Burch Dissertation Jan 2014

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Formen wirtschaftlicher Praktiken Globalisierung und Informalität am Beispiel von Lima, Peru - Netzwerkstrategien in „Gamarra“, einem internationalen Textilzentrum - Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vorgelegt von Jeannette Burch von Sarnen, Obwalden am 12. November 2012 Erstgutachter/in: Prof. Dr. Rudolf Stichweh Zweitgutachter/in: Prof. Dr. Boris Holzer Datum der Disputation: 18. Juni 2013

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Formen wirtschaftlicher Praktiken

Globalisierung und Informalität am Beispiel von Lima, Peru

- Netzwerkstrategien in „Gamarra“, einem internationalen Textilzentrum -

Dissertation

zur Erlangung der Doktorwürde

der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der

Universität Luzern

vorgelegt von

Jeannette Burch

von Sarnen, Obwalden

am 12. November 2012

Erstgutachter/in: Prof. Dr. Rudolf Stichweh

Zweitgutachter/in: Prof. Dr. Boris Holzer

Datum der Disputation: 18. Juni 2013

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich meiner Familie für die anregenden Gespräche und die emotionale Unter-

stützung danken; insbesondere auch meiner Mutter für das abschliessende Korrekturlesen. Mein

Dank geht ebenfalls an meinen inzwischen verstorbenen Grossvater. Er interessierte sich bis zu sei-

nem letzten Tag immer für meine Studien. Sein starker Wille, seine Bescheidenheit und Kreativität

beeindrucken mich zutiefst. In diesem Sinne danke ich auch meinen peruanischen „Familien“, Freun-

den und Comunidades. Ohne sie wäre diese Arbeit nie zustande gekommen. Mein Dank geht selbst-

verständlich auch an die wissenschaftlichen Betreuer, den Erstgutachter, Prof. Dr. Rudolf Stichweh

und den Zweitgutachter, Prof. Dr. Boris Holzer.

Abstract

In der vorliegenden Doktorarbeit wird der metropolitante Raum Lima, Peru als Differenzierungsvariante der

Weltgesellschaft erörtert. Dabei werden wirtschaftliche Praktiken, die aus Sicht des Kapitalismus deviant sind,

aufgeschlüsselt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf verschiedenen Formen des Klientelismus, die kommunal ver-

wurzelt sind. Diese Praktiken sind fähig, mit den modernen, von aussen herangetragenen modernen Strukturen

umzugehen. Dabei demonstriert die Untersuchung, wie ein international erfolgreiches Textilkonglomerat, Ga-

marra, funktioniert.

Da klientelistische Kommunikation keine Verbindung zu Politik/Recht herstellt, sind die verschiedenen Funkti-

onssysteme in Lima nicht miteinander verbunden. Einerseits lässt sich eine entkoppelte Parallelgesellschaft

beobachten, andererseits ist die peruanische Variante perfekt mit Erwartungen von Seiten der Weltgesellschaft

kompatibel. Peru ist eine Differenzierungsvariante, die sich als Netzwerkgesellschaft reproduziert. Insofern das

Staatliche kaum fähig ist, die Rigidität des Kapitalismus zu beschränken, macht Gamarra vor allem eines sicht-

bar, nämlich dass kommunal-soziales Denken sehr wichtig ist.

In this Ph.D. thesis the metropolitan area of Lima, Peru is going to be discussed as a variant of world society by

empirically breaking down economic practices which are deviant from a capitalist point of view. The emphasis

thereby is on different forms of clientelism, which are communaly based. These practices manage to work up

the local inability to deal successfully with modern structures in functional diverse spheres. By doing so the in-

vestigation demonstrates how an international successfull textile conglomerate, called Gamarra, works.

Since clientelistic communication establishes no links to politics/law, the function systems are not connected

amongst themselves in Lima. On the one hand a decoupled parallel society can be detected. On the other hand

the Peruvian variation is compatible with world society perfectly. Peru is a network society. Due to the political

inability of limiting the capitalism’s rigidity, Gamarra shows above all, how important communal-social thinking

is.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung .................................................................................................................................. 6

2 Das Problem der Korruption und soziologische begriffliche Alternativen ................................... 13

2.1 Einheit und Vielfalt in der Weltgesellschaft ......................................................................... 16

2.2 Konzepte zur Beschreibung des lokalen Umgangs mit Globalität .......................................... 21

2.2.1 Formal und informal, eine interdisziplinäre Unterscheidung .................................................... 21

2.2.2 Das Konzept der Patronage als Gegenbegriff zur modernen Gesellschaft ................................ 35

3 Qualitative Methodenkombination .......................................................................................... 41

3.1 Teilnehmende Beobachtung als Weg zu einer Variation in der Weltgesellschaft ................... 45

3.2 Das Experteninterview: Schlüssel zu Betriebs- und Kontextwissen ....................................... 50

3.3 Auswertung oder theoretisch-empirische In-Formation ....................................................... 54

4 Der Umgang mit Politik als Ausgangsproblem ........................................................................... 56

4.1 Partielle Anschlüsse an moderne politische Kommunikation................................................ 57

4.2 Korruptionssemantik: Informalität innerhalb und jenseits von Netzwerken ......................... 64

5 Gamarra, das grösste Textilkonglomerat Lateinamerikas im Rahmen neuerer wirtschaftlicher

Entwicklungen ............................................................................................................................ 82

6 Informale Varianten der Verarbeitung politischer Instabilität in Gamarra.................................. 93

6.1 Leistungsformen der Patrons: Patronage als funktionales Äquivalent zu Vertrag, Zertifikat und

Besteuerung ............................................................................................................................ 96

6.1.1. Politische Funktionen................................................................................................................ 96

6.1.2. Erzieherische Funktionen als Wissensvermittlung und kommunal, historische Bezüge ........ 106

6.1.3. Wirtschaftliche Funktionen: Organisationskommunikation und eine Art von Kredit ............ 119

6.2 Netzwerkartige Organisationssysteme ............................................................................... 138

6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen ..................... 138

6.2.2 Arten der Vernetzung einflussreicher Patrons innerhalb Gamarras ....................................... 178

6.2.3 Berufsverbände: Die Logistik zwischen Formalität und kommunalen Erwartungen .............. 194

7 Karriereschritte kommunal-interner und -externer Patrons: Drei Arten von

Unternehmensnetzwerken mit Anschluss an die formale Weltwirtschaft ................................. 210

8 Konfliktmechanismen ........................................................................................................... 251

8.1 Patronageartige Konfliktmechanismen ...................................................................................... 251

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8.2 Arbeitsrechtliche Konfliktmechanismen: Juristische Patronage und die auffallende Bedeutung

des Verfassungsgerichtes ................................................................................................................. 269

9 Verortungen einer Parallelwelt in der Theorie der Weltgesellschaft ......................................... 299

10 Schlusswort: „Vinimos de la chacra“ ...................................................................................... 335

11 Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 347

12 Abbildungsverzeichnis .......................................................................................................... 365

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1 Einleitung

Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende.

Nach Nietzsche

Wie funktioniert ein Wirtschaftszentrum in einer Umgebung, in der kaum an die politischen Erwar-

tungen des Landes angeschlossen wird? Hatte der frühe Sartre recht? Können politische Institutionen

durch freundschaftliche ersetzt werden?

Die vorliegende Arbeit erörtert wirtschaftliche Praktiken in Lima, Peru, die aus der Sicht des Kapita-

lismus abweichend sind. Nichtkapitalistisches Wirtschafshandeln fällt insbesondere in der Alltags-

sprache schnell unter den negativ bewerteten Sammelbegriff „Korruption“. Das erweist sich als Er-

kenntnisbeschränkung, lokale Sozialzusammenhänge zu verstehen. Diese Untersuchung interessiert

sich nicht für die Ursachen der Korruption, sondern betrachtet Korruption als Diskurs. Die Analyse

versucht, wirtschaftliche Praktiken empirisch aufzuschlüsseln, um verschiedene nichtkapitalistische

Formen wirtschaftlichen Handelns in einer Region in der Weltgesellschaft zu dokumentieren. Im Fo-

kus steht dabei die Erörterung des Zusammenhanges zwischen globalen Erwartungen und lokalen

Wirtschaftspraktiken. Es geht nicht darum, eine Regionalkultur im Zentrum oder in der Peripherie der

Weltgesellschaft zu verorten; vielmehr leistet diese Arbeit einen Beitrag dazu, angesichts der globali-

sierten Gesellschaft Instrumente zur Beschreibung regionaler Sozialzusammenhänge zur Verfügung

zu stellen. Es ist geradezu erstaunlich, wie ungenau die Literatur nichtkapitalistische Wirtschaftsprak-

tiken und somit Verhältnisse, in welchen ein grosser Teil der Weltbevölkerung arbeitet, versteht.

Untersuchungen mittels der Begriffe wie Kultur und Mentalität brachten zu vereinfachte Beobach-

tungen bezüglich regionaler Unterschiede hervor. Sie waren gemäss Luhmann (1995: 8ff.) sowohl

wissenschaftlich als auch politisch wenig ergiebig.

Die vorliegende Studie setzt sich insbesondere in Kapitel 2 mit verschiedenen Sozialtheorien ausein-

ander. Sie entscheidet sich, Begriffe der Systemtheorie von Luhmann zu verwenden, um global ver-

gleichbare Ergebnisse zu erhalten. Globale Unterschiede werden unter Kapitel 2.1 als Einheit und

Vielfalt in der Weltgesellschaft erörtert. Um Varianten des lokalen Umgangs mit Globalität zu erfas-

sen, führt die Studie als nächstes die Unterscheidung formal und informal ein. Informalität ist ein

wichtiges Konzept, das in vielen Disziplinen verwendet wird. In der Literatur finden sich verschiedene

Verständnisse von Informalität. Diese werden vorgestellt und schliesslich in einem Konzept zusam-

mengefasst. Informalität beschreibt weitgehend verborgene Praktiken, welche jedoch das Aufrecht-

erhalten der Formalstruktur ermöglichen. Informale Institutionen sind im Gegensatz zur global an-

schlussfähigen Formalität historisch in Lima gewachsen und reproduzieren sich bis heute in Bezug auf

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Formalität. Eine Region kann nur verstanden werden, wenn sowohl informale als auch formale Prak-

tiken und deren Bezug aufeinander beobachtet werden. Ein weiteres Konzept, welches sich beson-

ders eignet, um informale Wirtschaftspraktiken detailliert zu beschreiben, ist das Konzept von Patro-

nage. Diese Arbeit versucht im höchsten Masse, gesellschaftliche Praktiken ernst zu nehmen, um

anhand dieser neuartigen Kombination Einheit und Variation innerhalb der Weltgesellschaft ver-

ständlicher zu machen. In unserer globalisierten Welt basiert ein grosser Teil wirtschaftlicher Kom-

munikation auf informal-persönlichen Erwartungen. Dennoch konzentriert sich unser Wissen haupt-

sächlich auf die leicht zugänglichen Daten der offiziellen, formalisierten Welt.

Um solche Sozialzusammenhänge zu diskutieren, legt die Erörterung den Fokus auf einen wirtschaft-

lich besonders agilen Stadtteil Limas: „Gamarra“, das grösste Textilkonglomerat Lateinamerikas. Das

Cluster besteht aus über 25‘000 Mikro- und Kleinunternehmungen und erwirtschaftet jährlich einen

offiziellen Umsatz von 1200 Mio. US$. Beinahe alle Unternehmer in Gamarra besitzen einen nationa-

len Migrationshintergrund. Dies gilt praktisch für das gesamte urbane Ballungsgebiet, welches 1535

als Hauptstadt des spanischen Viezekönigreiches gegründet wurde und heute über acht Millionen

Einwohner zählt. Drei Viertel der Bevölkerung sind Migranten oder Kinder von Migranten aus dem

Landesinneren, was Lima zu einer Migrantenstadt macht. Dennoch sieht sich die Stadt laut (de Gon-

zales et al. 2011, S. 137) mehr mit dem Ausland als mit dem Rest des Landes verbunden.1 Sämtliche

Güter werden importiert. Doch Lima ist nicht mehr nur eine administrative Stadt wie zur Zeiten ihrer

Gründung. Lima ist eine produktive Stadt. Das Gebiet „Gamarra“ ist der Motor der peruanischen

Textilwirtschaft, wobei die Textilindustrie der bedeutendste Bereich des sogenannten nicht-

traditionellen Exportsektors ist. Nur der nicht-tradionelle Export generiert langfristige Arbeitsplätze;

die Erforschung der Alltagsstrategien innerhalb dieses Bereichs ist also besonders wertvoll. Wie funk-

tioniert ein solch erfolgreiches Zentrum?

Obwohl Gewalt in Gamarra kaum sichtbar ist, erschwert die tägliche „Kleinkriminalität“ in manchen

Teilen Gamarras die Forschung. Es erklärt jedoch kaum, wieso wissenschaftliche Forschung geradezu

blind für diese zentralen Kommunikationszusammenhänge war. Vertrauen muss tiefgründig erarbei-

tet werden. Meine Feldforschung erörtert Kapitel 3, welches mit dem Feldzugang beginnt. Mehrere

Türöffner kannte ich bereits seit Jahren. Erste Kontakte knüpfte ich anlässlich eines halbjährigen Auf-

enthaltes im peruanischen Hochland im Jahre 2002. Ein vertrauensbildender Mechanismus war mei-

ne Mehrsprachigkeit. Ich beherrsche nicht nur Spanisch sondern auch die indianische Sprache Que-

chua. So war es möglich, in Gamarra eine teilnehmende Beobachtung in einem Kleinunternehmen

durchzuführen und insgesamt zwölf Unternehmer dieses Textilclusters eingehend zu interviewen.

Hinzu kommen sieben Leitfadeninterviews mit peruanischen Experten aus dem Bereich der Wissen-

schaft, Wirtschaft und dem Rechtswesen. Jedes Interview dauerte gegen eine Stunde oder mehr; mit

1 Siehe zu den Angaben hinsichtlich Lima: de Gonzales et al. 2011.

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gewissen Personen führte ich zudem bis zu drei verschiedene Leitfadeninterviews durch, so dass

diese Studie auf einer mehrmonatigen teilnehmenden Beobachtung und auf über zwanzig qualitati-

ven Interviews basiert. Die Menschen und ihre Problemlösungsstrategien stehen im Zentrum dieser

Arbeit. Ich möchte die Teilnehmer des Feldes auch in ihren eigenen Worten „auftreten“ lassen, wes-

halb ich direkte Zitatpassagen übersetzte und in die Argumentation einfügte. Die spanische Original-

fassung setzte ich in eine Fussnote. Die Namen aller Interviewten wurden anonymisiert und durch

willkürliche andere Namen ersetzt, um wie versprochen die Anonymität der Personen zu wahren.

Der Kern des Ausgangsproblems dieser Untersuchung ist von politischer Art. Als ich in früheren Stu-

dien Limas Korruptionsdiskurs untersuchte, entdeckte ich, dass der Staat in Lima schwach ist, bzw.

dass Limas Bewohner und Bewohnerinnen meist nicht formal an den politischen Erwartungszusam-

menhängen des Landes anschliessen. Kapitel 4 beschreibt den Umgang mit modernen staatlichen

Erwartungen. Eine systematisierte Analyse des politisch-wirtschaftlichen Korruptionsdiskurses zeigt,

welche wirtschaftlichen Praktiken die Teilnehmenden als widersprüchlich zum lokalen Wertesystem

erachten. Eine derartige Sichtweise auf Limas Korruptionsdiskurs verdeutlicht, wie und wann an mo-

derne staatliche Kommunikation in Lima angeschlossen wird und macht bereits ersichtlich, dass in

Lima mehrere Varianten der Informalität koexistieren. Die Arbeit geht im Hauptteil der Frage nach,

wie in Lima das Problem der lokalen Instabilität des politischen Systems durch andere Sozialbereiche

kompensiert wird.

Während in Kapitel 5 Gamarra als eines der bedeutendsten Textilcluster Lateinamerikas im Rahmen

gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen in Peru diskutiert wird, beschreibt Kapitel 6, wie vernetzte

Patronagebeziehungen die politische Instabilität in Lima grösstenteils verarbeiten. Das Unterkapitel

6.1 bearbeitet die verschiedenen Leistungsfunktionen von Seiten der Patrons. Es nimmt immer wie-

der Bezug auf die kommunalen, historisch gewachsenen Dorfstrukturen, auf welchen diese Patrona-

gen basieren. Die Leistungen der Patrons konzentrieren sich auf wirtschaftliche Praktiken. Zentral

sind jedoch auch erzieherische sowie politische Funktionen, vor allem bezüglich physischer Sicher-

heit. Eine wichtige Stellung nimmt hinsichtlich Erziehung und wirtschaftlicher Organisationskommu-

nikation die Beschreibung kommunaler Erwartungen ein; Kommunen sind in ihrem Kern erstaunlich

inklusiv gegenüber Fremden und gleichen in dieser Hinsicht entfernt modernen Organisationen. In

Gamarra stiess ich jedoch nicht auf einen einzigen Arbeitsvertrag. Patronage ersetzt Verträge, Zertifi-

kate und zum Teil auch Besteuerung. Es gibt in Gamarra zwar moderne Grossbereiche wie Politik,

Wirtschaft, Gesundheits-, Erziehungs- und Rechtwesen usw., aber Wirtschaft und Recht sind zum

Beispiel in Folge mangelnder Verträge kaum miteinander verbunden. Ein zweiter interessanter Punkt

betrifft den Umgang mit enttäuschten Erwartungen. Enttäuschungen werden in Gamarra nicht im-

mer normativ gehandhabt. Nichts erstaunte mich mehr als wie selbstverständlich und stoisch grösse-

re Diebstähle hingenommen werden. Die Verhältnisse sind zum Teil unerwartet kognitiviert. Dieser

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interessante Punkt wird im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Funktionen von Patrons aufgegriffen

und dann in Kapitel 8 in Hinsicht auf Konfliktmechanismen vertieft.

In Kapitel 6.2 geht es um Unternehmensnetzwerke verschiedenster Art. Zuerst wird die Reproduktion

kommunal-vormoderner Erwartungszusammenhänge fundiert und die Vernetzung verschiedener

Patronageverhältnisse genauer erörtert. Diese Netzwerke schaffen es, die lokale Nichtberücksichti-

gung staatlichen Kommunizierens grösstenteils erfolgreich zu kompensieren und sich auf informale

Art, Zugang zur Globalität zu verschaffen. Im nächsten Unterkapitel werden Zusammenschlüsse von

Patrons und eine übergreifende Assoziation einflussreicher Patrons untersucht. Es besteht ein laten-

ter Konflikt auf Ebene der Patrons. Diese Spaltung wird später wieder aufgegriffen, wenn auch Sets

von Erwartungen ausserhalb der Gamarra betrachtet werden. Als besonders interessant erachtet das

dritte Unterkapitel die Genese eines Berufsverbandes, welcher aus selbständigen Trägern besteht.

Der Verband ist als Organisation mehrfach an Formalität anschlussfähig, konnte jedoch nur aufgrund

kommunaler Strukturen ins Leben gerufen werden. Dorfstrukturen werden nicht nur im Rahmen von

Netzwerk- und Patronagestrukturen, sondern auch im Rahmen von Organisation reproduziert.

Kapitel 9 geht der Frage nach, wie man in Gamarra Karriere macht und wie man ein Patron wird,

welcher als Vermittler zwischen regionalen Erwartungszusammenhängen und globalen Erwartungen

steht. Während in Kapitel 6.2 informale internationale Wirtschaftszusammenhänge erörtert wurden,

betrachtet Kapitel 9 formale Anschlüsse an die Weltwirtschaft. Im Fokus sind globale Unternehmens-

ketten und die Kommunikation mit ausländischen formalen Firmen. Erörtert wird jedoch auch der

Anschluss an das formale Finanzwesen. Unterschieden werden drei Arten des Anschlusses an formale

Weltwirtschaft. Dabei wird klar, dass die Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie einge-

führt werden muss. Nur so können komplex organisierte Unternehmensnetzwerke verstanden wer-

den. Die Erforschung von Organisation darf deren Hinterbühnen nicht ausblenden. Diese Arten von

Unternehmensnetzwerken werden in Kapitel 9 mit organisationsinternen Arten von Patronage in

Bezug gebracht, wenn nichtkapitalistische Praktiken auch ausserhalb von Mikro- und Kleinunterneh-

men erörtert werden.

Kapitel 8 analysiert Konfliktmechanismen. Diese Erörterung bildet ein Schwerpunkt. Das Kapitel glie-

dert sich in zwei Teile. Es beginnt mit patronageartigen Konfliktmechanismen und schliesst mit recht-

lichen Möglichkeiten. Patronagesysteme sind keine Konfliktsysteme. Das erläutert das erste Unter-

kapitel. Patronagen ersetzen zwar in vielen Konstellationen den Staat durch funktional äquivalente

Normen; doch es ist geradezu erstaunlich, wie kognitiviert diese Verhältnisse sind. Gründe dieser

Kognitivierung haben sowohl mit der Reproduktion kommunaler Erwartungen als auch mit mangeln-

den Mitteln zu tun. Kommunale Strukturen sind imstande, nicht nur normative Erwartungen zu stabi-

lisieren, sondern wirken auch kognitivierend. Gewalt kommt nicht zum Zug, wenn gewisse Erwartun-

gen nicht eingehalten werden; man konzentriert sich auf die Konkurrenz und entscheidet sich gegen

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den Konflikt. Einflussreiche Patrons betonen immer wieder, dass alle in Gamarra, das heisst, auch all

ihre Arbeiter und Unterakkordanten, frei seien. Jeder Unternehmer ist gewissermassen selbständig,

auch wenn er in einem Netzwerk oder gar in mehreren Netzwerken operiert. Patronageverbände

gleichen in dieser Hinsicht grossen Arbeitsverbänden. Verantwortung wird abgegeben und in Selbst-

verantwortung gewandelt. Kontrolle verliert dabei etwas an Bedeutung; gefragt sind Selbständige,

die ihre Kreativität und ihr Vermögen, Probleme zu lösen, immer wieder neu erarbeiten und es quasi

in das Unternehmensnetzwerk einspeisen. Bei gewissen Verstössen fehlen den Arbeitgebern aber

zuweilen die Mittel, um an der enttäuschten Erwartung festzuhalten und diese durchzusetzen. Beide

Aspekte von Kognitivierung beobachtete ich in diesem Wirtschaftszentrum. Trotz oder gerade wegen

dieser teilweisen Kognitivierung der Verhältnisse wird in diesem Textilzentrum erfolgreich produziert

und der internationalen Konkurrenz stand gehalten.

Das zweite Unterkapitel legt den Fokus auf rechtliche Konfliktmechanismen. Gewisse Arbeiter und

Arbeiterinnen eines „speziell“ organisierten Bereichs der Gamarra versuchten es, an rechtlicher

Kommunikation anzuschliessen. Die Erörterung startet mit Fällen aus dem Textilsektor; reflektiert

jedoch auch strukturell äquivalente Probleme ausserhalb Gamarras. Um mangelnde arbeitsrechtliche

Konfliktmechanismen zu verstehen, bedarf es einer eingehenden Untersuchung der rechtsinternen

informal / formalen Erwartungszusammenhänge. Die Inklusionsbedingungen des Rechtssystems sind

hoch und basieren auf Patronage. Auch das Rechtswesen kommt ohne informale Hinterbühnen nicht

aus. Mehr und mehr weitet sich die Perspektive auf grössere Zusammenhänge, die in Gamarras Um-

welten liegen. Dabei wird auch eine besondere Bedeutung der Verfassung beobachtet. Kurz ange-

sprochen werden ferner Folgeprobleme mangelnder Konfliktmechanismen. Das Familiensystem ist in

Lima zuweilen stark belastet. Fehlende Bezüge zum Recht begrenzen die Konfliktmechanismen;

zugleich ist die Gesellschaft zu komplex, als dass die Familie wirtschaftliche Konflikte lösen könnte.

Kommunale Institutionen wirken jedoch integrierend und verhindern zugleich die Politisierung von

Konflikt. Genaue empirische Daten bezüglich Familienkonflikte wurden jedoch nicht erhoben; es

würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Somit komme ich zum letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit. Dieses befasst sich mit der Verortung

der Resultate in der Theorie. Der Nachweis patronageartiger Beziehungen im peruanischen Rechts-

wesen ist ein Indiz, dass in Lima klientelistische Verhältnisse auch ausserhalb Gamarras bestehen.

Kapitel 9 beschäftigt sich eingehend mit der Frage der Generalisierung und der globalen Vergleich-

barkeit. Das Kapitel 9 systematisiert weitere unkonventionelle Wirtschaftspraktiken ausserhalb Ga-

marras und jenseits der vielen Mikro- und Kleinunternehmen, welche die Mehrheit der arbeitstätigen

Personen Perus inkludieren. Der eigene Fall muss in der Theorie der Weltgesellschaft verortet wer-

den und sich fragen, inwiefern gewisse unkonventionelle Praktiken sich auch in anderen Regionen

bewähren. Das Problem der Generalisierung beginnt bereits an der Grenze des Textilclusters „Ga-

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marra“. Um sich versuchsweise mit Fragen der Staatlichkeit, welche sich bereits der Philosoph Sartre

und der Wirtschaftsinstitutionalist North stellten, auseinander zu setzen, müssen auch nichtkapitalis-

tische Wirtschaftspraktiken ausserhalb Gamarras beachtet werden. Im übrigen Lima existieren eben-

falls kaum längerfristige Arbeitsverträge. Weitere Varianten von klientelistischen Verhältnissen basie-

ren jedoch weniger auf kommunalen Erwartungen. Unterschieden wird Gamarras „kommunale Pat-

ronage“, die Mikro- und Kleinunternehmen strukturiert, erstens von der „organisationsbereichsin-

ternen Patronage“, die in wirtschaftlichen Grossunternehmen vorzufinden ist, und zweitens von der

„betriebsübergreifenden Patronage“, welche zwischen zwei Organisationen des gleichen Funktions-

bereiches stattfindet und vor allem im Gesundheits- und Erziehungswesen Probleme der Karrieresuk-

zession löst. Ferner kommt eine „generalisierte Art von Patronage“ hinzu, die als Zweckfreundschaft

daher kommt. Sie ist diejenige Art, welche quasi zufällig initiiert wird und deshalb wohl am wenigsten

„stark“ institutionalisiert ist. Im späteren Verlauf gleicht sie der kommunalen Variante. Man kann

deren Verlauf nicht erwarten, dennoch ist ihre Bedeutung im Alltag nicht zu unterschätzen. In der

Literatur fehlt sie jedoch komplett. Die Berücksichtigung verschiedener unkonventioneller Problem-

lösungsstrategien verdeutlicht das Besondere der kommunalen Patronage. Kommunal nicht gestütz-

te Patronage ist nicht fähig, Vertrag und funktional äquivalente Institutionen zu ersetzen; sie ergänzt

und ermöglicht diese formalen Institutionen eher. Politische Instabilität wird in Lima unterschiedlich

verarbeitet. Der Patronage auf Basis von kommunalen Strukturen kommt jedoch eine besondere

Bedeutung zu; der Grossteil der Bevölkerung erwartet diese Erwartungen. So existiert in Lima eine

Parallelgesellschaft, welche informal die Formalität ermöglicht und reproduziert. Die heutige Repro-

duktion kommunaler Dorfstrukturen ist komplex und muss im Zusammenhang mit Netzwerkstruktu-

ren, Patronagestrukturen sowie Organisationsstrukturen beachtet werden. Die Arbeit möchte die

Bedeutung dieser Begrifflichkeiten, sowie den Begriff der Informalität als auch den Begriff der Globa-

lisierung, bzw. der Weltgesellschaft durch ihre Verwendung verdeutlichen. Insofern möchte diese

Studie auch dazu beitragen, die unterschätzte Heterogenität Europas ein kleines Stück besser zu ver-

stehen.

Informalität als auch Segmentation sind komplexer und vor allem relevanter als bisher angenommen.

Die Formalität braucht die Informalität. Schon gar nicht kann Informalität als monolithischer „infor-

maler Sektor“ gefasst werden. Allen Varianten der Informalität ist gemeinsam, ein schnelles „Anpas-

sen“ an moderne Erwartungen zu ermöglichen. Diese Kompatibilität ist heutzutage notwendig, um

global als legitimer Akteur aufzutreten. Die schnelle Anpassung hat jedoch ihren Preis. In Lima beo-

bachtet man quasi paradoxerweise einen rigiden Kapitalismus als Folge der informalen, nichtkapita-

listischen Wirtschaftspraktiken. Interessanterweise wird diese Verwirtschaftlichung von den Teil-

nehmern kaum kritisiert sondern meistens als absolute Freiheit gelobt.

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Gamarra ist ein erfolgreiches Zentrum der Wirtschaft. Zum Schluss wirft die Studie die Frage auf, ob

solche Wirtschaftszentren, welche ihre Anpassung an moderne Erwartungen ohne Vorderbühne vor-

nehmen müssen, in ihrer Existenz bedroht sind. Gamarra macht jedoch vor allem eines sichtbar,

nämlich dass kommunal-soziales Denken sehr wichtig ist. Peru ist eine Differenzierungsvariante, die

sich als Netzwerkgesellschaft reproduziert.

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2 Das Problem der Korruption und soziologische begriffliche Alterna-

tiven

Nichtkapitalistisches Wirtschaftshandeln fällt schnell unter den negativ bewerteten Sammelbegriff

„Korruption“. Solche normativen Beschreibungen von Korruption weichen jedoch stark von wissen-

schaftlichen Konzeptionen ab. Die Sozialwissenschaften umschreiben Korruption oft als Netzwerk-

phänomen. Die meisten Autoren beziehen sich auf eine seit den 60er Jahren unveränderte Definition

von Nye. Nye (1967, S. 419) beschreibt Korruption als eine Grenzüberschreitung, bzw. als ein Nicht-

Einhalten der Unterscheidung von öffentlichem Amt und privater Person.2 Generell verdächtigt ein so

konstruierter Korruptionsbegriff das Politische als moralisch verwerflich, da der Begriff „öffentlich“

das öffentlich-politische Amt impliziert. Einige Politologen wie beispielsweise Scott (1969) und Anth-

ropologen wie Sissener (2001) kritisieren diese Leitunterscheidung: Die Idee des öffentlichen Amtes

ist ein westliches Konzept. Sie macht auf das Problem der Nicht-Vergleichbarkeit aufmerksam; eine

Handlungsweise gilt nur an einem Ort und zu einer bestimmten Zeit bzw. Epoche als korrupt. So exis-

tierte laut Scott (1969) in Europa bis 1850 zum Beispiel keine Trennung zwischen Amt und Person,

was damals als normal galt und folglich nicht als Korruption behandelt wurde. Obwohl der Begriff

Korruption in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in den Politik- und Wirtschaftswis-

senschaften, grosse Beachtung findet, existieren weder reichhaltige empirische Ergebnisse noch eine

allgemeingültige Definition „der“ Korruption, so lässt dieser Begriff ein auffällig breites Spektrum an

Interpretationsmöglichkeiten zu.3 Zur Diskrepanz zwischen normativ-alltagssprachlicher und wissen-

schaftlicher Beschreibung von Korruption kommt hinzu, dass Diskurs und soziale Praktiken auseinan-

der fallen. Der Begriff der Korruption ist wertend; er zählt zu den sogenannt allgemeingültigen Nor-

men der Moderne. Unverzichtbare Werte sind insbesondere effiziente Reflexionsstopps; sie gelten

unhinterfragt.4 Wertebasiertes Fremdbeobachten hindert die Beobachtung, lokale Sozialzusammen-

hänge zu verstehen. Das ist das Problem des Korruptionsbegriffes. Er erweist sich als Erkenntnisbe-

schränkung, lokale Sozialzusammenhänge zu erfassen.

Wenn es um wissenschaftliche Wahrheitsfindung geht, kann der Begriff der Korruption nur als

Selbstbeobachtungsbegriff gehandhabt werden. Ich schlage deshalb vor, den Term der Korruption

nicht als Fremdbeobachtungsbegriff sondern als Selbstbeobachtungsbegriff zu fassen. Die vorliegen-

de Arbeit interessiert sich nicht für die Ursachen der Korruption, sondern befasst sich mit Korruption

2 Die genaue Korruptionsdefinition von Nye 1967, S. 419 lautet: Korruption ist "… a behavior which deviates

from the formal duties of a public role because of private-regarding [...] pecuniary or status gains...or influ-ence". 3 Siehe dazu den Beitrag von Della Porta und Rose-Ackerman 2002.

4 Siehe zum Problem der unverzichtbaren Werte: Luhmann 2008a.

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als Diskurs. Inwiefern eine grenzüberschreitende Handlung als moralisch verwerflich gilt, ergibt sich

nur durch das Beobachten von Beobachtern, sprich durch das Eruieren der normativen Erwartungen

der Beteiligten. Die Grauzonen von korrupt / nichtkorrupt zeigen in Kapitel 4, dass staatliche Erwar-

tungen in vielen Situationen nicht erwartet werden und gewisse Grenzüberschreitungen mehr oder

weniger legitim sind. Während der Korruptionsdiskurs also das Ausgangsproblem dieser Arbeit in

Kapitel 4 verdeutlicht, eignet sich die Unterscheidung korrupt / nichtkorrupt nicht, um konventionell

/ nichtabweichend zu fassen. Ziel ist es, möglichst global vergleichbare Ergebnisse zu erhalten.

Vergleichendes Beobachten ist laut Parsons essentiell: „I do not think one can be a first-rate inter-

preter of any current social situation without comparative and evolutionary perspective nor, vice

versa, that one can be a good comparativist or evolutionist without the deepest concern for one’s

own society and the‚ meaning‘of its characteristics and trends of change“ (Parsons 1977, S. 320). Der

Begriff der Korruption bringt uns jedoch vorerst auch als Selbstbeobachtungsbegriff nicht weiter.

Da sich die Unterscheidung korrupt / nichtkorrupt für die Soziologie nicht eignet, um Sozialzusam-

menhänge global vergleichbar zu erörtern, möchte ich im Folgenden alternative Begriffe vorstellen.

Um Regionalkulturen und deren unkonventionelle Praktiken im Zeitalter einer globalisierten Gesell-

schaft sozialwissenschaftlich zu fassen, bedarf es angemessen komplexer Theorien, die Vergleichbar-

keit des Verschiedenen ermöglichen. Studien sollen global vergleichbare Resultate erzeugen, die für

Theoriebildung verwendet werden können. Auch Wissenschaftler in Lima thematisieren dieses Prob-

lem bezüglich der Beschreibung ihrer eigenen Region. Nur ein Theoretiker, José Carlos Mariátegui

(1992 (1928)), verwendete eine Makrotheorie im Jahre 1929, um die Institutionen der peruanischen

Realität mittels marxistischer Begriffe zu beschreiben. Doch die Metropole Lima ist laut des peruani-

schen Soziologen und Architekten Centeno (2004) nicht mehr mittels Klassengegensätzen fassbar.5

Ähnlich wie gewisse mächtige globale Akteure nichtkapitalistische lokale Praktiken vorschnell als

Korruption wegerklären, erfährt in Lima das Globale tendenziell eine negative Wertung. Auch diese

moralisierte Betrachtungsweise des Begriffes „global“ behindert das Verständnis von lokalen Sozial-

zusammenhängen. Centeno (2004, S. 55f) hält fest: „Man muss vorsichtig sein mit emotiven Lasten,

anhand derer in einigen Medien die Globalisierung kritisiert wird; man riskiert damit, sie [die Globali-

sierung] von unserem Alltagsleben als externen Prozess zu situieren, von welchem wir nicht Teil sind

und der uns gefährlich belauert“.6 Gesucht wird laut Centeno nach einem soziologischen Konzept,

das die Unterscheidung global/lokal nicht im Sinne der mittelalterlichen Abgrenzung von Wald/Dorf

bzw. fremd-schlecht/vertraut-gut fasst, sondern eine Theorie, welche die beiden Seiten global / lokal

verknüpft und auf alltägliche Praktiken anwendbar ist.

5 Mariáteguis Werk ist eines der meist rezipierten Werke Perus und bezeichnet sich selbst als „das Buch, wel-

ches jeder Peruaner lesen sollte“ (El libro que todo Peruano debe leer). 6 Original: "...hay que prestar atención a las cargas emotivas con que en algunos medios se suele criticar a la

globalización donde existe el riesgo de situarla como proceso externo a nuestra vida cotidiana, del cual no formamos parte y que nos acecha peligrosamente" Centeno 2004, S. 55f.

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Nicht nur die Soziologie auch die Anthropologie braucht unter anderem für das Verständnis der Regi-

on Lima komplexer gebaute Begriffe. Der peruanische Ethnologe Golte (2000) spricht von der Not-

wendigkeit, dass sich die Ethnologie komplett „umstrukturieren“ und „neu erfinden“ muss, um die

seit Beginn der 40er Jahre strukturell veränderte Kapitale Perus zu verstehen. Lima durchmischt seit

den grossen binnenländischen Migrationswellen sowohl moderne als auch gewandelte ländliche

Institutionen. Ähnlich wie Centeno sich gegen den Klassenbegriff als Leitbegriff von Theorie aus-

spricht, wendet sich der Anthropologe Huber gegen die heutzutage vereinfachten globalen Depen-

denztheorien: “Es ist nicht mehr möglich, globale Prozesse mittels Begriffen von Herrschaft von ei-

nem einzigen Zentrum über die Peripherien zu fassen; es ist die Epoche der Transition hin zum Poli-

zentrismus in einem Kontext von hoher Interaktion“ (Huber 1997, S. 7).7 Gefragt ist „interdisziplinär“

eine Theorie, welche weltweite Zusammenhänge erfasst und dabei Regionalisierung ernst nimmt. Die

vorliegende Analyse stützt sich deshalb auf den Leitbegriff „Weltgesellschaft“, auf die Unterschei-

dung formal / informal und auf die Konzeption von Patronage als eine Form gesellschaftlicher Koope-

ration.

7 Original: "Ya no es posible concebir procesos globales en términos de dominación de un solo centro sobre las

periferias; esta es la época de la transición hacia el policentrismo en un contexto de alta interacción" (Huber 1997, S. 7).

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2.1 Einheit und Vielfalt in der Weltgesellschaft

Welche Möglichkeiten existieren, um die heutige globalisierte Gesellschaft angesichts regionaler

Besonderheiten theoretisch zu fassen? Sieht man sich nach Weltgesellschaftstheorien um, findet

man drei Alternativen, die für die vorliegende Analyse in Frage kommen: Eisenstadts Konzept multip-

ler Modernen, Meyers World Polity Ansatz und Stichwehs Theorie der Weltgesellschaft.

Lassen Sie mich mit dem alltagsnahen Konzept der multiplen Modernen beginnen. Dieses formulierte

Eisenstadt in den 90er Jahren und kritisiert darin die modernisierungstheoretische Annahme einer

globalen Konvergenz. Gemäss Eisenstadt ist selbst der Westen kein einheitlicher monolithischer

Block, sondern beinhaltet verschiedene moderne Gesellschaften: "...from the beginning of moderni-

ty's expansion multiple modernities developed" (Eisenstadt 2000, S. 13). Die Heterogenität jener

multiplen Modernen ist darauf zurückzuführen, dass die vormodernen Zivilisationen einen diversifi-

zierenden Einfluss auf die in Europa entstandenen und sich ausbreitenden Modernen ausübten. Es

kristallisierte sich also eine grosse Vielfalt an modernen Gesellschaften aus, so dass die gegenwärtige

Welt aus einem Nebeneinander unterschiedlicher Typen moderner Gesellschaften besteht.8 Eine

kulturelle Konvergenz in Form einer Verwestlichung findet laut Eisenstadt nicht statt. Die Globalisie-

rung hat nichts mit Verwestlichung zu tun; ebenso wenig ist die Moderne graduell beobachtbar. Alle

Regionalkulturen der Welt sind auf ihre Art und Weise modern: "One of the most important implica-

tions of the term 'multiple modernities' is that modernity and Westernization are not identical;

Western patterns of modernity are not the only 'authentic' modernities..." (Eisenstadt 2000, S. 2f.).

Da es gemäss Eisenstadt keine „authentische“ Moderne gibt, bleibt letztlich unklar, was die Moderne

genau ausmacht und wie sich die heutige Gesellschaft von vormodernen Gesellschaften unterschei-

det. Eisenstadts heutige Sozialwelt ist strukturell gleich gebaut wie die Vormoderne, nämlich als

Patchwork verschiedenster Imperien, Völker und Konföderationen.

Schmidt (2006) hinterfragt Eisenstadts Ausweitung des Begriffes der Moderne. Es ist nicht einleuch-

tend, wieso alle zeitgenössischen Programme und Praktiken als modern zu bezeichnen sind. Das Kon-

zept der multiplen Modernen reflektiert nicht, ob das aktuelle Mexiko mehr Gemeinsamkeiten mit

dem vormodernen Mexiko aufweist oder ob das zeitgemässe Mexiko einem anderen modernen Staat

ähnlicher ist. Wenn Regionen spezifische und höchst individuelle Einzelfälle darstellen, beschränkt

8 Den Begriff der Moderne umschreibt Eisenstadt vage als kulturelles und politisches Programm, wobei er meist

den Nationalstaat als Gesellschaft fasst. Verschiedene anti- oder postmoderne soziale Bewegungen sorgen weltweit dafür, dass sich Regionen das ehemals westliche Programm der Moderne auf ihre Weise aneignen. Eisenstadt Eisenstadt 2000, S. 24 meint, "...the trends of globalization show nothing so clearly as the continual reinterpretation of the cultural program of modernity; the construction of multiple modernities; attempts by various groups and movements to reappropriate and redefine the discourse of modernity in their own new terms". Es bleibt jedoch unverständlich, wie soziale Bewegungen es schaffen, eine eigene Gesellschaft zu be-gründen.

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dies Theoriebildung, man könnte dann nur die Austauschbeziehungen zwischen den multiplen Seg-

menten beschreiben. Theorien sollten jedoch etwas zeigen, was man ohne sie nicht sieht. Gemäss

Bentley (2005) kamen Regionalstudien gerade wegen ihrer rein empirischen Vorgehensweise und der

komparativen Unmöglichkeit in Verruf. Dem Entwurf von Eisenstadt mangelt es laut Schmidt (2006,

S. 80f) an Konzeptionsmöglichkeiten gesellschaftlicher Unterschiede : "The trouble with much of the

multiple modernities literature is that it does not really tell us a great deal about what precisely these

differences consist in [...], we should be more specific about the exact nature of the differences that

we claim to exist...". Unterschiede sollen genau beschrieben und theoretisch nutzbar gemacht wer-

den. Paradoxerweise verunmöglicht gerade die generelle Überbewertung von Unterschieden die

spezifische Beschreibung des Unterschiedlichen und damit die Vergleichbarkeit zwischen verschiede-

nen Regionen.

Ein zu Eisenstadts Konzept der multiplen Moderne gegenteilig angelegtes Verständnis stellt Meyer

(Meyer et al. 2005b) mit seinem neoinstitutionalistischen Ansatz bereit. Meyer verwendet den Beg-

riff der Moderne im Singular und legt den Fokus auf die Absorption von Differenzen in der Emergenz

der Weltgesellschaft. Damit gesteht er der globalen Ebene eine Eigenlogik zu. Im Gegensatz zu Eisen-

stadt verstärkt die Weltgesellschaft gemäss Meyer die präexistierende Diversität nicht, sondern ho-

mogenisiert Differenzen.9 Meyer beobachtet in vielen Bereichen der Gesellschaft strukturelle Iso-

morphien. In den meisten Nationalstaaten findet man zum Beispiel standardisierte Lehrpläne, gleich-

förmige Gesetze zur formalen Gleichberechtigung der Frau, Programme des Wohlfahrtsstaates, rati-

onalisierte Datenerfassungssysteme usw. Diese Institutionen gelten als Beleg globaler Homogenisie-

rungstendenzen. Meyer führt die strukturelle Gleichförmigkeit auf eine gemeinsame institutionelle

Umwelt, die er als Weltkultur fasst, zurück. Man findet Banken, Flughäfen, Wissenschaftsministerien

überall auf der Welt als Folge der sich ausbreitenden Weltkultur. Die Weltkultur generiert standardi-

sierte Drehbücher mit kausaler Bedeutung und trägt diese von aussen an die Regionen heran, sodass

die globale Ebene mit ihren kulturellen Symbolen unhinterfragte Rahmenannahmen zur Verfügung

stellt. Akteure übernehmen weltweit die Scripts der Moderne und werden dadurch nicht nur kanali-

siert sondern auch konstruiert. Sämtliches Handeln ist von der Weltkultur „scripted“: „Lokale Beson-

derheiten gelten in einer universalistischen Gesellschaft als Anomalien oder Abweichungen, es sei

denn, sie würden unter Rückgriff auf allgemeine kulturelle Prinzipien gerechtfertigt" (Meyer et al.

2005b, S. 125). Da Akteure nur als modern agierende Subjekte legitim auftreten können, kann gegen

die globalen Modelle kaum Widerstand geleistet werden. Die Weltkultur ist universell, nur unter

derer Autorität können Handlungen ausgeführt werden. Die globalen Kulturmuster besitzen eine

9 Meyer et al. 2005b kritisiert mit seinem Ansatz insbesondere die Realisten, welche die Welt entweder als

anarchisch oder netzwerkförmig konzipieren. In beiden Fällen verfolgen Akteure zweckrational ihre Interessen; im ersteren Fall ohne Einmischung einer übergeordneten Autorität und im zweiten Fall weben Akteure bewusst interdependente Systeme wirtschaftlicher und politischer Konkurrenz.

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hohe Legitimationskraft. Die Weltkultur führt also zu einer weltweiten Homogenisierung. Meyers

Aussage einer weltweiten Durchschlagskraft eines globalen Kulturmusters erscheint gerade auch

angesichts der globalen Popularität des Begriffes der Korruption plausibel. Auch die Tatsache, dass

Perus Präsident kürzlich ein Gesetz verkündete, welches das Kultur-Ministerium kreierte, bestätigt

Meyers Theorie. Die peruanischen Medien waren überzeugt, durch diese Kreation das Land bald in

die Avantgarde zu führen (Agencia Trome Donnerstag, 2010). Den Neoinstitutionalismus von Meyer

könnte man jedoch mit der Existenz von Terrorismus hinterfragen. Es gibt Akteure, welche die Nor-

men der Weltkultur ablehnen. Beispielsweise wurde in Afghanistan Schülerinnen auf dem Schulweg

Säure ins Gesicht gespritzt. Dass Mädchen zur Schule gehen, steht im Widerspruch zu kommunal

gewachsenen Erwartungen. Dies ist nur ein Beispiel, dass jeder die Scripts der Weltgesellschaft ab-

lehnen kann.10 In ähnlicher Weise kritisiert (Faust 2009), dass Meyers Theorie nicht erklärt, wie sich

das Wertesystem der Weltkultur durch das Verhalten der Akteure verändern kann. Meyer macht den

unterschiedlichen Umgang mit modernen Strukturen nicht sichtbar. Gewisse Akteure akzeptieren die

Scripts der Weltkultur nicht. Die Beteiligten können auch immer „nein“ sagen. Das Offerieren einer

offiziellen Struktur impliziert zudem geradezu ein „nein“. So muss man eher davon ausgehen, dass in

der Weltgesellschaft verschiedene Positionen existieren. Die Weltgesellschaft bestünde dann in der

Opposition. Normen können nur als Alternativen offeriert werden; man kann Demokratie oder die

Verwendung von Banken jedoch auch ablehnen. Weder Eisenstadts noch Meyers Konzepte eignen

sich also, um die Gesellschaft angemessen komplex zu erfassen.

Wir wenden uns einer dritten Alternative zu, welche es erlaubt, regionale Unterschiede im Kontext

weltweiter Zusammenhänge differenziert zu behandeln. Während Meyer regionale Unterschiede

kaum beobachtet und Eisenstadt Differenzen gesellschaftsbegrenzend überbewertet, fasst Stichweh

(2006a) lokale Unterschiede als weltgesellschaftsintern produziert auf. Diese Alternative postuliert

keine Kontinuität; die Weltgesellschaft neutralisiert oder verstärkt die in ihr vorkommenden Unter-

schiede nicht stetig in eine Richtung. Der Ansatz lässt mehr Komplexität zu, weil er auf Diskontinuität

in der Emergenz weltgesellschaftlicher Strukturen abstellt.11 Stichweh (2000d) erweitert Luhmanns

Gesellschaftstheorie zu einer Theorie der Weltgesellschaft. Die moderne Gesellschaft differenziert

verschiedene Grossysteme wie das Rechts-, Wirtschafts-, Politik- und Gesundheitssystem aus. Eine

solche Form gesellschaftlicher Differenzierung, bekannt als „funktionale Differenzierung“, ist das

wichtigste strukturelle Kennzeichen der heutigen Gesellschaft. Das Operieren der Funktionssysteme

10

In Indien und Afghanistan besuchen Frauen anders als zum Beispiel in Deutschland oder der Schweiz kaum eine höhere Schule. Vgl. zu Kinderehen und Schulabbruch in Indien Agentur Neue Züricher Zeitung 2011. Siehe zum Säureangriff den Zeitungsartikel von Agentur Neue Züricher Zeitung 2008. 11

Stichwehs Entwurf schliesst wie Parsons und Luhmann an der aristotelischen Tradition an, in welcher die Gesellschaft als Sozialsystem höchster Ordnung gilt. Das Gesellschaftssystem besteht gemäss (Luhmann 1997a); (Luhmann 1987a) aus möglichen Kommunikationen und deren Zuschreibung als Handlung. Siehe zur Unterschiedlichkeit zwischen Parsons und Luhmanns Systemtheorie Stichweh 2005c.

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führt automatisch zu weltweiten Kommunikationszusammenhängen. Die Möglichkeit von Anschluss-

kommunikation definiert die Grenzen der Gesellschaft. Diese ist heutzutage global zu erwarten im

Gegensatz zu früheren Epochen, als Hunderte oder Tausende von Gesellschaften gleichgültig neben-

einander koexistierten. Die Weltgesellschaft ist somit „das einzige Gesellschaftssystem, das gegen-

wärtig in der Welt existiert“ (Stichweh, 2006, 239). Funktionale Differenzierung ist jedoch ein Pro-

zess, der Zeit beansprucht. Ihre Durchsetzung lässt sich daher graduell beobachten. Zudem wird sie

laut Stichweh in verschiedenen Varianten in der Weltgesellschaft unterschiedlich realisiert. Historisch

ältere Differenzierungsformen wie zum Beispiel Segmentation (Stämme und Chiefdoms), Stratifikati-

on (in rangungleiche Schichten) oder die Differenz nach Zentrum/Peripherie (Grossreiche) ver-

schwinden nicht, sondern werden durch die funktional differenzierte Superstruktur der Weltgesell-

schaft überlagert. Für eine Theorie der Weltgesellschaft ist es konzeptionell zwingend, "historische

Vorgegebenheiten nicht einfach als in das System der Weltgesellschaft übernommene Strukturen zu

akzeptieren, vielmehr nach der Weise zu fragen, in der dieses aktuell operierende System historische

Unterschiede reproduziert" (Stichweh 2000a, S. 32). Ähnlich formuliert dies auch Luhmann (1995, S.

7) bezüglich lokal erfolgreicher Handlungsmuster: „Wenn eine Gesellschaft daran gewöhnt ist, Kausa-

lität in personalisierten sozialen Netzwerken zu lokalisieren und Erfolge bzw. Misserfolge vom

Gebrauch dieser spezifischen Form von Kausalität zu erwarten, wird es sehr schwierig sein, an diesen

Bedingtheiten etwas zu ändern, wenn nicht als Ersatz gleichermassen handliche Kausalformen zur

Verfügung gestellt werden können“. Gesellschaft ist ein geschichtliches System mit Gedächtnis, das

bewährte kausale Handlungsformen merkt und wiederholt erwartet. Gleichwohl muss sich jede Re-

gion mit der weltgesellschaftlichen Superstruktur auseinandersetzen, wobei gemäss Luhmann

(1997a, S. 811) die funktionale Differenzierung, die Strukturen, welche regionale Konditionierung

vorgeben, nur skizzenhaft vorzeichnet. Daraus resultieren Inhomogenität sowie Diskontinuität als

strukturelle Effekte der Weltgesellschaft. Die Gesellschaft zeichnet sich durch plurale Ebenen der

Strukturbildung aus. "Die regionalen Systembildungen werden aus der Sicht des entstehenden Welt-

systems zu internen Differenzierungen..." (Stichweh 2000a, S. 32). Doch durch welche globalen Struk-

turen wird lokale Diversität diskontinuierlich reproduziert bzw. konditioniert?

Stichweh (2006a, S. 241ff.) nennt die für die Weltgesellschaft spezifischen Strukturmuster „Eigen-

strukturen“. Diese Verweisungszusammenhänge distribuieren im Gegensatz zu lokal beschränkten

Systemen weltweit Diversität: "Eigenstrukturen reproduzieren die präexistente kulturelle Diversität,

aber sie drängen sie zugleich zurück und bringen eigenständige und neuartige soziale und kulturelle

Muster hervor" (Stichweh 2006a, S. 241). Interessant, aber noch ziemlich unerforscht ist die Art und

Weise, wie verschiedene Eigenstrukturen der Weltgesellschaft mit historisch-geografischer Partikula-

rität umgehen. Inhomogenität und lokale Formen von weltgesellschaftlicher Variation verschmutzen

somit keinesfalls den Universalitätsanspruch der Theorie, sondern definieren ihren Erklärungsan-

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spruch. Neben den Funktionssystemen wie Politik, Wirtschaft, Kunst usw. zählt Stichweh weitere

Typen von Eigenstrukturen auf. In der vorliegenden Arbeit sind insbesondere formale Organisation

und Märkte von Interesse. Formale Organisationen vermitteln Kontakte weltweit und regeln die Zu-

gangsbedinungen zur Weltgesellschaft ohne regionale Besonderheiten zu berücksichtigen. Zugleich

ist die Organisation lokal situiert und bringt regionale Sonderkonstellationen nicht zum Verschwin-

den, sondern generiert neuartige regionale Kausalschemas. Dahingegen sind Märkte selbstähnliche

Sozialstrukturen und beruhen auf Beobachtungen in der Form der Konkurrenz. Durch diese Selbst-

ähnlichkeit sind lokale Märkte mit globalen Märkten kompatibel; Globalisierung ist bezüglich der

Grössenordnung des Systems indifferent. Die Form der Kopplung von lokalen und globalen Märkten

variiert jedoch regional (Stichweh 2006a). Von solchen global/lokalen Anschlusspraktiken handelt

diese Arbeit. In der empirischen Erörterung werden wir auf einige weitere Eigenstrukturen stossen.

Vorerst wird geklärt, anhand welcher Begriffe lokale Umgangsformen als Eigenstrukturen beschreib-

bar sind. Holzer (2006) bezeichnet solche Sets von Erwartungen als Formen, in denen Eigenstruktu-

ren zum Gegenstand lokaler Variation werden.

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2.2 Konzepte zur Beschreibung des lokalen Umgangs mit Globalität

Dieses Kapitel erörtert Interaktionsformen zwischen einer Region und weltgesellschaftlichen Eigen-

strukturen. Wie können Arten des regionalen Umgangs mit Eigenstrukturen, bzw. Möglichkeiten des

Anschlusses von regionalen Praktiken an weltweite Erwartungen bezeichnet werden? In der Literatur

findet man eine in unterschiedlichen Kontexten verwendete Unterscheidung: Die Begrifflichkeit von

formal und informal. „Informalität“ ist ein bedeutendes Konzept, das „interdisziplinär“ sowohl in der

Anthropologie, der Politologie, den Wirtschafts- und Organisationswissenschaften wie auch in der

Soziologie Anklang findet. Interessant ist zudem, dass der Ausdruck eine lange soziologische Ge-

schichte aufweist; bereits frühe Klassiker konzipierten die moderne Gesellschaft als doppelförmig

ähnlich im Sinne dieser Unterscheidung.

Ein zweites nützliches Instrument zur Analyse von Umgangsformen mit globalen Eigenstrukturen ist

das Konzept der Patronage. Da Patronageverhältnisse eigene Erwartungs-Sets bilden und nicht gene-

rell entweder der formalen oder informalen Seite anrechenbar sind, werden sie in einem eigenen

Kapitel erörtert.

2.2.1 Formal und informal, eine interdisziplinäre Unterscheidung

Zwischen Formalität und Informalität besteht ein asymmetrisches Verhältnis. Man muss zuerst den

Begriff der Formalität einführen, um den Begriff der Informalität erörtern zu können. Informalität ist

erst möglich, wenn es Formalität gibt, bzw. wenn klar ist, was mit Formalität bezeichnet wird. Infor-

malität ist der Gegenbegriff der Formalität. Der Begriff „Formalität“ wurde in Kapitel 2.1 vorgestellt;

er bezeichnet weltgesellschaftliche Eigenstrukturen wie die Grossysteme der funktionalen Differen-

zierung, aber auch Organisation, Markt usw. Nun geht es in einem zweiten Schritt darum, den Ge-

genbegriff der Formalität zu erörtern. In der Literatur finden sich verschiedene Verständnisse von

Informalität. Es geht im Folgenden darum, diese alternativen Verständnisse zu erörtern, um sich

schliesslich für eine Variante zu entscheiden.

1. Informalität als persönliche Beziehung in einer Organisation

Die Unterscheidung formal / informal stammt aus den Organisations- und Managementwissenschaf-

ten. Bis anhin wurde Organisation immer weberianisch als reiner Zweckverband begriffen. Erstmals

entdeckten die Wissenschaftler Roethlisberger & Dickson in den Hawthorne-Experimenten von 1924-

1932 in einem amerikanischen Unternehmen Abweichungen von formalen Organisationsregeln in

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Form von informalen Gruppen oder Cliquen.12 Informale Interaktion orientiert sich an Personen und

weniger an den offiziellen Entscheidungsprämissen; sie wird in der formalen Organisation also nicht

repräsentiert. Die Studie kommt zum Schluss, dass informale Gruppen die Arbeitsleistung der gesam-

ten Organisation steigern können. Fortan stand fest, Informalität und Formalität existieren in der

Organisation gleichberechtigt nebeneinander (Thompson et al. 2003, 1939).

"It is well to recognize that informal organizations are not 'bad', as they are some-

times assumed to be. Informal social organization exists in every plant, and can be

said to be a necessary prerequisite for effective collaboration. Much collaboration

exists at an informal level, and it sometimes facilitates the functioning of the formal

organization. On the other hand, sometimes the informal organization develops in

opposition to the formal organization. The important consideration is, therefore,

the relation that exists between formal and informal organizations" (Thompson et

al. 2003, 1939, S. 559).

Interessant ist laut Thompson also das Verständnis der Verbindung zwischen formalen und informa-

len Interaktionsmustern. Diesen Forschungsansatz realisieren darauffolgend verschiedene empiri-

sche Analysen in Bezug auf die unterschiedlichsten Organisationstypen wie beispielsweise die Dienst-

leistungsorganisation (Andrews und Barnard (1938), 1971)13, die Armee (Anonymous 1946), die Bü-

rokratie (Selznick 1943) und die Gefängnisadministration (Hayner und Ash 1939). Alle kommen zum

Schluss, dass informale Gruppierungen vorwiegend einen positiven Effekt auf die Gesamtorganisati-

on und deren Mitglieder ausüben, selbst wenn die informale Logik auch noch so unterschiedlich oder

gar der offiziellen Reglementierung entgegengesetzt ist.14

Informale Organisation bleibt ein fruchtbares Konzept und findet auch in den 60er Jahren Eingang in

die Organisationsforschung. Bensman und Gerver (1963) analysieren in einer Fallstudie „Crime and

Punishment in the Factory“ den Zusammenhang von informalen und formalen Handlungen der Fab-

rikarbeiterschaft. Die informale Ordnung regelt, wann die formalen Normen gelten und wann nicht;

12

Der Begriff „informal“ ist jedoch älter. Er ist zusammengesetzt aus dem lateinischen Präfix in- (un-, nicht) und dem Wort formal. Die Bezeichnung "formal" wurde im 16. Jahrhundert dem lateinischen "formalis" entlehnt, was "der äusseren Gestalt nach" bedeutet. Der Ausdruck "informal" hiesse in einer direkten Übersetzung somit "un-förmig" oder "keiner Gestalt entsprechend" Wiktionary 2011. 13

Barnards Ideen finden später unter dem Titel nichtlogischer Entscheidungsprozesse unter Herbert Simon Eingang in die Organisationstheorie. Siehe dazu Simon (1976) 1997, S. 129ff. 14

Anders sieht dies Firey 1948. Jener versucht, besagte empirische Studien in einer Theorie der Spaltung zu generalisieren. Der Informalität kommt dabei eine schismatische Wirkung zu. Firey gedenkt, Parsons Struktur-funktionalismus, der jedem Sozialsystem ein formales Ziel zuordnet, zu überwinden. Der Strukturfunktionalis-mus wird jedoch nicht „überwunden“, indem Firey die Ziele aller Teilnehmer berücksichtigen will und beobach-tet, wann sich diese Ziel-Systeme vom Supersystem lösen. Firey übersieht, formales und informales Handeln lässt sich im Sinne Luhmanns 2008d nicht kongruent setzten mit systeminternem / systemexternem Agieren. Wir kommen gegen Ende des Kapitels eingehender auf dieses Argument zu sprechen.

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so wird in gewissen Situationen von der Belegschaft erwartet, ein umstrittenes und offiziell verbote-

nes, jedoch effizientes Werkzeug ohne Einholung der gesetzlich vorgeschriebenen Autorisierung zur

Montage von Flugzeugschrauben zu verwenden. Mit dieser „kriminellen“ Handlung spart sich die

Organisation auf ihre Art Zeit, da die Autorisierung zwei bis drei Tage beansprucht. Möchte ein Arbei-

ter beruflich weiterkommen, muss er den semi-geheimen Gebrauch dieses Werkzeuges verstehen;

nur durch diese Kompromisslösung ist das Problem der vielfältigen und oft widersprüchlichen Ziel-

setzung innerhalb komplexer Organisationen lösbar. In diesem Fall kann nicht von einer kriminellen

Handlung die Rede sein, da informale Kontrollen den Gebrauch des besagten Werkzeugs auf not-

wendige Situationen begrenzen.15 Informalität ist also eine relativ eigenständige Ordnung, welche die

Kontinuität des Systems sichert, weshalb Informalität nichts mit Systemfremdheit zu tun hat. Die

informal-deviante Handlung ist für das System gleichbedeutend wie die offizielle Regel, gegen die sie

verstösst. "Deviant actions thus are not a separate category of actions, defiant of the central ends of

a total system, but are simply part of the totality of actions that make up the hundreds of individual

transactions in an organization" (Bensman und Gerver Israel 1963, S. 589). Bensman und Gerver ver-

binden diese Einsicht mit einer Kritik an Parsons‘ und zum Teil Mertons Strukturfunktionalismus, der

jedem Sozialsystem eine Funktion zuordnet und Devianz als Versagen von Normen in einem Sozial-

system konzipiert. Entgegen Parsons Auffassung hat ein System gemäss Bensman und Gerver nicht

nur ein Ziel, bzw. eine Funktion, wobei jedes Handeln, das gegen diese Funktion verstösst, als Dys-

funktion gilt. Deviante Handlungen sind Teil des gleichen Systems. Sie sind Konsequenzen des Kon-

flikts von vielen Zielen und Mitteln und insofern notwendig (Bensman und Gerver Israel 1963, S.

588f.).

Luhmann (1999a, 1964, S. 304ff.) führt diese Tradition bereits in seiner frühen Schrift über Funktio-

nen und Folgen formaler Organisation weiter. Neben der Einsicht, dass Abweichungen eine eigene

informale und relativ unabhängige Ordnung aktivieren, betont Luhmann, dass formal nicht legiti-

mierbares Handeln der Anpassung der Organisation an sich ändernde Umwelterwartungen dient.

Will ein Sozialsystem nach eigenen Normen bestehen, werden systemwidrige Handlungen notwen-

dig, um die unvereinbaren Erwartungen aus der Umwelt zu verarbeiten. "Selbst reinste Zweckgrün-

dungen lassen, einmal in die Welt gesetzt, Handlungen erforderlich werden, die nicht mehr unter die

Dachstruktur des Zweckes gebracht werden können" (Luhmann 2005c, S. 52). So kann illegales per-

sönliches Verhalten, das die Formalität verletzt, durchaus brauchbar sein, um das Problem der viel-

fältigen Umwelterwartungen zu lösen.16

15

Die Autoren sprechen von informalen Kontrollen, weil der Vorarbeiter bzw. der Werkleiter bei ungerechtfer-tigtem Gebrauch des Werkzeuges nie formale Sanktionen unternimmt, die eine mögliche Entlassung des Arbei-ters involvieren. Mit diesem offiziellen Vorgehen würde der Vorgesetzte riskieren, dass die ganze Angelegen-heit des Gebrauchs jenes Werkzeuges an die Öffentlichkeit gelänge (Bensmann/Gerver 1963: 598). 16 Bereits Mead 1918, S. 591f. und Durkheim 1973 (1893), S. 155ff sahen in Normverstössen eine positive bzw. integrierende Funktion: Devianz bestärkt das Normbewusstsein und die Solidarität der Normanhänger.

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Behandelt man im Sinne Stichwehs (2006a) Organisation als eine Eigenstruktur der Weltgesellschaft

(vgl. Kap. 2.1) muss man bedenken, dass formale Erwartungen in verschiedenen Varianten der Welt-

gesellschaft ebenfalls nur partiell von Bedeutung sind. Man darf dann nicht vorschnell von abwesen-

der Ausdifferenzierung von Organisation sprechen; denn nicht nur für Europa gilt: "Wer sich die fakti-

sche Bedeutung von formalen Regeln des Verhaltens klarmachen will, darf sich nicht allein an die

formulierten Erwartungen halten; er darf sich nicht darauf beschränken, das Wunschdenken des

Regelsetzers nachzuzeichnen" (Luhmann 1999a, 1964, S. 308). Informalität, verstanden als persönli-

che Beziehung, ist ein fester Bestandteil von Organisation und somit universell.17

2. Informalität mit Bezug zu Illegalität

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre kamen weitere Verständnisse von Informalität hinzu, als ver-

schiedene Disziplinen das Konzept der Informalität von der Ebene der Organisation auf die Gesell-

schaft übertrugen. Dabei wird Informalität mit Illegalität konnotiert. Erstmals übertrug Harth (1973)

den Begriff der Informalität auf einen gesellschaftlichen Grossbereich zur Beschreibung wirtschaftli-

cher Praktiken von städtischen Marginalisierten. Da diese Gruppe von formalen Einkommensmög-

lichkeiten weitgehend ausgeschlossen ist, verdienen sich Migranten ihren Lebensunterhalt mittels

informalen Einkommensstrategien. Diese Aktivitäten besitzen eine autonome ökonomische Kapazi-

tät, weshalb laut Harth die Wirtschaft aus zwei Alternativen besteht: Aus einem formalen und einem

informalen Sektor. Die Anthropologin kritisiert damit die marxistische Beschreibung eines passiven

Sub-Proletariats, welches sich untätig ausbeuten lässt und keine eigenständigen Problemlösungen

erfindet. Die marxistische Theorie unterschätzt die Kreativität des Menschen und legt den Fokus nur

auf einen Bereich der Wirtschaft. Das Erwirtschaften von Geld ausserhalb einer formalen Anstellung

verbindet Harth mit Illegalität; in einer empirischen Studie über Ghanas informalen Wirtschaftssektor

schreibt sie: "It was difficult indeed to find anyone who had not at some time transgressed the law..."

(Hart 1973, S. 68). Illegalitätsbezug ergibt sich vor allem aus der Sicht formaler Organisation, welche

zwischen persönlichen und unpersönlichen Sozialbeziehungen unterscheidet. In diesem Punkt ist ihr

Verständnis verwandt mit der organisationssoziologischen Variante, welche Informalität als persönli-

che Beziehung erachtet.

Auf Harths Konzeption von Informalität bezieht sich auch der Ökonom Hernando de Soto (2002) etwa

fünfzehn Jahre später in seiner viel rezipierten Studie „The other Path“ über die informale Wirtschaft

Perus. Im Gegensatz zu Harth überträgt er das Konzept der Informalität nicht nur auf den wirtschaft-

17

Selbst inter-organisationale Beziehungen zwischen Leistungsrollenträgern aus Organisationen, die unter-schiedlichen Bereichen angehören, sind ein universelles Phänomen. Informale persönliche Beziehungen verar-beiten widersprüchliche Umwelterwartungen nicht nur innerhalb von Organisation sondern auch in Bezug auf andere Organisationen. Es geht dann um die notwendige Anpassung der Organisation an ihre Umwelt. Kontak-te zwischen Organisationen sind notwendig, um sich in den vielfältigen Umwelterwartungen zu Recht zu fin-den.

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25

lichen Bereich sondern auch auf rechtliche Erwartungszusammenhänge. Soto (2002: 13ff.) beobach-

tet, dass sich aufgrund der Unzugänglichkeit der peruanischen Justiz in Lima ein „system of extralegal

norms“ entwickelt, um Konflikte sowie das Funktionieren der Eigentumsrechte auf eigene Art zu be-

wältigen. Diese ausserrechtlichen Systeme stützen sich auf ad hoc gegründete informale Organisati-

onen.18 Die normativen Erwartungen dieser Verbände sind wie das formale Recht der Weltgesell-

schaft in Lima sozial relevant und gemäss Sotos Ansicht in den meisten Fällen effizienter als die un-

persönlichen und langsamen Kommunikationsformen der Justiz: "...the people [...] are better off

when they violate the laws than when they respect them" (de Soto 2002, S. 12). Infolgedessen bindet

Soto Informalität erstens stärker als Harth an Illegalität. Informalität beschreibt ein Übertreten von

Gesetzen; nach Soto ist informales Handeln immer mit Risiken behaftet. Zweitens geht aus obigem

Zitat eine Abwertung der Formalität gegenüber der Informalität hervor. Man tue besser daran, auf

formale Kommunikation zu verzichten. Diese These von Soto, nämlich dass die Unternehmerschaft in

Lima wegen der Unzugänglichkeit zur Formalität illegale Handlungsweisen bevorzugt, lehnen Adams

und Valdivia (1994) ab. Sie kehren die Argumentation um; die Unternehmer sehen sich in der An-

fangsphase gezwungen, informal zu wirtschaften. Die Notwendigkeit der Formalität stellt sich jedoch,

nachdem die Unternehmer etwas Vermögen akkumulierten. Sotos Abwertung der Formalität über-

zeugt nicht und ist soziologisch unbrauchbar. Hingegen überzeugt sein Argument des „Rechtsplura-

lismus“. Es kann weiter ausgearbeitet werden. Sotos Standpunkt, dass in der Wirtschaft und im Recht

parallele Systeme inoffiziell Erwartungssicherheit generieren, ist interessant.19 Zugleich vernachläs-

sigt Soto jedoch weite Bereiche der Gesellschaft; seine These müsste auf alle gesellschaftlichen Be-

reiche generalisiert werden. Es ist unbegründet, dass nur im Recht und in der Wirtschaft Informalität

besteht und quasi in diesen beiden Bereichen bevorzugt Varianten der Weltgesellschaft entstehen.

Des Weiteren sind Praktiken selbst innerhalb einzelner Funktionssysteme wie der Wirtschaft nicht so

homogen, um von einem informalen Sektor zu sprechen. In Lima werden zwischenzeitlich nur be-

stimmte Problemlagen aussergerichtlich gelöst; zudem oszillieren formale und informale Erwartun-

gen bereits innerhalb einer Situation. Erwartungen und Problemlösungsstrategien von Insidern des

Rechtswesens müssten beachtet werden. Aufgrund dieser Einwände brauchen wir also ein komple-

xeres und umfassenderes Verständnis von Informalität, das sich erstens nicht nur auf die Wirtschaft

und das Recht beschränkt, aber zweitens dem Aspekt der Illegalität dennoch Rechnung trägt. Ich

belasse es bei dieser Einsicht; halte jedoch fest, dass diese komplexere Idee von Informalität alltags-

fremder ausfallen muss.

18

Soto erklärt dabei jedoch den interessanten Zusammenhang zwischen diesen Organisationen mit kommuna-len Strukturen nicht. 19

Die These, Formalität / Informalität als Doppelwelt zu betrachten, wird im letzten Teil dieses Kapitels konkre-tisiert.

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Das Konzept von Informalität mit Illegalitätsbezug kommt dem Alltagsverständnis von Informalität in

Lima am nächsten. Entgegen Soto wird Informalität in Lima in vielen Kontexten nicht als moralisch

gut, sondern als schlechte Angewohnheit erachtet, die den Fortschritt der Region behindert. Insbe-

sondere die Massenmedien und dabei besonders die Printmedien mahnen, informale Praktiken zu

vermeiden.20 Aber auch „kleinere“ Unternehmer bezeichnen sich nicht als informal, ähnlich wie sich

niemand vorderhand als korrupt deklariert.21 Der Diskurs der „Informalidad“ entwickelte sich gerade-

zu zu einer Semantik der Exklusion.22 Demgegenüber ist man auf die „economía popular“, ein Aus-

druck, den man etwa mit „Wirtschaft von und für das Volk“ übersetzen mag, stolz und verbindet

diese nicht unbedingt mit Informalität. Der Begriff “economía popular” wird oft dem Ausdruck “eco-

nomía solidaria“ (solidarische Wirtschaft) gleichgesetzt. Wird „economía pouplar“ mal im Kontext

von Informalität verwendet, so schlägt die positive Wertung interessanterweise auch auf den Begriff

der Informalität durch.23

Abschliessend betrachte ich eine Möglichkeit von Castells und Portes (1991). Die beiden Autoren

legen den Fokus ebenfalls auf Einkommensstrategien und konnotieren Informalität ähnlich wie Soto

mit Illegalität. Informal sind jedoch nicht Aktivitäten mit einem rechtswidrigen Bezug, sondern Prak-

tiken, die rechtlich nicht beobachtet werden. "The informal economy is thus not an individual condi-

tion but a process of income-generation characterized by one central figure: it is unregulated by the

institutions of society, in a legal and social environment in which similar activities are regulated" (Cas-

tells und Portes 1991, S. 12). Im Gegensatz zu Soto differenzieren die Autoren explizit Informalität

20

Beispielsweise ermahnt die Tageszeitung “El Comercio” Agencias El Comercio 2010b unter dem Titel „Prefie-ra siempre la formalidad“ (Bevorzugen Sie immer die Formalität), mit den sogenannten formalen Prestige-Busunternehmen ins Landesinnere zu fahren, auch wenn diese mehr kosten. Nur so könne den „paraderos informales“ (informalen Haltestellen), die ein gewisses Sicherheitsrisiko darstellen, Einhalt geboten werden. Ein Zeitungsartikel von La Torre 2010 ist nur ein Beispiel, dass in den peruanischen Massenmedien Informalität nicht selten mit Korruption verglichen wird. Korruption wird in den lokalen Medien als eines der grössten Lan-desprobleme erachtet. 21

Eine Kleinunternehmerin in Lima beantwortet die Frage, was sie unter Informalität verstehe, folgendermas-sen: “Informalidad es trabajar algo así...toma eso de los ambulantes que.... claro no tienen tienda, no pagan arbitrios, no pagan... claro” Burch 24.08.2010b. Eigene Übersetzung: “Informalität ist irgendwie so zu arbei-ten... nimm das Beispiel der Ambulantes [Strassenverkäufer], die… klar, kein Geschäft besitzen, keine Wertzu-wachssteuer zahlen…natürlich“. Informal ist also nicht sie selbst, sondern die Anderen, die noch „kleineren“ Unternehmer. 22 Siehe dazu Kapitel 9. 23 Zudem erachtet man die „populäre Wirtschaft“ als Quelle des peruanischen Fortschritts. Siehe: Ortiz Roca 2003. Auch in anderen lateinamerikanischen Staaten macht man diesen Zusammenhang; siehe einen brasiliani-schen Rapport: Tirbia 1996. Meist sprechen die Massenmedien jedoch nicht von der „economía popular“ sondern verwenden den Term „mypes“ („microempresas y pequeñas empresas“, das heisst, Mikro- und Kleinunternehmen). Da diese 95% aller wirtschaftlichen Einheiten in Peru ausmachen, erachten die Medien diese als Hauptmotor der Beschäfti-gung und des nationalen Wachstums. Vgl. den Artikel in der Tageszeitung „El Comercio“: Agencias El Comercio 2010c. Richten Teilnehmer den Fokus auf die Kleinunternehmen, dann erachtet man selbst die „komplette Informalität“ als Charakteristikum des eigenen Wachstums; jedoch in einem gewissen Abstand, indem man von der Vergangenheit spricht. Die Unternehmer bezeichnen sich interessanterweise als „Informal-Gewesene“. Siehe: Granda 1997. Siehe zur Bedeutung der Mikro- und Kleinunternehmen auch Kapitel 5.

