Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon...

4
Von Marc Lettau Die Szene könnte sich in jedem ge- mütlichen Wohnzimmer abspielen: Im Radio läuft das Wunschkonzert. Aus dem Lautsprecher zwitschert eine Panflöte. Die Frau des Hauses sagt: «Oh! Der Zamfir!» Und er sagt: «Genau! Zamfir. Zusammen mit James Last.» In der guten hel- vetischen Stube ist der im abge- schotteten, kommunistischen Ru- mänien geförderte Panflötenvirtuose Gheorghe Zamfir nämlich seit Jahr- zehnten Allgemeingut. In Wunsch- konzerten, Hotellobbies und Ein- kaufszentren wird immer wieder auf die sphärischen Klänge seiner Pan- flöte zurückgegriffen. Mit grosser Wahrscheinlichkeit sind in der durchschnittlichen schweize- rischen Tonträgersammlung auch ei- nige Takte von «Le Mystère des Voix Bulgares» zu finden. Immerhin hatte ja auch Beatle George Harri- son ganz vehement für den entrückt und archaisch klingenden bulgari- schen Frauenchor geschwärmt. Im- merhin ist «Le Mystère des Voix Bulgares» das über längere Zeit hin- weg betrachtet vielleicht erfolg- reichste Exempel der Musikgattung «Worldmusic». Und immerhin wur- de das Klangwerk 1990 mit dem Grammy-Award beehrt. Aber auch die heutige Schweizer Jugend ist dem Osten zugeneigt. In der Disco gilt der Remix aus der Musik osteu- ropäischer Roma und balkanischer Popsternchen als «hip». Und ist das Konzert einer Blasmusik aus dem Balkan angesagt, geraten auch die Juvenilen aus dem Häuschen. Kurz: Für den Osten hat die Schweiz heute Musikgehör. Wer ist Marcel Cellier? Der Geschäftsmann Cellier verhan- delte nach Mitte der Fünfzigerjahre in Osteuropa mit kom- munistischen Regimes über Erzlieferungen an die Schweizer Metallindustrie. Und der Mensch und Musiker Cellier vermit- telte mitten im Kalten Krieg der westlichen Welt, wie sehr Me- lodien aus dem Osten die Herzen wärmen können. Er hat dem helvetischem Gehör sphärische rumänische Panflötenklänge und archaisch anmutende Harmonien bulgarischer Frauen- chöre zugemutet. Förderverein «Variant Pet» p.a. Marc Lettau, Weiermattweg 15, CH-3098 Köniz, Schweiz. E-Mail-Adresse: [email protected] Kontakt (CH): +41 79 226 13 27 +41 31 972 44 76 Homepage www.variant5.ch «Variant 5» Bulgaria Dian Bonev & Petranka Angelova, Post Office Box Nr. 234, BG-7700 Targoviste, Bulgarien E-Mail: [email protected] Kontakt (BG): +359 888 80 73 64 +359 889 52 64 45 Bankverbindung: Förderverein Vari- ant Pet, Bern, Postkonto 30-19039-5. IBAN: CH44 0900 0000 3001 9039 5 BIC: POFICHBEXXX Buchbestellungen: Peter Schibler, Turnweg 12, CH-3013 Bern. E-Mail: [email protected] Liebesgeschichten hinter dem eisernen Vorhang Unterwegs auf kurvigen Strassen durchs Balkangebirge – mit dem Aufnahmegerät im Kofferraum. Вариант 5 Nr. 55 September 2012 Extra «Variant 5» würdigt mit dieser Publikation das Werk des Musikethnologen Marcel Cellier. Der Text ist auch im Auslandschweizermagazin «Swiss Revue» erschienen. www.revue.ch Um der Rolle Celliers gerecht zu werden, publiziert «Variant 5» den Beitrag auch in bul- garischer Sprache. [email protected]

Transcript of Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon...

