen, die als neuer Kontext für die nächsten Un-terscheidungen dienen, muss Sinn machen; zumindest wenn es verstö-rend und nicht effektlos sein soll.Ob und wie eine Umdeutung Sinn macht, ob und wie sie verstandenwird, hängt aber nicht nur von den BeraterInnen und KlientInnen oderden SupervisorInnen und SupervisandInnen beziehungsweise von de-

28 Wir bieten hier also eine andere Erklärungsweise des Umdeutens an als etwa Paul Watzlawick u.a. (1974), die auf die Logische Typentheorie von Whitethead und Russel rekurrieren. Aus einem differenztheoretischen Ansatzpunkt erscheint es uns problematisch, mit der Typentheorie eine Hierarchie (von Klas-sen und Elementen) zu konstatieren, wo unserer Ansicht nach keine besteht. Denn das Setzen von Unterscheidungen als Bedingung der Möglichkeit von Wirklichkeitskonstruktion ist immer selbstreferentiell. Anders gesagt, Unter-scheidungen können (wie im Falle des Reframing) zwar gewechselt werden, sie beziehen sich (tautologisch oder paradox) aber immer auf ihr eigenes (autopoi-etisches) Netzwerk; sie können also niemals hierarchisch über (oder unter) andere Unterscheidungen gesetzt werden; denn das würde die Grenzen des Beo-bachters sprengen, die Differenz von System und Umwelt auflösen. Dennoch gehen wir mit Watzlawick auch davon aus, dass Umdeutungen als ‚Lösungen zweiter Ordnung’ den Sprung zu einer Metawirklichkeit, besser: zu einer ande-ren Wirklichkeit, initiieren können, so dass „Veränderungen selbst dann mög-lich sind, wenn die konkreten Gegebenheiten einer Sachlage unverändert blei-ben“ (ebd., S. 121), da bekanntlich die Beschreibung nicht das Beschriebene, die Landkarte nicht das Gebiet, die Speisekarte nicht die Speise oder die Logik nicht das Leben ist (vgl. dazu auch Simon 1995a; Kleve 1999c).

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ren psychischen Systemen ab, sondern genauso von dem sozialen Sys-tem Beratung oder Supervision, in dem die Umdeutungen als Informa-tionen mitgeteilt werden. Da uns dieser Aspekt für ein systemischesVerständnis von Beratung und Supervision wichtig erscheint und dasBeobachten des Beobachtens in sozialer Hinsicht sogar erst ausmacht,wollen wir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs in die soziologischeSystemtheorie machen. Nebenbei gesagt, die folgenden Zeilen könnenauch als ein (systemtheoretischer) Umdeutungsversuch verstanden wer-den, denn das Individuum wird dekonstruiert und an seine Stelle tretenpsychische und soziale System/Umwelt-Differenzen.29

I.2 Kommunikationssystem Beratung und Supervision: Versuch einer systemtheoretischen Umdeutung

Im Sinne der soziologischen Systemtheorie lässt sich Beratung und Su-pervision als soziales System, genauer: als Interaktionssystem (vgl.Luhmann 1984, S. 551ff.), verstehen, in dem die Beobachtungen, dasheißt Unterscheidungen und Bezeichnungen als Kommunikationen zir-kulieren. Dementsprechend können BeraterIn beziehungsweise Super-visorIn und KlientInnen als (innere30) Umwelten des Systems Beratungoder Supervision angesehen werden, nicht als dessen Teile oder Ele-mente. Allerdings sorgen die beteiligten Personen (BeraterInnen, Su-pervisorInnen und KlientInnen) dafür, dass das soziale System Bera-tung/Supervision als emergentes Phänomen entsteht, indem sie beob-achten (unterscheiden und bezeichnen), dass sie beobachtet werden undihr Beobachten des Beobachtetwerdens beobachten (vgl. ebd., S. 561).In einer derartig komplexen Verschränkung von Beobachtungen kannnicht nicht kommuniziert werden (vgl. Watzlawick u.a. 1969), denn diePersonen rechnen sich ihre Unterscheidungen und Bezeichnungen, das

29 Vgl. dazu beispielsweise Peter Fuchs (1995), der in seiner Umschrift die Phänomene japanische Kommunikation und Autismus nicht wie dies üblicher-weise der Fall ist psychisch deutet, sondern kommunikationstheoretisch a’ la Niklas Luhmann.30 Vgl. Helmut Willke (1993, S. 59ff.), der mit „innerer Umwelt“ beziehungs-weise „Innenwelt“ die Relationen eines sozialen Systems mit seinen Mitglie-dern umschreibt, während er als „Außenwelt“ („äußere Umwelt“) die externen Relationen des Systems (zum Beispiel mit anderen Systemen) versteht.

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heißt ihr Verhalten gegenseitig (komplexitätsreduzierend) als Handeln,genauer: als Mitteilung von Information, zu. Diesbezüglich ist Beratungund Supervision immer Kommunikation.31 Wenn wir im Folgendenalso (von sprachlich formulierten) Umdeutungen sprechen, dann sinddie Unterscheidungen und Bezeichnungen gemeint, die kommuniziert,das heißt als Mitteilung von Information verstanden werden. Schließ-lich ist es bisher so gewesen, dass Umdeutungen, zumindest in allen unsbekannten Fällen, mitgeteilt und nicht mittels Telepathie direkt vonPsyche zu Psyche ausgetauscht wurden. Und da es vermutlich auch inZukunft noch genauso sein wird, besteht keine Gewähr, dass die Klien-tInnen die Umdeutungen der BeraterInnen und SupervisorInnen in demSinne verstehen, wie die Letzteren sie meinen.Denn welche Informationen Personen jeweils verstehen, determiniertnicht die beraterische oder supervisorische Kommunikation. Vielmehrunterscheiden und bezeichnen die psychischen Systeme auf eigenstän-dige Weise. Daher kann das, was für die einzelnen TeilnehmerInnen derBeratung oder Supervision einen Unterschied macht, der einen Unter-schied macht, also Information ist, sehr unterschiedlich sein. So kom-muniziert das Kommunikationssystem, indem es Mitteilungen und In-formationen versteht, ohne dass die beteiligten Personen sich verstehenmüssen.Zur Illustration möchten wir Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, dieden Titel trägt Der Mann mit dem Pinguin:32 Ein Mann ging, gefolgtvon einem Pinguin, die Straße entlang, bis er einen Polizisten traf unddiesen fragte: „Gestern ist mir dieser Pinguin zugelaufen, können Siemir sagen, wohin ich mit ihm gehen kann?“ Daraufhin sagte der Poli-zist: „Ja natürlich, bringen Sie ihn in den Zoo.“ Am nächsten Tag trafder Polizist erneut auf den Mann, der den Pinguin wiederum mit sichführte und sprach ihn erstaunt an: „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie kön-nen den Pinguin in den Zoo bringen.“ Der Mann mit dem Pinguin ant-