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27

von Kriminalität. Kriminelle Handlungen spezialisieren sich auf die Produktion von rechtlich verbote-

nen Gütern und Leistungen. Castells und Portes Unterscheidung von formal (rechtlich geregelt) und

informal (rechtlich unreguliert), lässt sich generalisieren und ähnelt damit eher Norbert Elias Ver-

ständnis von Informalität als weniger geregelte Sachverhalte. Doch dieses Verständnis ist hier von

geringer Relevanz und wird ausgeblendet.

Der Begriff „Informalität“ leistet angesichts seiner Multireferentialität viel für die Soziologie. Er be-

schreibt dem Organisationszweck entgegengesetzte Ziele und beobachtet illegalitätsbezogene Hand-

lungsformen im Wirtschaftssystem. Eine derartige Vielfältigkeit erschwert jedoch auch die theoreti-

sche Verwendung. Gesucht ist eine Konzeption von Informalität, welche die beiden interdisziplinär

behandelten Verständnisse anschlussfähig macht bzw. Kompatibilität generiert. Damit der Begriff

komplex genug konstruiert ist, muss seine Beobachtung auf der Ebene der Gesellschaft ansetzen. Die

folgenden beiden Verständnisse von Informalität verlassen nun die Ebene von Organisation oder

einzelnen Funktionssystemen und beobachten informale Kommunikation (welt)gesellschaftlich. Da-

bei bestehen zwei Alternativen der Konzeption von Formalität und Informalität: Als Gegen- oder als

Doppelwelt.

3. Informalität als Gegenwelt

Liest man die Klassiker der Soziologie als Theoretiker der Informalität, so springen die Gesellschafts-

theorien von Tönnies und Durkheim ins Auge. Bereits soziologische Vordenker bzw. Klassiker setzten

eine Trennung zweier Logiken auf gesellschaftlicher Ebene an. Den soeben genannten Klassikern ist

gemeinsam, von einer Art Zweiteilung der Gesellschaft auszugehen. Diese Dualität wird jedoch ent-

weder als Konkurrenz- oder Harmonieverhältnis konzipiert. Am offensichtlichsten sieht man diese

Dualität bei Tönnies (1991 (1887)) Monografie „Gemeinschaft und Gesellschaft“, die erstmals im

Jahre 1867 erschien. Darin thematisiert Tönnies bejahende Beziehungen. Kollektive Gruppierungen

können sich in Tönnies Vorstellung nur bilden, wenn sich die sozial Handelnden gegenseitig normativ

bejahen. Tönnies unterscheidet diesbezüglich zwei Verbände: Die Gemeinschaft, welche sich durch

den Wesenswillen auf natürlich-organische Art bejaht und die Gesellschaft, der ein künstlich-

mechanisch konstruierender Kürwille zugrunde liegt. Durch gesellschaftliches Handeln verbinden sich

Menschen willentlich, um sich für ihre individuellen Zwecke rational dieser Zusammenschlüsse zum

Beispiel einer Aktiengesellschaft oder dem neuzeitlichen Staat als Mittel zu bedienen. Gesellschaft ist

primär ein städtisches Phänomen und in den ideellen Anschauungen des Bürgertums verankert.

Demgegenüber orientiert sich der gemeinschaftliche Wesenswille an einem gemeinsamen überge-

ordneten Zweck, der die Beteiligten als Teil eines sozialen Ganzen fühlen lässt. Gemeinschaftliches

Handeln ereignet sich als reales, organisches Leben zum Beispiel in der Familie, im Haus, dem Dorf,

der Kirche oder der Zunft und entwickelt sich in dauernder Beziehung. Gemäss Tönnies bestehen

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28

beide Sozialformen bis heute fort; beide Willensrichtungen bestehen parallel. Gemeinschaftliche

Beziehungen wurden durch den bewussten Kürwillen der Einzelnen zum Teil in gesellschaftliche Ver-

bände umformiert, zum Beispiel wurde aus dem „Volk“ oder den Sippen ein Staat, der sich auf Recht

stützt. Es gibt jedoch reelle Dinge der Gemeinschaft, die erhalten blieben zum Beispiel Haus, Familie,

Stadt, obwohl in der Moderne künstliche, durch Denken erzeugte Gebilde, wie zum Beispiel der Staat

oder die Wissenschaft, dominant geworden sind. Der moderne Mensch ist deshalb ein Grenzgänger

zwischen zwei Welten, nämlich zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Gemeinschaftliche Verhält-

nisse beschreibt Tönnies nicht sozial-romantisch. Zwar hält ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und

Genuss solche Beziehungen zusammen, nichtsdestotrotz beschreibt Tönnies auch asymmetrische

Verhältnisse als gemeinschaftlich. Da die stärkere Person mehr arbeitet, kann sie mehr geniessen,

was ein Gefühl der Überlegenheit erzeugt. Zugleich kommt der überlegenen Kraft, die sich für das

Wohl des Untergebenen einsetzt, Autorität oder Würde zu. Da Wohltätigkeit den Willen zum Ehren,

bzw. Ehrfurcht hervorruft, sind auch gemeinschaftliche Verhältnisse zwischen Herr und Knecht mög-

lich. Solche informalen Rollenerwartungen werden in Kapitel 3.2.2 als Patronage erörtert.

Gemäss Tönnies bilden gemeinschaftliche Erwartenserwartungen eine Gegenwelt zur rationalen

Gesellschaft. Gesellschaftliche Bereiche versteht Tönnies als Gegenwelt zu gemeinschaftlichen Logi-

ken. Gemeinschaftshandeln basiert auf interner Schliessung. Die moderne Gesellschaft ist als abs-

trakte Konstruktion ideologisch bestimmt und historisch gewachsen; sie besteht jedoch aus zwei

Gegenwelten. Tönnies macht also sehr früh darauf aufmerksam, dass Gesellschaft in sich zwei Vari-

anten von Erwartungszusammenhängen inkorporiert, welche unterschiedlichen Logiken bzw. Wil-

lensarten folgen. Tönnies stellt mit der Gegenwelt von Gemeinschaft und Gesellschaft zwei kontras-

tierende interessante Modelle bereit. Die Bereiche funktionieren jedoch separat, bzw. blind fürein-

ander. Gemeinschaftliche Zusammenhänge erachtet Tönnies nicht als gesellschaftlich erzeugt son-

dern als Reste einer vormodernen Zeit. Man kann Tönnies Gegensatz von Gesellschaft und Gemein-

schaft nicht als Formalität / Informalität abgleichen. Gemeinschaftliche Willensarten sind nicht au-

tomatisch informal. Gemeinschaftliche Erwartungen wären nur informaler Art, wenn sie formale

Probleme auf informale Art und Weise lösen; also wenn Dorfstrukturen zum Beispiel Organisations-

entscheidungen ermöglichen. Bei Tönnies verweisen die beiden Bereiche nicht aufeinander; es han-

delt sich um Gegenwelten. Auch ist Tönnies Konzeption der Gegenwelt inkompatibel mit anderen

Verständnissen von Informalität wie zum Beispiel demjenigen, das Informalität auf Illegalität bezieht.

Tönnies untersucht keine gruppeninternen Strukturen. Auch wirtschaftliche Unternehmen würde

Tönnies gänzlich als gesellschaftliches Konstrukt erachten, weshalb gemeinschaftliche Arbeiter-

Cliquen unbeobachtet bleiben. Tönnies berücksichtigt nicht, dass gesellschaftliche Erwartungen zu-

weilen nicht gemeinschaftlichen Willensarten entsprechen, obwohl er Gesellschaft und Gemein-

schaft als Gegenwelten beschreibt. Sein Hinweis, dass die Gesellschaft eine zu ihr gegensätzliche

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29

Sphäre ausbildete ist aber äusserst wertvoll. Die Idee muss jedoch noch verfeinert werden, um Diffe-

renzierungsvarianten in der Weltgesellschaft zu beschreiben.

Durkheim erweitert und modifiziert Tönnies Auffassung. Gleich wie Tönnies zwei Willensformen von

Sozialität unterscheidet und von gesellschaftlichen sowie gemeinschaftlichen Bereichen innerhalb

der modernen Gesellschaft spricht, differenziert Durkheim (1973 (1893)) zwei positive Solidaritäten.

Durkheim lernte anlässlich eines Studienaufenthaltes in Deutschland Tönnies kennen und rezensierte

dessen Buch. Dabei übernahm er viele Anregungen bezüglich der Vorstellung von Typen gesellschaft-

licher Ordnung; insbesondere entlehnte er bei Tönnies die Dualität „mechanische versus organische

Sozialität“. Trotz vieler Ähnlichkeiten bis hin zur gleichen Ausdrucksweise, beruht Durkheims Ansatz

jedoch auf einer anderen Denkweise.24 Die Begriffe „mechanisch“ und „organisch“ erfüllen bei Durk-

heim eine entgegensetzte Bestimmung. Während Tönnies gemeinschaftliches Handeln als organisch

definiert und gesellschaftliche Praktiken als mechanisches Konstrukt erachtet, sieht Durkheim die

mechanische Solidarität als die Solidarität aus Ähnlichkeiten, welche er als Gesamtheit von Überzeu-

gungen und Gefühlen, die allen Mitgliedern gemeinsam sind, kennzeichnet. Dieser kollektive Typ

bindet das Individuum direkt an die Gruppe und erreicht sein Maximum, wenn das Kollektivbewusst-

sein sich mit dem Individualbewusstsein deckt, wobei Individualität den Nullpunkt erreicht. Bricht ein

Mitglied die mechanische Solidarität, kommt diese Tat einem Verbrechen gleich, denn der Bruch

verletzt starke Kollektivgefühle der Gruppe und muss gesühnt werden. Die Bestrafung erfolgt wegen

des Verstosses gegen das Kollektivbewusstsein und erhält die mechanische Solidarität. Dies ent-

spricht der Rechtskonzeption einfacher Gesellschaften, deren Recht beinahe ausschliesslich aus

Strafrecht besteht und oft durch das gesamte Volk in Form einer Volksversammlung vollzogen wird.

Eine interessante Frage ist dann die Beobachtung von Konfliktmechanismen in Gruppierungen, wel-

che auf einer mechanischen Solidarität basieren. Der Begriff „Informalität“ wäre ganz klar im Bereich

der mechanischen Solidarität angesiedelt, ist mit ihm jedoch nicht deckungsgleich.

Durkheims organische Solidarität könnte eventuell ansatzweise mit Formalität gleichgesetzt werden.

Das Bestehen der organischen Solidarität basiert laut Durkheim auf der Arbeitsteilung. Würde die

formale Seite der Gesellschaft als Arbeitsteilung verstanden, bestünde Informalität in einem Abwei-

chen von der Arbeitsteilung, das beispielsweise in personalen, informellen Gruppen vonstattengeht.

Einen Bezug, den Durkheim nicht konkret erwähnt. Auch ist Durkheims Bezug zum Recht für das Ver-

ständnis von formal und informal interessant. So ist laut Durkheim der Vertrag, welcher erst durch

die Gesellschaft ermöglicht wird, der rechtliche Ausdruck dieser arbeitsteiligen Zusammenarbeit.

Vertragliche Beziehungen berühren nicht unterschiedslos jeden sondern nur die Vertragsparteien,

24

Die Art der sozialen Verbindung von Menschen ist bei Durkheim eine andere als bei Tönnies. Während bei Tönnies ein Verhältnis durch das bewusste Wollen der Menschen bestimmt ist, wird die Verbindung der Men-schen bei Durkheim durch Kollektivvorstellungen, also durch unbewusste Gemeinsamkeiten der Menschen bestimmt. Siehe: Durkheim (1973 (1893)).

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weshalb zum Beispiel ein Kläger, der einen Prozess verlor, nicht gebrandmarkt wird. Es geht lediglich

um Wiedergutmachung; Schadenersatz beinhaltet keinen Strafcharakter. Rechtliche Erwartenserwar-

tungen beschränken sich tatsächlich auf formale Zusammenhänge. Es wäre allerdings verknappt,

Formalität nur auf rechtliche Erwartenserwartungen zu reduzieren. Die Theorien zeigen jedoch, be-

reits in den Anfängen der Soziologie wurde Gesellschaft binär konzipiert; gewisse Einheiten reprodu-

zieren vormoderne Strukturen. Es ist interessant, dass auch Durkheim Gesellschaft als Gegenwelt

fasst, welche zwei Varianten des Umgangs mit Solidarität reproduziert. Durkheim betont wie Tön-

nies, dass die moderne Gesellschaft sowohl mechanische als auch organische Formen der Solidarität

beinhaltet. Doch wie bei Tönnies kann auch hier das Begriffspaar Formalität und Informalität nicht

mit der Unterscheidung organische versus mechanische Solidarität gleichgesetzt werden. Wie Tön-

nies sieht auch Durkheim keine direkte Interaktion zwischen der mechanischen und organischen

Solidarität; es handelt sich um Gegenwelten mit je eigenen Logiken. Informalität kann aber nur in

Bezug auf Formalität beschrieben werden. Interessant wäre, wie gesellschaftliche Probleme gemein-

schaftlich gelöst würden. Zwar bildete sich laut Durkheim die organische Solidarität evolutionär erst

später; die mechanische Solidarität befasst sich jedoch nicht mit Problemen der organischen Solidari-

tät. Es handelt sich um zwei entkoppelte Bereiche: Einer Gegenwelt.

Die Idee einer Gegenwelt ist spannend und wird im Verlaufe dieser Arbeit wieder aufgegriffen. Der

Begriff „Informalität“ muss jedoch komplexer gebaut werden, wenn er Differenzierungsvariationen

innerhalb der Weltgesellschaft beschreiben möchte. Informalität und Formalität sind nicht auf ein

Konzept der Gegenwelt reduzierbar. Eine letzte Alternative baut die Beziehung zwischen den beiden

Sphären komplexer: Gesellschaft und somit die Unterscheidung formal / informal erscheinen als

Doppelwelt, wodurch die bis anhin besprochenen Verständnisse von Informalität anschlussfähig

werden, aber dennoch ihre Differenz bewahren.

4. Informalität verstanden als Doppelwelt

Bis anhin wurden in diesem Kapitel verschiedenste Verständnisse von Informalität unterschieden.

Nun ist eine genügend komplexe Beobachtungsform gesucht, welche Einheit durch Differenz zulässt.

Die Idee, Formalität / Informalität als Doppelwelt zu beschreiben hat in der Systemtheorie eine lange

Tradition und zeigt, Informalität ist aus Sicht der Systemtheorie ein bedeutender Begriff. Die Unter-

scheidung formal/informal zählt Luhmann (1987c, S. 256ff.) gar zu den wenigen Differenzierungsfor-

men, die langfristig in Systemen reproduziert werden können.25 Luhmann favorisiert keine der bei-

25

Neben der Differenzierungsform formal / informal beschreibt Luhmann lediglich vier weitere Alternativen. Das einfachste Differenzierungsprinzip, die Segmentation, teilt die Gesellschaft in gleiche Segmente, zum Bei-spiel Clans oder Dörfer ein. Die hierarchische Differenzierung setzt die Segmente als Schichten in eine Reihen-folge. Die Differenzierungsform Zentrum/Peripherie differenziert ein andersartig strukturiertes Zentrum von einer peripheren, weniger komplex differenzierten Umwelt aus. In einer funktional differenzierten Gesellschaft unterscheiden sich die Systeme hinsichtlich ihrer Funktion als Funktionssysteme. Siehe Luhmann 1997b.

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31

den Seiten. Die Unterscheidung informal / formal bedeutet nichts anderes als die Unterscheidung

nach konform /abweichend oder offiziell / inoffiziell. Das verleitet vorerst, Informalität als System zu

begreifen. Mit abweichendem Verhalten setzt sich Luhmann (2008d) bereits in seinen frühsten Stu-

dien zur Rechtssoziologie auseinander, welche im Jahr 1972 erstmals publiziert wurde. Dort stellt

Luhmann klar, dass abweichendes Verhalten nur okkasionell stattfindet, weshalb es keine eigene

kongruent generalisierte Erwartungsstruktur erreicht, sondern seine Selbstdeutung auf die herr-

schende Ordnung beziehen muss. Die Differenzierung von konformem / abweichendem Verhalten ist

eine systeminterne Struktur. "Man hat im System noch die Wahl zwischen konformem oder abwei-

chendem Handeln, eine Wahl, deren Ausübung im Sinne des konformen Handelns erleichtert wird..."

(Luhmann 2008d, S. 125). Formales oder informales Kommunizieren markiert also nicht die System-

grenze gegenüber seiner Umwelt; Systeme bestehen auch aus abweichenden Praktiken. Die Unter-

scheidung von konformem oder abweichendem Verhalten ist eine systeminterne Differenzierung.

Informalität muss sich laut Luhmann also immer auf Formalität beziehen.26

Weiterführende systemtheoretische Ansätze integrieren die Unterscheidung formal / informal in die

Theorie der Weltgesellschaft. Dieses neuartige Verständnis bedient sich Goffmans Unterscheidung

von Vorder- und Hinterbühne. Goffman (1974, S. 127) teilt Settings, das heisst, verschiedene soziale

frames bzw. Umgangsformen entweder der offiziell beobachtbaren Vorder- oder der inoffiziellen

Hinterbühne zu. Vorder- und Hinterbühne gehören zusammen und unterscheiden sich durch den

Grad der Norm- bzw. Rollenbefolgung. 27 Das Aufbrechen eigener frames ist auf der Hinterbühne, die

sich durch face-to-face Interaktion und physischer Anwesenheit auszeichnet, generell einfacher als

auf der formell geregelten Vorderbühne.28 Ferner verzeichnet auch Meyer eine Decouplings-These,

26

Die Theorie kompliziert sich, dass Verhalten zugleich als systemrelativ gesehen wird. Luhmann greift dabei auf Weber und Winckelmann 1960, S. 54f. zurück. Systemrelativ meint nichts anderes, als dass die Orientiert-heit des Handelns an einer (offiziell formalen) Ordnung, jedoch nicht deren Befolgen, über die Geltung offiziel-ler Erwartungszusammenhänge entscheidet. Luhmann 2008d, S. 124f. macht auf mindestens drei Dichotomien aufmerksam, die sich nicht kongruent setzen lassen. Erstens gilt es konformes und abweichendes Verhalten, systemeigenes und systemäusseres (umweltmässiges) Verhalten und kognitives sowie normatives Erwarten zu bedenken. Die Systemgrenzen legen nicht zugleich konformes oder abweichendes Verhalten oder normatives und kognitives Erwarten fest. Aber dennoch sind die Systemgrenzen für den Erwartungsstil und für die Be-handlung enttäuschender Praktiken von Bedeutung. Ein Sozialsystem kann jedoch durch normatives Erwarten gewisse Kommunikation begünstigen. Verbindlichkeit ergibt sich nur systemrelativ, das heisst, es bezieht sich nur auf diese Praktiken, welche dem System zugerechnet werden. Nur bezüglich dieser engeren Auswahl macht dann die Differenzierung konform / abweichend Sinn. 27

Norm verbindet Goffman insbesondere mit Höflichkeits- und Anstandsregeln, die sich auf Pflichten beziehen Goffman 2009, S. 99ff. Informalität versteht Goffman (1961, S. 123ff.) auch als Rollendistanz, wobei die Erwar-tungen an die Rolle massgebend sind. 28

Doch auch auf der Vorderbühne gibt es Informalität in Form von Rollendistanz, wobei sich insbesondere der Leistungsrollenträger, um Stichwehs 2005b, S. 20ff. Begrifflichkeit zu verwenden, und nicht der Publikumsrol-lenträger die Freiheit nehmen kann, von den offiziellen Rollenscripts abzuweichen. Informalität und Professio-nalität passen also in der Moderne durchaus zusammen. Goffman 2009, S. 99ff. meint zudem, dass Personen hohen Ranges weniger Zeit auf der inoffiziellen Hinterbühne verbringen und zu einem Grossteil ihres Tagesab-laufes an mündlichen Darstellungen mitwirken.

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welche die Gesellschaft in zwei Settings teilt.29 Holzer (2006) schliesst an diesen Ideen an und über-

trägt Goffmans Differenz von formaler Vorderbühne / informaler Hinterbühne auf die Weltgesell-

schaft. Weltgesellschaft besteht folglich aus den offiziellen Strukturen, die global beobachtbar sind

und den inoffiziellen, informal-regionalen Settings. Bei Holzer steht der Begriff der Formalität gleich-

berechtigt demjenigen der Informalität gegenüber. Gemäss Holzer generiert die Weltgesellschaft die

Unterscheidung formal / informal selber. Wie bei Luhmann handelt es sich um eine systeminterne

Grenzziehung. Informalität wird nicht bloss als lokale Abweichung von der globalen Durchsetzung

funktionaler Differenzierung verstanden, sondern als strukturelle Implikation der Weltgesellschaft. Es

geht um Weltgesellschaft und Informalität als ein spezifisch modernes Verhältnis bzw. um eine Un-

terscheidung mit zwei zusammenhängenden Seiten. "Informale Strukturen bilden sich […] im Hinblick

auf jene alltäglichen Interaktionskontakte, die von Formalisierung gar nicht erfasst werden, und als

Reaktion auf spezifische Folgeprobleme der Formalisierung" (Holzer 2006). Formalität ruft also In-

formalität hervor, denn anders als in Europa wurde in Lima Modernität in Form von weltgesellschaft-

lichen Eigenstrukturen wie Organisation und funktionale Differenzierung weitgehend von aussen

herangetragen. Voll-Inklusionserwartungen der Funktionssysteme können entweder nicht oder nur

durch Rückgriff auf historisch gewachsene informale Institutionen umgesetzt werden. Informalität

erhält also die Formalstruktur aufrecht, zwar müssen globale Erwartungen wie Regierungsapparate

oder Bildungsordnungen nicht jeweils neu erfunden werden, aber dennoch sind Kopierprozesse im-

mer Eigenleistungen und sind nur im Zusammenhang mit informalen Institutionen zu verstehen. Die

Idee, dass Informalität die Formalität gesellschaftsweit aufrecht erhält, ist neu. Sie sieht in informa-

len Praktiken eine weitaus grössere Bedeutung als sämtliche ältere aber auch neuere Theorien.

Holzer warnt davor, nur Vorderbühnenpräsentationen wissenschaftlich zu rekonstruieren. Die infor-

male Seite der Weltgesellschaft ist wenig erforscht. Gründe sind vielfältig; einerseits sind informale

Hinterbühnen schwierig zugänglich und werden hinter offiziellen Selbstdarstellungen versteckt, and-

rerseits verdecken formale Erwartungen der Weltgesellschaft an sich selbst zum Beispiel in Form

moralischer Korruptionsdiskurse das Verständnis informaler Praktiken. Da in Variationen der Weltge-

sellschaft Vorderbühnen eventuell weniger erfolgreich ihre Hinterbühnen verhüllen oder Praktiken

sich als Praktiken weniger an Erwartungen des globalen Ideologieapparats orientieren, können Ein-

sichten in informale Erwartungszusammenhänge in einer Variation der Weltgesellschaft zum Beispiel

auch für das Verständnis europäischer Varianten brauchbar sein.

Welche Strukturen bezeichnet Holzer als informal? Holzer (2006) beschreibt informale Strukturen vor

allem als Netzwerkphänomen. Das passt zu dieser Arbeit, welche die Vernetzung unterschiedlicher

Patronagebeziehungen auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft analysiert. Wie wir sehen werden,

29

Meyer et al. (2005a, S. 45) stellt fest, dass die Funktionalität gewisser globaler Institutionen in bestimmten Regionen fraglich ist. Er unterscheidet deshalb Formalität und Informalität, wobei Formalität insbesondere der Legitimation von Praktiken dient.

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bestehen in Lima jedoch auch informale Strukturen, die nicht auf Netzwerkerwartungen basieren.

Informalität kann also nicht auf ein Netzwerkphänomen reduziert werden, sowie Netzwerke nicht auf

Informalität begrenzbar sind, auch wenn der Netzwerkansatz hilft, viele der informalen Zusammen-

hänge zu beschreiben.30 Holzer erachtet jedoch insbesondere lokale Kontaktnetzwerke als informal,

die in der Lage sind, die interne Öffentlichkeit der Teilsysteme auszuschalten. Die Weltgesellschaft

generiert gemäss Holzer Situationen, in denen Informalität erwartet wird und Informalität die Füh-

rung übernimmt. Man orientiert sein Handeln dann nicht mehr an der offiziellen sondern an der in-

formalen Ordnung. Man überschätzt Konsens erfolgreich und unterstellt Dritten in gewissen Situati-

onen ebenfalls informale Erwartenserwartungen. Die potenzielle Beobachtung von nichtbeteiligten

Dritten, welche gegen sämtliches Abweichen von der offiziellen Struktur protestieren, entfällt. In

einem Konfliktfall setzen sich dann nicht offizielle Erwartungen durch; der Vorteil formaler Kommu-

nikation, nämlich dass man im Konfliktfall die Zustimmung Dritter erwarten kann, unterbleibt. Statt-

dessen kommuniziert man hinsichtlich überschaubarer Reziprozitätsnetzwerke, welche die

(Teil)Öffentlichkeit von Funktionssystemen schwächen oder gar ersetzen. Es findet ein Führungs-

wechsel weg von Formalität hin zur Informalität statt. "Sofern nicht teilsystemspezifische Strukturen,

sondern die lokalen informalen Kontaktnetzwerke den spezifischen Stil der Informalität ausmachen,

geht es dann nicht mehr "nur" um informale Kommunikation innerhalb von Teilsystemen - sondern

um die Form funktionaler Differenzierung selbst" (Holzer 2006). Je nach Beschaffenheit solcher

Netzwerke bleiben funktionsspezifische Codes in gewissen Konstellationen laut Holzer unbeobachtet

und werden höchstens noch rituell oder opportunistisch zitiert. Holzer spricht gar von „Zonen der

Informalität quer zur funktionalen Differenzierung“. Diese reproduzieren in Form von Netzwerken

der Gunsterweisung lokal bewährte vormoderne Differenzierungsformen wie Segmentation in Dörfer

und Kommunen oder Patronagebeziehungen. Inwiefern sich solche informalen „Zonen“ in Lima aus-

differenzieren, wird in Kapitel 6 empirisch analysiert. Ich frage mich aber, wie die Autonomie der

Funktionssysteme und anderer formaler Eigenstrukturen beschränkt wird. Selbst wenn in Lima Teil-

nehmer zudem hinsichtlich informaler Erwartungen kommunizieren, wissen diese um die formalen

Erwartungen geradezu genaustens Bescheid. Die Formalität kann nach meiner Ansicht nicht ausge-

blendet werden. Informalität orientiert sich im Sinne von Luhmann jeweils an Formalität; also selbst

wenn ein sogenannter Führungswechsel stattgefunden hat, kennen die Beteiligten in Lima jeweils die

formalen Regeln, welche gerade umgangen werden, erstaunlich genau. Das kompliziert informale

Kommunikation. Es soll keinesfalls die Bedeutung der eigenständigen Logiken der informalen Seite

der Weltgesellschaft schmälern. Zwischen Formalität und Informalität besteht lediglich ein asymmet-

30 Siehe dazu insbesondere Kapitel 4.2. Ferner darf man nicht vergessen, dass Netzwerke nicht automatisch

informal kommunizieren und/oder die Netzwerkkommunikation zwischen formalen und informalen Erwartun-gen oszilliert. Wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, lösen Netzwerke zuweilen auch Probleme der Um-weltabstimmung.

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risches Verhältnis. Informale Erwartungen reproduzieren sich im Hinblick auf formale Zusammen-

hänge. Wenn es zu mehreren Enttäuschungen kommt, zerfällt das informale Abhängigkeitssystem

meistens. Zudem setzen sich in Lima neuerdings zuweilen formale Erwartungen nachträglich durch.31

Eine interessante Frage lautet also, ob es zu einem Konflikt kommt bzw. inwiefern ein Konflikt über-

haupt ausgetragen wird. Letzterer Punkt wird in Kapitel 8.1 Patronageartige Konfliktmechanismen

erörtert. Es gilt an dieser Stelle abschliessend zu betonen: Von Informalität kann nur die Rede sein,

wenn eine Problemlösungsstrategie ein offizielles Problem inoffiziell löst. Holzers (2006) Idee des

Führungswechsels von Formal zu Informal würde ich etwas relativieren; aber eventuell könnte die

Idee ausgearbeitet werden. Wenn auch das Konzept des Führungswechsels nicht ganz aufschluss-

reich ist, überzeugt jedoch Holzers Kernthese umso mehr, nämlich dass die Weltgesellschaft zwei

verschiedene Gesichter institutionalisiert, wobei die Informalität die Formalität erhält.

Auch der Institutionenökonom und Nobelpreisträger North (2009) beschreibt Gesellschaft aus zwei

Seiten bestehend. Er betont: "That the informal constraints are important in themselves (and not

simply as appendages to form al rules) can be observed from the evidence that the same formal rules

and/or constitutions imposed on different societies produce different outcomes" (North 2009, S. 36).

Formalität und Informalität bilden also eigenständige Logiken heraus; bleiben aber aufeinander an-

gewiesen. Zugleich ruft er auf, solche informalen Zusammenhänge besser zu erforschen: "Informal

constraints matter. We need to know much more about culturally derived norms of behavior and

how they interact with formal rules to get better answers to such issues" (North 2009, S. 140). Genau

dazu möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten. Für diese Herausforderung eignet sich die

systemtheoretische Fassung von formal und informal am besten, da sie einen gesellschaftsweiten

Bezug zwischen Formalität und Informalität herstellt. Holzer setzt die Unterscheidung auf der Ebene

der Weltgesellschaft an. Die systemtheoretische Variante erlaubt es aber ebenfalls, einzelne Prakti-

ken als formal oder informal zu bezeichnen. Somit ist der systemtheoretische Ansatz kompatibel mit:

Informalität als persönliche Beziehung innerhalb von Organisation, Informalität mit einem Bezug zu

Illegalität und der Möglichkeit, Informalität als eine spezielle Form von Solidarität zu fassen. Interdis-

ziplinäre Lernfähigkeit ist das Leitkonzept der Systemtheorie. Die hohe Anschlussfähigkeit der Sys-

temtheorie ergibt sich gemäss (Stichweh 2010, S. 23ff.) aus ihrer Fokussierung auf Begriffe. Theoreti-

sche Arbeit bedeutet für die Systemtheorie „Arbeit mit und Arbeit an Begriffen“ (Stichweh 2010, S.

24). Begriffe sollen aufeinander verweisen und sich mit Bezug aufeinander schärfen.32 Die System-

theorie besteht bekanntlich nicht aus einer monolithischen Theorie sondern aus einem Netz von

Teiltheorien. Dieses Netzwerk von Teiltheorien "...eignet sich [...] zur Inkorporation einer Vielzahl von

Theorien und Methoden, die zunächst unabhängig von oder konkurrierend zur Systemtheorie formu-

31

Siehe dazu Kapitel: 8.2 32

Siehe zur Methodologie der Systemtheorie auch Luhmanns Vorwort zu seinem Werk „Soziale Systeme“: Luhmann 1987b, S. 7–14.

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liert worden sind, und es dementiert damit verbreitete Annahmen, die Systemtheorie beziehe sich

dogmatisch-desinteressiert auf ihre intellektuell-wissenschaftliche Umwelt" (Stichweh 2010, S. 23).

Eine dieser Teiltheorien ist die Netzwerktheorie, welche nicht nur innerhalb der Systemtheorie viel

leistet, sondern gerade auch seit Holzers Konzeption von Informalität zur Untersuchung von Diffe-

renzierungsvarianten in der Weltgesellschaft eingesetzt werden kann. Um Netzwerkstrukturen an

ihrer Basis zu verstehen, eignet sich ein weiterer Begriff: Patronage. Während die Unterscheidung

formal / informal in Systemen generiert wird, ist Patronage selbst ein System. Ferner sind kontempo-

räre Patronagebeziehungen nicht undifferenziert der Informalität zurechenbar. Die Unterscheidung

Formalität / Patronage wäre zu einfach. Deshalb ist ihnen ein separates Kapitel gewidmet.

2.2.2 Das Konzept der Patronage als Gegenbegriff zur modernen Gesell-

schaft

Schon Tönnies (1991 (1887)) führte ungleich gebaute Verhältnisse in seine Theorie der Gemeinschaft

ein. Gewisse gemeinschaftliche Einheiten bestehen laut Tönnies auch in der heutigen Gesellschaft

fort. Sie sind sozusagen Überreste vergangener Zeiten, die sich weiterhin bewähren. Patron / Klient-

verhältnisse sind auch laut Luhmann (2005d, S. 234ff.) „survivals“ älterer Gesellschaftsformen. Tön-

nies bezeichnet gemeinschaftliche Abhängigkeitsbeziehungen als eine Art Symbiose oder Tausch von

Ehrfurcht gegen Hilfestellung. Er weist bereits darauf hin, dass sich unter dem Begriff verschiedenste

auf den ersten Blick nicht ähnliche oder gar gegensätzliche Formen subsumieren lassen, zum Beispiel

Familie und Hierarchie.33 Dieses Argument impliziert bereits, dass der Begriff der Patronage komplex

verwendet werden kann und sich auch zur Analyse der heutigen Weltgesellschaft eignet. Zudem

können je nach Erwartung an eine bestimmte Rolle solche Tauschbeziehungen sogar formal erwartet

werden.34 Uns interessiert nun Patronage als Gegenbegriff zur modernen Gesellschaft, bzw. als lokale

Umgangsform mit weltgesellschaftlich-modernen Eigenstrukturen.

Am umfangreichsten hat wohl Eisenstadt (Eisenstadt und Roniger Louis 1980, S. 42) das Konzept der

Patronage untersucht und vorangetrieben. Patron-Klientverhältnisse stehen seit Ende der 70er /

Beginn der 80er Jahre „interdisziplinär“ im Interesse von Anthropologen, Politologen als auch Sozio-

logen. Seither werden diese Verhältnisse nicht mehr als einzelne dyadische Beziehung zwischen ei-

33 Siehe zu Tönnies Gemeinschaftsbegriff Kap. 2.2.1. Weiterentwickelt wird Tönnies gegensätzliche Form von

Gemeinschaft hinsichtlich Familie und Hierarchie in Kap. 6.1.2. 34

Misztal (2000: 41) betont, dass mit Elias These einer (gesamtgesellschaftlichen) Expansion von Rollenaus-handlung und Selbstreflexivität das Verhältnis zwischen dem Selbst und der Rolle ändert; das Anhaften an streng geregelten Vorschriften nimmt ab. Die Interpretationsfreiheit der eigenen Rolle vereinfacht dabei den Wechsel zwischen Rollen; sie erleichtert eine flexible und für die Moderne typische Mehrfachinklusion in un-terschiedliche soziale Bereiche. Ist man undifferenziert in ein Verhältnis eingebunden, lässt dies einer Variante der Weltgesellschaft nur wenig Komplexität zu. Die Art der Rollenausführung ist in Regionen der Weltgesell-schaft empirisch zu analysieren.

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36

nem Patron und einem Klienten studiert sondern im Zusammenhang komplexer Netzwerke. Gemäss

Eisenstadt können Patron-Klientverhältnisse nur verstanden werden, wenn man deren Einbettung in

grössere gesellschaftliche Zusammenhänge mitbetrachtet. Eisenstadt betont, dass klientelistische

Beziehungen nicht nur marginale Beilagen sind, sondern in gewissen Regionen elementare Institutio-

nen darstellen. Gerade in Lateinamerika sind solche Verhältnisse gut legitimiert und regeln diverse

Machtbeziehungen.

In theoretischer Hinsicht kritisiert die Analyse von Patron-Klientverhältnisse Gesellschaftstheorien

der ersten politischen Ökonomen, welche Gesellschaft nur mittels des Begriffes der Arbeitsteilung

beschreiben. Studien über Patronage betonen wie Thompsons und Roethlisbergers (2003, 1939)

Untersuchungen hingegen informale, interpersonale Beziehungen innerhalb von Institutionen.35 Hin-

terfragt werden auch anthropologische und soziologische strukturell-funktionale Schulen, welche wie

die Modernisierungstheorien der 60er Jahre die Analyse von persönlichen Beziehungen vernachläs-

sigten. Die empirisch fundierte Erforschung von Patron-Klientbeziehungen verdeutlicht die Vielfalt

gesellschaftlicher Problemlösungsmöglichkeiten. Insofern kam es seit Ende der 70er Jahre zu einer

Reinterpretation der Bedeutung informaler Gruppen, welche früher lediglich als unterstützenden

Zusatz der institutionalistischen Grundstruktur erachtet wurden. Eisenstadt erwähnt, dass Patronage

in der Lage ist, Verträge zu substituieren. Patronage könnte als funktionales Äquivalent zu Vertrag

also vor allem eine Art von Arbeitsbeziehung darstellen (Eisenstadt und Roniger 1999, S. 19ff.).

Patron-Klientverhältnisse zeichnen sich laut Eisenstadt (1980, S. 42) durch weitere folgende We-

sensmerkmale aus: Patronagebeziehungen können von zwei Individuen oder von Netzwerken einge-

gangen werden. Die einfachste Netzwerkvariante ist dyadisch gebaut und umfasst drei Adressaten.

Diese Struktur impliziert bereits eine Asymmetrie, in welcher der Patron die Brückenposition besetzt

und die Kommunikation zwischen den Klienten steuert.36 Aber auch die minimalste Variante, die nur

zwei Individuen inkludiert, ist vertikal angelegt, das heisst, es handelt sich bei Patronage immer um

Kommunikation zwischen Ungleichen, auch wenn sich das Verhältnis als symbiotisch beschreibt und

freiwillig eingegangen wird. Patrons sind Vermittler. Zugang zu den Zentren der Gesellschaft, zum

Beispiel zu grossen Märkten, besitzen nur die Patrons; gleichwohl handelt es sich bei Patronage um

ein Tauschverhältnis. Auch von den Patrons werden (Gegen)leistungen erwartet. Der simultane

Tausch ist sogar fundamental. Dabei werden verschiedene Leistungsformen unter den Teilnehmern

gewechselt, zum Beispiel wirtschaftliche oder politische in Form von (finanzieller) Unterstützung,

35

Ebenfalls Weber und Durkheim, ferner auch Marx hinterfragten die klassisch utilitaristische Ökonomie. Die Arbeitsteilung oder der Markt erfasst nicht alle Problemlösungsmöglichkeiten der Gesellschaft. Siehe Eisen-stadt und Roniger 1999, S. 19ff. Auch Hodgsons ökonomischer Institutionalismus wendet sich gegen die Neo-klassische Ökonomie. Siehe: Hodgson 1998. 36

Die Brückenposition führte Burt 1992, S. 8ff. unter dem Begriff „structural hole“ in die Netzwerktheorie ein. Ein „structural hole“ bezeichnet den abwesenden Kontakt zwischen zwei Elementen, die indirekt über ein drit-tes Element miteinander verbunden sind. Dieser dritte Akteur besitzt aufgrund der Netzwerkstruktur eine vor-teilhafte Brückenposition.

Page 37: Burch Dissertation Jan 2014

37

Solidaritätsversprechen gegen Wahlstimmen und Loyalität dem Patron gegenüber. Für das Ver-

ständnis wirtschaftlicher Praktiken in Lima ist interessant, dass die Leistungen, welche Patronagebe-

ziehungen stabilisieren, aus unterschiedlichen „Bereichen“ stammen können. Man muss dann kon-

kretisieren, was der Begriff „Bereich“ bezeichnet. Centeno, ein peruanischer Soziologe und Architekt

meint, weil das heutige Peru nicht als Klassengesellschaft gedacht werden kann, müssen die Bezie-

hungen zwischen Personen aus unterschiedlichen Bereichen analysiert werden: „In diesem Kontext

ist es nun Zeit, die Beziehungen, welche Akteure aus unterschiedlichen Sozialbereichen etablieren, zu

studieren“ (Centeno 2004, S. 67).37 Diese Beobachtung ist bereits an sich interessant. Wieso soll das

Augenmerk auf (persönliche) Beziehungen gelenkt werden, um das heutige Lima, Peru zu verstehen?

Wie ist der Term „Bereich“ zu fassen? Handelt es sich um Sozialbereiche im Sinn von Schichten oder

auch um Funktionsbereiche? Patronage könnte mittels solcher Tauscherwartungen die Konvertibili-

tätssperren der Funktionssysteme ausser Kraft setzen und zum Beispiel verschiedene Medien wie

Geld gegen politische Loyalität wechseln. In dieser Form verletzt Patronage die formalen Erwartun-

gen der funktionalen Differenzierung. Wie und wann werden Konvertibilitässperren ausser Kraft ge-

setzt? Der Austausch von Medien (bzw. Ressourcen) aus verschiedenen Funktionsbereichen ist je-

doch nicht zwingend für Patronage, sondern beschreibt eine Sonderform derselben. In diesem Zu-

sammenhang passt dann auch das Konzept von principal/agent. Das aus der Neuen Institutionenö-

konomik kommende Konzept ist geradezu spezialisiert, solche gegen die Codierung der Funktions-

systme oder der Organisationssysteme verstossende Tauschvorgänge zu beobachten.38

Während Patronageverhältnisse die Tauscherwartungen und die involvierten Medien unterschiedlich

organisieren, gelten Asymmetrie und die Tauschhandlung als generelles Merkmal dieser Systeme.

Gerade wegen der Asymmetrie sind Patron-Klientverhältnisse streng solidarische Vertrauensbezie-

hungen, die in den meisten Fällen langfristig angelegt sind. Vertrauen bzw. normative Absicherung

der Kommunikation kann besser in kleinen Systemen hergestellt werden, da laut Luhmann (1997c, S.

316f.) Moral nicht problemspezifisch beobachtet, sondern zu Vereinheitlichung und Konflikt tendiert.

Insbesondere einfache Patronage, die nur wenige Adressaten inkludiert, eignet sich, um von Erwar-

tungen Dritter abzuweichen. "Die Flexibilität einfacher Normgefüge kleiner Sozialsysteme beruht im

wesentlichen auf dieser Möglichkeit fallweiser Akkordierung und gemeinsamen Abweichens" (Luh-

mann 2008c, S. 39). Patronage ist oftmals nicht (komplett) legal, sondern reproduziert informale

Erwartungen auf den Hinterbühnen der Weltgesellschaft.

37

Original: "En este contexto, es hora de estudiar las relacionas que entre actores de diferentes sectores sociales se establecen" Centeno 2004, S. 67. Auch Bailón Maxi und Nicoli 2009, S. 44 sind überzeugt, dass die peruanische Variante erweiterte Sozialtheorien und Begriffe bedarf, um die peruanische Variante angesichts der Globalisierung zu beschreiben. 38

Eine weiterführende Diskussion dieses Konzeptes würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb muss an dieser Stelle darauf verzichtet werden. Ein Vergleich zwischen dem Konzept der Patronage und der Agentur-theorie wäre jedoch interessant. Siehe zu Agency, Habit und Institutionen allgemein: Hodgson 1998.

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38

Das Element des Tausches ist bei Patronage zentral und verdient weiterer Erörterung. Eisenstadt

(1980, S. 51) unterscheidet spezifische Tauschvorgänge von generalisierten und meint "...like other

models of regulation of the flow of societal resources, patron-client relations constitute a special

combination of specific exchange with what has been denoted in sociological and anthropological

literature as generalized exchange". Der Begriff des generalisierten Tauschs wurde von Mauss (1990)

geprägt.39 In archaischen Gesellschaften gab es den einfachen Tausch nicht, sondern nur den kollek-

tiven bzw. generalisierten Kettentausch, an dem mehrere beteiligt sind, das heisst, die Beteiligten

müssen Geschenke machen, sie annehmen und erwidern. Eine Gabe ruft immer eine Gegengabe

hervor. Generalisiert erwarteter Tausch ist eine totale Institution, die auf komplizierten Reziprozitäts-

regeln basiert und sich von der utilitaristisch spezifischen Markttransaktion unterscheidet. Gaben-

tausch ist zwar kein egozentristisches aber dennoch ein höchst rationales Handeln; das Glück eines

anderen kann für Ego vorteilhaft sein. Das Konzept des generalisierten Tausches ist für das Verständ-

nis unkonventioneller Wirtschaftspraktiken in Lima interessant; bildete sich doch im Andenraum vor

der Ankunft der Europäer auf der Grundlage von generalisiert symmetrischem und asymmetrischem

Tausch eine der interessantesten Reichsbildungen der Neuen Welt.40 Wie sich Aspekte des generali-

sierten Tausches in der heutigen Weltgesellschaft bewähren, kann nicht generalisiert beantwortet

werden. In Teilen Europas entstanden aus dem generalisierten Tausch der Wohlfahrtsstaat, der eine

Erfindung der Moderne ist, und seine Mitglieder anhand von Gaben, das heisst, Steuern re-

solidarisiert. Im heutigen Lima sieht man sich hingegen beinahe alltäglich mit informalen generalisier-

ten Tauscherwartungen konfrontiert (siehe Kapitel 4.2).

Generalisierter Tausch kontrastiert Eisenstadt mit dem marktwirtschaftlichen Modell. Patronage ist

ein generalisiertes Tauschsystem, das reziprok und asymmetrisch operiert. Die Unterscheidung zwi-

schen Patron/Klient- und marktwirtschaftliche Beziehungen wird in der Literatur jedoch nicht einheit-

lich gehandhabt. Polanyi (1971) behandelt reziproke und asymmetrische Tauschvorgänge als von

anderer Natur als marktwirtschaftliche. Demgegenüber macht Adler (1988, S. 46ff.) auf die subtilen

Übergänge zwischen reziprokem Tausch, Patronage und marktwirtschaftlicher Transaktion aufmerk-

sam. Reziproke Tauschbeziehungen können sich fliessend in klientelistische Verhältnisse wandeln,

sobald einer der Beteiligten mehr Prestige und eine mächtigere Position erlangt. Zudem können Pat-

ron-Klientbeziehungen formale, marktwirtschaftliche Transaktionen beinhalten, weshalb Adler die

drei Beziehungsformen in ihrer Handhabung weniger strikt voneinander trennt, wie dies Polanyi tut.

39

Gemäss Eisenstadt und Roniger Louis 1980 verwendete und erweiterte C. Levi-Strauss das Konzept in seinen frühen Studien über Verwandtschaft. Der Begriff ist zudem kompatibel mit Parsons Analyse der generalisierten Tauschmedien, insbesondere des Mediums „Einfluss“, welches das Gemeinschaftssystem den Sozialsystemen zur Verfügung stellt. Siehe dazu Parsons 1963. 40 Die Reproduktion prehispanischer und kolonialer Kausalmuster wird vor allem in den Kap. 6.1.2 und Kap. 6.2.1 erörtert.

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39

Dennoch ist Patronage prinzipiell mit dem kapitalistischen Modell unvereinbar und folgt eigenen

Logiken.

Die Diskussion zeigte, anhand des Konzeptes der Patronage lassen sich Praktiken der Vormoderne als

auch moderne Praktiken der Weltgesellschaft analysieren und genau dieser Sachverhalt macht das

Konzept interessant für Forschungsansätze, die Gesellschaft als geschichtliches System verstehen,

das historische Unterschiede auf verschiedene Arten reproduziert. Begriffe wie generalisierter und

spezifischer, marktwirtschaftlicher Tausch machen des Weiteren sichtbar, wie sich klientelistische

Tauschsysteme von anderen Sozialsystemen zum Beispiel von verwandtschaftlichen oder hierarchi-

schen Zusammenhängen unterscheiden. Es ist Eisenstadt, der das Verhältnis von spezifisch partikula-

ristischem und generalisiert diffusem Tausch beobachtet. In vormodernen Gesellschaften wurde der

Zugang zu grösseren Märkten oder dem generalisierten Allgemeingut askriptiv, das heisst, durch

zugeschriebene Gruppenzugehörigkeit vergeben. Die signifikantesten Tauschvorgänge werden so-

wohl beim verwandtschaftlichen wie auch beim hierarchischen vormodernen Modell auf der Basis

von Inklusion in ein Segment oder in eine Schicht organisiert. Dies widerspricht dem heutzutage gän-

gigen Model der freien, generalisierten Marktwirtschaft, in dem alle Teilnehmer ungeachtet ihrer

Mitgliedschaft in einer Gruppe oder Sozialkategorie Marktzugang besitzen. Gemäss Eisenstadt gilt

das Modell der freien Marktwirtschaft jedoch nur im offenen-pluralistischen Europa und Amerika. In

Lateinamerika mediatisieren korporative Einheiten bzw. Patrons den Zugang zu den scheinbar offe-

nen Märkten. Dieser korporative Typ des Wirtschaftens liegt nahe am klientelistischen Modell. "It is

the combination of potentially open access to the markets with continuous semi-institutionalized

attempts to limit free access that is the crux of the clientelistic model" (Eisenstadt und Roniger Louis

1980, S. 59). Halb-askriptive hierarchische Sub-Gemeinschaften oder Sub-Sektoren kontrollieren den

Zugang zu den offiziell frei zugänglichen Zentren der Gesellschaft. Paradoxerweise wird klientelisti-

sche Mediation in Lateinamerika stark erwartet, ist jedoch nicht vollständig legitimiert. Im Gegensatz

zu vormodernen rein verwandtschaftlichen oder zu hierarchischen Verhältnissen, die auf geburtlicher

Zuschreibung basieren, stützen sich klientelistische Tauschverhältnisse auf die Existenz eines genera-

lisierten zentralen Marktes, der nicht in solche askriptive Einheiten eingebettet ist. Das klientelisti-

sche Modell etabliert Marktbeschränkungen, auch wenn diese anders als bei (vormodernen) ver-

wandtschaftlichen oder hierarchischen Gesellschaftsmodellen nicht von den Voraussetzungen der

Gesellschaft abgeleitet werden können. Die Kontinuität solcher Markteinschränkungen bzw. die Re-

produktion von Ungleichheit differenziert Patron/Klientverhältnisse von den sporadischen Ungleich-

heiten, die in universalistisch-pluralistischen Marktsystemen vorkommen. Nichtdestotrotz sind klien-

telistische Systeme an sich instabil. Anders als in vormodernen Gesellschaften ist die asymmetrische

Kommunikation zwischen Patron und Klient weder vollständig legitimiert noch vorgeschrieben. Meis-

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40

tens reproduzieren sich Patron/Klientbeziehungen informal im Schatten der offiziellen Vorderbühnen

der Weltgesellschaft.

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41

3 Qualitative Methodenkombination

Das vorherige Kapitel erörterte die Verwendung der Begriffe in dieser Arbeit. Nun geht es darum, die

Methoden der empirischen Datenerhebung zu erläutern. Sowohl Theorie als auch Methode be-

schreiben Beobachtungsarten. Um eine gute Forscherin, bzw. ein guter Forscher zu sein, muss man

vor allem eines können: Mit aller Beharrlichkeit ein Anfänger zu bleiben.41 Doch lassen Sie mich von

vorn mit der Darstellung des Theoriebezugs beginnen. Hinsichtlich qualitativer Forschung ist der Dua-

lismus von Theorie und Empirie fragwürdig. Der enge Theoriebezug gehört gemäss Kalthoff (2008, S.

8ff.) seit jeher zu den Voraussetzungen und Resultaten qualitativer Forschungsansätze. Das qualita-

tiv-methodische Vorgehen präferiert mit seinem engen Theoriebezug nicht eine Seite der fachintern

reproduzierten und stabilisierten Differenz von Theorie und Empirie. Beide Bereiche irritieren bzw.

in-formieren sich wechselseitig. Theoretische Forschung durch Empirie formt beide Seiten und be-

lässt keine, wie sie ist. Dieser Arbeit liegt es nicht an selbstreferentieller Theorie, sondern am Ver-

such, „theorie-empirisch“ unkonventionelle Wirtschaftspraktiken in Lima soziologisch zugänglich zu

machen. Sie interessiert sich für informale empirisch beobachtbare Praktiken sowie deren Bezug zu

formalen Erwartungsmustern. Über solche Konstellationen muss soziologische Theorie oft schwei-

gen; qualitative Forschung eignet sich aber, um solche Varianten wirtschaftlichen Handelns im Inte-

resse soziologischer Theoriebildung zu erschliessen. "Eine solche Perspektive verschiebt den Blick auf

das Lesen von Literatur und auf die Kombination von Texten, auf das Finden und Formulieren von

Suchfragen und damit auf die Interaktion mit Texten und den Akt des Schreibens" (Kalthoff 2008, S.

25). Fokussiert wird nicht eine literarische Tätigkeit, sondern ein kreativ-kommunikatives Arbeiten

mit Ideen und Theorien. Der Schreibprozess soll eine Interaktion mit empirischen Befunden, theore-

tischen Entwürfen und imaginierten Einwänden eröffnen. Dies ist eine Möglichkeit, dass soziologi-

sches Beobachten eine Art Eigenleben entwickelt. Gemäss Luhmann (1981: 222ff.) entsteht im Zet-

telkasten ein „kommunikativer Kommunikationspartner“ in Form eines „Gegen-Standes“, welcher als

eigensinniges Gegenüber wie ein Gesprächspartner über ein unabhängiges Eigenleben verfügt. Dies

bedeutet nicht nur, dass Soziologinnen und Soziologen sich einen Gegenstand kreieren müssen, son-

dern es heisst auch, dass Wissensentwicklung von der Autorin oder dem Autor teilweise abgekoppelt

ist. Der Dualismus von Empirie und Theorie existiert in einer solchen Theorie-Praxis nicht.

Ein Fall muss man als Fall in den Griff kriegen. Welche qualitative Forschung eignet sich, um nichtka-

pitalistische Praktiken zu beschreiben? Angesichts der Tatsache, dass nichtkapitalistische Wirt-

schaftspraktiken von vielen Beobachtern, insbesondere von mächtigen Organisationen als moralisch

negativ gewertet werden, diese Wertung jedoch nicht weltweit geteilt werden muss, verwendet die

41

Siehe dazu Suzuki, Shunryu 2011, Pos. 277.

Page 42: Burch Dissertation Jan 2014

42

Forscherin am besten eine qualitative Methodenkombination. Dieses Vorgehen ermöglicht es, sich

dem multidimensionalen Verständnis unkonventioneller Wirtschaftspraktiken zu nähern. Methoden

sind jedoch keine Instrumente, welche unwissenschaftliche Neigungen disziplinieren, sondern sind

im Sinne Hirschauers (2008, S. 178ff.) gegenstandsrelative Formen. Quantitative Vorgehensweisen

scheiden laut Sissener (2001) aus; um negativ vorbelastete Praktiken zu untersuchen. Standardisierte

Befragungen könnten als Polizeibefragung interpretiert werden. Sowohl die Wahl der Methode als

auch deren Handhabung ergibt sich aus dem Gegenstand und nicht aus der Disziplin. Diese Denkwei-

se präsentiert auch Kalthoff (2008, S. 16ff.). Ein solcher Ansatz distanziert sich von kodifiziertem und

kanonisiertem Methodenzwang und plädiert für eine sensible Methodologie. Die sinnhafte Ordnung

der Soziologie wird laut Hirschauer der Ordnungsstruktur des Feldes prinzipiell untergeordnet. Die

Forscherin beachtet zwar die Kanonisierung allgemeiner methodischer Regeln, scheut sich jedoch

nicht vor intuitiver Kreativität, um stets möglichst gegenstandsangemessen zu beobachten. Ich fürch-

tete mich nicht vor meiner Intuition. Ich konzentrierte mich darauf, mich von den Handlungsweisen

und Äusserungen des Forschungsfeldes irritieren zu lassen. Die methodische Vorgehensweise ist

geradezu ein untrennbarer Bestandteil des Gegenstandes, auf dessen Erkundung sich die Methode

richtet. Ausgangslage dieser Arbeit ist die teilnehmende Beobachtung, weil nur sie dem Fall ange-

messen komplexe das heisst, intuitiv offene Beobachtungsmöglichkeiten eröffnet (vgl. Kap.3.1). Es

wäre eine künstliche Engführung, Varianten wirtschaftlichen Handelns nur teilnehmend zu beobach-

ten und deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen nicht zusätzlich zu befragen (vgl. 3.2). Das Kapitel

3.3 betrachtet den Forschungsansatz und erörtert Auswertungsstrategien der objektiven Hermeneu-

tik und der „Grounded Theory“.

Doch vorerst soll die theoretische Rahmung begründet werden. Die Arbeit ist bestrebt, die in Kapitel

2 dargestellten Theorien zu verwenden und in höchst möglichem Masse empirische Problemlö-

sungsmöglichkeiten ernst zu nehmen. Die Wahl systemtheoretischer Ansätze mag den Leser oder die

Leserin erstaunen, da Systemtheorien als holistisch und geradezu als „empirieuntauglich“ gelten. Ein

zentrales Merkmal qualitativer Forschung ist laut (Kalthoff 2008, S. 16f.) jedoch gerade der starke

Empiriebegriff. Top-down Logiken gelten nicht für alle Varianten von Systemtheorien. Luhmann

(2005a, S. 99) setzt seine systemtheoretische Forschungsperspektive diametral derjenigen von Par-

sons gegenüber, indem er dessen „struktur-funktionalistische“ Perspektive in eine „funktional-

strukturelle“ Systemtheorie umkehrt. Der Ausgangspunkt von Forschung bildet bei Luhmanns und

Stichwehs Ansätzen nicht eine zuvor analytisch festgelegte Struktur, sondern die Funktion bzw. das

gegenwärtige Alltagsproblem, welches systemische Strukturbildung initiieren, variieren oder stabili-

sieren kann. Die Stabilisierung eines Systems ist dabei nur ein Problem, das beobachtet werden kann.

Kausale Erwartungszusammenhänge müssen empirisch beobachtet werden, denn "Sowohl in Rich-

tung Ursachen als auch in Richtung Wirkungen führt Kausalität in Endloshorizonte..." (Luhmann 1995,

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43

S. 12). Eine Studie sollte also nicht ontologische Merkmale aufstellen und ebenso wenig sollte sie mit

der Festlegung der Ursache von unkonventionellen Wirtschaftspraktiken beginnen, sondern sie soll

den Fokus auf Probleme und Problemlösungsstrategien der Teilnehmenden legen. So steht nicht die

Feststellung des Seins, sondern das Erforschen der Variation im Rahmen komplexer Sozialsysteme im

Zentrum (Luhmann 2005b, S. 18).

Nassehi (2008, S. 88ff.) vergleicht Luhmanns Kritik am Strukturfunktionalismus mit der Kritik von

Seiten der Ethnomethodologie. Beide Positionen hinterfragen das analytisch-theoretische Überver-

trauen des klassischen Funktionalismus in die Strukturiertheit der Welt. Die funktional-strukturelle

Systemtheorie sowie die Ethnomethodologie fokussieren auf die gegenwartsbasierte und empirisch

beobachtbare Herstellung von wiederholbaren Erwartungen, während der klassische Funktionalis-

mus Handlungen bezüglich gesamtgesellschaftlicher Funktionalität bzw. Dysfunktionalität beobach-

tet. Im Gegensatz zur Ethnomethodologie behält Luhmann jedoch die Strukturkomponente bei und

ordnet sie der Funktionskomponente unter.42 Diese Art von Systemtheorie unternimmt keine vor-

gängige, analytische Konstruktion von Struktur; ergo ist die operativ-praktische Herstellung von Er-

wartungszusammenhängen bzw. Institutionen sowohl Folge der Praxis wie auch deren Vorausset-

zung. Es geht um die Beobachtung der empirisch-operativen Konstruktion von Bestimmtheit inner-

halb von Unbestimmtheit, deren Objektivität bzw. Sinnhaftigkeit sich alleine dadurch auszeichnet,

dass sie sich über ihre Anschlüsse empirisch bewährt und darin ihre empirische Anschlussfähigkeit

sichert. Zumal sich Unbestimmtheit nicht durch eindeutige Bestimmtheit auflösen lässt und operative

Ereignisse dauerhaft zerfallen, muss diese Problem-Lösungs-Konstellation dem empirischen Kontext

selbst entnommen werden. Das ermöglicht ein komplexeres Verständnis von Kausalität. Laut Luh-

mann (1995) ist Kausalität kein objektiver Sachverhalt der Welt. Es geht um eine selektive Nutzung

der Kombination von Ursachen und Wirkungen, die jeweils kontingent ist. So kann man die hier ver-

wendete theoretische Vorgehensweise auch kontingenztheoretischer Funktionalismus nennen. Lebt

der klassische Funktionalismus in einer sehr stabilen Welt, so ist der kontingenztheoretische Funktio-

nalismus in erster Linie nicht am Grundproblem des Bestandes oder der Erfüllung der systemischen

Struktur interessiert. Insofern nennt Nassehi (2008: 97) diese Theorielage auch "operativer Funktio-

nalismus". Das Grundproblem ist das echtzeitliche Nacheinander von Ereignissen bzw. das Problem

des kommunikativen Anschlusses von Operationen, welche ihre Art der Kontingenzbewältigung bzw.

die sozial konstruierte Relation von Problem und Problemlösung nicht einer vorgängigen Struktur

verdanken. Solche unsichtbaren Verbindungen versucht die funktionale Analyse beschreibbar zu

machen. "Es ist tatsächlich nicht übertrieben, zu behaupten, die Soziologie als empirische, als Erfah-

rungswissenschaft, als Disziplin, die das zum Gegenstand hat, was sich auch jeglicher Alltagsperspek-

42

Was das für die vorliegende Forschung bedeutet, wird in Kap. 3.1. bezüglich der Rolle des soziologischen Beobachters erörtert.

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44

tive zeigt, sei eine Wissenschaft, die sich fürs Unsichtbare interessiert, für das, was dahintersteckt, -

was eigentlich dahintersteckt" (Nassehi 2008, S. 89). Der Soziologe oder die Soziologin arbeitet laut

Hirschauer (2008, S. 175f.) wie ein Detektiv. Dieser versucht anhand möglichst treffender Fragen, die

Problemlösungsstrategien seiner Protagonisten zu verstehen, lässt aber auch intuitiven Ideen platz.

Gesellschaft ist laut Nassehi ein Kontext, der Möglichkeiten zum Beispiel in Form von Anschlusspo-

tentialitäten in Funktions-, Organisations- oder Interaktionssystemen anbietet.

So interessiert sich diese Arbeit dafür, wie in einer Variation der Weltgesellschaft Kontingenz einge-

schränkt wird. Das Wie ist als ereignishafter Anschluss beobachtbar; es ergibt sich im operativ-

empirischen Vollzug der Kommunikation. An dieser Stelle treffen sich sodann systemtheoretische

Gesellschaftstheorie und empirische Analyse. Wirtschaftliche Praktiken werden daraufhin unter-

sucht, wie sie Bezugsprobleme von Anschlusszusammenhängen in einem interaktions-, organisati-

ons- und gesellschaftstheoretischen Kontext lösen. Systeme formieren sich nur operativ durch wie-

derholten kommunikativen Gebrauch und machen dabei bestimmte kausale Verbindungen von Prob-

lem und Lösung wahrscheinlicher als andere. Dieses Vorgehen hat im Gegensatz zum Strukturfunkti-

onalismus keine vorausgesetzte Vorstellung einer Ganzheit, bezüglich jener man Praktiken als funkti-

onal oder dysfunktional auf den Willen zurechnet, wobei erstere Praktiken Lösungen sind, welche

dem attribuierten Zweck des Systems dienen. Laut Stichweh (2010) ist der Primat des Vergleichs als

methodische Vorgehensweise aber auch bei Merton präsent, zumal dieser den Vergleich von Ver-

schiedenartigem ins Zentrum der Analyse rückt. Es werden laut Nassehi (2008) in der Systemtheorie

Luhmanns keine Kausalbeziehungen zwischen funktionalen Erfordernissen und funktionalen Lösun-

gen postuliert. Nur so wird der Erfindungsreichtum der Praxis soziologisch relevant ernst genom-

men. Alsdann operiert gemäss Stichweh (2010, S. 23ff.) die Systemtheorie mit einer komplexeren

Empirie als viele Studien der empirischen Sozialforschung. Die Systemtheorie unterscheidet nämlich

erstens eine grössere Zahl von Funktionssystemen und fokussiert zum Beispiel nicht nur wirtschaftli-

che Kommunikationsformen als gesellschaftlich relevante Erwartungs-Sets. Zweitens kann sie diese

Unterscheidung der Funktionssysteme mit verschiedenen Theorien und Methoden kreuzen. So ge-

winnt systemtheoretische Forschung in einem dritten Schritt Möglichkeiten des Vergleichs sowohl

zwischen den Funktionssystemen als auch in globaler Hinsicht zwischen verschiedenen Differenzie-

rungsvarianten in der Weltgesellschaft. Luhmanns systemtheoretische Gesellschaftstheorie ist also

überaus empiriefreundlich und keinesfalls gesellschaftsblind, wenn man sie als operative Theorie und

nicht als Theorie institutioneller Differenzierung liest.

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45

3.1 Teilnehmende Beobachtung als Weg zu einer Variation in der Weltge-

sellschaft

Angesichts der Tatsache, dass viele nicht kapitalistische Wirtschaftspraktiken negativ vorbelastet

sind, eignen sich von den qualitativen Methoden wiederum jene, die eine möglichst hohe Flexibilität

zulassen. Gemäss der Anthropologin Sissener (2001, S. 6) sind Informationen über negativ vorbelas-

tete Praktiken vorzugsweise mittels „…informal Interviews that can uncover the popular and local

semiotics and ethics ….“ zu eruieren. Informelle interessante Interviews können oft nur im Kontext

einer teilnehmenden Beobachtung durchgeführt werden.

Atteslander und Cromm (2003, S. 94ff.) unterscheidet soziologisches Beobachten vom Alltagsbeo-

bachten als „systematische[s] Erfassen, Festhalten und Deuten sinnlich wahrnehmbaren Verhaltens

zum Zeitpunkt seines Geschehens“ (Atteslander und Cromm 2003, S. 79). Er kategorisiert qualitative

Arten wissenschaftlicher Beobachtung als unstrukturiert und offen. Unstrukturiert heisst, es werden

bei der Datenerhebung nicht Hypothesen überprüft sondern im Kommunikationsprozess entwickelt.

Auf vorab konstruierte Beobachtungsschemata wird im Sinne von Wolff (2000, S. 335) verzichtet.

Statt einer Reduktion von Komplexität durch Zerlegung in Variablen, geht es gemäss Flick (2010, S.

124ff.) um die Verdichtung von Komplexität durch Einbeziehung von Kontext. Dieser Verzicht ist je-

doch erklärungsbedürftig, da er Fragen an die Beobachtungsweise, an die Rolle und die Teilnahme

der Forscherin stellt. Insbesondere die Rolle des Beobachters wird in der Literatur vielseitig debat-

tiert. So deutet Huber (2008) darauf hin, dass moralisch verwerfliche Praktiken tendenziell aus der

Perspektive der Zentren der Weltgesellschaft beurteilt werden. Die Ethnografen Huber sowie Wolff

fassen das Forschungsfeld als „natürliches“ Handlungs- und Kommunikationsfeld auf. Im Gegensatz

zur Ethnomethodologie distanziert sich die Systemtheorie Luhmanns jedoch von der Annahme eines

Naturalismus. Laut Nassehi (2008, S. 87ff.) interessiert sich die Systemtheorie dennoch wie die

Ethnomethodologie für gegenwartsbasiertes Herstellen von Erwartungssicherheit. Es geht um die

Frage, wie die Teilnehmer das Problem des kommunikativen Anschlusses meistern und Kontingenz

vernichten. Die teilnehmende Beobachtung ist zur Erfassung der zeitlichen Dimension von Erwar-

tungszusammenhängen besonders interessant. Soziologisch-ethnografische Beobachtung heisst dann

insbesondere, in Bezug auf praktische Lösungen funktional äquivalente, auch anders mögliche Prob-

lemkonstellationen zu suchen. Im Zentrum der Beobachtungsweise des operativen Funktionalismus

und einer teilnehmenden Beobachtung steht also die Kreativität der Praktiken.43 Die luhmannsche

Systemtheorie erhebt im Gegensatz zur Ethnomethodologie nicht den Anspruch, die Forscherin müs-

se sozusagen der Natürlichkeit der Sache mit einem naturreinen Herzen, das heisst, mit dem ethno-

methodologischen Blick begegnen und selbst zu einer einheimischen Teilnehmerin werden. Das Be-

43

Siehe dazu insbesondere Luhmann 1987b, S. 85ff.

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46

sondere an einer teilnehmenden Beobachtung ist, dass der Beobachter ein soziologischer Beobachter

ist. Dieser wird durch die praktische Teilnahme keinesfalls ein ethnisierter Teil, sondern bleibt ein

soziologischer Beobachter mit einer soziologischen Perspektive, was eben gerade seine besondere

Stellung ausmacht. Das Verfahren fürchtet sich also nicht vor sich selbst. Es zwingt den Forscher nicht

zur Neutralität sondern zur weitgehenden methodischen Kontrolle seiner Beobachtungen, das heisst,

die Soziologie wird als theoretisch kontrollierte Beobachtung entlastet. Ebenso wenig wie ein Phä-

nomen als soziologischer Gegenstand bzw. als Fall bereits „da draussen im Feld“ existiert, bilden ge-

mäss Kalthoff (2008, S. 17f.) Methoden nicht Realitäten in realistisch „neutraler“ Weise ab. Metho-

den sind ein spezifischer Blick und zeigen, wie Realitäten (soziologisch) vorgestellt werden können.

Selbst gemäss Wolff (2000: 339) ist das klassische Modell des unsichtbaren Feldforschers nicht ein-

mal mehr als Idealtyp glaubwürdig.

Selbst wenn die Forscherin sehr gut mit den lokalen Codes vertraut ist, muss sie sich vom For-

schungsfeld abzugrenzen wissen und ihre Position als Wissenschaftlerin im Feld reflektieren. Deshalb

führe ich neben dem Forschungstagebuch jeweils auch ein persönliches Heft. Bevor wir uns mit Fra-

gen des Feldrückzugs befassen, interessiert jedoch der Feldzugang; die Frage der Kontaktaufnahme

stellt sich gemäss Wolff (2000, S. 335) am Anfang jeder teilnehmenden Beobachtung und ist eine

besondere Herausforderung, da das Gelingen bzw. Nicht-Gelingen einen grossen Teil des For-

schungserfolges bestimmt. Wie brachte ich die Leute zum Sprechen? Um nichtkapitalistische und

meist semi-illegale Wirtschaftspraktiken zu untersuchen, wurde der Fokus auf ein Textilkonglomerat

in Lima gelegt.44 Von Interesse sind Gamarras Tausende von kleinen Wirtschaftsunternehmungen, die

fast ausschliesslich von Personen mit einem nationalen Migrationshintergrund geführt werden. Im

Gegensatz zu Grossunternehmen besitzen sie keine Korruptionsbüros, wo externe Beobachter mit im

Voraus gefertigten Antworten abgespiesen und von der Organisationskultur ferngehalten werden.

Der intensive Feldzugang begann bereits im Jahre 2005 mit dem Verfassen einer Seminararbeit über

unkonventionelle Praktiken im Zusammenhang mit Limas Barriadas (Elendsviertel). Dazumal kannte

ich aufgrund eines halbjährigen Aufenthaltes in Peru im Jahre 2002 bereits eine peruanische Anwäl-

tin, die früher als „Defensoría“ Inklusionshilfe ins Rechtssystem leistete und sich als Schlüsselperson

bzw. als eine Türöffnerin zum Forschungsfeld herausstellte.45 Anschlussfähig wurde mein Anliegen

insbesondere durch verschiedene Sprachkenntnisse. Dass man in Peru Spanisch spricht wird erwar-

tet. Demgegenüber verblüfft der Gebrauch der nicht-indoeuropäischen Sprache Quechua, welche

nur im andinen „Hinterland“, dem Herkunftsgebiet sehr vieler Bewohner Limas, weitergegeben wird.

Durch Sprachwahl kommuniziert man Provenienz und in meinem Fall aufrichtiges Interesse an loka-

44

Siehe dazu Kapitel 5. 45 Die ersten Kontakte mit dem Feld begannen indirekt bereits im Jahre 2001, als ich für die Matura-Arbeit in Genf Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Vereinten Nationen bezüglich ihrer indigenen Institutionen inter-viewte.

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47

len Sozialzusammenhängen. Vertiefte Sprachkenntnisse sind eine bedeutende Eintrittspforte, um an

lokalen Problemlösungsstrategien teilzuhaben.46 Überdies folgten drei weitere mehrmonatige For-

schungsreisen nach Lima, Cusco und Apurímac, wobei auch mehrjährige Kontakte im Hochland eine

wichtige Rolle spielten, da praktisch alle Unternehmer der Gamarra aus dem Hochland emigrierten.

Die Region Cusco ist zudem in Gamarra stark vertreten; so hörte ich schon früh von jenem unglaubli-

chen Textilkonglomerat Limas und dem Textilhandel, der bis weit über die peruanischen Grenzen

insbesondere nach Bolivien, Ecuador und Venezuela ausstrahlt. Meine „Gastfamilie“ in Cusco war

damals bestrebt, in diesen Handel einzusteigen.

