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Hannes Siegrist (Hg.) Bürgerliche Berufe Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 80

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Hannes Siegrist (Hg.)

Bürgerliche BerufeZur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe im internationalen Vergleich

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Band 80

Bürgerliche Berufe Zur Sozialgeschichte der freien und akademischen Berufe

im internationalen Vergleich

Acht Beiträge Mit einem Vorwort von Jürgen Kocka

Herausgegeben von Hannes Siegrist

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

ISBN E-Book: 978-3-647-35742-3© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

C1P- Titelaufnahme de r Deutschen Bibliothe k

Bürgerliche Berufe : zur Sozialgeschichte d. freien u. akad. Berufe im internal.

Vergleich; 8 Beitr. / Mit e. Vorw. von jürgen Kocka. Hrsg. von Hannes Siegrist. - Göttingen :

Vandenhoeck u. Ruprecht, 1988 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd . 80)

ISBN 3-525-35742-7

NE: Siegrist , Hanne s [Hrsg.]; GT

Gedruckt mit Unterstützung der Universität Bielefel d

© 1988 Vandenhoec k & Ruprecht, Göttingen - Printe d in Germany. -Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich

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Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.

ISBN E-Book: 978-3-647-35742-3© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt

Vorwort (JÜRGEN KOCKA) 7

Einleitung

HANNES SIEGRIST Bürgerliche Berufe. Die Professionen und das Bürgertum 1 1

Internationale Vergleich e

MICHAEL BURRAG E

Unternehmer, Beamt e un d frei e Berufe. Schlüsselgruppe n de r bür -gerlichen Mittelschichten in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten 5 1

MANFRED SPÄTH

Der Ingenieur al s Bürger. Frankreich , Deutschlan d und Rußland im Vergleich 8 4

PETER LUNDGREEN

Wissen und Bürgertum. Skizze eines historischen Vergleichs zwischen Preußen/Deutschland, Frankreich , Englan d un d den USA , 18.—20 . Jahrhundert 10 6

Länder- und Spezialstudien

CHRISTOPHE CHARLE

Professionen un d Intellektuelle . Di e liberale n Beruf e i n Frankreic h zwischen Politik und Wirtschaft (1830-1900) 12 7

HUBERT ROTTLEUTHNE R

Die gebrochene Bürgerlichkei t einer Scheinprofession. Zu r Situation der deutschen Richterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts 14 5

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OLIVER JANZ

Zwischen Amt und Profession. Di e evangelische Pfarrerschaft i m 19. Jahrhundert 17 4

CLAUDIA HUERKAMP

Frauen, Universitäte n un d Bildungsbürgertum. Zu r Lage studieren-der Frauen 1900-1930 20 0

Autorin und Autoren 22 3

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Vorwort

Vom Oktober 1986 bis zum August 1987 bestand im Zentrum für Interdiszi-plinäre Forschun g (ZiF ) de r Universitä t Bielefel d ein e Forschungsgrupp e zum Thema »Bürgertum, Bürgerlichkei t und bürgerliche Gesellschaft. Da s 19. Jahrhundert i m europäischen Vergleich« . Etw a 40 Wissenschaftler un d Wissenschaftlerinnen au s verschiedenen Diszipline n un d Ländern nahme n daran teil Z u den Zielen gehörte es, (a) das Bürgertum als gesellschaftliche Großgruppe (›Formation‹ ) de s 19 . Jahrhunderts nähe r zu untersuchen, (b ) nach der Bedeutung, de m Realisierungsgrad und den Grenzen der Bürger -lichkeit verschiedene r sozialer , kultureller , ökonomische r un d politische r Bereiche (Literatur, Unternehmerverhalten , Liberalismus , Behandlung von Minderheiten etc.) zu fragen sowie (c) die deutsche Entwicklung im interna-tionalen Vergleich zu erforschen, u m herauszufinden, o b es in bezug auf das Bürgertum und die Bürgerlichkeit de s 19. Jahrhunderts so etwas wie einen deutschen ›Sonderweg ‹ gab , inwiefern , waru m un d inwiewei t nicht . Di e Ergebnisse diese r Forschungsgrupp e werde n gesonder t veröffentlich t (J. Kocka [Hg.] , Bürgertu m i m 19 . Jahrhundert. Deutschlan d i m europäi -schen Vergleich, München 1988) .

Im Rahme n de s Projekte s fande n mehrer e Konferenze n statt , a n denen auch Wissenschaftler teilnahmen , die nicht zur Forschungsgruppe gehörten. Nach einer Vorbereitungskonferenz, dere n Ergebnisse bereits veröffentlich t wurden (J . Kocka, Hg. , Bürge r un d Bürgerlichkei t i m 19.Jahrhundert , Göttingen 1987 ) un d eine r Auftaktveranstaltun g Anfan g Oktobe r 198 6 wurden Konferenzen zu folgenden Themen abgehalten: Bürgerliche Gesell-schaft, Bürgertu m und Geschlechterverhältnis im 19 . Jahrhundert (Leitung : Ute Frevert); Bürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert: Deutschland im Vergleich (Leitung: Dieter Langewiesche); Bürgertum in Ostmitteleuro-pa im 19 . und 20. Jahrhundert (Leitung : Waclaw Dlugoborski); Professiona-lisierung und Bürgertum (Leitung : Hannes Siegrist). Die Ergebnisse dieser Konferenzen solle n in vier Bänden der ›Kritischen Studien zur Geschichts-wissenschaft‹ veröffentlicht werden .

Im folgende n finden sich die überarbeiteten Beiträge zur Konferenz über »Professionalisierung un d Bürgertum« (14 . —16. 5. 1987) , di e von Hannes Siegrist, eine m Mitglie d de r Forschungsgruppe , vorbereite t un d geleite t wurde. Die Beiträge beschäftigten sic h zum einen mit der Geschichte einzel-ner „bürgerlicher' ' Berufe , ihre r Akademisierung , de n dahinter liegende n Ursachen, Interesse n und Kräften. De m tertiären Bildungswese n wir d be-

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sondere Aufmerksamkeit gewidmet . Themen der historischen Professiona -lisierungsforschung stehe n dami t i m Mittelpunkt . I n Anknüpfung a n den anglo-amerikanischen Sprachgebrauc h mein t de r Begrif f »Profession « i m folgenden einen besonderen Typus von Berufen, nämlich solche, die spezia-lisierte, gehobene , theoriehaltige , tendenziel l wissenschaftliche , durc h Ex -amen nachgewiesene Ausbildung voraussetzen. Auf dieser Grundlage bean-spruchen un d erlange n di e Angehörige n solche r Beruf e besonder e gesell -schaftliche Achtung , Autonomi e und oftmals Angebotsmonopole (genaue r unten S. 14). Ärzte, Juristen, Pfarrer , Diplom-Ingenieure und andere Exper-ten - o b freiberuflich , angestell t ode r beamte t - komme n de m Typus a m nächsten. I n der Regel gehört akademische Ausbildung dazu , doch gilt dies historisch nich t fü r jeden Fall , und deshalb kann man »Professionen « nich t einfach durch »akademische Berufe« ersetzen. Die Prozesse, in denen Berufe - oftmal s unvollkommen - z u »Professionen« wurden , is t unter dem Stich-wort »Professionalisierung« Gegenstan d dieses Bandes.