31 Zu dem äußerst komplex angelegten und dem Alltagsverständnis zuwider-laufenden systemtheoretischen Kommunikationsbegriff, welcher von der Theo-rieentscheidung ausgeht, dass biologische, psychische und soziale Systeme jeweils füreinander Umwelten bilden, siehe ausführlicher 1. und 2. Kapitel.32 Die folgende Geschichte erzählte uns Jürgen Linke vom Berliner Institut für Familientherapie in einem Gespräch über Kreativität. Übrigens, Kreativität setzt ebenso wie Reframing Mut voraus: Mut, in andere Kontexte zu springen.

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wortete: „Das habe ich gestern auch gemacht, aber heute gehen wir insKino.“Und weil derartige Geschichten Verstehensprobleme am besten illust-rieren, noch eine zweite, die wir dem Ha-Handbuch der Psychotherapievon Bernhard Trenkle (1994, S. 51f.) entnahmen: Zwei Freunde treffensich zufällig nach langer Zeit auf der Straße. Sie kommen miteinanderins Gespräch und erzählen sich, was die letzten Jahre in ihrem Leben al-les geschah, und dabei entwickelt sich folgender Dialog:

„Freund 1: ‚Ja und vor zehn Monaten habe ich geheiratet, aber leiderstarb meine Frau vor vier Wochen.‘

Freund 2: ‚Welche Tragödie! Was hat sie denn gehabt?‘

Freund 1: ‚Ein kleines Einzelhandelsgeschäft und ein paar TausendMark Festgeldanlagen.‘

Freund 2: ‚Nein, das meine ich nicht. Was hat ihr denn gefehlt?‘

Freund 1: ‚Na, gut. Ein Bauplatz und das Geld, das Geschäft vernünftigauszubauen.‘

Freund 2: ‚Das meine ich doch nicht. An was ist sie denn gestorben?‘

Freund 1: ‚Ach so. Sie wollte in den Keller, um fürs Mittagessen Kar-toffeln und Sauerkraut hoch zu holen. Dabei ist sie auf der Treppe ge-stürzt und hat sich das Genick gebrochen.‘

Freund 2: ‚Um Himmels willen! Was habt Ihr denn da gemacht?‘

Freund 1: ‚Nudeln.‘“

Die „Moral“ aus den Geschichten: Soziales und psychisches Verstehenunterscheiden sich voneinander.33 Sozial wird immer etwas anderes se-lektiert, das heißt beobachtet, das heißt unterschieden und bezeichnetals psychisch, ansonsten würde es keinen Unterschied zwischen Be-wusstsein und Kommunikation geben – differenzierter formuliert: Diesozialen Unterscheidungen, sprich: die Mitteilungen von Informatio-nen, unterscheiden sich von den psychischen Unterscheidungen, sprichvon den Gedanken, die während einer Kommunikation im Bewusstseinder beteiligten Personen assoziiert (beziehungsweise selektiert) werden(vgl. auch Fuchs 1995, S. 41f.). In einer nochmals anderen Formulie-rung: Ausgesprochene Worte können niemals das sein, was psychischgedacht oder körperlich gefühlt wurde. Körper, Psyche und Kommuni-

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kation sind jeweils füreinander intransparent; sie können sich gegensei-tig lediglich dazu anregen, eigene Unterscheidungen zu treffen.

I.3 Schlussfolgerungen

Wenn wir davon ausgehen, dass gesetzte Unterscheidungen und Be-zeichnungen sowohl psychisch als auch kommunikativ den Kontext fürdie nachfolgenden psychischen oder sozialen Beobachtungen bildenund damit etwas Bestimmtes, was für die Beobachter sinnvoll ist, be-zeichnen, so dass anderes unbezeichnet bleiben muss, was ebenfallssinnvoll bezeichnet werden könnte, bedeutet Reframing für uns zweier-lei – erstens: unterdrückte Bedeutungen, das heißt andere sinnvolle Un-terscheidungen und Bezeichnungen sichtbar zu machen und zweitens:jenen Unterscheidungen und Bezeichnungen von „der anderen Seite“,die als sekundär, nebensächlich und wertlos betrachtet wurden, den Vor-rang zu geben.Diese beiden Aspekte, die Michael White (1992, S. 55) in Anlehnungan die dekonstruktive Methode von Derrida formuliert, können als Mit-tel zur Erreichung von drei wichtigen Beratungs- und Supervisionszie-len gelten: der Komplexitäts-, Relativitäts-, und Kontingenzerfahrung(vgl. Kleve 1996, S. 122ff.).

II. REFRAMING ALS MITTEL ZUM ZIEL

Zunächst ein weiterer Witz aus dem Ha-Handbuch der Psychotherapie(Trenkle 1994, S. 130): „Ein heruntergekommener und hungriger Bett-

33 Und zwar deshalb, weil Personen ihr (Nicht-)Verstehen mittels Verhaltens-erwartungen prüfen, die sie gegenseitig voneinander erwarten, ohne aber je wis-sen zu können, ob das Verhalten, welches sie jeweils als Verstehensmitteilung erwarten, auch psychisches Verstehen der jeweils anderen Person bedeutet. So können interagierende Personen in dem Glauben, sich zu verstehen, ein Kom-munikationssystem, das Mitteilungen, Informationen und Verstehen differen-ziert, aufrechterhalten, ohne sich zu verstehen, denn „als Verstehen kommt alles in Betracht [...], was das verstehende System für verstehen hält“ (Luhmann 1986a, S. 85; siehe dazu auch: Kleve 1996, S. 60ff.; Haye/Kleve 1997). Das-selbe umschreibt Theodor Bardmann (1994, S. 85) mit seinem konstruktivisti-schen Motto: „’Sage mir, was Du denkst, und ich denke mir, was Du meinst“.