Insbesondere die beiden letzten Sommer 2009 und 2010 dienten der direkten Kontaktaufnahme mit

Unternehmern und Arbeitern in jenem Textilkonglomerat Limas.47 Um Einblicke in ein solches Unter-

nehmen zu bekommen, sind positive Referenzen unerlässlich. Wichtiger Türöffner war neben der

Anwältin eine weitere langjährige Bekannte, die mir in Lima eine Privatunterkunft vermittelte. So war

ich quasi schon bei Betreten Limas im Forschungsfeld, weil ich bei Limeños wohnen konnte. In Lima

kennt beinahe jeder zumindest indirekt jemanden, der oder die in Gamarra arbeitet. Erster direkter

Türöffner zur Gamarra war ein Kollege einer Mitbewohnerin, der als Theaterdirektor ein guter Kunde

der Gamarra war und mich einer Kleiderproduzentin und -verkäuferin in Gamarra vorstellte. Er führte

uns jedoch nur kurz zusammen. Mit dieser ersten, sehr oberflächlichen Vorstellung, die nur wenige

Sekunden dauerte, wurde der Feldzugang zwar ermöglicht jedoch nicht gewährleistet. Ein grosses

Stück weit, musste ich das Vertrauen selbst aufbauen. Erst im wiederholten Umgang bildet sich bzw.

stabilisiert sich Vertrauen, wobei Quechuakenntnisse und frühere Reiseerfahrungen essentiell waren.

Es sind gerade auch Kleinigkeiten, welche eine grosse Rolle spielen: Beispielsweise dass man sich

über verschiedene Gerichte unterhalten kann, ein offenes Ohr hat usw. Der Feldzugang erfolgte

etappen- und schrittweise. Anfangs durfte ich in besagter Firma vor allem Hüte zusammenkleben.

Der Eigentümer des Unternehmens ist Türwächter zur eigenen Arbeiterschaft. Etwas später, quasi

nach der Probezeit, konnte ich mich jedoch frei mit den Angestellten unterhalten und bekam

schliesslich Einsicht in das Buchführungssystem der Unternehmerin. Generell sind Netzwerke für den

Feldzugang unumgänglich, insbesondere wenn es sich um politisch aufgeladene Felder handelt. Es

war also absolut notwendig, mehrere Male nach Lima gereist zu sein. Bereits die Art des Feldzugan-

ges zeigt, wie wichtig in Lima Vertrauensbeziehungen sind. 46

Die Sprache „Quechua“ wird ca. von 8 Mio. Personen gesprochen und ist neben dem Spanischen und dem Aymara eine Amtssprache. Quechua wurde bereits von der voreuropäischen Oberschicht der Inkas im Anden-raum als lingua franca gefördert und später dann von den Spaniern implementiert, um die Christianisierung zu ermöglichen. Seit einem grossen indigenen Aufstand im Jahre 1780 wurde der Gebrauch der Sprache jahrzehn-telang verboten; die Oberschicht und die spätere peruanische Elite spricht Spanisch. Bis heute gilt Quechua als die Sprache der armen „Campesinos“, der Landbewohner. Allerdings erfährt die Sprache in den letzten Jahren eine gewisse „Aufwertung“; es erscheinen Hefte und moderne Musik in Quechua. Siehe: Mannheim 1991 und Rivera. 47 Wieso diese Untersuchung unkonventioneller Wirtschaftspraktiken in Gamarra beginnt, wird in Kapitel 5 und

ferner in Kapitel 9 detailliert erörtert.

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48

Der aktive Feldrückzug ist ebenso bedeutend wie der Zugang zum Feld. Er gewährleistet eine reflexi-

ve Distanzierung und den Anschluss an den disziplinären Diskurs. Um den Prozess der Interpretation

und Neu-Aushandlung der Wirklichkeit durch die sozialen Akteure zu erfassen, machte ich ab und zu

während der Beobachtung Notizen. Jeden Abend setzte ich mich nochmals hin, um das Erlebte zu

repassieren und in einem Forschungstagebuch festzuhalten. Zugleich wertete ich erste Einsichten

schon möglichst bald aus, um das weitere Vorgehen zu entscheiden. Dazu ist das von Hirschhauer &

Amann (1997: 27ff.) erarbeitete Konzept des „methodischen Befremdens“ und der „Erneuerung des

Befremdens“ hilfreich. Gemäss Atteslander (2003: 113ff.) bedeutet Feldrückzug, sich mit den Prob-

lemen der wissenschaftlichen Beobachtung zu beschäftigen, die mit der selektiven Wahrnehmung

des aktiv im Feld teilnehmenden Beobachters zu tun haben. Um das Befremden stets zu erneuern

bzw. um an alltagsnahe Problemlösungen heranzukommen, bewährt es sich laut Wolff (2003: 349f.),

auf seiner Naivität zu beharren und mit eigenen Interpretationen möglichst zurückhaltend zu sein,

das heisst, auch schon gestellte Fragen in einem anderen Kontext erneut zu stellen. Es ging mir also

weniger um „Befremdung“ im engeren Sinne sondern mehr darum, immer ein Anfänger zu bleiben

und Handlungsweisen stets von Neuem wie vor zehn Jahren als ich erstmals peruanischen Boden

betrat, zu hinterfragen und mehrere Möglichkeiten zu beobachten. Des Weiteren räumte ich genü-

gend Zeit für Reflektion ein und notierte Selbstbeobachtungen gemäss Eisenhardt (1989: 538f.) in ein

separates Heft, das heisst, eine Art Tagebuch, welches das Forschungstagebuch um eine persönliche

Note ergänzt. So reflektierte ich ausserhalb des unmittelbaren Feldes meine eigene Rolle als Soziolo-

gin und die Kommunikation in den jeweils neuen Sozialzusammenhängen. Unterstützend kam hinzu,

dass ich meine Resultate vor Ort ebenfalls mit Wissenschaftlern erörtern konnte. Meine Ideen und

Beobachtungen diskutierte ich „interdisziplinär“ mit Forschungsmitgliedern des renommierten „Insti-

tuto de Estudios de Peruanos“ (IEP) und der „Universidad Católica“, welche als einzige peruanische

Universität Soziologie lehrt. Selbst diese Kontakte gingen indirekt auf meinen ersten Aufenthalt im

Jahre 2002 zurück, als ich mit Anthropologen bei einem Projekt im peruanischen Hochland mithelfen

konnte.

Der Forschungsprozess geht spiralförmig vonstatten. Datenerhebung und -auswertung sind eng ver-

zahnt. Forschung zirkuliert vom Feldzugang zur Rollendefinition, Datenerhebung, Auswertung zum

Feldrückzug und wieder zum Feldzugang, der mit der Zeit komplexer ausfällt (Atteslander 2003: 79-

87, 107f.; Flick 2010, S. 126f.). Der Feldzugang gestaltet sich zudem multidimensional. Erstens ist die

Aufenthaltsdauer in Lima begrenzt. Dies ist zuweilen schwierig vereinbar mit dem unberechenbaren

Zeitmanagement gewisser interregional tätiger Unternehmer, da diese zum Beispiel hin und wieder

für mehrere Wochen verreisen. Man muss also möglichst frühzeitig planen und mehrere Unterneh-

merinnen und Unternehmer kontaktieren. Insofern kann man sich nicht auf zwei, drei Unternehmer

verlassen, wenn es um das Verständnis des interregionalen Handels geht. Man muss gewillt sein,

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49

eine hohe Spontanität und Flexibilität an den Tag zu legen. Zweitens stellte sich bereits kurz nach

Ankunft bei Gesprächen mit dem Taxifahrer heraus, dass der Einflussbereich des Textilkonglomerats

Gamarra innerhalb von Lima weitreichender als angenommen ist und verschiedene Arten von Mikro-

unternehmen inkludiert. Um diese Komplexität zu berücksichtigen, sollten möglichst unterschiedlich

organisierte Unternehmern und Unternehmerinnen kontaktiert und auch Personen mit hilfreichem

Kontext- und Expertenwissen beigezogen werden. Da eine teilnehmende Beobachtung zeitaufwändig

ist, ergänzte ich die Forschung mit Experteninterviews. Laut Gläser und Laudel (2006, S. 34ff.) bedeu-

tet das Rekonstruieren eines sozialen Sachverhalts, möglichst alle Informationen zusammenzutragen,

die man braucht, um ihn zu beschreiben. Der Fall ist möglichst vollständig zu untersuchen. Dies impli-

ziert eine Begrenzung auf wenige Fälle, die dann eingehend analysiert werden. Da die Zusammen-

hänge jedoch nur innerhalb ihres Kontextes verstehbar sind, wurde der Fall nicht zu eng konstruiert.

Die Wahl der Methode ist wiederum vom Feld und vom Forschungsverlauf abhängig. Wenn ich zum

Beispiel einer Unternehmerin vorgestellt wurde, diese jedoch die nächste Woche für länger verreise,

führte ich ein Leitfadeninterview durch und verzichtete auf eine teilnehmende Beobachtung, da mich

diese aus dem Feld, das heisst, des Textilkonglomerats geführt hätte und zu zeitintensiv gewesen

wäre. Ich war also stets bestrebt, je nach Problem die optimale Methode anzuwenden. So machte ich

meine Forschung nicht von einer Methode abhängig, was nicht nur gemäss Hirschauer (2008) und

Kalthoff (2008) sondern auch laut Eisenhardt (1989, S. 534f.) durchaus erwünscht ist.

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50

3.2 Das Experteninterview: Schlüssel zu Betriebs- und Kontextwissen

Zur Erforschung von unkonventionellen, halb-illegalen Wirtschaftspraktiken werden in dieser Studie

ebenfalls Experteninterviews auf zwei verschiedene Arten eingesetzt. Einerseits gleichen unstruktu-

rierte, informelle Interviews, die im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung geführt werden,

qualitativen Befragungen. Die Grenze zwischen den beiden Methoden ist fliessend, wenn der Feldzu-

gang durch eine teilnehmende Beobachtung erfolgte. Dies zeigt sich auch bei der Auswertung. In-

formationen aus qualitativen Interviews werden zusammen mit vorhergehenden oder nachfolgenden

informalen Gesprächen oder Beobachtungen ausgewertet. Bezüglich qualitativer Experteninterviews

hält Meuser (1991, S. 442ff.) fest, dass die Experten und Expertinnen lediglich Teil des Kommunikati-

onsfeldes sein müssen, welches den Forschungsgegenstand ausmacht. So kann die Forscherin im

Rahmen einer Ethnografie prinzipiell jedem Beobachteten einen Expertenstatus verleihen. Die Sam-

plestruktur konnte nicht im Voraus festgelegt werden, da die Auswahl der Probanden sich erst im

Feld definitiv erschloss (Flick 2010, S. 154ff.).

Der Feldzugang für die Experteninterviews war zuweilen mit dem Feldzugang der teilnehmenden

Beobachtung verknüpft. Ist dies der Fall, lassen sich drei verschiedene Verknüpfungsweisen von qua-

litativem Interview und Ethnografie beobachten: 1). Am engsten sind die Methoden miteinander

verknüpft, wenn im Interview teilnehmend Beobachtetes vertieft wird. Bei den Experten handelt es

sich dabei um Verantwortungspersonen, das heisst, um Eigentümer und Eigentümerinnen von Un-

ternehmen, die sich die Freiheit leisten können, die Arbeit für eine Stunde mehr oder weniger ruhen

zu lassen. Mit Arbeiterinnen und Arbeitern konnte meist nur informal kommuniziert werden. 2). Die

Methoden sind nur bezüglich Feldzugangs verknüpft. Dies ist der Fall, wenn teilnehmend Beobachte-

te Türöffner zu anderen Unternehmern sind. Der Feldzugang für das Interview entfällt zu einem gros-

sen Teil. Dass Vertrauen innerhalb von Netzwerken geformt und anschliessbar ist, zeigt, das Textil-

konglomerat ist ein System, genauer ausgedrückt ein Referenzsystem, welches Selektionsleistungen

anhand des Mediums Vertrauen überträgt. Dies gilt von Kontakt zu Kontakt und ist vor allem not-

wendig, um einflussreiche Unternehmer zu interviewen. Freundliches Auftreten ist als Fremder prin-

zipiell wichtig, insbesondere wenn man sich in gewissen Quartieren wiederholt aufhält. Gerade in

den Randzonen müssen alle Verkäuferinnen und Verkäufer höflich gegrüsst werden, zumal Diebstäh-

le und auch Entführungen nicht selten sind. Wird man als Wirtschaftsspion verstanden, so werden

einem Diebe nachgeschickt. Zugleich wird einem bewusst, dass Kommunikation nicht beim Mitteilen

sondern gemäss Luhmann (1987a, S. 195) beim Verstehen stattfindet. Konnte man an einem Punkt

des Systems mittels Vertrauen kommunizieren, kommt man mit Experteninterviews an weiteres spe-

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51

zielles Betriebswissen.48 3). Das Experteninterview und die teilnehmende Beobachtung hängen nur

noch lose zusammen, wenn man durch eine teilnehmende Beobachtung von möglichen interessan-

ten Kontextwissenden lernt. Erst im Gespräch oder durch Teilnahme, erfährt man, mit welchen funk-

tional unterschiedlichen Erwartungszusammenhängen gewisse Problemlösungen im Feld verbunden

sind. So suchte ich im späteren Forschungsverlauf insbesondere auch spezifische Leistungspersonen

aus dem Rechtssystem. Der Feldzugang läuft dann wieder über andere Referenzen, weshalb es un-

umgänglich ist, mehrmals in Lima gewesen zu sein und Kontakte über Jahre gepflegt zu haben. Ob-

wohl die Datenerhebung per Experteninterview und teilnehmender Beobachtung teilweise eng ver-

knüpft sind, werden in der wissenschaftlichen Literatur die zwei Vorgehensweisen immer separat

behandelt und streng voneinander unterschieden.

In gewissen Fällen war der Feldzugang der beiden Methoden nicht gekoppelt. Es mag vielleicht er-

staunen, aber auch Informationen zu „risikoreichen“ Themen wie zum Beispiel bezüglich Illegalität

wurden so eingeholt. Es war unmöglich, an solchen Kommunikationszusammenhängen teilnehmend

mitzuwirken und Referenzen waren insbesondere zur Befragung niedriger Arbeiterschichten etwas

weniger bedeutend. Viel wichtiger war ein vertrauenswürdiges Auftreten in situ. Quechuakenntnisse,

frühere Teilnahmen an Fiestas patronales (Dorffesten) sowie Orts- und zum Teil auch Geschichts-

kenntnisse dienten als aufrichtige Anschlusspunkte. Es erstaunte, dass damit quasi die Comunidad

(die Herkunftsgemeinde) vor Ort gebracht wurde und innerhalb weniger Minuten ein interessantes

Gespräch in Gang setzen konnte. Dieser Punkt ist sowohl unwahrscheinlich als auch faszinierend und

fliesst in die Auswertung ein. Für viele Arbeiter ist Freizeit ein Fremdwort. So konnten vielbeschäftig-

te Träger nur heimlich während ihrer Arbeit interviewt werden. Der Feldzugang zu dieser Berufs-

gruppe gestaltete sich schwierig, da Träger von ihren Patrons aufgrund kritischer Aussagen schon

entlassen wurden. Selbst der Forscher kann in Schwierigkeiten geraten, wenn die Befragung beo-

bachtet wird und dem Patron in den falschen Hals kommt. In wenigen Fällen begleitete mich zudem

eine einheimische Person, die sich beruflich, sei es als Künstlerin oder als Anwältin, mit den Proble-

men der Landbevölkerung auseinander setzte. Da diese jedoch nur eine unterstützende Rolle inne-

hatten, handelt es sich nicht um Gruppeninterviews. Sie halfen mir gegebenenfalls, lokale Sprach-

Codes zu interpretieren.

48

Der Begriff „Betriebswissen“ ist der Gegenbegriff von „Kontextwissen“; eine Unterscheidung, die von Meuser 1991, S. 445ff. eingeführt wurde. Generell wird Betriebswissen mehr Bedeutung beigemessen und aufwändiger ausgewertet, da es sich bei diesen Informationen um die Wissensbestände im Sine von Erfahrungsregeln han-delt, die das Funktionieren von sozialen Systemen bestimmen. Betriebswissende sind in unserem Fall alle Un-ternehmer und Arbeiter des Textilkonglomerats. Im anderen Fall handelt es sich um eine zur Zielgruppe kom-plementäre Handlungseinheit, die Informationen zum Kontext der Praktiken der Zielgruppe liefert. Dazu zählt zum Beispiel das Interview einer Anwältin, die über lokale Zusammenhänge verschiedener Grosssysteme be-richtet. Kontextwissen ist jedoch zuweilen sehr stark in Betriebswissen eingebunden. So berichtet zum Beispiel ein Wissenschaftler unaufgefordert, wie er sich selbst unkonventionellen Wirtschaftspraktiken bedient. Die Unterscheidung ist jedoch forschungslogisch interessant und sinnvoll, auch wenn zuweilen gerade bei der Auf-lösung dieser Grenze interessante Konstellationen zum Vorschein kommen.

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52

Hopf (2000, S. 350ff) stellt drei Kriterien auf, um qualitative Interviews zu variieren. Das erste Kriteri-

um bestimmt, ob die Forscherin sich an ausformulierten Fragen orientiert und deren Abfolge zuvor

genau strukturiert oder ob die Interviewführung offen und unstrukturiert angelegt ist. Gemäss Hopf

orientieren sich die meisten Studien an einem Leitfaden und befinden sich zwischen den beiden Ex-

tremen. Auch im vorliegenden Fall wurden die Interviews mittels teilstrukturierten Leitfäden durch-

geführt. Der Leitfaden stellt laut Gläser und Laudel (2006, S. 139f) die thematische Vergleichbarkeit

der Aussagen sicher. Wenn zu Themen nachgefragt wird oder sich neue Themen ergeben, wird vom

Leitfaden abgewichen. Die Arbeit am Leitfaden ist somit nie abgeschlossen. Neue Erkenntnisse aus

den Interviews bringen neue Fragen mit sich. Das Anpassen des Leitfadens ist laut Gläser unproble-

matisch, da der Leitfaden nicht zur Standardisierung beiträgt, sondern lediglich sicher stellt, dass in

allen Interviews gewisse Informationen erhoben werden. Man muss sich anhand des Leitfadens mit

den anzusprechenden Themen vertraut machen.

Um möglichst differenziert vorzugehen, erarbeitete ich schon zu Beginn der Studie drei verschiedene

Leitfäden. Ein erster Leitfaden enthält Fragen bezüglich Betriebswissen und richtet sich an Eigentü-

mer von Unternehmen, der zweite Leitfaden konzentriert sich auf die Arbeitnehmer, wobei möglichst

viele Teile des ersten Fragekatalogs wie zum Beispiel das Vorgehen bei Konflikten übernommen wur-

den. Der dritte Leitfaden legt den Fokus auf Kontextwissen und wurde zur Befragung von Anwälten

sowie Wissenschaftlern, die in diesem Feld ebenfalls forschen, bzw. tätig sind und/oder unkonventi-

onelle Wirtschaftspraktiken selber benutzen, eingesetzt. Während der zweiten Reise wurde aufgrund

erster Auswertungen ein vierter Fragekatalog erstellt, um einen Ausblick auf Erwartungszusammen-

hänge ausserhalb des Textilkonglomerats zu generieren und Limas Wirtschaft generell zu beleuchten.

Für den kurzen Ausblick auf unkonventionelle Wirtschaftspraktiken ausserhalb Perus, griff ich unter

anderem auf Interviews aus dem Jahre 2007 zurück, welche ich anlässlich eines Aufenthaltes in Kali-

fornien durchführte. Nutzbar waren die Passagen, welche sich mit denselben Problemen, wie in mei-

nem Leitfaden für Gamarra auseinander setzten.

Das zweite Kriterium bezieht sich laut Hopf (2000, S. 350ff) auf den Grad der Fokussierung. Im einen

Extrem ist der Leitfaden auf ein Thema fokussiert, im anderen Extrem beinhaltet der Leitfaden ein

breites Spektrum an Themen. Für die Analyse von zum Teil negativ vorbelasteten Praktiken legt die

Forscherin ihren Fokus nicht zu stark auf ein Thema, sodass auch nicht antizipierte Reaktionen Platz

finden. Es mag paradox klingen, doch der Leitfaden gewährleistet die Offenheit des Interviewver-

laufs. Weil es sich um das Erforschen von Praktiken, die nirgendwo sonst in Erfahrung zu bringen

sind, handelt, wird das Interview zum Teil offen durchgeführt. Das letzte Kriterium von Hopf betrifft

das Verhalten des Interviewers; dies kann ein aktives Zuhören und Auffordern zur Narration oder ein

vorsichtiges Argumentieren sein.49 Aufgrund negativer Erfahrungen der Teilnehmenden, war es be-

49

Atteslander und Cromm 2003, S. 149ff. definiert dies als weiches / hartes Interviewverhalten.

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sonders wichtig, die Befragten bei der affektiven und kognitiven Deutung sozialer Praktiken zu unter-

stützen. Es darf nicht das geringste Gefühl einer unehrlichen oder persönlich nicht wirklich interes-

sierten Befragung aufkommen. Manche der Unternehmer wurden schon entführt und erpresst. Auch

ist man gegenüber Auswärtigen ambivalent eingestellt. Man erlebte schon viel. Es muss immer der

Mensch als Unternehmer und keinesfalls der Wert der Unternehmung im Mittelpunkt stehen. Der

Hauptteil des Leitfadens besteht somit aus Erzählanleitungen, die zu längeren Antworten führen und

zu einer zusammenhängenden Darstellung anregen. Detailfragen werden damit weitgehend über-

flüssig.

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3.3 Auswertung oder theoretisch-empirische In-Formation

In dieser Arbeit soll es darum gehen, die von den Probanden konstruierten Kausalschemata zu er-

gründen und auszuwerten. Gemäss Nassehi (2008, S. 99ff.) entspricht die Unterscheidung von Theo-

rie und Empirie nicht mehr dem Forschungsstand, Theorie und Empirie in-formieren sich gegenseitig,

in dem Sinne, dass sie sich irritieren. Das theoretische Bezugsproblem ist die Bewältigung von Kon-

tingenz. Die Auswertung ist dabei ein zentrales Kernstück, das die Arten der In-Formation zwischen

Theorie und Empirie mitgestaltet. Nassehi beschreibt die systemtheoretische Forschungsperspektive

unter anderem als eine interpretativ-hermeneutische Perspektive. Für die Auslegung ist es somit

naheliegend, an Diltheys (1979, 1959) „hermeneutischen Zirkel“ und an Corbin und Strauss (1990)

Ansatz der „grounded theory“ anzuschliessen. Im vorliegenden Fall können einige Ideen der objekti-

ven Hermeneutik als Auslegungsmethode verwendet werden: Der Sinn eines Satzes ergibt sich laut

Dilthey nur aus dem Kontext; alle menschlichen Lebensäusserungen sind kontextabhängig und nie

absolut. Das daraus resultierende Problem, nämlich dass das Einzelne nur innerhalb des ganzen Kon-

textes verstanden werden kann und dies voraussetzt, den Kontext bereits zu kennen, beschreibt Dil-

they als den „hermeneutischen Zirkel“. Jegliches Verständnis baut auf Vorverständnis auf, Rohdaten

existieren nicht. Schneider (1995) übersetzt die methodischen Schritte der objektiven Hermeneutik in

die Sprache der Systemtheorie und betont, dass diese beiden Konzepte kompatibel sind. So wird der

Sinnbegriff sowohl von der Hermeneutik als auch von der Systemtheorie als Leitbegriff verwendet

und lässt sich in die Systemtheorie transponieren, um Fragen der Anwesenden zu behandeln. Der

soziale Sinn bzw. die Identität einer Äusserung wird durch sequentielle Bedeutungszuweisung in der

Kommunikation konstituiert. Vergangene und ausgeblendete Möglichkeiten des Anschlusses funktio-

nieren als strukturelle Voraussetzungen, welche die Produktion neuer Kommunikation leiten, womit

sich das soziale System individualisiert. Die objektive Hermeneutik interessiert sich für die sequentiel-

le Verkettung von Äusserungen, wie auch die Systemtheorie den Fokus auf Erwartungsstrukturen

legt, die nur durch den Verlauf der Kommunikation selbst reproduziert werden. Äusserungen haben

also ein Vorgeschichte, das heisst, vorausgegangene Äusserungen oder einen situativen Kontext.

Auch wenn es sich in der vorliegenden Untersuchung (meistens) nicht um Gruppeninterviews han-

delt, sind Anschlussäusserungen der Experten, die gewisse Möglichkeiten ausschliessen, von Interes-

se. So kann es soziologisch interessant sein, wann ein Experte von moralisch abweichenden Prakti-

ken, die er oder sie selbst begangen hat, spricht und ab wann er diese nicht mehr als Abweichungs-

feststellung behandelt. Verletzte, vom Experten selbst erzeugte Normalitätserwartungen weisen auf

strukturelle Besonderheiten der beobachteten Kommunikation hin. Vor allem ist in der Arbeit jedoch

der situative Kontext und weniger die kommunikative Sequenzialität von Bedeutung. Dieser ist ein

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55

systemrelativer Umweltentwurf; nur die Kommunikation bestimmt, welche der für einen Beobachter

sichtbaren Situationsbedingungen kommunikativ relevant sind.50

Ein derart breit angelegtes Forschungsdesign passt zu Meusers (1991) Auswertungsform, die sie als

Entdeckungsstrategie bezeichnen. Im Gegensatz zur objektiven Hermeneutik spielt die zeitliche Ab-

folge der Kommunikationsereignisse keine grosse Bedeutung. Die Auswertung orientiert sich an the-

matischen Einheiten, die über die Texte bzw. Interviews und Aufzeichnungen verstreut sind. Die zeit-

liche Abfolge der Äusserungen je Interview treten in den Hintergrund, womit der Funktionskontext

der Experten an Gewicht gewinnt. Primäre Aussagen, die für das Verständnis unkonventioneller

Wirtschaftspraktiken sehr relevant sind, inkludierte ich als Zitat in die Argumentation. Sekundäre

Passagen werden in der Terminologie der Interviewten paraphrasiert und in der Arbeit zuweilen in

gekürzter Form widergeben. Zur Auswertung sollen laut Meuser (1991, S. 457ff.) die paraphrasierten

Passagen mit Überschriften versehen werden. Um eine bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten,

ordnete ich den Überschriften zusätzlich verschiedene Farben zu. Passagen, die ähnliche Themen

behandeln, werden zusammengestellt und mit einer Hauptüberschrift versehen. Durch diesen Vor-

gang werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgeschält, zum Beispiel bei welchen Themen

gibt es unterschiedliche Positionen? Zu welchen Problemen gibt es unterschiedliche Lösungen? In

einem nächsten Schritt erfolgt die soziologische Konzeptualisierung. Ähnlich gehen auch Eisenhardt

(1989) und Mayring (2003: 53) vor.

Ebenfalls Corbin und Strauss (1990) verwenden in ihrer „grounded theory“ ähnliche Kriterien zur

Auswertung. Der Name, „Grounded Theory“, rührt daher, dass die Konzepte zur Theoriebildung in

empirischen Daten grundiert sind, indem Ereignissen begriffliche Labels gegeben werden. Die Basis-

einheit der Auswertungsanalyse sind Konzepte, das heisst, Beobachtungen, die durch Theoriever-

wendung zu einem Begriff verdichtet werden. Konzepte, die dasselbe Phänomen betreffen, gruppiert

man zu abstrakteren Kategorien, die wie die Konzepte durch Vergleich konstruiert werden. Diese

bringt die Forscherin zueinander in Bezug. Eine detailliertere Auswertung erreicht man, wenn Ver-

gleiche zu einer Subdivision des originalen Konzepts führen, woraus zwei verschiedene Konzepte

resultieren.51 Ein solches Auswertungsverfahren erleichtert es, die Variationen von Problemlösungs-

strategien des Feldes nicht aus den Augen zu verlieren und immer ein Anfänger zu sein, der viele

Möglichkeiten sieht.

50

Ähnlich gehen Corbin und Strauss 1990 vor. Auch sie betonen, strukturelle Konditionen wie kulturelle Werte und politische Trends zu beachten. 51

Beispielsweise lindern Krankenschwestern die Schmerzen der Patienten und Patientinnen nicht nur medika-mentös sondern auch durch Gespräch. War man anfangs der Ansicht, Schmerzen werden immer durch Medi-kamente gelöst, bedeutet eine Abweichung unter denselben Konditionen nicht, dass die These falsch sei. Viel-mehr führt die Beobachtung zu einer Subdivision der Kategorie. Forschende haben herauszufinden, wieso die Krankenschwester in diesem Fall anders handelt.

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56

4 Der Umgang mit Politik als Ausgangsproblem

In der vorliegenden Untersuchung geht es darum, wie in einem Umfeld wirtschaftlich kommuniziert

wird, dessen Teilnehmer sich nur selten auf politische Erwartungszusammenhänge des Landes bezie-

hen. Das Ausgangsproblem dieser Arbeit ist also eine lokale Besonderheit des Umgangs mit machtba-

sierter Kommunikation. Man könnte das Ausgangsproblem anders formulieren und behaupten, die

Politik sei in einem solchen Umfeld schwach, doch es ist nicht die Politik, die Schwäche zeigt, sondern

es sind die lokalen Kausalschemata der Teilnehmenden, die einen besonderen Umgang mit politi-

schen Erwartungen des Landes erwarten und reproduzieren. Es geht dabei ebenfalls um die Frage,

wieso Lima als eine eigenständige Variante der funktionalen Differenzierung in der Weltgesellschaft

in Betracht kommt bzw. wie sich Lima als Region in der Weltgesellschaft ausdifferenziert.

Dieses Kapitel diskutiert zuerst die Geschichte der Staatsgründung Perus und die damit verbundene

„Nicht-Erwartung“ gegenüber staatlichen Institutionen. Theoretiker beobachten diese Abwesenheit

von Erwartungen gegenüber dem Staat und sprechen von einer Zweiteilung der Gesellschaft. Dies ist

interessant. Zugleich kann man deren Theorien auch als Analysen der Regionalisierung lesen, da sie

sich für die Besonderheit peruanischer Erwartungszusammenhänge interessieren.

In einem zweiten Schritt werden diese Erkenntnisse anhand lokaler Semantiken der Korruption ver-

tieft. Dieses Vorgehen dokumentiert verschiedene informale Typen des Anschlusses an moderne

politische Kommunikation. Ich verwende die Ausdrucke „informale Anschlussformen an moderne

Praktiken“ oder „Umgangsformen mit modernen Praktiken“ als Synonyme, da sich die Informalität

immer auf die Formalität bezieht und indirekt insofern automatisch an diese anschliesst, auch wenn

sowohl die Formalität als auch die Informalität autonome Eigenlogiken entwickeln. Die Informalität

ermöglicht jedoch die Formalität; die Informalität ist also nie losgelöst von formalen Sinnzusammen-

hängen zu betrachten. So lautet die Forschungsfrage präziser: Wie wird in einem Umfeld gewirtschaf-

tet, dessen Teilnehmer und Teilnehmerinnen selten formal an moderne politische Kommunikation

anschliessen?

Wenn von Varianten des Anschliessens an politische Kommunikation des Landes die Rede ist, ist In-

formalität angesprochen. Von besonderem Interesse ist es, in Lima eine in sich variantenreiche In-

formalität vorzufinden. Informalität basiert einerseits auf Netzwerken; sie kommt andrerseits aber

auch ohne diesen Erwartungszusammenhang aus. Insbesondere die Informalität jenseits von Netz-

werken betrifft den täglichen Umgang mit politischer Kommunikation des Landes und ist für das Ver-

ständnis unseres Ausgangsproblems essentiell.

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4.1 Partielle Anschlüsse an moderne politische Kommunikation

Wie beobachtet man einen andersartigen lokalen Umgang mit modernen politischen Erwartungen?

Die Antwort beginnt mit folgender Aussage eines peruanischen Unternehmers, der grössere Waren-

mengen von Europa nach Peru importiert: “Für den ganzen Lastwagen geben sie dem Zöllner eine

gewisse Menge Geld. Der Zöllner weiss es schon, er besitzt sogar bereits seinen Tarif, alle Zöllner

teilen es untereinander und er [der Lastwagen] passiert. Und das ist die billigste Methode, legal, legal

in Anführungs- und Schlusszeichen“ (Burch 18.11.2008).52 Für den Unternehmer sind Bestechungs-

geld und Legalität in diesem Fall quasi normal; es handelt sich um Routine und nicht um widersprüch-

liche Grundsätze. Der Unternehmer beteuert, er habe diesen lokalen Erwartenserwartungen zu ent-

sprechen, um international erfolgreich zu wirtschaften. Diese nichtkapitalistische Praktik des Waren-

exportes beobachtet er auch bei seinen Kollegen in Gamarra, dem Textilcluster, welches uns in Kapi-

tel 5 bis 6 hauptsächlich beschäftigen wird. Doch lassen Sie mich vorerst weiterhin die ganze Metro-

pole Limas betrachten, um der Frage nachzugehen, wieso dieser urbane Raum eine eigenständige

Variation in der Weltgesellschaft darstellt und wie das Ausgangsproblem für die vorliegende Unter-

suchung gelagert ist. Fragt man den Unternehmer genauer, was er unter „legal“ versteht, erklärt er:

„Legal, legal, das nennt man die Verzollung. Aber es ist keine Verzollung… es ist eine Verzollung [in

Form eines] institutionalisierten Bestechungsgeldes“ (Burch 18.11.2008).53 Dem Staat entgeht dabei

sehr viel Geld: “Ich weiss, dass in Ecuador – und das erzählen mir sehr enge Freunde, es ist also be-

wiesen – eh, sie sagen mir auch: Ich importierte [für] 100‘000 Dollars, aber ich habe Steuern für 5000

Dollars bezahlt. Anders gesagt, die Evasion ist…! Und wenn man Importware für 100‘000 Dollars

bringt, dann müsste man eine Abgabe zwischen 30% und 40% bezahlen. Sprich, du kannst dir vorstel-

len, mit welcher Menge Geld hier umgangen wird“ (Burch 08.12.2008).54 Legitimiert wird diese in-

formale auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft statt findende Institution der Bestechung folgen-

dermassen: „In Peru gibt es keine [staatliche] Hilfe, hier gibt es nicht viel [staatliche] Hilfe und des-

halb sträubt man sich sehr, Steuern zu bezahlen“ (Burch 18.11.2008).55 Man hat es quasi mit einer

doppelten Abwesenheit des Staates zu tun. Erstens fallen bei Import- und Exporthandlungen keine

staatlichen Abgaben an und zweitens existiert kaum ein Wohlfahrtsstaat. Ist letzteres ein Grund, dass

52

Original: “Por todo el camión le dan una cantidad al aduanero, ya sabe el aduanero, ya tiene hasta su tarifa, entre ellos se reparten, entre todos los aduaneros y pasa, y eso es el método lo más barato; legal, legal entre comillas” Burch 18.11.2008. 53 Original: “Legal, legal, esto llaman el aforo para aforar. Pero no es un aforo, es un aforo, es una coima institucionalisada” Burch 18.11.2008. 54

Original:„Yo sé que en Ecuador y eso me cuentan muchos amigos muy cercanos, entonces es probado, eh, ellos me dicen igual importé 100’000 dolares pero yo he pagado impuesto por 5000 dolares. O sea la evación es... y uno cuando traen importación de 100’000 dolares el impuesto que hay que pagar más o menos es en total entre 30 y 40%. O sea te imaginas la cantidad que allí el dinero evade” Burch 08.12.2008. 55

Original: “En el Perú no ayuda, allí no hay muchas ayudas y por eso es que se resiste mucho a pagar impuesto” Burch 18.11.2008.

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58

der peruanische Staat von seinen Bewohnern so schlecht legitimiert ist? Der peruanische Unterneh-

mer bedauert jedoch nirgends wirklich, dass in Lima kein Wohlfahrtsstaat existiert, sondern führt

sein eigenes Importhandeln gar auf dessen Abwesenheit zurück.

Ein Rückblick in die Geschichte zeigt, Peru ist ein Konstrukt, das vor Ort niemand wollte. Diese Versi-

on der Staatsgründung verbergen peruanische Historiker laut Bonilla und Spalding (1981) sittsam. Die

Schulbücher von Universitäten verbreiten den Mythos eines vereinten, homogenen Peru, dessen

Unabhängigkeit im Jahre 1821 von den „peruanischen“ Mestizen hart erkämpft wurde. Die Geschich-

te vermittelt ein harmonisches Bild, es lässt Unterschiede und Differenzen verschwinden, denn die

Mestizisierung induziert einen uniformierenden und durchmischenden Prozess, der Gleichheit impli-

ziert.56 Das mestizische Peru erscheint als emanzipierter Akteur der Geschichte. Dies verbirgt die

verschiedenen Interessen, die zum Teil bis heute bestehen. Der Mythos verdeckt, dass das koloniale

Peru hinsichtlich wirtschaftlicher, ethnischer und legaler Kriterien höchst stratifiziert war und dazu-

mal von einer sogenannt emanzipatorischen peruanischen Identität nicht die Rede sein konnte. Im

Gegensatz zu den umliegenden Gebieten besass die Hauptstadt Lima eine Sonderstellung, die das

Interesse an einer Staatsgründung in Form eines Nationalstaates unterband. Bonilla und Spalding

(1981) betonen, dass die Stadt Lima bereits vor Mitte des 16. Jahrhunderts für lange Zeit unter dem

Namen „Ciudad de los Reyes“ (Stadt der Könige) das Zentrum des gesamten spanischen Vizekönigrei-

ches war und seine monarchischen Strukturen bis ins 19. Jahrhundert reproduzierte. Die Unabhän-

gigkeit von der spanischen Kolonialmacht, das heisst, einen Staat wollte im 19. Jahrhundert in Lima

niemand „erlangen“. Denn dies hätte für die Oberschicht bedeutet, auf Privilegien zu verzichten.

Gemäss Silverblatt (2004) entspricht die Idee einer Welt mit souveränen Nationen, welche durch den

Markt verbunden werden, nicht der spanischen Idee von Zivilisation und Gesellschaft. Es war Eng-

land, das darauf bedacht war, sich ein globales Handels- Netzwerk zwischen gleichen und souveränen

Nationalstaaten zu etablieren, mit welchen englische Händler dann gemäss den Regeln der freien

Marktwirtschaft interagieren konnten. Spanien pflegte hingegen, Kontrolle politisch via Verwaltung

auszuüben. England distanzierte sich jedoch von Spaniens Modell des Ersuchens nach politisch-

verwaltungstechnischer Kontrolle und verteufelte im Wettstreit um die globale Vorherrschaft die

damit verbundene spanische Inquisition.57 Silverblatt beschreibt die Inquisition als moderne Instituti-

on, die den formalen Rechtsstaat hervorgebracht hat. So waren die Verfahrensregeln der Inquisition

äusserst genau formalisiert. Diese Bürokratie verpönte England als ungerecht und wollte dieses

„Monster“ auf keine Art und Weise in den eigenen Kolonien in Nordamerika etablieren.58 Während

56

Ein Mestize ist ein Mischling, in dessen Adern „indianisches“ und „europäisches“ Blut fliesst. 57

Die Arbeit kommt im Zusammenhang kommunal-andiner Wirtschaftsstrukturen nochmals auf die altspani-sche Vorstellung von Gesellschaft und Entwicklung zu sprechen. Siehe Kapitel: 6.2.1 Symmetri-sche/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen. 58

Die Kultur-Anthropologin Silverblatt 2004 beschreibt die spanische Inquisition als eine moderne Institution, deren Abläufe stark formalisiert und vorgeschrieben waren. Dies ist ganz im Gegensatz zu den üblichen Inter-

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59

Spanien also staatliche Strukturen als Kontrolle gegen Innen bevorzugte, plädierte die englische Elite

für die Bildung von Staaten als gleiche Agenten gegen aussen, die innerhalb eines Weltmarktes mit-

einander verbunden sind. Weder die spanisch, kreolische Elite noch die Nachfahren des indianischen

Adels kämpfte in Lima jemals für eine unabhängige Republik. Die Aufstände der Indígenas, die 1780

in Tupac Amarus interregionalen Aufstand kulminierten, waren explizit gegen die übertriebene Be-

steuerung der lokalen Corregidores (politische und juristische Administratoren) gerichtet und zielten

kaum auf eine Erlangung der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft. Zudem waren

die Indígenas auf die Hilfe der kreolischen Oberschicht angewiesen um gegen die Corregidores vorzu-

gehen.59 Die Kreolen waren noch weniger bzw. explizit nicht an einer Staatsgründung interessiert und

wollten selbst aufgrund hohen Drucks von Seiten der benachbarten Regionen keine „res publica“

sondern eine "republikanische Monarchie" gründen, um die alten Privilegien zu bewahren. Die Un-

abhängigkeit organisierte Peru bzw. Lima nicht selbst; sie wurde Peru von aussen durch fremde

Truppen aufgezwungen. Der argentinische Unabhängigkeitskämpfer San Martín und Simón Bolívar

aus Venezuela führten die „Befreiungs“-Intervention an, da sich die umliegenden Gebiete von der

peruanischen Monarchie bedroht sahen. Peru ist also ein Staat, den kein „Peruaner“ wollte.

Es finden sich nun etliche Semantiken, die den ungewollten Staat als anormal hybrid bzw. als teil-

modern bezeichnen. Da man sich in Lima aufgrund solcher speziellen staatlichen Unzulänglichkeiten

identifiziert und sich dadurch von anderen Regionen abgrenzt, kann man diese Semantiken auch als

Beschreibung von Regionalisierung lesen. Im Verlaufe dieser Arbeit werden wir jedoch sehen, dass

diese Semantik zu eng gefasst ist, da sie ihren Fokus auf Politik verengt. Die Theorie einer staatlichen

Hybridität ist jedoch interessant und verweist darauf, dass moderne staatliche Erwartenserwartun-

gen in Lima begrenzt sind. Torres (2006) beschreibt das kontemporäre Peru als eine "república mo-

nárquica", eine monarchische Republik, die gegensätzliche vormoderne-lokale und moderne-

demokratische Systeme vereint: “Diese zwei total widersprüchlichen politischen Systeme scheinen

sich als eine paradoxe Spezies in unserem Entwicklungsprozess als Nation zu vereinen;…“ (Torres

2006, S. 25f.).60 Laut Torres werden vormoderne stratifikatorische Strukturen der Vizekönigsgesell-

schaft bis heute aktualisiert. Er bezieht sich dabei insbesondere auf paternalistische Vertrauens- und

pretationen, welche die Inquisition als etwas barbarisch und rückständiges beschreiben. England und später auch Amerika verurteilten die spanische Inquisition scharf. Diese Verurteilung der spanischen Vorgehensweise in den Kolonien ging Hand in Hand mit der Angst vor einer spanischen Weltherrschaft. England distanzierte sich von Spanien und dessen Versuch, eroberte Gesellschaften staatlich zu kontrollieren und setzte auf Marktbezie-hungen. Englands Gesellschaftsverständnis lief über Begriffe der Marktwirtschaft; Planung erfolgte mittels Handel und die damit verbundene Idee der Kreation einer Welt von souveränen Nationen, die durch den freien Markt verbunden werden. 59

Siehe zur letzten indigenen Revolte unter Tupac Amaru auch Bonilla 1981 und eine Monographie von Golte, welche zwar nicht mehr die Neuste ist, aber die Dynamik der wirtschaftliche Erwartungen in der Kolonialzeit neu interpretierte und genau der Frage nachgeht, ob sich die vielen indigenen Rebellionen gegen die spanische Krone oder gegen die Finanzelite Limas wandte: Golte 1980. 60 Original: "Estos dos sistemas políticos totalmente contradictorios [...] parecen fusionarse en nuestro devenir

como nación en una especie de paradoja histórica; ..." Torres 2006, S. 25f..

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60

Freundschaftsbeziehungen, die sowohl Beamte als auch die politische „Kundschaft“ von Beamten

erwarten. Politische Programme oder Parteien sind zweitrangig. Als kausal relevant gelten die Perso-

nen, bzw. die Gunst der caudillos, die noch Besitzer der Ämter zu sein scheinen. Man kommuniziert

im Kongress hinsichtlich bewährter Regeln des Vizekönigszeremoniells. Diese „höfische“ Etikette

fasziniert und wird auch in anderen sozialen Kontexten imitiert.61 Torres kommt deshalb zum Schluss,

Peru bzw. diesen hybriden Staat als eine paradoxe monarchische Republik zu bezeichnen.62

Explizit von einer Krise des Staates und von einer Hybridität spricht auch Matos Mar (2004a, S. 23ff.).

Er stellt die interessante These von zwei verschiedenen parallelen Peru auf, die sich über längere Zeit

entwickelten und sich bis heute reproduzieren. Die Anfänge reichen in die Kolonialzeit zurück. Der

grosse Teil der Bevölkerung erachtete den kolonialen „Staat“ nicht als legitime Regierung, weil dieser

Apparat fragmentierte Rechte für verschiedene Bevölkerungsgruppen vorsah und alles Indigene stark

diskriminierte. Die Nation war in zwei Teile gespalten: Auf der einen Seite befand sich das „Europäi-

sche“, „das Hispanische“, das „Fremde“ und auf der andren Seite das „Native“, das „Andine“, das

„Heimische“. Der peruanische Anthropologe Matos Mar bezeichnet den europäisch-kreolischen

„Staat“ als losgelöst von der restlichen „nativen“ Gesellschaft. Er kongruiert die Sondierung der Poli-

tik mit ethnischer Grenzziehung. Auf der einen Seite befindet sich der europäische Staat und auf der

anderen Seite die andin geprägte Gesellschaft. Matos Mar Idee einer Doppelung ist äusserst interes-

sant und wird im Verlaufe der Arbeit als zentrales Argument theoretisch nutzbar gemacht. Laut Ma-

tos Mar reproduzieren sich diese Grenzen bis heute. Die Verfassung von 1920 und die damit verbun-

dene Gesetzesänderungen, die erstmals dezentrale Regierungen förderten, änderten lange nichts

daran, dass drei Viertel der Bevölkerung von den staatlichen Institutionen exkludiert und direkt ei-

nem Patron, sprich ihrem „hacendado“ bzw. Grundherr, unterstellt waren. Die ersten grossen Ein-

wanderungswellen der indigenen Bevölkerung in die Stadt Lima stabilisierten die Trennung von Staat

und „Gesellschaft“ in den 50er Jahren nochmals. Mit der Einwanderung nach Lima geht eine lokale

Destabilisierung des Politischen einher; moderne politische Kommunikation findet zum zweiten Mal

laut Matos Mar in Lima kaum Beachtung: „Die Trennung von Staat und Gesellschaft […] führte zu

61

Die “höfische Etikette”, die früher der Oberschicht vorbehalten war, wird zum Beispiel in akademischen Krei-sen gerne rezitiert. Von Elias Informalisierungsthese ist also keine Spur. Aber auch unterste Schichten sind davon fasziniert und ahmen die Umgangsformen bei Hochzeiten und Festlichkeiten nach. Es gibt sogar eine Semantik. Gemäss des peruanischen Schriftstellers Vargas Llosa 1985, S. 53 bezeichnet man in Peru eine Per-son, die Umgangsformen höherer Schichten imitiert, als huachafo. Siehe Torres 2006. 62

Man muss dazu anfügen, dass politische Programme temporär eine zentrale Form politischer Kommunikation sind, nämlich in Zeiten von Wahlkampagnen. Zum Teil zerstört sich die moderne Politik durch ihren persönli-chen Umgang mit Wahl-Programmen selbst, denn die Kandidaten versprechen Utopien, die sie im Verlaufe ihrer Amtszeit nicht realisieren (können), was die Glaubwürdigkeit der Politik schädigt. Entscheidungsträger beobachten Unterschiedliches. Das ist nichts aussergewöhnliches, doch Entscheidungsträger sollten lernen zu beobachten, dass sie unterschiedlich beobachten. Es ist ein Fall des Nichtbeobachtens von anderen Beobach-tern, politische Programme nach rein politischer Logik aufzustellen und nicht zu berücksichtigen, dass das Rea-lisieren solcher Programme zum Beispiel an Wirtschaft, nämlich an Geld und an viele andere Erwartungen aus unterschiedlichen Bereichen gekoppelt ist.

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61

einem Beziehungssystem, das sich der Formalität entgegenstellte, das die Mehrheit der Gesellschaft

umfassend und massiv immer definitiver ausserhalb offizieller Normen organisierte…“ (Matos Mar

2004a, S. 65).63 Matos Mar führt an dieser Stelle den Begriff „Formalität“ ein. Er versteht Informalität

ähnlich Tönnies Verständnis von Gemeinschaft, welche sich nicht an einem staatlich-mechanischen

Wesenswillen orientiert. Matos Mar verwendet jedoch einen anderen Gesellschaftsbegriff. So ver-

steht er unter Formalität rechtlich-politische Erwartungen. Die Gesellschaft ist laut Matos Mar hinge-

gen informal strukturiert. Unter Gesellschaft versteht Matos Mar die in Lima anwachsenden “secto-

res populares”, das heisst, die Quartiere der eingewanderten Landbevölkerung, die sich schnell jen-

seits staatlicher Erwartungen in Form von Migranten-Verbänden organisierten, ohne an der politi-

schen Kommunikation des Landes anzuschliessen. Das bezeichnet Matos Mar als „desborde popular“;

was etwa mit „Volksüberschwemmung“ übersetzt werden kann.64 Diese spontanen Assoziationen

sind eine Mischung aus zunftartiger Organisation und andiner-kommunaler Systeme, deren rezipro-

ken Erwartenserwartungen sich in der Region schon seit Jahrhunderten wenn nicht Jahrtausenden

bewährten. So wurden Strassen asphaltiert, die Sicherheit der Quartiere gewährleistet, der Zugang

zu Wasser oder die Beleuchtung organisiert. Der Staat war überfordert, moderne politische und auch

rechtliche Kommunikation fanden wenig Beachtung. Die Zweiteilung ist besonders in der Stadt Lima

sichtbar: „Die zwei Peru greifen in Lima ineinander“ (Matos Mar 2004a, S. 102).65 Da die formale

staatliche Kommunikation lange unfähig war, Kompatibilität zum grossen informalen „Bereich“ her-

zustellen, invadierte das informale, parallele Peru zwischenzeitlich selbst offizielle Strukturen. Einer-

seits operieren Grossfirmen, Berufsverbände und Unternehmer ebenfalls informal, das heisst, meist

extralegal, andrerseits sehen sich der Staat und seine Institutionen gezwungen, die Existenz der

„coima“, das Bestechungsgeld, „anzuerkennen“. Das offizielle Peru geniesst gemäss Matos Mar we-

nig Legitimität; es bleibt den politisch-rechtlichen Institutionen nichts anderes übrig, als sich auf den

aufstrebenden informalen Bereich einzulassen. Insofern ist Lima eine Variation in der Weltgesell-

schaft oder angelehnt an Stichwehs (2006b) stadtsoziologische Semantik, eine Variante der moder-

nen Stadt. Das informale Peru von heute ist nicht mehr auf gewisse Ethnien beschränkt, sondern

durchdringt alle Sozialbereiche. Dabei gehen der Staat und seine moderne politische Kommunikation

als Verlierer hervor. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre änderte sich Lima stark. Die ehemals ärmli-

chen und illegal besetzten Einwanderungsgebiete wandelten sich in formale Distrikte, die sich zu drei

sogenannten geografischen „conos“ gruppieren lassen. Diese beinhalten heute einflussreiche kom-

63

Original: “El divorcio entre el Estado y la sociedad, [...], ha dado lugar al crecimiento de un sistema de relaciones que se opone a la formalidad, amplio y masivo, organizando a las grandes mayorías de la sociedad cada vez más definidamente fuera de las normas oficiales...” Matos Mar 2004a, S. 65 64

Einen weiteren Begriff, der das moderne Reproduzieren von kommunalen Strukturen bezeichnet, entwickel-te Quijano 1980 bereits in den frühen 60er Jahren. Er spricht von „cholificación“. „Cholo“ ist eine Person, die indigene Gewohnheiten pflegt, jedoch in einem städtischen Raum wohnhaft ist. 65

Original: "Los dos Perúes se interpenetran en Lima" Matos Mar 2004a, S. 102.

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62

merzielle Zentren, wobei die Einkommensunterschiede in diesen conos stark variieren. Laut Matos

Mar (2004b, S. 143f) bestehen die beiden Peru bis heute.

Weitere Sozialwissenschaftler sind ähnlicher Ansicht wie Matos Mar. Auch gemäss Durand (2007)

gibt es zwei Peru. Durand reduziert die Unterscheidung jedoch tendenziell auf den geografischen

Raum: “In gewissen Distrikten des nationalen Territoriums ist alles modern, aber Peru ist nicht San

Isidro und San Isidro ist nicht Lima. Wir sind einem anderen Peru gegenüber, das [mit dem modernen

Peru] nicht verbunden ist, sondern ihm eigenständig gegenübersteht und nicht homogen sondern

tiefgründig heterogen ist“ (Durand 2007, S. 30f).66 Dieses andere, heterogene und informal organi-

sierte Peru schwächt laut Durand den Staat und „die Gesellschaft“. Wir finden bei Durand wieder die

These, dass es zwei Peru gibt und moderne politische Kommunikation nur auf einer Seite der Gesell-

schaft, zum Beispiel in San Isidro, dem neuen Finanzzentrum Limas, zu finden ist. Durand unterschei-

det die beiden Peru also hinsichtlich ihrer Organisationsform: Das informale Peru, welches heterogen

und nicht formal organisiert ist und das organisierte Peru, auf dessen Seite alles Staatlich-Politische

angesiedelt ist. Durands Verwendung der Unterscheidung formal / informal ist einleuchtend. Jedoch

ist sie zu vereinfacht gefasst. Bereits das eingängige empirische Beispiel unseres international tätigen

Warenhändlers zeigt, dass Organisationen in Lima nicht simpel der formalen oder Informalen Seite

zugeordnet werden können. Folglich muss immer von einzelnen Praktiken bzw. Erwartungszusam-

menhängen die Rede sein.

Zusammenfassend möchte ich festhalten: Gemäss Matos Mar und Durand sieht sich die moderne

Politik in Lima anderen lokal gewachsenen Erwartungszusammenhängen gegenüber. Man findet in

Lima eine über Jahrhunderte historisch reproduzierten Parallelgesellschaft, die sich auf historisch

gewachsene Kausalmuster bezieht. Die Parallelgesellschaft begann mit der Ankunft der Spanier bzw.

mit der Emergenz der Weltgesellschaft. Mehr und mehr kongruiert die Grenze der beiden Sozialbe-

reiche laut Matos Mar nicht mehr mit einer ethnischen Grenzlinie. Während in den 50er und 60er

Jahren die Parallelgesellschaft noch vor allem aus entkoppelten ethnischen Bereichen bestand, hat

sich das Bild heute geändert. Andeutungsweise wurde diese Entkopplung bereits im 19. Jh. ersicht-

lich, als in Lima niemand, das heisst, auch nicht die weisse Oberschicht, einen peruanischen Staat

erwartete. Seither und vor allem seit den grossen Einwanderungswellen in den 50er Jahren wird in

der Literatur das modern Staatliche als schwach legitimiert beschrieben und muss sich auf eine Seite

der Gesellschaft beschränken. Bereits an dieser Stelle kann also festgehalten werden, dass Mascare-

ños (2003) These auf Lima nicht zutrifft. Mascareño postuliert, in Lateinamerika dominiere die Politik

als zentrales Funktionssystem über die anderen Funktionsbereiche. Aber Mascareños Idee einer kon-

zentrischen funktionalen Differenzierung ist für Lima nicht haltbar. Das Staatlich-Politische ist in Lima

66 Original: "En ciertos distritos del territorio nacional todo es moderno, pero el Perú no es San Isidro y San

Isidro no es Lima. Estamos frente a otro Perú, que más que articulado está descoyuntado y más que

homogéneo es profundamente heterogéneo" Durand 2007, S. 30f.

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63

in einer marginalen Position; die meisten Teilnehmer beachten staatlich-politische Erwartungen nicht

oder nicht direkt. Moderne Politik ist in Lima durchaus vorhanden; die Form der funktionalen Diffe-

renzierung ist in Lima nicht gefährdet. Ugarteche (1999 (1998), S. 29) spricht wie viele andere Sozial-

wissenschaftler von einer Krise der Politik: „…der Staat existiert und funktioniert; schlecht aber er

funktioniert“.67 Er negiert ebenso wenig wie Matos Mar (2004a) die Existenz eines modernen Staates.

An modernes politisches Handeln anzuschliessen ist in Lima zuweilen eine Herausforderung und ist

oft nur durch Informalität erreichbar. Um diese Formen des Anschlusses handelt nun das nächste

Kapitel. Kommen wir dazu nochmals auf unser anfängliches Statement des international tätigen Un-

ternehmers aus Lima zurück, der Waren quasi problemlos „legal anhand von Bestechungsgeld“ ein-

und ausführt. Es ist jedoch nicht so simpel, „legal“ anhand von Bestechungsgeld Waren über politi-

sche Grenzen zu bringen, wie uns der Unternehmer meinen lässt. Der Zöllner kann sich prinzipiell

immer auch auf die formalen Regeln, die in Lima ebenfalls bekannt sind, berufen und einen Beste-

chungsversuch sanktionieren. Diese Alternative beider Welten, der offiziellen als auch der inoffiziel-

len, generiert ein Unsicherheits-Problem. Das folgende Kapitel zeigt, wie Teilnehmer und Teilnehme-

rinnen dieses Risiko in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich lösen.

67

Original: “... el Estado existe y funciona; mal, pero funciona” Ugarteche 1999 (1998), S. 29.

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64

4.2 Korruptionssemantik: Informalität innerhalb und jenseits von Netzwer-

ken

Ist von einer dauerhaften Krise des Staates die Rede, kommt man kaum am Begriff der Korruption

vorbei. Die Korruptionssemantik und der lokale Anschluss an moderne politische Praktiken stehen in

Lima in einem engen Bezug. Uns interessieren nicht die Ursachen der Korruption sondern der Korrup-

tionsdiskurs selbst. Lima ist nicht eine besonders moralisch verwerfliche Stadt; die Erwartungsunsi-

cherheiten sind jedoch anders gelagert, wobei sich Limas Wertesystem auf interessante Art und Wei-

se in der lokalen Korruptionssemantik spiegelt und zeigt, wie die Teilnehmer politisch administrative

Probleme auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft lösen. Erst das Verständnis solcher Praktiken

verdeutlicht das Ausgangsproblem der vorliegenden Studie. Lokale Lösungsansätze, die nicht den

Erwartungen mächtiger Institutionen und Beobachtern der weltgesellschaftlichen Vorderbühne ent-

sprechen, sind mit einem gewissen Risiko behaftet. Sowohl staatliche Institutionen bzw. politische

Leistungsrollenträger als auch politische Publikumsrollenträger müssen sich mit diesem Risiko ausei-

nandersetzen. Politische Leistungsrollenträger haben es besonders schwierig. In einem Aufsatz zur

Nation und Weltgesellschaft spricht Stichweh (2000b, S. 58) von einer Modernitätsverpflichtung, der

alle Staaten gegenüber der Weltgesellschaft unterliegen; politische Leistungsrollenträger sind also

gleichzeitig zwei Publika ausgesetzt: Den globalen Beobachtern der Weltgesellschaft und den lokalen

Bürgern. Wird in Lima Modernitätsverpflichtungen nachgegangen, die teilweise zu lokalen Erwartun-

gen im Widerspruch stehen? Wie geschieht dies?

Ich wende mich zuerst kurz einer als formal wahrgenommenen Problemlösungsmöglichkeit zu: Am

offensichtlichsten sind es Limas Antikorruptionsbüros, die auf solche globalen Erwartungen reagie-

ren. Modernitätserwartungen werden auch vom lokalen Publikum erwartet. Kandidaten, die Ende

2010 um die Präsidentschaft konkurrierten, eröffnen solche Büros oder stärken bestehende und er-

hofften sich somit jedenfalls einen Vorteil bei ihrem Publikum.68 Die Büros werden möglichst sichtbar

wie Flaggen aufgestellt und geniessen in breiten Bevölkerungsschichten wie Studenten und mittel-

ständischen Familien eine hohe Legitimität. Interessanterweise geniessen im Gegensatz dazu staatli-

che Büros kaum Prestige. Nur Antikorruptionsbüros kümmern sich sowohl entsprechend der Alltags-

semantik als auch in den peruanischen Medien um den „Fortschritt“ des Landes. Auf der Ebene der

Praktiken unterscheiden sich die Korruptionsbüros jedoch nicht von den weit weniger legitimierten

staatlichen Büros bzw. Anlaufstellen. So ist es in diesem Fall interessant, Semantik und Struktur zu

unterscheiden. In der soziologischen Literatur wird auf die Wichtigkeit dieser Unterscheidung hinge-

wiesen. Bohn (2008) betont in einem Aufsatz zur Theorie der Inklusion und Exklusion, den Zusam-

menhang zwischen Semantik und Struktur bzw. Praktik genauer zu analysieren. Dieser Befund ist für 68

Siehe den Zeitungsartikel: Andina. Agencia peruana de noticias. 2010.

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65

das Verständnis von Limas Korruptionsdiskurs zentral. Obwohl die Semantik zwischen politischen

Büros und Korruptionsbüros unterscheidet, sucht man in der Sphäre der Praktiken vergebens nach

diesem Unterschied: Eine Anwältin, die in einem Antikorruptionsbüro arbeitete, ist der Meinung,

dass es durchaus legitim sei und es gar erwartet wird, den eigenen Kollegen und Freunden zu helfen:

„Eh, ich brauchte eine zertifizierte Kopie meiner Geburtsurkunde, die sich im Archiv des Zivilregisters

befindet. Dies kostet in der Gemeindeverwaltung acht Nuevos Soles... Eh, ich erinnere mich, dass ich

einen Freund (amigo) darum bat, der dort arbeitete. Ich sagte ihm: „Kannst du mir meine Geburtsur-

kunde kopieren?“ Und er kopierte sie mir.“69 Korruptionsbüros sind also in der Semantik etwas Be-

sonderes; auf der Ebene der Praktiken sind sie jedoch etwas Allgemeines und unterscheiden sich

nicht von anderen Büros. In allen Büros wird von Kollegen und Freunden erwartet, dass man erwar-

tet, Gefälligkeiten zu tauschen. In Lima nennt man diesen erwarteten Tausch: „Sich die Hand rei-

chen“ (dar la mano). 70 Den Ausdruck versteht man erst in seiner vollen Bedeutung, wenn man weiss,

von welcher Bezeichnung er sich unterscheidet. „Dar la mano“ ist der Gegenbegriff zu „romper la

mano“, was so viel wie „die Hand brechen“ bedeutet. 71 Diese semantische Unterscheidung spiegelt

69

Original: “Eh,tuve que sacar una copia certificada de mi partida de nacimiento que está en los archivos de registro civiles y que tiene costo de s/. 8.00 nuevos soles en la municipalidad...eh yo me acuerdo que se lo pedí a un amigo que trabaja allí. Le dije: “Me puedes sacar la fotocopia de mi partida?” Y él me lo sacó.” 70

"Dar la mano“ übersetzt Meza 2008, S. 305, eine Professorin der peruanischen Gesellschaft für „Estudios Léxicos“ als „Hilfe erweisen“ oder „jemanden begünstigen“. Die Wendung „dar la mano“ ist in anderen spanischsprachigen Regionen als „tender la mano“ (die Hand aus-strecken, um zu grüssen) üblich Meza 2008, S. 305. Angesichts der Tatsache, dass „mano“ in dieser Form nur in Peru mit Korruption in Verbindung gebracht wird, ist die Bedeutung der beiden Korruptonsbegriffe nicht im Spanischen, sondern im Quechua zu suchen. So erklärt sich auch, wieso der Diminutiv „dar la manito“ ge-bräuchlicher als „dar la mano“. In allen Sprachvarianten des Quechua gilt die Verkleinerungsform als Zeichen der Vertraulichkeit. „Ayudar“ (helfen) und die Redewendung „dar una mano“ sind im modernen Quechua in einem Begriff zusammengefasst, nämlich „Makinchay“ (wörtl: „Hände machen“). Academia Mayor de la Lengua Quechua/ Qheswa Simi Hamut’ana kurak Suntur 1995, S. 289f. Das Wort „makinchay“ benutzt “ayudar” (hel-fen) in der Bedeutung von „ayudar a una tarea ajena para concluir el trabajo” (bei einer fremden Arbeit helfen, um die Arbeit zu vollenden). Arbeit wird in Peru sowohl vor der Etablierung der funktionalen Differenzierung als auch danach mit „Macht“ in Bezug gebracht. So steht schon im ältesten Quechua-Dictionnaire aus dem Jahre 1608 Holguin 1989 (1608), S. 581. „Callpactamccuni“ für „dar la mano o poder (Macht)“, wörtlich würde man den Term mit „sich bemächtigen“ übersetzen. Auch bedeutet die Quechua-Redewendung “ñocapas ma-quiyoctacmicani”: “Mehr als ein anderer sein” Holguin 1989 (1608), S. 581. „Maquiyoc“ bedeutet wörtlich „Hände besitzen“. Jemand, der im Besitz grosser Hände ist bzw. viel Arbeit hat und kommunale Ämter über-nimmt, geniesst in der Comunidad soziales Ansehen bzw. Prestige. „Romper la mano“ könnte folglich „die Macht brechen“ bedeuten, weil man Reziprozität nicht einhält. Auf diesen komplementären Ausdruck komme ich soben im Haupttext zu sprechen. 71

Meza 2008, S. 305: 310 umschreibt die Wendung „romper la mano“ lediglich als „ sobornar o dar dinero a cambio de algún favor” (bestechen oder Geld geben für eine Begünstigung) und fügt hinzu, der Ausdruck exis-tiere nur in Peru. Auch in peruanischen Foren Word Reference.com Language Forums 2008 definiert man die Wendung: "’Le está rompiendo la mano’" quiere decir que le está entregando un soborno o una ‘coima’”. Einerseits fällt auf, “rom-per la mano“ ist von allen peruanischen Korruptionsbegriffen dem Wort “korrumpieren” am ähnlichsten. „Kor-rumpieren“ stammt vom lateinischen „corrumpere“ (völlig zerbrechen). Andererseits fragt man sich, was das Wort „mano“ (Hand) in der Redewendung bedeutet. Gemäss der öffentlichen Meinung, die auch in peruani-schen Foren Ausdruck findet, wird “mano” hinsichtlich Korruption im Vergleich zum spanischsprachigen Kom-munikationsraum in Peru gehäuft verwendet. So heisst „bestechen“ in Lima auch “untar la mano” (die Hand

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66

sich wiederum im lokalen Wertesystem: Unsere peruanische Anwältin differenziert eine grosse und

kleine Korruption. Korruption erklärt sie allgemein folgendermassen: “ Ich glaube, sie [die Korrupti-

on] ist ein Übel, das Peru sehr schadet; vor allem die ganz, ganz grosse Korruption, die in den höchs-

ten Sphären des Staates begannen wird. […] Ich würde sagen, jene kleine [Korruption] schadet auch,

aber sie schadet nicht so stark, weil alles was bei ihr im Spiel ist, generell nichts mit Geld zu tun hat,

sondern mit persönlichen Interessen wie zum Beispiel eine bessere Arbeitsposition oder schneller ein

Verfahren zu erreichen, usw.“72 Die Ausdrücke „dar la mano“ und „romper la mano“ bewerten die

strukturell gleiche Praktik einmal als solidarisch und ein anderes Mal als unsolidarisch in Form von

„romper la mano“ (die Hand brechen). Korruption ist in Lima nicht gleich Korruption. Korruption

kann, obwohl es sich angeblich um etwas Negatives handelt, moralisch anerkennt werden, wenn es

sich um eine kleine Form derselben handelt.

Ein Beispiel einer kleinen Variante der Korruption ist das oben zitierte Erwartungsschema, Freunden

und Bekannten zu helfen. Manchmal migrierten solche Bekannten auch aus derselben Gemeinde,

dem gleichen Dorf oder der gleichen Stadt nach Lima; aber dies wird inzwischen immer unwahr-

scheinlicher und somit gestaltet sich der Aufbau der Freundes-Netzwerke komplexer. Mauss‘ (1990)

Konzept des Gabentausches lässt sich auf Dienstleistungen erweitern. Marcel Mauss‘ totale Instituti-

on des generalisierten Tausches wird in Lima also reproduziert, um gewisse administrative Probleme

schnell zu lösen, bzw. um Verfahren zu umgehen. Scott (1969: 330) nennt die von allen erwartete,

aber nur halb legitime Tauschpraktik: „Parrocial corruption“. Der Gabentausch wird in Lima schon

seit Jahrtausenden reproduziert und geht auf vorspanische Erwartungszusammenhänge zurück, die

der indianische Quechuabegriff „Ayni“ (symmetrischer bzw. reziproker Tauschvorgang zwischen Glei-

chen) zusammenfasst.73 Die Institution ersetzte vor der Ankunft der Europäer die Marktwirtschaft.

Gaben wurden innerhalb eines Segmentes (Dorfgemeinschaft) bzw. zwischen Personen gleicher Her-

kunft getauscht. Diese Erwartung reproduziert sich heute als Dienstleistungs-Gabentausch zwischen

Freunden und Bekannten. Eine Dienstleistung zeichnet sich als Leistung aus, insofern sie ein Zu-

einschmieren), während man in Spanien bloss „untar“ sagt. Siehe das Sprach-Forum Word Reference.com Language Forums 2008. 72 "Yo creo que es un mal que hace mucho daño al Perú, que sobre todo la corrupción más, más grande es la

que se comete en las esferas más altas del Estado. [...] Yo diría esa pequeña [corrupción] tambien hace, pero no hace tanto daño porque en ella lo que está en juego generalmente no tiene que ver con dinero, sino intereses personales como de mejor posición laboral, de acceder mas rápido a un procedimiento, etc." Burch 27.11.2008. 73

Im ältesten Quechua-Wörterbuch (Gonzalez 1989: 40) von 1608 wird „ayni“ mit „recompensar o pagar en la misma moneda“ (belohnen oder bezahlen mit der gleichen Geldsorte) übersetzt. Der Begriff hat sich nach knapp 400 Jahren kaum geändert: „Ayni“ heisst auch heute „Recompensa” (Belohnung), “mutualidad” (Gegen-seitigkeit) und wird erklärt als „Formas de reciprocidad económica, cultural, moral que funcionan con meca-nismos jurídicos propios…“ (Formen der wirtschaftlichen, kulturellen, moralischen Reziprozität, die mit eigenen juristischen Mechanismen funktionieren…). Siehe Academia Mayor de la Lengua Quechua/ Qheswa Simi Hamut’ana kurak Suntur (1995: 38.). Das Ayni bezeichnet die Kooperation verschiedener Familien beispielswei-se zur Bestellung ihrer Felder oder der Einbringung der Ernte.

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gangsproblem zur Formalität löst. Dabei wird der Erwartungszusammenhang nicht nur innerhalb von

Dorfgemeinschaften sondern auch innerhalb von Netzwerk- oder allenfalls innerhalb von Familien-

kommunikation vollzogen (Burch 2010). Was bedeutet die Institution „Ayni“ den Teilnehmern in Lima

heute? Die Buchhändlerin (Burch 15.11.2008) erinnert sich an die Tauschvorgänge des Ayni in ihrem

Herkunftsdorf bevor sie nach Lima migrierte: „Es gab kein Geld, wir haben uns bloss geholfen. Ich

brauchte dich, du mich, [um] auf diese Weise das Dach der Häuser zu bauen, zum Beispiel. Das was

du [mittels Ayni] machst, sind Gemeinschaftsaufgaben. Das ist sehr schön“.74 Auch die Anwältin

(Burch 27.11.2008) erachtet die Institution des Ayni als „…alles schön menschlich, um sich gegensei-

tig zu helfen. Ja, denn alle werden zu einer Familie […] ‚Heute für dich und morgen für mich‘, das war

der Leitspruch“.75 „Ayni“ ist eine reziproke Kollaboration und zwar eine: „relación muy bonita“, „eine

sehr schöne Beziehung“ (Burch 15.11.2008). Fragt man danach, wie sich die universalistische Re-

ziprozität im Stil des Ayni von der Korruption unterscheidet, sagt die peruanische Buchhändlerin

(Burch 15.11.2008): „El dinero corrompe“ (Das Geld korrumpiert) und auch die Anwältin (Burch

27.11.2008) konstatiert: „Normalerweise sind die Leute, die Geld haben, die Leute, die am meisten

bestechen“.76 Werden also reziproke Tauschformen, die verschiedene Funktionsbereiche umspannen

und monetäre Mittel beinhalten, als korrupt erachtet? Beschränkt sich der legitime Austausch auf

„favores“ (Gunsterweisungen) bzw. auf Dienstleistungen, ohne gleichzeitige monetäre Kompensati-

on? Informale Problemlösungen, in welchen Geld den Besitzer wechselt, muss hinsichtlich Zweck

oder Mittel unterschieden werden; das heisst, es ist essentiell, ob der Geldtausch Zweck oder Mittel

zum Zweck ist.77 Sobald Geld und nicht die Hilfeleistung (favor) im Zentrum des Geschehens steht,

handelt es sich um eine grössere Korruption. Auch beim Ayni handelt es sich um Hilfeleistungen und

nicht um eine Art des Sich-Bereicherns. Mauss segmentärer generalisierter Gabentausch wandelte

sich in so etwas wie in einen netzwerkförmigen Dienstleistungstausch, der allenfalls familiäre Ver-

dichtungen aufweist. Insbesondere dient Geld bei der kleinen Korruption nur als Mittel zum Zweck.

Anhand solcher Tauschvorgänge werden in erster Linie persönliche Beziehungen gepflegt. Ich komme

auf diesen Zusammenhang in Kapitel 9.1 nochmals zu sprechen. Interessant ist, wie die Unterschei-

dung Korruption / Ayni von den Teilnehmenden erläutert wird. Die Begründung zeigt, was als das

Korrupte der Korruption verstanden wird und welche informale Praktiken der „kleinen Korruption“

zur Lösung politisch-administrativer Probleme generell erwartet werden. Solche informale Alltags-

strategien zeigen, wie und wann an staatlich-politischen Erwartungen des Landes nicht angeschlos-

sen wird und belegen das Ausgangsproblem dieser Untersuchung. Mauss‘ totale Institution des Ga-

74 Original: „No había dinero, simplemente nos hemos ayudado, yo necesitaba de tí, tú de mí, así, hacer el techo de las casas por ejemplo. Lo que haces son trabajos comunitarios. Eso es tan bonito...” Burch 15.11.2008. 75 Originalsprache: „…todo bien humano para ayudarse mutuamente. Sí, entonces todos serán como una

familia. […] ‚Hoy por tí y mañana por mí‘, eso era el lema“ Burch 15.11.2008. 76

Original: „Generalmente la gente que tiene dinero, es la gente que más corrompe…“ Burch 27.11.2008. 77 Siehe dazu Kapitel 9.