Zum anderen wird die Geschichte der einzelnen akademischen Berufe, de r Professionalisierung, de r Professionalisierungsstrategie n un d ihre r Konse -quenzen im breiten Rahmen der Bürgertumsforschung behandelt . Manche r Aspekt de r Professionalisierungsgeschicht e erschein t dami t i n andere m Licht. Umgekehr t kan n da s Bürgertum de s 19 . Jahrhunderts nich t hinrei -chend ohne genaueres Studium jener Berufe erfaßt werden, die das bürgerli-che Leben ermöglichten, prägte n und teilweise ausfüllten. Nebe n den Un -ternehmern ware n e s die Akademiker verschiedene r Art , di e den Kern des Bürgertums darstellten und oftmals als »Bildungsbürger« zusammengefaß t werden. Um ihre Geschichte geht es in diesem Band, dessen Besonderheit in der Verknüpfung vo n Professionalisierungs- und Bürgertumsforschung z u sehen ist.

Wie die Forschungsgruppe insgesam t wurd e auch dies e Konferenz vo m Bielefelder Zentru m fü r Interdisziplinär e Forschun g (ZiF ) ermöglich t un d beherbergt. Dafü r gebührt ihm Dank.

Jürgen Kocka

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Einleitung

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HANNES SIEGRIS T

Bürgerliche Berufe Die Professionen und das Bürgertum*

1. Einleitun g

Die in diesem Band behandelten Ärzte, Advokaten, Richter, Ingenieure und evangelischen Pfarre r des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelten in mehrfa-cher Beziehung al s bürgerlich. Erstens durch ihre Zugehörigkeit zur gesell-schaftlichen Formatio n »Bürgertum« , di e sic h zwische n de r Aristokrati e einerseits, de m ›Volk ‹ un d de r Arbeiterschaf t andererseit s entwickelte . Zweitens wegen de r Orientierung a n bürgerlichen Werten , dritten s wegen ihrer Rolle un d Funktio n i n de r bürgerlichen Gesellschaft . Di e Forschung über Bürgertum un d bürgerliche Gesellschaf t suggeriert , da ß der Aufstie g der moderne n akademische n un d freie n Beruf e en g mi t dem Aufstieg de s modernen Bürgertum s un d de r bürgerlichen Gesellschaf t verknüpf t war. 1

Geht man von einem historisch-systematischen Begriff von Bürgertum und Bürgerlichkeit2 aus , de r das Bürgertum nich t auf die Besitzer von Kapita l und materiellen Produktionsmitteln - di e Bourgeoisie - reduziert , erscheint es als gerechtfertigt, zu r Bezeichnung de r hier zu behandelnden Berufe den schillernden zeitgenössische n Begrif f bürgerliche Berufe ‹ aufzugreifen . E r verweist auf bestimmte Ähnlichkeiten der »akademischen Berufe«, »freien « oder »liberalen « Beruf e un d Professione n untereinander , schließ t abe r gleichzeitig nich t aus, daß zwischen den Trägern von wissensmäßigem und kulturellem Kapita l einerseits , de n Inhaber n vo n ökonomische m Kapita l und de n Angehörige n de r politische n Trägerschichte n de r bürgerliche n Gesellschaften andererseit s strukturelle , ideell e un d handlungsmäßige Ge -meinsamkeiten bestanden. 3

Die vorliegenden Beiträg e stelle n in historischer Perspektiv e die Thesen der klassischen Professionssoziologi e i n Frage , inde m si e den Zusammen-hang von Professionalisierung un d Bürgerlichkeit zu begreifen suchen. Die klassische Professionssoziologie betont den Gegensatz zwischen dem profit-orientierten, egoistische n kapitalistische n Unternehme r un d dem uneigen-nützigen, de r Wissenschaft un d dem Allgemeinwohl verpflichteten Profes -sional.4 Si e sieh t di e modern e Gesellschaf t nich t al s bloß e Klassengesell -schaft, i n der Eigennutz und Interessen regieren. Di e Professionen werde n

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als klassenindifferenter soziale r Typus betrachtet , de r eine Alternative zum Unternehmer un d zu m Bürokrate n darstellt . I n modernisierungstheoreti -scher Perspektiv e resultier t di e sozial e Höherstellun g un d Autonomi e de s Professional au s dessen zentraler Funktion fü r Gesellschaft , Fortschrit t und Allgemeinwohl.

Angesichts de r Entwicklun g de r Wissenschaf t un d de r Professione n i n einer sic h modernisierende n bürgerliche n Gesellschaf t wir d ma n diese n Ansatz nicht einfach verwerfen können. Er versperrt als strukturell-funktio-nales Konstruk t allerding s vielfac h de n Zugan g zu m Verständni s de r Ge-schichte der Professionen, di e er als gleichsam einlinige Tendenz zur Profes -sionalisierung sieht.5 Er reduziert die Komplexität historischer Vorgänge, in denen gebildet e Beruf e nac h eine m höhere n Statu s strebten , inde m e r die tatsächliche sozial e Einbindun g de r Professione n ignorier t un d von einem dichotomischen Gegensat z zwischen de m Professional un d dem Bourgeoi s ausgeht. Ein e revisionistisch e Richtun g i n de r Professionsforschun g häl t deshalb dagegen, daß Professionalisierungsvorgänge mi t erheblichen gesell-schaftlichen Konflikten verbunden seien,6 und sie hebt die Nähe von profes -sionalistischen un d kapitalistisch-erwerbsorientierten Ideologie n un d Stra -tegien hervor. Da s Professional Project (Sarfatti Larson ) sei eine Strategie der Abschließung de r Qualifikationsgrupp e un d de r Monopolisierun g vo n Dienstleistungen und Märkten mit dem Ziel der sozialen und ökonomischen Höherstellung im System der Klassen und Schichten. Die über weite Strek-ken überzeugenden Ergebniss e dieses Ansatzes haben indessen Mängel , di e aus der unscharfen Strukturierun g de r bürgerlichen Klasse ‹ herrühren. 7

Hier sol l versuch t werden , di e beiden vorgestellte n Ansätz e de r Profes -sionssoziologie fü r di e historische Forschun g fruchtba r z u machen, inde m sie mi t historisch-systematischen Konzepte n vo n Bürgerlichkei t un d Bür -gertum8 verknüpf t werden . E s ist historisc h abzuklären , wi e wei t Eigen -schaften und Strategien der akademischen und freien Berufe typisch ›profes -sionalistisch‹ waren , womi t sic h ein e Differen z z u andere n Berufe n un d sozialen Formationen ergäbe ; un d in welchem Verhältni s ›professionalisti -sche‹ Merkmale und Strategien zu ›bürgerlichen‹ standen . Die Arbeitshypo-these lautet, daß es je nach gesellschaftlichem und politischen Umfeld für die gebildeten Berufe zwei Möglichkeiten gab , eine höhere soziale und berufli -che Stellung zu erreichen.9 Die eine beruhte auf der starken sozialen, politi -schen und wirtschaftlichen Einbindun g de r ›Professionen‹ 10 i n die Forma -tion Bürgertu m i m Rahme n eine r relati v gu t entwickelte n bürgerliche n Gesellschaft. Di e Stellung von Ärzten, Advokaten, Ingenieuren usw. beruh-te somit auf ›bürgerlichem Strategien. Es handelt sich um Gruppen, die bürger-lich waren oder werden wollten. Die andere beruhte in erster Linie auf einer engen berufsbezogene n Strategi e der Professionalisierung , mi t de r eine Höher -stellung de s Experte n gegenübe r de m Laie n un d ein e gewisse Autonomi e der Berufsgruppe angestreb t wurde . I n der Geschichte überschneiden sic h diese beiden Typen in vielfältiger Weise .