Page 1: Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon a time in America»). Grammy für archaische Klänge Zur gleichen Zeit schwärmte

Von Marc Lettau

Die Szene könnte sich in jedem ge -mütlichen Wohnzimmer abspielen:Im Radio läuft das Wunschkonzert.Aus dem Lautsprecher zwitscherteine Panflöte. Die Frau des Hausessagt: «Oh! Der Zamfir!» Und ersagt: «Genau! Zamfir. Zusammenmit James Last.» In der guten hel-vetischen Stube ist der im abge-schotteten, kommunistischen Ru -mänien geförderte PanflötenvirtuoseGheorghe Zamfir nämlich seit Jahr-

zehnten Allgemeingut. In Wunsch-konzerten, Hotellobbies und Ein-kaufszentren wird immer wieder aufdie sphärischen Klänge seiner Pan-flöte zurückgegriffen.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit sindin der durchschnittlichen schweize-rischen Tonträgersammlung auch ei-nige Takte von «Le Mystère desVoix Bulgares» zu finden. Immerhinhatte ja auch Beatle George Harri-son ganz vehement für den entrücktund archaisch klingenden bulgari-

schen Frauenchor geschwärmt. Im-merhin ist «Le Mystère des VoixBulgares» das über längere Zeit hin-weg betrachtet vielleicht erfolg-reichste Exempel der Musikgattung«Worldmusic». Und immerhin wur -de das Klangwerk 1990 mit demGrammy-Award beehrt. Aber auchdie heutige Schweizer Jugend istdem Osten zugeneigt. In der Discogilt der Remix aus der Musik osteu-ropäischer Roma und balkanischerPopsternchen als «hip». Und ist dasKonzert einer Blasmusik aus demBalkan angesagt, geraten auch dieJuvenilen aus dem Häuschen.Kurz: Für den Osten hat dieSchweiz heute Musikgehör.

Wer ist Marcel Cellier? Der Geschäftsmann Cellier verhan-delte nach Mitte der Fünfzigerjahre in Osteuropa mit kom-munistischen Regimes über Erzlieferungen an die SchweizerMetallindustrie. Und der Mensch und Musiker Cellier vermit-telte mitten im Kalten Krieg der westlichen Welt, wie sehr Me-lodien aus dem Osten die Herzen wärmen können. Er hat demhelvetischem Gehör sphärische rumänische Panflötenklängeund archaisch anmutende Harmonien bulgarischer Frauen-chöre zugemutet.

Förd

erve

rein

«Va

riant

Pet

»p.

a. M

arc

Letta

u, W

eier

mat

tweg

15,

CH

-309

8 K

öniz

, Sch

wei

z.

E-M

ail-A

dres

se:

info

@va

riant

5.ch

Kont

akt (

CH

): +4

1 79

226

13

27+4

1 31

972

44

76

Hom

epag

e www.variant5.ch

«Var

iant

Bul

garia

Dia

n B

onev

& P

etra

nka

Ang

elov

a,P

ost O

ffice

Box

Nr.

234,

BG

-770

0 Ta

rgo v

iste

, Bul

garie

n

E-M

ail:

varia

nt5@

tour

ism

.bg

Kont

akt (

BG):

+359

888

80

73 6

4+3

59 8

89 5

2 64

45

Bankverbindung:

Förd

er ve

r ein

Va r

i -an

t Pet

,Ber

n, P

ostk

onto

30-

1903

9-5.

IBA

N: C

H44

090

0 00

00 3

001

9039

5B

IC: P

OFI

CH

BE

XX

X

Buchbestellungen:P

eter

Sch

i b le

r,Tu

rnw

eg 1

2, C

H-3

013

Ber

n. E

-Mai

l:pc

i.ber

n@bl

uew

in.c

h

Liebesgeschichten hinterdem eisernen Vorhang

Unterwegs auf kurvigen Strassen durchs Balkangebirge – mit dem Aufnahmegerät im Kofferraum.

Вариант

5

Nr. 55

September 2012

Extra«Variant 5» würdigt mit dieser Publikation dasWerk des Musikethnologen Marcel Cellier. DerText ist auch im Auslandschweizermagazin«Swiss Revue» erschienen. www.revue.chUm der Rolle Celliers gerecht zu werden, publiziert «Variant 5» den Beitrag auch in bul-garischer Sprache. [email protected]

Page 2: Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon a time in America»). Grammy für archaische Klänge Zur gleichen Zeit schwärmte

ВАРИАНТ 52

Einer ist dafür mitverantwortlich wiekein zweiter: Marcel Cellier. Der heute86-jährige Schweizer gilt als wegberei-

tender Entdecker und Förderer osteuropäi-scher Musik. Über fast ein halbesJahrhundert hinweg hat Cellier gemeinsammit seiner Gattin Catherine in OsteuropaTonaufnahmen gemacht. Dreissig Jahre langgab die Radiosendung «De la Mer Noir à laBaltique» – vom Schwarzen Meer bis zumBaltikum – auf Radio Suisse Romande Ein-blick in die musikalischen Entdeckungsrei-sen Celliers. Zwölf Jahre lang war CelliersRadioserie «Völker, Lieder, Tänze» (Bayri-scher Rundfunk) auf Sendung. Die Zahlenverraten den Musikbesessenen: Ab 1950 sinddie Celliers drei Millionen Kilometer Seitean Seite durch den Osten der Nachkriegszeitgereist. Er hat dabei über 5000 Musikauf-nahmen gesammelt. Und sie hat den östli-chen Alltag, der damals so sehr ausserhalbdes Blickfelds der Schweizerinnen undSchweizer lag, im Bild festgehalten.