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bentausches passt jedoch noch besser zu einer weiteren Art des Umgehens von staatlich-politischer

Kommunikation des Landes: Die informale Seite der Weltgesellschaft, die sich auf politisch-formale

Probleme bezieht, ist komplexer. Sie basiert nicht nur auf Freundschafts-Netzwerken.

Teilnehmende können in Lima nicht erwarten, in jedem Büro der Verwaltung einen „amigo“ bzw.

Freund sitzen zu haben. Auch in Lima findet politisch-administrative Kommunikation zwischen

Leistungs- und Publikumsrollenträger mehrheitlich als Kommunikation zwischen Unbekannten statt.

Wie werden in solchen Fällen die Risiken eines Nichteinhaltens von modernen Erwartungen verarbei-

tet? Es gibt in Lima eine zweite Form der kleinen Korruption. Wir wollen uns weitere Begriffe der

Korruptionssemantik und deren Bedeutung vor Augen führen. In Lima existiert ein auffällig umfang-

reicher Begriffsapparat zur Beschreibung korrupter Tatbestände. Ein Begriff, der an Formulierungen

anderer Regionen in der Weltgesellschaft erinnert, ist das Verb „aceitar“ (schmieren, ölen). Unsere

Anwältin erklärt „aceitar“ als „dar dinero por lo bajo para lograr beneficios propios” (für eigene

Profite heimlich Geld geben). Mit Geld kann man Zeit generell kaufen; es dient als Schmiergeld, das

die Autonomie der Reihenfolge des verwaltungstechnischen Prozessierens hintergeht. Nicht die Ge-

suche, die zuerst eingereicht wurden, finden zuerst Beachtung, sondern diejenigen, die ökonomisch

mehr „wert“ sind. Gemäss Aussagen der Teilnehmenden sind die Leute, die mehr Geld besitzen, die

Leute, die korrumpieren: „…sie können es ‚spenden’, indem sie es in Bestechungsgeld konvertieren“

(Burch 27.11.2008). Dem Geld, anhand dessen die Konvertibilitätssperre der Politik zu anderen Funk-

tionsbereichen teilweise übergangen wird, hängt etwas Gefährliches an. Die gefährliche Macht des

Geldes muss in der Kommunikation invisibilisiert werden; Geld wird schnell mit der grossen Korrupti-

on konnotiert. Vor allem wenn man sein Gegenüber nicht kennt, besteht die Gefahr, dass der Andere

unerwartet auf die formale Seite weichselt. Um das Anfangsrisiko einer solchen Kommunikation zu

senken, verzichten die Teilnehmer auf sämtliche monetäre Termini. Aber wie induziert die Kommuni-

kation Tauschabsichten, die Konvertibilitätssperren umgehen, wenn Geld verschwiegen werden

muss? Informalität muss Formalität stets im Auge behalten, um erfolgreich zu sein.

Kommt der Tauschvorschlag von Seiten eines (politisch-administrativen) Leistungsrollenträgers wen-

det sich dieser zu Beginn nicht mit einer Frage sondern mit einer simplen Tatsachenfeststellung an

sein unbekanntes Gegenüber. Eine peruanische, international tätige Buchhändlerin berichtet aus

eigenen Erfahrungen: „Hay una solución para todo.“ (Es gibt eine Lösung für alles.) (Burch

15.11.2008). Weiter erklärt sie: „Man spricht nicht von Geld, stattdessen sagen sie dir: ‚Und wie

glaubst du, können wir das regeln? ‘ (Burch 15.11.2008).78 Ego wird einen zweiten, informalen Weg

unterbreitet, ohne ihn zu nennen, weil man erwarten kann, dass Ego, selbst wenn es sich um einen

78 Original:„No hablan de dinero, sino te dicen: ‚Y cómo crees que lo podemos arreglar?” Burch 15.11.2008.

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Unbekannten handelt, weiss, wovon die Rede ist.79 Allerdings enthält diese Erwartenserwartung

nicht die Höhe des Betrages bzw. kommuniziert sie nicht den Wert gegen den eine politische Kom-

munikation angeboten wird. Wie wird also der Preis festgelegt, wenn Geld nicht thematisiert werden

kann?

Die Problemlösungsstrategien, die im Folgenden erläutert werden, verstehen nur Insider, was umso

mehr verdeutlicht, dass Lima eine Region in der Weltgesellschaft ist, die sich von anderen Differen-

zierungsregionen derselben unterscheidet. Zur Veranschaulichung dient uns eine Situation vor einem

Büro, vor dessen Tür sich eine überaus lange Warteschlange gebildet hat. Dieses Problem wird von

zwei Personen, einem Bewohner Limas und einer in Peru geborenen, aber schon länger in der

Schweiz wohnhaften Peruanerin, unterschiedlich bewertet:

„Ich setzte mich in die Warteschlange und mein Bruder, der von dort ist, näherte

sich, sprach mit dem Polizisten […] und ging und sprach mit dem Polizisten weiter

vorn. […] Dann kommt mein Bruder zurück und sagt mir: ‚Was bleibst du hier sit-

zen? ‘ Ich sage ihm: ‚Der Herr sagte mir, dass ich anstehen muss‘. ‚Schweizerin!

Steh auf. Steh auf! […] Und was passierte? ‚-Schau, ich sprach mit dem compadre,

demjenigen der Warteschlange, nicht wahr. Und er sagte mir: ‚Ein Poulet‘. […].

Aber wo werden wir jetzt ein Poulet kaufen!? ‘ – China [Frau des Gauchos]! Soviel

wie ein Poulet kostet! ‘ […] Ich dachte, dass ich ein Poulet kaufen werde. […] Und

ich gab ihm dreissig [Nuevo Soles]. Und dort fühlte ich mich schlecht. […] Schlecht,

weil ich diese dreissig Soles hatte, ja? Aber die anderen Leute mussten warten. So

gaben wir dem Typen das „Poulet“ und er liess mich passieren“ (Burch

15.11.2008).80

In dieser Interaktion kollidieren zwei Wertesysteme, obwohl die beiden Personen Geschwister sind.

Für den Bruder besteht kein Wertebruch, wenn er mit dem Polizist Geld gegen Macht tauscht. Er

betitelt die Aufsichtsperson der Warteschlange, familiär als „compadre“, das heisst, als einen Anver-

wandten, mit dem man reziproke Tauschverhältnisse einzugehen pflegt.81 Für dessen Schwester ist in

79

Hier wurde in Anlehnung an Luhmanns Kommunikationstheorie nicht “alter” sondern “ego” gesetzt, weil Kommunikation beim Verstehen passiert. Siehe: Luhmann 1987a. 80 Original: “Yo me senté allí y mi hermano que es de allá se acercó, habló con el policía [...]. Y se fue mi hermano y se habló con el policía de adelante. ¿Ja? [....] Enconces mi hermano regresa y me dice: ¿“Qué te vas a quedar sentada allí?” Le digo: “Sea, ha dicho el Señor que tengo que hacer cola”. - ¡“Suiza! ¡Párate, párate!” [...] ¿Y qué pasa? - Mira, yo hablé con el compadre, el de la fila, ¿no? Y me ha dicho un pollo. [...] - ¿Pero dónde vamos a comprar un pollo ahora?!” - ¡“China!” me dice, “lo que cuesta un pollo!” [...] Yo pensé que voy a ir a comprar un pollo. [...] Y le dio treinta [Nuevos Soles]. Y allí me sentí mal. [...] Mal porque yo tenía estas treinta soles, si? Y esa otra gente tenían que estár esperando. Entonces le dimos el pollo al tipo y me hizo pasar” Burch 15.11.2008 81 Als „Compadre“ oder „Comadre“ bezeichnet man externe Personen, die über Patenschaft (compadrazgo) als

Wahlverwandte in das Netzwerk des Familienclans einbezogen werden. Die Praktik der Wahl-Verwandten geht

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dieser Situation die Aufsichtsperson jedoch ein Polizist und nicht ein Kumpel. Ebenso wenig versteht

sie die „Poulet-Semantik“ als funktionales Äquivalent zur Geldkommunikation, ganz zu schweigen

davon, dass sie den monetären Gegenwert eines „pollos“ (Poulets) wüsste. Nach der Bezahlung, fühlt

sie sich schlecht, da sie ihre Kommunikation als korrupt beobachtet und im Gegensatz zu ihrem Bru-

der nicht gehandelt hätte, sondern schweigend in der Warteschlange sitzen geblieben wäre. Den-

noch, um in Lima erfolgreich zu wirtschaften, muss man auch aus ihrer Perspektive hin und wieder

halb-amoralisch agieren: „…wenn du dies [die dortigen Regeln] nicht akzeptierst, funktionierst du

nicht“ (Burch 15.11.2008). Dass selbst eine in Lima geborene Unternehmerin, die mehrmals jährlich

geschäftlich nach Lima fliegt, die „Poulet“- Korruptionssemantik nicht kennt, mag vorerst erstaunen.

In Lima existiert jedoch eine Vielzahl an stilistischen Semantiken, die Gelder invisibilisieren. In einer

populären peruanischen Tageszeitung spricht eine Gemeinderätin der Stadt Lima, davon, dass ihr

„niemand die Fingernägel bemale“ („Nadie me pinta las uñas“). Welchem Outsider käme hier die

Idee, an die Aufforderung „bemalte mir die Fingernägel“ mit Zahlungsfähigkeit anzuschliessen? Sagt

ein Leistungsrollenträger, zum Beispiel ein Polizist, man solle ihm die Fingernägel bemalen, heisst

dies, man habe ihm fünfzig Soles (ca. 16 Fr.) zu bezahlen, um das politische Problem informal zu lö-

sen. Jeder Nagel entspricht zehn Soles (Medina 2010).

Der informale Anschluss an moderne politische Praktiken des Landes wird zum Teil also via sprach-

lich-semantische Art bewältigt. Der peruanische Soziologe Mujica (2004) schreibt ebenfalls über in-

formale Semantiken, die zu Handlungen mittels monetären Beschleunigungsmechanismen auffor-

dern. Bereits der Titel seines Beitrages, „Korruption als Sprache“ (corrupción como lenguaje), lässt

darauf schliessen, dass das alltägliche Übergehen von Konvertibilitätssperren in Lima insbesondere

als sprachliches und weniger als netzwerkartiges Phänomen wahrgenommen wird. Dies ist interes-

sant, eröffnet es doch eine neue Sicht auf Informalität. Gemäss Mujica ist Korruption eine spezielle

Sprache. Mujica nimmt ebenfalls auf Matos Mar Parallelwelt Bezug und fragt sich, ob die Korrupti-

onssemantiken, welche Verwaltungshandeln beschleunigen, eine parallele Sprache zum bürokrati-

schen und standardisierten Bereich sind. Die Teilnehmer Limas erkennen Beschleunigungssemanti-

ken und wissen, dass deren Sinn nicht wörtlich zu verstehen ist, sondern dass sie eine Alternative

eröffnen und insofern komplexitätssteigernd sind. Sie überlassen bzw. bürden dem Angesprochenen

die Entscheidung auf, auf die Seite der informalen Kausalmuster der Gesellschaft wechseln zu kön-

nen, um eine formales Problem schneller zu lösen. In Lima existiert also eine autonome Sphäre, die

mit eigenen Semantiken auf ihre formale Seite Bezug nimmt. „Die Korruption zu verstehen, impliziert

eine Sprache zu verstehen, eine Art und Weise, in Beziehung zu treten; es impliziert, ihre Strukturen,

ihre Methoden, ihre Strategien und ihre multiplen Spiele zu verstehen und schliesslich, zu verstehen,

gemäss Ossio 1984, S. 120f. auf „vor-moderne“ Differenzierungsformen zurück. Siehe auch Oertzen 2004 (1988), S. 13. Siehe in der vorliegenden Arbeit insbesondere Kapitel 6.1.2.

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71

dass der „Kampf“ gegen die Korruption so etwas ist, wie gegen eine Sprache zu kämpfen…“ (Mujica

2004).82 Mujicas Aussage zeigt ebenfalls, die “alltägliche Korruption” ist weniger in Netzwerken insti-

tutionalisiert, sondern steht als generelle Sprache prinzipiell allen Teilnehmern Möglichkeiten des

Handelns zur Verfügung.

Mujica beschreibt solche beschleunigenden und alltäglichen Handlungen als „korrupt“. Er prüft je-

doch nicht, inwiefern Teilnehmer diese (soziologische) Ansicht teilen. Korruption ist jedoch ein

Selbstbeobachtungsbegriff und kann nur via Rückgriff anhand Beobachtung zweiter Ordnung spezifi-

ziert werden. Einem Beschleunigungsangebot via Bezahlung nachzukommen, nehmen Teilnehmer

und Teilnehmerinnen nicht einmal immer als ärgerlich wahr. Diese „kleine Korruption“ jenseits von

Freundschafts-Netzwerken wird von den Teilnehmern gar als funktionales Äquivalent zur Besteue-

rung erachtet: „Du musst dich daran gewöhnen, dass dies so funktioniert. Es gibt solche, die dir letzt-

endlich sagen: ‘Wieso erscheint es dir ein Skandal? Nicht? Erachte es als Steuer‘. […] Es ist eine Steuer

und du bezahlst sie sogar und dann hast du, was du brauchst. Nicht? Etwas, das hier in der Schweiz

[unmöglich wäre], sei es ein Polizist hält mich an, weil ich einen Verkehrsverstoss beging und ich ihm

fünfzig Franken hinstrecke, würde ich im Gefängnis landen“ (Burch 15.11.2008).83 Nichtkapitalistische

Wirtschaftspraktiken, die ohne Netzwerkkommunikation politischen Sinn erzeugen, sind in Lima folg-

lich gut legitimiert, so dass sie sogar mit der Steuer, die eine moderne, legitime Verbindung von poli-

tischer und wirtschaftlicher Kommunikation ist, verglichen werden. Es handelt sich jedoch um so

etwas wie eine Ausnahmesteuer; die Praktik ist zwar normal, im Sinne, dass sie generell erwartet

wird; sie bleibt aber dennoch eine kleine Form der Korruption, zumal es den offiziellen, wenn auch

unüblichen und ineffizienten Weg auch gäbe.

Mujicas Untersuchungen reichen jedoch weiter. Mujica veranschaulicht, dass informale Semantiken

eigene Erwartungszusammenhänge mit eigenen Inklusions- und Exklusionskriterien konstruieren. Das

System merkt sich Misserfolge, inwiefern Teilnehmer nicht auf die informale Seite wechselten und

ein Beschleunigungsangebot nicht beachten. Es koppelt diese Selbstbeobachtung an beobachtbare

Kriterien jenseits von Differenzierungsformen wie Geschlecht, Hautfarbe, Alter, Kleidungsstil, ja

selbst an den Tonfall der Stimme. Anders als bei den Funktionssystemen gilt nicht unbedingt das

Prinzip der Vollinklusion. Exklusion kann implizit oder erstaunlicherweise auch explizit stattfinden.

Viele Exklusionen aus der Informalität und somit zum schnellen Zugang zur Formalität geschehen

einfach implizit. Aufgrund ihrer impliziten Art bleiben sie unfassbar und eröffnen keine Anschluss-

82

Originalsprache: "Comprender la corrupción implica comprender un lenguaje, un modo de relacionarnos; implica comprender sus estructuras, sus métodos, sus estrategias y sus múltiples juegos y, por ende, entender que el 'combate' contra la corrupción es algo así como combatir un lenguaje..." Mujica 2004. 83

Eigene Übersetzung: „Tienes que acostumbrarte que eso funciona así. Hay quienes que te dicen por último: ¿Por qué te parece un escándalo? ¿No? Tómalo como impuesto. […] Es un impuesto y hasta lo pagas y tienes lo que necesitas. ¿No? Algo aquí en Suiza, sea un policía me para porque cometió una infracción de tráfico y yo le voy a sacar cinquenta francos, termino en la cárcel!” Burch 15.11.2008.

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möglichkeit an Konfliktkommunikation. Der Protestmöglichkeit weicht informale Kommunikation

jedoch nicht immer aus. So wird in der Gemeindeverwaltung Exklusion aus der Informalität explizit

kommuniziert; ein Kassier weist darauf hin, dass er es „… nicht offeriere, Frauen oder ältere Leute zu

beschleunigen [agilizar], weil diese ein grosses Gedöns machen“.84 Frauen und Ältere haben es

schwieriger, informal zu kommunizieren, was ein Exklusionsrisiko aus formalen Erwartungszusam-

menhängen generiert. Diese Gruppen müssen jedenfalls mehr Risiko eingehen und selbst den Vor-

schlag des Seitenwechselns initiieren. Doch auch dafür gibt es semantische Lösungsmöglichkeiten.

Die bisherigen Varianten erörterten kommunikative Beschleunigungsangebote von Seiten der Leis-

tungsrollenträger. Um als Publikumsrollenträger einem Leistungsrollenträger einen derartigen

Tauschvorschlag zu kommunizieren, wendet man sich anhand familiärer Begrifflichkeit an den Pro-

fessionellen. Es ist also ein freundliches Wort, welches die Hintertür zur Weltgesellschaft eröffnet.

Wie läuft dies ab? Ein erster Level, sich dem Staat überhaupt zu nähern, sind die "Wächter" (guachi-

mánes), welche die Büros und Institutionen bewachen. Diese Vorsteher gehören paradoxerweise

nicht zum formalen Staat, regeln jedoch den Zutritt zu ihm. Sie erinnern an Kafkas Türvorsteher aus

dem Roman "Der Proces".85 Der Wächter ist nicht ein Beamter. Er ist oft nicht mal von Beamten bzw.

vom Staat direkt angestellt, sondern wird mittels einer Subfirma (una empresa de service) beauftragt.

Wie in Kafkas Roman bestünde die Aufgabe des Wächters lediglich in der Funktion des Bewachens. In

Realität entscheidet der Wächter jedoch, wer in welcher Reihenfolge anhand welcher Informationen

das Büro des Beamten betritt. Der Wächter befindet sich im Gegensatz zum Antragssteller schon

lange in besagtem Umfeld. Er bekam Einsicht in die Struktur, in die Funktionen sowie in die Routinen

und Namen der Mitglieder der staatlichen Institution, was ein wertvolles Wissen darstellt, das gegen

Geld getauscht werden kann. Wie wendet sich ein Antragssteller an den Türöffner? Auch gemäss

(Mujica 2010, S. 175ff.) verwendet man dazu warmherzige Semantiken. Man appelliert wie Kafkas

Protagonist an das Mitgefühl des Wächters und spricht ihn als "hermanito" (Brüderchen) an, be-

schenkt ihn zudem mit ein paar Soles (Geldmünzen), um eine empathische Situation zu generieren.

Geschenke in Form von Waren, zum Beispiel eine Gaseosa (Limonade) überreicht man dann meist

erst einem rangniedrigen Beamten (Huber 2008). Dass der Dorfvorsteher vor Ankunft der Europäer

gewisse Extra-Leistungen erhielt (Mink’a) war ebenso normal, wie heute Vorgesetzte kleine Ge-

schenke erhalten, um sie ähnlich der Schutzpatrons gütig zu stimmen.86 In diesem Sinne besitzen

politische Leistungsrollenträger ihr Amt inoffiziell, so wie dies laut Scott (1969) auch im viktoriani-

schen England der Fall war, jedoch mit dem Unterschied, dass dies früher in England der Normalität

84

Original: "... no le ofrecía agilizar a las señoras ni señores mayores, porque esos arman escándalo" Mujica 2004. 85

Die Aussage bezieht sich auf eine Erzählung Kafkas, bekannt als „Das Urteil“. Siehe: Kafka 2003 86

Der indianische Quechuabegriff „Mink’a“ bezeichnet einen asymmetrischen Tausch zwischen mindestens zwei rangungleichen Personen. Siehe: Burch 2010.

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73

entsprach und sich die Kommunikation damals nicht in Netzwerken oder Semantiken abzusichern

brauchte.

Obwohl in Limas Bürokratie persönliche Kommunikationsformen vorherrschen, wird die Verwaltung

dadurch paradoxerweise nicht persönlicher. In Lima ist Webers „Problem“ der modernen „bürokrati-

schen Anonymität“ also nicht gelöst, obwohl die Erwartungen in Lima Webers formellem Idealtypus

einer Bürokratie diametral entgegengesetzt sind. Sogenannt persönliche Beziehungen beruhen in

Lima zur Bewältigung von politischen Alltagsproblemen des Landes oft nicht auf persönlicher Be-

kanntschaft. Der Verwaltungsbeamte interessiert sich nicht für aussersystemische parteipolitische

Kommunikation, um seine Arbeit zu erledigen; er setzt sich auch nicht für den Antragsteller ein, be-

müht sich nicht, gewisse Verfahrensregeln zu ändern, da dies in den Zuständigkeitsbereich der Par-

teipolitik fällt. In Lima sind Verwaltung und Parteipolitik prinzipiell voneinander getrennt bzw. als

Subsysteme des Politischen ausdifferenziert. Die Leistungsrollenträger der Verwaltung, welche die

Dokumente und Bescheinigungen ausstellen, verstehen nicht mal den Sinn der formalen trámites

oder kommunizieren ihn zumindest nicht. Fragt man laut Mujica (2010, S. 174: 171ff.) nach dem Sinn

des einen oder anderen Papiers, erhält man lediglich die Antwort „así es“ (So ist es nun mal). Sowie

die Leistungsrollenträger ihr Publikum als unpersönlich erachten, verstehen auch Publikumsrollen-

träger verwaltungspolitische Kommunikation als unpersönlich. Die Kommunikationsformen innerhalb

des Subsystems der Verwaltung sind in Lima zwar persönlich, aber dennoch reduziert das Publikum

der Verwaltung staatliche Anlaufstellen auf komplett unpersönliche Orte, wo es lediglich um das

Erledigen von unliebsamem Papierkram (trámites) geht. Der Staat oder die Verwaltung wird nicht als

Einheit wahrgenommen; man sieht sich immer nur an einer kleinen Stelle des Labyrinths beschäftigt.

Der Staat wird also fragmentiert auf Orte, wo man unliebsame formale “trámites“ (Papierkram)

durchwandert. Um „Formalitäten“ (trámites) zu erledigen, bzw. um an modernes politisches Verwal-

tungshandeln anzuschliessen, bedarf es informaler Kommunikation, die parallel sowohl innerhalb

aber insbesondere ausserhalb von Netzwerken stattfindet. Man stützt sich je nach Problem und Er-

wartungszusammenhang auf Freundschafts-Netzwerke oder auf spezielle Semantiken. Informale

Kommunikation im Bereich des administrativ-Politischen muss sich also immer absichern, sei es in

Semantiken oder in Netzwerken, da sie rechtliche Erwartungen umgeht. In Lima wird die politisch-

rechtliche Sphäre wohl deshalb oft als Hindernis wahrgenommen. Ein in Lima gängiger Ausdruck

„echa la ley, echa la trampa“ (werfe das Gesetz weg, werfe die Falle weg) verdeutlicht dies. Eine pe-

ruanische Anwältin erläutert diese Redensart folgendermassen:

„‘Echa la ley, echa la trampa‘ ist meines Erachtens wie zu sagen: Man sollte es ma-

chen, aber man macht es nicht. […] In diesem Fall machst du alles, aber du erfüllst

nicht alle [Pflichten]. […] Mir wurde gesagt, mich formal zu bewerben – legal, ich

bewerbe mich, aber nicht auf regulären Wegen, sondern anhand windschiefer Me-

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dien (medios torcidos). In Perú haben wir viele Gesetze, aber sie werden nicht er-

füllt…“ (Burch 27.11.2008). 87

Der Ausdruck macht die zwei Seiten der Weltgesellschaft deutlich. Das Gesetz kann nicht komplett

weggeworfen werden; man kann lediglich gewisse formale Erwartungen auf informalem Wege

schneller erreichen. Man muss als Insider genau wissen, welche Gesetze „weggeworfen“ werden

können bzw. wann man unterstellen kann, Ego erwartet ebenfalls informale Erwartungen und be-

harrt nicht auf den offiziellen Regeln.

Fassen wir unsere empirischen Problemlösungsvarianten zusammen: Wir haben 1.) eine Anwältin,

die erklärt, dass man seinen Freunden und Kollegen helfen, bzw. die „Hand geben“ muss. Des Weite-

ren haben wir 2.) Semantiken, die es Unbekannten diskret erlauben, den offiziellen Weg zu verlassen

und es schaffen, die Höhe von Bestechungsgeld fest zu legen, ohne monetäre Werte zu nennen. Die

3.) Möglichkeit wurde nur kurz als „grosse Korruption“ im Sinne von „die Hand brechen“ (romper la

mano) eingeführt. Man findet auch in Lima gleich wie in vielen anderen Regionen in der Weltgesell-

schaft geheime Netzwerke, die exklusiv Kommunikation nach aussen abzuschirmen versuchen, um so

das Übertreten von modernen Erwartungen zu planen und nach aussen hin zu invisibilisieren.

Alles sind Praktiken der Risikoverarbeitung des Aufhebens von modernen Konvertibilitätssperren

zwischen Politik und Wirtschaft. In Lima gibt es: Erstens geheime, exklusive Netzwerke, zweitens

inklusivere Freundschaftsnetzwerke und drittens Semantiken, die inklusivere Netzwerke funktional

ersetzen. Die Legitimität der Praktiken nimmt von der ersten Form, die in Lima als amoralisch und

korrupt gilt, hin bis zur vierten beinahe alltäglichen Form zu. Während die grosse Korruption eine

Variante der Illegalität darstellt, sind die anderen Zusammenhänge informaler Art; es geht dabei pri-

mär nicht um Geldverdienst. Die zwei letzten Sets von Erwartungen sind prinzipiell als „kleine Kor-

ruption“ gut legitimiert und ermöglichen den Anschluss an formale Erwartungen. Sie lösen funktional

äquivalent dasselbe Problem, nämlich wie in Lima an modern erwartetem Verwaltungshandeln ange-

schlossen bzw. wie mit dieser Erwartung umgegangen werden kann. Informale Kommunikation ist

immer Risikokommunikation. Sie kann sich zwar an ihren Problemlösungsstrategien orientieren,

muss jedoch die formale Erwartung, von der sie abweicht, im Auge behalten. Auch wenn informale

Möglichkeiten quasi normal sind, werden sie von den Teilnehmenden als kleine Korruption erachtet.

Informalität bleibt also eine Anomalität: Wenn auch eine „normale“. Informalität kann nicht wirklich

Oberhand über die Formalität gewinnen.

87 Original: “Mira, “echa la ley, echa la trampa” es como decir a mi entender, se debe hacer pero no se hace

[...]. Entonces haces todo pero no cumples con todo. [...] Me han dicho que postule por lo formal - legal, postulo pero no por los caminos regulares sino por medios torcidos. En Perú tenemos muchas leyes pero no se cumplen pues...”Burch 27.11.2008.

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75

Das Aufdecken solcher Erwartungszusammenhänge veranschaulichte, inwiefern Lima hinsichtlich

politisch-staatlicher Erwartungen eine Differenzierungsvariante in der Weltgesellschaft ist und inwie-

fern Lima als Region nur bedingt an moderne politische Praktiken anschliesst. Es geht dabei immer

um die Frage, wie die Autonomie der Politik betroffen ist. Luhmann (hrsg. von André Kieserling 2010,

S. 130ff.) hat dazu schon in den sechziger Jahren eine nützliche Begrifflichkeit entwickelt, die er spä-

ter etwas vernachlässigte. Sie eignet sich jedoch, um Lima als eine Variante der Differenzierung in der

Weltgesellschaft zu verstehen. Luhmann beobachtet politische Autonomie hinsichtlich einer sachli-

chen, sozialen und zeitlichen Ebene und schreibt: "Unter Autonomie verstehen wir – auf der Ebene

des politischen Systems ebenso wie auf der Ebene seiner Teilsysteme – […] die Fähigkeit zur Selbst-

bestimmung eigener Entscheidungsprämissen" (Luhmann und hrsg. von André Kieserling 2010, S.

141). Die Grundzüge der Autonomie beschreibt Luhmann in drei Dimensionen: "….in der Sozialdi-

mension, das heisst in der Frage, mit wem das System Interaktionsbeziehungen unterhält; in der

Zeitdimension, das heisst in der Frage, wann und in welcher zeitlichen Verteilung diese Interaktionen

stattfinden; und in der Sachdimension, das heisst in der Frage, welchen sachlichen Sinn diese Interak-

tionen zwischen System und Umwelt tragen" (Luhmann und hrsg. von André Kieserling 2010, S. 142).

In sachlicher Hinsicht gibt es laut Luhmann zwei Kommunikationsbahnen, die sich auf politische Au-

tonomie beziehen: Man kann sowohl besondere Selbstinteressen verfechten, ist dabei aber zweitens

an die politische Gesamtordnung der System/Umwelt Differenz gebunden. Es geht darum, wen man

in welcher Situation zum Beispiel bestechen kann. Teilnehmende müssen also wissen, in welchem

Themenbereich informale Kommunikation üblich ist. Kausalität wird nicht nur in der Sachdimension

konstruiert, sondern auch sozial durch die Interaktionspartner. Unterhält das politische System zur

Erfüllung seiner Zweckprogramme mit vielen Interaktionspartnern aus einzelnen Umwelten Interak-

tionsbeziehungen, ergibt sich daraus eine relative Unabhängigkeit von seinen Umwelten. Die Sozial-

dimension legt den Fokus auf Fragen der Rollentrennung. Gibt es mehrfache Positionsbesetzung, das

heisst, ist eine Person zum Beispiel sowohl Unternehmer als auch hoher Verwaltungsbeamte oder ein

einflussreicher politischer Berater? Hinsichtlich des Polizistenbeispiels lautet die Frage dann nicht, in

welchen Situationen zum Beispiel bestochen werden kann, sondern welcher Polizist bestechlich ist.

Drittens konstruiert sich das System eine Eigenzeit seiner Operationsweise, um auf Umweltanstösse

autonom zu reagieren. Die Politik muss Entscheide aufschieben können und auch das politische Pub-

likum sollte sich bewusst sein, dass zum Beispiel schlechte Erfahrungen mit einer Verwaltung oder

mit einem politischen Programm nicht ad hoc geändert werden können, sondern dieser Prozess an

Termine gebunden ist, das heisst, Zeit braucht und nur anhand politischer Reflektion geändert wer-

den kann.

Interessanterweise besteht in Lima auf der Ebene der Funktionssysteme bzw. auf der sachlichen

Ebene eine erhebliche Autonomie. Man kann nicht beliebig korrumpieren bzw. beliebig die Konverti-

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bilitätssperren oder die Autonomie der Funktionsbereiche des Politischen hintergehen. Bei den zwei

lokal anerkannten Sets von informalen politischen Erwartungen geht es nicht um das Kaufen eines

politischen Entscheids. Das heisst, in sachlicher Hinsicht operiert die Politik autonom und hält sich an

ihre Themen und Logiken. Auch sind politische Entscheide, wenn sie einmal gefällt sind, in Lima bin-

dend. Ebenso sind die beiden politischen Subsysteme, Verwaltung und Parteipolitik, sachlich auto-

nom und als System / Umwelt ausdifferenziert. Das stoische „so läuft es eben“ (así es) des Verwal-

tungsbeamten, ist ein Indiz dafür, dass Verantwortung an die Umwelt delegiert wird und sich die

Verwaltung für die Wahl ihrer Programme nicht als zuständig erachtet. Am Verfahren ändert weder

der Beamte noch der Antragssteller etwas; die Beteiligten folgen der systemischen Eigengesetzlich-

keit und der Beamte offeriert niemandem einen Weg, der ohne „trámites“ Formalitäten auskommt.

Der oder die Antragsstellerin braucht Dokument xy und zwar mit allen Stempeln, so wie es im Reg-

lement vorgeschrieben ist. Vor allem ist die Verwaltung nicht lernbereit, wenn eine ihrer normativen

Erwartungen enttäuscht bzw. verletzt wird. Erhielt zum Beispiel ein Antragssteller einen Einblick in

sein Register, ohne alle Stempel vorzuweisen, passt die Verwaltung ihre enttäuschten bzw. nicht

eingehaltenen Erwartungen nicht an, sondern folgt den festgelegten Routinen und erwartet weiter-

hin alle Stempel, um auf einen Antrag einzutreten.88 Diese Eigengesetzlichkeit der peruanischen Ver-

waltung ist anspruchsvoll und erstaunt.

Anders sieht es bezüglich sachlicher Autonomie bei den nicht alltäglichen Erwartungszusammenhän-

gen aus. Diese stützen sich auf geheime Netzwerke, um sich primär dem Geldverdienen zu widmen.

Netzwerke selegieren und reproduzieren die Erwartung, ins Netzwerk inkludierte (politische) Leis-

tungsrollenträger verzichten auf soziale und in gewissen Situationen auch auf sachliche Autonomie.

Verfahrensregeln bleiben unbeobachtet, zumal ein Unternehmer anhand nicht politischer Mittel den

Ausgang eines politischen Entscheides selegieren kann. Dass dieser Verzicht auf sachliche Autonomie

nicht so einfach wieder erwartbar bzw. stabilisierbar ist, zeigt, dass solche Kommunikation in Ver-

trauensnetzwerken langfristig und zeitintensiv erarbeitet werden muss. Alle Kommunikationsteil-

nehmer müssen Zeit für die Netzwerkpflege investieren, da das Medium Vertrauen, anhand dessen

sich das Netzwerk von seiner Umwelt abgrenzt, einer langsameren Eigengesetzlichkeit folgt als ande-

re Kommunikationsmedien. Vertrauen ist auf regelmässige physische Anwesenheit seiner Teilnehmer

angewiesen.89 Andere Sozialbereiche müssen auf die Leistung dieser Teilnehmer eventuell zum Teil

verzichten, weil sie von Netzwerkleistungen absorbiert werden. Vor allem wenn mehrere konkurrie-

88

Siehe zur Unterscheidung von normativen und kognitiven Erwartungen Luhmann 2008b. Das Thema der Kognitivierung von Enttäuschungen wird in Kapitel 8 eingehend erörtert. 89

Halb-geheime Netzwerke vernetzen verschiedene politische Bereiche. So findet zum Beispiel der Interessen-austausch zwischen Militärs und Politikern netzwerkartig in den drei wichtigsten Clubs von Lima statt. Das Mili-tär ist in Peru (zeitweise) eine sehr autonome Behörde. Militärausgaben fallen generell hoch aus. Dies ist so-wohl bei Fujimori in den 90er, als auch im 21. Jh. der Fall. Präsident Toledo verzeichnet nach Fujimori die höchsten Militärausgaben. Siehe dazu: Inter Press Service 2008. Vgl. Oertzen 1996: 183ff.

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rende Netzwerke bestehen – und das ist schnell wahrscheinlich, da die Grenzen von Netzwerken im

Gegensatz zu Organisationsgrenzen unklarer und instabiler sind – wird von den Teilnehmern viel Zeit

abverlangt. Vieles spricht jedoch dafür, solche Netzwerke nicht als gesondert von Organisationen

betrachten zu können. Ohne Organisationen bestünden diese Netzwerke nicht und umgekehrt stüt-

zen die Netzwerke die Organisationen. So betrachtet ist die Politik als Funktionssystem ausdifferen-

ziert; die Grenze zwischen Politik und anderen Funktionsbereichen wird sogar in hohem Mass beo-

bachtet und auch Organisationsgrenzen machen einen Unterschied. Es ist essentielles Wissen, stets

informiert zu sein, wer als Mitglied in welcher Organisation tätig ist.90 Geheime Netzwerke untergra-

ben die soziale Autonomie gewisser politischer Organisationen zum Teil. Durand (2005) bezeichnet

dies als „mano invisible en el estado“ (unsichtbare Hand im Staat). So sind es in solchen Fällen mone-

täre Transaktionen, die den Ausgang politischer Entscheide stark mitbestimmen, sich aber umso

mehr in Netzwerken vor modernen Beobachtern, vor allem vor gewissen Juristen oder vor Mitglie-

dern mächtiger internationaler Organisationen, zu invisibilisieren versuchen.91

Diese Praktik steht ganz im Gegensatz zu den zwei anerkannten Sets von informalen politischen Er-

wartungen. Das alltägliche Hauptproblem, das deren Teilnehmer bewältigen, ist die langsame Eigen-

zeitlichkeit der Verwaltung (oder die Pflege der Kontakte).92 Ein Ziegenkäsehersteller (Burch

27.08.2008), der in Lima mehrere Berechtigungen zur Eröffnung seines Betriebes einholen musste,

erklärte: „Die Bürokratie dauert“ (La burocracia demora). Diese Langsamkeit der überlasteten Büro-

kratie generiert ein Problem, wie an das moderne politische Verwaltungshandeln innert angemesse-

ner Frist angeschlossen werden kann. Die Teilnehmer möchten bzw. können möglichst wenig Zeit in

politische Kommunikation investieren. Auch unsere Anwältin spart sich vor allem viel Zeit, indem sie

den Beamten kannte und ihn bat, ihr ihre Geburtsurkunde schnell persönlich auszuhändigen. Sie liess

sich ihre Geburtsurkunde jedoch nicht fälschen oder abändern. In der Kommunikation ist lediglich die

zeitliche Dimension der politischen Autorität betroffen. Das gleiche gilt für die unkonventionellen

Praktiken, die sich nicht auf Freundschaftsnetzwerke sondern auf Semantiken stützen.

Bis anhin wurde vor allem die Verwaltung, welche ein Subsystem des politischen Systems ist, be-

trachtet. Nationale Politik besteht jedoch auch aus parteipolitischer Kommunikation. Man fragt sich

90

Es handelt sich bei der geheimen Netzwerkkommunikation meist um Kommunikation, die gegen Rechtsnor-men verstösst, wie dies zum Beispiel im Korruptionsfall „Petroaudio“ geschah: Ein hochrangiger Funktionär, der zugleich Repräsentant der norwegischen Firma „Discover Petroleum“ war, überwies monatlich mehreren Mi-nistern für die konkurrenzlose Konzession lukrativer Ölgruben Geldbeträge. Neun von den sechzehn peruani-schen Ministern wirtschafteten in diesem Netzwerk und wurden verhaftet. Die Justiz befasst sich noch immer mit diesem Fall (Agencias El Comercio 16. 02. 12) Siehe das Gesetz zur Funktion und Organisation von Peru-petro des Congreso Constituyente Democrático 1993 unter: Congreso Constituyente Democrático. Siehe auch den Zeitungs-Artikel „Peru annuls five Discover Petroleum oil contracts amid alleged concession kickbacks“ der „Peruvian Times“ unter: Anonymous 2008. 91

Durand nimmt damit auf Adam Smith Metapher der „unsichtbaren Hand“ Bezug. Der schottische Ökonom verwendete die damals übliche Redewendung zur Beschreibung des sich selbst erhaltenden Marktes. Smith 2008. 92 Den letzteren Punkt vertieft Kapitel 9.

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abschliessend nun, wieso in Lima an formale Parteipolitik im Gegensatz zu Verwaltungshandeln kaum

kommunikativ angeschlossen wird. Die Frage kann hier nicht abschliessend erörtert werden. Aus der

Lektüre von Matos Mar (2004a) und Bonilla (Bonilla und Spalding 1981) lässt sich schliessen, in Lima

differenzierte sich schon früh eine politische Sphäre aus, doch diese operierte nie losgelöst von ihrer

informalen Seite. Laut Bonilla wollte in Lima niemand einen modernen Staat nach europäischem

Vorbild. Gemäss Matos Mar konnte sich die politische Sphäre zwar offiziell aber nicht inoffiziell

durchsetzen. Bewährte historische Kausalmuster erweisen sich im politischen Bereich als persistent.

Über Korruption wird in Lima in der Endlosschlaufe diskutiert. Diese spezielle Selbstbeschreibung ist

nicht irrelevant: Politische Publikumsrollenträger beobachten hauptsächlich ihre informalen Kommu-

nikationsformen und sehen deren Bezug zur formalen Sphäre, die ebenfalls in Lima existiert, als be-

schränkt. Die Unterscheidung bleibt ein blinder Fleck, wobei die informale Seite, die gewählte Seite

ist und die formale nur mitgeführt wird. Diese seltsame Form der Selbstbeobachtung innerhalb des

Politischen erschwert den Anschluss an moderne politische Kommunikation: Sowohl politische Leis-

tungsrollen- als auch Publikumsrollenträger teilen gemäss Portocarrero (2010) die Vorstellung, es

gäbe keine (!) moderne Politik und dies, obwohl das Funktionssystem in Lima ausdifferenziert und

kausal relevant ist bzw. die politisch kolonialen Patron-Klient Machtstrukturen "überwunden" sind:

"Los patrones ya no existen, pero la imagen del patrón pervive con una fuerza extraordinaria" (Die

Patrons existieren nicht mehr, aber das Bild [imagen] des Patrons überlebt mit einer ausserordentli-

chen Kraft)(Portocarrero 2010, S. 14). Kombiniert man diese Beobachtung mit: “If men define situati-

ons as real, they are real in their consequences” (Thomas und Thomas 1928, S. 572), so wird noch

deutlicher, wieso moderne politische Kommunikation in Lima kaum erwartet wird. Die politischen

Rollenträger erachten ihr Publikum als nicht genügend kompetent, ihre moderne Rolle als Bürger und

Bürgerinnen wahrzunehmen. Politiker und Beamte unterstellen ihrem Publikum klientelistische Ab-

sichten. Andrerseits misstrauen auch die Publikumsrollenträger den Politikern von vornherein. Fol-

gendes Beispiel verdeutlicht die Irrationalität solcher Kommunikation: Eine Kongressteilnehmerin

unterbreitete den Vorschlag, dass die Studenten der staatlichen Universitäten, die von Privatcolleges

kommen, die Hälfte der Gebühren zahlen, welche sie im letzten Jahr für die teure Collegeausbildung

ausgaben. Ziel des Kongresses war es, das angeschlagene Budget der staatlichen Universitäten zu

verbessern, ohne die zahlreichen finanziell benachteiligten Studierenden zur Kasse zu beten. Nichts-

destotrotz hinterfragten gerade die Studenten, welche von der Vorlage profitiert hätten, die politi-

sche Initiative. Diese Publikumsrollenträger erwägten den Vorschlag nicht einmal und unterstellen

der Kongressteilnehmerin im Voraus populistisch-eigennützige Absichten. Schliesslich zog der Kon-

gress die Initiative zurück, um Probleme zu verhindern. Die Studenten hielten der Initiative entgegen,

dass es keine Garantie gab, dass die Gelder wirklich die Fakultäten erreichen. Die Studenten erwogen

nicht, dass das Dekret ihnen von Nutzen sein könnte. Das politische Projekt wurde unreflektiert als

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ein eigennütziger Versuch des Staates wahrgenommen, um seinen Pflichten nicht nachzukommen.

Dieser Verzicht auf monetäre Mittel ist aus Perspektive eines rational-choice Ansatzes ein völlig irra-

tionales und unerklärliches Verhalten. Die lähmende Angst gegenüber politischen Fördergeldern

wurzelt in einer negativen Haltung gegenüber Autorität und zeigt, dass Kommunikation beim Verste-

hen passiert und nicht utilitaristisch einem Kosten- Nutzenschema folgt. Absichten können ganz im

Sinne von Luhmann (1987b, S. 228ff.) nicht kommuniziert werden, sondern werden von Ego unter-

stellt, wodurch Handlung zustande kommt. Kollektiv-wohlfahrtsstaatliche Ideen können kaum imp-

lementiert werden. Dies betrifft auf unterschiedliche Art sowohl das Subsystem Verwaltung wie auch

das politische Subsystem Parteipolitik. Eine Antragstellerin bezahlt lieber direkt und persönlich einige

„pollos“ (Hühner) bzw. die sogenannte „effiziente Steuer“ als jährlich einer unbekannten zentralen

Steuerbehörde Abgaben zu entrichten. Durch das mangelnde Systemvertrauen kommt es zu dem von

Luhmann (hrsg. von André Kieserling 2010, S. 134) für Länder des Südens typischen Übergewicht der

Verwaltungsbürokratie. Während das Verwaltungshandeln eine Inflation erfährt, wird die Parteipoli-

tik auf ein Minimum reduziert. Beide Subsysteme werden also auf andere Art blockiert und sind ent-

weder unter- oder überbeschäftigt. Während Verwaltungshandeln besser mit informalen Problemlö-

sungsstrategien umzugehen weiss und eine Inflation erfährt, wird parteipolitische Kommunikation

eher gemieden. Man erwartet, die Politiker seien nicht professionell und können ihre Leistungsrollen,

nämlich dem Allgemeinwohl zu dienen und mehrheitsfähigen Konsens zu generieren, nicht erfüllen.

Kurz: Man hat keine Erwartungen an sie, jedenfalls keine demokratischen. Leistungs- und Publikums-

rollenträger des Parteipolitischen sehen sich als Opfer der jeweils anderen Gruppe. Es ist, als ob das

politische Publikum Erfahrungen aus einem politischen Subsystem, dem Verwaltungshandeln, unter-

schiedslos auf die parteipolitische Sphäre der Politik überträgt. Man projiziert vielleicht das eigene

Umgehen von Konvertibilitätssperren, welches man als Antragssteller in der Verwaltung oft erlebt

und quasi als normale bzw. effiziente Praktik selbst verwendet, undifferenziert auf die Parteipolitiker,

also in ein anderes Subsystem.93 Es kommt hinzu, dass nicht nur das systeminterne Publikum seinen

eigenen Leistungsrollenträgern misstraut. Ein anderer Bereich, die Massenmedien filtern und verar-

beiten Korruptionsdiskurse und Diskurs über Politik nicht selten deckungsgleich. In der

Selbstbeschreibung Limas findet sich kaum moralische Autorität:

"....el desprestigio de la autoridad se deja ver en el goce con que la prensa

denuncia la actitud de los congresistas. [...] ... se confirma que todos los políticos, y

en general todos los que encarnan alguna figura de autoridad, son unos

sinvergüenzas. [...]... de esta imagen tan negativa se desprende una actitud

escéptica frente al funcionamiento de la ley. Si ellos, los que hacen la ley, y que

93

Siehe empirische Grundlage bei Portocarrero 2010, S. 22f. Um die Probleme der Parteipolitik eingehend zu erörtern, bedarf es jedoch weiterer Forschung.

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deberían estar llamados a ser un ejemplo, son, en realidad, los primeros en

evadirla, entonces por qué habría uno de perjudicarse cumpliendo con la ley. No

hay autoridad moral" (Portocarrero 2010, S. 22f).

Die Massenmedien verstärken die systeminterne Entkopplung zwischen Leistungsrollenträgern der

Parteipolitik und dem Publikum. Die Medien feiern Korruptionsskandale als Beweise, dass die politi-

sche Autorität generell niederträchtig ist. Das Misstrauen gegenüber Autorität, wobei die moderne

Parteipolitik als Sphäre machtbasierter Kommunikation am stärksten betroffen ist, führte zu Seman-

tiken, die Kongressmitglieder als „otorongos“ bezeichnen. Ein „otorrongo“ ist ein Fleischfresser, der

nur sein eigenes Rudel schützt, aber alles andere um sich herum verzehrt.94 Insbesondere die Partei-

politik wird zu etwas parasitärem, bzw. schafft sie es kaum, langfristige Parteien auszudifferenzieren.

Formale Parteien sind in Peru sehr unbeständig. So spricht bereits von der Partei des letzten Präsi-

denten kaum noch jemand. Sie wurde quasi kurzfristig gebildet, um die Präsidentschaft zu ermögli-

chen. So sind formale Parteien laut Crabtree (2006, S. 25) sehr schwach: „Peruvian parties do not

command much respect among the voting public, and their lack of legitimacy makes them one of the

weakest links in the country’s political system“.95 Eine interessante Frage lautet jedoch, inwiefern

gleich wie im Bereich des Verwaltungshandelns auch die parteipolitische Kommunikation informal

aufrechterhalten wird. Obwohl die formale Parteipolitik sich schwer tut, kollektiv bindende Entschei-

dungen zu bündeln, gibt es in Lima ein politisches Bewusstsein. Parteikommunikation ist jedoch

weitgehend auf Lobby- und Protestpolitik beschränkt. Politisches Handeln findet eher in Wirtschafts-

und den wenigen Arbeiterverbänden statt. Es ist eine Herausforderung, politische Programme und

deren Gesetze so im Nachhinein zu modifizieren.96

94

Der Begriff “otorongo” kommt aus dem indianischen Quechua und bedeutet wörtlich „Jaguar“. In vorspani-schen Zeiten bezeichnete er die Bewohner des Amazonasbeckens. Der Begriff konnotiert tendenziell etwas Barbarisches. Siehe: Hermes 1995. 95

Gemäss eines Zeitungsartikels Agencias El Comercio 2011b waren auch im Jahr 2011 nur 37% der 1’044 Pos-tulierenden für das Parlament Angehörige einer Partei. 96 Ein wirtschaftlich informaler Lobbyverband, der auf Parteipolitik Einfluss nehmen will, wird unter Kapitel 2.2

erörtert. Eine Gewerkschaftsbildung und deren Protest dokumentiert Kapitel 8.2. Laut Freidenberg und Levitsky Y. Steven 2007 kennen die meisten lateinamerikanischen, politischen Systeme nur eine schwache Parteipolitik mit schwach strukturierten Organisationen. Viele Länder, zum Beispiel Argenti-nien, Brasilien, Kolumbien, die Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Honduras, Mexiko, Nicaragua, Paraguay oder Uruguay besitzen jedoch solche ausserparteiischen Organisationen. So macht man in einem Sportverein nicht nur Sport sondern auch Politik. Freidenberg beschreibt solche Verbände als informale Partei-en, welche auf Patronagebeziehungen basieren. Diese Verbände nehmen Meinungsbildung vor, das heisst, sie bündeln Wählerstimmen. Die Parteien Lateinamerikas enthalten somit sowohl formale als auch informale Er-wartungszusammenhänge. Vieles spricht dafür, dass in Peru solche informale Parteiverbände ausserhalb der Wirtschaft fehlen und sich deren Programmierung früher hauptsächlich auf Universitäten konzentrierte. Dies könnte damit zusammenhängen, dass im Gegensatz zu Mexiko niemand den peruanischen Staat wollte. Die Parteipolitik bzw. die „Kommunikation mit dem Staat“ ist somit schlechter verankert. Laut Luhmann und hrsg. von André Kieserling 2010, S. 253ff. tut sich ein politisches System, in welchem formale Parteien schlecht legi-timiert sind, schwer, Macht zu gewinnen und zu erhalten.

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Lima charakterisiert sich als Differenzierungsvariante in der Weltgesellschaft bereits durch ihre Vari-

anten des Anschlusses an politische Erwartungen. Die Informalität reproduziert parallel zur Formal-

struktur Netzwerke und besondere Interaktionssysteme, wobei diese Liste jedoch nicht abschlies-

send ist. Die besonderen Interaktionssysteme bilden sich bei Verwaltungshandeln und bestehen le-

diglich für eine kurze Zeit. Sie bedienen sich einer speziellen Semantik, die das Interaktionssystem

nicht stabilisiert und es sofort wieder zerfallen lässt. Die Interaktionsteilnehmer, das heisst, der Ver-

waltungsangestellte und der Antragssteller bleiben füreinander fremd und genau das gewährt die

Unsichtbarkeit solcher Systeme auf der Hinterbühne. Lima ist aufgrund dieser speziellen Erwartungs-

zusammenhänge eine besondere Region in der Weltgesellschaft, in der es „legitim“ ist, den politisch-

administrativen Code mittels Geldkommunikation zu beschleunigen, bzw. die Reihenfolge des se-

quentiellen Operierens politischer Kommunikation zu ändern. In Lima herrscht laut Portocarrero

(2010) aufgrund der Abwesenheit politischer Autorität eine generelle Kultur des Misstrauens und

der Unsicherheit. Wie wird nun in einem derartigen Umfeld erfolgreich gewirtschaftet, in welchem

kaum Vertrauen in das politische System besteht, Parteipolitik sich schwer tut, kollektiv bindende

Entscheide zu bilden, die Politik aber dennoch funktional ausdifferenziert und kausal relevant ist,

Wohlfahrtsstaatlichkeit vor allem zeitlich limitiert vor Wahlen als Thema relevant ist und der Staat

auf seine Bürokratie reduziert wird? Wie lösen Unternehmer und Arbeiter Konflikte, wenn politische

Autorität derart schlecht legitimiert ist? Und schliesslich: Wie kompensieren andere gesellschaftliche

Bereiche diese beschränkte Kompatibilität zur Politik in Lima? Diese Probleme werden im Folgenden

anhand der Frage untersucht, wie Unternehmer mit dieser Unsicherheit im Alltag umgehen und wie

verschiedene Sozialbereiche die politische Instabilität verarbeiten. Es geht dabei nicht darum, Lima

entweder im Zentrum oder in der Peripherie der Weltgesellschaft zu verorten. Vielmehr geht es um

das Verwenden einer bewussten Begrifflichkeit und einer differenzierten Betrachtungsform, um He-

terogenität der Wirtschaftspraktiken bei weltweit umspannenden Kontaktnetzwerken und globalen

Funktionsbereichen aufzuzeigen. Um obige Fragen in angemessener Tiefe zu erörtern, lege ich den

Fokus auf eines der grössten Textilkonglomerate Lateinamerikas: Gamarra.

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5 Gamarra, das grösste Textilkonglomerat Lateinamerikas im Rahmen

neuerer wirtschaftlicher Entwicklungen

“Gamarra” ist die Bezeichnung eines der grössten Textilkonglomerate, das die Weltgesellschaft her-

vorbrachte. Dieses multimillionen US Dollar Zentrum der Textilmanufaktur und des Kleiderhandels

befindet sich in der Metropole von Lima, innerhalb des Stadtteils von “La Victoria”. Woher rührt die

Bezeichnung “Gamarra”? Gemäss eines der besten Kenners der Zone (Burch 19.08.2010) war Gamar-

ra früher „nur Huanuco, Gamarra und Aviacion“ (Burch 19.08.2010).97 Der Unternehmer zählt Stras-

sen auf. Die Bezeichnung „Gamarra“ geht auf einen Strassennamen zurück, welche zu Ehren des vier-

ten peruanischen Präsidenten, Agustín Gamarra, den Namen „Gamarra“ erhielt. Um diese Strasse

begannen sich die Klein- und Mikrotextilunternehmen auszubreiten. Gemäss unseres Kenners, der

schon Jahrzehnte in diesem Konglomerat arbeitet, setzt sich das Cluster im Jahre 2010 aus über

25‘000 Mikro- und Kleinunternehmer und -unternehmerinnen zusammen. Zu diesen Unternehmern

kommen laut Garay (2008) über 100‘000 Arbeiter und Arbeiterinnen hinzu. „Gamarra“ bezeichnet

also nicht mehr nur eine Strasse sondern ein ganzes Quartier, welches über 34 Häuserblocks umfasst

und zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum Lateinamerikas mutierte. Die unzähligen Boutiquen

und Werkstätte sind zum Teil in sogenannte „Galerien“, das heisst, in grosse, mehrstöckige Verkaufs-

und meistens auch Produktionskomplexe, integriert, von welchen ca. 170 bis 180 existieren. Die An-

zahl der Verkaufsstände belaufen sich ca. auf 17‘000, wobei es jedoch eine grosse Dunkelziffer gibt.

Auch die Produktionslokalitäten erfasst diese Zahl nicht. Es handelt sich nur um Schätzungen, nie-

mand führt in der Gamarra Statistiken. Periphere Gebiete der Gamarra finden noch weniger Beach-

tung. Dennoch: Was bedeuten diese Zahlen im Vergleich zum gesamten Peru?

Mikro- und Kleinunternehmen sind gemäss Bailón Maxi und Nicoli (2009, S. 46ff) für die peruanische

Wirtschaft sehr bedeutend. Gibt es im Jahr 2004 in Peru doch über 600‘000 registrierte Mikro- und

beinahe 26‘000 weitere registrierte Kleinunternehmen von maximal fünf Angestellten. Noch grösser

ist jedoch die Dunkelziffer der behördlich nicht angemeldeten Mikro- und Kleinunternehmen. Das

„Promotions-Zentrum für Mikro- und Kleinunternehmen“ (Prompyme) schätzt, dass beinahe zwei

Millionen inoffizielle Mikro- und Kleinunternehmen hinzu zu zählen sind, was 75% der Beschäftigten

Perus ausmacht. Peru ist mit diesen Zahlen laut Bailón Maxi und Nicoli (2009, S. 66f) mit deutlichem

Abstand das Land mit den meisten Unternehmern und Unternehmerinnen der Welt.98 In grösseren

97 Original: „Antes Gamarra solamente era Huanuco, Gamarra y Aviación“ Burch 19.08.2010. 98

Dies zeigt der GEM, der global Entrepreneurship Monitor, eine Studie der London business School und des Babson College der USA. Von den 15‘680‘000 Personen zwischen 18 und 64 Jahre sind über 6 Mio Unterneh-mer oder Unternehmerinnen. An zweiter Stelle folgt Uganda und danach Ecuador, Perus Nachbarland. Siehe. Bailón Maxi und Nicoli 2009, S. 66ff.

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Unternehmen arbeiten nicht einmal 2% der Beschäftigten.99 Die Zahlen haben sich in den letzten

Jahren kaum geändert. Gonzales (2001, S. 19ff.) spricht von über 3 Millionen Mikro- und Kleinunter-

nehmen, welche über 4 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigen. Die meisten Mikro- und

Kleinunternehmen gehören mit knapp 1.4 Millionen zum Agrarsektor, wozu auch Fischerei sowie

Minenarbeit gezählt werden. Danach kommt der Handelssektor, welcher sich auf 1.1 Millionen Ein-

heiten beläuft. In der Gamarra laufen Handels- und Textilsektor jedoch zusammen. Dies beachten

Gonzales und statistische Ämter nicht. Gamarra ist zwar noch immer ein Textilproduktionszentrum

aber angesichts der Konkurrenz aus China ist heutzutage der Verkauf ebenso wichtig wie die Produk-

tion. Die Abgrenzungen in Sektoren sind also nicht strikt zu handhaben. Laut Gonzales inkludiert der

Manufaktursektor mit 255‘000 Mikro- und Kleinunternehmen 8.2% aller Mikro- und Kleinunterneh-

men, wobei der Textil- und Kleidersektor sich am stärksten konzentriert. Gamarra wurde wegen

seines rasanten Aufstiegs in den 80er Jahren als „peruanisches Taiwan“ gefeiert. Es ist mit seinen

Tausenden von Arbeitern das grösste Produktions- und Handelszentrum von Peru. Angesichts der

enormen Bedeutung der Gamarra erstaunt es, dass diese Organisationen nicht tiefergehend unter-

sucht wurden. Über interne Erwartenserwartungen in der Gamarra existiert nur ein einziges Buch:

Dasjenige von Gonzales (2001), welches die Autorin vor über zehn Jahren als Promovierte an der

Universität von Sorbonne in Paris verfasste. 100

In der Gamarra befinden sich mit 25‘000 registrierten Mikro- und Kleinunternehmen im Vergleich

zum ganzen Land also eine mehr als beachtenswerte Unternehmens-Konzentration auf engstem

Raum. Durchschnittlich besuchen laut unseres Spezialisten 200‘000 Personen Gamarras Einkaufsmei-

len täglich auf; in Spitzenzeiten um Weihnachten und um den Nationalfeiertag im Juli sind es bis zu

360‘000 Besucher und Besucherinnen pro Tag, welche sich durch die autofreien Strassen den mehr-

stöckigen Schaufenstern entlang drängen. An Rekordtagen strömen gemäss Garay (2008) gar

600‘000 Kunden und Kundinnen täglich durch Gamarras Häuserblocks. In einer Gegend mit derart

vielen Kunden wird viel Umsatz gemacht. Die Binnennachfrage garantiert Gamarra einen ziemlich

stabilen Absatzmarkt. Im Jahre 2009 wurde in der Gamarra gemäss unseres Kenners (Burch

19.08.2010) gut 1200 Millionen Dollars Umsatz erwirtschaftet. Wie ist diese Zahl im grösseren Kon-

text zu verorten? Perus Bruttoinlandprodukt von ca. 306 Milliarden US Dollars (Kaufkraftparität) ba-

siert nach wie vor hauptsächlich auf dem Mineral- und Fischexport und weiteren Rohstoffen. Im Jah-

re 1996 wurde auch der Agrarexport zum Beispiel von Baumwolle und Spargeln gestärkt, sowie ver-

99 Ähnliche Zahlen liefert das peruanische Amt für Statistik für das Jahr 2010. Diese Zahlen sind seit mehreren Jahren konstant. INEI 2011. 100

Nur Gonzales bedient sich auch qualitativer Forschung und stützt sich auf acht Interviews mit Unternehmer und Unternehmerinnen. Doch leider werden die Interviews kaum auf eine konkrete Fragestellung hin ausge-wertet; es entbleibt der Bezug zur Theorie; nur punktuell werden einige Klassiker wie Weber angesprochen. Ich möchte damit nicht den Wert des Buches schmälern, es ist das einzig mehr oder weniger bekannte Buch über die Gamarra. Ich komme auf diese Forschungslücke in diesem Kapitel und auch im Verlaufe des letzten Kapitels noch zu sprechen.

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mehrt Petroleum und Gas ausgebeutet. Peru war bzw. ist also ein Land, welches vor allem Primärma-

terialien, sogenannte traditionelle Güter, exportiert.101 Laut Morón und Serra (2010) ist dieses Mus-

ter jedoch im Wandel begriffen. Die sogenannten „nicht-traditionellen“ Exporte repräsentieren eine

grosse Chance für Perus Wirtschaft, wobei mit über 30% Anteil die Textil- und Kleiderproduktion der

bedeutendste, dynamischste und der wettbewerbsfähigste aller nicht-traditionellen Sektoren ist.

Dies betont auch das Handelsbüro (Sánchez 2002) von Lima.102

In den peruanischen Printmedien ist das nationale Wirtschaftswachstum ein beliebtes Thema. So

berichtete die Tageszeitung „El Comercio“ (Agencias El Comercio 2010a) bereits im Juli 2010, dass

Brasilien mit Peru die Wirtschaftsmotoren des lateinamerikanischen Halbkontinentes sind.103 Überall

spricht man von den Rekordexporten von über 35‘000 Millionen US Dollars.104 Die Rekordzahlen der

Wirtschaft basieren zwar hauptsächlich auf dem zwischen 2009 und 2010 um 31% angestiegenen

Export von traditionellen Gütern (vor allem von Mineralien), weil China mehr Rohstoffe bedarf. Der

Wirtschaftsminister betont jedoch, dass man den Exportanstieg der nicht-traditionellen Güter nicht

unterbewerten darf. Der Export solcher Güter stieg im Vergleich zum vorangegangen Jahr 2009 um

23% an und beläuft sich laut Agencias El Comercio (2011a) auf knapp 8 Milliarden US Dollars. Laut

der Encyclopedia of the Nations (2012) gewann der peruanische Textilsektor vor allem nach der Krise

von 2003, als sich die peruanische Wirtschaft erholte, an Bedeutung. Dieser starke Zuwachs der

nicht-traditionellen Exportwaren erstaunt laut Robles (2006), weil in Peru kaum Technologie herge-

stellt wird. Im Jahre 2003 musste die peruanische Agrarwirtschaft wegen des El Niño-Phänomens und

den sinkenden Weltmarktpreisen für Metalle (Encyclopedia of the Nations 2012) ziemlich grosse

Verluste verzeichnen. Experten nahmen an, dass aufgrund dessen 130‘000 neue Jobs im Textilsektor

101

Laut Global Finance 2012 exportierte Peru im Jahre 2010 insgesamt Güter im Wert von US$35.56 Milliarden, während für US$29.08 Milliarden Produkteuzeugnisse aus Petrol, Plastik, Maschinen, Telefon- und TV Geräte, Autos, Eisen und Stahl, Weizen, Chemikalien sowie Papier importiert wurden. Exportgüter sind: Kupfer, Gold (Peru ist Lateinamerikas grösster Goldexporteur), Fisch (Peru liefert 10% des weltweiten Fischfangs), Zink, Sil-ber, Rohöl, Kaffee, Kartoffeln, Textilien, Baumwolle, Spargeln usw. Die wichtigsten Import- und Exportpartner sind China und die USA. Siehe insbesondere: Encyclopedia of the Nations 2012. Die Agrarwirtschaft nimmt 10%, und die Industrie 35% ein. Der stärkste Sektor ist also auch in Peru der Dienst-leistungssektor mit 55% Anteil am Bruttoinlandprodukt. Siehe auch: Central Intelligence Agency 2012. 102

Im Jahre 2001 importierte Peru Textil-Maschinen im Wert von 69 Millionen Dollars. Die Maschinen stammen insbesondere aus Deutschland, Italien und aus der Schweiz. Deutschland und Italien sind mit über 50% der Importe die wichtigsten Zulieferer von Maschinen. Importe aus den USA nehmen ab. Auch verwendet werden Maschinen aus asiatischen Ländern wie Taiwan, China und Südkorea; diese sind im Gegensatz zu den europäi-schen, amerikanischen oder japanischen zwar billiger aber auch von bedeutend niedrigerer Qualität. Im Gegen-satz zu Deutschland, Italien und der Schweiz sind die Maschinenimporte aus Spanien weder in absoluten noch in relativen Zahlen signifikant. Spanien repräsentiert nur 3.5% der totalen Importe, welche Peru im Jahre 2001 realisierte. Diese Zahlen erstaunte Spanien, so dass sich die spanische Botschaft in Lima persönlich mit dem niedrigen Exportanteil von Maschinen nach Peru befasste. Gemäss Robles 2006 ist der Anteil Spaniens zwar etwas gestiegen; am wichtigsten ist für die peruanischen Unternehmer jedoch die Zuverlässigkeit, Ersatzteile auch jahrelang nach dem Kauf noch zu erhalten; einen Service, den die drei Hauptlieferanten leisten. 103

Peru verzeichnet ein Wirtschaftswachstum von beinahe 10% mit gleichbleibender tiefer Inflation. Agencias El Comercio 2010a. 104

Siehe dazu insbesondere den Bericht Agencias El Comercio 2011a.

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von Lima geschaffen wurden. Die Textilindustrie ist einer der grössten Arbeitgeber Perus und absor-

biert bereits 2006 ca. sieben Prozent des Peruanischen Exportwertes. Die Dunkelziffer dürfte jedoch

höher sein; sie wird in den staatlichen Statistiken des peruanischen Institutes nicht erfasst, dazu zäh-

len viele Transaktionen, die in der Gamarra getätigt werden. Zahlen erfassen nur einen Teil der Ge-

sellschaft: Die der formalen Vorderbühne. Der registrierte Textilexport ist seit 1995 kontinuierlich

und seit 2003 beinahe exponentiell angestiegen und erreicht im Jahre 2008 rund 2000 Millionen Dol-

lars. Peru exportiert nicht nur in die USA sondern auch nach China, Brasilien, Kolumbien aber auch

nach Deutschland und Grossbritannien. Im Gegensatz zu Mittelamerikas Wirtschaft, die sich stärker

als Peru auf die USA ausrichtet, bekommt die Wirtschaft Perus laut (EFE 2011) kaum etwas von der

amerikanisch-europäische Krise mit. Dennoch bekam der Textilsektor die Krise am stärksten von al-

len Wirtschaftssektoren zu spüren. Er erholte sich aber mit einem Export von beinahe 1600 Millionen

US Dollars wieder ziemlich. Der Textil- und Kleidersektor ist laut Sánchez (2002) der grösste Export-

sektor der nicht-traditionellen Güter und mit über 10% der dritt bedeutendste Sektor aller peruani-

schen Exporte. Das grösste Exportunternehmen ist die Firma Topy Top.105 Die ist auch heute nicht

anders. Ein international tätiger Unternehmer in Peru betont: “Peru zum Beispiel produziert vieles,

die Textilindustrie ist sehr bedeutend in Peru” (Burch 18.11.2008).106 Da Perus Textilsektor laut Mo-

rón und Serra (2010) auf verschiedenen Wegen stets neue Märkte findet, kontinuierlich in neue

Technologie investiert und immer wieder neue Produkte erfindet, sieht (Morón und Serra 2010) in

der wachsenden Zunahme der Textil- und Kleiderproduktion eine langfristig stabile Entwicklung. Ga-

marra nimmt in diesem Wachstumsprozess eine Schlüsselrolle ein, in welcher sich in den letzten

Jahrzehnten neue Unternehmensformen entwickelten, auf die ich in den nächsten Kapiteln genauer

zu sprechen komme.

Nichts desto trotz ist laut Untersuchungen des (INEI 2012, Mayo) knapp ein Drittel der peruanischen

Bevölkerung arm. Über die Hälfte der Armen wohnen in der Selva und in der Sierra. Arm bedeutet

laut des INEI, dass die Personen kaum konsumieren, sprich weniger als 272 Soles (ca. 100 Fr.) pro

Monat ausgeben. Die Zahlen sagen aber eher wenig aus, da man sich auf dem Land weitgehend

selbst versorgt und deshalb automatisch weniger konsumiert. In der Statistik erscheinen diese Leute

als arm, da sie wenig konsumieren. Etwas aussagekräftiger erklärt (Agencias El Comercio 2011c), dass

in einem „Entwicklungs“-Ranking Peru nach Bolivien auf den zweit letzten Platz aller südamerikani-

schen Länder fiel. Obwohl der Index der Vereinten Nationen für Entwicklung Peru mit Platz 80 von

187 Ländern als hoch einstufen, befände sich die Region jedoch nur noch auf einem mittleren Level,

105

Topy top exportiert von den im Jahre 2007 gesamten 1‘736 Millionen US Dollars alleine 125 Millionen US Dollars. Insgesamt exisiteren im Textilsektor weitere 2‘253 Exportunternehmen. Siehe: Agencia La Repúplica 28 de febrero de 2008. 106

Original: “Peru por ejemplo produce mucho, la industria textil es muy fuerte en el Peru“ Burch 18.11.2008.

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wenn man mangelnde Gesundheit und Erziehung mit berücksichtigt.107 Werden Umweltprobleme

auch noch beobachtet, dann befände sich Peru gar auf einem tiefen Platz. Dennoch hat sich das Bild

der Kapitale Lima erstaunlich gewandelt; interner Wohlstand wurde laut Arellano (2010) quasi erst-

mals generiert. Gesundheitliche Probleme sind damit jedoch nicht gelöst. Wie ist dieses Resultat zu

erklären? Es fällt auf, im Gegensatz zu Exportwerten liegen Zahlen zu nationalen Verkäufen kaum

vor. Die Statistiken zeigen bereits deshalb ein unvollständiges Bild des Textilsektors. Auch wird nicht

erfasst, dass aus Gamarra viele Kleider nach China exportiert aber auch von China nach Gamarra

importiert werden. Der sogenannte „Umsatz Gamarras“ von 1‘400 Mio. US$ bezieht sich zudem ge-

rademal auf einen grossen Verkaufskomplex, genannt „Párque Cánepa“ (siehe Kapitel 6.2.2). Da die

Welt und insbesondere das vorliegende Problem nicht mittels Zahlen erklärt werden kann, bedarf es

qualitativer Untersuchungen, deren Resultate ich in den nächsten Kapiteln erörtere.

Vorerst sollen jedoch die Hintergründe des Textilsektors in Peru und die damit verbundene Entste-

hung Gamarras genauer erläutert werden. Peruanische Textilien sind schon länger für ihre gute Fa-

ser-Qualität bekannt. international begehrt sind laut Sánchez (2002) insbesondere die Pima-Faser

und die Tangüis-Faser, eine in Peru kreierte Varietät.108 Peru ist ein Land, welches sich schon immer

der Herstellung von Textilien widmete. Viele internationale Kleidermarken teilen gemäss Holmquist

(2010, S. 48) auf ihren Etiquette mit: „Peruanische Baumwolle“. Gamarra ist schon länger Zentrum

der Textilindustrie. Ponce Monteza (1994, S. 97ff.) konstatieren, dass bereits 1994 gut 80% aller Stof-

fe und Konfektionen des peruanischen Marktes über Gamarra liefen. Der Bürgermeister meinte, dass

zwar nicht mehr als 600 Geschäfte registriert sind, diese Zahl aber lediglich 10% aller Geschäfte wie-

dergibt, die existieren. Heute haben die Registrierungen zwar stark zugenommen, mit ihnen stieg

aber auch die Dunkelziffer von Unternehmen, welche von der Weltgesellschaft nicht beobachtet

werden. Experten (Burch 08.12.2008) gehen davon aus, dass heute gut die Hälfte der Geschäfte bei

der Behörde registriert ist. In den peruanischen Sozialwissenschaften wurde mir dieser „hohe“ Grad

an „Formalität“ als Grund kommuniziert, wieso sich heutzutage kaum peruanische Wissenschaftler

mit dem Phänomen Gamarra befassen. Gamarra hat sich quasi normalisiert; die Wissenschaft sucht

jedoch nach Aussergewöhnlichem. Die vorliegende Studie beschränkt den Begriff der Formalität je-

doch nicht auf das Registrieren bei der Behörde, sondern entschlüsselt einzelne unkonventionelle

Wirtschaftshandlungsweisen, sprich verborgene interne Kommunikationszusammenhänge. Vielleicht

steigt das Interesse an Gamarra bald wieder, denn kürzlich haben peruanische Massenmedien ihre

Meinung geändert. In einem ganz neuen Bericht las ich erstmals, dass Gamarras „Grad der Formali-

107 Ich komme auf interne Erwartenserwartungen in den beiden Funktionssystemen, Gesundheit und Erzie-

hung, unter Kapitel 9.1, wenn die Resultate der Gamarra im Kontext Limas diskutiert werden, zu sprechen. 108

Zusätzlich zu dieser wertvollen Baumwolle gibt es in Peru auch die dünnste und deshalb weltweit teuerste tierische Wollfaser, welche den Vicuña Kameliden abgewonnen wird. Diese Faser ist weltweit äusserst begehrt; ein Yard kostet bis zu 3000$ während für die zweit feinste Wolle, Kaschmir, ein Yard bereits für ca. 100$ zu haben ist. Siehe: Holmquist 2010 und ferner Jeremy 2088.