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ler klingelt an einem Haus, und eine alte Frau schaut daraufhin obenzum Fenster hinaus. ‚Gute alte Frau‘, jammert der Bettler nach oben,‚drei Tage habe ich schon nichts mehr gegessen.‘ Die Oma antwortetihm: ‚Musst Dich halt zwingen‘“.

II. 1 Kontingenzerfahrung

Die alte Frau hat die Situation des Bettlers umgedeutet. Sie hat eine aus-geblendete Bedeutung eingeblendet und damit einen neuen Kontext fürnachfolgende Unterscheidungen generiert. Der Bettler erscheint nichtmehr als armer Mann, der deshalb nichts isst, weil er nichts zum Essenhat, sondern eher als Kranker, der gar nichts essen kann. Möglicherwei-se wird der Mann, der diese Umdeutung von der alten Frau hört, ersteinmal sprachlos reagieren, da er zunächst keine Unterscheidungenmehr setzen kann; er sieht sich plötzlich in einen völlig anderen Kontextgestellt als erwartet. Für einen Bruchteil einer Sekunde (oder auch län-ger!) wird für ihn die Welt anhalten.34 Er stößt möglicherweise auf dieLeere der Unterscheidungslosigkeit, auf den „unmarked state“ (Spen-cer-Brown), um schon im nächsten Moment mit der Fülle der mögli-chen Formen konfrontiert zu werden (vgl. Baecker 1993b, S. 151), diedas Setzen von neuen Unterscheidungen herausfordert. Welche Verhal-tensweisen auch immer mit diesen Unterscheidungen einhergehen, siereagieren auf einen völlig anderen Kontext als er beim Betteln zunächsterwartet hatte.35

Ähnlich wirken unserer Ansicht nach alle erfolgreichen Umdeutungen:Sie ermöglichen Kontingenzerfahrung, wo Nicht-Kontingenz erwartetwurde. Dadurch enttäuschen sie jene „generalisierte[n] Verhaltenser-wartungen“ (Luhmann 1984, S. 139), durch die sich doppelt kontingentesoziale Situationen erst strukturieren. Doppelte Kontingenz heißt nichtsanderes, als dass interagierende Personen mit einer doppelten Unsicher-heit umgehen müssen: zum einen mit Handlungsunsicherheit (bezüglich

34 Vgl. Carlos Castaneda (1972, S. 12), der von dem Schamanen Don Juan lernte, dass „‚die Welt anhalten‘ [...] tatsächlich eine zutreffende Beschreibung für bestimmte Bewußtseinszustände [war], in denen die Realität des alltäglichen Lebens verändert ist, weil der Strom der Interpretationen, der für gewöhnlich ununterbrochen fließt, durch eine Reihe ihm fremder Umstände unterbrochen ist“.

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der eigenen Handlungsmöglichkeiten) und zum anderen mit Erwar-tungsunsicherheit (hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten der ande-ren Personen/KommunikationsteilnehmerInnen); denn jede Personkann sich immer auch so verhalten, dass sie die Erwartungen der ande-ren enttäuscht.36 Solche doppelt kontingenten Situationen fordern gera-dezu den Aufbau von Kommunikationssystemen heraus, von Systemenalso, die alle an ihnen beteiligten Personen mit dem Phänomen konfron-tieren, dass das (eigene) Beobachten des Beobachtens (der anderen vondiesen) beobachtet wird.Die soziale Ordnung, die erfahrungsgemäß während einer jeden (dop-pelt kontingenten) Interaktionssituation früher oder später entsteht, istbedingt durch die Rekursivität der aufeinander gerichteten Beobachtun-gen; denn Rekursionen generieren nach Heinz von Foerster (1988) sta-bile Eigenwerte, die auch als Komplexitätsreduktionen betrachtet wer-

35 Möglicherweise wird der Bettler durch die Umdeutung der alten Frau auch provoziert. Und genau so einen provozierenden Effekt haben wirksame Umdeu-tungen in der Beratung und Supervision ebenfalls nicht selten. Wie Heinz Ker-sting (1991, S. 123ff.) meint, stören provozierende Unterscheidungen und Bezeichnungen alte, eingefahrene und problematische Sichtweisen besonders gut. Provozierende Deutungen, die etwa mit Übertreibung, Spott, Entstellung, Sarkasmus, Witz, Nachahmung des Verhaltens etc. mitgeteilt werden, „locken“ die supervisorisch Ratsuchenden gewissermaßen „aus der Reserve“ (ebd., S. 123). Sie sind allerdings nur angebracht, wenn die Beziehung zwischenBerate-rIn/SupervisorIn und Ratsuchenden als stabil erlebt wird und mit gegenseitiger Akzeptanz und Achtung einhergeht. Aber gerade wenn in einer solchen Bezie-hung mit einer (Um-)Deutung provoziert wird, entsteht sozusagen ein supervi-sorischer double-bind (vgl. Kleve 1996, S. 125), der kreatives Verhalten heraus-fordert: Die betreffenden KlientInnen werden einerseits – möglicherweise bis zur Wut – provoziert, während sie andererseits mit Empathie und liebevoller Zuwendung bedacht werden. Dabei kann etwas ganz Entscheidendes gesche-hen: Im Wehren gegen die Provokation kann der Ratsuchende seine Abwehr-kräfte aktivieren und eine eigene (neue) Sichtweise konstruieren.36 Diesbezüglich kann Verhalten für Beobachter auch als ‚verrückt’ erschei-nen, weil sie den persönlichen (Interpretations-)Kontext der sich verhaltenden Person nicht teilen; es könnte aber genauso gut als ‚böse’ aufgefasst werden, wenn andere Personen meinen, es richte sich gegen sie; dazu Fritz B. Simon (1995a, S. 66f.): „’Mad or bad?’ – ‚Verrückt oder böse?’, das ist die Frage, die sich stellt, wenn jemand den Rahmen der gewohnten Spielregeln verläßt und ihre Gebote und Verbote mißachtet“.