Inzwischen sagt Marcel Cellier von sich:«Heute mag ich nicht mehr reisen. Ich mussnicht mehr reisen.» Heute sei es für ihnFreude genug, «aus dem Fenster zu schauenund die Schönheit des Lavaux zu be-staunen», dies «voller Bewunderung» fürden kämpferischen Umweltschützer FranzWe ber, der «dieses landschaftliche Bijou»vor der Zerstörung bewahrt habe. Das Paarlebt heute in einem Landhaus in den Reb-bergen von Chexbres VD und macht Gedankenreisen – mit Blick auf Genfersee,Savoyer Alpen, Reben und den eigenen,blumenreichen Garten. Und Cellier gönntsich dabei ganz ohne jeden Anflug vonschlechtem Gewissen eine Zigarette – undspäter am Tag ein Gläschen St. Saphorin.Oder zwei. Denn schliesslich wird dieserWein praktisch vor seiner Haustüre gekel-tert. Nichts von Hektik.

Die zwingenden Fragen an den inzwischenSesshaften: Warum, Marcel Cellier, warenSie ein halbes Jahrhundert auf Achse undhaben dabei musikalische Schätze geho-ben? Was hat Sie getrieben? Und wenn Sieheute auf Ihr Lebenswerk zurückblicken:Als was verstehen Sie sich? Als Musik-ethnologe? – Die Fragen scheinen ihm nurmässig interessant. Man tue eben, was mantue: «Ich hatte sicher keine Mission, musste niemanden bekehren.» Vermutlichsei die Antwort simpel: Er sei nicht derTheoretiker, sondern der Macher, der Mitspieler, der Begeisterte, «der mit ande-ren gerne all das Fabuleuse teilt, das ihn begeistert». Catherine Cellier findet fürihren Lebensgefährten, mit dem sie «dasGlück von über 60 gemeinsamen Jahren»teilt, die recht knappe Formel: «Er sprichtdurch die Musik. Er teilt sich über Musikmit. Er lebt Musik.»

Die Liebe Nr. 1: Die BlockflöteCellier lebte und lebt die Musik, die erzunächst nicht wirklich leben durfte. Erwuchs im strengen und dem Genuss abge-wandten Milieu der Brüderbewegung (Dar-bysten) auf und erlebte Musik als Quelle desKonflikts. Zwar erhielt der Sprössling mitvier Jahren eine Blockflöte geschenkt. Aberals er damit ein Tänzchen von Leopold Mo-zart zum besten gab, wurde ihm beschieden:Tanzmusik gehört sich nicht. Cellier: «EineGavotte oder Sarabande genügte also, umzum verlorenen Sohn zu werden.» Dabei tatder Sohn durchaus, was von ihm erwartetwurde: Er gedieh, lernte mit Fleiss, absol-vierte eine Banklehre mit Bestnoten, fassteals Prokurist Fuss im Beruf, machte ab 1950das, was man gemeinhin «Karriere» nennt.

Er wurde die rechte Hand eines Erzhändlers,arbeitete sich rasch vom Kaufmann zum Vi-zedirektor hoch. Er kaufte hinter dem Eiser-nen Vorhang metallische Erze ein, die dannvon Von Roll, Fischer, Von Moos, Monte-forno oder den Metallwerken Dornach zu so-lider, schweizerischer Qualitätsware ver -arbeitet wurde. Er sprach bei staatlichenRohstoffkonzernen der Sowjetunion vor,verhandelte mit polnischen und rumänischenKombinaten und drückte bei den Chromerz-produzenten in Albanien die Klinke – unddas zu einer Zeit, als Albanien hierzulandenoch als maoistische Fehlkonstruktion im Inneren Europas wahrgenommen wurde.Cellier sagt, er habe zwar mit Silizium, Kupfer und Mangan gehandelt. Gestossensei er aber auf eine Goldmine: «Auf die nochlebendige Volksmusik.»