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87

sierung“ überschätzt wurde. So erfüllen laut der „Vizeministerin der Mikro- und Kleinunternehmen

und Industrie“ (Agencias La República 10 de mayo de 2012) lediglich 30% der Unternehmen in der

Gamarra alle Anforderungen „der“ Formalität. Was „die Formalität“ sein soll, wird nirgends konkreti-

siert; so hat jeder eine andere Vorstellung davon. Formalität wird jedoch meistens auf den Zugang

einer Organisation zur Verwaltung verengt. Die Forschung bezüglich Gamarra beschränkt sich haupt-

sächlich auf die 90er Jahre. Die Studien lassen sich an den Fingern abzählen.109 Eine stadtgeschichtli-

che Untersuchung verfasste Ponce Monteza (1994). Er betont: „Es ist zweifelsfrei, dass Gamarra das

Herz ist, welches einem ganzen Kontingent von Geschäften Bewegung schenkt”.110 Heute bezeichnet

sich Gamarra als das grösste Textilkonglomerat Lateinamerikas. Selbstbeschreibungen findet man an

vielen Stellen: So bezeichnen Tageszeitungen das Textilzentrum als „Centro comercial más grande de

Latinoamérica“ (Rev. de la República 04),111 man stösst in Gamarra auf Prospekte mit der Aufschrift

„El Cluster Textil más grande de América Latina“ (Das grösste Textilcluster von Lateinamerika, Afiche,

2010) und in der eigenen, jedoch mittlerweile eingestellten Unternehmerszeitschrift sieht man sich

als „Capital Latinoamericana de la Moda“ (Lateinamerikanische Hauptstadt der Mode, Revista de los

Empresarios del Perú ,Oct. 98). Schliesslich sagt unser Kenner, der schon mehrere Jahrzehnte in der

Gamarra tätig ist: “.... Wir haben es erreicht, dass Gamarra sich konzediert und folglich eines der

Grössten Gamarra Lateinamerikas ist“ (Burch 20.07.2010).112 Interessanterweise mutierte die Be-

zeichnung „Gamarra“ zu einem Vergleichsbegriff. „Gamarra“ beschreibt ein Zentrum der Textil- und

Kleiderwirtschaft.

Wie entwickelte sich in Lima ein Textilcluster von solcher Bedeutung? Limas Stadtentwicklung zu

Beginn des 20. Jahrhunderts ist eng mit Gamarra verbunden, als die Präsidenten Piérola und Leguía

das Zentrum von Lima auszubauen begannen und mehrere Tausend Kilometer Autostrassen bauten.

Gemäss de Gonzales et al. (2011, S. 138f.) verschuldete sich die Regierung dafür bei nordamerikani-

schen Banken, welche jedoch auch technische Assistenz für Limas Urbanisierung in den 20er Jahren

boten. Man konstruierte neue Plätze und Avenidas. Im Stadtquartier von „La Victoria“, der Nachbar-

109

Es sind dies Studien von Visser und Távara 1995, ein Kapitel aus Villarán 1998, eine Monographie von Gon-zales 2001, ein publiziertes Interview von Infante 2001, einem Autor, welcher jedoch eher Berichte für die Unternehmer der Gamarra in einer Unternehmers-Zeitschrift publizierte. Auch findet man noch ein Kapitel zur Gamarra in der Monographie von Villarán 1998. Dabei handelt es sich um eine nicht uninteressante kritische Beurteilung der Entwiklungen in diesem Textilzentrum. Neuere Texte sucht man jedoch vergeblich. Etwas um-fassendere empirische Forschung findet man eigentlich nur in der Monographie von Visser & Távaras sowie bei Gonzales, dabei fehlt jedoch der theoretische Bezug; man findet in den Büchern entsprechend viele Statistiken, welche sich zur Erforschung informaler Zusammenhänge jedoch nur in Kombination mit qualitativen Methoden eignen. Das Thema der Strassenhändler von Lima behandelte Grompone 1985 in den 80er Jahren. Kapitel vier behandelt auf dreissig Seiten Strassenhändler im Textilbereich; Gamarra ist gemäss Grompone jedoch „zu for-mal“ für weitere Forschung. 110

Original: „Es indudable que Gamarra es el corazón que está dando movimiento a todo un contingente de negocios” Ponce Monteza 1994. 111

Siehe: Egúsquiza 2004 112

Original: “...nosotros hemos logrado que Gamarra se concedile y sea pues un Gamarra más grande de Latinoamérica” Burch 20.07.2010.

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region des historischen Stadtzentrums, entstanden deshalb um 1933 viele kleine Werkstätten unter-

schiedlichster Gewerbezweige. Diese Betriebe waren gemäss Ponce Monteza (1994, S. 48ff.) not-

wendig für Limas Stadtentwicklung. Das Quartier von La Victoria war das erste Distrikt von Lima, in

welchem hauptsächlich Mehrfamilienhäuser errichtet wurden. Die Liegenschaften waren im Besitz

des Hacendado „Cánepa“.113 Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts kaufe die Gruppe Prado Teile

von Cánepas Hazienda, „El Pino“, und begann, mit dem Hacendado Wohnhäuser zu erreichten. Ga-

marra wurde 1972 mittels des „Plan Metropolitano“ (Plandemet)als Konglomeration ins Leben geru-

fen, dieser behandelte die Zone nicht mehr als Wohn- sondern als eine kommerzielle Zone. La Victo-

ria war schon immer eine Arbeitsregion; ein früheres Hazienda-Grundstück, welches sich mehr und

mehr in ein urbanes Arbeiterviertel wandelte. Die industriellen Aktivitäten bedurften qualifizierter

Arbeitskräfte, weshalb es sich günstig erwies, dass in La Victoria auch die „Escuela de Artes y Oficios“

(Kunst- und Gewerbeschule) angesiedelt war. Diese Schule war eine der ersten, welche in Lima von

1865 bis Ende 1950 viele Personen professionell ausbildete. Der kommerzielle Charakter des Distrik-

tes wurde durch die Entwicklung des „Párque automotor“ gestärkt, der bereits in den 20er Jahren

initiiert wurde. Der Aufstieg des Automobils verlangte nicht nur nach Strassen sondern auch nach

Parkplätzen und nach Autowerkstätten. Die Ansammlung von Werkstätten, bekannt als „Conglome-

rado metal mecánico“, war auch für die Textilindustrie wichtig; viele Maschinen wurden von dort

bezogen. Gamarra sollte also im Zusammenhang mit anderen Zentren betrachtet werden. Andine

Migrantengruppen spezialisierten sich auf verschiedene Professionen. Innerhalb Limas entstanden

verschiedene Marktzentren.114 Mit dem „Párque automotor“ plante die Regierung auch die Kreation

des sogenannten „Mercado Mayorista“, besser bekannt als “La Parada“ (Die Haltestelle).115 „La Para-

da“ wurde zur Haltestelle für alle wichtigen Transportunternehmen und war Eingangspforte der Nah-

rungsmittel aus dem peruanischen Hinterland und Ausgangspforte peruanischer Textilien. „La Para-

da“ gilt nicht nur als Synonym für den „Grossen Markt“ (Mercado Mayorista) sondern auch für Ga-

marra. Unser Kenner erklärt: „Denn Gamarra war früher nicht Gamarra. Man nannte sie ‚La Parada‘“

(Burch 20.07.2010).116 Der Standort von Gamarra ist also auch an die Geschichte des Transportes

113 Wir werden auf diesen Namen „Cánepa“ im Zusammenhang mit Kapitel 6.2.2 wieder stossen. Bis heute

besitzt die Familie Cánepa den umsatzreichsten Gebäudekomplex, „Párque Cánepa“, innerhalb der Gamarra. 114

In der Avenida Aviación, welche das Kerngebiet der Gamarra nördlich begrenzt, entstand also ein weiteres Cluster (el conglomerado metal mecánico), dessen Teilnehmer sich auf automechanisches Wissen spezialisier-ten. Es besteht um 2001 zwischen 500 und 700 Mechanikermetall-Unternehmen. Die Geschäfte gehen unter-schiedlichen Aufgaben nach. Manche bieten Equipment für Strassenhändler an (Schubkarren, Dreiräder usw.), andere stellen Maschinen für Mikro- Unternehmen her, wieder andere fabrizieren Teile für Automobilwerke Gonzales 2001, S. 28f. Lima inkludiert zudem weitere Cluster, welche sich auf unterschiedliche Hauptfunktio-nen wie der Herstellung von Möbel (Quartier von Villa El Salvador), Computer (Av. Wilson bei der Avenida Are-quipa), wo man alles bezüglich Computer, Hardware sowie inoffizieller Software und IT-Dienstleistungen bezie-hen kann, usw. (Eintrag im Forschungstagebuch 7. Juli 2010). 115

Siehe zur Relation zwischen Stadtentwicklung, Handel und Migration und Entstehung des grossen “Mercado mayorista” Ponce Monteza 1994, S. Kap. III. 116

Original: “Gamarra pues no era Gamarra antes. Se llamaba ‘La Parada’”Burch 20.07.2010.

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gekoppelt. Gamarra entstand an einem Ort bereits verdichteter Kommunikation. Denn weiter fasst

unser Spezialist zusammen: „Der Wachstum [Gamarras] beruht darauf, weil Gamarra ein zentraler

Ort ist“ (Burch 19.08.2010).117 In den 50er Jahren setzten zudem auch die ersten grossen Einwande-

rungswellen aus den Provinzen ein. Der Staat war erstmals komplett überfordert. Ganze Quartiere

wurden laut de Gonzales et al. (2011, S. 139) mittels Reproduktion von kommunaler Erwartungszu-

sammenhänge kollektiv errichtet.

Gamarra entwickelte sich nicht nur wegen ihrer räumlichen Nähe zu anderen Stadtzentren Limas.

Viele internationale Textilunternehmen liessen sich hauptsächlich in La Victoria nieder. Perus hoch-

wertige Baumwolle zog internationales Kapital an, insbesondere aus Italien und Grossbritannien.

Aber auch Araber und einige Juden eröffneten nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Textilfirmen in

Lima. 1913 siedelte ein Drittel aller Textilfabriken Limas in La Victoria. Das Wissen, welches diese

Firmen mitbrachten, sollte sich noch fünfzehn, zwanzig Jahre später auf die Region auswirken, weil

Werkzeugmacher, Matrizenhersteller, Drechsler, Weber dieser Fabriken sich selbständig machten.118

Die ersten selbständigen Mikro-Unternehmer der Gamarra waren Ambulantes (Strassenhändler),

welche Textilerzeugnisse in der Avenida Aviación trotz der Restriktionen der Municipalidad verkauf-

ten. Zwischen 1968 bis 1971 rentierte die Textilindustrie gut; die linke Militärregierung schützte den

nationalen Markt und die einheimische Nachfrage nach Kleidern war hoch. Der Aufschwung der Tex-

tilindustrie dieser Zeit war mit dem Aufkommen der Polyester-Faser verbunden, deren Produktion

Araber vorantrieben. Zwischen 1971 und 75 ging die Textilindustrie zurück und die Kleiderherstel-

lung, welche durch eine jüdische Gruppe angeführt wurde, kam auf. Doch Ende der 70er Jahre zwang

die teilweise Öffnung der Wirtschaft zwischen 1980 und 85 die grossen Firmen zu mehr Flexibilität

und Dezentralisierung. Villarán (1999, S. 45) vertritt deshalb die These, dass der Ursprung „des in-

formalen Sektors“ in der Schwäche der Grossfirmen bzw. im fordistischen Modell liegt. Dies ist je-

doch zu eng betrachtet. Villarán blendet historisch gewachsene Kausalmuster aus. Diese werden im

nächten Kapitel Gegenstand der Erörterung sein. Grosse Firmen lagerten also einen Teil ihrer Produk-

tion in die Häuser ihrer Angestellten aus. Da Stoffe und manchmal Maschinen Lohnbestandteile wa-

ren, konnten sich ehemalige Fabrikarbeiter selbständig machen und eigene Mikrounternehmen

gründen. Zudem reduzierte die Einführung der Polyesterfaser Kosten. Schuluniformen können zum

Beispiel billiger produziert werden; dies generierte insbesondere für die Mikro- und Kleinunterneh-

men neue Möglichkeiten und Nachfragen. Seit 1979 konsolidiert sich Gamarras Textil-Netzwerk als

bedeutendes wirtschaftliches Zentrum.

117

Original: „El crecimiento se debe porque Gamarra es un sitio céntrico” Burch 19.08.2010. 118

Gemäss des Arbeitsministeriums besitzen 87% der formalen Arbeitnehmer der Textilindustrie von Lima einen „nivel de calificación operativo“ (Operativen Qualitätsausweis), wobei 10% einen professionellen oder technischen Level besitzen. Ca. 70% absoliverte die Secundaria und ca. 14% besuchten die Universität. Siehe: Ministerio de Trabajo y Promoción del Empleo 2006, S. 8ff..

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Doch die Textilindustrie musste auch in den 90er Jahren Rückschläge in Kauf nehmen. 1991 wurde

die peruanische Wirtschaft noch konsequenter als in den 80er Jahren für den internationalen Markt

geöffnet. Vor allem Fujimoris Regierung unterzeichnete verschiedene Freihandelsabkommen mit den

USA. Die Grenzzölle sanken im Jahre 1997 von 66% (1989) auf 16.1%. Viele Firmen waren internatio-

nal nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Industrie hörte auf, der Motor der peruanischen Wirtschaft zu

sein und an erste Stelle trat der Export traditioneller Güter wie Edelmetalle (Ponce Monteza 1994);

(Gonzales 2001). Auch wenn die goldenen 80er Jahre der Textilindustrie zwar vorbei sind, so kann

Gamarra trotz China hohe Gewinne verzeichnen. Der Textilsektor gehört nach wie vor zu den Haupt-

generatoren von Beschäftigung.119 Gamarra beliefert heute unzählige Staaten und ist Limas wichtigs-

tes Einkaufszentrum (vgl. Abb. 1). Gamarras Unternehmer fanden wichtige Nischenmärkte, können

Kleider von hoher Qualität herstellen und liefern weltweit pünktlich.120 Garay (2008) bezeichnet

Gamarra gar als: „The textile and tailoring emporium most important of America“. Neuerdings erach-

ten Limas Stadtplaner Gamarra als offizielles Zentrum. Die Architekten und Ökonomen de Gonzales

et al. (2011, S. 166ff.) beschreiben das kontemporäre Lima als multizentrisch. Lima besitzt vier konso-

lidierte, grosse Zentren und sechs weitere Wirtschaftszentren, welche sich im Prozess der Konsolidie-

rung befinden. Die Autoren ordnen die Zentren hierarchisch. So kommt an erster Stelle Limas Fi-

nanzzentrum San Isidro, danach das kommerzielle Zentrum von Miraflores, der Mercado Central und

Gamarra. Gamarra überlebte im Gegensatz zu den sich noch immer konsolidierenden sechs anderen

Zentren die Deregulierung und neoliberalen Strukturanpassungsprogramme von 1990 bis 2009. Die

Autoren erklären jedoch nicht, wie dies möglich war.

Trotz seiner Zentrumsstellung oder gerade deswegen ist Gamarra nicht mehr so sicher wie vor eini-

gen Jahrzenten. (Klein)kriminalität ist an der Tagesordnung. Ein Verkäufer in einer Seitenstrasse

meint: „Früher kamen die Touristen nach Aviación, es gab keine Angst. Sie hatten Geld für feine Klei-

der, feine Decken, Decken aus Alpaka-Fasern. Aber jetzt nicht mehr; sie haben grosse Angst“ (Burch

16.07.2010b).121 Die Zone erlebte also einen wirtschaftlichen Aufschwung, verliert jedoch an physi-

scher Sicherheit. Dies ist ein konkretes Indiz, dass moderne politische Kommunikationen, welche im

Stande ist, Macht zentral zu bündeln, schwierig mit den Erwartungen in Gamarra kompatibel sind.

119

In Limas Textilsektor arbeiten etwa gleich viele Frauen wie Männer im „formalen Sektor“; der informale ist statistisch nicht erfasst. Der Frauenanteil ist mit ca. 54 % nicht signifikant höher. Das Durchschnittsalter liegt mit einem 60%igen Anteil an 25 bis 44 jährigen im mittleren Bereich. Beinhe ein Viertel aller statistisch erfass-ten Arbeitnehmer ist jedoch lediglich zwischen 14 und 24 Jahre alt. Siehe: Ministerio de Trabajo y Promoción del Empleo 2006, S. 6f.. 120

Siehe dazu Garay 2008 und das online Portal der Gamarra auf Empresarios Gamarra 2012, insbesondere auch den Artikel Portal Gamarra 2012b. Zu den wichtigsten Exportländer, die offiziell erfasst sind, zählen laut Garay 2008: Ecuador, Venezuela, Chile, die USA und europäische Nationen. Gamarras Exporteure fanden wich-tige Nischenmärkte, wie Kleider für Kleinkinder oder billige Damenbekleidung oder wie auf einem anderen Hauptportal Galerias Gamarra 2012 zu sehen: Kleidung für Hunde. Siehe: Portal Gamarra 2012a. 121

Original: "Antes venían las turistas a Aviación, no había miedo, tenían platería, ropa fina, frasadas finas, mantas de alpaca. Pero ahora no, tienen mucho miedo" Burch 16.07.2010b.

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Wie diese politische Instabilität zum Teil verarbeitet wird, soll im folgenden Kapitel, welches mit dem

Problem der Sicherheit beginnt, erläutert werden.

Abbildung 1: Impressionen von Gamarras Zentrum

Links: Gamarras Zentrum, auf der halb unterirdischen Galerie, „Cánepa“ aufgenommen.

Rechts: Die Hauptachse, Jr. Gamarra, welche der gesamten Zone ihren Namen lieh.

Quelle: Eigene Fotos, Juli 2010, La Victoria, Gamarra

Um der Herausforderung, Gamarra zu verstehen, gerecht zu werden, darf man nicht vergessen, Ga-

marra als Cluster zu behandeln. Wie konzentriert sich die Textil- und Kleiderwirtschaft heute? Insbe-

sondere die Netzwerktheorie und -forschung spezialisierte sich, solche Wirtschaftscluster zu doku-

mentieren. Oft wird dabei die Frage, wie sich ein Cluster bzw. ein Zentrum als System von seiner

selbstkonstruierten Umwelt unterscheidet, vernachlässigt.122 Die System / Umwelt Unterscheidung

führt nicht nur eine räumliche Komponente und damit die Unterscheidung von Zentrum / Peripherie

ein, sondern verweist vielmehr darauf, dass Resultate innerhalb eines sich abgrenzenden Clusters

nicht unreflektiert auf seine Umwelt übertragen werden dürfen. Wirtschaftliche Praktiken, die in

einem Konglomerat beobachtet werden, können nur empirisch-theoretisch begründet zum Beispiel

auf eine ganze Stadt generalisiert werden. Ein Punkt, der gemäss Rathmayr (2009, S. 8) oft vernach-

lässigt wird: "Transformationsprozesse, die nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen relevant sind,

werden so zu pauschalen gesellschaftlichen Gesamtdiagnosen 'hochgerechnet' und als Basis für die

Ableitung allgemeingültiger Aussagen genommen". Ob Gamarra pars pro toto für Lima ist, erörtern

empirisch fundiert die Kapitel 9 und 7.1. Dass sich gerade in Lima, Peru ein solches Textilcluster er- 122

Siehe zu Zentrum und Peripherie als Differenzierungsform: Luhmann 1997b.

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folgreich ausdifferenzierte, hat viel mit der Art von kommunalen Erwartungszusammenhängen zu

tun. Wenn der peruanische Unternehmer und Kolumnist de La Torre (2011) analog zum „Silicon Val-

ley“ vom „Quipu Valley“ schreibt, würde diese Bezeichnung perfekt zu Gamarra passen.123 La Torres

Bezeichnung „Quipu Valley“ kommuniziert die Idee eines peruanischen Forschungszentrums: “In

diesem Sinne kann uns unsere andine Herkunft helfen, ähnlich zum Silicon Valley ‘technologische

Ayllus’ zu kreieren….“.124 La Torre beschreibt in seinem Artikel nicht Gamarra sondern eine Idee. Er

macht darauf aufmerksam, dass Peru über eine ganz besondere Ressource verfügt, welche seit Jahr-

tausenden „in“ den „Ayllus“ gepflegt wird. Der indianische Quechua-Begriff „Ayllu“ bezeichnet eine

Kommune bzw. ein Segment, dessen Inklusionsbedingung auf Verwandtschaft basiert. Vormoderne

Erwartungszusammenhänge können bzw. könnten gemäss Torre also in der Moderne reproduziert

werden, um Wissenszentren zu bilden. Torre macht seine (peruanische) Leserschaft darauf aufmerk-

sam, eigene vormoderne Erwartungszusammenhänge nicht zu verdrängen. Ähnlich einem Silicon

Valley könnte sich also gemäss ihm auch in Peru ein äquivalentes Wissenscluster ausdifferenzieren,

denn erfolgreiche Forschungszentren bestehen nicht aus individuellen Genies sondern aus wissen-

schaftlichen Kommunen. Es ist also essentiell, dass Teilnehmer es verstehen, sich gegenseitig zu ver-

trauen, um im Team voranzukommen. Was Torre als Idee beschreibt, ist in Lima jedoch in einem

anderen Kontext bereits verwirklicht. Die nicht gerade umfangreiche Literatur zu Gamarra betont,

dass in diesem Textilcluster (aber auch in anderen informalen Kommunikationszusammenhängen)

„traditionellen“ Strukturen eine wichtige Bedeutung zukommt. Insofern geht es im Folgenden unter

anderem nun darum, diese kontemporären Reproduktionsformen segmentärer Erwartungen anhand

Eisenstadts Konzepts der Patronage genauer zu entschlüsseln. Dazu brauchen wir uns von den Zahlen

der formalen Vorderbühne auf die verborgene Seite der Weltgesellschaft zu bewegen. Das nächste

Kapitel startet mit der Analyse der verschiedenen Leistungsvarianten, welche Patrons in Gamarra

übernehmen.

123

Der Begriff “Quipu” stammt aus dem indianischen Quechua und bedeutet wörtlich „Knoten“. Der Begriff bezeichnet jedoch auch ein vormodernes, aussereuropäisches Medium der Buchhaltung und Schrift der Inka, die Quipu-Knotenschnur. Siehe: de La Torre 2011. 124

Original: „En este sentido, nuestra herencia andina puede ayudarnos a crear ‚ayllus tecnológicos’ parecidos a Silicon Valley....” de La Torre 2011.

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6 Informale Varianten der Verarbeitung politischer Instabilität in Ga-

marra

Das Kapitel 4 dokumentierte, dass in Lima moderne politische Praktiken selten sind. Staatliches Han-

deln ist also möglich, gestaltet sich jedoch schwierig. Wie wird diese Instabilität bzw. diese be-

schränkte Kompatibilität mit politischen Erwartungen des Landes durch andere Sozialbereiche verar-

beitet? Aus meiner teilnehmenden Beobachtung und den umfassenden Gesprächen vernahm ich,

dass einflussreiche Unternehmer der Meinung sind, den Staat substituieren zu können. Sie tun dies

jedoch vor allem anhand wirtschaftlicher Kommunikation. Die Patrons betonen die Unfähigkeit des

Staates und unterstellen ihm gar betrügerische Absichten. Ein Besitzer einer grossen, international

tätigen Unternehmung meint: “Wieso soll ich mich formalisieren und meine Steuern korrekt bezah-

len, wenn [der Staat] mir nichts geben wird? “(Burch 18.11.2008).125 Und weiter meint er: „Ich glau-

be, dass die Personen, die [wirtschaftlich] wachsen, wegen der Informalität wachsen“ (Burch

18.11.2008). Daraus lassen sich zwei Erwartungen schliessen: Sich formalisieren hiesse: Sich auf den

Staat einlassen. Dies wäre aus Sicht des Unternehmers ein Hindernis, da der Staat keine reziproken

Erwartungszusammenhänge pflegt und ihm keine Gegenleistungen erbringt, die ihm und seiner Un-

ternehmung von Nutzen sind. Der Unternehmerspatron betont, seinen Erfolg wie andere peruani-

sche Unternehmer alleine ohne staatliche Hilfe erarbeitet zu haben: „Wir wachsen alleine. [...] Des-

halb glaube ich, dass viele peruanische Unternehmen [der Besteuerung] ausweichen, …“ (Burch

18.11.2008).126 Die politische Instabilität wird durch alternative Sozialstrukturen kompensiert; er

meint weiter: „Dann machen wir so etwas wie einen kleinen Staat hier“ (Burch 18.11.2008).127

Durch welche Leistungen sich dieser “private” Staat auszeichnet, soll in den nächsten Unterkapiteln

erörtert werden. In diesem Staat herrschen nämlich „andere Regeln“. Der international tätige Unter-

nehmer betont: “Wir kreieren fast einen neuen Staat, aber mit anderen Regeln; sprich ohne sie [die

Arbeiter] zu betrügen. Die Idee ist es, sie gut zu bezahlen, damit sie auch gut arbeiten“ (Burch

18.11.2008).128 Dieser „Klein-Staat“ setzt sich also aus einzelnen persönlichen und mehr oder weni-

ger reziproken Patronageverhältnissen zusammen. In diesem „privaten Staat“ werden Mitglieder vor

allem als Selbständige „freie“ Personen erachtet. Dennoch handelt es ich um Abhängigkeitsbezie-

hungen, in welchen kommunal gewachsene Erwartungen zentral sind. Patrons tolerieren nicht alles.

Solche informalen wirtschaftlichen Leistungsverhältnisse werden in den folgenden Unterkapiteln am

125

Original: “¿Por qué me voy a formalizar, voy a pagar mis impuestos correctamente si nada me van a dar?” Burch 18.11.2008 126

Original: Crecemos solo. [...]. Entonces yo creo de que muchas empresas peruanas pues evaden..” Burch 18.11.2008. 127

Original: “Entonces estamos haciendo como un estado chiquito allí” Burch 18.11.2008. 128

Original: “Casi estámos creando un nuevo estado pero con otras reglas o sea, sin engañarles. La idea es, pagarles bien pero que trabajen bien” Burch 18.11.2008.

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Beispiel Gamarras erörtert. Kapitel 6.1 diskutiert, wie Teilnehmende das lokale Problem mangelnder

moderner Erwartenserwartungen im Bereich der Politik anhand politischer, erzieherischer und wirt-

schaftlicher Kommunikation kompensieren. Wie werden vormodern gewachsene, kommunale Struk-

turen reproduziert? Da die Reproduktion kommunaler Strukturen derart zentral ist, wurde ihr kein

separates Kapitel gewidmet. Kommunale Bezüge werden jeweils im Zusammenhang mit spezifischen

Alltagproblemen in den unterschiedlichen Kapiteln erörtert. Kommunal gewachsene Problemlö-

sungsmöglichkeiten diskutiert auch das nächste Kapitel. Kapitel 6.2 behandelt unter Punkt 6.2.1 vor

allem Gamarras informale Unternehmensnetzwerke. Wie strahlen deren Bedeutung weit in andere

Regionen des Halbkontinentes aus? Punkt 6.2.2 analysiert verschiedene Organisationssysteme inner-

halb Gamarras. Der Fokus liegt auf dem Zentrum von Gamarra. Wie sind Patrons in Gamarra organi-

siert? Es wird auch ein Dachverband vorgestellt, bei welchem es sich bezüglich des Leitungsteams um

einen geheimen Zusammenschluss einflussreicher Patrons, der nur als Einheit öffentlich auftritt,

handelt. Worin sieht dieser Verband seine Aufgaben? Was hat dieser Verband indirekt mit einem

langjährigen, latenten Konflikt zu tun, dem – selbst wenn er diskret ausgetragen wird – sogar wäh-

rend meines Aufenthaltes in Gamarra ein Unschuldiger zum Opfer fiel?129 Als zweiter Verband wird

unter Punkt 6.2.3 ein interessanter berufsgruppenspezifischer Arbeitsverband erörtert. Wie werden

in Lima und Gamarra wichtige logistische Probleme gelöst? Die Genese dieses Zusammenschlusses

erweist sich als soziologisch sehr interessant.

Das Kapitel ist damit noch nicht beendet. Wie aus einem Arbeiter ein einflussreicher Patron wird, der

auf vielfältige Weise, die politische Instabilität in Gamarra kompensiert, wird in Kapitel 9 „Karriere-

schritte“ nachgegangen. Die Diskussion beginnt mit dem Arbeitsvermögen. Welche Inklusionsmög-

lichkeiten bestehen hinsichtlich Gamarras grossen Arbeitsmarktes?130 Wie wird man von einem „in-

formalen Vermittler“ zu einem Vermittler zur formalen Weltwirtschaft? Wie machen auswärtige Pat-

rons, die bereits Zugang zur Formalität besitzen, in einem solchen Umfeld Karriere?

Im letzten Kapitel geht es um verschiedene Arten von Konfliktmechanismen. So lassen sich im letz-

ten Unterkapitel zwei Arten von Konfliktmechanismen unterscheiden: Solche die sich auf wirtschaft-

liche Patrons stützen und andere, die auf rechtliche Patrons rekurrieren. Welche normativen Erwar-

tungen setzen Patrons in Gamarra wie durch? Werden enttäuschte Erwartungen auch kognitiv abge-

wickelt? Wieso ist Rache und Gewalt in Gamarra kaum Thema der Kommunikation? Das Kapitel

schliesst mit der Frage, wie seit wenigen Jahren das Rechtswesen, sprich das Arbeitsrecht, informale

Arbeitsverhältnisse als rechtlich relevant zu betrachten versucht. Diese Probleme, welche allesamt

auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft gelöst werden, sollen nun zuerst anhand der Diskussion

der Leistungen, welche von Patrons erbracht werden, erörtert werden.

129

Es versteht sich von selbst, dass es nicht um Schuldzuweisung sondern um die Gründe des Bestehens dieses Verbandes geht. 130

Siehe zu „Arbeit als Inklusionsmedium moderner Organisationen“: Tacke und Bommes 2001.

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96

6.1 Leistungsformen der Patrons: Patronage als funktionales Äquivalent zu

Vertrag, Zertifikat und Besteuerung

6.1.1. Politische Funktionen

Ich möchte dieses Kapitel mit einer kurzen Interviewpassage beginnen. Auf die Frage, ob der Staat

eine generelle Sicherheit zur Verfügung stellt, antwortet einer von Gamarras einflussreichsten Pat-

rons: „Nein, - ich komme soeben von einem Interview – sie [die Politiker] kommen nur, um zu neh-

men, aber sie kommen nicht, um zu helfen. Dabei soll der Bürgermeister doch einer der Hauptunter-

stützer der wirtschaftlichen Entwicklung der Mikro- und Kleinunternehmen sein.“131 Dass es in Ga-

marra kaum staatliche Sicherheit gibt, erstaunt zutiefst. Ist Peru ein Staat, der physische Sicherheit

nur partiell zur Verfügung stellen kann? Hayward (1998, S. 46) hält fest: „Gamarra has the highest

levels of crime of anywhere in Lima…“. Die mangelnde physische Sicherheit der Gamarra ist überre-

gional bekannt, so fügt bei einem Interview eine Anwesende aus Cusco hinzu: „…wenn wir in Cusco

sind oder in Arequipa oder sonst an einem Ort [in Peru] und man sagt, wir werden in die Gamarra

gehen, sagen sie uns immer: ‚Nein, pass auf! Du kannst in die Gamarra gehen, aber es ist sehr gefähr-

lich“ (Burch 19.08.2010).132 Warnungen, die ich selbst bis zur Genüge in Peru zu hören bekam. Der

Patron „beruhigt“, dass die Raubüberfälle nur in der Nacht geschehen und dass man für schwere

Diebstähle am Tag gewappnet sei: „Für die Einbrüche am Tag haben wir überall unsere Wächter“

(Burch 19.08.2010).133 Im gleichen Atemzug gesteht er jedoch einen gewissen Mangel an physischer

Sicherheit in Gamarra ein. Aber im Vergleich zu anderen Quartieren in Lima stehe es um Gamarra

jedoch nicht so schlecht, wie es oft behauptet werde. Mangelnde Sicherheit ist landesweit ein Prob-

lem. Er fährt fort:

„In Tat und Wahrheit spricht der Präsident jetzt von einer voranschreitenden Wirtschaft bei

einer gleichzeitigen [physischen] Unsicherheit, die alles zu Fall bringen könnte. Klar, man in-

vestiert nicht – wir sprechen nicht von der Gamarra, sondern von ganz Peru, wo es keine Si-

cherheit gibt. Die Leute investieren nicht mehr. Es gibt hier niemanden, der sich um die Si-

cherheit kümmert, insbesondere in den Zonen wie […], Gamarra, Villa El Salvador, weil dort

sprechen wir von der Wirtschaft, wir sprechen nicht von [sein Name]. Nein, von der gesam-

ten Wirtschaft des Landes. Die Wirtschaft sollte die komplette Sicherheit sein, aber es gibt

gefährlichere Zonen als die Gamarra, ja selbst in den Restaurants kann man nicht essen, oh-

131 Original: D: No, - ahorita vengo de una entrevista - ellos solamente vienen a llevarse pero no vienen a

apoyar. Pesa que el alcalde debe ser uno de los principales apoyadores en el desarollo de la economía para la micro- y pequeño empresa... Burch 19.08.2010. 132

„…cuando estámos en el Cusco, o Arequipa o cualquier lugar, decimos, “Vamos a ir a Gamarra”. Y siempre decimos “!No, ten cuidado! Puedes ir a Gamarra pero es muy peligroso”.Burch 19.08.2010. 133 „Por los robos de día tenemos nuestros vigilantes por todos los lados“ Burch 19.08.2010.

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ne beraubt zu werden. Aber hier nicht, denn wir unternehmen alles, wir sind auch Sicher-

heitsleute […]. Wir haben immer alles unternommen, um die Kundschaft zu schützen“

(Burch 19.08.2010).134

In Gamarra gibt es also niemanden, der sich in genereller Weise um Sicherheit kümmert. Interessant

ist die Stelle: „Die Wirtschaft sollte die komplette Sicherheit sein“. Sicherheit wird also als staatliche

Aufgabe für unmöglich gehalten, so bleibt nur die Wirtschaft, welche diesen Mangel kompensieren

kann. Insgesamt ist man laut des Patrons als Kunde in Gamarra sicherer als in üblichen Restaurants,

in denen es wie in Peru allgemein, keine gesamthaft staatlich organisierte Sicherheit gibt. Die man-

gelnde Sicherheit ist ein generelles Problem, das in Peru nur punktuell bzw. privat gelöst wird. So

bezeichnet er sich und Gamarras Patrons allgemein als Sicherheitsleute. Besonders schützenswert ist

dabei die Kundschaft. Das sei das Wichtigste. Er wurde vor vier, fünf Jahren selbst aus seinem Ge-

schäft entführt und erpresst. Selbst für seine Befreiung nahm er nicht staatliche Kommunikation in

Anspruch. Er meinte, es sei besser gewesen, diese Angelegenheit ohne Polizei selbst zu regeln und

den Entführern die verlangten 50‘000 Dollars zu bezahlen. Der Patron erzählt dies so stoisch, als

handle es sich um einen vielleicht etwas lästigen Zwischenfall. Von Vergeltung war nicht die Rede, so

dass man sich fragen könnte, ob der Unternehmer vielleicht Nietzsche verinnerlichte. In Gamarra

werde man lediglich des Geldes wegen entführt. Weil es nicht um Mord und Totschlag gehe, sei auch

alles quasi „halb so schlimm“. Entführungen von Unternehmern sind in der Gamarra keine Seltenheit:

„Sie entführen dich bereits für tausend Soles (entspricht ca. 300 Franken)“ (Burch 19.08.2010).135 Es

ist bekannt, dass in Gamarra aber auch in den Domizilen der Unternehmer viel Geld jenseits von

Banken aufbewahrt wird und/oder dass die Unternehmer im Vergleich zur restlichen Bevölkerung

wohlhabend sind und sich eine Erpressung lohnt. Zumal sich eine Entführung schon für wenige drei

Hundert Franken lohnt – das Sicherheitsbedürfnis also sehr hoch ist – fragt man sich, wie in der Ga-

marra die Sicherheit konkret organisiert ist. Wie ist es möglich, dass es in Gamarra nicht tagtäglich zu

schwerwiegenden Überfällen und Entführungen kommt?

134 “En realidad eh ahorita el presidente habla de una economía que estamos pues en avanza pero la inseguridad puede hacerlo de caer. Claro tu no vienes a invertir, no hablamos de Gamarra, hablamos de todo el Perú hay inseguridad, la gente ya no viene a invertir. Aca no hay aquellos que deben preocuparse de la seguridad, sobre todo en las zonas como las columbrados, Gamarra, Villa el Salvador porque aya estamos hablando de la economía, no estamos hablando de [mi, anonymisiert], no, de la economía del país. La economía debe ser la seguridad total pero hay partes más peligrosos que Gamarra, y hasta en los restaurantes no se puede comer si no te están saltando. Pero aca no, como hacemos todo, somos también seguridades [...]. Nosotros siempre hemos tratado de cuidar al cliente” Burch 19.08.2010 135

Original: “Te secuestran pues hasta pues por mil soles”Burch 19.08.2010.

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Eine erste Initiative von Seiten der Patrons war eine territoriale Grenzziehung. Entgegen des Willens

des Bürgermeisters, errichteten Gamarras Patrons einen hohen Eisenzaun, um die Zone nachts abzu-

schliessen, was in einem Quartier mit teuren Maschinen wichtig ist (vgl. Abb. 3). Gamarra gleicht

entfernt einem Kleinstaat, der sich territorial von seiner Umwelt abgrenzt und Sicherheit und Einheit

nach innen gewährleisten möchte. Dieser Anspruch steht in direktem Wiederspruch zur Politik, wel-

che diese Kompetenz nicht an die Patrons delegieren möchte. Auch die moderne Politik bzw. die

Gemeindeverwaltung des Distrikts von La Victoria fühlt sich für die Handlungen auf ihrem Territori-

um, auf dem sich die Gamarra befindet, zuständig. Die Lokalregierung empfiehlt Verantwortungsbe-

wusstsein prinzipiell jedem Besucher und jeder Besucherin. Die Distriktverwaltung stellte an den

Eingängen zu Gamarra ihren Sicherheitsplan zur Evakuation bei einer Erdbeben- oder Brandkatastro-

phe auf (vgl. Abb. 2). Zugleich relativiert die Regierung ihre gewährleistete Sicherheit jedoch und

Abbildung 2: „Sicherheits- und Evakuationsplan für Gamarra“

Das Sicherheitskonzept der Gemeindeverwaltung von La Victoria

Quelle: Eigene Foto, 2010, Gamarra

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appelliert an die Kunden, Kinder unter acht Jahren nicht in die Gamarra mitzunehmen.136 Da politi-

sche Aufgaben im Bereich des Gewaltmonopols im modernen Verständnis des politischen Systems

keinesfalls teilbar sind, besteht diesbezüglich in Gamarra ein latenter Dauerkonflikt zwischen Wirt-

schaftspatrons und Beamten. Die Organisation physischer Sicherheit ist ein wichtiges Anliegen der

Patrons. Der errichtete Zaun erweckt auch bei jedem Besucher den Eindruck, sich in einem sichere-

ren Gebiet aufzuhalten. Nur wohlhabendere Wohnviertel können ansonsten über Nacht abgeschlos-

sen werden. Der Konflikt zwischen den Patrons und den Bürgermeistern bezüglich Sicherheitsfragen

soll an dieser Stelle nicht vertieft werden, da er nur im Zusammenhang mit den Organisationsformen

der Patrons verständlich ist und unter Punkt 6.2 eingehend erörtert wird.

Ein Zaun alleine kann jedoch nicht Sicherheit gewährleisten. Der oben erwähnte Patron erklärt, dass

jede Galerie ihre eigenen Sicherheitsleute hat und jeder für seine Sicherheit bezahlt. Nicht jeder in

der Gamarra hat Zugang zu geregelter physischer Sicherheit. Bewegt man sich an den Rand von Ga-

marra, beobachtet man kaum polizeiliche Präsenz. Ein noch nicht lange selbständiger Unternehmer

erzählt, dass es in Gamarras Peripherie keine staatliche Polizeipräsenz gibt: „Hier bezahle ich die Poli-

zei. Ich gebe ihnen ihre fünf, zehn (Soles) und so lassen sie dich“ (Burch 16.07.2010b).137 Er müsse

also die Polizei bestechen, denn ohne dieses Geld bewege sich die Polizei nicht hierher. Diese Trans-

aktion birgt gewisse Risiken. Sie funktioniert nicht, wenn nur ein einziger Unternehmer die Polizei

beauftragt; das heisst, die Unternehmer eines Häuserblocks (cuadra) müssen sich absprechen, um

quasi einen lukrativen Grossauftrag für die Polizei zu generieren. Man muss zudem einen vertrau-

enswürdigen Polizisten finden. Der Polizist bleibt immer die stärkere Partei. Er ist insofern ein politi-

scher Patron. Die Preise für Sicherheit sind nicht fix, so verlangen Polizisten manchmal bis zu 10 So-

les. Eine Produzentin, deren Eingang ihres Hauptgeschäftes auf eine viel belebte Strasse ausserhalb

der Gamarra führt, erzählte Ähnliches: „Der ganze Häuserblock hier muss einen Polizisten „beauftra-

gen“, der bewacht. Denn früher war es noch schlimmer, man konnte hier nicht einmal verkaufen.

Deshalb kamen die Leute nicht, weil sie sich fürchten. So „mieten“ wir, das heisst, jeder Häuserblock,

einen Polizeibeamten, jeder Ladenbesitzer bezahlt ihm fünf Soles, [damit er] von zehn Uhr bis um

sieben Uhr Nachts [den Häuserblock bewacht]. Aber die Leute, die Peruaner sind, jedoch in den Ver-

einigten Staaten von Amerika leben, kommen nicht hierher. Sie wollen, dass ich von hier weggehe,

an einen anderen Ort von hier [innerhalb der Gamarra]. Sie fürchten sich, hierher zu kommen“

(Burch 24.08.2010b).138 Die Polizei sah ich nur einmal. Sie schauten sich zuerst ein paar Uniformhüte

136

Originaltext gemäss des “Plano de seguridad y evacuación de Gamarra” (vgl. Abb. 2): “Evite traer niños menores de ocho (8) años a Gamarra” (Vermeiden Sie es, Kinder unter acht Jahren in die Gamarra mitzunehmen). 137

Original: “Aca pago la policía le doy sus cinco, diez y te deja” Burch 16.07.2010b. 138 Original: „Toda a esta la cuadra aquí tenemos que contratar un policia que cuida porque antes era peor no se pude ni vender y por eso la gente no venía porque le da miedo. Entonces entre todas las cuadras pues alquilamos un policía, le damos cinco soles cada tienda. De diez hasta las siete de la noche. Pero la gente que

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an und unterhielten sich diskret mit der Unternehmerin. Die Verkaufschefin erklärte mir, dass hier

viel Coima (Bestechungsgeld) zu entrichten sei. Die Unternehmer müssen die Polizei im Voraus ent-

lohnen, sonst würden diese im Ernstfall nicht mal ausdrücken. Auch hier handelt es sich um eine Pat-

ronage mit einem staatlichen Patron, der offiziell nicht angestellt sein darf. Ein solcher Patron vermag

zwar, eine gewisse Sicherheit herzustellen, so ermöglicht diese Beziehung eine Inklusion in den loka-

len Markt, auch wenn Diebstähle oft vorkommen, aber: "Sie [bessere Kundschaft] kommt nicht in

diese Zone. Sie sagen: „Nein, Gamarra, La Parada! Viele Diebe!" (Burch 16.07.2010b).139 Man kann

jedoch nun an dieser Stelle Kleider produzieren und verkaufen. Allerdings besucht die kaufkräftigere

Kundschaft nicht ihr Geschäft, auch wenn die Unternehmerin die gleichen Kleider anbietet, wie ein,

zwei Häuserblocks weiter in den sogenannten „Galerías“, in denen Unternehmer für dieselben Pro-

dukte einen höheren Preis verlangen können. Ihre Kundschaft ist also eingeschränkt. Diese Beschrän-

kung empfinden sie als so hinderlich, dass die Unternehmerin sich überlegt, für viel Geld und Einsatz

den Standort zu wechseln, auch wenn es sich nur um ein paar wenige Meter handelt. Sicherheit ist in

der Gamarra auf engstem Raum ungleich verteilt. Es kommt immer darauf an, wie Sicherheit als Pat-

ronage organisiert ist. Sicherheit mittels politischer Patronage, deren Patron ein politischer Leis-

tungsrollenträger ist, generiert eine eher unbefriedigende Angelegenheit. Obwohl sie oft selegiert

wird, muss eine solche Beziehung auf die Hinterbühne der Weltgesellschaft beschränkt bleiben; mit

dem Resultat, dass die Leistung von Seiten der Patrons nur verdeckt ausgeführt werden kann. Die

Beteiligten können sich nie ganz sicher sein, wie ein fremder Beobachter dieses prinzipiell unrecht-

mässige Verhältnis beurteilt oder inwiefern einer der Beteiligten die Seite wechselt, auch wenn die

Wahrscheinlichkeit einer solchen Kommunikation eher unwahrscheinlich ist. So sah ich in besagter

Umgebung nur selten einen Polizisten. Die Unternehmerin fügt dann auch hinzu, dass in ihrem Um-

kreis trotz Bezahlung an die Polizei viel gestohlen wird. Es handelt sich um das Unternehmen von

Olivia Nieves, in welchem ich mitarbeiten durfte und ich mir deshalb auch ein genaueres Bild der

Umgebung machen konnte.140

Angeblich existiert eine alternative Lösung, um physische Sicherheit zu gewährleisten. Andere Unter-

nehmer und Unternehmerinnen brauchen sich weit weniger um das Problem ihrer Sicherheit zu

kümmern, obwohl nirgends staatliche Polizeipräsenz vorhanden ist. Spricht man mit Ladenbesitzer

innerhalb von Galerias, sind externe Diebstähle oder gar Raubüberfälle selten ein Thema. Ein ein-

flussreicher Patron und Besitzer einer Galería erklärt: „Jede Galeríe besitzt ihre Sicherheit[sleute].

Jeder bezahlt für seine Sicherheit, natürlich“(Burch 19.08.2010).141 Physische Sicherheit wird also an

son peruanos pero están en Estados Unidos, ellos no vienen, quieren que salga a otro lado de aquí, a otro lado. Aquí les da miedo de venir” Burch 24.08.2010b. 139

Original: "No vienen por la zona, dicen, no Gamarra, La Victoria, La parada, como dicen, mucho chorro, dicen" Burch 16.07.2010b 140

Alle Namen wurden durch anderweitige Namen zwecks Anonymisierung ersetzt. 141 Original: “Cada galería tiene seguridad. Cada uno paga por su seguridad por supuesto” Burch 19.08.2010.

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einen gemeinsamen Patron delegiert, so dass sich die einzelnen Unternehmer nicht mehr um dieses

Problem kümmern müssen. Zumal der Patron über genügend monetäre Mittel verfügt, wendet die-

ser sich nicht an die staatliche Polizei, sondern an einen sogenannt „privaten“ und komplett legalen

Sicherheitsanbieter. So differenziert sich innerhalb der Gamarra ein Zentrum aus. Dieses grenzt sich

durch eine professionell organisierte Sicherheit von seiner Umwelt ab, wobei ein Patron innerhalb

seiner Galerie, die jeweils mehrere Boutiquen und Produktionsstätte beinhaltet, Sicherheit gewähr-

leistet.142 Dennoch verkaufen Patrons ihre Sicherheitsleistungen nicht an Externe. Die Leistung be-

schränkt sich auf die Galeriemitglieder, obwohl Patrons auch mit galerieexternen Unternehmen

kommunizieren. Schutzgelderpressung wie bei der Mafia sucht man in Gamarra deshalb vergebens.

Patronage ersetzt in Gamarra nicht immer Organisation wie dies früher der Fall war, sondern orien-

tiert sich an kommunalen Ideen. Ich komme später noch detailliert darauf zu sprechen.

Gamarra ist also bereits bezüglich der Organisation von Sicherheit alles andere als ein homogener

Block. Obwohl einflussreiche Patrons Gamarra gerne gesamthaft als sichere Zone stilisieren, existiert

142 Wie eine Galería intern organisiert ist, erörtert Kapitel 6.2.2. „Galerías“ sind verschieden organisiert, so

verfügt nicht jede Galería über die gleichen internen Patronagebeziehungen, um die Administration einer Gale-rie zu ermöglichen.

Abbildung 3: Nördliche Grenze, die mittels Zaun den Strassenmarkt von Gamarra abgrenzt

Quelle: Eigene Foto, Juli 2010, Lima, Gamarra

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diese Sicherheit hauptsächlich im Zentrum Gamarras. In solchen Netzwerken löst ein organisationsin-

terner Patron das Problem der physischen Sicherheit aus der Sicht seiner Klienten organisationsex-

tern. Der Patron ermöglicht seinen Klienten bzw. den Unternehmern in seiner Galerie, das Problem

der Sicherheit zu externalisieren. Die einzelnen Unternehmungen brauchen sich um diese Angele-

genheit nicht mehr zu kümmern. Gegen aussen ist dieses Verhältnis völlig formal, da der Patron im

Sinne der principal/agent theory Staatspersonal gewissermassen nicht zweckentfremdet bzw. infor-

malisiert. Dies kontrastiert mit der Sicherheitslösung, um welche sich nicht ein Patron aus Gamarra

sondern ein externer Polizist kümmert. Jedes Unternehmen ist selbständiger Klient des Sicherheits-

anbieters. Sicherheit muss intern gelöst werden; Unternehmer müssen sich einem „Externen“, einem

Polizist, „unterwerfen“. Es mag paradox klingen: So regelt ein spezialisierter, aber ansonsten organi-

sationsexterner Patron das Problem der Sicherheit organisationsintern.

Zusammenfassend kann bezüglich der Verarbeitung politischer Instabilität festgehalten werden: Das

Gewaltmonopol ist in der Gamarra nicht durch den politischen Code organisiert. Es sind zwei unter-

schiedlich organisierte Arten von Patronage, welche physische Sicherheit organisieren. Dass das

staatliche Gewaltmonopol innerhalb eines wirtschaftlichen Zentrums derart schwach ist, erstaunt. Im

Folgenden wird nun weiteren informalen Arten der Verarbeitung politischer Instabilität in Gamarra

nachgegangen. Wie werden dabei gesundheitliche Probleme gelöst? Es geht um eine Angelegenheit,

welche der Staat in anderen Regionen in der Weltgesellschaft übernimmt.

Die Geschichte des Gesundheitswesens ist in Lima eng mit derjenigen der Religion und der Politik

verbunden. So begann sich seit dem 16. Jahrhundert in Lima mit der Gründung des ersten Spitals von

Südamerika ein Gesundheitssystem auszudifferenzieren.143 Jenes Spital war erstaunlich inklusiv. Die

Institution behandelte Personen aus allen Schichten und alle „Krankheiten“. Es wurde global mit an-

deren Spitälern verglichen und galt als eines der besten Behandlungszentren der damaligen Zeit. Das

peruanische Gesundheitswesen startete also als erfolgreiche Einrichtung. Die Zeiten haben sich je-

doch geändert. Ähnlich wie die Verwaltung sind heutzutage auch staatliche Gesundheitsorganisatio-

nen in Lima überfordert. In Lima existieren professionelle Leistungsrollenträger, die Patienten

betreuen. Allerdings operiert das System zu langsam im Vergleich zu seiner Umwelt. Ersucht man um

eine Operation wird der Zugang durch Netzwerke beschränkt.

143

Es war ein Kleriker, der 1552 das erste Spital Limas (und zugleich Südamerikas) eröffnete. Dieser kümmerte sich anfänglich in seinem Haus um Kranke und bat den Vizekönig um Unterstützung. Der Vizekönig sprach ihm ein Grundstück zu, auf welchem der Spital „San Andrés“ als königliches Spital errichtet wurde. Das primäre Ziel der Einrichtung war es, ein menschenwürdiges Ableben anzubieten. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts bildete die Institution eigene Chirurgen aus und 1811 war das Spital die erste medizinische Fakultät der ersten Universität des gesamten amerikanischen Kontinentes: Der Universidad San Marcos. Seit dem Jahre 1875 funktionierte das Spital als Kloster. Heute bestehen Pläne, “San Andrés” in ein Medizin-Museum umzugestalten, da es die Wiege dieser Profession war. Siehe Salaverry 2010.

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„In Peru ist es sehr schwierig, dass sie einen operieren, weil es generell ein zu klei-

nes Bettkontingent hat. […] Es gibt viele Leute, die auf eine Operation warten. Was

macht man also? Man geht und unterhält sich mit einem Befreundeten, den man

im Spital hat usw.: ‚Bitte hilf mir, reich mir die Hand [dame la mano]‘. – ‚Und wie

machen wir es? ‘ – ‚Ich möchte, dass mein Verwandter so schnell wie möglich ope-

riert wird‘. Nur so erreichst du, dass du angemessen operiert wirst. Falls nicht, dann

musst du in der Warteschlange verweilen. Es ist eine Praktik nicht des ökonomi-

schen Typus, dass du deinen Arzt bezahlst, ‚Operieren Sie mich, nehmen Sie dieses

Geld‘, nein, nein. Obwohl ich habe gehört, dass es auch vorkommt. Hier ist es aus

Freundschaft, eine Konversation, der Einfluss der Macht deiner Freundschaft, um

den Arzt zu überreden, dich so schnell wie möglich zu operieren oder dass er dich

einem anderen Arzt empfiehlt, damit dieser schnell interveniert“ (Burch

27.11.2008).144

Kennt man keinen Arzt, muss man der langsamen Eigengesetzlichkeit des Gesundheitswesens von

Lima entsprechend vier bis sechs Monate auf eine Operation hoffen. In manchen Fällen übernehmen

jedoch Patrons Gesundheitskosten für ihre Arbeiter. Unser Industriehändler berichtet: „Einmal er-

krankte ein Arbeiter und wir sagten ihm, gehe zum Arzt, so wie es der Staat verlangt. Und er kam

zurück und sagte: ‚Die Warteschlange war derart lang, dass ich nicht hingelange, nichts […]!? ‘ Und

ich sagte: ‚Und das ist der Staat! Wissen Sie was, gehen Sie zu einem Privatarzt“ (Burch

18.11.2008).145 Um sich höhere Ausgaben für privatärztliche Honorare zu ersparen, zieht es der

Patron jedoch vor, gewisse Arbeiter zu versichern. So ist die Übernahme von Versicherungsleistungen

ein Schlüssel für eine langfristig erfolgreiche Patronage. Der Unternehmer meint: „Wenn ich einen

guten Arbeiter habe, der gut produziert, und ich ihn gut bezahle, wird er das ganze Leben bei mir

sein. […]: ‚Wenn Sie krank sind, muss ich alles bezahlen‘. […] Wenn ich ihm aber alles bezahle, so

kommt es mir schliesslich teurer, ihn in eine Klinik oder zu einem Privatarzt zu schicken, als ihm seine

Gesundheitsversicherung zu bezahlen. So sage ich schliesslich, es passt mir besser, seine Versiche-

144 Original: “En el Perú es bien difícil que uno lo operen, porque generalmente no hay cupo para encontrar camas. […]Hay mucha gente esperando para ser operado. ¿Entonces qué hace uno? Va y conversa con una amistad que tiene en el hospital etc.: “Por favor ayúdame, dame la mano. ¿Y cómo hacemos? Quiero que lo operen lo más rápido posible a mi pariente.” Solo así, te llegan a operar oportunamente. Si no, tienes que esperar la cola. Es una practica pero no del típo económico que tú le vas a pagar a tu doctor, ‘Opérenme, reciba este dinero’, no, no. Aunque he escuchado que si ocurre. Allí es por amistad, una conversación, la influencia del poder de tu amistad para convencer al médico para que te opere lo más rápido posible o te recomiende a otro médico para que intervenga rapidamente” Burch 27.11.2008. 145 Original: “Una vez enfermó un obrero y le decímos, andate al seguro como es lo que oblique el estado. Y

volviera y decía: ‘!Tanto es la cola que no me accede y [...]?!’ Yo dije: ‘Y esto es el estado’, le dije. ‘?Sabe qué? Andéte a un particular’” Burch 18.11.2008.

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rung zu bezahlen“ (Burch 18.11.2008).146 Nicht alle Arbeiter kommen in den Genuss solcher Leis-

tungen. Nur die guten Arbeiter werden anhand solcher Leistungen von Seiten des Patrons motiviert,

in der Organisation zu bleiben. Dies führt zu hybriden Organisationsstrukturen und Unternehmens-

netzwerken, deren Erwartungszusammenhänge in Kapitel 6.2 genauer erörtert werden. Es sei vor-

weg genommen, dass es sich bei den „guten Arbeitern“ meistens um Patrons handelt, die als Klient

eines langjährigen Patrons operieren. Ich bezeichne solche Schlüsselpersonen als „Sub-Patrons“. Sie

besitzen eigene Unternehmen, sie sind jedoch einem höheren Patron untergeordnet. Bezüglich der

gesundheitlichen Leistungen von Seiten des Patrons werden die Organisationsgrenzen flexibel ge-

handhabt. Patrons vergeben oft auch „Gesundheitskredite“ für die Angehörigen eines guten Arbei-

ters, also für Personen, die offiziell nicht zu den Organisationsmitgliedern zählen.147 So sind es also

Patrons, welche Zugang zu Formalität haben und eine schnelle Inklusion in das Gesundheitswesen

leisten. Ein Patron braucht nicht einen staatlichen (überforderten) Arzt zu bestechen, sondern wen-

det sich an ein privates Spital.

Auch in Gamarra gibt es diese Leistungsform von Seiten der Patrons. Sie ist jedoch beschränkter. Das

Versicherungswesen ist den Arbeitern völlig unbekannt. Viele Unternehmer wissen nicht, was eine

Versicherung ist (Burch 20.07.2010). Inklusionshilfeleistungen ins Gesundheitswesen kommen nur

sehr spezifisch gegenüber „guten Arbeitern“ vor. So meint ein einflussreicher Patron, prinzipiell gel-

te: „In Gamarra ist jeder Eigentümer seines Geschäftes“ (Burch 20.07.2010) und somit ist jeder Ei-

gentümer auf sich selbst gestellt.148 In Gamarra ist es bereits eine Leistung, wenn der Patron einen

kranken Klienten nicht entlässt und krankheitsbedingte Absenz nicht automatisch das Patron-

Klientverhältnis beendet. Ein minderjähriger Arbeiter erzählte mir im Microbus auf dem Arbeitsweg,

falls er krank sei, bekomme er einen Ruhetag. Wäre er jedoch länger krank, sei es ungewiss, ob er

seinen Job behalten könne. Der Ladenbesitzer hülfe ihm jedoch keinesfalls finanziell, er sei bloss ein

„amigo“, ein Freund.149 Eine Unternehmerin erzählt ähnliches: “Nun gut, wenn jemand erkrankt,

kann er diesen Tag ausruhen, natürlich” (Burch 24.08.2010b).150 Die meisten Arbeiter, aber auch viele

Unternehmer sind in Gamarra nicht gegen Krankheit versichert. Mehrere Tage andauernde Krankheit

stellt ein grosses Exklusionsrisiko dar. Besonders wichtige Arbeiter, die über Spezialwissen verfügen

oder die selber eine Art „Unter-Patron“ sind, erhalten von ihrem Patron jedoch auch Inklusionshilfe-

leistungen ins Gesundheitswesen. Dabei wählt man meist nicht staatliche Institutionen sondern pri-

146 Original: “Si yo tengo un buen trabajador que produce, si yo le pago bien, el va estár comigo toda la vida. [...]. ‘Si Usted es enferma, hay que pagarle todo’. [...], si yo le paga todo, al final me sale más caro de mandarle en una clínica o un medico particular que pagarle su seguro. Entonces al final voy a decir, mejor me conviene pagarle su seguro”. Burch 18.11.2008 147 Die „Offenheit“ der Organisationsgrenzen und vor allem die Kreditvergabe werden in Kapitel 6.1.3 und fer-

ner in Kapitel 7 erörtert. 148 Original: “...en Gamarra cada uno es dueño de su tienda” Burch 20.07.2010. 149

Notizen im Forschungstagebuch des 11. Augustes 2010. 150

Original: “Ya bueno cuando se enferma pues puede descansar ese día, claro” Burch 24.08.2010b.

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vate. Patronage ist also in der Lage, gesundheitliche Leistungen für ausgewählte Personen zu gewähr-

leisten.

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6.1.2. Erzieherische Funktionen als Wissensvermittlung und kommunal,

historische Bezüge

1. Wissenserwerb und –erhalt: Zwischen Dorfstrukturen und Werkstatt

Wie kam es in Gamarra zu einer derartigen Wissensakkumulation? Gängige Antworten auf die Frage,

wie man etwas erlernte oder wie man all sein Wissen bezüglich Textilverarbeitung erwarb, beziehen

sich auf verwandtschaftliche Zusammenhänge. Die Unternehmerin, bei welcher ich mitarbeitete,

erlernte vieles von ihrer Schwester. Und wie lernte die Schwester Kleider zu nähen und zu entwer-

fen? Ihre Antwort lautete: “Gut, auch von meinem Grossmütterchen, sie lehrte auch meine Mutter.

[…] Es ist einfach in der Familie“(Burch 24.08.2010b).151 Das Textilhandwerk blickt also auf eine lange

Geschichte zurück. Dies drückte eine andere Unternehmerin, welche in ihrer Heimwerkstätte produ-

ziert und Kleider selber international vertreibt, noch etwas deutlicher aus. Ihr Mann gehöre einer

Dorfkommune an, welche sich schon seit Generationen mit dem Textilhandwerk auseinander setzt:

„…. Mein Mann, er ist vom Süden, er ist von Puno. Sie [die Leute von Puno] machen schon Textilien

aufgrund ihrer Wurzeln; man kann sagen, er gehört einer Generation [Abstammungslinie] von Textil-

spezialisten an“ (Burch 12.07.2010).152 Wissen bezüglich Textil- und Kleiderherstellung wird schon

seit Generationen in den andinen Kommunen weitergegeben.153 Auch in der Literatur findet man

Argumente, welche die Kompatibilität andin-kommunaler Strukturen mit der Moderne betonen.

Gelles (2002) erklärt, dass die andine Kultur als eine historisch entstandene Entität zu verstehen ist,

als einen Zusammenhang von Erwartungen, welche sich tagtäglich mittels Alltagspraktiken von Milli-

onen von Personen transformiert und reproduziert. Dieser Prozess beschreibt Gelles als „dynamisch“

und „adaptiv“. Auch bei Parsons (1977), einer der wichtigsten amerikanischen Denker der 50er, 60er

und 70er Jahre, reflektiert den Begriff „Adaption“ eingehend. Dem Begriff kommt in Parsons Theorie

eine speziell hohe Bedeutung zu. Parsons versteht unter Adaption die Erweiterung der Kapazität ei-

nes Handlungssystems. Der Prozess der Adaption ist an sich höchst aktiv und steht im Gegensatz zur

passiven Anpassung. Gemäss Parsons können sich Systeme interessanterweise auf eine adaptive

Funktion spezialisieren. So beschreibt Parsons die westliche Gesellschaft als höchst adaptiv orien-

tiert; es geht vorwiegend weder um Integration noch um Zielsetzung sondern um das Management

151 Original: „Bueno, también de mi abuelita, ella tambien a mi mama le enseño. [...] Es en la familia pues”

Burch 24.08.2010b. 152

Original:„... mi esposo, el es del sur, es de Puno. Ellos ya a por sus raíses hicieron el tejido ya; se puede decir que el parece a una geneacion de tejidos”Burch 12.07.2010. 153 Die im südlichen Peru gelegenen Dorfgemeinschaften von Puno stellen speziell erfolgreiche Patrons. Ich

komme vor allem in Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen und in Kapitel 7 auf diese zu sprechen.

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mit Umweltbeziehungen, das heisst, um Adaption.154 In der neueren Systemtheorie verwenden Luh-

mann als auch Stichweh weniger den Begriff „Adaption“ sondern sprechen von „Reproduktion“.155

Der Begriff trägt im Gegensatz zu „Adaption“ vielleicht bereits eine aktivere Komponente in sich.

Interessant ist, dass viele Autoren die andinen Institutionen als adaptiv bezeichnen. Dies generiert

eine Parallele zu westlichen Varianten in der Weltgesellschaft, welche sich ebenfalls auf adaptive

Funktionen spezialisierte. Erstaunliche adaptive Fähigkeiten kommunal andiner Strukturen erwähnt

auch Zoomers (2005). Zugleich hält sie fest, dass man jedoch wenig über die „andinidad“ (die kom-

munal-andinen Erwartungszusammenhänge) als Alltagspraktik weiss.

Laut des renommierten Anthropologen Murra (1962, S. 721) besitzt die auf Baumwolle und die auf

Wollfaser basierende Textilkunst eine jahrtausendealte Tradition in den Anden. Hochwertige Texti-

lien waren vor der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert im Inkareich das wichtigstes Prestigegut.

Seidenartig, aus feinsten Vicuñawollfasern gewebte Cumbi Stoffe hatten in asymmetrischen Tausch-

verhältnissen, auf denen sich andine Machtbeziehungen stützten, mehr Wert als Gold.156 Der Anth-

ropologe Murra (1962, S. 721) schreibt bezüglich hochwertiger Stoffe bereits in einem frühen Text

aus den 60er Jahren Folgendes über die Funktion von Kleidern im Inkareich: "... in the Andean area,

the artifact of greatest prestige and thus the most useful in power relation was cloth". Dieser Bedarf

musste gedeckt werden; Textilien waren Haupttribut, das heisst, die Textilproduktion war generali-

siert. Die spanischen Chronisten berichten, dass fast jede Familie irgendwie in die Produktion von

Kleidern involviert war.157 Doch selbst dies genügte nicht, den hohen Bedarf der Oberschicht zu de-

cken. So errichtete die Oberschicht Werkstätten, damit sich zuweilen ganze Ethnien, Teilethnien oder

auch einzelne Spezialisten der Kleiderproduktion widmen konnten. Murra betont, der Bedarf an

Kleidern war so hoch, dass die Oberschicht neben dem Kleidertribut Institutionen zur exklusiven Her-

stellung für diese zeitintensiven Stoffe generierte und einzelne Personen aus den Kommunen der

Peripherie ins Zentrum der inkaischen Gesellschaft inkludierte. Spezialisten (Cumpi Camayoc) und

Spezialistinnen (Acclla) widmeten ihr ganzes Leben in abgeschlossenen Werkstätten ausschliesslich

der Kleiderproduktion (Murra 1962, S. 714ff.).158 Die Spanier erkannten gemäss Pease (1992) den

hohen Stellenwert der Kleider. Sie fuhren mit dem Textiltribut fort und führten anhand dessen die

154

Siehe dazu den Text Parsons 1977. 155

Stichweh 2000a, S. 32 spricht jeweils von der „Reproduktion“ historischer Unterschiede. Adaption, bzw. Reproduktion hat damit automatisch einen Bezug zu Geschichte. 156

Das dichteste Textilstück webten zwischen 1300 und 1532 n.Chr. peruanische Hände aus Baumwoll- und Vicuñafasern. Pro Zoll zählen sich 398 Fäden. Siehe: Holmquist 2010, S. 141. 157

Siehe zur generalisierten Textilproduktion McEwan 2006. 158

Spezialisten (Acclla und Yana) wurden von der inkaischen Oberschicht in Verbänden organisiert, die sich ausschliesslich der Produktion von hochwertigen Kleidern widmen. Diese Verbände basierten auf dem Prinzip der Nicht-Verwandtschaft und inkludierten die Personen als Mitglieder gesamtpersönlich. Die Idee des Berufs-standes bildete sich aus. Insofern bestanden Vorformen von Organisation auch in aussereuropäischen Kontex-ten. Diese Verbände oder Häuser (Wasi) sollten in Form von Klöstern in der Kolonialzeit eine wichtige Rolle spielen. Siehe Burch 2010, S. 94ff.

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Geld- und Marktwirtschaft in der Region, „Pirú“, ein. Hochwertige Kleider wurden in der früheren

Kolonialzeit Geld gleichgesetzt; Steuern, deren Organisation noch immer indianischen Adelsfamilien

oblag, konnten mit Textilien beglichen werden. Dabei wurde die Vermittlung von Spezialwissen vor

allem in kleinen familiären Textilwerkstätten organisiert. Grosse vorspanische Organisationen, die

sich auf Wissensvermittlung bezüglich Textil- und Kleiderherstellung spezialisierten mutierten zu

Organisationen anderer Art: Klöster.159 Viele der Textilspezialisten wurden in ihre Comunidad zurück-

geschickt. Diese kamen insbesondere aus südlichen Comunidades. Webtraditionen wurden laut

Phipps (2004) dann von Meister zu Schüler in kleinen Werkstätten weitergegeben. Klöster wie auch

Hazienda-Besitzer waren hinsichtlich des Textilhandwerks wichtige Wirtschaftspatrons, welche Tapis-

serie- und Spezialaufträge erteilten. "Interestingly, the production of multiple tapestries at this early

date in the colonial era indicates that some Andean wavers were sufficiently organized to replicate

their refined workmanship upon request, and on a large scale" (Phipps 2004, S. 93). Es scheint gera-

dezu diese flexible Doppelung der Wissensvermittlung gewesen zu sein, welche den Erfolg ein Stück

weit garantierte (und es immer noch tut): Wissen wurde familiär in den Comunidades weitergegeben

aber auch in Werkstätten spezialisiert und weiter entwickelt. Diese flexible Doppelung findet sich

noch heute.

Wie funktionierte die Wissensvermittlung in diesen Kleinbetrieben? Spanien wollte den heimischen

Markt schützen und eigene Produkte, das heisst, insbesondere eigene in Spanien produzierte Presti-

gegüter in den Kolonien verkaufen. Da die Produktion von Luxusgütern in den spanischen Kolonien

offiziell verboten war, organisierten die spanischen Kolonialherren in Lima die Produktion von gro-

bem Gewebe in Grossbetrieben, den obrajes, welche im Gegensatz zu den vorspanischen organisati-

onsähnlichen Verbänden, Personen der niederen Schichten inkludierte.160 Doch die Arbeitsbedingun-

gen waren so schlecht, dass viele Arbeiter erkrankten und starben. Dies war in den kleinen Werkstät-

ten anders. Im 17. und 18. Jh. schlossen sich spezialisierte Weber laut Phipps (2004) zu Gilden zu-

159 Siehe zur spanischen Reproduktion der Acclla-Häuser-Strukturen: Burns 2003, 1999. Burns beschreibt, wie die Accllawasi (Häuser der erwählten Frauen) in der frühen Kolonialzeit in ähnliche Einheiten umgeformt wur-den, welche ebenfalls auf Mitgliedschaft basierten. Das Einführen weiterer funktionaler Differenzierung war im 16. Jahrhundert auch deshalb prinzipiell anschlussfähig. Adelige Inkatöchter gingen auf Lebzeiten statt ins Accl-lawasi ins Kloster. Dabei hatten Klöster indirekt viel mit der Textilproduktion zu tun. Sie waren Auftraggeber. Die „Accllawasi“, bzw. diese totale Institution der Inka wandelte sich in der Kolonialzeit also im Bereich der Textilherstellung von einem organisierten „Patron“, der erzieherische Funktionen ausübte, zu einem wirtschaft-lichen „Auftragsgeber-Verband“. Gegenüber ihrer Umwelt nahm die Institution der Klöster aber natürlich vor allem religiöse Aufgaben wahr. Klöster und Kirchen waren neben der niederen Oberschicht inkaischer Ab-kömmlingsfamilien als Nachfrager der feineren Tapisserie Produktion wichtige Patrons. Wirtschaft und Religion waren auch in der Kolonialzeit eng verflochten. 160

Laut Phipps 2004, S. 87ff. wurden feine Textilien noch bis Ende des 18. Jh. aus der andinen Provinz Cuzco nach Chile und Buenos Aires exportiert. Dies zeigt, dass das sogenannte Hinterland bzw. die Provinzen stark in die Textilproduktion eingebunden waren. Nicht selten erfolgte der Export auf dem Weg des contrabando als Schmuggelware, gleich wie der Import von Seide via Manila, welche von peruanischen Webern in Wandteppi-che mitverarbeitet wurde. Welche Rolle eine der ersten internationalen Organisationen, der Priesterorden der Jesuiten, dabei übernahm, würde hier zu weit führen.

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sammen, die von den „Gremios“, den spanischen Gildenregulierungen regiert wurden. Das Wissen

um Textilverarbeitung war also nicht nur in voreuropäischen Zeiten sondern gerade auch in der Ko-

lonialzeit von Bedeutung. Phipps (2004, S. 92) bringt dies folgendermassen auf den Punkt: "Patron-

age of colonial tapestries thus involved the public, private, and religious spheres of colonial life.

Wheter for individuals or the community - for native elite, Spanish colonist, or religious cleric - pa-

trons supported and encouraged the production of tapestries for a variety of purposes. Tapestry

production coevolved with colonial society at large, whose economy and development was intricate-

ly bound not only to the enormous wealth generated from the plentiful natural resources of the An-

des (primarily silver) but also to the cultural richness of its peoples who sustained their heritage even

while helping to transform the world around them". Gemäss Pillsbury (2006, S. 135) behielten feine

andin gewobene Kleider ihren hohen Stellenwert selbst in der späteren Kolonialzeit bis zur Unabhän-

gigkeit Perus im 19. Jahrhundert. Danach wurde das Tragen andiner Textilmuster von der spanischen

Verwaltung verboten; sie dienten fortan nicht mehr offiziell als Erkennungsmerkmal der Oberschicht.

Nichts desto trotz wurde das Textilhandwerk in den Kommunen und den Textilgilden weiterhin ge-

pflegt. So bezogen die heutigen Patrons ihr Basiswissen zum Teil aus der Comunidad, welches schon

immer auch in kleinen Werkstätten reproduziert wurde. Segmentäre Strukturen bewahren also Wis-

sen und stellen dies ihren Angehörigen mehr oder weniger generell zur Verfügung, wobei dies vor

allem in den südlichen Kommunen der Fall ist, woher auch ein ziemlich grosser Teil der Unternehmer

stammen. Das alte Handwerk wird nicht verlernt sondern den modernen Trends angepasst und wei-

tergeführt; Stile werden wie eh und je neu gemischt oder gänzlich neuen Erwartungen angeglichen.

Grundkenntnisse sind also in den Provinzen vorhanden.161

2. Gamarra als Schule jenseits von Zeugnissen?

Wie ist die Wissensvermittlung heutzutage in Gamarra organisiert? Die Unternehmerin bei welcher

ich mitarbeiten konnte, sagte mir, sie habe viele ausgebildet; insbesondere im Bereich des Nähens.162

Obwohl ich ihr erklärte, dass ich aus wissenschaftlichen Gründen in die Gamarra kam, vergass sie dies

schnell. Ich kam als mögliche Sub-Patronin in Frage, die ihre Produkte in Übersee verkauft. Mir wurde

unterstellt, ebenfalls eine Patronin werden zu wollen; doch dies heisst, dass ich zuerst einiges lernen

müsste. Sie wollte mich als Näherin ausbilden. Es war ihr ganz klar, dass ich in die Gamarra kam, um

das Handwerk zu erlernen; in Gamarra möchte jeder, der langfristig erfolgreich sein will, lernen. Wis-

sensvermittlung und -aneignung sind zentrale Kommunikationsthemen. Wem, welches Wissen wei-

tergegen wird, bestimmt zuweilen über Erfolg und Misserfolg einer Unternehmung.163 Patrons sind

161 An diese Grundkenntnisse schlossen auch internationale Textilfirmen an. Diese Firmen erweiterten dieses

Wissen um die maschinelle Komponente beträchtlich. Siehe Kapitel 5. 162

Quelle: Eintrag ins Forschungstagebuch am 27. August 2010. 163

Dieser Punkt wir unter Kapitel 9 noch etwas genauer ausgeleuchtet.