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den können. Soziale Kommunikationssysteme entstehen also, indem dieKomplexität der möglichen Verhaltenserwartungen in (sozial) verar-beitbarer Weise reduziert wird. Denn es kann keine soziale Ordnung ent-stehen, wenn Personen nicht Verhaltenserwartungen aufeinander aus-richten, die als einigermaßen sicher erwartet werden können. Umdeu-tungen stören diese zumeist als sicher erwartete Reduktion vonKomplexität, weil sie Erwartungen enttäuschen.

II.2 Komplexitätserfahrung

Wenn die Kontingenz, die zumindest in jeder neuen sozialen Situation,wie zum Beispiel bei einem Treffen zweier bisher unbekannter Men-schen, deutlich erfahrbar ist, wieder ans Licht kommt, dann ist die Erfah-rung von Komplexität ebenfalls nicht weit. Komplexität wird beispiels-weise dann erfahren, wenn Unsicherheit darüber besteht, was getan wer-den soll oder kann, weil es verschiedene gleich passende Handlungsalter-nativen bezüglich einer bestimmten Situation zu geben scheint.Psychosoziale PraktikerInnen beispielsweise, die in die Supervisionkommen, haben nicht selten Probleme damit, dass alle ihre bisherigen In-terventionen bezüglich der KlientInnen (von ihnen selbst, den KlientIn-nen oder anderen) als erfolglos bewertet werden. Ihre oft schon längerandauernden Beziehungen zu den Klientensystemen haben trivialisierteVerhaltensmuster beziehungsweise starre Komplexitätsreduktionen ent-stehen lassen, die immer wieder das gleiche problematische Verhaltensowohl auf Seiten der HelferInnen als auch auf jener der KlientInnen he-rausfordern. Die HelferInnen kommen dann zu SupervisorInnen, weil siekeinen Möglichkeitsspielraum mehr erleben, aus dem sie schöpfen könn-ten. Ihre Wirklichkeitskonstruktionen erscheinen als unbrauchbar. Sieunterscheiden in einem Kontext von Unterscheidungen, der nur noch dasSetzen von Anschlussunterscheidungen erlaubt, die als problematischbewertet werden.Diesen PraktikerInnen könnten Umdeutungen helfen, die Kontingenzihres Beobachtens zu beobachten, was gleichzeitig Komplexitätserfah-rung für sie bedeutet. Immer dann, wenn sie merken, dass neben ihrenals problematisch bewerteten („unbrauchbaren“) Beschreibungen nochandere denkbar, oder besser: kommunizierbar, sind, erfahren sie dieKomplexität ihrer beobachteten Welt; ihnen wird beispielsweise offen-bar, dass die Situation eines Klientensystems ganz verschiedenartig be-obachtbar, beschreibbar, erklärbar oder bewertbar ist.

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Um eine derartige Komplexitätserfahrung zu erreichen, könnten Klien-tInnen mit der Bedeutungsvielfalt von Begriffen, die ihnen zur Selbst-oder Umweltbeschreibung dienen, konfrontiert werden. Diesbezüglichfördert allein schon die Umdeutung von Adjektiven, mit denen etwaPersonen bestimmte (zumeist negative) Charaktereigenschaften zuge-schrieben werden, unterdrückte, abwesende und doch implizite Bedeu-tungen zu Tage. So ließe sich etwa „faul“ als unbesorgt sein, sich ent-spannen können deuten; „ungeduldig“ könnte in handlungsorientiertübersetzt werden; „depressiv“ ließe sich auch als still und nachdenklichumschreiben; „aggressiv“ bedeutet möglicherweise auch kraftvoll odervielleicht die eigene Stärke unterschätzend (vgl. Berg 1991, S. 152).Mittels derartiger Umdeutungen werden Begriffe und Beschreibungen,die zuvor möglicherweise als eindeutig aufgefasst wurden, ihrer Ein-deutigkeit beraubt. Sie werden in einen komplexeren Kontext gestellt,das heißt in einen Kontext, der mehr und bestenfalls brauchbarere An-schlussunterscheidungen erlaubt als zuvor. Allerdings reduziert dasSetzen von Anschlussunterscheidungen die gerade aufgedeckte Kom-plexität wieder; dies aber in anderer Weise als in jener, die als proble-matisch bewertet wurde. „Der Weg geht also vom Reduzierten zumKomplexen und dann wieder zu einer neuen, hoffentlich brauchbarerenReduktion“ (IBS 1995, S. 7). Das heißt natürlich auch, dass die Pro-blemlösungen von heute wahrscheinlich die Probleme von morgen seinwerden (vgl. Kersting 1996, S. 20). Denn ob die neue Komplexitätsre-duktion brauchbarer ist als die alte, kann nicht im Kommunikationssys-tem Supervision getestet werden, sondern wird erst in der Praxis offen-bar. Dennoch konnten die KlientInnen erfahren, dass Beobachtungenrelativ sind, das heißt, sie zeigten sich als abhängig von den Unterschei-dungen, die als Kontexte für die Anschlussunterscheidungen dienten.

II.3 Relativitätserfahrung

Dass die Wirklichkeit als relativ beschrieben werden kann, heißt nichtsanderes, als dass sie sich in Abhängigkeit von (unterschiedlichen) Kon-texten anders zeigt. Ein Kontext, so hatten wir gesagt, wird mit jedemSetzen von Unterscheidungen generiert. Denn das Setzen von Unter-scheidungen entscheidet darüber, welche Anschlussunterscheidungenmöglich sind. Diesbezüglich erlauben erst Kontexte, dass Wirklichkeitals stabil erfahrbar ist; denn sie sind immer schon reduzierte Komplexi-