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α) Berufe und Professionen

Es is t umstritten , o b de r Unterschie d zwische n eine r ›Tätigkeit‹ , eine m ›Beruf‹ un d eine r ›Profession ‹ vo n prinzipielle r ode r graduelle r Ar t ist. 11

Die Entscheidung darübe r hängt vo n den Kriterien und den Erkenntnisin -teressen ab . Di e folgend e Definitio n vo n Beru f jedenfalls triff t zweifello s auch fü r di e Professione n zu : Beru f meint ein e Kombinatio n spezifische r Fähigkeiten un d Fertigkeiten , di e al s Leistungspotentia l di e Grundlage fü r eine kontinuierlich e Erwerbs - un d Versorgungschanc e de s Individuum s abgeben. E r bildet di e Basi s und Rechtfertigun g de r gesellschaftlichen Po -sition, un d is t eines jener vergleichsweis e stabile n Merkmale , di e das Indi-viduum mi t gesellschaftliche n Strukture n un d Prozesse n verbinden. 12

Bürgerlichen Beru f würd e als o heißen , da ß sic h dami t besonder e Er -werbschancen verknüpfen , un d da ß ei n derartige r Beru f ein e bürgerlich e Position begründet , rechtfertig t ode r erreiche n läßt . I m vorliegende n Band wird de n freien un d akademischen Berufe n nich t a priori ei n beson -derer Statu s al s Profession zugeschrieben , sonder n e s ist gerad e di e Frage, warum, wi e wei t und wi e si e dem Idealtypu s de r Profession nah e kamen . Ihre allfällige Besonderhei t is t also historisch z u beschreiben un d zu erklä-ren.

Als im 18 . und frühen 19 . Jahrhundert di e Zünfte, Gilde n und Korpora-tionen ih r Vorrech t i n de r Bestimmung de r Beruf e un d de r dami t zusam -menhängenden gesellschaftliche n Stellun g verloren , verblaßt e de r vorhe r relativ eindeutig e Zusammenhan g zwische n Beru f un d Tätigkei t einer -seits, rechtliche r un d gesellschaftliche r Stellun g andererseits . Da s stadt -bürgerliche Prinzip der Beruflichkei t stan d grundsätzlich zu r Debatte . Der politische, sozial e un d wirtschaftlich e Wandlungsproze ß erfaßt e nich t nu r die ›gelehrte n Berufe s sonder n auc h di e gewerbliche n un d kaufmänni -schen. Di e Frage , o b de n gelehrte n Berufe n aufgrun d ihre r besondere n Funktion un d Bildun g ein e Sonderstellun g zugestande n wurde , hin g so -mit von allgemeineren Entwicklunge n i m Syste m de r Arbeitsteilung ab. 13

In diese m Umbruchproze ß lasse n sic h dre i Haupttendenze n ausmachen : Erstens löste n sic h di e traditionelle n beruflich-ständische n Institutione n auf, ode r ihr e Roll e un d Bedeutun g verblaßt e zumindest . (Deutschlan d mit seine r verzögerten Auflösun g de r alten Handwerks- und Gewerbever -fassung wär e ein Beispie l fü r eine Gesellschaft , i n der sich da s Berufsprin -zip i m 19 . Jahrhundert trot z liberalisierende r Tendenze n i n de r Praxi s recht gu t erhielt. ) Zweitens verlore n älter e Berufsdefinitionen a n Verbind-lichkeit, ›Beruflichkeit ‹ un d Berufsbilde r wurde n deregulier t un d infor -meller. Dritten s la g di e Kompeten z übe r di e Festlegun g de r Tätigkeite n nun einerseit s be i den Praktikern , andererseit s stärke r bei m Staa t oder Ge-setzgeber. I m 19 . Jahrhundert schwankt e di e Entwicklun g zwische n de n Prinzipien de r dezentrale n Regelun g un d gesellschaftliche n Selbststeue -rung einerseits , un d de r zentralen , staatlich-gesetzliche n Steuerun g ande -

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rerseits. Dazwische n stande n di e Berufsgruppen mi t ihre n imme r wiede r erstarkenden Ansprüche n au f kollektive Bestimmun g übe r de n Beru f und die damit verbundenen Chancen.

Selbst i n jenen Gesellschaften , di e mi t de r Einführun g vo n Gewerbe- , Handels- und Niederlassungsfreiheit di e »Gewerbe« und Berufe weitgehend liberalisierten und entregelten, verblie b ein Rest von Funktionen und Beru-fen, die dem für das Allgemeinwohl zuständigen Staa t oder Gesetzgeber als ordnungsbedürftig erschienen . Z u diese r Kategori e gehörte n Beruf e ode r Funktionen, di e sich mi t zentrale n Werte n wi e Gesundheit , Rechtlichkeit , Sitte und Moral befaßten. I n manchen Fällen ordnete der Staat oder Gesetz-geber de n Zugan g z u solche n Berufen , Gewerbe n un d Tätigkeite n blo ß durch die Vergabe von Patenten und durch den Erlaß allgemeiner Vorschrif-ten. Fü r Wirte , Metzger , Mülle r un d Makle r überwacht e e r so in diffuse r Weise di e Berufsmoral , kontrolliert e de n Mark t un d verschafft e sic h ein e Steuer. Eine zweite Kategorie bildeten die Ärzte, Advokaten , Pfarrer , Leh -rer, Ingenieur e usw. , fü r die Ausbildung, Zulassun g und praktische Tätig -keit un d Erwerbssti l seh r vie l schärfe r festgeleg t un d überwach t wurden . Diese Berufe entließ man erst mit einiger Verzögerung in eine weitergehen-de Gewerbe- un d Berufsfreiheit , i n de n meiste n kontinentaleuropäische n Ländern wa r die s überhaupt ni e vollständig de r Fall . Au f den ersten Blic k unterscheiden sich die akademischen und freien Berufe (›Professionen‹) vo n anderen Berufen durch die vergleichsweise starke Kontinuität in der forma-len Regulierung.

Die i n eine m spätere n Abschnit t diese s Essay s un d i n de n einzelne n Beiträgen de s Bande s stärke r ausgearbeitet e Thes e vo n de r historische n Besonderheit der ›Professionen‹ is t mit der folgenden systematischen sozio-logischen Definitio n vo n Professio n z u konfrontieren . De r soziologisch e Begriff »Profession« meint eine besondere Sorte von Beruf, dessen Ausübung eine spezialisierte , tendenziel l wissenschaftlic h fundiert e Ausbildun g vor -aussetzt, i n der berufsbezogenes, generalisierbare s und theoriehaltiges Wis-sen zusammen mi t ethischen Einstellungen vermittel t wird. 14 Da s Wissen , das uneigennützig, i m Dienste des Allgemeinwohls und ohne Ansehen de r Person einzusetzen sei, is t durch Examen und Berechtigungsscheine garan -tiert. Nu r qualifiziert e Experte n seie n in de r Lage , bestimmt e Funktione n und Dienstleistungen in der Gesellschaft auszuüben. Die Professionen bean -spruchen ei n Funktions - un d Angebotsmonopo l sowi e di e Freihei t vo n Fremdkontrollen durch Laien- oder den Staat. Die organisierte Berufsgrup-pe kontrolliert autono m de n Zugang zu m Beru f und die Tätigkeit. Unte r Verweis auf Kompetenz und professionalistische Dienstleistungsethik sowie auf die besondere Bedeutung de r Leistung fü r Gesellschaft un d Allgemein -wohl, beanspruche n Professione n ein e besonder e wirtschaftlich e Beloh -nung und eine höhere soziale Geltung und Stellung .