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auf ihre Wissensvermittler-Funktion besonders stolz. Ein guter Patron ist ein guter Lehrer. Erlerntes

gewichtet eine ehemals wohlhabende Unternehmerin mehr als wirtschaftlich-familiäres Versagen. So

bleibt für sie ihr Vater ihr Vorbild, obwohl dieser im Streit das Familienunternehmen quasi komplett

ruinierte. Wissen von ihm vermittelt bekommen zu haben, ist der Unternehmerin wichtiger als seine

wirtschaftliche Funktion als „Patron“, welche mit dem Streit entfiel. Sie wertet Wissen höher. Es sind

weniger die wirtschaftlichen Leistungen eines Patrons, welche ein langjähriges Verhältnis ermögli-

chen. Wissensträger werden in erster Linie als Vorbilder geachtet und nicht besonders erfolgreiche

Unternehmen. Auf meine Frage, wer ihr Vorbild sei, antwortete sie: „Mein Vater. Weil ich von ihm

gelernt habe, mit was ich mich jetzt beschäftige; das Spezialgebiet. Ich habe viele Sachen gelernt. Es

bleiben mir viele Sachen in Erinnerung, von denen er mir immer sagte, sie kämen an erster Stelle:

Halte immer dein Wort, sei ehrlich, weil es das Erste ist, anhand dessen sie Personen identifizieren

[…]. Und weil er mich alles lehrte, was ich über das Business [negocio] weiss. Er hat mich alles ge-

lehrt, mich zu entwickeln“ (Burch 20.08.2010b).164 In diesem Zusammenhang fällt die hohe Arbeits-

moral der Beteiligten auf; die Unternehmerin schätzt ihren Vater, weil er sie lehrte, wie zu arbeiten.

Diese hohe Arbeits- und Lernmoral wird in der Literatur als „andine Arbeitsethik“ bezeichnet.165 Die

Autoren betonen, dass die Arbeit bei den andinen Migranten einen hohen Stellenwert besitzt und

geradezu identitätsdefinierend ist; Identität und Arbeit liegen nahe beieinander. Dass sich Patrons als

Meister bzw. als Spezialist bezeichnen, verdeutlicht ein erfolgreicher Unternehmer. Es ist seine Ant-

wort auf die Frage, ob er nicht auch Ingenieure und wissenschaftliche Spezialisten für bestimmte

Probleme brauche: „Der Spezialist bin ich. Ich habe die Erfahrung, weil ich viele Jahre lernte. Ich

weiss, wie man verkaufen kann, wie man Klienten [Kundschaft] anwerben kann, du musst alles hier in

Lima lernen. Da ich reise, kenne ich es, ich beobachte und manchmal kommt eine Erfahrung aus dem

Ausland ein und beginnt sich, hier zu implementieren“ (Burch 20.07.2010).166 Der Patron hat nicht

nur viele Jahre bei unterschiedlichen Patrons in der Gamarra gelernt und Erfahrungen gesammelt,

sondern er tut dies auch jetzt noch als Patron. Sich Wissen anzueignen, beschränkt sich also nicht auf

die Rolle des Klienten innerhalb einer Patronage. Der Patron hält jetzt international nach Vorlagen

und Handlungsmuster Ausschau. Patrons übernehmen Muster der Mode weltweit.

164 Original: „A mi padre. Porque de el he aprendido a lo que me dedico, la especialidad, he aprendido muchas cosas, me quedan en la mente muchas cosas que el siempre me ha dicho que era en primer lugar: siempre mantenga tu palabra, sea honesta porque lo primero es que te tienen que identificar las personas.[...] Y porque el me ha enseñado todo lo que yo sé, lo que es el negocio, me ha enseñado todo, a desenvolverme” Burch 20.08.2010b. 165

Siehe zum Beispiel die einleitenden Kapitel von Adams und Valdivia 1994 oder Gonzales 2001. 166 Original: „El especialista soy yo; yo tengo la experiencia que aprendí varios años. Sé como se puede vender, como se puede contratar el cliente porque tienes que aprender todo aca en Lima. Como yo viajo conozgo, veo y a veces entra una experiencia del extranjero y se comienza implantar aca.” Burch 20.07.2010. Ich komme auf die Praktiken weltweiter Übernahme von Mustern unter Kapitel 6.2.1 Symmetri-sche/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen zu sprechen.

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Wissensvermittlung bedarf nicht nur Patrons, welche über Wissen verfügen und es weitergeben kön-

nen, sondern verlangt auch nach einer komplementären Haltung der Person in der Klientenrolle.

Lernwilligkeit aber auch Neugier ist also Voraussetzung, sonst ist man als Klient nicht anschlussfähig.

So sagt ein einflussreicher Patron, es käme nicht darauf an, welcher Comunidad jemand angehöre.

Jeder „Provinciano“ [Person aus einer Provinz] kann in der Gamarra erfolgreich sein und “wachsen”

(crecer). Die Bedingung ist jedoch, dass man lernwillig aber auch kreativ ist. Weiter betont er: „Wenn

du hier lernst, lernst du andere Kunden kennen, Zulieferer, mehr und mehr lernst du kennen. Es ist

wie eine Schule, wenn du eintrittst, beginnst du mit dem A, mit dem B, mit dem C; hier ist das gleich.

Wenn du also beginnst zu lernen, wirst du erfolgreich sein. Es kommt auf dich an, ob du selbst eine

gute Imagination besitzt, eine gute Projektion, wohin du gelangen und was du sein möchtest“ (Burch

19.08.2010).167 Zum Lernen zählt der Patron nicht nur handwerkliche oder gestalterische Fähigkeiten,

sondern auch das „Kennen-Lernen“ von Personen, sprich von Kunden und den Umgang mit diesen.

Dabei ist das Lernen immer darauf ausgerichtet, selbständig bzw. ein Patron zu werden. Es ist für

einen Patron nicht erstrebenswert, über die Jahre für seinen Betrieb möglichst viele Lehrlinge einzu-

stellen und zum Beispiel eine Massenproduktion zu lancieren. Der Lehrling soll selbständig werden

und sich ein eigenes Netzwerk aufbauen, welches mit dem wissensvermittelnden Patron in Verbin-

dung bleibt. Die Lehrlinge lernen früh, wie sie ihre Netzwerke zu strukturieren haben, um sich zwi-

schen Kundschaft, Zulieferern und anderen Unternehmern zu bewegen.

Gamarra scheint also eine Art Schule zu sein, in der Disziplin, Kreativität und eigenständiges Arbeiten

wichtig ist. Etwas Zentrales ist auch das Wissen, wie man Kunden und Zulieferer zu behandeln hat.

Auch deshalb beschreibt der Patron, Gamarra als eine Schule: „Gamarra ist eine Schule und wir ha-

ben gelernt, die Kunden und die Zulieferer gut zu betreuen... „ (Burch 20.07.2010).168 Dass der Patron

hier in „wir“-Form spricht und nicht in der ersten Person Singular verdeutlicht die besondere Bedeu-

tung kollektiver, kommunaler Strukturen. Gamarra wurde im Sinne von Matos Mar (2004a) eigen-

ständig von Migranten aus dem „Hinterland“ erarbeitet. Patrons betonen immer wieder, Gamarra

„… besteht nur aus Personen aus dem Inneren [dem Hinterland]. Wir sind aus unterschiedlichsten

Dörfern, aus Cusco, aus Arequipa, aus Huancayo, Cajamarca; aus allen Ortschaften sind wir. Es ist

eine Mischung… es ist ein Ensemble aus Provincianos, die auf das Land und auf ihre Familie setzen.

[…] Aber ich muss lernen“ (Burch 19.08.2010).169 Jeder Provinciano kommt also in Frage, in Gamarra

167 Original: “Tu cuando te vas aprender allí, tu conoces otros clientes, provedores, vas conociendo. Es como una escuela, cuando entras, comienzas con el A, con el B, con el C, igual aca, entonces si comienzas a aprender sales pues. Depende de tí, como tú mismo tengas pues una buena imaginación, una buena poryección a donde quieres llegar y que cosa quieres ser” Burch 19.08.2010. 168

Original: „Gamarra es una escuela, hemos aprendido atender los clientes, los provedores y bien.... „ Burch 20.07.2010 169 Original: “Solamente es gente del interior. Somos de todos los pueblos, de Cusco, de Arequipa, Huancayo, Cajamarca de todos los pueblos somos aca. Es una mezcla.... es un conjunto de provincianos que apostaron por el país, se apostaron por su familia. [...] Pero tengo que aprender” Burch 19.08.2010.

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zu arbeiten. Es besteht wie schon in der Kolonialzeit eine flexible Doppelung von Wissensvermittlung

in den Comunidades und innerhalb den Werkstätten. Es gibt in Gamarra kein Zentrum, aus dem be-

stimmte Segmente, bzw. Comunidades exkludiert sind. Ebenso wenig bekriegen sich die Segmente

untereinander. Es kommt nicht darauf an, welcher Comunidad man angehört. Das heisst aber auch,

dass man vorteilsweise einer Comunidad angehören muss. Die Migranten „setzen auf ihre Familie“,

man setzt sich für Verwandte ein. Wie ist also die Wissensvermittlung in einzelnen Patronagebezie-

hungen konkret organisiert? Wie werden kommunale Erwartungszusammenhänge in einem einzel-

nen Patron-Klientverhältnis reproduziert? Wie wird Wissen heutzutage in einem Wirtschaftszentrum

reproduziert?

Inklusion in eine Unternehmung zwecks Wissenserwerbs wird über familiäre Inklusionsbedingungen

geregelt. Hat man das Vertrauen eines Unternehmers oder einer Unternehmerin einmal gewonnen,

so wird man quasi wie ein Familienmitglied behandelt. Die Reproduktion kommunaler Strukturen ist

im Stande, komplexe Probleme angemessen komplex zu lösen. Sie reproduziert keine starren Gren-

zen, sondern bietet Möglichkeiten, externe Personen geregelt aufzunehmen. Fremde in die Familie

und damit in die Comunidad aufzunehmen, besitzt in den Anden eine lange Geschichte.170 Die Institu-

tion heisst heutzutage „Compadrazgo“ oder „Padrinazgo“ [andine Co-Vaterschaft bzw. Patenschaft].

Der Begriff stammt zwar aus der christlichen Semantik, hat jedoch mit dem europäischen Modell

wenig zu tun.171 Im prehispanischen Peru entwickelte sich gemäss Ossio (1984) ein Äquivalent zur

spanischen Art von Patenschaft. Eine nicht verwandte Person kann in Lima heutzutage als Madrina

bzw. Comadre oder als Padrino bzw. Compadre in ein anderes Familiensystem inkludiert werden.172

Das Verständnis dieser Institution ist zentral, um die moderne Art der Reproduktion kommunaler

Strukturen hinsichtlich Wissensvermittlung (und auch interregionaler Netzwerkbildung) zu beschrei-

ben.

Zum ersten Mal beobachtete Eugene Hammel (1968, S. 44ff, 73ff.) in seiner Monographie „Alternati-

ve Social Structures and Ritual Relationships in the Balkans“ die Institution des „Compadrazgo“.

Hammel verwendete Lévi-Strauss Begriffe von „restricted and generalized exchange“ (Lévi-Strauss

1969 (1949)). Das Austauschsystem des Compadrazgo, bzw. im Balkan „kumstvo“ genannt, war grup-

penübergreifend und stützte die Erwartungszusammenhänge der Gesellschaft. Hammel bestätigte

Lévi-Strauss These, dass Systeme von direktem Austausch weniger solidarisch sind als unilaterale

170

Selbstverständlich ist die Inklusion in eine Familie an die Inklusion in die betreffende Comunidad gekoppelt. Als ich im Jahre 2001 bei einer Bauer- und Fischerfamilie in Curahuasi, Apuríamac, wohnen und mithelfen durf-te, war es meine Pflicht, mich bei der nächsten Dorfversammlung vorzustellen. 171

Charney 1991 unterscheiden dazu formale von informaler Patenschaft. So ist die christlich basierte Paten-schaft formal und diejenige, welche bereits in vorspanischen Zeiten bestand, informal. Der Artikel beschreibt, wie indianische Clan-Anführer (Curacas) mit den Spaniern verwandtschaftliche Patronagebeziehungen eingin-gen. Compadrazgo funktionierte auch im kolonialen Peru, um wirtschaftliche Zusammenschlüsse, sogenannte encomiendas, zu bilden. 172

Zur Durchführung meiner teilnehmenden Beobachtung konnte ich jedoch darauf verzichten, als Madrina in die Unternehmerfamilie aufgenommen zu werden.

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Verbindungen zu verschiedenen „Patrilines“.173 Dabei unterschied er eine symmetrische von einer

asymmetrischen Form von Co-Verwandtschaft. Diese Unterscheidung gilt laut Ossio für Peru nicht.

Andine Co-Verwandtschaft kombiniert die beiden Austauscharten. Ossio (1984, S. 119) definiert

fiktive Verwandtschaft folgendermassen: „Compadrazgo can be seen as a dyadic contract at an indi-

vidual level, although this is not the only level from which it can be viewed. There is a collective level

at which it appears as a link between groups that rest on bilateral kinship, but whose stability de-

pends on certain endogamous tendencies”. Compadrazgo bezieht sich unterschiedlich auf zwei Ebe-

nen. Einerseits entfaltet Co-Verwandtschaft in Bezug auf die Kommune bzw. das ethnische Segment

eine symmetrische Austauschwirkung. Aber betrachtet man die Beziehung auf der Ebene von Inter-

aktionssystem, handelt es sich um eine asymmetrische Tauschbeziehung zwischen den beiden betei-

ligten Parteien. In dieser Hinsicht unterscheidet Ossio andine Co-Verwandtschaft von Hammels An-

sichten und Gudemans Weiterentwicklung; Symmetrie und Asymmetrie schliessen sich laut Ossio

nicht aus.174 Generell ist Compadrazgo optional. Obwohl compadres oft aus der anverheirateten Fa-

milie des Gatten oder der Gattin stammen, ist dies nicht Voraussetzung. Dieser optionale Aspekt

zeigt sich darin, dass keine Person dieselben zeremoniellen Verwandten besitzt. Spirituelle Co-

Verwandtschaft substituiert nicht Verwandtschaftssysteme, sondern baut auf diesen auf. Es ist dies

eine institutionalisierte Art, das eigene Netzwerk vor allem in Bezug auf Wissen zu erweitern. Denn

gerade die Paten und Patinnen erfüllen in der andinen Gemeinschaft eine zentrale Funktion: Nämlich

die Rolle von Patrons, welche in erster Linie Wissen vermitteln. Der Anthropologe Golte setzt sich mit

dieser Institution schon länger auseinander. Er gewährte mir ein Interview, quasi als Austausch auf

meinen Vortrag, den ich in Lima im „Institut für Peruanische Studien“ (IEP) hielt. Zu andinen Ver-

wandtschaftssystemen sagte er:

„Im Kern handelt es sich um ein sehr umfassendes Verwandtschaftssystem, um ein

Jahrtausendjähriges. Jenes Verwandtschaftssystem, wenn die Leute in die Stadt

migrieren, wird nicht nur innerhalb einer Kolonie verschoben, sondern erhält die

Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Land und Stadt. Dies ist wichtig für die Kon-

struktion von Netzwerken. Die familiären Netzwerke funktionieren im Sinne, dass

die interfamiliären Verpflichtungen sich erhalten. In den Bauern-Dörfern [pueblos

campesinos] suchen die Väter oder das heisst die Söhne zum Beispiel die Paten in

173

Daraufhin untersuchten Anthropologen verschiedenste Arten fiktiver Verwandtschaft anhand funktionalisti-scher und später auch strukturalistischer Theorie, zum Beispiel: Kemper 1982 für Mexiko, Magnarella 1973 am Beispiel der Türkei, Sofola 1983 hinsichtlich Patenschaftsbeziehungen in Afrika oder in komparativer Perspekti-ve: Yelvington 1991. Die Liste wäre lang. 174

Selbst in kleinen andinen Kommunen existiert eine Vielzahl an verschiedenen Möglichkeiten von spiritueller Verwandtschaft. Sie reichen von zehn bis siebzehn Möglichkeiten: Bei der Geburt, Taufe, beim ersten Schnei-den der Nägel, beim ersten Schneiden des Haars, wenn einer Tochter die Ohren zum Tragen von Ohrringen gestochen werden, bei der Heirat usw. Ossio 1984, S. 120ff. Ich selbst wurde „madrina de soccorro de primer agua“, was noch eine weitere Art darstellt.

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der Stadt. Sie [die Väter] denken an eine urbane Zukunft ihrer Söhne und nicht an

eine Zukunft als Bauer. So etablieren sich bereits seit Kindheit Beziehungen zwi-

schen denjenigen, welche in der Stadt erfolgreich sind, im Sinne dass sie eine

Werkstatt besitzen. […] Es besteht eine sehr starke Beziehung zwischen dem

Wachstum der Unternehmen in Lima und in der Gesellschaft der Campesinos [an-

dinen Bauern]. Dies kann man hinsichtlich der Patenschaft sagen. Es ist ein Aspekt,

aber es gibt noch andere Aspekte, wie zum Beispiel, dass auf dem Land eine sehr

detaillierte Information besteht über diejenigen, welche in der Stadt Lima erfolg-

reich waren. Es gibt so etwas wie ein Lehrverhältnis [aprendizaje]. Wenn also die

Erfolgreichen an das Fest des Dorfpatrons gehen, kommunizieren die Leute mit ih-

nen, um sich alle notwendige Informationen zu beschaffen, wie man ein erfolgrei-

ches Leben in der Stadt führt“ (Burch 16.07.2011a).175

Dies ist interessant. Langfristige Patronage ist also nicht nur in segmentär-kommunale Erwartungen

eingebettet, die langfristigste Art von Patronage ist in Gamarra beinahe immer auf Wissenstransfer

angelegt. Die Aufgaben sind innerhalb von Kommunen genau aufgeteilt. An dieser Stelle soll eine

kurze Zwischenfrage eingeschoben werden: Wieso braucht es zur Beschreibung dieser kommunalen

Erwartungszusammenhänge den Begriff „Patronage“? Ich werfe diese Frage auf, weil zum Beispiel

Golte Patronage als Gegenbegriff zu kommunalen Strukturen fasst. Die beiden Begriffe sind jedoch

gemäss Ossio (1984, S. 119) kombinierbar und keine Gegenbegriffe. Gamarra ist nur zu verstehen,

wenn Patronage in Bezug auf kommunale Strukturen beobachtet wird. „Patronage“ beschreibt ein

Einzelverhältnis innerhalb eines Netzwerkes und erleichtert es, die Art der Reproduktion kommuna-

ler Erwartungszusammenhänge detailliert zu beschreiben. Deshalb verwende ich im Folgenden die

Begriffe Patronage und Kommune nicht als Gegenbegriffe. Das Interessante ist die Art ihrer Kombina-

tion und diese kann nur im Feld als empirisch-operative Konstruktion von Sinnhaftigkeit beobachtet

werden. Kommunale Strukturen sind nicht per se informal. Sie werden durch Patronage informali-

siert; dies erlaubt es beispielsweise den Teilnehmenden, in Bezug auf Formalität, Wissen über Gene-

rationen hinweg zu bündeln. In Bezug auf Gamarras Unternehmen bilden segmentäre Erwartungen

175 Original: “En el núcleo es un sistema de parentesco bastante amplio, milineario. Ese sistema de parentesco, al migrar la gente a la ciudad es no solamente trasladado una colonia sino se mantiene las relaciones de parentesco entre campo y ciudad. Ese es importante para presisamente la construcción de redes, funcionan las redes de familias en el sentido que las obligaciones intrafamiliares se mantienen y en los pueblos campesinos los padres o sea los hijos buscan por ejemplo los padrinos en la ciudad que están pensando en un futuro urbano de sus hijos y no en un futuro campesino de sus hijos. Entonces ya se establece desde la niñez relaciones entre los que tienen un éxito urbano en el sentido que tienen un taller [...]. Hay una relacion muy fuerte entre el crecimiento de empresas en Lima y en la sociedad campesina. Esto digamos al cuanto al padrinazco, es un aspecto, pero tiene otros aspectos como por ejemplo que en el campo hay una información muy detallada de los que han tenido éxito en la ciudad de Lima. Hay algo así como un aprendizaje que cuando los éxitosos se van a la fiesta del patron del pueblo, la gente digamos se comunica con ellos y les saca toda la información necesaria de como puede empezar una vida exitosa en la ciudad” Burch 16.07.2011a.

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vor allem langjährige klientelistische Interaktionssysteme zwischen Onkel/Tante und Neffen/Nichten.

Der Arbeitsvertrag entfällt. Der Onkel ist aufgrund kommunaler Erwartungen verpflichtet, den Neffen

zu lehren. Diese Verbindung ist laut Golte (Burch 16.07.2011a) in der Kommune schon seit Jahrhun-

derten institutionalisiert. Die Onkel müssen sich speziell um die Erziehung ihrer Neffen kümmern.

Auch in der Literatur werden solche Beziehungen als Patronage behandelt: "The behavior of the ac-

tors in this social relationship is always asymmetrical; the ahijado is always subordinated to the

padrino" (Ossio 1984, S. 118). Es handelt sich bei diesem asymmetrischen Verhältnis also um eine

Patronage in Eisenstadts Sinne. Auch wenn die Verbindung eine verwandtschaftliche ist, es sich also

quasi um eine symmetrische Beziehung handelt, lernt doch der Jüngere von seinem Onkel, während

der Onkel eine verlässliche Arbeitskraft erhält. Der Neffe wird immer und nur für seinen Onkel arbei-

ten. So suchen die Onkel in der Stadt ihre Neffen; dabei ist der Onkel verpflichtet, den Neffen

schrittweise in alle Geheimnisse erfolgreichen Unternehmertums einzuführen. Es handelt sich also

um Patronage und nicht um ein zeitloses Ausnutzungsverhältnis. Der Onkel ist zur Gegenleistung

verpflichtet, dem Neffen zu helfen, sich unabhängig von ihm zu machen: „Und am Ende, wenn die

Neffen mit Lernen fertig sind, sind die Onkel gezwungen, ihnen zu lehren, ein eigenes Unternehmen

zu führen. Und das ist die Basis von Netzwerken verschiedener Unternehmen, die miteinander ko-

operieren. Deshalb besteht eine Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Unter-

nehmen“ (Burch 16.07.2011a).176 Dies ist ein wichtiger Punkt von Golte, den ich separat unter Kapitel

6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen erörtere. Der Pat-

ron muss also seinem Klienten, dem Neffen, helfen, ebenfalls ein Patron zu werden und vor allem in

zeitlicher Hinsicht zu bleiben. Dieser Punkt ist zentral, um ein erfolgreicher bzw. einflussreicher Pat-

ron zu werden. Es handelt sich dabei um eine Netzwerkstrategie. Arbeitern, welchen man besonders

vertraut, lehrt man, um später mit ihnen gemeinsam vorwärts zu kommen.177 Innerhalb von Unter-

nehmen beobachtete ich ebenfalls Arbeits-Verhältnisse zwischen Tanten und Neffen / Nichten oder

Onkel und Nichten / Neffen. Es handelt sich jedoch nicht mehr immer nur um familiäre Mitglieder, so

wie das vor zwei, drei Jahrzehnten der Fall war.178 Familienmitglieder sind heutzutage gemäss Ansich-

ten der Unternehmer wie wir in Kapitel 6.1.3 über die wirtschaftlichen Funktionen von Patrons sehen

werden, nur für bestimmte Positionen geeignet. Das heisst, sie werden strategisch im Netzwerk plat-

ziert. Familienmitglieder sind begehrt, aber auch nur begrenzt vorhanden. Heutzutage genügt es

zuweilen, wenn es sich zum Beispiel um einen Freund eines Onkels oder einer Tante handelt; die

andinen Netzwerke sind in dieser Hinsicht flexibel und verbreiten Wissen über entferntere Personen.

Umgekehrt ist der Ausdruck „amigo“ differenziert zu handhaben. „Amigos“ müssen nicht „Freunde“

176 Original: „Y al final cuando los sobrinos han terminado de aprender, los tíos están obligados a ayudarles a tener su taller propio. Y eso es la base de los redes de diversos talleres que cooperan. Porque hay lazos de parentesco entre los diversos talleres“ Burch 16.07.2011a. 177 Siehe dazu auch Kapitel 7. 178

Siehe beispielsweise: Adams und Valdivia 1994.

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116

im Sinne von nicht verwandten Kollegen sein. Es kann sich bei „amigos“ auch um „compadres“ oder

„comadres“ handeln. Kommunale Netzwerke sind erstaunlich adaptiv und individueller gestaltbar als

noch vor ein paar Jahrzehnten.

Wenn es um Wissensvermittlung geht, kommt es zuweilen zu Ausnützung. So erzählt eine Studentin

in San Marcos, welche in ihrer Kindheit in der Gamarra arbeitete, dass Kinderarbeit keine Seltenheit

ist. Werden Jugendliche angestellt und angelehrt, handelt es sich um einen „favor“, was einen sehr

tiefen Lohn und lange Arbeitszeiten legitimiert. So kommt es natürlich auch zu Ausnützung innerhalb

von familiären Netzwerken. Eine ehemalige Arbeiterin berichtet von einem Mädchen, das aus der

Provinz geholt wurde: „Sie brachten ein Mädchen mit sich… es war ihre Patin [su madrina]. […] Es

gibt gute Personen, welche dir ein Studium finanzieren, die dir alles bezahlen; aber es gibt auch an-

dere Fälle, welche die Mädchen oder die Knaben schlecht bezahlen” (Burch 18.07.2011).179 Nicht

selten finanzieren Onkel oder Tanten jedoch auch parallel eine universitäre Ausbildung. Patrons sind

also Vermittler zur formalen Erziehung als auch selbst Lehrpersonen. Ich fragte mich, wie die Unter-

nehmer Wissenslücken schliessen bzw. wie sie ihr Wissen erneuern, um zum Beispiel mit der techno-

logischen Entwicklung zurecht zu kommen: Wie stellt sich die Soziosphäre auf die Technisphäre ein?

Gerade bezüglich technischer Mittel wissen die Patrons nicht alles. Doch sie verzichten dennoch dar-

auf, einen fremden Spezialisten zum Beispiel einen Ingenieur ausserhalb von Patronage anzustellen.

Patronage ist in Gamarra beinahe die exklusive Institution, um Wissen weiterzugeben und von Seiten

von Patrons zu erhalten. Stattdessen schicken die Unternehmer ihre eigenen Kinder bzw. ihre Neffen

zur Schule und an die Universität oder sie suchen für ihre jungen Klienten ein interessantes Unter-

nehmen, damit sie sich dort von diesem erfolgreichen formalen „Patron“ die Produktionsmethoden

zum Beispiel von eigenen Marken aneignen und dieses Wissen dann ins Unternehmen zurückbringen.

Die Vermittlerrolle zur formalen Erziehung löst also ein zentrales, man könnte sagen, ein adaptives,

Problem der Unternehmung des Patrons, das mit der Abstimmung von der Soziosphäre auf die Tech-

nisphäre zu tun hat. Dazu äusserte sich auch der Anthropologe Golte. Er sprach mit einem Unter-

nehmer, der Sportbekleidung mit gefälschten („pirateados“) Marken-Aufschriften wie Adidas her-

stellte. Der betagte Unternehmer wollte aber endlich seine eigene Marke lancieren und wusste nicht

wie. Doch er wusste, dieses Problem anzupacken. Der Herr erzählte, dass er seine Kinder nicht an die

Universität schicke, sondern in ein Unternehmen: “Ich werde sie in die Fabriken aller Marken schi-

cken, damit sie dort arbeiten und sehen, wie man dies macht. Und danach kehren sie zurück und wir

erweitern unser Geschäft“ (Burch 16.07.2011a).180 Die Unternehmer verarbeiten also den Anschluss

179 Original: “Estaban llevando una chica... eran sus padrinos, madrina, su madrina. [...] Hay personas muy

buenas que te dan estudio, de todo te pagan. Pero también hay otros casos que las chicas o los chicos, te pagan mal” Burch 18.07.2011. 180 Original: “Los voy a mandar a las fábricas de todas las marcas para que vayan a trabajar allí y miren como se hacen y después regresan y allí entonces ampliamos nuestro negocio” Burch 16.07.2011a.

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117

an die sich wandelnde Technisphäre mittels Zeit. Wissensanstieg passiert nicht kontinuierlich, son-

dern ereignet sich mit dem Generationenwechsel sozusagen sprunghaft.

Angesichts dessen, dass Personen zwecks Ausbildung in die Gamarra kommen, weil Gamarras Unter-

nehmer Wissen vermitteln, lässt sich Gamarra, wie ein Patron zu Beginn des Kapitels bereits betonte,

als Schule bzw. als ein Zentrum des Erziehungssystems beschreiben. Im Gegensatz zur universitären

Ausbildung erhält man in der Gamarra eine praxisnahe Lehrausbildung. Während es in Peru formal

auf höherer Ebene nur das universitäre Erziehungssystem gibt, ist das Modell der Lehre in der

Schweiz zum Beispiel ebenfalls formalisiert. Ein Lehrling kann nach erfolgreichem Beenden der Lehre

generalisiert in ein Unternehmen inkludiert werden. Der ausgebildete Lehrling erhält ein Zertifikat,

welches sozusagen die Kommunikation zwischen den Funktionssystemen Erziehung und Wirtschaft

strukturell koppelt. Das heisst, das Erziehungssystem leistet in Bezug auf die Wirtschaft etwas: Es

stellt Sinn in Form von kompatiblem Wissen zur Verfügung. Wie sehen solche Zusammenhänge in

Gamarra aus? Personen, welche in Gamarra lernten, erhalten kein Zertifikat, das sie generalisiert

vorzeigen könnten. Es handelt sich bei Gamarra um ein informelles Erziehungszentrum, das global

nur sehr bedingt anschlussfähig ist. Inklusion in den informalen Arbeitsmarkt wird insbesondere via

Reputation geregelt, welche in Netzwerken stabilisiert wird. Obwohl keine Zertifikate ausgehändigt

werden, erleichtert eine Ausbildung in Gamarra, welches ein Reputationssystem ist, Zugang zu Arbeit

und anderen Unternehmungen. Jeder weiss um die generellen Normen: Pünktlichkeit und Ehrlichkeit

stehen an erster Stelle: „Halte immer dein Wort, sei ehrlich, weil es das erste ist, anhand dessen sie

Personen identifizieren…. wenn du etwas schlecht machst, wirst du den Leuten nicht mehr ins Ge-

sicht schauen können. Und wenn du irgendwo eintrittst, stellst du dich vor und sie sprechen gut von

dir; sie sagen: ‚Diese Person ist korrekt, diese Person ist ehrlich‘. Es ist sehr wichtig, dies wieder zu

gewinnen oder besser gesagt, es zu erhalten; das Wort, ist es woran sie dich als ehrliche Person iden-

tifizieren“ (Burch 20.08.2010b).181 Man muss als Person identifizierbar sein; dies ist eine typische

Inklusionsbedingung für Patronage. Zugleich begrenzt dies die erzieherische Zentrumspositionsmög-

lichkeit Gamarras; Reputationssysteme sind auf wiederholte Kommunikation und gelegentlicher phy-

sischer Anwesenheit angewiesen. Gamarra ist, wie wir in Kapitel 7 detaillierter sehen werden, auch

ein Arbeitsmarkt. Patrons können einen erfolgreichen Lehrling einem anderen Patron empfehlen.

Dies funktioniert auch international, jedoch nur so weit, wie die Netzwerke der Unternehmer rei-

chen. Wer in Gamarra ausgebildet wurde, hat einen Ruf, schnell arbeiten zu können. Eine ehemalige

Arbeiterin der Gamarra (Burch 18.07.2011) und eine Tochter eines Patrons erzählen, dass der neue

Arbeitgeber vor allem wenn er ausserhalb von Gamarra ist, den Patron als Referenz anruft. In diesem

181 Original: „ siempre mantenga tu palabra, sea honesta porque lo primero es que te tienen que identificar las personas es... si tu vas hacer algo malo, no vas a poder mirar a la persona a la cara. Y cuando entres en algun lugar, te presentes y hablan bien de tí, dicen ‘esa persona es correcta, esa persona es honesta’. Es muy importante recuperar o sea mantener eso, la palabra es que te identifiquen como una persona honesta” Burch 20.08.2010b.

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118

Sinne ersetzt Patronage das generell anschliessbare Zertifikat und beobachtet die Reputation von

Personen innerhalb von Netzwerken. Gamarra ist also ein informales Zentrum des Erziehungssys-

tems. Es kommt ohne Zeugnisse aus und ist somit nur bedingt mit Wirtschaft kompatibel.

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6.1.3. Wirtschaftliche Funktionen: Organisationskommunikation und eine

Art von Kredit

Bei vielen Patronagebeziehungen handelt es sich insbesondere um ein wirtschaftliches Verhältnis.

Das heisst, die Leistungen und Gegenleistungen von Seiten des Patrons und der Klienten sind wirt-

schaftlicher Art. Wirtschaftliche Leistungen sind die Hauptleistungen der Patrons, weshalb sich die

Patrons selbst als „Unternehmer“ (empresario) bezeichnen. Patrons übernehmen verschiedenste

wirtschaftliche Leistungen. Da Arbeitsverhältnisse sehr vielfältig sind, erörtert dieses Kapitel nur or-

ganisationsinterne und nicht inter-organisationale Wirtschaftsleistungen von Seiten des Patrons. Das

Kapitel erörtert zuerst das Arbeitsverhältnis und betrachtet danach Inklusionshilfe ins Zentrum der

Wirtschaft via Kreditvergabe. Beziehungen zwischen Organisationen dokumentiert Kapitel 6.2.1

Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen.

Organisation kommt in Gamarra ohne Arbeitsverträge aus. Alle Anstellungsverhältnisse sind vertrags-

los und das erstaunt. Organisation ist folglich auch ohne Vertrag möglich. Der Klient übernimmt eine

vom Patron vorgeschriebene Aufgabe, während der Patron den Klienten monetär entlohnt. In der

Gamarra sind die Löhne selbst für peruanische Verhältnisse tief und pendeln zwischen 1.5 und 2.5

Soles (0.5 und 0.8 Fr.) pro Stunde. Doch welche Erwartungszusammenhänge bestehen innerhalb

einer solchen arbeitsvertragslosen Unternehmung? Ich erörtere diese Frage am Beispiel der Kleinfir-

ma von Olivia Nieves,182 in welcher ich als Mitarbeiterin aufgenommen wurde. Die Unternehmung

stellt vor allem Kleider für besondere Anlässe wie Feste oder Tanzgruppen her. Ebenfalls werden

sämtliche Spezialwünsche zum Beispiel Kopien eines bestimmten Modells erfüllt. Die Inhaber verglei-

chen sich gar mit den Chinesen.

1. Vom Problem wirtschaftlicher Patronage mit Familienmitgliedern

Anfangs arbeitete die Unternehmerin, Olivia Nieves, mit ihrer Schwester. Doch diese machte sich

inzwischen selbständig: “...die Schwester half mir, sie half mir. Jetzt hat sie sich auch selbständig ge-

macht; sie ist an einem anderen Ort“ (Burch 24.08.2010b).183 Nahe Familienmitglieder eignen sich

nicht für langfristige asymmetrische Patronageverhältnisse, wenn es um wirtschaftliche Leistungen

geht; für erzieherische Verhältnisse von Wissensvermittlung hingegen schon. Die Unternehmerin

lernte von der Schwester viel. Das Ziel eines Jeden ist die Selbständigkeit. Jetzt, wo die Schwester

selbständig ist, kommt diese jedoch nicht mehr in Frage, elementare organisationsinterne Aufgaben

zu übernehmen. Familie und Rangordnung ertragen sich schlecht, wenn es um langjährige interne

182

Alle Namen sind anonymisiert bzw. frei erfunden und entsprechen nicht den wirklichen Gegebenheiten. 183

Origianl: “...la hermana me ayudó a mí, a mí me ayudó. Ahora también se ha independizado, en otro lado está“ Burch 24.08.2010b.

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Wirtschaftskommunikation geht. Die Unternehmer arbeiten dann kaum mit Familienmitgliedern, weil

man sie nicht „anschreien, herumkommandieren und fordern kann“, wenn sie zum Beispiel nicht

pünktlich arbeiten.184 Familiäre Patron/Klient-Verhältnisse im wirtschaftlichen Bereich sind also diffe-

renzierter zu betrachten. So betont die Unternehmerin nämlich doch wieder: „Die Familie hilft auch“.

Die Frage ist wie? Manchmal überwacht ihr Mann die Produktion. So sagt sie bezüglich Familie: „Aber

wichtiger sind die Personen hier, sie arbeiten jeden Tag“ (Burch 24.08.2010b).185 Verwandte und

Familienangehörige helfen zwar, aber dies geschieht kaum längerfristig innerhalb der Organisation.

Wenn mit Familienmitgliedern gewirtschaftet wird, so besetzen diese immer strategischen Positio-

nen; damit sich familiäre und wirtschaftliche Logiken möglichst nicht bekämpfen. Doch es bleibt eine

Herausforderung. Wie für moderne Organisation üblich, bedarf es interner Rangordnung. Es ist je-

doch schwer, eine Grenze einzuführen, welche die organisationsexterne familiäre Rolle von einer

hierarchischen Organisationsrolle trennt. Es besteht nicht wirklich die Möglichkeit, sich nach aussen

zu versetzen, da beide Rollen jeweils vermischt werden.186 Formale Organisation erachten die Teil-

nehmer jedoch als notwendig. Es ist nicht mehr möglich in reinen Familienorganisationen zu produ-

zieren. Familienmitglieder eigenen sich hinsichtlich wirtschaftlicher (und nicht erzieherischer) Funkti-

on nur für gleichrangige Rollen, wenn diese beispielsweise in separaten Organisationsbereichen

gleich hohe Positionen besetzen: „Meine Schwester übernahm insbesondere die [Leitung der] Werk-

statt, den produktiven Bereich. Und ich übernahm vor allem den Verkauf, die Kommerzialisierung. So

hatten wir es getrennt. […] Alsdann hat jeder seine Spezialität“ (Burch 20.08.2010b).187 Spezialisie-

rung insbesondere das Kreieren einer eigenen Marke bedarf meistens eines Kern-Familienmitgliedes,

welches einen ganzen Unternehmensbereich übernimmt. In der Unternehmung, in welcher ich mit-

arbeitete, war zu wenig familiäres Personal vorhanden, welches obere Positionen hätte besetzen

können. Die Unternehmerin ist also auf Personal aus ihrem weiteren Bekanntenkreis angewiesen. In

mittleren und unteren Positionen gilt hingegen das Gegenteil. Sie arbeitet: “…mayormente

[con]amigos, trabajar con familiares es un poco complicado” (Hauptsächlich mit Freunden, mit Fami-

lienmitgliedern zu arbeiten, ist ein wenig kompliziert)(Burch 16.07.2010a). Im Laufe der Zeit reduzier-

te die Unternehmerin die Zahl ihrer Arbeiter: Weniger Verwandte, dafür Personen, die sie besser

kennt. „Früher besass ich 25 Angestellte. Ich schaute, welche gut arbeiten. Heute arbeite ich schon

mit wenigen. Von den 25 Personen arbeite ich jetzt nur mit den zehn verantwortungsvollsten; ich

sehe, wie sie ehrlich arbeiten. Ich wähle schon aus. Mit ihnen arbeite ich nun ruhiger“ (Burch

184

Original: “No trabaja con familia porque no les puede gritar, ordenar y exigir” Eintrag im Forschungstagebuch, 11. August. 2010. 185

Original: “La familla también ayuda. Pero más importante son las personas aca, trabajan todos los días” Burch 24.08.2010b.. 186

Siehe zur formalen Organisation und dem Innen/Aussen-Schema: Luhmann 1999b, 1964, S. 39ff.. 187 Original: „Mi hermana se encargaba netamente de lo que era el taller, la parte productiva. Y yo me encargaba mayormente en las ventas, la comercialización. Entonces lo teníamos separado. [...] Entonces cada uno tiene su especialidad Burch 20.08.2010b.

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121

24.08.2010b).188 Interessant ist, dass die Patronin bei solchen Anstellungsverhältnissen von „contra-

tar“ spricht, was eigentlich „unter Vertrag nehmen“ bedeutet. Es wird jedoch nie ein Arbeitsvertrag

erstellt; es handelt sich immer um mündliche Abmachungen. Manche der Mitarbeiter arbeiten schon

lange in ihrer Unternehmung; so bezeichnet sie ihre Arbeiter als „amigos“ (Freunde). Doch auch die-

ser Ausdruck muss differenziert betrachtet werden. So erklärt sie auf meine Frage, wieso es wichtig

sei, mit Freunden zu arbeiten: „Ah, nein, es sind keine Freunde, sondern angestelltes Personal. So

blieben sie, sie arbeiten schon ein Jahr, oder ein halbes Jahr hier, gut, es sind beinahe Freunde. Sie

gehen und später kehren sie wieder zurück. Aber zu Beginn kannte ich sie nicht“ (Burch

24.08.2010b).189 Erscheint ein Arbeiter plötzlich für mehrere Monate nicht mehr bei der Arbeit,

nimmt die Unternehmerin ihn erstaunlicherweise wieder auf, sollte er wieder zurückkommen. Es ist

höchst erstaunlich, wie kognitiviert mündliche Arbeitsvertragsbrüche behandelt werden; in der

Schweiz würde dies jedenfalls Vertragsbruch bedeuten, was die fristlose Kündigung zur Folge hätte.

In Lima braucht ein Arbeiter aber weder eine Kündigungsfrist einzuhalten, noch benötigt er ein Ar-

beitszeugnis. In Gamarra sind Netzwerke wichtiger. Deshalb ist es nicht unbedingt schlecht, wenn ein

Klient die Firma plötzlich verlässt. Patrons gehen davon aus, dass ihr Arbeiter weitere Kontakte

knüpfte, was der Unternehmung zugutekommt.

Wenn Arbeiter als Freunde bezeichnet werden, ist es wichtig, zu unterscheiden, inwiefern dieses

freundschaftliche Verhältnis zuvor schon bestand oder ob der Ausdruck „amigo“ das Patronagever-

hältnis selbst bezeichnet. Im letzten Fall handelt es sich um Empfohlene; also um Personen, welche

die Unternehmerin zuvor nicht kannte.190 Durch das erfolgreiche wirtschaftliche Patronageverhältnis

wurden diese Angestellten jedoch zu Freunden. Insofern hat sie die Mitglieder nach Logiken der Or-

ganisation und nicht nach verwandtschaftlichen Kriterien ausgewählt. Einen solchen Mitarbeiter, der

ein halbes Jahr blieb, bezeichnet die Unternehmerin bereits als stabilen Arbeiter. Patrons stehen

unter Konkurrenzdruck; es gibt für Arbeiter mit guten Kenntnissen überall Jobangebote und viele

sind in familiäre Netzwerke eingebunden und müssen hin- und wieder irgendwo aushelfen. Das ist

ein Problem. Deshalb bezahle sie jeweils fristgerecht. Es sei wichtig, die Arbeiter termingerecht zu

188 Original: “Yo anteriormente tenía como 25 personales. Y de ahí, ví quienes trabajaban bien. Ahorita ya estoy trabajando así con poquitos, de los 25 pues solamente con diez personas que son más responsables, veo como trabajan honestamente. Voy escogiendo ya. Con ellos estoy trabajando ya más tranquilo” Burch 24.08.2010b. 189 Original: “No, no son amigos sino que yo contraté personal entonces se quedaron y ya trabajan un año, medio año ya, bueno casi ya son amigos. Se van y luego regresan. Pero primero no les conocí” Burch 24.08.2010b. 190 Die Firmeninhaberin erklärt, dass Personen aber auch auf Empfehlung eingestellt werden: „…Manchmal

kommt ein Jugendlicher, um zu arbeiten. Er sagt mir: ‚Ich werde meine Schwester mitbringen, ich bringe auch noch einen anderen Bruder, ich bringen meinen Cousin, der arbeiten möchte‘. ‚Ah, ja, bring deinen Cousin, klar‘.“ Forscherin: „Schliesst du einen Arbeitsvertrag ab?“ – Unternehmerin: „Nein, nein, nein mit Vertrauen. Sie bringen mir ihre DNI [Identitätsausweis], ihre Quittungen, [um zu wissen], wo sie wohnen. Denn ich muss wissen, wo sie wohnen; aus Vorsicht, um eine Referenz zu besitzen“ Burch 24.08.2010b. Nicht alle ihre Mitar-beiter sind mit ihr verwandt, aber oft sind es diejenigen, welche in einem Bereich zusammen arbeiten. Ich komme auf letzteres Argument in Kapitel 9 bezüglich Grossunternehmen zu sprechen.

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entlohnen. Patronage langfristig zu motivieren ist nicht einfach. Aber die meisten bleiben oder kom-

men wieder zurück, nachdem sie dachten, in der Gamarra anderswo eine bessere Anstellung gefun-

den zu haben. Obwohl sie keine familiären Mitarbeiter als wirtschaftliche Klienten anstellt, bezeich-

net sie ihre Unternehmung dennoch als Familie: „Es [ein Unternehmen] bildet eine Familie. Es ist das

gleiche, eine Unternehmung oder eine Familie zu haben“ (Burch 24.08.2010b).191 Obwohl sie ihre

Organisation als Familie sieht, entspricht der Aufbau ihrer Firma einer modernen Unternehmung mit

mehreren funktionalen Abteilungen (vgl. Abb. 4).

2. Funktionale Organisationsbereiche und deren Interaktion

Der schlauchförmige, ca. 35m lange Geschäftsraum besitzt nur einen schmalen ca. vier Meter breiten

Eingang an der Front. Der Bauherr besass dabei wohl keine rechtliche Genehmigung. Die Folgen eines

Erdbebens oder Brandes wären verheerend. Nirgends gibt es in diesem kellergewölbeartigen Raum

Fluchtwege. Dennoch ist die Miete dieser Liegenschaft sehr teuer; die Unternehmerin bezahlt monat-

lich 4000 peruanische Soles, was umgerechnet ca. 1200 Franken sind. Es besteht ein Mietvertrag,

welcher sich jedoch auf ein Jahr begrenzt, weshalb es von Vorteil sei, mit dem Vermieter gut auszu-

kommen (Burch 24.08.2010b).

Wie wird dieser Raum von den Teilnehmern bewältigt?192 Erstens wird die Bewegung der menschli-

chen Körper durch funktionale Zuordnung zu einem Bereich eingeschränkt. Die Klienten bzw. Arbei-

ter bewegen sich meist auf einem begrenzten Segment. Zweitens überlagert Schriftlichkeit die einge-

führten Grenzen. Die Unternehmerin benutzt insgesamt fünf Bücher, von denen drei im gesamten

Raum hin- und her verschoben werden. Zuerst zum ersten Punkt: Im Organisationsraum differenzie-

ren sich vier Hauptzonen. Die Kundschaft begrenzt sich auf die ersten beiden Bereiche A1 und A2,

wobei sich an deren Schnittstelle die Kasse und somit der Platz der Patronin befindet (vgl. Abb. 4).

Diese kümmert sich um die Kasse, wobei sie das meiste Geld jedoch in einer Gürteltasche bei sich

trägt. Zudem bemühte sie sich mit einer Hauptverkäuferin um die Kundschaft. Ab und zu arbeitete

noch ein zweiter Hauptverkäufer mit. Der Hauptverkäuferin sind drei „ayudantes“, GehilfInnen, un-

terstellt. Da ich in der Firma arbeitete, konnte ich mich frei mit den Angestellten unterhalten; dies

war jedoch nur informal während der Arbeit möglich: Die eine Hilfskraft war als Zwölfjährige minder-

jährig. Sie war erst zwei Wochen da. Die zweite war 19 Jahre alt und eine Nichte der Verkaufsleiterin.

Sie studiert an der Universität in Huancayo „Administration“ und arbeitete nur kurze Zeit während

der Nationalfeiertage, um etwas Erfahrung zu sammeln, da sie später am liebsten selber mal ein ei-

genes Geschäft eröffnen würde. Auch der dritte war jugendlich. Er erfuhr von einem Kollegen, dass

man hier arbeiten könne. Ausser zur Nichte bestehen zu den Helfern vorwiegend wirtschaftliche Leis-

191

Original: “Una familia pues que conforman no?...es igual, tener una empresa y una familia. Una familia es como una empresa” Burch 24.08.2010b. 192

Siehe zur Kontrolle und Organisation des Raums Stichweh 2008.

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tungen von Seiten der Patronin. Die ayudantes sind nur für kurze Übergangsfristen da; sie ermögli-

chen eine Flexibilisierung der Produktion und des Verkaufs, sie werden aber nicht aktiv von der Ver-

kaufsvorsteherhin gelehrt. Die Leistungen der „ayudantes“ sind unabdingbar, um die vielen Kunden

während der Nationalfeiertage zu betreuen. Der Umsatz variiert sehr stark: Zwischen 5000 Soles (ca.

1840 Fr.) und 30‘000 Soles (über 11‘000 Fr.) pro Monat. Die Unternehmer wissen jedoch, dass im

Mai, April, Juli, August und im Dezember am meisten Umsatz gemacht wird, weil dann viele Feste

und Feiertage sind. Für Spitzenzeiten braucht sie deshalb Hilfskräfte. Die Patronin beschwerte sich

jedoch mehrmals über die Fehlleistungen der Gehilfen: „Manchmal, wenn ich [fremde oder nicht

direkt bekannte] Personen anstelle, bedienen sie die Kunden nicht gut. Sie sagen dem Kunden: ‚Nein,

das habe ich Ihnen nicht so angefertigt. Ich werde Ihnen also ein anderes [Kleidungsstück] machen‘.

Aber ein anderes [Modell] herzustellen, ist ein Verlust. Ja, solche Dinge…“ (Burch 24.08.2010b).193 Die

Leistung dieser Gehilfinnen ist also aus Sicht der Patronin nicht viel Wert und das rechtfertigt eine

tiefe Gegenleistung. Löhne werden „siempre según habilidad“ (immer gemäss Geschicklichkeit) ver-

geben. Aber auch wenn man noch so geschickt ist, wird man als ayudante im Verkaufsbereich nie viel

verdienen, obwohl diese mindestens zehn Stunden pro Tag arbeiten. Die Meinung der Patronin teilt

auch ein kürzlich selbständig gewordener Unternehmer. Er arbeite nur noch zu dritt und suche sich

einen weiteren Gehilfen, “... denn der Junge genügt nicht, weil man nicht einfach Geld verdient; er

arbeitet nicht gerne“ (Burch 16.07.2010b).194 Sogenannte „ayudantes“ sind also schwierig zu motivie-

ren; es kann für niedrige Organisationspositionen keine langfristige Patronage mit fremdem Personal

aufgebaut werden. Bei Hauptverkäufern setzen Unternehmer hingegen auf Langfristigkeit und ver-

mitteln ihnen gewisse Marketingstrategien: „In erster Hinsicht sage ich meinen Arbeiterinnen immer,

dass sie versuchen, dass sich die Person, welche sie bedienen, gut fühlt, dass sie sie wie eine Person

behandeln, dass sie versuchen, sie so zu bedienen, als ob es ihnen gefällt, sie zu bedienen. Das heisst,

versuche einer Person nicht ein Produkt zu verkaufen, sondern veranlasse die Person, dass sie selbst

fühlt, dieses Produkt zu brauchen, weil es ihr gut tun wird“ (Burch 20.08.2010b).195 Besagte Unter-

nehmerin betont, nicht Produkte zu verkaufen, sondern Personen zu orientieren. Ein Konzept, das

erstaunt, da es modernen Marketinggrundsätzen in Nichts nachsteht.

Zu Beginn, wollte man mich ebenfalls als Ayudante im Verkauf einsetzen, doch es bestand das Prob-

lem, dass ich die Preise überhaupt nicht kannte. Nur das Wenigste ist beschildert, weshalb sich das

Verkaufspersonal immer wieder an die Eigentümerin wenden musste, sobald die Verkaufsleiterin mit

193 Original: “A veces cuando contrato no atienden bien al cliente. Al cliente dice, no yo no te he hecho así. Te voy a hacer otro. Y hacer otro es una perdida, no? Esas cosas” Burch 24.08.2010b. 194 Original: “….que no dura el chico porque no se haga facilmente la plata, no le gusta trabajar” Burch 16.07.2010b. 195 Original: “En primer lugar siempre digo a mis trabajadoras que tratan de sentir bien a la persona la que están atendiendo, que la tratan como persona, que traten de antendarlas como si a ellas les gustara que te atendiera. Es decir a una persona no le trates de vender un producto sino que hagas que esa persona sienta que necesita ese producto porque le va hacer sentir bien” Burch 20.08.2010b.

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Kundschaft beschäftigt war. Kurzfristige Anstellungsverhältnisse im Verkaufsbereich generieren auf

der Ebene der Organisation Probleme. Dass dies ein strukturelles Problem ist und nicht an den Ayu-

dantes liegt, wurde der Unternehmerin insbesondere dadurch bewusst, dass selbst eine hochqualifi-

zierte Person wie ich, diesen Job nicht viel besser als ein unqualifizierter Ayudante verrichten konnte.

Sämtliche Sonderpreise kannte nur die Patronin.

• A1: Eingangsbereich mit Vitrinen, getrennt durch Empfangsstand und Kassenpult

• A2: Verkaufsbereich

• B: Lagerhalle und Arbeitsort

• C: Maschinenraum

• D: Zuschneideraum

• E: Abstellraum und Treppenhaus (zur Wohnung in den zweiten Stock)

Abbildung 4: Bewältigung des Organisationsraums

Quelle: Eigene Darstellung aufgrund von Beobachtungen in Gamarra 2010

Im Bereich A2 befindet sich auch der Nähvorsteher, ein ca. 45 jähriger Herr (vgl. Abb. 4). Er ist ihr

wichtigster Mitarbeiter: „Dann habe ich eine Person, die mit mir schon drei Jahre arbeitet. Ich schät-

ze ihn. Es kann sein, dass das Personal hier [nur] ein halbes Jahr arbeitet und danach wieder geht. Es

geht und kommt wieder zurück nach einem Monat, nach zwei Monaten, bis zu einem halben Jahr

danach oder noch länger, kann es sein, dass sie wieder zurückkehren“ (Burch 24.08.2010b).196 So

gesagt, verfügt die Patronin lediglich über eine stabile, langfristige Patronagebeziehung. Die restli-

chen Mitarbeiter, insbesondere diejenigen, welche nicht als Vorsteher tätig sind, binden sich kaum

an eine Organisation. Die grosse Fluktuation ist ein Problem, denn manche Eingestellten bleiben bis-

weilen nur eine Woche. Nur Zeit und Beobachtung sind Lösungsmöglichkeiten, welche die Unter-

nehmerin verwendet. So weiss sie aufgrund langjähriger Interaktionsgeschichte, welche Mitarbeiter

196

Original: “Pues, tengo una persona que ya trabajaba conmigo tres años. Le valoro. Sea el personal puede trabajar medio año aquí y después se va. Después se va, regresa después de un mes, dos meses hasta medio año y luego regresa” Burch 24.08.2010b.

A2

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125

vertrauenswürdig sind und muss sich auf diese konzentrieren. Interaktion und Organisation sind bei-

nahe deckungsgleich.

Hinter dem Verkaufsbereich befindet sich ein grosser Lagerraum B (vgl. Abb. 4). Auch hier arbeitet

ein langjähriger Lagerist mit einem minderjährigen Gehilfen, der nur vorübergehend aushilft. Letzte-

rer arbeitet für ein Tagesgeld. Es ist schon eine beträchtliche Zeit, wenn dieser einen Monat am Stück

im Arbeitsverhältnis bleibt. Der Bereich B ist insbesondere Lagerhalle, er dient jedoch auch als Ar-

beitsort, zum Beispiel fertigen dort die Lageristen Hüte an. Weit hinten befinden sich aus Sicherheits-

gründen die Stickereimaschinen, deren Wert sich auf je 10‘000 Dollars belaufen (vgl. Abb. 5).

Abbildung 5: Vorsteher der Stickereimaschinen

Abbildung 6: Auszug aus dem Buch „Cuentas“

(Rechnungen) für einen der Hauptmitarbeiter

Quelle: Eigene Foto, Gamarra, Juli 2010 Quelle: Eigene Foto, Gamarra, Juli 2010

Wir finden im Maschinenraum wie in den anderen Abteilungen wieder das gleiche Muster: Ein mit

siebzehn Jahren sehr junger Maschinen Vorsteher, der wöchentlich entlohnt wird und gut mit der

Patronin auskommt. Er arbeitet zehn Stunden pro Tag, mehr als es gesetzlich erlaubt ist, wobei ihm

ein Gehilfe zur Seite steht. Gehilfen, die kaum über ein Spezialwissen verfügen, gibt es folglich in

allen Bereichen der Unternehmung. Der Ayudante A muss die Entscheidungen seines entsprechen-

den Vorgesetzten A des gleichen Funktionsbereichs befolgen. Auch werden in den Lager- und Pro-

duktionsbereichen die Hilfskräfte immer nur jeweils von ihrem Vorgesetzen instruiert. Die Organisa-

tion ist also hierarchisch und funktional differenziert und unterscheidet sich in diesem Punkt zum

Beispiel nicht von einem schweizerischen KMU. Der Umgangston oszilliert zwischen autoritär und

familiär. Es kommt einem so vor, als müssten Konflikte unbedingt vermieden werden.

Im letzten Raum arbeitet ab und zu der Mann der Geschäftsinhaberin. Er entwirft das Design und

überwacht seine Zuschneider. Aufgrund der Nationalfeiertage arbeitet auch er mit zwei Gehilfen,

wobei deren Bewegungsabläufe streng geregelt sind. Einer beschäftigt sich nur damit, Stoffe zurecht-

zureissen. Der Vorsteher meint, dass die Aufgabe der Gehilfen monoton sei, deshalb ist es unabding-

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bar für ein gutes Arbeitsklima zu sorgen und den Musikgeschmack der Arbeiter zu respektieren. Die

Bewegungen sind automatisiert, gesprochen wird kaum; dies wäre auch praktisch unmöglich, da die

Maschinengeräusche laut sind und noch von der Cumbia Musik übertönt werden müssen. Durch

diese funktionale Grenzziehung wird der lange und schlecht begehbare Raum bewältigt – schlecht

begehbar, weil sich derart viele Kleider und Stoffe in allen Räumen befinden. Der Zuschneider kom-

muniziert per Handy mit seiner Frau, welche die Geschäftsinhaberin ist und den Verkauf an der Front

steuert, während er die Produktion am anderen Ende leitet und die Verkaufs- und Lageristen-

Gehilfen, die Waren hin- und her bewegen, anweist. Auf den ersten Blick erscheint alles ziemlich

chaotisch. Auf den zweiten Blick erscheinen die verschiedenen Bereiche beinahe unabhängig zu ope-

rieren. Selbst das Mittagessen nehmen die Arbeiter separat in ihrem Bereich und nicht an einem

gemeinsamen Tisch ein. Alle essen alleine an ihrem von der Organisation zugewiesenen Platz; selbst

der Mann der Patronin isst nicht bei seiner Frau. Die Hierarchie ist geradezu beobachtbar, so nehmen

die Ayudantes im Verkaufsbereich ihr Essen nicht gemeinsam mit der Patronin ein, sondern sitzen

separat auf einem Hocker. Die Unternehmerin ruft die zwölfjährige Hilfskraft, die jüngste, selbst wäh-

rend des Mittagessens auf, den Raum zu verlassen und in ihre Wohnung im oberen Stock zu gehen,

um dort ihr Baby (sprich das Kind der Patronin) zu füttern. Auf der untersten Organisationsebene

wird die Grenze zwischen Organisationserwartungen und informalen Erwartungen zum Teil aufge-

löst. Es wird erwartet, dass sich die rangniedrigsten Organisationsmitglieder auch um gewisse per-

sönliche, sprich familiäre Angelegenheiten der Geschäftsführerin kümmern. Zu ihren „Sub-Patrons“,

das heisst, ihren langzeitigen Mitarbeitern besteht hingegen ein freundschaftlicheres Verhältnis. Zu-

mal jedem Funktionsbereich ein Leiter / eine Leiterin vorsteht, beschränkt sie, bzw. versucht sie ihre

Organisationskommunikation auf diese Vertrauenspersonen zu beschränken. Sie ist dadurch im

Stande, sich um die wichtigere Kundschaft zu kümmern.

Während auf den zweiten Blick die funktionalen Organisationsbereiche getrennt erscheinen, be-

merkt man auf den dritten Blick deren Interaktion. Diese Interaktion basiert erstaunlicherweise auf

Schriftlichkeit. Ein Teil der Kommunikation ist schriftlich mittels zirkulierender Bücher organsiert. Die

Unternehmung führt insgesamt fünf Bücher und drei Hefte: Ein Buch informiert über eingegangene

Aufträge (contratos), zwei weitere Bücher über die Verkäufe, wobei ein Buch die Tagesverkäufe ent-

hält (venta), ein Buch enthält die Adressen (Telefonnummern) von wichtigen Kunden, ein Buch merkt

fehlende Ware und zwei Hefte dokumentieren, was die Verkäufer aus dem Lager holen (vgl. Abb. 6).

Der Verkaufsbereich kommuniziert häufiger mit dem Lagerbereich als mit dem Produktionsbereich.

Insbesondere die letzten beiden Hefte gewährleisten eine schnelle Interaktion der unterschiedlichen

Funktionsbereiche. Das Buch mit den Kundendaten ist geheim und auch die anderen Bücher zirkulie-

ren nur von der Eigentümerin zu ihrem Mann und dem Hauptangestellten im Verkauf, der jedoch

nicht täglich zur Arbeit kommt. Anfangs nahm ich die schnellen Bewegungen dieser Bücher kaum

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127

wahr. Gegen Ende vertraute mir die Unternehmerin, sodass ich die ganzen Bücher sogar fotografie-

ren durfte. Alles, was verkauft wird, muss im entsprechenden Buch notiert werden. Die Unternehme-

rin meint: „So koordinieren wir eine Unmenge von Sachen.“ Als ich sie auf das Buch im Lagerbereich

anspreche, fährt sie fort: „[Im Lagerbereich] gibt es auch ein Buch. Der Sticker hat ein anderes Buch,

der Zuschneider besitzt ein anderes Buch“. F: „Und was notiert der Schneider?“ – „Klar, ich notiere

dem Schneider zum Beispiel: ‚Heute wirst du mir dieses Hemd machen, Grösse, mittelgross, den

Stoff, Ärmel… Und dieses Buch muss er dann hier lassen. So, wenn ich dann [morgens von meiner

Wohnung ins Geschäft] herunterkomme, am nächsten Tag weiss ich, was gemacht werden muss und

er die Dinge zuschneidet, die fehlen“ (Burch 24.08.2010b).197 Aufträge und Rückmeldungen werden

also per Schrift mediatisiert und dadurch kontrolliert. Mikro- und Kleinunternehmen operieren er-

staunlich ähnlich wie formale Firmen. Gamarras Kleinunternehmer führen genau Buch über ihre Ver-

käufe und beobachtet ihre Kundschaft, „damit sie wissen, was sich verkauft, der Preis, die Tagesein-

nahmen, ebenso werden die Kleidungsstücke, die pro Tag am meisten gekauft wurden, identifiziert,

um mehr von diesen bestellen zu können; das Hauptprodukt wird identifiziert, das zweite usw. Oder

welches Produkt ist nicht gefragt; dieses Produkt muss eliminiert werden; man muss es als Sonder-

angebot auflegen“ (Burch 20.08.2010b).198 Auch wenn Preise zuweilen nicht ganz starr gehandhabt

werden, wird genau Buch darüber geführt, zu welchem Preis die Kleider schliesslich über den Laden-

tisch gingen. Erfolgreiche Unternehmer sind auch in der Gamarra die besten Beobachter von Beob-

achtern, das heisst, diejenige Unternehmer, welche am unkompliziertesten und schnellsten auf die

Bedürfnisse ihrer Kunden eingehen können.

Die wirtschaftlichen Leistungen von Seiten der Patronin sind im wahrsten Sinne des Wortes zentral

und unabdingbar für die gesamte Organisation. Sie kennt ihre Bereichsvorsteher und nur sie kennt

viele Kunden. Sie kann das Geschäft vor Ladenschluss (ca. um 20h bis 21h) kaum verlassen: „Manch-

mal muss ich hier [im Geschäft] sein, [...] da [die Kundschaft] eintritt, die Leute gehen ein und aus

und manchmal [?] muss ich hier sein, um ihnen eine Kostenaufstellung zu machen, manchmal geht es

um grosse Beträge“ (Burch 24.08.2010b).199 Nicht selten standen insbesondere über die Mittagszeit

bis zu zwanzig Kunden auf einmal im Geschäft. Preise und Qualität betrachten die Konsumenten ge-

nau. Paradoxerweise feilschen die Kunden beinahe um jedes Kleidungsstück, obwohl sie kaum Zeit

haben, um zu feilschen. Jeder Kunde und jede Kundin möchte schnell bedient werden. Sie beklagen

197

Original: “Así coordinamos un montón de cosas. [...]. [En el almacén] también hay un libro. El bordador tiene otro libro, el cortador tiene otro libro. - F: “¿Y qué anota el cortador?” – “Claro, yo le anoto al cortador por ejemplo hoy día me vas a hacer tal camisa, talle, mediano, de tela, manga. Y este libro tiene que dejar aca pues. Así que yo baje, al día siguente tengo que... para que corte, las cosas que faltan” Burch 24.08.2010b. 198

Original: „...para que sepan lo que se vende, el costo, el monto de renta al día e inclusive identificar las prendas mayor acogida en el día para poder abastecer más de estos; identificar tu producto principal, el segundo, así. O cual producto no tiene rotación, ese producto se tiene que eliminar, se tiene que poner en oferta” Burch 20.08.2010b. 199 Original: „A veces yo tengo que estár aquí [...], como entra, la gente entra y sale y a veces [¿?] pues yo tengo que estár aca para darle su presupuesto, a veces lo piden muy caro” Burch 24.08.2010b.

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sich sofort, wenn ihre Ware bzw. Auftragsware nicht schnellstens gebracht wird. Um sich angeblich

wertvolle Zeit zu sparen, kamen viele Kunden gar essend ins Geschäft. Sie brachten ihre Plastiktüten

und Plastikgabeln mit. Es ist unabdingbar, dass die Geschäftsführerin ihren Mann in der Produktions-

abteilung per Handy immer erreichen kann. Kommt nämlich ein Auftrag, der innerhalb eines Tages

erledigt sein sollte, kann sie in der Produktion nachfragen, inwiefern dies momentan möglich ist. Die

Koordination innerhalb einer solchen Kleinunternehmung erfordert also Mobiltechnologie. Dies er-

möglicht auch, dass ihr Mann nicht immer in der Produktionsabteilung sein muss, sondern noch ein

eigenes Unternehmen im selben Gebäude beaufsichtigen kann. Ein Teil ihrer Produktion wurde dort-

hin ausgelagert und befindet sich tief im Inneren des labyrinthartig gebauten Gebäudekomplexes.200

3. Kreditvergabe: Der Patron als Inklusionsvermittler ins Zentrum der Wirtschaft

Hightech-Maschinen im Wert von mehreren Tausend Dollars in einer solchen Kleinfirma vorzufinden,

erstaunt. Wie ist dies möglich? Die Unternehmerin hat im Unterschied zu vielen Limeños Zugang zu

formalem Kredit. Alle Maschinen kaufte sie über Jahre via Kredit mit Hilfe von Mibanco. Die Voraus-

setzung für den Erhalt von Bank-Kredit ist RUC, einen Firmeneintrag ins „Registro único de Contribuy-

entes“ (Einziges Register der Steuerzahler). Das RUC enthält die Identifikationsdaten und die Abgabe-

verpflichtungen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler im Zusammenhang mit ihren wirtschaftli-

chen Aktivitäten.201 Sie ist somit offizielle Eigentümerin bzw. Mieterin der Liegenschaft und Kleider-

Produzentin. Sie muss deshalb u.a. auch Buch führen und gewisse Verkäufe formal in Bezug auf den

Staat mittels Abgabe von Quittungen betätigen. Nur so kann sie bei der Bank genügend Kredit auf-

nehmen und unter anderem mit dem Wert ihrer eigenen Unternehmung bürgen, um sich eine Sticke-

reimaschine im Wert von mehreren Tausend Franken anzuschaffen. Aufgrund des blossen Vorhan-

denseins dieses formalen Eintrags, bezeichnet man in Lima eine solche Firma als formal. Oft teilen

auch Sozialwissenschaftler diese verengte Sicht. Beobachtet werden nicht die einzelnen Praktiken

und interne Erwartungszuammenhänge, Formalität und Informalität wird lediglich anhand des Vor-

handenseins oder Nichtvorhandenseins jenes Eintrags unterschieden. Der Eintrag ins RUC bedeutet

jedoch nicht, dass die Firma dadurch wirklich sämtliche Quittungen beim Warenverkauf ausstellt

oder dass Personal vertraglich angestellt wird. Die Kunden erhalten zwar eine sogenanntes „boleto“,

doch nach Angaben einer Anwältin müsste die Firma eine „factura“ (Rechnung) aushändigen. Der

Warenverkauf erfolgt also entkoppelt von staatlicher Beobachtung.

Der Eintrag ins RUC ist also eine Notwendigkeit, um Kredite zu bekommen. Auch weitere Probleme

können nur formal gelöst werden. Es lohnt sich laut der Unternehmerin auch in anderen Situationen

200

Da es sich dabei um interorganisationale Kommunikation handelt, soll dieser Sachverhalt in Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke behandelt werden. 201

Das Register (RUC) wird von der peruanischen Steuerbehörde, der SUNAT (Superintendencia Nacional de Administración Tributaria) geführt. Siehe zum RUC die Stelle: http://orientacion.sunat.gob.pe/index.php?option=com_content&view=article&id=810&Itemid=54

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nicht, die Unternehmenslizenz durch Patronage zu ersetzen. Die Unternehmerin erklärt: „Nein, was

passieren kann ist manchmal nicht vorteilhaft [bei Bestechungen]. Schau, ich erkläre es dir: Es kommt

zum Beispiel eine der Beamtinnen und sagt mir: ‚Ihre Lizenz bitte‘. – ‚Uy, ich habe keine Lizenz, oh,

ich gebe Ihnen also Ihre 10 Soles‘, nicht? Die nächste Woche kommt jedoch eine andere! Sie geben

sich untereinander Bescheid, um wieder zu kommen und so zu profitieren. Deshalb ziehe ich es vor,

meine Lizenz [formal] zu lösen und so zu arbeiten, nicht wahr“ (Burch 24.08.2010b).202 Die Inhaberin

ist sich bewusst, Patronageverhältnisse mit Staatsbeamten bergen ein grosses Risiko; aber nicht pri-

mär, weil sie strafrechtlich sanktioniert würde, sondern weil sie sich dadurch in eine Abhängigkeit

begibt, von der sie nicht mehr los käme. Sie könnte aus diesem Verhältnis nicht mehr austreten, da

sie sich schuldig gemacht hat, um in dieses Verhältnis einzutreten. Im Konfliktfall würde sie gegen die

Justiz verlieren. Das Recht kann als Drohung gegen sie verwendet werden. Informalität ist nicht ab-

gekoppelt von der Formalität, weshalb es besser ist, gewissen informalen Lösungen auszuweichen. Es

lohnt sich also nicht, für eine Unternehmenslizenz zu bestechen und ein Patronageverhältnis einzu-

gehen. Auch deshalb verfügt sie über einen RUC Eintrag. Da sie Zugang zum formalen Finanzwesen

besitzt, hilft sie ihren Angestellten manchmal mit kleinen Krediten. Die Patronin ist auch Vermittlerin

in dem Sinne, dass sie Absatz- und Zulieferkontakte besitzt. Preise vergleiche sie nicht, ihre Stoffe

kaufe sie immer bei einem langjährigen „amigo“, der Waren in grossen Mengen importiert. Da der

Gatte der Unternehmerin in einer Comunidad im Tiefland aufgewachsen ist, reichen ihre Kontakt-

Netzwerke weit über Lima hinaus bis in den peruanischen Dschungel. So hat die Patronin auch (steu-

erfreien) Zugang zu Fellen und anderen Erzeugnissen aus dem Tiefland. Mehrwertsteuern fallen so-

mit weder beim Einkauf noch beim Verkauf an. Die Unternehmerin, Olivia Nieves, besetzt mehrere

Schnittstellen in unterschiedlichen Bereichen. Nicht zuletzt muss sie aufgrund der Kundenbetreuung

stets in ihrer Unternehmung anwesend sein.203

Einflussreichere Patrons sind im Gegensatz zu Olivia Nieves nicht in alle Bereiche ihrer Organisation

inkludiert. Sie können sich zum Beispiel auf die Administration spezialisieren. Ein mächtiger Wirt-

schaftspatron bezeichnet sich sowohl als Unternehmer, aber insbesondere sieht er sich als „Spezia-

list“ (especialista) (Burch 20.07.2010). Interessant ist für ihn nicht die Administration sondern die

Vergabe von Geld. Spezialisten verkaufen Geld. Es handelt sich dabei nicht um irgendeine marginale

wirtschaftlich-formale Inklusion. Bohn (2009) unterscheidet in einem interessanten Aufsatz abgestuf-

te Inklusionsformen ins Wirtschaftssystem. Bohn wählt eine Unterteilung des modernen Wirtschafts-

systems in Zentrum, Semiperipherie und Peripherie als interne Differenzierungsform. Die Inklusion in

202

Original: “No, lo que pasa que... a veces tiene ventajas también. Mira, te explico, viene una de las mujeres y me dice: “Señora, su licencia”. “Uy, no tengo, oh le voy a dejar sus 10 soles pues”, no? Eso pues, la otra semana viene otra pues! Se pasan la voz a ellos entre... para venir aprovechar. Prefiero entonces pues sacar mi licencia y trabajar pues. No?” Burch 24.08.2010b. 203

Ein Folgeproblem ist beschränkter Zugang zu internationalem eigenständigem Export. Dies wird im folgen-den Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen beschrieben.