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tät und damit kontingenzmindernd. Anders gesagt, Kontexte sind alsRahmen der Wahrnehmung und Kommunikation sowohl exklusiv alsauch inklusiv, das heißt durch den Einschluss bestimmter Unterschei-dungen werden andere ausgeschlossen und umgekehrt (vgl. Bateson1979, S. 254). Indem derartige Rahmen aus dem Potential möglicherBeobachtungen, Beschreibungen, Erklärungen oder Bewertungen ganzbestimmte selektieren, definieren sie (soziale) Situationen und organi-sieren unsere diesbezügliche (psychische) Wahrnehmung (vgl. dazuauch Goffmann 1974).Relativitätserfahrung wird deshalb möglich, weil mit dem Offenbarender Kontingenz und der Komplexität gleichzeitig die Rahmen unter-schieden werden können, die es ermöglichten, dass die Wirklichkeit „sound nicht anders“ beobachtet wurde, obwohl es möglich gewesen wäre,wie Reframing verdeutlicht. Umdeutungen verhelfen KlientInnen alsozu der Erfahrung, dass Beobachtungen zwar kontingent sind, aber nichtbeliebig. Vielmehr sind sie abhängig von psychologischen, sozialen,kulturellen oder theoretischen Kontexten (Ausgangsunterscheidungen)und damit relativ zu den Beobachtern, die in derartigen Kontexten ihreWirklichkeit konstruieren. So könnte in der Supervision zum Beispielzwischen defizit- und ressourcenorientierten Sichtweisen unterschiedenwerden, da beide aller Wahrscheinlichkeit nach völlig verschiedenartigeBeschreibungen (Deutungen) derselben Klientensysteme ermöglichen.Die Relativität einer Beobachtung, das heißt ihre Abhängigkeit von ih-ren Ausgangsunterscheidungen hat unseres Erachtens insbesondereSteve de Shazer (1988; 1991) mit seinem ressourcenorientierten Ansatzvon (konstruktivistischer) Kurzzeittherapie kenntlich gemacht. Indemde Shazer mittels Ausnahme-Fragen die KlientInnen zum Unterschei-den und Bezeichnen von Zeiten oder Situationen herausfordert, in de-nen das als problematisch bewertete Verhalten nicht gezeigt wurde,hilft er ihnen beim Konstruieren von möglichen Problemlösungen, diedie klienteneigenen Ressourcen zugleich nutzen und stärken.Durch das Fokussieren von Ausnahmen wird deutlich, dass beobacht-bare Verhaltensweisen relativ zu den Rahmen sind, welche die (Selbst-und Fremd-) Beobachtung strukturieren. Während mit einem (in derBeratung zu dekonstruierenden) Rahmen hauptsächlich Probleme un-terschieden und bezeichnet werden können, weil die Ausgangsunter-scheidungen, die seiner Struktur zugrunde liegen, die Beobachtung voneigenen Ressourcen fast unmöglich machen, verhilft ein (neu konstru-

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ierter) anderer Rahmen dazu, die aus dem Blickfeld ausgegrenzten ei-genen Verhaltensmöglichkeiten zu beobachten, die Schlüssel für dieProblemlösung sein können. So ist das plötzliche Feststellen von Pro-blem-Ausnahmen gleichbedeutend mit einer Umdeutung, da nun mög-licherweise dasselbe Problem völlig anders, das heißt in einem neuenRahmen gesehen werden kann – beispielsweise schon dadurch, dassproblemlösendes Verhalten in Ausnahme-Zeiten oder -Situationenselbst bereits praktiziert wurde. Auch de Shazer bezeichnet sein Kon-zept, mit dem er versucht, Zweifel bei den KlientInnen hinsichtlich ih-rer globalen Rahmen zu wecken, ausdrücklich als Dekonstruktion.Bevor wir am Ende dieses Beitrages auf den dekonstruktionistischenAspekt des Reframing zurückkommen, wollen wir im Folgenden aus-führen, wie das Umdeuten praktiziert werden kann.

III. REFRAMING IN AKTION

Reframing wird als explizite Methode besonders von Neurolinguisti-schen ProgrammiererInnen benutzt, um durch das Wechseln von Rah-men andere (nicht symptomatische) Verhaltensweisen herauszufordern.Diesbezüglich wurde das sogenannte Sechs-Schritte-Reframing entwi-ckelt.37 In der beraterischen und supervisorischen Praxis erscheint unsinsbesondere ein Umdeuten passend, das die oben beschriebene Kontin-genz-, Komplexitäts- und Relativitätserfahrung mit recht subtil wirken-den Neubeschreibungen von Problemen ermöglicht. Die Umdeutungvon Adjektiven, um festgeschriebene Charakterbeschreibungen zu ver-flüssigen, haben wir bereits als Beispiel für praktiziertes Reframing an-geführt. Hier wollen wir nun zwei weitere Reframing-Arten vorstellen

37 Im Sechs-Schritt-Reframing geht es darum, als problematisch empfundene Verhaltensweisen durch weniger problematisch bewertete zu ersetzen. Dazu wurde im NLP ein Verfahren entwickelt, das dabei helfen soll, die intendierte („positive“) Absicht und das bisher damit verbundene („negative“) Verhalten zu trennen. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass die Absicht, die den als pro-blematisch empfundenen Verhaltensweisen zugrunde liegt, sinnvoll und nütz-lich ist, so dass es gilt, alternative Handlungen, welche dieselbe Absicht bezie-hungsweise denselben Zweck erfüllen, zu konstruieren und in Zukunft auszu-führen (vgl. dazu ausführlich: Bandler /Grinder 1979; 1982; Dilts /Bandler /Grinder u.a. 1980; O’Connor/Seymour 1990).

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(vgl. Krapohl 1992, S. 156f.) – bei der ersten, Inhalts- oder Bedeutungs-reframing, bleibt der situative Kontext, auf den sich eine Aussage be-zieht, erhalten, während ihr Inhalt mittels anderer Unterscheidungen be-zeichnet wird; bei der zweiten, Kontextreframing,38 wird das beschrie-bene Verhalten in einen anderen zeitlichen, sozialen und örtlichenKontext gestellt.Um erfolgreich umdeuten zu können, ist es wichtig, sich auf die psychi-schen Werteskalen der KlientInnen zu beziehen. Denn im Vorfeld jederUmdeutung geht es darum, eine Idee darüber zu entwickeln, in wel-chem Rahmen ein Ereignis für die betreffende Person annehmbar seinkönnte. Die Umdeutung, speziell eine Kontextumdeutung soll also dersozialen Wirklichkeit und dem psychischen Wertesystem der KlientIn-nen entsprechen; bei einer Bedeutungsumdeutung sollte das Reframingin etwa zu der sozialen Lebenssituation des Klienten beziehungsweiseder Klientin passen. Die richtige Umdeutung kann es nicht geben, da diepsychischen und sozialen Wirklichkeiten jeweils nicht direkt von außenbeobachtet, sondern lediglich erschlossen werden können. Es lassensich demzufolge nur solche Umdeutungen denken, die mehr oder weni-ger auf eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation bezie-hungsweise in einem spezifischen sachlichen, sozialen und zeitlichenKontext passen und davon abhängig mehr oder weniger überzeugendvorgetragen werden können.Hierzu zwei Beispiele aus der Supervision:39