Professionalisierung meint den Prozeß, in dem eine Tätigkeit oder ein älterer »Beruf« sic h zu einer Profession wandeln . »Professionalismus « bezeichne t di e

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Rechtfertigungen, di e professionell e Strukture n un d Handlungsweise n ideologisch begründen, sowie Strategien, di e der Erreichung oder Absiche-rung professioneller Ziele dienen. Profession und Professionalismus sind nie bloß wissenschaftlich-objektivierende Kategorie n gewesen, sondern es han-delt sich immer auch um ideologisch besetzte und normative Begriffe .

Der skizzierte Idealtypu s läß t sich analytisch i n verschiedene Komplex e zergliedern. De r erste Komplex umschreibt di e Systematisierung de s Wis-sens und die Formalisierung vo n Ausbildung und Berechtigung, sowi e die qualifikationsmäßige Homogenisierun g der Berufsangehörigen. De r zweite Aspekt thematisier t di e »Autonomisierung « de s Experten gegenübe r de m Laien. Ein drittes Element meint die kollektive Autonomie der professionel-len Organisatio n i n de r Regelun g de r Beziehunge n innerhal b de r Berufs -gruppe sowie in der Bestimmung der Verhältnisse von Beruf und Berufsaus-übung gegenübe r de r Außenwelt . Vierten s wir d au f den Zusammenhan g zwischen der Profession und der Stellung in der Gesellschaft verwiesen .

In der historischen und soziologischen Literatur über ›Professionen‹ zeig t sich imme r wieder , wi e schwieri g e s ist , mi t de m vorgefertigte n Profes -sionsbegriff historische und gesellschaftliche Sachverhalt e angemessen und sinnvoll zu begreifen.15 Vor diesem Problem stehen auch die Autoren dieses Bandes, di e sich bei der Behandlung große r und unterschiedlicher histori -scher ode r gesellschaftliche r Räum e z u entscheide n haben , au f welche n Aspekt des Professionskomplexes si e sich konzentrieren sollen . Lundgree n und Huerkamp beschränke n sic h stärker au f Wissen, Ausbildun g un d Be-rechtigungswesen, Burrag e und Rottleuthner thematisieren mehr die Frage von professioneller Organisatio n un d Autonomie. Späth , Janz, Huerkam p und Charle akzentuieren den Zusammenhang vo n beruflicher un d sozialer oder politischer Stellung . De n Verfassern geling t es, nicht nur die Komple-xität vo n Professionalisierungs-Vorgängen einzufangen , sonder n auch den Bezug zur Bürgerlichkeitsproblematik herzustellen .

Die theorieorientiert e empirisch e Auseinandersetzung mi t de r Geschichte der ›Professionen ‹ mach t di e Grenze n de s Professionalisierungsansatze s deutlich, di e schon in den Sammelbänden vo n Conze und Kocka über das Bildungsbürgertum, ode r von Geison über die Professionen i n Frankreich deutlich geworden sind.16 Sie wirft abe r auch neue, weitertreibende Fragen auf, nich t zuletz t jene, wi e de r Proze ß de r Professionalisierun g verläuft , wieviele Wege zum Status einer Profession oder einem funktionalen Äquiva -lent de r Kontroll e von Ressourcen un d Praktiken durc h di e Berufsgrupp e fuhren. Charl e weis t mi t seine r Bemerkun g au f S. 140 auf das Grundpro-blem der historischen Professionalisierungsforschung hin : Es gebe verschie-dene Arte n vo n Professionalisierung . Di e Professionalisierun g i n eine m allgemeineren Sinn e se i »tatsächlic h da s Ergebnis von Konflikten , di e aus solchen unterschiedlichen Professionalisierungsstrategien entstehen«. So las-sen sich die vorliegenden Ansätze als Beitrag zur Überwindung eine r Auf-fassung betrachten , di e di e Professionalisierung al s teleologische n Proze ß

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betrachtet, de r sic h erfüllt , inde m de r Beru f im Durchmarsc h durc h ver -schiedene Stufen dem Idealtypus der Profession möglichst nahekommt .

Vor diese m Hintergrun d wir d nu n deutlicher , i n welch e Richtun g di e Revision der Professionalisierungstheorie z u gehen hat:17

Erstens is t da s Professionalisierungskonzept fü r di e kontinentaleuropäi -schen Länder nur dann sinnvoll zu verwenden, wenn ein ›Geburtsfehler‹ de s Ansatzes behoben wird , nämlic h seine relative Gleichgültigkei t gegenübe r dem Staat oder dem Gesetzgeber.18 Diese erscheinen in den englischen und amerikanischen Theorie n kau m al s historisches Subjekt , da s die Professio -nalisierungsvorgänge steuer t un d wesentlic h prägt , sonder n allenfall s al s Partner, a n den die Profession mi t dem Wunsch nach gesetzlicher Sanktio -nierung de r vo n ih r vorgeschlagene n Regelunge n herantritt . Burrage 19

macht mit seiner Darstellung de r - seh r unterschiedlichen - englische n und amerikanischen Professione n klar , waru m i n de r vo n diese r Geschicht e abgezogenen Professionalisierungstheori e di e Berufsgruppe da s Subjekt der Professionalisierung ist : Di e Professione n agierte n hie r i m Umfel d eine s Staates, de r vergleichsweis e weni g eingrif f Di e Geschicht e de r akademi -schen, freie n ode r liberale n Beruf e au f dem europäischen Kontinen t zeig t indessen, daß Ärzte, Juristen, Advokaten , Ingenieure usw. oft lange Zeit das Objekt der Professionalisicrungstendenzen waren , di e vom Staa t ode r Ge-setzgeber ausgingen . Prozess e der Verwissenschaftlichung un d der Ausbau des Berechtigungswesens sin d deshalb als Professionalisierung vo n oben, bis -weilen ga r al s Angleichun g eine r ältere n freiberufliche n Tätigkei t a n da s Beamtenmodell zu interpretieren. Ein e Berufsgruppe, di e vor diesem Hin -tergrund nac h professionelle r Autonomi e strebt , wir d ander e Strategie n verfolgen müssen als die amerikanischen Ärzte oder Anwälte.20

Professionalisierung is t al s individuelle r un d kollektive r Lernproze ß z u betrachten, an dem sich verschiedene Akteure beteiligen: die Berufsgruppen selbst sowie das Bürgertum, di e hier im Vordergrund stehen; Staat, Gesetz -geber und Staatsbürger; Klienten; Institutionen, die Wissen produzieren und vermitteln. Formal e und informelle Zusammenhänge , i n denen das Wissen angewendet wird, sind überdies zu beachten.