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das monetäre Wirtschaftssystem wird erreicht durch das Generieren von Zahlungsfähigkeit, Zah-

lungsfähigkeit erzeugt neue Zahlungsfähigkeit. So sind quasi alle Personen als Konsumenten in die

Peripherie des Wirtschaftssystems inkludiert. Die Semiperipherie beschreibt die Sphäre von Produk-

tion und Handel. Im Zentrum des Wirtschaftssystems ist die Finanzwirtschaft, das heisst, es handelt

sich um Beziehungen zwischen Kreditgebern und Kreditnehmern. Es geht bei Kreditaufnahme also

um eine Inklusion ins Zentrum der Wirtschaft. Kreditvergabe an Sub-Patrons (also an Klienten, die

selbst Patrons sind) generiert in der Gamarra umfassende Netzwerke. Zur organisationsinternen Kre-

ditvergabe an die eigenen Arbeiter und Arbeiterinnen, auf die ich sogleich zu sprechen komme, gibt

es eine weitere Art von Zinseinnahme. Es gibt zwei verschiedene Formen der Zinseinnahme: Geldzins

und Mietzins. Ein einflussreicher Patron betonte unaufgefordert, dass es sehr lukrativ sei, Immobilien

in der Gamarra zu besitzen: „…. Es kommen Leute [Kunden] aus der ganzen Welt; oder anders gesagt,

es ist ein sehr lukratives Geschäft, hier Immobilien zu besitzen“ (Burch 20.07.2010).204 Ihm gehört

unter anderem eine ganze Galerie an einer der Hauptachsen von Gamarra, in der er ca. sechzig Ge-

schäftsräume vermietet. Seine Arbeiter sind folglich auch die Liegenschafts-Mieter oder Käufer, wel-

che für die Sicherheit bezahlen; auch sie gehören in sein Netzwerk und arbeiten gewissermassen für

ihn. Gamarras Patrons sprechen nicht gerne über ihren Umsatz, doch er erzählte mir, wie hoch seine

Mieten sind: „Die Miete ist teuer. Ein Ladengeschäft im ersten Stock [Erdgeschoss] von zwanzig Me-

tern hat einen Wert von 6000 Dollars monatlich. Ein Geschäft von 60 Metern kostet 10‘000 Dollars

monatlich, erster Stock. Zweiter Stock, kleine Läden – man muss einen Stand machen – mietet man

für 600, 800 Dollars monatlich” (Burch 20.07.2010).205 Einflussreiche Patrons stellen Geld in Form von

Liegenschaften zur Verfügung und kassieren Mietzinse. Der Patron verdient innerhalb seines Netz-

werkes Geld durch Liegenschaftsbesitz. Ein mächtiger Patron hat somit Geldreserven, die er inner-

halb seiner Klienten als Kredite ausleihen kann. Er betont, dass Geldbesitz ein Privileg sei, „ denn

früher arbeitete man nur mit einer Firma, nicht? Früher arbeitete man nur… du gingst ohne Geld

umher, aber deine Firma war aus Geld“ (Burch 20.07.2010).206 Das Geld war nicht formal verwertbar,

sondern innerhalb der Unternehmung gefangen. Viele kennen dieses Problem in Gamarra und brau-

chen einen Patron, der entweder selber genügend Geld besitzt oder Zugang zu formalen Kreditan-

stalten hat, was beides meist Hand in Hand geht. Den Patrons ist das Problem ihrer Klienten bekannt:

„Da sie kein Grundeigentum auf ihren Namen besitzen, haben sie keinen Titel. Wenn sie zur Bank

gehen, wird ihnen die Bank sagen: ‚Na gut, zeige mir deinen Titel, damit du [Kredit] bekommst‘

204

Original: „…viene gente de todas las partes. O sea, tener inmobilidad aca, es un negocio redondo aca“ Burch 20.07.2010. 205

Original: „El alquiler es caro. Una tienda en el primer piso de veinte metros vale 6000 dolares mensual. Una tienda de 60 metros vale 10’000 dolares mensual, primer piso. Segundo piso, tiendas chicas, hay que hacer stand, se alquila por 600, 800 dolares mensual” Burch 20.07.2010. 206 Original: „Porque más que antes se trabajaba una sola firma,no? Antes se trabajaba solamente.....tu andabas sin dinero pero tu firma era de dinero“ Burch 20.07.2010.

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(Burch 18.11.2008).207 Zu den Mietzinseinnahmen nimmt ersterer Patron heutzutage die Zinsen aus

Kreditvergabe ein. Geld wird physisch hin und her getragen. Entweder besitzen Mikrounternehmer

kein Bankkonto oder man möchte irgendwelche Abgaben oder administrativen Kosten umgehen. Ich

beobachtete dies, weil ich das erste Interview mit diesem Patron unangemeldet durchführte. Es

sprach sich herum, der Patron sei bereits verreist; aber die Unternehmerin, in deren Geschäft ich

mitarbeitete, erzählte mir, dass sie ihn soeben auf der Strasse gesehen habe. Da mir ein Kollege seine

Firmenadresse bekannt gab, fand ich schnell dann den Weg zu seinem Ladengeschäft. Ein Verwand-

ter des Patrons unterhielt sich zuerst über mein Ansinnen, doch da ich die indianische Sprache be-

herrschte, herrschte sofort eine quasi familiäre Atmosphäre. Er rief den Patron an und erklärte mir

den etwas komplizierten Weg zum Büro, das sich in den oberen Stockwerken am hinteren Ende der

Galerie befindet. Wir gingen an mehreren „tiendas“ vorbei, stiegen eine unscheinbar enge Treppe

hoch, als wir plötzlich vor einer verlassenen Holztür standen.208 An diese Tür klopfte soeben ein

Mann mit ca. 80 Soles in der Hand. Sogar während des Interviews rief einer der Klienten auf das

Handy des Patrons an und fragte, ob er ihm gerade das Geld zurückbezahlen könne: „… Jetzt bringst

du das Geld?.... weil ich bin nicht alleine, ich bin jetzt gerade mit einigen Partnern [socios] hier…. Ich

weiss nicht, Pablo, das hängt von dir ab; diese Woche warte ich….. nein, diese Woche; komm hierher

und wir unterhalten uns; komm mit dem Geld…. Ja, Pablo, ich erwarte dich, okay, pass auf dich

auf“.209 So zirkuliert in diesen Netzwerken, das der Patron kontrolliert, viel Geld in Form von Zins-

Geld. Während des vierzig minütigen Interviews wurden wir dann noch ein zweites Mal unterbro-

chen und zwar von einem ziemlich hochrangigen Bankangestellten, der als guter Freund des Patrons

eingelassen wurde und sich das Interview auch mit anhörte. Kredite werden nicht jedem vergeben.

Er betont, dass er natürlich nur den Personen, die er kennt, Kredite vergibt. Die Nachsichtigkeit bei

Enttäuschung erstaunte mich: Meistens wird zurückgezahlt, aber Notfälle gäbe es immer; das akzep-

tiere er. Die meisten bezahlen termingerecht zurück. Die Darlehen werden „crédito de confianza“

(Vertrauenskredit) genannt: „Die Hilfe beschränkt sich nur auf uns [entre nosotros]. Nichts mehr. Das

heisst, du musst dir einen Vertrauenskredit [crédito de confianza] suchen, du musst schauen, wie du

deine Dokumentation machst…. in all diesen Dingen würden wir dir helfen“ (Burch 19.08.2010).210

Der Patron differenziert seinen Kredit als Vertrauenskredit von denjenigen, die eine Bank ausstellt.

Zudem hilft man sich nur innerhalb des Netzwerkes. Diese Exklusivität unterscheidet das Netzwerk

unter anderem von einer Bank. Andrerseits sind Banken was Kredite betrifft für viele Bewohner Li-

207

Original: „Como no tiene un bien a su nombre, no tienen un titulo. Si van al banco, el banco les va decir: “Bueno, presenta tu, tu título para darte” Burch 18.11.2008. 208

Eintrag in mein Forschungstagebuch am 2. Juli 2010. 209 Original: „…. Ahorita trayendo el billete?.... porque no soy solo yo tengo socios ahora ya.... No sé, Pablo, depende de tí, esta semana estoy esperando.... no esta semana pues, ven aca y conversamos, ven con el billete.... Ya, Pablo, te espero, okay, que se cuida” Burch 20.07.2010. 210

Original: „La ayuda es netamente interna entre nosotros. Nada más. Sea tu tienes que buscar un crédito de confianza, tienes que ver, como vas hacer tu documentación, en todo esto te apoyarímos” Burch 19.08.2010.

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mas ebenfalls etwas exklusives, so kann man sich diesbezüglich die Frage stellen, ob eine so in Netz-

werken eingebaute Patronage allenfalls ein funktionales Äquivalent zur Bank darstellen könnte. Dass

dies zuweilen der Fall ist, verdeutlicht ein erfolgreicher Patron: „….Und so hat es viele Leute, die Geld

bräuchten. Aber sie [die Banken] geben ihnen nichts. Erstens weil sie nicht wissen, wie man mit Geld

umgeht. […] Deshalb geben wir ihnen Kredite. Und sie bezahlen gut; das Risiko ist beinahe gleich

Null. Sie bezahlen sehr gut. Aber wir müssen so etwas wie ein Institut, Typus einer Bank sein; wir

müssen hingehen, sehen, sie besuchen“ (Burch 18.11.2008).211 Patronage in Zusammenhang mit

Segmentation, die asymmetrische Netzwerke reproduziert, ist also im Stande, informale Bankinstitu-

te auszudifferenzieren, um den Zugang zu Kredit zu ermöglichen. Das ist erstaunlich und fehlt in der

Literatur.

Diese Idee gilt also vor allem in Bezug auf Unternehmensnetzwerke. Wie im Falle der Politik vertrau-

en sich auch im Finanzwesen Leistungsrollenträger und eventuelle Publikumsrollenträger nicht. Das

Misstrauen hat zwei Richtungen. Es ist nicht nur die Bank, welche vielen Kunden nicht traut. Insbe-

sondere Mikrounternehmer, die am Anfang ihrer Karriere stehen, trauen den formalen Banken we-

nig. Formale Kredite sind auch sehr teuer. Dies beginnt schon beim Kredikartenwesen. Mit 42% sind

die Zinsen der Kreditkarten bei kaum vorhandener Inflation in Peru sehr hoch.212 Ein Patron, der so-

wohl „selbständige“ Sub-Patrons in Peru als auch in Bolivien beschäftigt, sagt deutlich: „Sie benützen

keine Banken; sie haben Angst. Sie glauben, dass sie die Bank bestiehlt, dass sie ausgenützt werden.

Alles, was sie brauchen [Geld], befindet sich in ihrem Haus, versteckt an einem Örtchen. Aber sie

wissen bis heute nicht, wie man Banken benützt. Nur so verwalten sie ihr Geld. Es gibt viele Leute,

die ihr Geld verwalten, ohne die konventionellen Medien zu benützen (Burch 18.11.2008).213 Den

Banken gegenüber ist man generell misstrauisch. Wie der Staat werden Banken als Inhaber von

Macht wahrgenommen und sind schlecht legitimiert. Patronage-Kredit ist deshalb weit verbreitet. in

weiten Bereichen der Kreditvergabe substituieren Patrons und deren Netzwerke quasi die Bank oder

Patrons sind Vermittler zur Bank. Insbesondere einflussreiche Patrons sind zum Teil ansatzweise ein

funktionales Äquivalent zur Bank, da sie diese Finanz-Institutionen im Bereich der Kreditvergabe er-

setzen. Die Arbeiter vertrauen ihrem Patron und Arbeitgeber mehr als einer unpersönlichen Bank. Sie

211 Original: “Ya me conocen pero poco a poco [...]. Me está dando algunos creditos. Y así hay mucha gente que necesitarían dinero. Pero no les dan. Primero porque ellos no saben como gestionar [...]. Entonces a estos solo que nosotros les damos créditos. Y pagan bien, el riesgo es casi nada. Pagan muy bien. Pero nosotros tenemos que ser un instituto tipo banco, nosotros tenemos que ir, ver, visitarles” Burch 18.11.2008. 212

Die Zinsen der Kreditkarten haben sich in den letzten drei Jahren etwas gesenkt. Heutzutage fordern die Banken durchschnittlich einen Zins von 41,9%. Was sich für peruanische Leser gerade noch akzeptabel anhört, wäre in anderen Regionen gesetzlich bei weitem verboten. War Lima in den letzten Jahren doch kaum von Inflation betroffen. Die Inflationsrate bewegt sich in den letzten beiden Jahren zwischen 1,5% und 3.4% (und war im Jahr 2011 selbst mit 3.4% gleich hoch wie in Luxemburg und Finnland). Siehe dazu die Statistik von Central Intelligence Agency. Siehe zum Gebrauch von Kreditkarten in Peru: Cabanillas 2010. 213

Original: “No usan el banco, tienen miedo. Creen que el banco le va robar, que le engaña. Todo que usan es en su casa no más. Escondido en un lugarcito pero no saben usar el banco hasta hoy día. Así no más se maneja. Hay mucha gente que maneja el dinero sin usar los medios convencionales” Burch 18.11.2008.

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ersetzen Banken jedoch nur teilweise. Gerade auch sehr einflussreiche Patrons sind (in anderen Kon-

texten) auf Leistungen von Banken angewiesen. Insbesondere für internationale Transaktionen sind

formale Banken unabdingbar: “Klar, man muss mit den Banken arbeiten, weil dein Produkt mit einem

Allianz-Brief daherkommen muss” (Burch 20.07.2010).214 Der Käufer muss das Geld auf einem Konto

deponieren können. Interessanter ist also nicht nur die Frage, ob Gamarras Finanz-Netzwerke eine

Bank substituieren, sondern auch wie informale und formale Finanz-Institute zusammen wirken.

Da das Thema des Kredites weltweit von grosser Bedeutung ist, möchte ich kurz ein paar weiterfüh-

rende Bemerkungen machen. Im Titel dieses Kapitels ist von „einer Art von Kredit“ die Rede. „Kom-

munal gestützte Patronage“ ist lediglich eine, wenn auch eine wichtige, lokale Inklusions-Lösung ins

Zentrum der Wirtschaft. Sie ist von grosser Bedeutung, obwohl sie in der Literatur nicht erwähnt wird

und überall nur vom Mikrokreditwesen die Rede ist. In Lima bestehen weitere funktionale Äquivalen-

te zu Banken: Eine interessante Alternative zum Patronage-Kredit und erst recht zum formalen Kre-

dit, ist die „Junta“, ein zeitlich begrenzter aber wiederholbarer Zusammenschluss von Mitgliedern,

die sich mehr oder weniger kennen, um kollektiv Geld zu sparen. Im Gegensatz zur klientelistischen

Variante dauert diese Lösung jedoch um einiges länger, bis man sich Geld gemeinsam erspart hat.

Doch auch die „Junta“ ist eine interessante lokal gewachsene Alternative zum formalen und überteu-

erten Kreditwesen in Lima. Es ist unklar, inwiefern sich zum Beispiel Unternehmer in einer Galerie

zusammenschliessen, um gemeinsam zu sparen oder ob sich diese Zusammenhänge auf nachbar-

schaftlich-kommunale Strukturen begrenzen. Die „Junta“ ist jene Variante, welche der schweizeri-

schen Genossenschaftsbank, dem sogenannten „Raiffeisen“-Modell, am nächsten kommt. Das Raif-

feisen-Modell basierte in seinen Anfängen ebenfalls auf segmentären Dorfstrukturen und operierte

gleich wie die Junta anfänglich nur innerhalb eines Segmentes. Alle Kreditgeber und -nehmer waren

einerseits Mitglieder der Genossenschaft, das heisst, sie hafteten solidarisch und andrerseits gehör-

ten sie dem gleichen Dorf an.215 Limas Sparzirkel generieren jedoch im Gegensatz zu den ersten

schweizerischen Genossenschaften keinen Anschluss an das formale Finanzwesen. Auch ist die „Jun-

ta“ eher ein Sparzirkel, der das Problem löst, an Geld zu kommen. Eine Geldvermehrung aufgrund

von Kreditzinsen findet nur begrenzt statt, wenn ein Mitglied den wöchentlichen abgemachten Be-

trag nicht einzahlen kann.216 Neben den beiden kommunal gestützten Arten, an Geld zu kommen,

also neben dem Kredit via „kommunal gestützter Patronage“ und dem „nachbarschaftlichen Sparzir-

214

Original: „Claro, hay que trabajar con el banco porque realmente tu producto tiene que venir con una carta de alianza“ Burch 20.07.2010. 215

Das Raiffeisen Bankmodell wurde bereits 1899 von einem Pfarrer auf weitere Regionen Europas adaptiert. Diese Kredit-Lösung wäre in Lima eventuell auch kompatibel; man müsste jedoch die Patronage-Netzwerke mit-beobachten, zumal in ihnen viel höhere Kredite vergeben werden. Es bedarf also noch weiterer Untersu-chungen, die den Rahmen dieser Studie sprengen würden. Siehe zu den Anfängen der genossenschaftlichen Bank der Schweiz: Raiffeisen Bank 2012. 216

An dieser Stelle möchte ich mich nicht weiter in dieses Thema vertiefen. Quelle: Einträge ins Forschungsta-gebuch, 14. Juli 2010

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kel“ existiert noch eine dritte Variante. Dabei geht es wie bei der „kommunalen Patronage“, um das

Erlangen von Kredit; sie findet jedoch jenseits von direkten kommunalen Strukturen statt. Indirekt

könnte sie jedoch auf kommunalen Erwartungen basieren; es ist üblich, einander „die Hand zu ge-

ben“ (dar la mano). Im Sinne von Mauss (1990) kann das Glück eines Anderen auch mir von Nutzen

sein. Diese dritte Variante ist interessant. Sie ist quasi unplanbar, da sie auf einer „weak-tie Zweck-

freundschaft“ basiert. Ich komme auf diese Möglichkeit in Kapitel 7 anhand eines konkreten Beispiel

zu sprechen, wenn es um die Erörterung von „Patronage-Karriere“ geht. Gewisse erfolgreiche Pat-

rons, verstanden es, „kommunale Patronage“ und die soeben erwähnte „zweckfreundschaftliche

Patronage“ zu kombinieren.217 An dieser Stelle wird dann auch erörtert, wie sich heutige einflussrei-

che Patrons den Zugang zum formalen Finanzwesen schrittweise erarbeiteten. Kapitel 9 befasst sich

abschliessend systematisch mit allen Varianten von Patronage und Tauschbeziehungen.

Zurück zur Kreditvergabe innerhalb von „kommunaler Patronage“, der Patronage, die auf „starken

Beziehungen“ basiert. Oft wird Kredit an die Arbeiter in Form von Zuliefer-Produkte vergeben. Wie in

Kapitel 6.1.1. Politische Funktionen erwähnt, erhalten auch Verwandte der Organisationsmitglieder

Hilfeleistungen von Seiten des Patrons. Dies betrifft vor allem Krediterhalt. Ein Patron erzählt, wie

seine Arbeiter ihn manchmal um einen Kredit anfragen: “...’manchmal fragen sie... zum Beispiel kam

ein Arbeiter, dem ein Verwandter gestorben war oder dessen Kind geboren wurde und er braucht

etwas; dann bitten sie um eine Geldleihe und wir geben sie ihnen‘. – F: ‚Und geben ihnen die Leute

das Darlehen immer zurück? ‘ – E: ‚Ja, oder manchmal geben wir ihm auch nach und nach [mehr Kre-

dit]“ (Burch 18.11.2008).218 Der Patron vergibt also auch Darlehen, für Probleme, die nicht den Un-

ternehmenszweck betreffen. Dass Kredite nicht zurückbezahlt werden könnten, scheint kein Problem

zu sein und/oder wird nicht als grosses Problem erachtet. Die Patronage verbindet unternehmerische

Ziele der Organisation mit sogenannt persönlichen Problemen der Arbeiter. Der Patron beschränkt

seine wirtschaftlichen Finanzleistungen nicht sachlich sondern sozial, denn obwohl diese familiären

„Probleme“ eigentlich ausserhalb der Organisation liegen und quasi die Organisationsziele nicht

betreffen, wird für den Arbeiter und seine Familie gesorgt. Solche Hilfskredite zeigen im Sinne von

Scott (1969), dass die Unterscheidung von öffentlich und privat in Lima nicht einheitlich gehandhabt

wird. Die Erwartungen an Organisation variieren innerhalb der Weltgesellschaft; insofern ist die

Grenze zwischen Organisation und deren Umwelt eine ambivalente und wird als Vorder- und Hinter-

bühne lokal konstruiert. In Lima werden monetäre Hilfeleistungen als ein kollegiales „dar la mano“

(sich die Hand reichen) erwartet, auch wenn das Problem die Organisationsziele nur indirekt betrifft.

In dieser Variante würde es sich um eine organisational beschränkte Art von Mauss‘ (1990) totaler

217

In Kapitel 9 wird dann auch die Netzwerk-Unterscheidung „weak-tie“ und „strong-tie“-Beziehung eingeführt. 218 Original: “... ‘lo que hacen es que nos piden a veces por ejemplo un trabajador viene, se le murió un familiar o nació su hijo, necesita algo, entonces nos piden préstamo y les damos’. - F: ‘¿Y la gente siempre les devuelven el préstamo?’ - E: ‘Sí, o le vamos dando de poco a poco y listo’” Burch 18.11.2008.

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135

Institution des Gabentausches handeln. Der Zugang zum formalen Kreditwesen ist für viele Teilneh-

mer unmöglich. Ein grosser Teil des Eigentums vieler Mikro- und Kleinunternehmer ist nicht formali-

siert. Insofern erstaunt es nicht, dass sich einflussreichere Patrons der Gamarra auch als „Spezialist“

bezeichnen und sich oft um monetäre Angelegenheiten Anderer kümmern.

4. Fazit von Kapitel 6.1

In Kapitel

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136

2.1 Einheit und Vielfalt in der Weltgesellschaft wurden bestimmte Sozialstrukturen besonders her-

vorgehoben. Es handelt sich um Strukturen, welche die Vielfalt und Einheit der Weltgesellschaft

zugleich problematisieren. Stichweh (2006a) nennt diese für die Weltgesellschaft essentiellen Struk-

turen Eigenstrukturen. Er definierte den Begriff wie folgt: "Eigenstrukturen reproduzieren die präe-

xistente kulturelle Diversität, aber sie drängen sie zugleich zurück und bringen eigenständige und

neuartige soziale und kulturelle Muster hervor" (Ders., S. 241). Stichweh zählte Funktionssysteme,

formale Organisation, epistemische Communities, Weltereignisse, Märkte, ev. Weltstadt, Weltkrieg,

Weltöffentlichkeit usw. als Eigenstrukturen auf. Diese Liste kann nun erweitert werden. Alle Instituti-

onen struktureller Kopplung sind Eigenstrukturen der Weltgesellschaft. Es sind dies Vertrag, Besteue-

rung, Eigentum, Zertifikat und Verfassung. Im Umgang mit diesen Eigenstrukturen zeigt sich die Krea-

tivität des Menschen. Kommunale Patronage ersetzt im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Funkti-

onen insbesondere die moderne Institution des Arbeitsvertrags. Arbeitsverträge erachtet man in

Gamarra als wertlose anonyme Papiere. Eine Unternehmerin meint: “Schliesslich verpflichtet ein

Papier nicht eine Person, ihren Arbeitsplatz beizubehalten. Dementgegen existiert ein Grad von Ver-

antwortlichkeit, wenn du eine Person kennst oder sie dir jemand empfiehlt, dass es nicht schlecht mit

dieser Person gehen wird, weil du sie kennst“ (Burch 20.08.2010b).219 Patronage ist in der Lage, Ar-

beitsverträge zu substituieren. In niedrigen Organisationspositionen führt dies jedoch zu einer hohen

Personalfluktuation. Wirtschaft und Recht sind weitgehend strukturell entkoppelt; die Wirtschaft ist

für das Recht blind. Die Patronage stellt sich sozusagen zwischen die beiden Funktionssysteme. Ob-

wohl in Lima also das Rechtssystem funktional ausdifferenziert ist und alle Institutionen und Rollen

wie Gerichte, Anwälte, Richter usw. bestehen, beobachtet das Recht einen grossen Teil wirtschaftli-

cher Kommunikation nicht.220 Auch staatliche Abgaben werden teilweise substituiert. Alle Arten von

Abgaben wären sowohl politische als auch wirtschaftliche Kommunikationen. Die Abgabe bzw. Be-

steuerung verbindet wie die Institution des Vertrags zwei ansonsten getrennt operierende Funkti-

onssysteme. Im Fall von Abgaben sind dies Politik und Wirtschaft. Die Politik beobachtet sozusagen

keine Geldtransaktionen in Unternehmen oder je nach rechtspolitischem Programm auch keine

Markttransaktionen im Bereich des Konsums. So bleiben wirtschaftliche Kommunikationen für die

Politik unsichtbar. Politik, Recht sowie Wirtschaft werden auf „systemreine“ Operationen ohne Leis-

tungskommunikation für das andere Funktionssystem reduziert. Die Resultate dieses Kapitel zeigen,

in Gamarra sind die Funktionssysteme ausdifferenziert, doch sie operieren ziemlich losgelöst vonein-

219

Original: „Al final un papel no obliga a una persona quedarse en un puesto de trabajo. En cambio si tu conoces a una persona o alguien te la recomienda hay un grado de responsabilidad de que tu no vas a quedar mal con esa persona porque la conoces” Burch 20.08.2010b. 220

Das Rechtssystem versucht jedoch ansatzweise die patronageartige Vertragskommunikation als rechtliche zu beobachten. Siehe zum Rechtssystem in Lima insbesondere Kapitel 8.2. An dieser Stelle wird die funktionale Ausdifferenzierung des Rechts in Lima erörtert.

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137

ander. Es ist jedoch auffällig, dass trotz der Betonung der Patrons, den Staat zu kompensieren, insbe-

sondere wirtschaftliche Funktionen übernommen werden. Patronage ersetzt nicht nur Verträge und

oft auch Besteuerung sondern auch Zertifikate. Hingegen schliesst klientelistische Kommunikation

mittels Kauf- und Mietvertrag an Eigentum an. Mietverträge müssen jedoch informal durch persönli-

che Beziehungen gestützt werden, weshalb die Eigenstruktur „Mietvertrag“ nicht ersetzt sondern

informal erhalten wird. Auch Eigentum, eine Eigenstruktur, welche wie die Besteuerung die Politik

mit der Wirtschaft strukturell verbindet, besteht also. Aufgrund dessen werden auch Steuern an die

Verwaltung von La Victoria entrichtet. Besteuerung ist in Gamarra nicht komplett durch Patronage

ersetzt. Ich beobachtete insofern zwei Arten des Umgangs bezüglich der neu eingeführten Eigen-

strukturen: Man kann sie ersetzen, um so an die Kommunikation der Funktionssysteme anschliessen

zu können oder man kann die neu eingeführten Eigenstrukturen informal erhalten wie dies beim

Mietvertrag der Fall ist in Gamarra. Diese Unterscheidung ist interessant und wird vor allem in Kapi-

tel 9 vertieft, wenn auch nichtkapitalistische Praktiken ausserhalb Gamarras beobachtet werden.

Patrons kümmern sich insbesondere um wirtschaftliche Funktionen, aber sie bemühen sich auch um

die physische und finanzielle Basissicherheit ihrer Klienten, das heisst, um Erziehung und teilweise

um Gesundheit. Patrons vermitteln Wissen selber, stellen dann jedoch keine Zertifikate aus. Sie leis-

ten in manchen Fällen auch Inklusionshilfe ins formale Erziehungswesen. Im Gegensatz zu formaler

Erziehung ist der Zugang zu „formaler“ Gesundheit schwieriger zu bewerkstelligen, weil das staatli-

che Gesundheitswesen seinen Zugang mittels Patronage organisiert. Nur im Bereich ihrer wirtschaft-

lichen Leistungen können Gamarras Patrons an globale Erwartungszusammenhänge anschliessen.

Gamarra ist vor allem ein Wirtschaftszentrum. Dies verdeutlichen die folgenden beiden Kapitel. Zu-

erst geht es im folgenden Kapitel unter Punkt 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke

und kommunale Strukturen schwerpunktmässig um global-informale Wirtschaftskommunikation und

in Kapitel 7 um Anschlüsse an den global formalen Markt.

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138

6.2 Netzwerkartige Organisationssysteme

Dieses Kapitel erörtert verschiedenste Arten von Vernetzung. Zuerst werden Firmennetzwerke erör-

tert, welche eine flexible und zuverlässige Produktion ermöglichen. Im Unterschied zu Kapitel 7 be-

trachtet dieses Kapitel informale Weltwirtschaftszugänge. In Abgrenzung zu Kapitel 6.1.3 handelt es

sich um Leistungen, welche vermehrt über Organisationsgrenzen hinweg organisiert sind und vor

allem aus Netzwerkkommunikation mit Sub-Patrons besteht.

6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale

Strukturen

Wenn man die Unternehmer fragt, welches ihre drei wichtigsten Geschäftspartner (socios) sind, ern-

tet man meistens nur Achselzucken oder ein kurzes Kopfschütteln. Es macht den Anschein, dass in

der Gamarra kaum horizontale Verbindungen zwischen den Unternehmen beständen. Doch es exis-

tiert in Gamarra ein Begriff, welcher Leistungen einer Organisation für eine andere Organisation be-

zeichnet. Solche Verbindungen bzw. Dienstleistungen nennt man in Gamarra: „Servicio“. Visser und

Távara (1995, S. 55ff.), der einzig mir bekannte Autor, welcher neben Gonzales über die Gamarra

eine Monographie verfasste, kommt zum Schluss, Konglomeration führe entgegen der Erwartung

nicht automatisch zu einer Spezialisierung der Prozesse, das heisst, zu sogenannten „economías ex-

ternas“ (Zusatzerträge). Kooperation zwischen Unternehmen sei in Gamarra kaum vorhanden. Und

Arbeitsauslagerung, welches eine der bekanntesten Arten dauerhafter Zusammenarbeit zwischen

Firmen ist, gäbe es in Gamarra allenfalls in der letzten Produktionsphase der Endverarbeitung. Zu

langen Produktionsketten mittels Arbeitsauslagerung käme es jedoch nicht, da bei früheren Produk-

tionsschritten die Gefahr besteht, dass das Material gestohlen wird. Die Begründung leuchtet jedoch

nicht ganz ein, da es geradezu besonders lukrativ wäre, das bereits fertige Produkt während der End-

verarbeitung zu stehlen.

1. Wie symmetrische Netzwerke sich auf ein Problem spezialisierten

Lassen Sie mich die Frage der Kooperation als Netzwerkfrage erörtern. Ich unterscheide dazu Fir-

mennetzwerke hinsichtlich Symmetrie. Symmetrische Netzwerke sind im Kontrast zu asymmetri-

schen durch gleichrangige Personen verbunden. Wie schafft es eine kleine Unternehmung, wie dieje-

nige bei der ich mitarbeiten konnte, ein derart breites Spektrum an Produkten zu generieren? Ant-

worten findet man erst, wenn man selbst am Arbeitsprozess teilnimmt. Der organisationsübergrei-

fende Austausch findet zum Teil versteckt statt und wird nicht durch alleinige Befragung sichtbar.

Denn auf meine Frage, wer ihre externen Geschäftspartner seien, wusste die Patronin, Olivia Nieves,

keine Antwort. Wieso? Die Unternehmer der Gamarra nehmen solche Erwartungszusammenhänge

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139

nicht als „inter-organisational“ oder zwischen-organisational wahr. Aber während des Zusammenkle-

bens von Hüten bemerkte ich, dass die Unternehmerin Notizen in ein separates Heft vornimmt, im-

mer wenn Personen Waren ins Geschäft brachten. So führt die Unternehmerin ein Buch, das alle

Einträge enthält, wenn andere Unternehmer Waren beziehen oder liefern. Dass Olivia Nieves Firma

Waren an andere Unternehmungen lieferte, kam hingegen selten vor. Es gibt laut der Unternehmerin

in der Gamarra viel Kompetenz, weshalb man nicht jedem mit Waren aushilft. Die Leistung be-

schränkt sich auf gute Freunde. Umgekehrt hat sie jedoch die Möglichkeit, Leistungen zu empfangen.

Wie ist dies möglich? Die Patronin erzählt stolz: „Es gibt Personen… zum Beispiel meine eigenen Nä-

her, die mit mir gearbeitet haben, die schon ihr eigenes Geschäft eröffneten und sie bringen mir Wa-

ren… mittels einer Beziehung zwischen Freunden, nicht? Und da sie wissen, wie ich die Sachen ma-

che, machen sie es dann [nach meinem gusto]. Und sie bringen sie und verkaufen sie mir“ (Burch

24.08.2010b).221 Da sie andere Firmeninhaber kennt, die sie selbst ausgebildet hat, ist es ihr möglich,

ganz bestimmte Basics wie weisse Hemden und Hosen nicht selbst herstellen zu müssen. Wiederum

handelt es sich aus ihrer Sichtweise um einen Austausch zwischen amigos. Berücksichtigt man jedoch

die Interaktionsgeschichte dieser Beziehungen, wird die Asymmetrie dieser Verbindung sichtbar. Der

Warentransfer findet nur in eine Richtung statt; nicht jeder kann von anderen Unternehmen Waren

beziehen oder gar in Auftrag geben. Insofern sind Leistungsverhältnisse innerhalb von Unterneh-

mensnetzwerken genau geregelt. Beziehungen innerhalb solcher an sich symmetrisch anmutenden

Netzwerken sind nicht wirklich gleichrangig. Die Patronin arbeitet mit ihren ehemaligen direkten

Klienten, die man inzwischen als externe Sub-Patrons bezeichnen könnte. Die Patronin betont, dass

es wichtig sei, die Basics nicht selbst herstellen zu müssen: „Ja, es ist besser, unter Freunden zu ar-

beiten. Zum Beispiel verkaufen sie hier Hosen, Hemden, Röcke, hier ebenfalls, dort ebenfalls, dort

ebenfalls. Diese Sachen kaufe ich. Aber die Sachen, die ich zum Beispiel herstelle, da mache ich das

Design und verkaufe es. Nur ich mache dieses Design hier; das Design besitzen sie an keinem anderen

Ort. Manchmal kaufen sie eins und lassen es kopieren...”.222 Zu Sub-Patrons ausgebildet werden vor

allem Verwandte. An dieser Stelle kommen kommunal-familiäre Erwartungszusammenhänge des

Compadrazgo ins Spiel.223 In Gamarra gibt es also familiäre Unternehmensverbindungen, die im Kern

asymmetrisch gebaut sind. Kommunale Strukturen regeln die Leistungsverteilung heutzutage auf

zwischen-organisationale Art und Weise, so wie zum Beispiel in der Schweiz die Traktanden innerhalb

221

Original: “Hay personas... por ejemplo mis costureros mismos que han trabajado conmigo ya están abierto y ellos me traen mercadería... con una relación sea, con amistades, no? Y como saben hacer las cosas que yo hago ya pues hacen y me traen y me venden” Burch 24.08.2010b. 222 Original: “Sí, mejor es así trabajar entre amigos. Por ejemplo aquí venden pantalones, camisas, faldas, aquí también, allá también, allá tambien. Estas cosas lo compro pero las cosas que por ejemplo yo hago el diseño yo vendo aca no más. Lo diseño aquí nada más, el diseño no tienen al otro lado. A veces compran uno, lo llevan allí, lo mandan a hacer...” Burch 24.08.2010b. 223 Siehe zur Erklärung des andinen Compadrazgo Kapitel 6.1.2.

.

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140

einer Organisation die Aufgaben genau festlegen und bestimmten Mitgliedern zuschreibt; die Mit-

glieder sind dabei jedoch austauschbar, während dies bei den kommunal organisierten Netzwerken

nicht der Fall ist. Aber mittels Reproduktion kommunaler Erwartungen schaffen die Beteiligten es,

diese „Traktanden“ nicht nur auf eine Unternehmung zuzuschneiden, sondern auf gesamte Unter-

nehmensnetzwerke zu generalisieren. Die Beteiligten verstehen Organisationsgrenzen anders. Die

ehemaligen Lehrlinge, welche bereits eigene Geschäfte besitzen, gehören zum Unternehmenskom-

plex. Man muss berücksichtigen, wer wem liefern muss bzw. wer für wen arbeitet, auch wenn von

freundschaftlichem Kooperieren die Rede ist. Es bedarf deshalb des Begriffes „Sub-Patron“. Ein Sub-

Patron besitzt ein eigenes Unternehmen, ist einem anderen Patron in gewisser Hinsicht jedoch un-

terstellt. Der Sub-Patron beliefert den Patron mit fertigen Produkten und nicht umgekehrt. Insofern

sind diese Praktiken nicht symmetrisch sondern ein Patron-Klientverhältnis im typisch „freundschaft-

lichen“ Sinne. Diese Praktiken bezeichnen die Unternehmer jedoch nicht als „servicio“, obwohl es

sich um zwischen-organisationale Leistungen handelt. Die wissenschaftliche Beobachtung weicht

diesbezüglich von der Beobachtung der Teilnehmer ab. Begriffe haben nicht die gleiche Bedeutung.

Insofern gibt es in diesem Netzwerk keine Geschäftspartner (socios), auch wenn Probleme zwischen-

organisational gelöst werden. „Socios“ gehören aus der Sicht der Patrons zum Unternehmen. Patrons

denken in Unternehmensnetzwerken und nicht in einzelnen Unternehmen. Beim Unternehmen han-

delt es sich um ein Netzwerk oder wie Golte sagt, um einen Unternehmens-Baum:

„Ja, es sind die Bauern, die in die Gamarra gehen, um in der Gamarra zu lernen;

speziell weil es in der Gamarra jene Bäume gibt, die aus verschiedenen Werkstät-

ten wachsen. Es gab zuerst, sagen wir, eine Werkstatt, die generell Pullover her-

stellte und danach die Neffen dieser Werkstatt, welche sich unabhängig machten,

sich zu spezialisieren begannen; einer auf Krägen der Pullover oder auf die Dekora-

tion der Pullover; sie spezialisierten sich, indem sie ihr Unternehmen konglomerie-

ren; es waren formalerweise unabhängige Werkstätte, sie kooperierten, schreiten

in der Arbeitsteilung voran, was wichtig ist, um ein gut verarbeitetes Produkt zu er-

reichen. Es erscheint mir interessant, dass die Arbeitsteilung in Europa einen ande-

ren Weg nimmt.224

224 Original: “Sí, eso son los campesinos que van a Gamarra para aprender en Gamarra, especialmente porque

en Gamarra habido esas arboles que crecen de diversas talleres, habido digamos primero un taller que hacía polos en general y despues como los sobrinos de ese taller que se independizaban se empezaban a especialisar, uno a los cuellos de los polos o la decoración del polo, iban especializandose pero conglomerando en sus talleres; eran formalmente talleres independientes, cooperaban, avanzando en la división de trabajo que es importante para lograr un producto bien hecho. Me parece interesante que la división del trabajo en Europa va por otro camino” Burch 16.07.2011a.

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Die Praktiken der Unternehmer kombinieren somit Durkheims (1973 (1893)) beide Arten von Solida-

rität, der mechanischen und der organischen, auf eigenartige Weise. Basiert doch das auf

(Wahl)Verwandtschaft basierende Netzwerk auf einer mechanischen Solidarität, im Sinne einer Soli-

darität aus Ähnlichkeiten, andrerseits aber auch auf einer organischen Solidarität, die sich der Ar-

beitsteilung verdankt. Die Unternehmer werden voneinander abhängig; so ist der Kragenhersteller

auf denjenigen angewiesen, der die Pullover oder die Verzierungen produziert. Dies gilt meistens

auch umgekehrt. Die empirischen Daten werfen jedoch Fragen auf: So kommt es entgegen Durk-

heims Annahme in der Gamarra trotz Arbeitsteilung nicht zur Institution des Vertrags. Dieser rechtli-

che Erwartungszusammenhang wird durch Formen der mechanischen Solidarität, sprich durch kom-

munal fundierte Patronage substituiert. Um ein Produkt zu perfektionieren, orientiert sich der ehe-

malige Klient eines Patrons nämlich am Produkt seines (Ex)Patrons. Dies führt zu einer funktionalen

Spezialisierung, die segmentär organisiert ist. Es ist auch der Grund, weshalb sich in Gamarra auf

engstem Raum so viele Betriebe befinden, so dass die Wirtschaftstheorien von einem Cluster oder

Konglomerat sprechen. Nicht alle Unternehmen besitzen alle Maschinen. Sie spezialisieren sich auf

einen Arbeitsschritt. Dabei verteilt eine „Portadora“, eine Trägerin die Ware zum Beispiel zu den

zwei, drei Ständen, um sie dort bei einem „amigo“ zuschneiden zu lassen. Dadurch kann der Patron

sich zuweilen auf eigene Kreationen konzentrieren und spezielle Designs entwerfen, die sie oder er

zu einem besseren Preis verkaufen kann. Die Unternehmer möchten interessanterweise individuell

erkannt werden. Sie möchten Individualität erschaffen; etwas Spezielles kreieren, das nur an einem,

an ihrem Ort gekauft werden kann. Die Unternehmen beobachten und vergleichen sich gegenseitg.

Man will sich von anderen unterscheiden; sich von der Masse abheben, um Kundschaft gezielter an

sich zu binden. Einzigartige Designs und ihre Marken werden hoch geschätzt. So entwickeln sich pa-

radoxerweise ständig neue Variationen in diesem Kopier-Konglomerat. Gerade das allgegenwärtige

generelle Kopieren, verlangt nach kreativen Eigenerfindungen.

Diese wirtschaftliche Art des Reproduzierens kommunaler Erwartungszusammenhänge löst auch das

Problem der Gewinnaufteilung. Kontemporär reproduzierte kommunale Strukturen regeln ganz im

Sinne von Traktanden sowohl Gewinn- als auch Aufgabenaufteilung; jedoch mit dem grossen Unter-

schied, dass die Traktanden in ihren Ansätzen quasi kommunal legitimiert sind und nicht differenziert

ausgehandelt werden können. Die Basics, das heisst, die zahlreichen weissen Hosen und die weissen

Hemden, kauft sich die Unternehmerin also “verbilligt” bei ihren ehemaligen Wissens-Klienten. Der

Patron kann für den neuen Selbständigen manchmal auch eine wichtige Startabsatzbeziehung sein.

Wie lösen die Mikro- und Kleinunternehmer das Problem, innerhalb kurzer Zeit einen Grossauftrag

von zum Beispiel 4000 Pullovern zu bewerkstelligen? Aufgrund Empfehlung eines bekannten Patrons

fand ich in Gamarra Unternehmen, die angaben, explizit Erfahrung bezüglich „servicio“ zu besitzen.

Gibt es also Unternehmer, die jenseits von kommunaler Patronage mit quasi fremden Unternehmen

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arbeiten? Es handelt sich um einen Unternehmer, der in der Galería „El Rey“ arbeitet. Diese Galerie

besitzt den Ruf, qualitativ hochwertige aber auch eher etwas teure Kleider anzubieten. Der Unter-

nehmer (Burch 24.08.2010a) erzählt mir jedoch, dass es in der Gamarra quasi keine „servicios“ gäbe,

sondern nur „servicio de arregla“, das heisst, es gib dort Stände, welche entweder Hosen, Hemden,

Jacken usw. gemäss Wunsch des Kunden anpassen. So fand ich selbst im Zentrum der Gamarra die

gleichen Erwartungszusammenhänge wie in der Firma, in welcher ich mitarbeitete. Leistungen für

einen anderen zu erbringen, bedeutet in der Gamarra eine schlechte Position, folglich möchte sich

niemand auf diese Funktion spezialisieren. Jeder neue Patron möchte selbständig arbeiten und Leis-

tungen wenn möglich von anderen beziehen. Ein Unternehmer erklärt: „…wenn du es nicht selber

machen möchtest, wirst du nicht wachsen. Du muss dein Personal besitzen, es leiten, wie es sein

soll“ (Burch 24.08.2010a).225 Arbeitet man „als servicio“ zum Beispiel für ein grösseres Unternehmen

verdient man sehr schlecht; ca. 60 Centimos (ca. 20 Rappen) für ein Kleidungsstück: “Für die Servicios

bezahlen sie meistens miserabel. Deshalb ziehe ich es vor, alles selbst zu machen. Ich hole den Stoff,

ich hole meine Sachen und so kann ich etwas mehr verlangen“ (Burch 24.08.2010a).226 Wir haben es

mit einem konsolidierten Patron zu tun, der nicht auf Aufträge von anderen Unternehmen bzw. von

seinem ehemaligen Patron angewiesen ist, sondern seine eigene Kundschaft besitzt. Sich einen Kun-

denkreis zu erarbeiten, ist also der Anfang der Selbständigkeit.227 Besitzt man mal einen Stammkun-

denkreis, so könnte man sich dann auch auf anonyme durch das „Internetportal der Gamarra“ einge-

hende Bestellungen einlassen.228 Eine Unternehmerin verdeutlicht: “Jeder Mikrounternehmer arbei-

tet, indem er sich auf einen Klienten abstützt, den er kennt, im Unterschied zu den grossen Unter-

nehmen, die eine generellere Perspektive haben“ (Burch 20.08.2010b).229 Mikrounternehmer operie-

ren also immer in Hinsicht auf mindestens einen „Patron“, das heisst, Mikrounternehmen inkludie-

ren sich auch via Patronage in den Absatzmarkt. Man muss Kunden kennen.

Doch zurück zur Frage: Wie geht ein Unternehmer in Gamarra vor, wenn er einen Grossauftrag be-

kommt, zum Beispiel 400 Hemden und 400 Hosen innerhalb weniger Tage herzustellen? Nicht zu

unterschätzen sind Familienmitglieder, die flexibel aushelfen und im besten Falle auch erfahrene

Kleiderproduzenten sind wie bei dieser Unternehmerin: „Ich habe Schwestern, die bei mir partizipie-

ren. Sie sind in einem anderen Bereich tätig, aber im Moment wenn du Kampagne machst […] kom-

225

Original: „Porque tu no solo quieres hacer, no vas a crecer. Tienes que tener tu personal, dirigir como se debe ser” Burch 24.08.2010a. 226 Original: „Porque para los servicios mayormente pagan una miseria […] Entonces yo prefiero hacer a todo, saco mi tela, saco mis cosas y puedo cobrar un poco más” Burch 24.08.2010a. 227

Kundendaten sind also so ziemlich das Wertvollste für einen Unternehmer und sind auch Gegenstand für Diebstähle. Siehe dazu: 8.1. 228

Siehe das Portal aller Internetbestellungen: Portal Gamarra 2012c 229

Original: „Cada microempresario trabaja basandose en un cliente que conoce. A diferencia a los grandes empresas que tienen una mirada más general” Burch 20.08.2010b.

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men sie, um mir zu helfen. Und ich habe auch mein Personal“ (Burch 20.08.2010b).230 Mikrounter-

nehmen haben also sowohl stabiles als auch flexibel einberufbares Personal. Übertrifft der Auftrag

jedoch diese Mittel, dann erfanden Gamarras Unternehmer weitere Möglichkeiten. Vor allem um die

Weihnachtszeit gibt es immer sehr viel zu tun. Der Unternehmer in der Galerie „El Rey“ meint, er

habe viele Kunden, die nur ihm vertrauen, also sei es wichtig, dass er zum Beispiel die 800 Kleidungs-

stücke fristgerecht und schön fertig gestellt aushändigt. An wen wendet er sich bei einem Grossauf-

trag, den er auch nicht mittels „ayudantes“, Gehilfen, selber bewerkstelligen kann? „Gut, es ist gut,

wenn du jemanden kennst. Wenn du niemanden kennst, ist es ein wenig ärgerlich, weil du nicht

weisst, wie sie arbeiten“ (Burch 24.08.2010a).231 Er sucht also zuerst einen Unternehmer, den er

kennt, bzw. den er wenn möglich selbst ausgebildet hat. Auch gemäss einer ehemaligen Unterneh-

merin ist dies die übliche Lösung: Man fragt in seinem Freundeskreis. In Gamarra wird vieles herum-

gesprochen. Wenn man den Betreffenden nicht selbst kennt, dann „…musst du mindestens seine

Arbeit kennen. Du musst wissen, wie er/sie ist und deshalb fragen viele: ‚Hör mal, weisst du nicht?

Ich mache dies und jenes... Es ist ein Freund, er macht dieses und jenes. […] – ‚Aber wie ist seine Ar-

beit? Kann man ihm vertrauen? ‘ So wird gesprochen; das ist sicher” (Burch 18.07.2011).232 Gamarra

ist gemäss der Unternehmerin ein verlässliches Reputationssystem, denn: „Das Vertrauen ist das,

was zählt. Es ist dein Präsentations-Brief [carta de presentación]” (Burch 18.07.2011).233 Gamarra

ersetzt als Reputationssystem, welches im medialen Substrat bzw. dem Kommunikationsmedium

Vertrauen fest gekoppelte Unternehmenskontakte formt, Zeugnisse. Insofern gibt es in der Gamarra

auch symmetrische Firmennetzwerke zwischen ehemals nicht direkt bekannten Freunden, die sich

durch Wiederholung und positive Ergebnisse stabilisieren. Diese Strategie geht meistens auf.

Sind die Freunde als auch die Freunde von Freunden jedoch alle beschäftigt – und das kann in Spit-

zenzeiten wie vor Weihnachten vorkommen - dann gibt es zwei weitere alternative Lösungen. Eine

erste lautet: „Oder auf andere Art; ich gehe dorthin und dahin, in dieser Gasse dort gibt es ganz viele

Näher. […] Dieser Herr wird kommen und an meiner Nähmaschine nähen. Ich überwache ihn. Er ar-

beitet im Akkordlohn. […] Das heisst, auf irgendeine Art siehst du, wie ich meinen Auftrag erfüllen

kann“ (Burch 24.10.2010).234 Er stellt also vorübergehend bei sich einen, zwei Arbeiter ein, die Ak-

230

Original: „Tengo hermanas que participan conmigo. Están en otros rubros pero por ejemplo en el momento tu haces las campañas [...] vienen a apoyarme. Y también tengo personal“ Burch 20.08.2010b. 231 Original: “bueno es bueno si tu conoces alguien. Cuando no conoces, es un poco fastidioso porque no sabes como trabajan” Burch 24.08.2010a. 232

Original:„al menos tienes que conocer su trabajo. Tienes que conocer que tal es y por eso muchos van preguntando: ‘Oye, no conces, estoy haciendo eso...’. Es mi amigo, el hace esto, el esto.’ [...] – ‘Pero qué tal es su trabajo que hace? Se puede confiar o no?’ [...] Eso es hablando, eso si es seguro” Burch 18.07.2011. 233

Original: „La confianza es lo que vale. Es tu carta de presentación“ Burch 18.07.2011. 234 Original: “O de otra forma me voy aca, por aca, por esta calle hay un montón de costureros. [...]. Ese señor va venir coser de mis maquinas. Le voy mirando. Trabaja de destájo.[...]. O sea de alguna forma ves la forma de como cumplir tu pedido” Burch 24.08.2010a.

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kordarbeit leisten.235 Die zweite Möglichkeit wäre es, eine andere kleine Mikrofirma zu beauftragen,

die sich in den obersten Stockwerken jeder Galerie ansiedelten: „… es gibt verschiedene Galerien […],

du steigst hoch, dort machen sie Service für Stickereien, professioneller Service. Du gehst ins oberste

Stockwerk, dort gibt es einen Ort, wo sie Zuschneiden. Es sind kleine Firmen. Wenn es Service von

Werkstatt zu Werkstatt ist, ist es, weil du in Zeitknappheit bist und er wird nur nähen. Es gibt ganz

viele Formen von Service“ (Burch 24.08.2010a).236 Wie selegiert er die Mikrofirma? Bevor er in gros-

sen Mengen produziere, schaue er, ob korrekt gearbeitet wird. Das sei etwas aufwändig, lohne sich

jedoch. Da es keine Zertifikate und auch keine Patronage gibt, muss das Können zeitaufwändig und

individuell getestet werden. Symmetrische Firmenbeziehungen jenseits von Patronage gibt es nur in

begrenzter Form. Man lagert nur einen Arbeitsschritt aus, zum Beispiel das Nähen oder das Besti-

cken. Insofern sind die Leistungen limitiert und werden nur in Ausnahmefällen, das heisst, aufgrund

äusserster Zeitknappheit benutzt. Dennoch können galerieinterne Dienstleistungsmöglichkeiten aus-

schlaggebend sein, um einen Auftrag fristgerecht beenden zu können. Da sich diese Praktiken weder

auf vertragliche noch auf familiäre Kommunikation stützen, bergen sie gewisse Risiken. Die Kleinfir-

ma könnte das Material bzw. die unfertigen Produkte stehlen. Aber da sich diese kleinen Firmen in

einer Galerie befinden, wird Kommunikation in Netzwerken verdichtet. Jede Unternehmung muss auf

ihren Ruf achten und eine gute Reputation bewahren, wenn sie an ihrem Ort verweilen möchte. Da

Plätze in Gamarra knapp sind, kann man schlecht ausweichen. Die Raumnutzung ist im Gegensatz zur

Arbeitsweise in Gamarra nicht flexibel. Gamarra besteht also auch aus vielen nachbarschaftlichen

Reputationsnetzen. Meistens wendet sich der Unternehmer an eine Mikrofirma, deren Zusammen-

arbeit bereits einmal reibungslos klappte. Solche Arbeitsleistungen, die jenseits von Patron-

Klientbeziehungen initiiert werden, beschränken sich auf das Zentrum der Gamarra, wo auch ein

Patron für Sicherheit sorgt und Diebe anprangern würde.237 Nachbarschaftliche Reputation kann sich

innerhalb eines Gebäudekomplexes wahrscheinlicher stabilisieren. In Tönnies Verständnis bildet eine

Galerie so etwas wie eine Gemeinschaft. Arbeitsprozesse werden nicht „effizient“ im Sinne des For-

dismus organisiert, sondern richten sich nach klientelistischen Erwartungszusammenhängen, da man

Arbeitsverträge nicht kennt.

Gibt es also keine längerfristigen, gleichrangigen Patron-Patron Arbeitsbeziehungen in Gamarra? Sie

sind schwer zu beobachten, denn solche symmetrische Firmennetzwerke gibt es vor allem in Form

235

Die Näher finden sich ungeachtet des direkten Konkurrenzproblems alle in derselben Strasse. Man muss für seine Kollegen schnell und einfach findbar sein. Jemand, der sich in einer anderen Strasse versteckt, würde nicht vertrauenswürdig erscheinen. Er verfügte wohl nicht mal über Referenzen und wäre schlecht adressier-bar. 236 Original: „...hay diferentes galerías, [...] tu subes, allá hacen servicio de borado, servicio de profesion. Te vas al último piso, allí un espacio donde hacen cortes. Son pequeñas empresas, [...] Cuando es servicio de taller a taller es porque tu llevas acortadito y eso el solamente va coser. Hay un montón de formas de servicio” Burch 24.08.2010a. 237

Siehe dazu das Kapitel zu den Konfliktmechanismen: 8.1.

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von sogenannten „Tiendas Clandestinas“ (versteckte Firmen) oder „Empresas fantasmas“ (Geister-

firmen), die zwischen den nächsten Verwandten aufgebaut werden. Weil ich in einer Firma mitarbei-

tete, beobachtete ich diese Kommunikationsform. In der Unternehmung, in welcher ich eine teil-

nehmende Beobachtung durchführte, gibt es noch eine weitere Art des interorganisationalen Zu-

sammenarbeitens. Zuerst fiel mir auf, dass über Ein- und Ausgaben ähnlich wie in formalen Wirt-

schaftsorganisationen genau Buch geführt wird. Die Buchführung dient jedoch nicht primär dazu, um

Steuern zu entrichten und das obwohl die Firma offiziell in das RUC eingetragen ist, das heisst, steu-

erbehördlich angemeldet wäre. Aber die Steuerbehörde ist nicht nur überbelastet, sondern betritt

diese Zone aus Angst nicht, da sich die Firma an einem eher unsicheren Standort ausserhalb des Ga-

marra-Zaunes befindet. Die Inhaberin erzählt: „Nein, sie [die SUNAT Behörde] kommt auch nicht. Sie

haben Angst (lacht). Sie kommen nur bis zur Gamarra“ (Burch 24.08.2010b).238 Angesichts dessen

bestünde eigentlich kein Bedarf, eine exakte Buchhaltung zu führen, aber dennoch wird dies getan,

auch wenn das Steuerrecht die Organisationen hier nur bedingt zur Buchführung veranlasst. Den-

noch weiss man nie ganz zu hundert Prozent, dass der Steuerbeamte nicht doch mal unverhofft auf-

taucht. Informalität muss Formalität immer präsent haben, vor allem wenn eine Firma offiziell regist-

riert ist. Die Buchführung löst insbesondere Probleme der Firmenkoordination. Die Unternehmerin

muss drei Unternehmen verzahnen. Ihre zweite Firma, die offiziell über ihren Mann geführt wird,

besitzt keine Lizenz. In Lima nennt man eine derartige Firma: „Empresa fantasma“, Geisterfirma. In

welcher Firma letztendlich wie viel verkauft wird, kann sie selbst entscheiden. Das Hauptgeschäft

wird aufgrund seines gefährlichen Standorts in naher Zukunft zwar eher weniger inspiziert. Insofern

beherbergt ein Firmenstandort in einer gefährlichen Zone in wirtschaftlicher Hinsicht erhebliche

Standortvorteile, so ungewohnt dies auch klingen mag. Doch sie gedenkt den Standort mittelfristig zu

wechseln. Bei solchen Organisationsbeziehungen haben wir es mit symmetrischer Kommunikation

zwischen Patron und Patron zu tun. Die Unternehmerin betonte anfangs, Familienmitglieder eignen

sich nicht als Arbeiter. Sie lassen sich nur ungern in eine Hierarchie bringen. Umso mehr eigenen sie

sich jedoch für geheime Arbeitsbündnisse. Es handelt sich um eine doppelte Inklusion in Organisati-

on: Der Patron der „Geisterfirma“, bzw. ihr Mann arbeitet sowohl in ihrer als auch in seiner Unter-

nehmung. Dennoch trennen die Beiden die Geschäfte strikt. Das Geschäft ihres Mannes gehe sie

wenig an. Sie bezeichnet es zudem als chaotisch. Es ist ein kleiner Raum von 3m mal 3.5m, in dem

ebenfalls eine kostspielige Stickerei-Maschine steht. Er hat zwar sieben Arbeiter angestellt; er lagert

jedoch vieles aus, so übernehmen zum Teil auch seine Mutter und andere „Señoras“ in ihren Wohn-

häusern aufwändige Pailletten-Stickarbeiten. Wenn viele Aufträge eingehen, rekurrieren Unterneh-

mer auch ihre Freundschaftsnetzwerke. Es sind meist enge Freunde, die man an das Dorffest einzula-

238 Original: “No viene tampoco. Les da miedo (se rie). Hasta Gamarra no más lleguen” Burch 24.08.2010b.

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den pflegt.239 Gemäss einer ehemaligne Arbeiterin und jetzigen Studentin ist diese Art des Auslagerns

von Arbeit in Wohnhäuser stark verankert. Meist beschäftigt die beauftragte Person wiederum ihre

Kollegen und Kolleginnen, um die Arbeit möglichst schnell fertig zu stellen.240 Diese Praktik nennt sich

bereits „hacer servicio“ (Auslagern, bzw. Dienstleistung für ein anderes Unternehmen erbringen). Im

Gegensatz zum Hauptgeschäft, das die Unternehmerin Nieves als „tienda“ (Laden) bezeichnet, ist das

Hinterbühnen-Unternehmen ihres Mannes das „taller“ (die Werkstatt), obwohl es auch hier einen

kleinen Verkaufsbereich gibt und auch in ihrer Firma umfangreich produziert wird. Viele der Produkte

sind im ganzen Raum ausgestellt. Nicht selten kamen auch hierher Kunden, um die Waren noch di-

rekter „ab Fabrik“ zu beziehen. Die Arbeiter dieser inoffiziellen Firma verdienen jedoch weniger und

die Arbeitsbereiche sind äusserst eng. Obwohl dies in der Literatur nicht beobachtet und verneint

wird, findet man in der Gamarra bereits in prinzipiell jungen Unternehmungen „subcontratación“

(Subunternehmen). Solche Firmennetzwerke kommen häufig vor, befinden sich jedoch auf der „Hin-

terbühne der Hinterbühne“. Ein Anwalt und Kenner der Gamarra berichtet: “Eine Unternehmung

besitzt drei, vier Namen. Sie wechselt diese, damit die Personen nicht [ihre Rechte] reklamieren und

man keine Steuern bezahlen muss. Sie verkauft Unmengen an Waren, über den Warenverkauf

kommt viel [Geld] herein. So macht sie, dass die andere Firma die Einnahmen verbucht, aber sie führt

die [offizielle] Buchhaltung mit einem anderen Namen“ (Burch 20.08.2010a).241 Man agiert als erfolg-

reicher Unternehmer also mit mindestens zwei Firmen: Einer offiziellen bzw. halb-offiziellen und

einer komplett inoffiziellen. Firma A ist die offizielle Mutterfirma und erfüllt die Erwartungen für ex-

terne Beobachter, die andere Firma ist die inoffizielle Firma B, welche die Leute anstellt, den Namen

wechselt, nichts versteuert, aber alle Ware der Firma A verkauft, damit die Firma A offiziell nur wenig

Umsatz macht und folglich auch kaum besteuert werden kann.

Solche „tiendas clandestinas“ sind jedoch auch für die Kundschaft nicht sichtbar. Meistens handelt es

sich um „talleres“, also um Werkstätten, in denen nur produziert wird, weshalb sich die Frage des

Absatzes nicht stellt. Besitzt das Geschäft jedoch auch einen kleinen Verkaufsbereich – und direkter

239

Siehe zu den Festen und den ausgedehnten Teilnahmemöglichkeiten Kapitel 6.2.1 Symmetri-

sche/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen. 240 In den Worten der Arbeiterin:“…. weil manchmal muss man einige Steinchen anbringen, was Maschinen nicht machen. Es ist Handarbeit…. Oder Stickereien; du hast jedoch bereits Kontakte, du hast Freundinnen: ‚Arbeitest du?‘ – ‚Nein, ich bin in meinem Haus, ich habe mein Söhnchen; aber ja ich brauche Arbeit‘. – ‚Okay also, ich gebe dir einige Pullover‘. Und manchmal ist es zuviel: Sie stellt [dann] andere Freundinnen an“ Burch 18.07.2011. Original: “...porque a veces hay que poner algunas piedrerias que maquinas no te lo hacen. Es trabajo a mano. O bordados; entonces ya tienes contactos, tienes amigas: Estás trabajando? – No estoy en mi casa, tengo mi hijito. Pero sí, necesito trabajar. – Ya pues, te paso unos polos pues. Y a veces si es demasiado: Contrata otras amigas“ Burch 18.07.2011. 241 Original: “Una empresa tiene tres, cuatro nombres. Cambia para que esta persona no lo reclama y no se paga los impuestos. Vende un montón de mercadería, sobre la venta de mercadería, llega mucho. Entonces hace que la otra empresa le [¿?] pero factura con este nombre” Burch 20.08.2010a. Der Anwalt bezieht diese Aussage auf Gesamt-Peru und nicht nur auf Gamarra. Weitere Quellen: Einträge in meinem Forschungstage-buch, Gespräche mit einem peruanischen Anwalt, 23. Juli 2010 und 27. August 2010, Lima.

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Fabrikverkauf ist meist lukrativ -, so bedient sich der Patron eines „Jaladors“, der Kunden von der

Strasse in das versteckte Geschäft führt. Ein Jalador „zieht“ (von span. „jalar“) die Kunden gezielt von

der Strasse in ein Geschäft. Unterwegs zu Gamarra erzählte mir im Mikrobus ein fünfzehnjähriger

Jalador von seiner Arbeit:242 Ein Jalador ist ein Angestellter, der auf der Strasse für Produkte eines

Geschäftes wirbt. Meist geschieht dies rein verbal, er geht jedoch auch mit Visitenkarten des Ge-

schäftes herum oder führt ein paar Musterexemplare mit sich. Da viele Verkaufsstellen im Innern der

labyrinthartigen Gamarra verborgen sind, haben viele Geschäfte nur so eine Chance auf lokalen Ab-

satz vor Ort. Jaladores arbeiten insbesondere auch für Firmen, die versteckt und schwer zugänglich

gefälschte Markenkleider billig verkaufen. Ferner rekurrieren nicht nur „Geisterfirmen“ sondern auch

exponierte Geschäfte auf einen Jalador.

Diese Praktik, mehrere Geschäfte gleichzeitig mittels symmetrischer Patronage zu leiten, ist in Ga-

marra verbreitet. Insbesondere die symmetrische Patronage, welche Firmen verbindet, kann also als

Äquivalent zur Besteuerung betrachtet werden. Es erstaunt somit auch etwas weniger, dass es in der

ganzen Gamarra kein einziges grosses Geschäft gibt, sondern nur „puntos de venta“ (Verkaufspunk-

te). So ist man sichtbar und allgegenwärtig auf dem Markt, aber grösstenteils unsichtbar für die

Steuerbehörde. Das Bevorzugen bzw. Reproduzieren dieser persönlichen und bewährten Option,

erklärt auch, wieso es in der Gamarra nicht zu einer aus fordistischer Sicht effizienter Massenproduk-

tion kommt. Eine ehemalige Produzentin der Gamarra, welche momentan jedoch nur noch mehrere

kleine Kleiderläden in einem anderen Stadtteil Limas besitzt und dort Kleider, die in der Gamarra

produziert wurden, verkauft, kennt Gamarra durch ihre Eltern gut. Sie stammt aus einer Unterneh-

merfamilie und beantwortete meine Frage, wieso Gamarras Unternehmer und auch sie, keine gros-

sen Läden besitzen wollen, folgendermassen: „Ich glaube, der wichtigste Faktor ist ökonomischer Art.

Ein kleines Geschäft [Verkaufsstelle] bedeutet, weniger zu bezahlen. Die Administration ist leichter,

du kannst sie einem oder zwei Beauftragten delegieren, nicht wahr? Im Unterschied dazu, heisst ein

grosser Laden mit vielen [Mitarbeitern und Warenangeboten] auch mehr Abgaben, zum Beispiel, das

was die Steuern sind; die Steuern, wenn man grösser wird, nicht wahr?“ (Burch 20.08.2010b).243 So

ist beispielsweise die Administration überschaubarer. Man arbeitet in kleinen Gruppen, denen je-

weils eine Bereichsaufsichts- und Ansprechperson vorsteht. Es ist dann umso wichtiger, diese Leit-

personen gut auszuwählen. Können normative Erwartungen nur im Kreise kleinerer Gruppen auf-

rechterhalten werden? Oder hat es mit einem anderen Problem zu tun, nämlich damit, dass sich die

Unternehmer von modernen politischen Erwartungen abkoppeln möchten? Eine Institution, welche

die Wirtschaft und die Politik strukturell verbindet, wären Steuern. Doch genau dieser moderne Er-

242

Siehe: 11. Aug. 10 Forschungstagebuch. 243

Original: „Creo que el factor más importante es el factor económico. Una tienda pequeña es este, un pago menor, es la administración más fácil, la puedes delegar a una o dos encargados, no? A diferencia de llevar una tienda más grande con mayor cantidad es mayor pagos también por ejemplo de lo que son los impuestos, los tributos cuando más crece, no?” Burch 20.08.2010b.

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wartungszusammenhang findet in Lima nur sehr bedingt legitimen Anschluss. So präzisiert eine ehe-

mals international tägige Unternehmerin der Gamarra: “Hier in Peru ist die Formalisierung sehr

schwierig. Die Formalisierung von Mikro-Unternehmen ist sehr schwierig. Die Regierung sieht die

Mikro-Unternehmung als eine Tribut-Einheit. Das ist der Grund, weshalb viele Personen es vorziehen,

zwei, drei, vier, fünf kleine Geschäfte zu besitzen, als eine grosse Firma zu eröffnen und bei der Steu-

erbehörde als ein Haupt-Steuerträger katalogisiert zu sein, der bereit ist, dass jedes Jahr eine Buch-

prüfung gemacht wird und sie [die Beamten der Steuerbehörde] kommen, um die Erträge zu konsta-

tieren: Wie viel verdient sie? Wie viele Arbeiter besitzt sie? Deshalb machen sie [die Unternehmer]

es, damit man nicht weiss, ob man [Kapital] hat oder ob man es nicht hat. Sie ziehen es vor, nicht zu

wachsen. Sie favorisieren es, so zu bleiben und den Anschein zu machen, klein zu sein. Sie [die Regie-

rung] gibt ihnen nicht die Möglichkeit, dass sie wachsen können“ (Burch 20.08.2010b).244 Das Zitat

zeigt mehrere Erwartungen. Die Aussage macht besonders deutlich, dass sich Informalität auf Forma-

lität bezieht. Die Unternehmerin benutzt sogar den Begriff „Formalisierung“ und kennt die formalen

Erwartungen ganz detailliert; sie hat sich damit genau auseinandergesetzt. Zugleich könnte ihr Sta-

tement auch genauso gut aus der Feder des wirtschaftsliberalen Hernando de Soto (de Soto 2002)

stammen, welcher die Formalität auf den Staat beschränkt und die Informalität in der Wirtschaft als

Motor beschreibt, der von der staatlichen Formalität gebremst wird. Die Aussage der Unternehmerin

ist jedoch weniger ideologischer Art, sondern reproduziert alte historische Erwartungszusammen-

hänge. Wir kommen etwas später in diesem Kapitel in Verbindung mit ethnischen Händlernetzwer-

ken auf diese Zusammenhänge zu sprechen. Steuern und Abgaben an ein Zentrum zu entrichten, sind

in der Region Lima zwar historisch schon länger institutionalisiert; doch waren es seit Jahrhunderten

immer nur spezielle Patrons, welche mit der Obrigkeit, sei es die voreuropäische inkaische Ober-

schicht, die koloniale Verwaltung oder die frühmodernen Präsidenten, kommunizierten und die Ab-

gaben entrichteten. Abgaben sind also nicht auf die gesamte Bevölkerung generalisiert, sondern ge-

hörten und gehören gewissermassen noch immer der Oberschichtenkommunikation an, die sich

stärker mit dieser Idee auseinanderzusetzen hat.245 Zumal der kontemporäre Staat diese Idee der

Besteuerung auf alle Unternehmen generalisieren möchte, müssen sich aber auch die Klein-

Unternehmer der Gamarra damit auseinander setzen. Dieser Forderung kommt man zum Teil nach,

zieht es jedoch vor, eine symmetrische Patronage einzugehen, um sich mit diesem relativ neuen

244

Original: “Aquí en Peru es muy difícil lo que es la formalización. La formalización para micro empresas es muy difícil. El gobierno vea una microempresa como un ente tributador. Es por eso que hay muchas personas que prefieren tener dos, tres cuatro, cinco tiendas pequeñas que hacer una gran empresa y ser catalogado por la SUNAT como un principal contribuyente; dispuestos que cada año les haga una auditoría y vengan a constatar sus ingresos. ¿cuánta gana, cuantos trabajadores tiene? Es por eso de que hacen eso de no hacer sentir que tiene o no tienes sino que pudiendo crecer, prefieren quedarse allí y hacerse sentir pequeños. No les dan la oportunidad de que puedan crecer“ Burch 20.08.2010b. 245 Siehe zum historischen Hintergrund und zu älteren Patronage-Arten Kapitel 9.

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Problem nur am Rande befassen zu müssen. Da in Gamarra jedoch kein Konkurrenzverbot erwartet

wird, stellt diese Praktik für die Beteiligten ebenfalls ein Risiko dar. Wir kommen in Kapitel 8 im Zu-

sammenhang mit Konfliktmechanismen auf dieses Problem zurück. Abschliessend kann festgehalten

werden: Symmetrische Tauschkommunikation ist in Gamarra heutzutage selten und reproduziert sich

langfristig hauptsächlich in Verhältnissen, die Besteuerung erübrigen. Symmetrisch familiäre Netz-

werke lösen jedoch noch ein weiteres Problem: Das Problem des internationalen Absatzes.

2. Informal globale Kommunikationsnetze

Während bis anhin eher die Produktion erörtert wurde, geht es nun mehr um den internationalen

Verkauf. Wie bringen es die Unternehmer zustande, international konkurrenzfähig zu sein? Um die-

ser Frage nachzugehen, unterscheide ich zwischen internationalen Import- und Export-Leistungen. In

Abgrenzung zum nächsten Kapitel 7 erörtert dieser Abschnitt informale Wirtschaftszugänge zur

Weltgesellschaft. Das Vorhandensein solcher Problemlösungen mag erstaunen. Ich beginne mit Prob-

lemlösungsmöglichkeiten des Importes. Wie werden Stoffe in die Gamarra geliefert? Und wie wird

Anschluss an die schnell wechselnden Modetrends generiert? Man ist sich in dieser Region seit alters

her des Reisens gewohnt. Auch hat man sich schon während Jahrhunderten dem gefragten Stil eines

Zentrums angepasst.246 Importproblemen nehmen sich insbesondere mächtige Patrons an, da nur sie

einerseits über genügend Geld aber insbesondere auch über genügend Macht verfügen, sich zu ei-

nem Reisenden zu spezialisieren, der sich nicht um die Tagesgeschäfte der eigenen Unternehmung

kümmern muss und auf solide Klienten- und Subpatron-Beziehungen vertrauen kann. Interessanter-

weise bedarf es nicht mal der physischen Anwesenheit dieser mächtigen Personen und dennoch

werden Mieten bezahlt und die Produktion fortgesetzt. Erfolgreiche Patrons verreisen international,

um einerseits Waren und andrerseits um Ideen zu importieren. Man möchte wirtschaftlich global

kompatibel bleiben. Patrons beobachten vor allem wirtschaftliche Semantiken weltweit, das heisst,

die Mode. Sie reisen für mehrere Monate global an verschiedenste Warenmessen, um die neusten

Modetrends in die Unternehmungen zu bringen: „Wir gehen hinaus, um zu beobachten, was modern

ist… welche Mode im Ausland erscheint, um sie schnell hier einzuführen und in andere Länder zu

verkaufen, logisch. Du musst weggehen, um Modeartikel anzuschauen […], du musst wandern, du

musst gehen, du musst dich bewegen… Ich bringe Modeartikel aus China, aus den Vereinigten Staa-

ten von Amerika, von verschiedenen Orten, um den Herstellern [in Gamarra] zu helfen, damit sie

nicht leiden… denn sie können nicht exportieren. Wir [die mächtigen Patrons] geben Geld dafür aus,

denn Reisen ist teuer. Aber wir müssen es tun, weil wir den Wandel brauchen; wir befinden uns in-

mitten der Globalisierung, deshalb musst du täglich up to date sein. Du musst hinsichtlich dessen

246

Siehe dazu Phipps 2004, S. 92. Sie betont, dass man in Peru dem Textilhandwerk nachging, auch wenn die Beteiligten damit halfen, ihre Welt zu verändern. Man übernahm sowohl fremde Materialien als auch Muster und Design und passte sich an. Vgl. ferner den Anfang von Kapitel 6.1.2.