Damals: Catherine und Marcel Cellier, Seite an Seite – und mit Blick in Richtung Osteuropa...

Rund um die Welt unterwegs: Mal am Folklorefestival im bulgarischen Koprivschtiza (1995) ... ... mal mit Zamfir in Australien (1977), die Filmmusik zu «Picnic at Hanging Rock» im Gepäck.

Page 3: Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon a time in America»). Grammy für archaische Klänge Zur gleichen Zeit schwärmte

VARIANТ 53

Die Liebe Nr. 2: CatherineExploitierte da ein schweizerischer Roh-stoffhändler nebst den Erzvorkommen ganzgeschäftstüchtig auch noch gleich die kultu-rellen Schätze des Ostens? Kaum, denn er-stens war Cellier dem Blockflötentraumazum Trotz mehr Musiker denn Rohstoff-händler – als Posaunist im Armeespiel, alsTrompeter der Neuenburger «New Hot Play-ers», als Cellist im Streichtrio, als Organist.Zweitens bereiste Cellier den Osten zunächstohne geschäftlichen Auftrag – allein wegenCatherine, der Liebe, der Reiselust und demÜbermut. Catherine Cellier: «Wir kanntenuns nicht. Aber er sprach mich eines Mittagsin einem Lausanner Restaurant an und sagte,er wolle mit mir eine Reise unternehmen.»Die direkte Anmache war für sie Grund zur

Skepsis. Doch wenige Monate später packtdas Paar den Fiat Topolino, fährt los – mitdem Ziel Istanbul. Die Reise gerät halbwegszum Desaster, führt quer durch die Visa- undFormularhölle des Nachkriegseuropas. DerWagen wird von bulgarischen Zöllnern kon-fisziert und versiegelt. Das Paar schlägt sichper Eisenbahn durch. Catherine schlüpft indie Rolle der Journalistin und beschreibt fürillustrierte Zeitschriften und für den Berner«Bund» mit jugendlichem Blick die be-drückende Tristesse hinter dem EisernenVorhang. 1952, zwei Jahre später, folgt derzweite Anlauf – und mit ihm das Schlüssel -erlebnis: Catherine führt auf dem Beifahrer-sitz einen kleinen «Emerson» mit, einRadiogerät. Sie dreht am Sucher. Und aufRadio Skopje, Radio Belgrad, Radio Sofiaund Radio Bukarest erreicht die beiden das

bisher Unerhörte: Beschwörende Stimmen,scheinbar misstönige, diaphonische Inter-valle, asymmetrische Rhythmen, unvertrauteInstrumente. In der Folge gibts kein Zurückmehr. Von da an schleppen die Cellierswährend Jahren stets ein 35 Kilogrammschweres Spulentonbandgerät mit, offen fürBegegnungen mit musizierenden Menschen.

Die Liebe Nr. 3: Der 45/16-TaktLosfahren, einfach so, ostwärts, im Topolino:Das ist doch, was uns das Schlüsselwerk«Die Erfahrung der Welt» des Westschwei-zer Schriftstellers Nicolas Bouvier vermit-telt? Reisen als Weg zu Selbsterkenntnis, alsAusbruch aus heimatlicher Enge. «Stimmt»,sagt Catherine Cellier, «ein tolles, berühren-des Buch. Für mich fast eine Bibel.» EineBibel, weil die Celliers zwar ein Jahr vorBouvier losreisten, Nicolas Bouvier aber denKern einer solchen Reise in Worte zu fassenvermochte. Der Rest ist rasch erzählt: DieCelliers dringen immer tiefer in die damaligeMusik Osteuropas ein, erschliessen sich diemerkwürdigsten Facetten der neuen Klang-welt, entdecken bulgarische Tänze im 45/16-Takt und sind ergriffen: «Die Bulgarenkönnen das tanzen; weil sie nicht zählen,sondern tanzen.» Celliers Musiksendungenwerden schliesslich auch im englischspra-chigen Raum bekannt. Und der Hunger nachden entdeckten Klangwelten zieht die beidenwieder und wieder ostwärts – inzwischennicht mehr mit dem Topolino, sondern miteinem soliden Mercedes Benz. Der Wagenhat einen entscheidenden Vorteil: In denkommunistischen Staaten Osteuropas setztdie politische Nomenklatura auf deutscheWertarbeit aus dem Hause Benz. Ersatzteilesind deshalb leicht zu kriegen.