Die zweit e Kriti k bezieh t sic h au f den wiederhol t postulierte n Zusam -menhang zwischen entwickelter Professionalitä t un d gehobener sozio-öko -nomischer Stellung . Durc h di e Einführung de r Konzepte Bürgertu m un d Bürgerlichkeit wird es möglich, ›gehobene Stellung‹ mit bürgerlichen Stel -lung un d Positio n z u ersetzen un d s o historisch etwa s genaue r z u fassen . Wenn die Angehörigen von Professionen öfter eine bürgerliche Stellung und entsprechende Lebenschancen hatten, ist abzuklären, ob und wieweit Statu s und Positio n au s eine r fortgeschrittene n Professionalisierun g resultierten . Welcher Typ oder welches Element vo n Professionalisierung begründete n dann di e »Bürgerlichkeit « besonder s gut : höher e Qualifikatio n un d Titel , ein Funktionsmonopo l ode r di e korporativ e Autonomie ? Di e Beiträg e von Burrage und Späth und anderen21 zeigen indessen, daß Professionalisie -

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rung nu r eine unte r mehrere n mögliche n bürgerliche n Strategie n war . E s bestand stet s ein e Reih e vo n alternative n Strategie n un d Leitbildern , mi t denen sich eine ›bürgerliche‹ Stellung erreichen ließ. Teile der akademischen Berufe strebte n nach einer Verbeamtung ode r Verbesserung de s Beamten-status, s o di e vo n Janz behandelte n evangelische n Pfarrer . Freiberuflich e Advokaten, Ärzt e und Ingenieure richteten sich in einem gewissen Maß am Leitbild des Unternehmers aus.

Eine dritte Kriti k betriff t di e konzeptuelle Verengun g de s Erkenntnisin-teresses im Professionalisierungsansatz, de r impliziert, daß das Denken und Handeln primär durch den Beruf bestimmt sei. Wie weit dies tatsächlich der Fall war, ist nur empirisch zu bestimmen. Angesichts des im 19. Jahrhundert oft breite n Spektrum s vo n Rollen und beruflichen Tätigkeite n i m engere n oder weiteren Sinn, die die Inhaber professioneller Beruf e einnahmen, is t es zweifelhaft, o b ein solche r Ansat z de r Sach e angemesse n ist. 22 Durc h di e Verbindung de r Professionsthemati k mi t de m Bürgerlichkeits-Ansat z kommt zusätzlich ein neues Moment ins Spiel, das bisher kaum systematisch erforscht wurde. Es interessieren nämlich sehr viel stärker auch die »bürger-lichen« Rollen , di e der Professional einnimmt und für sich beansprucht: die Rollen al s Angehörige r eine r soziale n Schich t ode r de s Bürgertums ; di e Rolle innerhalb eine s spezifische n kulturelle n Milieus ; sowi e di e Roll e al s Staatsbürger. Dami t rücken die Interpretationen bildungs- oder wissenshi-storischer Forschungen in ein neues Licht, und manche ahistorische profes-sionssoziologische Deduktionen werden zweifelhaft. Da s Studium der aka-demisch gebildete n ode r freiberuflic h tätige n Bürge r kan n dan n endlic h erklären, waru m fü r si e Professionalismus un d professionalistische Strate -gien bisweile n überhaup t kein e ode r nu r ein e untergeordnete Roll e spiel -ten.23 E s wird verständlich , weshal b sich Ärzte , Juristen, Ingenieur e usw . bisweilen kau m primär al s Angehörige einer beruflichen Interessengrupp e verhielten, sonder n sich viel eher dem Bürgertum, eine m Bildungsbürger -tum, eine r Intelligen z ode r eine m kulturelle n Milie u verbunde n fühlten . Dann bleibt allerdings die Frage, wie weit die Kategorie »Profession« über -haupt noch sinnvoll ist .

Dieses Proble m dräng t sic h auc h au s de r Perspektiv e de r Begriffsge -schichte auf . De r mit der angelsächsischen Soziologi e auf den europäischen Kontinent gelangt e eingedeutschte Begrif f »Profession « deck t Phänomen e ab, die schon im englischen Sprachraum, nämlich zwischen den Vereinigten Staaten un d Großbritannien , leich t differieren. 24 Wi e verhäl t e r sich dann aber ers t z u de n verschiedene n europäische n Bezeichnungen ? Ic h würd e meinen, da ß die sachlichen Unterschiede nicht so schwerwiegend sind , daß die »Akademiker« , »freie n Berufe « ode r »akademische n Berufsstände « i m deutschen Sprachraum nicht mit gebotener Vorsicht unter den Professions-begriff gefaß t werde n können . Dasselb e gil t fü r di e »professions liberales « und di e »profession i überall«. 25 Trot z einige r Bedeutungsunterschied e der verschiedene n Begriff e is t kau m z u bestreiten , da ß di e Theme n un d

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Fragestellungen de r ältere n kontinentaleuropäische n Forschun g übe r »freie«, »liberale « un d »akademische « Beruf e dieselbe n sin d wi e i n de r angelsächsischen Professionalisierungs - un d Professionenforschung. 26 I n der Geschicht e de r europäische n freie n Beruf e finde n sic h überraschen d viele Absichtserklärungen , Strukture n un d Strategien , di e ein e Verwen -dung diese r Begriff e un d Konzept e zumindes t al s Frageraste r nahelegen . Der Professionalisierungsansatz is t allein schon deswegen anderen Konzep-ten und Alltagsbegriffen vorzuziehen , wei l er besser entwickelt ist .

b) Bürgertu m und bürgerliche Gesellschafi

Die Autoren diese s Bande s befasse n sic h mi t ›Professionen ‹ i n zwe i Jahr-hunderten, unterschiedlichen Gesellschaften un d Kulturräumen. Si e akzen-tuieren di e folgende n Begriff e vo n »bürgerliche r Gesellschaft« , »Bürger -tum« un d »Bürgerlichkeit« 27 jeweils leich t unterschiedlich , bewege n sic h allerdings innerhal b eine r tolerierbare n Bandbreite . »Bürgerlich e Gesell -schafi« verweis t au f das Bestehen eines Marktes und einer gewissen Offen -heit i n der Strukturierung soziale r Beziehungen . I m Rahmen de s Markte s regelt sich die Vermittlung von Angebot und Nachfrage, Bedürfnisse n un d Leistungen - gestütz t au f Prinzipie n wi e Gewerbe - un d Handelsfreiheit , Eigentums- un d Vertragsfreihei t - tendenziel l selbststeuernd . De r ord -nungsstiftenden un d handlungsorientierenden formale n Eigentumsfreihei t und Rechtsgleichhei t i n Wirtschaf t un d Rech t entspreche n i n de r sozio -politischen Sphär e ein e gewiss e Zugänglichkei t vo n Statu s un d Positio n sowie di e Offenhei t vo n politische n Partizipations- , Macht - un d Einfluß -chancen. I n der Regel lieg t di e Prägung un d Realisierung diese s Leitbilde s beim Bürgertum , eine r durch materiell e und ideell e Interessen begründete n Formation. »Bürgerliche « Strukture n un d Mechanisme n könne n indesse n auch durc h ander e Trägergruppe n eingeführ t werden : etw a i m Rahme n einer partielle n Modernisierun g vo n oben , ode r durc h nichtbürgerlich e Schichten, di e ein e Verallgemeinerun g de r politische n un d rechtliche n Gleichheit fordern .