1. Beispiel: Eine Teamsupervision mit SozialarbeiterInnen aus dem Ju-gendamt findet montags statt. Eine Teilnehmerin fliegt am Freitag fürsieben Wochen mit ihrem 11-jährigen Sohn nach Australien, einer langersehnten Reise. In der Sitzung vor dem Abflug klagt die Teilnehmerinüber starke Arbeitsüberlastung. Ihre Stimme wirkt weinerlich, als sievon vielen offenen Anfragen berichtet, von zu erledigenden Hausbesu-

38 Die Benutzung des Begriffs ‚Kontextreframing’ können wir nur mit Vorbe-halt empfehlen, denn, wie wir versucht haben zu zeigen, ändern sich bei allen Umdeutungen die Kontexte – um es noch einmal zu betonen: jede Umdeutung ist nichts anderes als ein sprunghafter Ausbruch aus den tradierten Gewohnhei-ten des Unterscheidens und Bezeichnens, der immer mit einem Kontextwechsel im Hinblick auf Bewusstsein oder Kommunikation einhergeht.39 Die folgenden beiden Beispiele stammen aus der Supervisionspraxis von Britta Haye.

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chen, von vielen Telefonaten und noch zu schreibenden Berichten. Allesmüsse sie bis Freitag schaffen und daneben noch viele Reisevorberei-tungen treffen. Sie sei fertig, könne nicht mehr und wisse nicht, was siezuerst tun solle. Meine Reaktion: „Wenn sie nachher nach Hause kommen und auf ihrFlugticket schauen und dann entdecken, dass der Flug nicht Freitag, son-dern schon morgen abgeht, würden Sie dann fliegen?“

2. Beispiel: Eine Supervisandin raucht nach 40 Jahren starken Tabak-konsums seit einem Jahr aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Ineiner Sitzung beklagt sie sich, wie stark ihr das Rauchen fehle, wie sehrsie doch ihre Zigarette geliebt habe, wie allein sie sich jetzt fühle undum wie viel schöner der Alltag mit Zigarette war, wie schwer ihr das Ar-beiten und die Konzentration ohne Zigarette falle. Meine Antwort: „Ja,da sind sie eine richtige Zigarettenwitwe.“

Derartige Umdeutungen können in sehr flexibler Weise in die berateri-sche und supervisorische Kommunikation eingebracht werden, um so-wohl im Kommunikationssystem als auch in den beteiligten psychi-schen Systemen Unterschiede zu initiieren, die Unterschiede machen.Welche Unterschiede allerdings (kommunikativ und psychisch) sele-giert werden, kann vorher nicht bestimmt werden. Über die Brauchbar-keit der Umdeutung zur Konstruktion passender, das heißt problemlö-sender Anschlussunterscheidungen kann also ausschließlich diejenigeentscheiden, deren Verhalten umgedeutet wurde: die KlientInnen. Indieser Hinsicht lassen sich Umdeutungen wie alle anderen Interventio-nen bezüglich strukturdeterminierter, autopoietischer Systeme (vgl.Maturana/Varela 1984) als Irritationen (Perturbationen oder Störun-gen) verstehen, die in der Beratung und Supervision nach Plan ausge-führt werden können, ohne im Hinblick auf ihre Wirkungsweise planbarzu sein (vgl. dazu auch Bardmann u.a. 1991).Daher können BeraterInnen und SupervisorInnen immer nur hoffen,dass die SupervisandInnen mit den mitgeteilten Umdeutungen viel-leicht etwas anfangen können.40 Dafür kann die Wahrscheinlichkeit al-lerdings erhöht werden, wenn Umdeutungen auf die beschriebenen Pro-bleme passen. Passend sind Umdeutungen als alternative Beschreibun-gen immer dann, wenn sie dazu beitragen, die Genese eines Phänomenszu erklären (vgl. Maturana/Varela 1984, S. 34f.), anders gesagt, wennsie wie ein Schlüssel ein Schloss aufzuschließen vermögen. Erst in der

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Praxis wird sich dann herausstellen, wie passend das alternative Han-deln ist, das mit der Umdeutung einhergeht, das heißt ob es brauchbarerist, um die Ziele der HelferInnen und KlientInnen zu erreichen, als dasproblematisch bewertete Handeln.Darüber hinaus erscheint uns die systemische Beratung oder Supervisionals ein Ort, an dem immer wieder erneut gelernt werden kann, wie Kli-entensysteme systemtheoretisch betrachtet werden können. Auch dassetzt unseres Erachtens Umdeutungen voraus. Denn wir sind zu sehr inunseren alteuropäischen Sichtweisen verstrickt, als dass wir von heuteauf morgen ein Denken praktizieren könnten, das etwa Linearität durchZirkularität ersetzt oder Menschen nicht als Teile von sozialen Systemenbetrachtet. Gerade der letzte Aspekt schafft einen Kontext, der völlig an-dersartige Anschlussunterscheidungen erlaubt als jene Sichtweisen, diesoziale Probleme personenzentriert erklären. Diesbezüglich wollen wirnoch etwas bei diesem uns wesentlich erscheinenden Punkt verweilen,welcher aus der Umdeutung beziehungsweise Umschrift (vgl. Fuchs1995) folgt, dass die Probleme von KlientInnen nicht (mehr) hauptsäch-