«Lady Madonna» führt die Hitparade an1968 – die Beatles führten gerade mit «LadyMadonna» dreizehn Wochen lang dieSchweizer Hitparade an – begegnete Cellierin Bukarest dem jungen Panflötisten Gheorghe Zamfir. Er war bezaubert von des-sen Ausdruckskraft. Doch als der Musikersich anschickte «sein Talent in einem Caféim sanktgallischen Hölzlisberg zu verspie-len», wurde Cellier energisch und beorderteihn zu sich in die Westschweiz. Mit weitrei-chenden Folgen: In der Kirche von Cully VDspielten die beiden innert weniger als einerStunde eine Langspielplatte ein, «Flûte dePan et Orgue ». Zamfir mit der Panflöte, Cel-lier an der Orgel. Die gepressten 2000 Plat-ten reichten nirgendwo hin. Verkauft wurdenvom Tonträger mit der bisher unbekanntenund von Plattenfirmen als «kommerziell un-sinnig» beurteilten Instrumentenpaarung 1,5Millionen Stück. Cellier und Zamfir tra-fen rund um den Globus den Nerv der

... mal mit Zamfir in Australien (1977), die Filmmusik zu «Picnic at Hanging Rock» im Gepäck.

... und heute immer noch Seite an Seite – mit Blick in die Fotoalben über ein Leben voller Reisen. →

Page 4: Bulletin 55 September 2012 Cellier Layout 1 - variant5.ch · Zamfir und Ennio Moricone («Once upon a time in America»). Grammy für archaische Klänge Zur gleichen Zeit schwärmte

Zeit. Selbst «Picnic at Hanging Rock»(Peter Weir, 1975), der Meilenstein der

australischen Kinogeschichte, der Film, derdie Kluft zwischen den europäischen Sied-lern und den Mysterien des alten Australienszum Gegenstand hat, baut auf die Musik, dieCellier und Zamfir in Cully «erfunden» hat-ten. Australien applaudierte. Die Konzertsäle«down under» waren voll. Und Zamfir, dergerne den einsamen Schäfer mimte, hob ab.Zamfir und Cellier. Zamfir und James Last.Zamfir und Ennio Moricone («Once upon atime in America»).

Grammy für archaische KlängeZur gleichen Zeit schwärmte Cellier in sei-nen Sendungen vom Zauber bulgarischerChöre, veröffentlichte ein Album namens«Le Mystère des Voix Bulgares» (1975) undstillte damit den Hunger jener, die sich nacharchaischer, unverdorbener Musik sehnten.Zwar legte Cellier von Beginn weg dar, wiedie Chöre aus Tolbuchin, Sofia und Plovdivdas archaische Liedgut ganz avantgardistischund kunstvoll modernisierten und die Sym-biose von Altem und Neuem das eigentlichBezaubernde sei. Doch das Auditorium ig-norierte den Hinweis, wähnte sich lieber ineine unschuldige Welt mittelalterlicher To-nalität zurückversetzt. Weil sich Cellier inseiner Freizeit ganz der Musik widmenwollte und er sich im Musikbusiness alsAmateur sah, übertrug er schliesslich Pro-duktion und Vertrieb Warner Brothers, Poly-gram und Nippon Columbia. Der Erfolgblieb nicht aus: Für das Album «Le Mystèredes Voix Bulgares – volume II» wurde Cel-

lier 1990 in Los Angeles der Grammy-Awardverliehen. «Le Mystère» tourte in der Folgeum den Erdball, derweil im Heimatland derChöre die sozialistische Gesellschaftsord-nung zerfiel – nicht mysteriös sondern rasant.

Ein MisstonEin Lebenswerk aus lauter Minne und Wohl-klang? Nein, sagt Marcel Cellier. Er kennewie jeder Mensch auch die Enttäuschung.Nicht verdaut hat er, wie sehr sich ihnen ge-genüber Gheorghe Zamfir entfremdet hat.Der Musiker balanciert heute auf demschmalen Grat zwischen Genie und Grös-senwahn, ist getrieben von der «Bestim-mung», die Welt mit seiner Panflöte von«satanischen Klängen» zu befreien. Und erleidet daran, dass sein materieller Reichtumzerronnen ist und neigt deshalb dazu, sichselbst als Prototypen der «ausgebeutetenDiamantenmine» zu sehen.Verwunderliches geschieht schliesslich inder Welt des Gesangs: Der Frauenchor desStaatlichen Radios und Fernsehens Bulgari-ens entschied Mitte der Achtzigerjahre kur-zerhand, sich fortan «Le Mystère des VoixBulgares» zu nennen und so den Rücken-wind zu nutzen, der Cellier und seinerSammlung zugedacht war, die ja verschie-dene Chöre einschloss. Cellier nimmts ge-lassen. Der Entdecker weiss, dass sichEntdecktes manchmal verändert und ein Ei-genleben entwickelt. Und die Sängerinnenwissen, dass ihre Entdeckung auch auf hei-matlichem Boden die Wahrnehmung vonMusik verändert hat: Zuweilen klingt Folklore für Bulgarinnen und Bulgaren dann