Das Bürgertum bildet sic h in einem dynamische n Prozeß , desse n Eigen -schaften sic h au f den Charakte r de r darau s resultierende n Formatio n aus -wirken. Bürgertu m is t al s ein e spezifisch e Vergesellschaftungsfor m vo n »Mittelklassen« z u begreifen, di e sich aufgrund relative r innere r Gleichhei t und durch Abgrenzung nach außen ausbildet. Al s reale Formation, mi t der bestimmte Arten des Denkens und des Handelns einhergehen, is t das Bür -gertum oftmal s sozio-ökonomisc h heterogen , den n nich t nu r de r Besit z oder di e Verfügun g übe r Produktionsmittel , di e Ar t de s Zugang s zu m Markt, sonder n auc h Bildung , kulturell e ode r politisch e Interesse n un d Leitbilder können den bürgerlichen Zusammenhang begründen . Bestimm -te Kommunikationsforme n un d Organisationstype n - »Öffentlichkeit« ,

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Vertretungskörperschaften, Vereine , Verbänd e - unterstütze n di e Integra -tion des Bürgertums, können sie aber auch wieder in Frage stellen.

In kultureller Beziehung wäre Bürgerlichkeit eine bestimmte Art von Wert-haltung und Lebensführung, wi e sie zu bestimmten Zeiten dem Bürgertum entspricht. Bürgerlich e Werte , wi e Leistung , Erfolgsstreben , zivil e Um -gangsformen usw. , möge n tendenziel l eine r historischen Formatio n zuge -schrieben werden , si e wirken al s Sat z vo n Sinnvorstellunge n un d Verhal -tensmustern in einem gewissen Rahmen eigendynamisch fort .

c) Professione n und Bürgertum

Die Behandlung von Professionen und Bürgertum in der Literatur ist offen-sichtlich gepräg t durc h nationenspezifische , kulturell e un d wissenschaftli -che Traditionen, sowie durch ideologische Präferenzen in der Art der Frage-stellung un d Konzeptualisierung . Di e jüngere deutsch e Forschun g zu m Beispiel verknüpf t i n der Forschung übe r das Bildungsbürgertum den klassi-schen Themenkomplex Bildung , Wissenschaf t un d Berechtigungswesen in innovativer Weis e mi t de r Professionalisierungsthematik. 28 Si e such t de n Zusammenhang von Professionalisierung un d Bürgerlichkeit vor allem bil -dungs- und wissenssoziologisch z u begreifen, un d konzentriert sic h so auf das Bildungsbürgertum, da s in einem Spannungsverhältnis oder gar Gegen-satz zu m Wirtschaftsbürgertu m gestande n habe . Inde m sic h da s Wisse n spezialisierte un d di e Interesse n de r Professione n sic h verengten , hab e die Professionalisierung de n Zusammenhal t de s Bürgertum s gefährdet . Da s Bildungsbürgertum sei durch die Professionalisierung a m Ende des 19. Jahr-hunderts desintegrier t worden . Einige s ma g fü r dies e These sprechen, di e vergleichende empirische Untersuchung de s Zusammenhangs von ›Profes -sionen‹ un d Bürgertu m zeig t indessen , da ß Professionalisierungsvorgäng e den Zusammenhal t de r Formatio n Bürgertu m ehe r stärkten. 29 I n dies e Richtung weise n die italienische und teilweise die französische Historiogra -phie, die die Professionen eher in einer Zwischenposition sehen: Sie betonen die wirtschaftliche un d sozial e Vernetzun g de r ›Professionen ‹ mi t de n Be-sitzenden und heben die politische und soziale Vermittlerrolle in Bürgertum und Gesellschaft hervor. 30

Der deutsche Bildungsbürgertums-Ansatz hat gewisse Gemeinsamkeiten mit de r neuere n soziologische n Forschun g übe r di e »Intelligenz« , eine r klassen- un d schichtenübergreifende n Formation , di e al l jene umfaßt , di e sich i n eine r bestimmte n Weis e a n politische n un d kulturelle n Diskurse n beteiligen.31 Beide Ansätze gehen von Bildung und kulturellem Wissen aus und postuliere n eine n Gegensat z vo n Besitzende n un d ›Gebildcten‹ . Ein e zweite Forschungsrichtung dagegen thematisiert die soziale, wirtschaftlich e und politisch e Näh e de r Professione n zu m Wirtschaftsbürgertum. 32 Di e Rechtfertigungen de r Professione n würde n sic h zwa r vo n unternehmeri -

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schen Ideologien unterscheiden, tatsächlich hätten sich die Professionen aber dem profitorientierte n unternehmerische n Erwerbsdenke n angepaßt . De r Verweis au f Uneigennützigkei t un d Diens t a m Allgemeinwoh l se i bloße Rhetorik. Marxistisch e Autore n argumentiere n i m Gefolge vo n Gramsci , daß die Professionen durch ihre technischen und organisatorischen Funktio-nen die Reproduktion der kapitalistischen Produktions- und Klassenverhält-nisse unterstützten . Si e seie n mithi n de r Unternehmer-Bourgeoisi e al s Schicht angelagert. 33

Die Beiträge diese s Bandes überprüfen dies e Thesen au f der Grundlag e des Bürgertums-Ansatzes , de r eine mittler e Positio n einnimmt , inde m er von de r Annahm e ausgeht , da ß wesentlich e Teil e de r Professione n nich t bloß Bildungsbürger waren, aber auch nicht ausschließlich und unvermittelt den Interessen des Wirtschaftsbürgertums dienten . Die Professionen hatte n aufgrund ihre s besonderen kulturelle n Kapital s und ihrer sozialen Stellun g auch eigene Interessen. Die These, daß sie eine wichtige Rolle als Vermittler in Bürgertum un d bürgerlicher Gesellschaf t gespiel t hätten , beruh t auf der Annahme, daß diese Rolle nicht allein durch das Wissen, sondern auch durch eine bestimmte soziale und wirtschaftliche Zwischenstellung begründet sein mußte. Die hier diskutierten Berufe standen im Bannkreis des Bürgertums, sei es im Kern, oder an den Rändern.34

2. Tradition , Politi k und Markt als Ordnungsfaktoren i m Feld der professionellen Tätigkeite n

a) Di e alte Ordnung

Im Übergang zu r bürgerlichen Gesellschaf t wa r neu auszuhandeln, we r im System de r gesellschaftlichen Arbeitsteilun g ein e ›professionelle ‹ Funktio n ausüben sollte , welch e Kompeten z dafü r erforderlic h wa r un d welche r Status dami t zusammenhing . Bi s dahin hatte n verschieden e Akteur e übe r die Gestaltun g de s traditionelle n System s de r Arbeitsteilun g bestimmt , nämlich Berufskorporationen, Universitäten , aristokratisch e ode r patrizi -sche Eliten, die Kirche oder der Zentralstaat.