40 Heinz Kersting (1992, S. 142f.; 1996, S. 19f.) erzählt hierzu gern die fol-gende alte chinesische Geschichte Vielleicht sagte der Bauer, die deutlich macht, wie man sich (nicht nur) als BeraterIn und SupervisorIn vor mancherlei Enttäuschungen schützen kann und seinem Möglichkeitssinn treu bleibt: In einem schrecklich armen Dorf in China lebte, als der himmlische Kaiser noch reagierte, ein Bauer. Die Leute im Dorf hielten ihn für reich, denn er besaß ein Pferd. Mit diesem Pferd pflügte er sein Feld und transportierte schwere Lasten. Eines Tages jedoch lief sein Pferd auf und davon. Alle Nachbarn des Bauern kamen zusammen, gestikulierten, jammerten und klagten: „Wie groß ist Dein Verlust!“ Doch der Bauer meinte nur: „Vielleicht“. Wenige Tage darauf kam das Pferd zurück, in seinem Gefolge trabten zwei Wildpferde. Wieder liefen alle Nachbarn zusammen, sie freuten sich und priesen den Bauern glücklich, aber der Bauer sagte nur: „Vielleicht“. Am Tag darauf versuchte des Bauern Sohn eines der Wildpferde zuzureiten. Doch das Pferd warf ihn im hohen Bogen ab und er brach sich ein Bein. Wieder liefen alle Nachbarn zusammen, jammerten, wehklagten und bedauerten sein Missgeschick, aber der Bauer sagte nur: „Viel-leicht“. Eine Woche später kamen die Offiziere des himmlischen Kaisers ins Dorf, um die jungen Männer für den Krieg gegen die Feinde im Norden auszu-heben. Des Bauern Sohn nahmen sie nicht mit, weil sein Bein gebrochen war. Alle Nachbarn sagten dem Bauern, welches Glück er gehabt habe, doch er ant-wortete nur: „Vielleicht“ ...

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lich mittels dem Rekurrieren auf ihre Psyche, sondern auf soziale Kom-munikation erklärt werden.Zunächst ermöglicht eine derartige Umdeutung, in radikalerer Weisefortzuführen, was die Mütter und Väter der systemischen Beratung(zum Beispiel Gregory Bateson, Mara Selvini-Palazzoli, Paul Watzla-wick, Lynn Hoffman u.v.a.) begonnen haben, nämlich zu zeigen, dasssymptomatisches Verhalten innerhalb von Familien oder größeren sozi-alen Systemen mit den kommunikativen Regeln innerhalb dieser Syste-me mehr zu tun hat als mit den psychischen Zuständen der beteiligtenPersonen. In den Worten von Watzlawick (1988, S. 18): „Das Wesen ei-ner Beziehung erweist sich als komplexes Phänomen sui generis, dasseine eigene Gesetzmäßigkeit und seine eigenen Pathologien hat unddessen Eigenschaften sich weder auf den einen noch den anderen Part-ner zurückführen lassen.“Bei der Problemlösung sollte es also darum gehen, die kommunikativenRegeln oder Gesetzmäßigkeiten zu stören, welche jene Zustände inner-halb sozialer Systeme aufrechterhalten, die als „Pathologien“ bewertetwerden und unter denen die beteiligten Personen leiden (vgl. dazu auchWillke 1994). Bei dem Fokus auf Kommunikation werden außerdemFragen nach persönlicher Schuldzurechnung unbedeutend, die ansons-ten immer wieder problemverstärkendes Thema werden könnten. Dennes erscheint bei interaktionellen (zwischenmenschlichen) Problemenzunächst am einfachsten, kausal zu attribuieren (zuzurechnen) und da-mit Personen direkt oder indirekt anzuklagen. „Obwohl alles Unheil inder sich selbst reproduzierenden, Abweichungen verstärkenden, Kon-flikte durch Interpretation fixierenden Kommunikation liegt, wird da-von ausgegangen, daß die Schuld in den Personen (in der jeweils ande-ren) liegt“, wie Luhmann (1992, S. 130) formuliert.Indem der systemtheoretische Kontext von Unterscheidungen die Ge-nese von individuell attribuierten Symptomatiken nicht den psychi-schen Systemen von Personen zurechnet, sondern dem durch die zwi-schenmenschliche Interaktion entstehenden sozialen Kommunikations-systemen, externalisiert es Probleme. Gleichzeitig können durch dievollständige (operationale) Trennung von Psyche und Kommunikationdie Ressourcen zur Problemlösung internalisiert werden. Da Menschenals Umwelt von Kommunikation komplexer sind als jene sozialen Sys-teme, die sie durch ihre Interaktionen hervorbringen, und sich außerdemjeder sozialen Determination sträuben, können sie immer auch anders

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denken oder handeln als es die sozialen Beobachtungen (Kommunika-tionen) von ihnen erwarten. Diesbezüglich lassen sich in ihnen die Res-sourcen finden, die dazu beitragen können, die Probleme zu lösen, diedas Kommunikationssystem schafft. Mittels anderer Verhaltensweisenkann die Kommunikation dermaßen irritiert werden, dass womöglichanders attribuiert wird und damit weniger leidvolle Differenzierungenvon Mitteilungen, Informationen und Verständnissen initiiert werden.Die Dekonstruktion des Individuums, das heißt seine kommunikativeExternalisierung durch die Systemtheorie, stattet es (zumindest theore-tisch) mit einer Freiheit aus, die es in die Lage versetzt, die Lösung sei-ner Probleme selbst anzugehen, was nichts anderes heißt, als die Ideenund Verhaltensweisen, welche letztlich über die Problemlösung ent-scheiden, (individuell, menschlich oder subjektiv) zu internalisieren.

IV. EPILOG: REFRAMING ALS (DE-)KONSTRUKTION VON KONTEXTEN

Wir hoffen, dass mit dem Lesen dieses Beitrags deutlich geworden ist,dass das Umdeuten nicht eigentlich eine besondere Methode ist, son-dern das brauchbare „Basiskonstrukt schlechthin für jede psychosozialeVeränderung“ (Kersting 1992, S. 116; vgl. Simon/Stierlin 1984, S.370), aber auch für Witze, Märchen und Fabeln (vgl. zum BeispielBandler /Grinder 1982, S. 14f.) oder für andere Erzählungen, sprich:„Texte“, die wir selber täglich in unserem Sprechen oder Schreiben an-fertigen.Nichts, aber auch gar nichts, kann sicher vor Umdeutungen sein, schongar nicht das, was schon passiert ist: die Vergangenheit. Je nachdem wiedie Komplexität der Erfahrungen im Moment reduziert wird, könnenandere Unterscheidungen den Kontext für das Ordnen des Vergangenenbilden, kann eine andere Geschichte, können andere Geschichten er-zählt werden. Diesbezüglich erscheint die Vergangenheit, wie MilanKundera (1973, S. 120) metaphorisch schreibt, wie ein Kleid, das „ausschillerndem Taft geschneidert [ist], und jedesmal, wenn wir uns nachihr [der Vergangenheit; d.A.] umdrehen, sehen wir sie in einer anderenFarbe“. Reframing weist also darauf hin, dass Zeit die Aktualisierungdes Inaktuellen ist; denn Vergangenheit und Zukunft sind immer nur inder Gegenwart beobachtbar. Wie das Inaktuelle (zum Beispiel die Ver-gangenheit) aktualisiert wird, ist wie alles andere, was beobachtet wird,