besonders echt, wenn sie so tönt, wie derihnen zugeneigte Cellier sie hört. Chordiri-gentin Dora Hristova sagte es heute so:«Ohne Cellier wäre unser Chor nicht, was erheute ist. Und ohne Chor wäre Cellier wohlnicht geworden, was er wurde.»

Nachtrag. – War die bezaubernde musikali-sche Symbiose aus Archaischem und Avant-garde vielleicht doch nur ein wohlgefälliges,kommunistisches Propagandaprodukt, wiedies hin und wieder einzelne Kritiker Celliervorwerfen? Kaum. Heute – zwei Jahrzehntenach dem Fall der sozialistischen Gesell-schaftsordnung – ist nicht zu übersehen, wiesehr Folklore in Osteuropa Mittel zum Aus-druck von Identität geblieben ist. In Bulga-rien fällt auf: Die Musikgymnasien für Na-rodna Musika boomen. In Grundschulen ge-niesst Gesang hohen Stellenwert. Und schla-gen etwa in Targoviste alte Meister undjugendliche Talente eine «Brücke zwischenden Generationen», wirken jeweils Hundertemit. Der Westen könnte – würde er dies wol-len – lernen, dass Musik, insbesondere dasLied, vielerorts in Osteuropa der eigentlicheKulturträger ist, unabhängig vom flüchtigenCharakter des jeweiligen Regimes.

Der Beitrag stützt sich auf persönliche Gespräche des Autorsmit Marcel und Catherine Cellier. Die dargestellten Faktensind von Celliers geprüft und die Zitate autorisiert worden.Bildnachweis: Die Aufnahmen stammen aus dem Privat -archiv von Catherine und Marcel Cellier. Seite 3 unten: MarcLettau. Seite 4: Verlagsbild.

→ Der Film auf den Spuren von Marcel und Catherine CellierSeit März 2012 gibt der neue Dokumen-tarfilm «Balkan Melodie» Einblick in dieLebens- und Liebesgeschichte von Mar-cel und Catherine Cellier. Regisseur Ste-fan Schwietert folgtim Film nicht nur denCelliers, sondern be-gibt sich auf Spuren-suche nach den ost-europäischen Welt-musikstars von da-mals und lässt denReichtum ihrer Mu-sik erneut aufleben. Dank den Begegnun-gen mit dem Panflötenspieler GheorgheZamfir und den Sängerinnen des Chores«Le Mystère des Voix Bulgares» wird derFilm selbst zu einem Stück Zeit-geschichte. Er macht begreifbar, wieVolksmusik im Wandel der Zeit gespielt,geschätzt, vereinnahmt, vermarktet,verändert und verworfen wird. AktuelleSpielorte unter: www.cineman.ch/movie/2012/BalkanMelodie/

Der Schweizer Schriftsteller Nicolas Bou-vier (1929-1998) hat wohl wie kein anderereiner ganzen Generation von Weltenbumm-lern und namenlosen Auswanderern, die wieer an der Enge seiner Heimat litten, eineStimme gegeben. Bouviers Schlüsselwerk«Die Erfahrung der Welt» schildert vorder-gründig eine Reise, die der Autor 1953-1954machte, nachdem er bereits 1951 ein erstesMal in Richtung Orient aufgebrochen war:von Genf via Belgrad nach Istanbul undweiter in den Iran und nach Afghanistan.Hintergründig ist es ein Werk über dasReisen als Weg zur Selbsterkenntnis undüber das Reisen, das das Risiko in sich trägt,den Reisenden immer auch ein bisschen zuzerstören. Bouvier war ein Reisebesessener:«Mit acht zog ich mit den Fingernägeln denLauf des Yukons in die Butter meines But-terbrotes. Ich wartete bereits auf die Welt:Aufzuwachsen und abzuhauen.»

«Die Erfahrung der Welt», Originalausgabe1963. Neuauflage bei Lenos Verlag, Basel.

Literatur einer Zeit, die das Reisen entdeckt

ВАРИАНТ 54