Einen ersten Typ bildeten die ständischen Berufskorporationen: die Kolle-gien der italienischen Rechtskonsulenten , di e Inns of Court de r englischen Barristers sowie die mancherorts in Europa bestehenden Ärzte-Korporatio -nen oder Chirurgen-Zünfte.35 Si e bestimmten di e Kompetenzen, Funktio -nen un d Ar t de r Einkünfte , un d si e regelte n de n Zugan g un d di e inner e Ordnung. Die Korporationen waren indessen nicht Professionen im moder-nen Sinn, sonder n es handelte sich um Berufs-»Stände«, di e ihren Mitglie -dern im System der Stände auch besondere politische, rechtliche und soziale Rechte und Pflichten verliehen . Die gelehrtenaristokratischen Gruppen dar-unter kooptierte n ihr e Mitgliede r aufgrun d vo n Vorrechte n de r Geburt. 36

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Die durc h di e Korporatio n überwacht e fachlich-technisch e Qualifikatio n kam sekundä r hinzu , bisweile n konnt e si e auc h fehlen . Dies e Gruppe n erhielten sich am hartnäckigsten i n Gesellschaften, w o si e in enger Bezie -hung mi t den herrschenden politische n Elite n standen; ode r in Staaten , i n denen wegen der inneren Machtverhältnisse ein Anspruch auf eine einheit -lich-zentralistische Bestimmun g de r Arbeitsteilun g nu r unvollständi g durchzusetzen war . De r Typus der ›gelehrten‹, ›noblen ‹ ode r ›professionel -len‹ Korporatio n überlebt e i n England , Italie n un d vielleich t Frankreic h besser als in Deutschland.

Die zweite Instan z mi t Kontrollansprüche n wa r traditionellerweis e di e Kirche. Ihr e Kompetenz verengte sich immer meh r auf die Priesterberufe , doch selbs t i n diesem Bereic h machte n politisch e Kräft e ih r da s Monopol streitig. Es gelang der Kirche aber durch ihre Rolle in den Universitäten oder aufgrund vo n Arrangements mi t den politischen Eliten , noc h längere Zeit etwa di e Ausbildung un d Tätigkeit de r Juristen im Kirchenrecht mitzube -stimmen.

Als dritt e Instan z wirkte n di e regionalen ode r städtische n Machthaber , nämlich Adelige oder Stadtpatrizier, die meist in pragmatischer Form regel-ten, we r als Arzt, Advoka t oder Ingenieur zugelassen wurde. In Nord- und Mittelitalien hielte n die gelehrtenaristokratischen Professione n bi s weit ins 18. Jahrhundert die lokale Verwaltung in der Hand,37 womit sie in der Lage waren, die eigenen beruflich-ständischen Vorrecht e zu sichern. In den deut-schen Hanse - un d freie n Reichsstädten , sowi e i n einige n patrizische n Schweizer Städte n gehörte n di e gelehrte n Beruf e aufgrun d vo n Bildun g oder familiäre r Vernetzun g zwa r partiel l z u den politischen Eliten , ausge -prägte Berufskorporationen bestanden hingegen selten.38 In vielen kleineren und mittlere n europäische n Adelsherrschafte n sowi e i n de n stadtpatrizi -schen Gebieten variierte die Ordnungspolitik gegenüber den ›Professionen ‹ zwischen dem Laienprinzip, dem Amtsprinzip und dem Professionsprinzip. Im Rahmen de s Laienprinzip s gal t ζ. Β. die Rechtsprechun g primä r al s ständisch zugeschrieben e Herrschaftsfunktion , fü r di e der Nachwei s eine r juristischen Kompetenz weniger wichtig war . Das Amtsprinzip beinhaltete die Vergabe von Ämtern an Personen, die sich entweder in einer praktischen Tätigkeit (Ämterlaufbahn ) qualifizierte n ode r das Amt kauften. Fü r ausge-wählte Funktionen bestand drittens das Professionsprinzip, indem Universi-tätsabsolventen nach einer höheren Ausbildung als Arzt oder Advokat zuge-lassen wurden. Die ständige Wiederholung von Erlassen zur Respektierung der etablierten Arbeitsteilung sowie die periodische Revision von Vorschrif-ten über Fähigkeitserfordernisse und Amtspflichten zeigen , wi e die Autori-tätsinstanzen zwischen den drei Prinzipien schwankten.

Neben diese n personel l un d sozia l identifizierbare n Gruppe n wirkt e i m Stillen, abe r mi t großer Beharrlichkei t ei n anonymer, schwe r zu fassende r Akteur, nämlic h de r Markt , de r sic h au s zwe i Gründe n imme r wiede r spontan herausbildete : Einma l vergrößert e sic h das Angebot a n Experten,

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indem die Universitäten Wissen und akademische Grade auch jenen vermit-telten, dene n die ständischen Merkmal e zur Aufnahme in die höheren Pro-fessionen fehlten . Dan n änderte n neu e Bedürfniss e di e Nachfrag e nac h ärztlichen, rechtliche n un d technischen Dienstleistungen , di e vorerst of t in informeller Weis e durch Autodidakte n abgedeck t wurden , dene n eine for -male Qualifikation un d Berechtigung fehlte . Vo r allem auf dem Land traten Angehörige vo n typische n Kontaktberufen , wi e Schreiber , Lehrer , Wirte und Handwerker, beispielsweis e als »Winkel-Advokaten« auf . Di e Klienten betrauten sie mit rechtlichen Aufgaben, wei l sie schreiben konnten, gewiss e Verfahrenskenntnisse hatte n und das soziale Vertrauen genossen .

Solange Adel oder Patriziat das Ideal von Beruflichkeit, Wissenschaftlich -keit un d erwerbsorientierte r Spezialisierun g ehe r ablehnten , blie b ih r Ver -hältnis z u diesen Dilettante n ambivalent . Si e duldete n dere n Tätigkei t of t lange Zeit, bevo r sie gegen die Quasi-›Professionen‹ mi t Erlassen zur Funk-tionseinschränkung ode r Verboten vorgingen. 39 Wiederhol t sanktionierte n sie die spontan entstandenen Beruf e nachträglich durch Gesetze. Bisweile n gaben si e den neuen Berufsgruppe n de n Statu s einer Korporation - womi t sie Vorrecht e de r ältere n Berufsständ e gleichzeiti g beschnitte n un d neu e festigten.40 Aus solchen Vorgängen resultierten die bisweilen bis ins moder-ne Zeitalter fortdauernde n Hierarchie n de r Professione n un d di e zwischen ihnen bestehenden Rivalitäten .

b) De r Staat als Professionalisierungsagent: Di e Amtsprofession

Im 18 . un d frühe n 19 . Jahrhundert drängt e de r Staa t jene Instanze n un d Kräfte, di e traditionellerweise di e Arbeitsteilun g un d die Funktionszuwei -sung bestimmt hatten, zunehmend zur Seite. Er reformierte die wissensmä-ßigen Grundlagen und die Ausbildungsgänge. Im Zuge der Ausrichtung des ›professionellen‹ Sektor s au f ei n - staatlic h definierte s - Allgemeinwoh l wurden di e gelehrten, gebildete n oder wissenschaftlichen Beruf e neu gere-gelt. Si e erhielten ein Monopol fü r bestimmte Funktionen , unterlage n aber den staatlich gesetzten Vorschriften. 41

Die Period e bi s zu r Mitt e de s 19 . Jahrhunderts zeichnet e sic h au f de m europäischen Kontinen t durc h ein e Professionalisierun g vo n obe n aus . De r Staat legt e di e Regel n de s Zugang s zu m Beru f un d de r Praxi s fest . Di e Ausübung der erlernten Profession war an ein staatlich verliehenes Amt oder eine Ausübungsberechtigung gebunden . I m Prinzip beruhte die Zulassung auf Leistungskriterien . Wei l sic h di e Professione n indesse n mi t zentrale n Gütern un d Werte n befaßten , galte n fü r si e auc h besonder e moralische , soziale und politische Anforderungen. Vorrecht e der Geburt wurden aufge -hoben und der Ämterkauf abgeschafft .