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davon abhängig, welche Unterscheidungen jetzt und hier getroffen wer-den.Der Hauptaspekt des Umdeutens in der systemischen Beratung und Su-pervision, die Dekonstruktion von Kontexten, um dadurch andere Kon-texte zu konstruieren, die das Anschließen passenderer Beobachtungen(Unterscheidungen und Bezeichnungen) ermöglichen sollen, bedeutetfür systemische PraktikerInnen: Schulung des Möglichkeitssinnes, umsensibel dafür zu sein, dass alles Gedachte oder Kommunizierte auchanders beobachtet, beschrieben, erklärt oder bewertet werden kann.Diesbezüglich gilt für Reframing dasselbe Postulat wie für Dekonstruk-tionen nach Derrida: Sie setzen „immer eine große Aufmerksamkeit fürden Kontext voraus [...], für alle Kontexte, für die geschichtlichen, wis-senschaftlichen, soziologischen, usw. Entsprechend den Kontextenkann man dann die Regeln der Dekonstruktion gewinnen, relative Re-geln, die eine relative Allgemeinheit haben, die man aber bis zu einemgewissen Punkt benutzen, übersetzen und lehren kann. Es gibt aller-dings einen Punkt, an dem die Abhängigkeit vom Kontext - vielleichtein autobiographischer Kontext oder ein politischer oder ein historisch-wissenschaftlicher Kontext ist –, wo die Abhängigkeit vom Kontext be-wirkt, daß es keine universelle Methodologie der Dekonstruktion gibt.[...] jeder Text, das heißt Kontext [...] erfordert eine idiomatische, de-konstruktive Geste, so idiomatisch wie möglich“ (zit. nach Engelmann1990, S. 24ff.).Wir sind also schließlich dort angelangt, wo das Besondere, das nichtÜbertragbare beginnt, wo die eigentlichen Umdeutungen zu wirken be-ginnen, wenn sie etwa von der Kommunikation dieses Textes (oder ei-ner Supervision) in die persönliche Sprech- und Ausdrucksweise – undidiomatisch heißt nichts anderes als das – der LeserInnen (oder der Kli-entInnen) übergehen. So soll Reframing, indem es die Vielfalt der mög-lichen Kontexte offenbart, dem entgegenwirken, was totalisierende,Absolutheiten und Fundamentalismen fördernde Kommunikationenhervorrufen können: die Unterdrückung des (auch) Andersmöglichen.Reframing ist demgegenüber die Inszenierung von Alternativität undentspricht damit dem ethischen Imperativ Heinz von Foersters, stets sozu handeln, dass die Anzahl der wählbaren Möglichkeiten wächst.

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Nachweise

Für die Kapitel dieses Buch habe ich Aufsätze zusammengestellt undzum Teil überarbeitet, die an unterschiedlichen Orten bereits veröffent-licht wurden:Haben Sie diese Nachweise im Text platziert, wo? 1.-10.

1. In früherer Version erschienen in: Neue Praxis, 3 /1996: S. 245-252.

2. In früherer Version erschienen in: Soziale Arbeit, 7 /1997: S. 218-226.

3. Zuerst erschienen in: Neue Praxis, 1 /2001: S. 29-40.

4. Zuerst erschienen in: Das gepfefferte Ferkel. Online-Zeitschrift fürsystemisches Denken und Handeln, http://www.ibs-networld.de/ferkel,2003.

5. Zuerst erschienen in: Das gepfefferte Ferkel. Online-Zeitschrift fürsystemisches Denken und Handeln, http://www.ibs-networld.de/ferkel,2002.

6. Dieses Kapitel ist entstanden aus den Texten: Sozialarbeit als post-moderne Profession, in: Soziale Arbeit, 1/2001: S. 21-26 und Sozialar-beit als Beruf ohne (eindeutige) Identität, in: Forum sozial, 3 /2001: S.15-17.

7. In früherer Version erschienen in: Soziale Arbeit, 6 /2003: S. 220-227.

8. Erweiterte und aktualisierte Fassung des Textes Die sechs Schrittehelfender Kommunikation. Eine Handreichung für die Praxis und Aus-bildung Sozialer Arbeit, in: Sozialmagazin, 12/2002: S. 41-52.

9. In früherer Version erschienen in: Pfeifer-Schaupp, Ulrich (Hrsg.):Systemische Praxis. Modelle – Konzepte – Perspektiven. Freiburg/Br.:Lambertus: S. 156-176.

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NACHWEISE

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10. Veränderte Fassung des Textes Reframing in der systemischen Su-pervision, in: Kersting, Heinz J. (Hrsg.): Supervision in der Postmoder-ne. Systemische Ideen und Interventionen in der Supervision und Orga-nisationsberatung. Aachen: Kersting: S. 79-108.

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Der Autor

Heiko Kleve (geb. 1969), Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter /Sozi-alpädagoge und Sozialwissenschaftler sowie systemischer Berater undKonflikt-Mediator; lehrt als Professor für Theorie und Geschichte Sozi-aler Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Praxiserfahrun-gen insbesondere in den Bereichen der Hilfen zur Erziehung, der ambu-lanten Sozialpsychiatrie und der Erwachsenenbildung; zahlreiche Ver-öffentlichungen, u.a.: Konstruktivismus und Soziale Arbeit, Aachen1996; Postmoderne Sozialarbeit, Aachen 1999; Die Sozialarbeit ohneEigenschaften, Freiburg 2000; Systemisches Case Management, Aa-chen 2003. Kontakt: [email protected]; http://www.asfh-berlin.de/hsl /kleve.