Das skizziert e Muste r de r halbfreie n Amtsprofessio n dominiert e i n jenen gelehrten Berufen, di e zwischen der Sphäre von Staat und Bürokratie einer-

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seits, un d de r Gesellschaf t andererseit s standen . Au s de r Sich t de s Staate s waren diese Berufe eine Restkategorie, di e aus funktionalen un d finanzielle n Gründen nich t völli g i n de n Beamtenappara t z u integriere n war. 42 Di e betroffenen Gruppe n reagierten auf diese Neuregelungen teil s zustimmend, teils mit Widerstand. Gelehrtenaristokratisch e Professione n sahe n darin ei -nen Abbau von traditionellen Vorrechten . Manch e zweit - und drittrangig e Quasi-Profession hingege n begrüßt e ein e Reform , di e si e funktiona l un d sozial aufwertete. Zwe i Faktoren erleichterten den Übergang: Erstens wur -de durch Veteranenklauseln ein Statusverlust für ältere Praktiker vermieden, zweitens expandiert e gleichzeiti g mi t de n Reformen fü r Beamt e und ›frei e Bcrufe‹ di e staatliche und öffentliche Verwaltung . Insgesam t verbesserte die institutionelle Modernisierun g zumindes t vorübergehen d di e Chancen de r bürgerlichen Schichten , inde m sic h ihne n neu e Stellunge n un d Erwerbs -chancen eröffneten.43 Da s Muster der Professionalisierung vo n oben erhielt aber rasch Konkurrenz durch das im folgenden zu schildernde Laienmodell , sowie durc h da s Muste r de r moderne n »freie n Berufe« , di e de m Bürge r noch bessere Chancen versprachen .

c) Da s bürgerliche Laienmodell und die »freien Berufe« in der Marktwirtschaft

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts tauchte in den demokratischen, egalitä -ren ode r liberale n Gesellschaftskonzeptione n da s traditionell e aristokrati -sche Laienmodell in einem neuen bürgerlichen Gewand wieder auf. Anfan g der 1790e r Jahre schaffte di e Französische Revolutio n di e Funktionsmono-pole und ständischen Vorrechte der Ärzte und Advodakten ab.44 Bald erfaß -te die De-Regulierungsbewegung auc h die französisch dominierte n Gebiete Italiens und der Schweiz. Funktionen , di e ehemals durch Professionen mo -nopolisiert worde n waren , galte n nu n al s frei . De r Lai e und Aktivbürge r sollte diese Funktionen selbst ausüben, inde m er sich z. Β. in Rechtsstreiten selbst vertrat, ode r er bestimmte selbst, wem er solche Aufgaben anvertrau ­en wollte . Personen , di e sich selbst fü r fähi g hielte n un d moralisch , sozia l und politisc h vertrauenswürdig e Aktivbürge r waren , konnte n sic h ihre n Erwerb als Heiler oder Rechtsberater verschaffen. Rechtslaie n konnten auch Richter werden . De r Normalverstand de s mündigen Bürger s gal t minde -stens eben so viel wi e di e Spezialkenntnisse eine s Experten , de r bloß vo m sozialen Vertrauen abhängig war . Ramsey bezeichnet diese offene Ordnung der Funktione n un d Berufsfelder , di e primä r durc h politisch e un d sozial e Motive begründet wurde, als »radical free field«. 45

Das bürgerlich-egalitär e Laienmodel l setzt e sic h sei t de n 1830e r Jahren, vorübergehend radikal , dann wieder abgeschwächt, auc h in vergleichsweise liberalen und demokratischen Gesellschaften, wi e den USA und der Schweiz durch.46 In jedem Fal l ging es um die Entmachtung traditionelle r Experte n und Eliten, und um die Abschaffung vo n ›Bevormundung‹. Derartig e Schü-

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be von De-Professionalisierung lasse n sich nicht allein mit egalitären Ideolo-gien erklären, sonder n sie resultierten auch aus Konflikten übe r die Gültig-keit un d Effizienz eine s wissensmäßigen Paradigma s (eine r Heilmethode , einer Rechtsdoktrin ode r einer Weltanschauung).47 Phänomene der Profes-sionalisierung gerieten in einen Konflikt mi t Vorstellungen über Bürgerlich-keit, inde m der Bürger di e Kontrolle über Funktionen und zentrale gesell -schaftliche Wert e direkt fü r sich selbst reklamierte . Ein e institutionalisierte Professionalisierung, di e de n Laie n de m Experte n unterordnet e ode r de r organisierten Professio n ga r korporative Sonderrecht e gab , gal t al s unbür-gerlich. ›Bürger ‹ meint e dabei den mündigen Staatsbürger, da s selbständige und selbstverantwortlich e Individuum , de n mi t liberal-marktwirtschaftli -chen Prinzipie n argumentierende n Unternehmer-Bürge r ode r de n Klien -ten-Bürger.

d) Da s staatlich-marktwirtschafiliche Model l

Das Konsula t un d da s Erst e Kaiserreic h unte r Napoleo n schränkte n i n Frankreich da s Laienmodel l wiede r erheblic h ein . Hie r bildet e sic h ein e Mischung vo n staatliche r un d marktliberale r Ordnun g de r freie n Beruf e heraus, di e vo n de n nachfolgende n Regime n un d Regierunge n nu r noc h variiert wurde . Diese r Ordnungstypu s verbreitet e sic h schließlic h i n de r zweiten Hälft e de s 19.Jahrhundert s i n den größten Teile n Europas. 48 Der Staat definierte die Aufgaben und Funktionen, er monopolisierte die Ausbil-dung und machte die Berechtigung zur Berufsausübung von einem Examen abhängig. Ältere Berufshierarchien bestanden in abgeschwächter Form fort, indem der Advokat aufgrund seine r längeren Ausbildun g übe r dem Avoué oder Notar stand, der Arzt über dem heilkundigen Officier de santé. Während die Roll e de r Advokaten , Anwält e (Avou és) un d Notar e i m Syste m de r Arbeitsteilung genaue r festgelegt wurde , waren die Bestimmungen fü r den Arzt oder den Ingenieur deutlich lockerer. Die wiederbelebten Formen einer ständischen Korporation , etw a de s Ordr e de s avocats, bekame n unte r de n neuen Verhältnissen eine andere Bedeutung.49 Unter den gleich Qualifizier -ten bestand prinzipiel l frei e Konkurrenz , de r Klient wählt e den ›Experten ‹ selbst aus. Den sozialen Rang mußte der Professionsangehörige in der Praxis selbst aushandeln, wa s dazu führte , da ß der weniger hoc h gebildete Nota r im gesellschaftliche n Prestig e übe r de m Advokate n ode r Anwal t stehe n konnte.

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