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arbeiten, was in der anderen Welt gefragt ist. Jetzt hilft uns auch das Internet, um überall leichter

anzukommen “ (Burch 20.07.2010).247 Die Patrons importieren im grossen Stil Kleidermodelle und

zwar alle drei Monate. Man nennt dies „sich aktualisieren“. Dies ist eine nicht zu unterschätzende

Leistung, denn nur so werden Gamarras Produkte anschlussfähig und international interessant; fin-

det man in der Gamarra doch neuste Kleidermodelle aus Korea. Zugleich verschaffen sich die Patrons

gegenüber den lokalen Unternehmern der Gamarra einen immensen Wissensvorteil; sie machen sich

dadurch ein kleines Stück unersetzlich, was die Patronage mit Sub-Patrons stabilisiert. Die Sub-

Patrons erfahren zuerst, was auf dem Weltmarkt gefragt ist. Dies ist für sie ein Vorteil gegenüber der

Konkurrenz. Sie produzieren die Muster so schnell als möglich und der Patron exportiert das Produkt

seiner Klienten in grossen Mengen. Von diesen globalen Vorlagen profitieren indirekt selbst auch

Unternehmer, die nicht Klienten, bzw. Arbeiter oder Sub-Patrons des Patrons sind. Gamarra ist ein

Netzwerk, in welchem Information schnell zirkuliert und ungeplant zum Gegenstand für Variation

und Innovation wird. Für den Patron ist der Import noch bedeutender als der Export: „…Wir impor-

tieren insbesondere“ (Burch 20.07.2010).248 Importleistungen und das Wissen, was weltweit gefragt

ist, festigen seine Position. Seine Import-Leistung erachtet der Patron gar als Ursache, weshalb sich

Gamarra zu einem solchen Zentrum entwickelte. In seinen Worten:

“Ich reise, ich reise alle drei Monate. Ich reise in die Vereinigten Staaten von Ame-

rika, nach China, in verschiedenste Länder. So sehe ich, was in Mode ist. Dann kau-

fe ich sofort…. primäres Material oder wenn es ein Kleidungsstück ist [¿]. Denn täte

ich dies nicht, würde die Mode hier erst nach zwei Jahren ankommen. So lernen wir

sie [die Mode] schnell kennen und können sie in die benachbarten Länder verkau-

fen und nicht [nur] hier, denn wir sind auch ein globales Labor [ein Labor der Welt]“

(Burch 19.08.2010).249

247 Original: “Salimos a ver que está saliendo... que moda está saliendo en el extranjero para rápidamente implantar la aca y comenzar a vender a otros países, lógico. Tu tienes que ir a ver agregados de moda, [...] tienes que caminar, tienes que ir, que moverte... Yo traigo agregados de moda de la china, de Estados Unidos, de varios sitios para poder facilitar a los confeccionistas y que ellos no estén sufriendo por supuesto... […]no pueden, por supuesto. Nosotros gastamos porque viajar es un gasto. Es un gasto pero hay que hacerlo porque necesitamos el cambio, estamos dentro de la globalización por eso tú tienes que estár al orden del día, no? Tienes que trabajar de acuerdo lo que están trabajando en el otro mundo y ahora también el internet nos facilita para poder llegar facilmente por cualquier lugar” Burch 20.07.2010. 248 Original:„..nosotros importamos primeramente Burch 20.07.2010. Interessant dabei ist auch, dass Person immer in der ersten Person Plural spricht. Siehe dazu Kapitel 6.2.2. 249

Original: “Yo viajo, cada tres meses viajo yo. Viajo a los Estados Unidos, a la China a varios países. Entonces yo voy viendo que está de moda. Entonces yo inmediatamente yo compro estas.... esta materia prima; o si es agregado [¿?] Por que si no la moda aquí llegaré en dos años. Entonces conocemos rapidamente y podemos vender a los países vecinos y no vender aca porque estamos también este laboratorio del mundo Burch 19.08.2010.

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Geplante Innovation, Anschluss an globale Wirtschaftssemantiken und Geschwindigkeit sind also

gefragt. Den Zugang dazu, kann nur ein einflussreicher Patron bewerkstelligen: “...wir reisen zu den

Messen, wo du mit anderen Unternehmern handeln kannst und dort beginnst du auszutauschen.

Man kann mitnehmen und man kann bringen“ (Burch 19.08.2010).250 Die Geschäftspartner müssen

bei der Kontaktaufname prinzpiell nicht Freunde sein jedoch Patrons. Internationale Patron-Patron-

Kommunikation entwickelt sich wahrscheinlicher innerhalb von kommunalen Netzwerken. So stützt

sich der Patron auf bereits bestehende spanischsprechende Kontakte. Doch das muss nicht sein; vie-

les spricht dafür, dass sich diese Netzwerke auf Kontakte erweitern, die nicht der spanischen Sprache

mächtig sind. Auf meine Frage, wie er als Fremder nach China käme, um zu handeln, sagt er: „Du

kommst an. Du musst ein Abenteuer auf dich nehmen, weil du überall auf Leute treffen wirst, die

Spanisch sprechen. Also muss man Spanisch und Englisch können, wenn du verhandeln willst. Wenn

das nicht klappt, dann [kommunizierst du lediglich] mit deinem Rechner und machst so den Preis…

[…]. Selbstverständlich, es gibt Formen, um anzukommen [bzw. um zu kommunizieren]“ (Burch

19.08.2010).251 Handels-Märkte besitzen klar definierte Regeln, die sich über die Jahrhunderte zudem

kaum geändert haben. Märkte sind ganz im Sinne von Stichweh (2006a, S. 252f) selbstähnliche Eigen-

strukturen der Weltgesellschaft, weshalb sich lokale Märkte relativ einfach an globale anschliessen;

es bedarf dazu im Falle von Lima nicht einmal formale Organisation; es reicht erstaunlicherweise

beinahe non-verbale Kommunikation, die lediglich auf eine Zahl auf einem Rechner verweist. Der

Markt oder genauer gesagt die globale Institution der Warenmesse strukturiert die Erwartenserwar-

tungen, so dass die Anwesenden wissen, dass eine Person, welche einem einen Rechner entgegen

hält, einem nicht den Rechner verkaufen möchte, sondern das Themen wie Warenpreise oder Wa-

renmengen angesprochen sind. Um Anschluss an die Weltgesellschaft zu erhalten, braucht es vor

allem Kontakte, nämlich internationale Kontakte, welche Waren empfangen oder versenden. Seine

erste Reise tätigte jedoch nicht er selber sondern seine Frau: „Nun gut, ich reiste nicht, zuerst reiste

meine Frau, die ebenfalls aus Cusco ist. Wir sahen, dass Gamarra nicht vorwärts kam, sie stagnierte.

So gingen wir zuerst an die Messe von Medelin, als sie nach Medelin kam, entdeckte sie Unterwä-

sche, die nicht einfach nur Unterwäsche war sondern verziert war [llevaba sus cositas], ihre [Verzie-

rungen] waren unterschiedlich…. Auch bemerkte sie, dass die Pullover, die Blusen eine [??] hier hat-

ten […]. So begannen wir zu reisen, nach Taiwan, in die Vereinigten Staaten und schliesslich nach

China. Bevor ich nach China ging, ging ich nach Taiwan und von Taiwan nach Korea; dort verkauften

250

Original: „... nos viajamos a las ferias donde tu contratas con los demás empresarios y allí comienzas a intercambiar pues. Antes se puede llevar y se puede traer” Burch 19.08.2010. 251 Original: “Tu llegas, tu tienes que hacer adventura porque en todas las partes vas encontrar gente que habla el español. Entonces hay que hablar el español y inglés si quieres negociar y si no tu llegas con tu calculadora y hagas así el precio... [...] Claro tienes forma como llegar“ Burch 19.08.2010.

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wir und verdienten 50% mehr“ (Burch 19.08.2010).252 Der Patron bzw. dessen Frau liess sich also von

den weltwirtschaftlichen Semantiken irritieren und übernahm Modemuster. Zugleich stellt er „Spezi-

alteile“ (Agregados de moda) her, um diese lokal in der Gamarra an seine Sub-Patrons zu verkaufen.

Einflussreiche Patrons spezialisieren sich auf Spezialprodukte, welche sie ihren Klienten, das heisst,

den Unternehmern ohne Zugang zur Weltwirtschaft verkaufen, die damit ihre Produkte veredeln und

spezifizieren.

Fortgeschrittene Patrons treten als Vermittler von global und lokal auf. Sie sind Vermittler zu Patrons

anderer Differenzierungsvarianten in der Weltgesellschaft, z.B. China. Den Patrons mit Exportmög-

lichkeiten macht niemand und nichts so schnell Konkurrenz. Selbst das Internet nicht. Im Gegenteil:

Es sind Gamarras Patrons, welche für die Welt adressierbar werden. Das Nachrichtenportal (Portal

Gamarra 2012c) dient Fremden, aber insbesondere auch peruanischen Migranten dazu, Adressen

von Patrons zu finden. Die Tatsache, dass Unternehmer aus aller Welt sich nicht an einen bestimm-

ten Unternehmer in Gamarra wenden, sondern lediglich eine Anfrage hinterlassen, die alle Unter-

nehmen in Gamarra adressiert, bzw. von jedem gelesen werden könnte, zeigt, dass Gamarra weit

über Lima hinaus als Zentrum der Textilindustrie wahrgenommen wird.253 Diese weltweite Kommuni-

kation erstaunt und wirft die Frage auf, ob die Globalisierungsfähigkeit von Informalität unterschätzt

wurde. Allerdings finden sich nach Juli 2010 keine neuen Einträge im Portal mehr: so bleibt unklar, ob

diese Kommunikation auf einer besser geschützten Plattform verborgen weitergeführt wird oder ob

sie sich nicht eignete und eingestellt wurde. Angesichts dessen, dass mir in Lima einige Personen

erzählten, sie suchen sich zuerst per Internet ein Unternehmen und gehen danach vorbei, spricht

einiges dafür, dass die Dienstleistung noch besteht. Stammkunden finden die Unternehmer jedoch

nicht mittels Internet. Kein Unternehmer erzählte, dass das Internet eine Möglichkeit wäre, um in

den Export einsteigen zu können. Lediglich Patrons, welche bereits Exporterfahrung und über das

entsprechende Wissen verfügen, profitieren also vom Internet.

Den informalen Zugang zur Weltgesellschaft (,der jedoch oft auch formalen Zugang zu Distributoren

verschafft,) erachtet der Patron als derart essentiell, dass er die Gamarra als globales Labor bezeich-

nete. Die Patrons beschränkten sich nicht auf das Kopieren, sondern sie sehen sich als Innovato-

252

Original: „Bueno, yo no viaje, primero viajó mi esposa que es Cusqueña también. Vimos que Gamarra no levantaba, se estaba quedando. Entonces primero fuimos a la feria de Medelin, entonces cuando va a Medelin, encontraba la ropa interior que no era llena ropa interior sino llevaba sus cositas, sus estes estaban diferentes.... Entonces captó que los polos trajeron una [¿?] por aca [...]. Entonces así entonces comencamos a correr, a Taiwan, a Estados Unidos y al final la China. Es porque antes a China antes que salga al mundo yo venía a correr a Taiwan. Y de Taiwan y Korea vendimos nosotros aca pero ganando así 50% más“ Burch 19.08.2010. 253

Siehe alle online eingegangenen Bestellungen auf: Portal Gamarra 2012c. So schreibt zum Beispiel „Gusta-vo“ aus Peru am 1. Juni 2010, dass er dringend 10‘000 rote Pullover braucht. Er gibt alle technischen Produkti-onsangaben an und erhielt innert kürzester Zeit ausführliche Antworten und Adressen von acht Unternehmern der Gamarra. Siehe: Gustavo 2010.

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ren.254 Neben vielen verschiedenen Kleidermodellen importieren Patrons auch grosse Mengen an

Primärmaterialien. Wie importieren sie derart grosse Warenmengen? Der Patron meint: „Wir besit-

zen Zöllner, wir besitzen Leute, Brookers, das heisst, diese handhaben die Produkte wie in allen Län-

dern“ (Burch 20.07.2010).255 Der Wirtschaftspatron besitzt also Zöllner, er bezahlt Beamte persönlich,

das heisst, er ist mit diesen in einer langfristigen Patronagebeziehung. Diese Praktik substituiert

zugleich als Nebeneffekt Besteuerung. Ein Staat existiert in diesem Erwartungszusammenhang nicht;

zwar wurde der Zöllner formal vom Staat angestellt, aber der Zöllner ist vielmehr im Sinne von Eisen-

stadt ein informaler Klient des Unternehmers, dessen politische Dienstleistungen man widerholt

bezahlen kann, womit man sich zugleich mehr vertraut.

Das nächste Problem ist nun, wie die fertigen Produkte verkauft und an eine breite Kundschaft ge-

bracht werden. Die Patronin des Textilgeschäftes, in welchem ich mitarbeitete, klagte mir schon bald,

dass sie nicht international exportieren könne: „Nein, ich habe keine Bekannten, ich habe keine Kon-

takte. Ich würde gerne exportieren, weil alle Sachen, die wir herstellen, schöne Sachen sind” (Burch

24.08.2010b).256 Ein Hauptproblem der Unternehmung, in welcher ich mitarbeitete, war der Absatz

der Ware. Die Lokalität befand sich an einem eher unsicheren Ort mit wenig Polizeipräsenz, auch

wenn die Eigentümerin regelmässig Geld für diese staatliche Dienstleistung beiseitelegte. Das Ge-

schäft liegt ausserhalb der offiziellen Gamarra, die durch einen hohen Zaun nachts geschlossen wird,

es befindet sich jedoch nur einen halben Häuserblock neben einem Eingang zur Gamarra. Gemäss

der Eigentümerin und auch gemäss Taxifahrer ist es eine gefährliche Gegend. Sobald es dunkel ist,

das heisst, ab. 18:00h sind die Strassen dort unsicher. Trotz des Fehlens eines internen politischen

Patrons, der sich um physische Sicherheit kümmern würde, verkauft die Unternehmerin die Ware

hauptsächlich vor Ort. Der Export sei etwas Schwieriges: „Das Problem ist, dass ich hier den ganzen

Tag arbeite. Ich kam hierher um zu arbeiten und ich konnte nie herauskommen. Ich kann nicht zu

einem anderen Markt gehen, ich kann nicht weggehen, ich stecke hier fest. Das ist es. Es ist ein Prob-

lem“ (Burch 24.08.2010b).257 Das Problem des Exports bzw. eines erweiterten Marktzuganges kann

aus ihrer Sicht nicht gelöst werden. Da Arbeitsverträge nicht institutionalisiert sind, fallen formale

Lösungsmöglichkeiten weg, weshalb sie jemanden vor Ort kennen müsste. Da sie zu hundert Prozent

in ihre Organisation eingebunden ist, hat sie selten die Möglichkeit, ihre Waren selber ins Hinterland

zu exportieren. Grössere Mengen zu Exportieren ist eine Aufgabe, die sie keinem ihrer Angestellten

anvertrauen kann. Sporadisch rufen ihr Bekannte aus dem Hochland an und fragen nach Waren und

254 Siehe zur Bedeutung von Marken auch Kapitel 7. 255

Original: "Nosotros tenemos gente de aduana, tenemos gente, broquer, por decir te manejan productos como en todos los países" Burch 20.07.2010. 256 Original: “No, no no tengo conocidos, no tengo contactos, lo que me gustaría exportar porque todas las cosas que hacemos son cosas lindas” Burch 24.08.2010b. 257

Original: “Lo que pasa es que yo aquí trabajo y durante todo el día, me iba a trabajar aca; y no he podido salir. No puedo salir a otro mercado, no puedo salir, estoy aca metida. Eso es lo que pasa. Es un problema pues [Kundschaft]” Burch 24.08.2010b.

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dies ist nicht zu unterschätzen: „Manchmal bringen wir [einige Kleider] in ihre Häuser. Wir arbeiten

auch mit Leuten aus den Provinzen, die uns anrufen und die uns das Geld auf der Bank deponieren.

Danach schicken wir ihnen die Ware mittels Postservice“ (Burch 24.08.2010b).258 Seit jeher sind Stadt

und Land in Peru gut mittels interregionaler Netzwerke miteinander verknüpft.259 Die kommunalen

Netzwerke erstrecken sich international; so kommt manchmal auch der eine oder andere Auftrag aus

den Vereinigten Staaten. Bekannte sind stets mögliche Geschäftspartner. Je weiter weg sie wohnen,

umso attraktiver sind sie. So hoffte die Unternehmerin anfangs, in mir eine einflussreiche Geschäfts-

partnerin gefunden zu haben, weil ich es mir leisten kann, ein Flugticket in eine so weit entfernte

Region wie Lima zu leisten und so lange von meiner Arbeit fern zu sein. Lange und entfernte Reisen

unternehmen in der Gamarra nur die einflussreichsten Patrons. Ihre Schlussfolgerung war, dass ich

eine einflussreiche Person sein muss, die selbstverständlich auch den Kontakt zu einem Schweizer-

zöllner herstellen könnte. Die Unternehmerin denkt sich Weltgesellschaft zwar nicht als homogen;

sie ist sich bewusst, dass in anderen Regionen ihr Produkt zu viel höheren Preisen verkauft würde,

doch diese Heterogenität beschränkte sie auf die Wirtschaft. Politische Administration und Verwal-

tung stellt sie sich hingegen als weltweit homogen vor.260 Um ihre Kleider im grösseren Stil zu expor-

tieren, bräuchte sie ein Familienmitglied, welches an internationale Warenmessen reisen könnte. Sie

selbst kann nicht weg, da sie multifunktional in ihr Unternehmen eingebunden ist. Als ich der Unter-

nehmensbesitzerin vorschlug, mit Patron xy, einem international tätigen Unternehmer, Kontakt auf-

zunehmen, da xy Exportmöglichkeiten anbietet, meint sie: „Ja, ich habe auch schon daran gedacht,

aber es [geht nicht] wegen der Zeit. Es ist so, dass ich auch in die Gamarra gehe, wenn ich Materia-

lien benötige. Ich gehe schnell und komme schnell wieder zurück. So bin ich involviert; wie du gesagt

hast, bräuchte ich eine Person, die sich um all das hier kümmert, damit ich hinausgehen kann“ (Burch

24.08.2010b).261 Die Unternehmerin kann sich nicht einmal innerhalb Gamarras bewegen. Die Inklu-

sion in ihr Unternehmen verunmöglicht dies. Internationaler Export in Regionen, welche ähnliche

Erwartungszusammenhänge reproduzieren, löst die Reproduktion kommunal-familiärer Strukturen.

Es sind also primär auf Verwandtschaft basierende symmetrische Netzwerke, welche international

über weite Entfernung kommunizieren. Unternehmer aus Ecuador, Bolivien, Peru, ferner aus Chile

und zum Teil aus Venezuela sind schon seit Jahrhunderten kommunikativ erreichbar. Man findet

schon seit längerer Zeit einen internationalen Handel, der mittels verwandtschaftlicher Netzwerke

258

Original: “A veces llevamos a su casa, también trabajamos con gente de provincia que nos llaman que nos depositen el dinero en el banco, después enviamos por la agencia su mercadería” Burch 24.08.2010b. 259

Siehe dazu: Paerregaard 1997. 260

Generell wird in Lima die Politik als homogener erachtet als wirtschaftliche Zusammenhänge. Von der Wirt-schaft scheint man ein differenzierteres Bild zu haben. Ähnlich wie man Erwartungszusammenhänge zwischen verschiedenen Subsystemen der Politik nicht immer auseinander hält, denkt man sich die Verwaltung zuweilen als global homogen operierendes Grossystem. Vgl. Kap. 4.2. 261 Original: “Si pensaba pero que es por el tiempo. Es que yo también voy a Gamarra a comprar este como necesito materiales. Me voy rápido y vengo rápido. En esto estoy porque como tu has dicho, necesito una persona que se encarga de todo eso, que se encarga y yo salgo ya” Burch 24.08.2010b.

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organisiert ist, wobei sich früher bestimmte Segmente bzw. Dorfgemeinschaften auf ein Handelspro-

dukt und auf eine Region spezialisierten. Mehrere Autoren insbesondere auch Huber (1997) betonen

die Historizität dieser Systeme: “Die grosse Mehrheit ihrer Protagonisten sind Migranten aus dem

Inneren des Landes, die erfolgreich von ihrem kulturellen Hintergrund profitieren, um sich Räume im

kapitalistischen Markt zu erkämpfen“ (Huber 1997, S. 6).262 Die indigene Bevölkerung verarbeitete

ihre Diskrimination nicht anhand separatistischer Lösungen sondern mittels wirtschaftlicher Inklusion

über die Märkte.263 Wie funktionieren diese Handels-Netzwerke konkret? Wie reproduzieren sie

kommunale Grundlagen? Gemäss Golte (1995) sind diese kontemporären Handels-Netzwerke auf

prehispanische Zeiten zurückzuführen. Da die Agrarproduktion in den Anden niedrig ist, waren die

spanischen Eroberer, die Träger der politischen Macht, nicht sonderlich bestrebt, im Hochland eben-

falls wirtschaftliche Patrons im Bereich der Agrikultur zu werden. Nach meiner Ansicht sind auch

damalige spezifische spanische Vorstellungen von Entwicklung und Wohlstand, bzw. der Art und

Weise, aufgrund welcher Kriterien die Spanier Gesellschaft beschreiben, in Erwägung zu ziehen. Die

Spanier verstanden Gesellschaft im Gegensatz zu den Engländern weniger über den Markt.264 Dies

wurde in Kapitel 4.1. im Zusammenhang mit der „aufgezwungenen“ Gründung von Peru als National-

staat angesprochen. Es ist aus spanischer Sicht nicht in erster Linie der Markt bzw. die „unsichtbare

Hand des Marktes“, welcher die Gesellschaft integriert und als solche eventuell etwas planbar macht,

sondern es sind staatliche Kategorien, wozu vor allem die Verwaltung zählt. Insofern erhofften sich

die Spanier, das neue Gebiet mittels einer dazumal religiös legitimierten Verwaltung unter Kontrolle

zu bringen. Dem Markt wurden diese Funktionen, bzw. Handlungskompetenzen nicht zugeschrieben.

Die spanischen Kolonialherren waren gemäss Garrett (2005) bis ins 19. Jahrhundert auf Vermittler-

Patrons der ehemals inkaischen Oberschicht angewiesen.265 Insofern waren es eventuell nicht nur die

262

Original: "La gran mayoría de sus protagonistas son migrantes del interior del país, que aprovechan de su trasfondo cultural para luchar, con éxito, espacios en el mercado capitalista. [...] ...han progresado con un espíritu empresarial único en la historia del Perú" Huber 1997, S. 6. 263 Dies ist interessant, waren kapitalistische Märkte in der ganzen Andenregion beinahe bis Mitte des 16. Jh,

sprich bis zur Ankunft der Europäer unbekannt. Siehe Burch 2010. Insofern ist die Frage interessant, inwiefern zuvor nicht kapitalistisch orientierte Regionen mit diesem quasi neuen, kapitalistischen Modell der Weltgesell-schaft umgehen. 264

Siehe zur frühen englischen Gesellschaftsbeschreibung mittels Termini des Marktes: Smith 2008. 265

Für zweieinhalb Jahrhunderte reproduzierte sich bis zur Unabhängigkeitserlangung von Peru unter spani-scher Vorherrschaft eine inkaische Oberschicht. Die legale Etablierung der „república de los indios“ separierte die indianisch indigene Bevölkerung weitgehend von den spanischen Kolonialherren. Die Spanier bewahrten diese inkaische Oberschicht, zumal sie auf Hierarchie angewiesen waren, nicht nur um Tribute zu erhalten son-dern auch um politischen Einfluss auf die lokale Bevölkerung auszuüben. Wirtschaftlich wurde Einfluss ausge-übt, indem die Bevölkerung Tribut zu entrichten hatte. Doch damit tangierten die Spanier vielerorts nicht die wirtschaftliche Organisationsweise; da diese weiterhin in ähnlicher Art und Weise durch die indianisch-mestizische Vermittler organisiert wurden. Selbstverständlich blieben die Comunidades bzw. die Clans durch die spanische Vorherrschaft nicht unverändert. Insbesondere änderten sie jedoch das Verhalten der ehemals inkaischen Oberschicht, indem zum Beispiel auch in den ehemals höheren inkaischen Familien die Monogamie eingeführt wurde. Ebenfalls wurde der Privatbesitz weiter institutionalisiert, was neue Beziehungsmuster zwi-schen der indianischen Oberschicht und ihren Unterworfenen hervorrief. Siehe: Garrett 2005. Die vorspanische rechtlich-politische und religiöse Kommunikation wurde am stärksten irritiert mit der Ankunft der Spanier.

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niedrige Produktivität der Landwirtschaft sondern auch die spanische Präferenz von politischen Se-

mantiken und Praktiken gegenüber den wirtschaftlichen, was den tendenziellen Fokus auf das Staat-

liche und das Desinteresse an der andinen (Agrar)wirtschaft erklärt. Lima war seit der gesamten Ko-

lonialzeit bis in die 50er Jahre keine produktive Stadt, sondern ein administratives Verwaltungszent-

rum. Obwohl die andinen Böden nicht produktiv waren, entwickelten die voreuropäischen Gesell-

schaften die Agrikultur stark. So zählte die andine Landwirtschaft des 16. Jahrhunderts bei der An-

kunft der Spanier laut Espinoza (2001, S. 4) sowohl zu den ertragreichsten als auch bezüglich der

Erzeugnisse zu den vielfältigsten der Welt.266 Wieso dies angesichts mangelnder „Technik“ der Fall

war, komme ich nun in Hinsicht auf die heutigen andinen Handelsnetzwerke zu sprechen.

Das spanische Desinteresse an der Agrarwirtschaft (im Hochland), ermöglichte es, den einheimischen

Bauern, hinsichtlich wirtschaftlicher Fragen relativ autonom zu bleiben, „so wie auch eigene Formen

der Kooperation [zu bewahren], welche ihre Ursprünge in den prehispanischen Epochen hatten“

(Golte 1995, S. 139).267 So macht dann auch das Zitat eines Patrons Sinn, der es zu viel Einfluss in der

Gamarra gebracht hat: „Gut, wir sind Provinzler, wir kommen von der chacra. Unsere… unsere An-

fänge waren in der Agrikultur“ (Burch 20.07.2010).268 Dass der Patron in diesem Zitat den indiani-

schen Quechua-Begriff „chacra“ verwendet, der übersetzt „Feld“ bedeutet, sagt vieles. Alte reziproke

(vor)inkaische Erwartungszusammenhänge (Ayni und Minka), welche die damaligen Gesellschaften

an ihre organisch-physische Umwelt adaptiv anpassten, werden heute auf moderne Art reprodu-

ziert.269 Gemäss Golte (1995) sind diese erfolgreichen andinen Netzwerke auf prehispanische andine

landwirtschaftliche Organisation der Produktion zurückzuführen. Diese basierte laut Huber (1997, S.

9ff) hauptsächlich auf Arbeitsgruppen, deren Grösse und Aufgaben sich täglich flexibel ändern konn-

ten. Dabei sind verschieden komplexe Gruppierungen zu unterscheiden. Die Mehrheit dieser Grup-

pen beruhte auf segmentären Klan-Strukturen. Innerhalb dieser Gruppen wurde meist egalitär ohne

Rangunterschiede kommuniziert, weshalb die Reziprozität, die Institution des „Ayni“, von Bedeutung

war.270 Huber (1997) betont, dass solche Gruppen Stabilität und Flexibilität in ihren Beziehungen

Diese Zusammenhänge ganz zu Beginn der Genese der Weltgesellschaft müssten jedoch separat vertieft unter-sucht werden. 266

Die andine, voreuropäische Landwirtschaft gehört laut Espinoza 2001: 4 zu denjenigen, welche am meisten verschiedene Varianten züchtete und dabei ertragreich war wie in der damaligen Zeit kaum eine andere. So wurden Mikroklimata genutzt sowie der heute teuer exportierte Vogelmist Guano. Seminarmitglieder des „Na-tional Research Council“ National Research Council 1989 betonen, dass bei der Ankunft der Spanier in Peru, die Inkas beinahe so viele verschiedene Pflanzensorten kultivierten wie die Bauern von ganz Asien oder Europa. 267

Original: “...así como también formas de cooperación propias que tenían sus orígenes en épocas prehispánicas” Golte 1995, S. 139. 268

Original: „Bueno, nosotros somos provincianos, nosotros vinimos de la chacra. Nosotros... nuestros inicios eran la agricultura“ Burch 20.07.2010. 269

Siehe dazu: Zoomers 2005, S. 206ff. 270

Andere Gruppen zeichneten sich jedoch durch eine Nicht-Verwandtschaft der Mitglieder aus und charakteri-sierten sich insbesondere unter inkaischer Herrschaft durch eine gleiche Tätigkeit (Formen der Mitmaq). Solche Gruppen konnten vom administrativen Zentrum, dem kurz vor der Ankunft der Spanier die inkaischen Ober-schicht an der Spitze stand, global verschoben werden. „Global“ bezeichnet in diesem Kontext das Inkareich

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voraussetzen. Genau dieses Vertrauen in soziale Netzwerke findet man in den heutigen international

tätigen Händler-Netzwerken der Gamarra wieder. Diese Idee, Teile des ethnischen Segments in eine

tiefer gelegene Region zu verschieben, um dort andere Produkte anzupflanzen und diese daraufhin

clanintern, das heisst, reziprok mit dem Herkunfts-Segment auszutauschen, ist mehrere tausend

Jahre alt. Es war der Anthropologe Murra (2004 (2002), S. 85ff.), der erstmals beobachtete, dass

segmentäre Gesellschaften eigene Teilsegmente in andere Klimazonen versetzen, um die Produkte

intern zu zirkulieren. Murra benannte diese nicht-kapitalistische Institution als „vertikale Archipele“.

Die Personen der Provinzen sind es sich also gewohnt zu reisen, um innerhalb der Comunidad das

heisst, um zwischen Personen, die zum Teil hunderte von Kilometern entfernt leben, Güter zu tau-

schen. Güter wurden grösstenteils nicht auf einem Markt getauscht sondern innerhalb von Clans, die

sich die Höhenstufen des tropischen Gebirges zu Nutze machten und auf möglichst allen Höhenstu-

fen anbauten.271 Die Produktion muss dazu laut (Adams und Valdivia 1994) genau organisiert sein,

damit parallel in verschiedenen Höhenlagen angebaut werden kann. Die organisch-physische Umwelt

irritiert die Gesellschaft mehr, als dies viele Theorien behaupten.272

Die Produktion wurde also flexibilisiert und der Clan auf verschiedene Höhenlagen aufgeteilt, um die

Erzeugnisse segmentintern aber gruppenübergreifend zu tauschen. Neben diesem claninternen

Tausch erfanden die damaligen Gesellschaften eine zweite kollektiv orientierte Institution, um Prob-

leme von Seiten der organisch-physischen Umwelt zu managen. Da im Alten Peru keine Pferde oder

Ochsen vorhanden waren und der Pflug sich für das unwegsame Gelände nicht eignete, basierte die

andine Anbauweise auf einfachsten Landwirtschaftsgeräten (Quechua: Chakitajlla). Diese Fusstrittge-

räte können jedoch nur innerhalb einer Gruppe effizient eingesetzt werden. Es ist die einzige Technik,

um auf dem kargen und sensiblen tropischen Boden in den Anden nachhaltig und langfristig ertrag-

reich zu produzieren.273 Diese kollektive Bepflanzungsmethode beschreibt auch Golte und erklärt,

wieso die Produktion in den Anden innerhalb von Clans und dessen Sub-Gruppen flexibel, schnell und

zuverlässig angepasst werden musste:

und bezieht sich auf die andine Region vom südlichen Kolumbien bis Mittel-Chile. Man ist sich in Peru seit alters her gewohnt, jenseits von der Marktwirtschaft innerhalb von Kommunen, Güter und Dienstleistungen zu tau-schen. Angeführt wurden die Gruppen durch einen Vorsteher, zum Beispiel durch einen Clanvorsteher oder durch einen Spezialist der inkaischen Oberschicht. Die ungleichen Erwartungen gegenüber einer solchen Obrig-keit, nannte man dann „Minka“, die ein asymmetrisches Tauschverhältnis bezeichnet. Siehe: Burch 2010. 271

Wie sich auf dieser Basis eines der interessantesten Grossreiche Amerikas bildete und die Zentrum / Peri-pherie-Unterscheidung beinahe auf das gesamte Westsüdamerika ausbreitete, Siehe: Burch 2010. 272

Interessanterweise fand bei Parsons die organische Umwelt jedoch mehr Beachtung. Sie war in sein Vier-Schemen Modell eingebaut. Siehe: Parsons 1977. 273

Damit soll nicht gesagt werden, dass die Geographie bzw. die natürliche Umwelt die Sozialstruktur komplett determiniert. Die Gesellschaften der Küste erfanden jedoch Problemlösungen, um in einer solch „speziellen“ Umwelt wie dem tropischen Gebirge der Anden zu bestehen und schliesslich im Überfluss zu produzieren. De-ren Bedeutung, das heisst der Bezug der Gesellschaft auf die natürliche Umwelt oder der Bezug der Soziosphä-re zur Technisphäre ist nicht zu unterschätzen.

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„Aber in Wirklichkeit gibt es in den Dörfern eine gut organisierte Basisorganisation.

Die Hälfte des Dorfes, Quartiere, Familien, Verwandtschaftsgruppen… erlauben es,

Kooperation zu organisieren, wenn man es braucht. Es gibt viele Situationen, in

welchen die Personen kooperieren müssen, sie aber nicht exakt wissen, an wel-

chem Tag es sein wird. Wenn man zum Beispiel mit der Chakitajlla [dem Fusspflug]

arbeitet – in den Höhen kann der Boden nur so bearbeitet werden, weil er sehr

hart ist, wenn es geregnet hat. Wenn der erste Regen im November kommt, müs-

sen alle auf die chacras [Quechua: Felder] in den Höhen, um die Erde zu drehen.

Und mit der Chakitajlla [dem Fusspflug] kann man nicht individuell arbeiten, son-

dern man muss in Gruppen von fünf, acht Personen arbeiten, weil es auf andere

Weise nicht funktioniert. Sie haben sogar Lieder, die den Rhythmus vorgeben, um

so zu arbeiten. Und das ist eine vor-etablierte Form, im Sinne: Wer kommt zuerst

an die Reihe, wen kann man einberufen, damit sie mit ihnen arbeiten… Sagen wir in

der Verwandtschaftsorganisation ist schon vorgesehen, wen man rufen kann; es

sind Brüder oder Schwäger oder Cousins… Und wenn ich meinen Cousin frage:

`Gut, kommst du? `, so muss er kommen, er kann es nicht ablehnen. Die Verwandt-

schaft ist keine abstrakte Beziehungsform, sondern enthält bereits feste Obligatio-

nen, die man nicht zurückweisen kann“ (Burch 16.07.2011a).274

Die kommunalen Strukturen ermöglichten es, dass man innerhalb kürzester Zeit, genug Personal

organisieren konnte, um sich kollektiv einer Aufgabe anzunehmen, deren Beginn zeitlich nicht be-

stimmbar ist, da sie vom Wetter und nicht von menschlichen Entscheidungen abhängt. Golte er-

wähnt dabei interne Subgruppen innerhalb der Segmente. Binnensegmente werden schon seit Jahr-

tausenden innerhalb von Ethnien und Dörfern reproduziert und beruhen gemäss meiner Ansicht

immer auf einer gewissen Asymmetrie. Nur Rangordnung und damit verbundenes Familien- bzw.

Clanprestige legt schnell fest, wer wem in welcher Reihenfolge zu helfen hat.275 Es handelt sich also

274 Original: „Pero en realidad en los pueblos hay una organizacion de base bien organizada en su pueblo, la mitad del pueblo, barrios, familias, grupos de parentesco que permetie organizar cooperación cuando se necesite. Hay muchas situaciones en las cuales la gente tiene que cooperar pero no saben exactamente que día va a ser. Por ejemplo cuando se trabaja con la Chakitajlla en la altura solamente se puede trabajar el suelo así porque es muy duro cuando ha llovido. Cuando llega la primera lluvia en Noviembre todos tienen que irse a las chacras de altura para roturar el suelo. Y con la chakitajlla no se puede trabajar individualmente sino tiene que trabajar en grupo de cinco, ocho personas porque de otra manera no funciona; incluso tienen canciones que dan el ritmo para trabajar esto. Y eso es una forma pre-establecida en el sentido a quiénes les toca primero, a quiénes puede convocar para que trabajen con ellos; digamos en la organización del parentesco ya está previsto los que se pueden llamar son hermanos o cuñados o primos... Y cuando y pregunto a mi primo, bueno, vas a venir, entonces el tiene que venir, no se puede negar. El parentesco no es una forma abstracta de relación sino contiene ya obligaciones fijas a las cuales uno no se puede negar” Burch 16.07.2011a. 275

Solche Strukturen gehen auf voreuropäische Zeiten zurück. Alle andinen Ethnien institutionalisierten entwe-der eine binäre oder tertiäre Aufteilung des Segmentes. So basierte der hierarchisch organisierte Gross-Clan der Inka auf einer asymmetrischen binären Aufteilung. Die eine Seite der Stadt war somit der anderen grund-sätzlich untergeordnet. Hinzu kam eine weitere Form von Asymmetrie, die auf asymmetrische dreier Struktu-ren bestand (Qollana-Famlien besassen am meisten Prestige, gefolgt von Payan und Kayaw). So konnte im

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um Gruppen, die zueinander in asymmetrisch reziprokem Austausch stehen; es sind jedoch nicht

interne Hierarchien, welche das segmentäre Prinzip aushebeln. Die Gruppen sind untereinander ver-

wandtschaftlich verbunden, sie beruhen intern nicht auf Endogamie.

Diese nichtkapitalistische Wirtschaftsordnung reproduzieren die Unternehmer und Unternehmerin-

nen auf moderne Art und Weise heute in einem urbanen Umfeld. Die wirtschaftlichen Inklusions-

praktiken der andinen Migranten sind in die Wirtschaft vielfach informaler Art; die Strategien bezie-

hen sich jedoch auf die kapitalistisch-formale Wirtschaft und sind mit diesem Wirtschaftsmodell er-

staunlicherweise kompatibel, bzw. wurden sie auf das kapitalistische Modell adaptiert.276 Kommuna-

le Verpflichtungen ermöglichen es, in unterschiedlichen Regionen kollektiv zu wirtschaften. Ein Un-

ternehmen in Gamarra ist beinahe immer ein interregionales Unternehmen, weil es Stadt-Land Be-

ziehungen überbrückt. Wie ist das zu verstehen? Eine moderne Form der Reproduktion kommunaler

Erwartungszusammenhänge ist zum Beispiel der Kindertausch. Wenn eine Familie in Gamarra die

Ausbildungskosten ihrer Kinder herabsetzen möchte, um sich in der Anfangsphase Kapital für das

Unternehmen zu sparen, so schicken sie ihre Kinder zu Verwandten auf das Land. Die Verwandten

kümmern sich darum, dass die Kinder auf dem Land die Primarschule besuchen. Wenn die Kinder in

die höhere Schule kommen, schicken die Verwandten die Kinder zurück in die Metropole. Die Eltern

konnten sich zuvor ganz dem Textilunternehmen widmen. Daraufhin kümmern die Unternehmer sich

auch um die universitäre Erziehung der Kinder ihrer Verwandten.277 Es sind auch kommunale Struktu-

ren, welche für viele Unternehmer den interregionalen Handel ermöglichen. In verschiedenen Zonen

mittels Subgruppen innerhalb eines Grossclans zu produzieren, ist in den Anden eine uralte Instituti-

on. Huber (1997, S. 16ff.) beschreibt diverse ethnische Netzwerke, die interregional Handel organi-

sieren. So sind zum Beispiel die Comuneros von Sanka und Colcha aus Cusco seit den 40er Jahren in

verschiedensten Regionen Perus wirtschaftlich tätig. Wie früher beobachtet man also zwischen den

Migranten aus den südlichen andinen Gegenden eine Art strategische Migration, die segmentintern

organisiert ist. Auch spezialisieren sich diese oftmals wie in vorspanischen Zeiten auf ein Produkt,

zum Beispiel auf die Schuh- oder Kleiderproduktion.

Patronage bewährt sich langfristig nur, wenn sie in kommunale Erwartungszusammenhänge einge-

bettet ist. Kommunale Erwartungszusammenhänge müssen jedoch differenziert gehandhabt werden.

Nicht in allen Kommunen spielten „vertikale Archipele“ und der kommunal symmetrische Austausch

(Ayni) eine besonders grosse Rolle. Die Kommunen der nördlichen Küstenregionen waren intern

asymmetrischer gebaut und brauchten nicht Teile der Ethnie zu verpflanzen, da an der fruchtbaren

und ertragreichen Küste immer produziert werden konnte, wenn die Bewässerung bewerkstelligt

religiösen Ceque System jede Familie genau zugeordnet werden. Siehe zu den beiden Strukturen dazu Pärssi-nen 2003, S. 157ff; 213ff. Siehe zu Ceque System von Cusco, der Kapitale des Inkareiches: Bauer 2000 (1998). Siehe zur internen Struktur der peripheren Segmente: Pärssinen 2003, S. 269ff.. 276 Wir kommen auf die netzwerkartige Reproduktion segmentärer Strukturen auch in Kapitel 6.2.2. 277

Siehe Golte Burch 16.07.2011a.

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war. Insofern bildete sich in diesen nördlichen Gesellschaften ansatzweise eine Marktwirtschaft her-

aus.278 Umfassende und mit der Kommune gekoppelte Verwandtschaftsnetzwerke sind vor allem im

Süd- und Zentralandinen Raum kausal relevant. So beobachtete Golte (Burch 16.07.2011a), dass die

ethnischen Netzwerke der nördlichen Küsten-Kommunen nicht für interregionalen Tausch reprodu-

ziert werden können, weil sie weniger horizontal sondern hierarchischer gebaut sind. Personen aus

nördlichen Kommunen (bei Trujillo) schafften es nicht, via Patronage ihre Schuhe in Lima zu verkau-

fen. Golte schildert dies:

„Sie haben eine interne Struktur, die nicht so horizontal ist sondern klientelistisch

[…]… es hat sich in den Dörfern eine klientelistische Hierarchisierung geformt zwi-

schen reichen Bauern und armen Bauern oder Bauern ohne Land […]. Und wenn sie

in Städte wie Trujillo migrieren; an der Küste funktionieren diese Netzwerke nicht

gut, im Sinne dass es in Trujillo ein Quartier gibt, wo sie Schuhe produzieren. Es

sind Migranten aus der Sierra von Cajamarca und Huamanchuco und sie haben ge-

sehen, wie diejenigen vom Süden, Netzwerke etablieren, die auf weite Distanzen

funktionieren….“ (Burch 16.07.2011a).

So versuchten Migranten der nördlichen Sierra, ebenfalls Schuhe im weit entfernten Lima zu verkau-

fen, “... und sie haben die Erfahrung gemacht, dass es nicht gut funktioniert, weil ein Klient immer die

Möglichkeit hat: Mir passt dieser Klientelismus oder [mir passt dieser hierarchisierte Klientelismus]

nicht. Der Klientelismus ist etwas Verhandelbares; Verwandtschaft [parentesco] nicht“ (Burch

16.07.2011a).279 Nicht alle Arten der Reproduktion vormoderner Strukturen können Probleme des

Fernhandels lösen. Dieser Hinweis ist zentral. In Gamarra spielen asymmetrisch-kommunale Struktu-

ren von Patronage eine wichtige Bedeutung. Golte verdeutlicht quasi, nur kommunale Patronage, die

sich auf nicht hierarchisierte Strukturen stützt, kann langfristig und über weite Distanzen reprodu-

ziert werden. Die Personen aus Trujillo scheiterten kläglich an ihrem Experiment, zu asymmetrische

klientelistische Beziehungen zur Lösung von Fernhandel einzusetzen. Der Klient nahm zwar die Wa-

ren aus Trujillo an, doch bezahlte er sie kaum, da er angeblich immer wieder bestohlen wurde. Die

„Kommuneros“ aus Trujillo zogen sich alsdann von diesem Markt zurück. Patronage, die in zu asym-

278

Siehe zur Beschreibung der marktwirtschaftlich organisierten, vorspanischen Küsten-Gesellschaften und deren spezialisierten Händler-Segmente Rostworowski 2004b (1988), S. 232ff.; 298ff.. 279 Original: „tienen una estructura interna que no es tan horizontal sino es más clientelar […]... se ha formado en los pueblos una hirarjisación clientelar entre campesinos ricos y campesinos pobres o campesinos sin tierras. [...] Y cuando ellos migran a ciudades por ejemplo a Trujillo en la costa no funcionan bien esas redes en el sentido que hay en Trujillo un barrio grande donde están produciendo zapatos que son migrantes de la sierra de Cajamarca y Huamanchuco y ellos han visto como ellos del sur, establecen redes de larga distancia que funcionan” [...] “...Y han hecho la experiencia que no funciona bien por que un cliente siempre tiene la posibilidad, me conviene este clientelaje o no; el clientelaje es algo negociable, parentesco no” Burch 16.07.2011a.

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metrische bzw. in hierarchisierte Netzwerke eingebettet ist, funktioniert zur Lösung von Fernhandel

schlecht. Diese Einsicht führt den Leser oder die Leserin zur Netzwerktheorie.

Ganz im Sinne von Polanyi und Granovetter (1985) sind auch (wirtschaftlich) informale Erwartungen

in Gamarra eingebettet in weitere gesellschaftliche Erwartungszusammenhänge. Granovetter zeigt,

dass das ökonomische Konzept der Neoklassik untersozialisiert ist, weil der Markt nicht alle Erwar-

tungen regeln kann. Akteure sind eingebettet in konkrete, anhaltende Systeme von sozialen Verhält-

nissen sprich Netzwerke und Patronagebeziehungen. Gamarras Patrons schliessen informal an Wirt-

schaftskommunikation an und generieren so internationale Netzwerke. Etliche Unternehmer verfü-

gen über Kontakte, Freunde und (An)Verwandte, in einem Nachbarland, insbesondere in Ecuador

und Venezuela, aber auch Übersee. Der einflussreiche Patron meint auf meine Frage, ob es in der

Gamarra Personen gibt, die mit Händler in Ecuador kommunizieren: „Alle besitzen Verbindungen,

weil sie hinausgehen müssen, du musst hinausgehen, du musst dein Produkt hinausbringen“ (Burch

20.07.2010).280 Ecuador ist als direktes Nachbarland besonders gut erreichbar, dies bezieht sich nicht

auf die geographische Distanz, sind es doch immerhin beinahe 2000km, welche Gamarra von Ecuador

trennen, sondern die kompatiblen Erwartungszusammenhänge. Der Export innerhalb dieser Netz-

werke funktioniert ohne Quittungen und folglich auch ohne staatliche Abgaben in Form von Mehr-

wertsteuern. Nach Ecuador zu exportieren, ist für Gamarras Unternehmer trotz politischer Grenze

relativ einfach, weil die Umwelterwartungen ausserhalb des Netzwerkes ähnlich sind. Ein peruani-

scher Unternehmer, der international tätig ist, vergleicht die Wirtschaftspraktiken hinsichtlich ihres

Anschlusses an politische Erwartungen des jeweiligen Landes. Es geht hier um die Mehrwertsteuer:

„Zum Beispiel hier in Kolumbien, hier in Kolumbien bezahlt man die Steuern.

Hier gibt es weniger Umgehung, gleich wie in Chile. Peru besitzt schon viel, viel.

Ich würde sagen 80%, in Peru bezahlt man die Mehrwertsteuer. Aber in Bolivien

und Ecuador bezahlt man sie nicht. Was passiert in Bolivien – was passiert mir

in Bolivien? Das heisst wenn ich 100% fakturieren würde – es ist nicht so dass,

ich nicht Rechnungen ausstellen möchte – sondern, dass die Leute nicht wollen,

dass du sie fakturierst. Sie sagen dir: ‚Ja, ich kaufe es dir ab, aber verkaufe es

mir einfach so [así no más]‘. Anders gesagt, du kassierst nicht die Steuern, aber

schliesslich weisst du, dass es eine Bezahlung gibt. Zum Beispiel zahlst du in der

Schweiz viele Steuern. Die Steuern dienen auch dazu, um Strassen zu bauen, um

Schulen zu errichten. Hier nicht“ (Burch 18.11.2008).281

280

Original: „Todos tienen coneción porque tienen que salir, tu tienes que salir tu producto“ Burch 20.07.2010. 281 Original: “Por ejemplo aca en Colombia, aca en Colombia si se paga los impuestos. Aca hay menos evasión igual que Chile. Peru ya tendrá mucho, mucho. Yo diré un 80%, en Perú ya se paga los impuestos. Pero en Bolivia y en Ecuador no se paga. ¿Qué pasa en Bolivia que uno – que a mí me pasa – o sea si yo facturara el 100%, no es porque yo no quiera facturar, sino porque la gente no quiere que le factures. Te digan: “Sí te compro pero vende me así no más. O sea no les cobras el impuesto pero al final tú sabes de que hay un pago.

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Es gibt also Regionen, die noch seltener an moderne politische Kommunikation anschliessen, als dies

in Lima der Fall ist. Während man in Chile und Kolumbien die Mehrwertsteuer eher entrichtet und

nicht via reinen Vertrauensbeziehungen grössere Mengen verkauft oder kauft, kennt man Quittun-

gen in Ecuador und Bolivien kaum. Dabei wird immer betont, dass moderne politische Kommunikati-

on von den Teilnehmern als sinnlos wahrgenommen wird, weil sie nicht reziprok ist, sprich weil sie

nicht wohlfahrtsstaatlich programmiert ist. Gamarras Unternehmernetzwerke müssen diesbezüglich

keine Grenzen überwinden und können direkt an den lokalen nicht-kapitalistischen Wirtschaftsprak-

tiken anschliessen. „Unser“ äquivalent handelnde Patron, der die Gamarra gut kennt, meint, es sind

Unmengen von Geldern, die durch diese Praktik am Staat vorbei fliessen. Bezüglich der Gamarra sagt

er: „Wenn man in die Gamarra geht, so sind in diesem Sektor im ersten Stock der Häuser die Ver-

kaufsstellen [die Läden], aber oben sind alle Räume und alle Stöcke voller Maschinen. Die Menge,

die nach draussen [über die Grenze] kommt! Deshalb ist die Evasion von Tribut sehr hoch!” (Burch

18.11.2008).282 Er betont des Weiteren: “Sie exportieren anhand von Bestechungsgeld. Ganz Ecuador

wird von Peru beliefert. Sie gehen an die Grenze und überqueren diese ganz einfach. Und das wird

auch weiterhin so geschehen“ (Burch 18.11.2008).283 Eine Unternehmerin, deren Familie früher in

Gamarra erfolgreich eigene Markenkleider produzierte und diese auch nach Ecuador exportierte,

spricht bezüglich Ecuador von einem zweiten Gamarra: „In den Zeiten, als wir selbst Kleider produ-

zierten, haben wir es geschafft, auch nach Ecuador zu liefern. Ecuador! Die Zone von Aguas Verdes ist

ein Gamarra! Es ist ein Gamarra, ja. Wenn du in Aguas Verdes ankommst, bei der Grenze zwischen

Peru und Ecuador, ja, ist es identisch. Es ist die gleiche Disposition, die Geschäfte, die Galerien…“

(Burch 20.08.2010b).284 Oft beobachte ich, dass die Teilnehmer wirtschaftliche Textil-Zentren als

„Gamarra“ bezeichnen. Der Begriff „Gamarra“ ist in der lokalen Semantik interessanterweise auch

eine Vergleichskategorie.285 Die Aussage der Unternehmerin, dass diese Zentren strukturell identisch

gebaut sind, bezieht sich auch auf die Währung. So akzeptieren die Unternehmer im ecuadoriani-

schen Textilcluster neben Dollars insbesondere peruanische Soles. Doch genau diese Kompatibilität

hinsichtlich der Verwendung einer anderen Währung zeigt auch, dass die beiden Gamarra hinsicht-

Por ejemplo allá en Suiza tú pagas mucho impuesto que los impuestos sirven también para hacer vías, para hacer colegios. Aca no” Burch 18.11.2008. 282 Original: “Si uno va a Gamarra en este sector todas las casas en la primera plana están las tiendas pero arriba en todos los cuartos y en todos los pisos está llena de maquinarias. ¡La cantidad que sale afuera pues! Por eso la evación tributaria es muy grande” Burch 18.11.2008. 283 Original: “Exportan entre coímas. Todo Eucador está mantecido por Peru. Sí pues. Se van a la frontera y pasan no más. Y eso sequirá pasando así” Burch 18.11.2008. 284 Original: „En los tiempos en que confeccionamos también hemos llegado a llevar a Ecuador.¡Ecuador, la zona de Aguas Verdes es un Gamarra! Es un Gamarra sí. Si llegas allí a Aguas Verdes, al limite entre Peru y Ecuador, sí, es identico. Es la misma disposición, tiendas, galerías...” Burch 20.08.2010b. 285 Ein anderer Unternehmer bezeichnet dieses ecuadorianische Gamarra als “Vaella” (vom Tal). Alles wird von

Peru nach Ecuador über die Grenze ins “Tal” geschmuggelt:“Allí uno encuentra las mejores cosas y más barato“ Burch 18.11.2008 (Dort findet man die besten Sachen und sehr billig).

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lich ihres Einflusses doch nicht identisch sind. In Lima befindet sich das einflussreichere Textil-

Zentrum, welches selbst die lokale Währung Ecuadors unbeobachtet belässt und insofern politische

Grenzen nochmals missachtet. Zudem ist das ecuadorianische Gamarra auf den Absatz beschränkt

bzw. spezialisiert. Es ist das Tor zu weiteren nördlichen Ländern: Kolumbien und das restliche Ecua-

dor. Wie organisieren die Unternehmer diesen Handel jenseits von staatlicher Kommunikation? Eine

Unternehmerin berichtet: “Weisst du, Ecuador ist wie eine Tür nach Venezuela, [und weiter] nach

Kolumbien, weil viele Venezolaner dorthin kommen, um für ihre Länder einzukaufen. Es kommen

[auch] Kolumbianer, um für ihre Länder einzukaufen. Alsdann was sagten sich die [peruanischen]

Unternehmer? Sie sagten: ‚Wenn wir verkaufen wollen, ist es besser, wir gehen selbst hin. Wir stellen

dort unsere eigenen Läden auf und wir verkaufen selbst, um so den Zwischenhandel auszuschalten.

So haben dieselben Unternehmer der Gamarra ihre eigenen Geschäfte auch in Aguas Verdes aufge-

stellt. Das ist der Grund, wenn du hingehst, ich sage dir, dass es ein Gamarra ist, weil es sind diesel-

ben Marken, die man in der Gamarra verkauft, dieselben Marken wirst du auch in Aguas Verdes se-

hen. Dieselbe Disposition“ (Burch 20.08.2010b).286 Die international und meist symmetrisch ge-

bauten Netzwerke lösen also nicht nur das Problem, Waren über die Grenze zu bringen. Sondern sie

sind gewissermassen in zwei funktionale Segmente geteilt, wobei das eine die Lieferung sicherstellt

und das andere in Ecuador den Absatz organisiert. Informale Wirtschaftspraktiken sind dabei nicht

nur globalisierbar, sondern machen sich auch wiedererkennbar innerhalb des Marktes. Sie individua-

lisieren sich anhand von eigenen Marken. Netzwerke kontrollieren die Preise über weite Distanzen.

Dies ist jedoch nur soweit möglich, insofern in den Umwelten ebenfalls selten an moderne politische

Praktiken angeschlossen wird. Die meisten Unternehmens-Netzwerke reichen deshalb eher selten bis

Venezuela.

Nicht jeder Unternehmer Gamarras verfügt über die notwendigen Kontakte im Ausland, um im grös-

seren Stil zu exportieren. Viele sind gerade in den Anfangsphasen auf Patrons angewiesen, die einem

Ware abkaufen. In Gamarra bestehen unterschiedliche Formen organisationsübergreifender Zusam-

menarbeit. Der Zugang zur Weltgesellschaft mittels Export im grösseren Stil erfolgt nur über asym-

metrische Firmennetzwerke: Weltweiter Export im grossen Stil ist nur via organisationsübergreifen-

der Patronage möglich. Mehrere Mikro- und Kleinunternehmen schliessen sich einem Patron an. Es

handelt sich dabei um eine speziell asymmetrische Patronage. Die Unternehmerin, Carla Morales,

286 Original: “Sabes que [...] Ecuador es como una puerta a Venezuela, hacia Colombia porque de allí viene muchos Venezolanos a comprar para sus países, vienen Colombianos a comprar para sus países. ¿Entonces qué es lo que han hecho ellos? Han dicho: “Si nosotros vamos a vender, mejor que nosotros llegamos, ponemos nuestras propias tiendas y vendemos nosotros mismos anular el intermediario. Entonces los mismos empresarios de Gamarra han puesto sus mismas tiendas también en Aguas Verdes. Es por eso cuando tu vas, yo te digo que es un Gamarra porque es de las mismas marcas que se venden en Gamarra, también las mismas marcas vas a ir viendo también en Aguas Verdes. Las mismas disposiciones” Burch 20.08.2010b.

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berichtet aus eigenen Erfahrungen, da ihre Eltern anfangs ebenfalls auf die Absatz-Hilfe eines ein-

flussreicheren Patrons angewiesen waren:287

Carla Morales: „Es gibt viele Unternehmer, nicht nur in und um Lima herum son-

dern selbst innerhalb der Gamarra, die dies tun. [….] Betrügereien sind sehr….

selbst zwischen den eigenen Unternehmern, weil es gibt zum Beispiel viele Unter-

nehmer, die ihre Läden besitzen, [Unternehmer], die gross sind in der Gamarra und

die mit Produkten von Mikro-Unternehmer arbeiten, die kleiner sind als sie sind;

die erst gerade angefangen haben und noch keinen verdienten Namen besitzen. Ihr

Produkt ist noch neu. Sodann wissen sie nicht, wie man sich wehrt. Denn was sagt

dir der Unternehmer? Der Unternehmer sagt dir: ‘Bringe mir dein Produkt, ich stel-

le es aus, ich verkaufe es’, nicht wahr. ‚Mache mir einen Spezialpreis; bring mir dein

gesamtes Volumen und ich bezahle es dir‘. Er bewegt das Kapital, er bewegt die

Waren, alles. Aber wieso bezahlt der winzige Mikro-Unternehmer, der es [den Zu-

gang zu Absatz] nicht hat? Er [der einflussreiche Patron] lässt ihn warten, während

er [der einflussreiche Patron] mit diesem Geld arbeitet und er ihn an sich bindet [lo

tiene amarrado]. Er gibt ihm nur immer wenig. Er sagt ihm: ‚Gut, da du mir [Waren

im] Wert von 5000 Soles gabst, nimm mal diese 1000 [Soles], bring mir 100 Stück

mehr und die nächste Woche werde ich dir weitere 1000 [Soles] geben, und die

nächste Woche gebe ich dir weitere Tausend, weitere Tausend…“. So etwa….

Taxifahrer: „…. aber er macht es nicht....”

Carla Morales: „…aha, und das nennt man oft, dass sie sie festgebunden haben [te-

ner amarrado]. Sie besitzen sie als für sie Arbeitende, ohne dass sie Einblick hätten

in ihre eigenen Verdienste. Der Herr fährt fort mit Verkaufen, weil er so immer Wa-

ren in seinem Geschäft besitzen wird, ohne dass er sich abplagen muss, stets zu

produzieren. Er wird ‚vinkuliertes Kapital‘ [capital vinculante] besitzen. Eventuell

wird er dem einen ein wenig davon bezahlen, mit dem was er vom anderen ver-

kauft hat…. und dem anderen ein wenig…. Und er besitzt so circa sieben Mikro-

Unternehmer, die für ihn die Produkte machen. Alsdann beobachtet man dies so-

wohl im Innern [der Gamarra] wie auch von draussen, extern“ (Burch

20.08.2010b).288

287 Wie man in Gamarra Karriere macht und einen Patron mit Zugang zur formalen Weltwirtschaft wird, soll

Kapitel 7 übersichtlich und separat erörtern. 288 Original: Carla Morales: “Hay muchos empresarios, no solo alrededor de Lima sino en el mismo Gamarra de que hacen esto. [...] Las estafas están muy... incluso entre propios empresarios porque hay muchos empresarios que tienen sus tiendas por ejemplo que son grandes en Gamarra y trabajan con los productos de mircroempresarios más pequeños que ellos que recien están saliendo que aún no tienen un nombre ganado y de que repente su producto es nuevo. Entonces también no saben como hacerse fregar. ¿Entonces qué es lo que te dice el empresario? El empresario te dice: “Trae tu producto, yo lo exhibo, yo lo vento, no? Me das un precio especial, me traes todo tu volumen y yo te cancelo. El mueve el capital, mueve la mercadería, todo pero para que pague el microempresario chiquitito que no tiene, le hace demorar, mientras que el va trabajando

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Verschiedene Patronagebeziehungen formieren sich also zu umfangreichen asymmetrischen Unter-

nehmensnetzwerken. Strukturell sind diese Netzwerke insofern besonders asymmetrisch gebaut, als

dass eine Person bzw. der Patron im Sinne von Burt (1992) eine „Brücken-Position“ innerhalb mehre-

rer Netzwerke besetzt. Netzwerke mit Brückenpositionen beschreiben Konkurrenz-Handeln. Burt

bezieht seine Theorie erstens auf Bourdieus Feldtheorie. Bourdieu betont, dass neben dem finanziel-

len Kapital und dem humanen Kapital wie Bildung, Alter und Geschlecht auch soziales Kapital von

Bedeutung ist. Soziales Kapital ist in Gamarra eine entscheidende Ressource, die Machtpositionen

und Kontrolle generiert. Zweitens schloss Burt seine Aussagen an die Netzwerkstudie von Granovet-

ter (1985) an.289 Die Form, welche Granovetter als „verbotene Triade“ bezeichnete, beschreibt Burt

als „structural hole“. Für Burt (1992) sind nicht die Beziehungen innerhalb des Netzwerkes von be-

sonderer Relevanz, sondern die Art und Weise, wie die Personen ihre Position innerhalb eines Netz-

werkes nutzen. Er interessiert sich wie Harrison White (1970) nicht für die Beziehungen sondern für

die Nicht-Beziehungen290: „I use the term structural hole for the separation between nonredundant

contacts. Nonredundant contacts are connected by a structural hole“ (Burt 1992, S. 18). Der Wett-

bewerbsvorteil resultiert nicht aus den individuellen Merkmalen der Akteure sondern aus der Struk-

tur des individuellen Netzwerkes. Die Position, welche Burt als „tertius gaudens“ bezeichnet, wollen

wir hier als Patron im Sinne von Eisenstadt betrachten. Im Gegensatz zum Patron kennen sich die

Klienten des Patrons untereinander nicht; die Mikro-Firmen können also keine Preisabsprachen vor-

nehmen und schon gar nicht können sie sich gegen den Patron zusammenschliessen, indem sie zum

Beispiel eine Gewerkschaft gründen. Burts Brückenposition zeichnet sich vor allem durch Informati-

onsvorteil aus. In Gamarra bestimmt ein solcher Patron den Einkaufspreis, auch bestimmt er die Ge-

schwindigkeit des Anschlusses wirtschaftlicher Transaktion. Solche Patrons sind Zeitmanager. Sie

con ese dinero y lo tiene amarrado allí y le da de poquito.288 Le dice: Bueno, si me diste un valor de 5000 soles, toma mil, traeme 100 piezas más y la próxima semana te voy a dar otors mil, y la siguiente te voy a dar los otros mil, otros mil así...” Taxista: “...pero no, no lo hace...” Carla Morales: “....aha, y eso se llama mucho que los tienen amarrados, los tiene trabajando para ellos sin poder ver las ganancias. [...] El señor sigue vendiendo porque siempre va tener mercadería en su negocio sin necesidad de matarse produciendo y va tener capital vinculante. De repente le va pagar con lo que ha vendido de uno, va pagar al otro un poco y al otro un poco y tiene como siete microempresarios que están haciendo para el los productos. Entonces se ve, tanto de dentro como de fuera, del externo” Burch 20.08.2010b. 289

Granovetter 1985 kritisiert die neoklassische Theorie der Ökonomen und zeigt, dass Personen in Beziehun-gen eingebettet sind. Dabei unterscheidet er innerhalb von Netzwerken schwache und starke Beziehungen. Starke Beziehungen beinhalten grössere Zielverpflichtungen als schwache. Er betrachtet des Weiteren, kom-plexere Interaktionsbeziehungen, die drei Personen inkludieren. Dabei kommt er auf die „verbotene Triade“ zu sprechen. Es ist am unwahrscheinlichsten, wenn A und B durch eine starke Beziehung verknüpft sind und A auch eine starke Beziehung zu C besitzt, dass alsdann keine Beziehung zwischen C und B besteht. Wäre dies jedoch der Fall, dann ist A in einer Brückenposition. Denn alle Informationen von B nach C können nur via A zu C oder B gelangen. Eine Brücke besitzt also Vorteile. Lediglich schwache Beziehungen können eine Brücke sein. 290

Das erste Werk, welches Harrison White bezüglich der Lücken innerhalb von Netzwerken, befasst sich mit Mobilitätsketten. White kommt darin zum Schluss, dass individuelle Identitäten von Netzwerken konstruiert werden. Siehe: Harrison 1970.

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beginnen mit einem Mikro-Unternehmer eine Austausch-Kommunikation: Ware gegen Geld. Sie füh-

ren den Tausch jedoch nicht zu Ende; sie brechen ihn aber auch nicht ab, sondern verlangsamen ihn

lediglich. Das Gleichheitsprinzip des Tausches wird nur marginal tangiert, weshalb dem Klient nichts

anderes übrig bleibt, als die Erwartensenttäuschung kognitiv hinzunehmen, das heisst sich anzupas-

sen und die Enttäuschung lernend zu erleben. Der Patron vertröstet seinen Klienten bzw. Sub-Patron,

ihm die restlichen 4000 Soles schrittweise, langsam zurückzubezahlen. Langsamkeit ist eine Strategie;

der Patron kann es sich leisten, zu schweigen und die monetäre Transaktion zurückzuhalten. Alle

seine Klienten bemühen sich hingegen um seine Aufmerksamkeit. Der Patron ist zugleich mit Geld

und Ware versorgt, während die Klienten für ihn arbeiten und an ihn gebunden sind, da die Transak-

tion nicht zu Ende geführt, sondern vertagt wird. Selbst wenn der Klient den Informationsvorsprung

des Patrons aufgeholt haben sollte, bleibt er zumindest noch eine Weile an ihn gebunden, weil dieser

ihm noch Zahlungen schuldet. Firmennetzwerke sind auch Kreditnetzwerke. Und seltsamerweise ist

dabei in gewissen Fällen der Patron in der Rolle des Kreditnehmers. Im Gegensatz dazu, erörterte

Kapitel 6.1.3 Patrons als Kreditvergeber. Die Rollen kommen jedoch auch umgetauscht vor und be-

schreiben dann ein Ausnützungsverhältnis.

Noch einflussreichere Patrons exportieren nicht nur ins benachbarte Ecuador. Ein solcher Patron

meint: “Wir exportieren nach Venezuela, nach Ecuador, in die Vereinigten Staaten von Amerika,

manchmal auch nach Europa; wir schicken Pullover nach Bolivien, Chile; zum Beispiel senden wir eine

sehr grosse Menge an Kinderkleider nach Chile” (Burch 20.07.2010).291 Für den internationalen Ex-

port in ähnliche Differenzierungsvarianten wie Gamarra, bedienen sich Patrons der üblichen Strate-

gie: Zollleistungen des jeweiligen Zöllners zu kaufen. Aber auch die mächtigsten Patrons von Gamarra

können nicht jeden Zöllner weltweit bestechen. Patronagebeziehungen zu Zöllner beschränken sich

auf lateinamerikanische Staaten. Der einflussreiche Patron hat mit Chile, den USA und Europa jedoch

auch Zugang zu politisch formaleren Regionen. Wie wird das Problem gelöst, in einer Weltgesell-

schaft zu wirtschaften, die intern unterschiedliche Erwartungsmuster generiert und gar verstärkt? Im

Unterschied zu den interregional operierenden symmetrischen, verwandtschaftlichen Netzwerken,

sind die internationalen Kontakte des Patrons keine Verwandte. Aber ähnlich wie die ehemals erfolg-

reiche Unternehmerin, die aus einer Unternehmersfamilie stammt und in Villa El Salvador wohnt und

Kleider aus der Gamarra im Quartier weiterverkauft, reiste auch dieser einflussreiche Patron, um

Kontakte zu Abnehmern zu knüpfen. Reisen ist die übliche Problemlösung. Man geht zu den Vertei-

lern. Im Unterschied zur Kleinunternehmerin aus Villa El Salvador, verfügt der einflussreiche Patron

291 Original: „Nosotros exportamos a Venezuela, al Ecuador, a los Estados Unidos, a veces a Europa también, mandamos polos a Bolivia, Chile, por ejemplo ropa de niño mandamos cantidad a Chile” Burch 20.07.2010.

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jedoch über ein grosses Netzwerk aus Mikro- und Kleinunternehmen. Als Organisator von umfang-

reicher Produktion ist er als Vermittler somit interessant für die formale Wirtschaft.292

292 Wie Patrons sich eine solche internationalen Vermittlungsposition erarbeiten, soll in Kapitel 7 erörtert wer-

den.

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3. Das kommunale Fest und ihre Migrantenvereine als adaptive Systeme

Abschliessend möchte ich der Frage nachgehen, wie Unternehmer Kontakte schliessen, um unter

anderem informal an globale Wirtschaftspraktiken anschliessen zu können. Gamarras Unternehmen

überbrücken bzw. nutzen Stadt /Land Grenzen und gestalten diese neu. Gamarras Erwartungszu-

sammenhänge begrenzen sich nicht auf Lima. Die meisten Unternehmer begeben sich für die Feier-

lichkeiten ihres Dorfes alljährlich in ihre Herkunfts-Comunidad zum restlichen Teil der Familie. Die

Dorffeier ist religiös verankert. Nebenbei werden an diesen Festen gemäss Golte (Burch 16.07.2011a)

Informationen bezüglich erfolgreicher Patrons ausgetauscht. Man schliesst neue Unternehmensbe-

ziehungen und festigt alte mit der gemeinsamen Teilhabe in der Herkunftskommune. Insbesondere

erfolgreiche Familien haben die Ehre, als „Cargonte“, sprich als Feierlichkeits-Träger immense Sum-

men von Geld zu spenden und die ganze Feierlichkeit unter ihrem „Banner“ zu organisieren. Wohl-

habende Familien sind gegenüber der Kommune zur Reziprozität verpflichtet und müssen der Kom-

mune bzw. dem heiligen Dorfschutz-Patron als Organisator bzw. als Cargonte der Fiesta Patronal

etwas zurückgeben.293 Einerseits wirken segmentäre Strukturen egalisierend, weil der Träger der

Fiesta alles finanzieren muss: Vom Essen über die teuren massgeschneiderten Kleider für den „Santi-

to“ (den Schutzpatron) bis hin zum gesamten Unterhaltungsprogramm. Dadurch werden wie bei ei-

nem Opfer Unsummen von Geld verausgabt bzw. im Sinne Bourdieus in soziales Kapital umgewan-

delt.294 Die Träger-Familie fertig für das Fest eigens Umhänge an, deren Muster dann für ein Jahr die

neuen Kleider des Dorfheiligen zieren (siehe Abb. 7 und 8). Die Fiesta reproduziert nicht nur die Aus-

tauschbeziehungen, sondern gleicht entfernt einem ausgelagerten Arbeitsmarkt, der zugleich mitbe-

obachtet, wer sich als Patron für ein bestimmtes Arbeitsgebiet besonders eignet. Die kommunale

Feierlichkeit ist ein zeitlich auf einige Tage begrenztes aber ein sich jährlich wiederholt bildendes

Reputationsystem. Segmentäre, kommunale Strukturen festigen Patronage-Beziehungen. Patron und

(langfristiger) Klient kommen meistens aus derselben Comunidad.295 Und oft heiraten Personen auch

innerhalb der Comunidad. 296

293

Äquivalent handelt es sich bei einer heiligen Dorfpatronin um eine Virgen, das heisst, um eine Erscheinung von María. Die Denkweise geht auf vorspanische Vorstellungen zurück; so besitzt auch Mutter Erde (Pachama-ma) örtlich unterschiedliche Namen bzw. Anscheine, auch wenn es sich immer um Pachamama handelt. Siehe dazu die Chronik von: de von Betanzos 2003. 294

Organisatoren erzählten mir, dass die Fiesta Patronal für Puno ca. 1,2 Mio Franken kostet. Damit sich die Betreffenden vorbereiten können, ist es meist zwei, drei Jahre im Voraus bekannt, wer als nächstes als Cargon-te an der Reihe ist. 295 Siehe dazu Kapitel 6.1.2 über verwandtschaftliche Lehr- und Arbeitsverpflichtungen. Siehe auch Kapitel: 8,

wo die Institution der Fiesta Patronal im Zusammenhang von Konfliktbeschränkung diskutiert wird. 296 Das Heiratsfest hat eine ziemlich andere Bedeutung als zum Beispiel in Deutschland, wenn sich die Beteilig-

ten stark an kommunalen Erwartungen orientieren. Dies bezieht sich insbesondere auf die Bedeutung der gela-denen Gäste: „Deine Eingeladenen schicken dir ein Geschenk. Hier (in Lima) geben sie dir etwas, um zu deko-rieren, etwas, das dir gefällt; aber dort nicht; sie geben dir Geld…“ Burch 18.07.2011. Die Kommune, sprich die Heirat erleichtert es, ein Unternehmen zu führen. Die Kommune der Puneños ist besonders geschlossen. Ich

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Doch zugleich sind Kommunen durch ihre Geschlossenheit offen. Kommuneros laden städtische

Freunde aus anderen Ursprungskommunen ein. Selbst die Trägerfamilie wohnt in diesem Beispiel

nicht mehr in Pairaca sondern in einer grösseren Stadt. Eine ehemalige Arbeiterin der Gamarra er-

zählt diesbezüglich: “’Das Fest ist eine Angelegenheit, um uns besser kennen zu lernen; um zu sehen,

wie sie sind‘. – ‚Es ist also etwas wichtiges? ‘ – ‚Selbstverständlich, weil… als ich an ein Fest der Pune-

ños [der Aymara-Angehörigen in Peru] ging, war ich von einer Freundin eingeladen gewesen. […] Wir

gingen nach Puno. Du kannst aber mit einer weiteren Person kommen; es gibt Essen und alles: ‚Ich

bin eingeladen von dieser und jenem‘, man stellte sie vor und ja, ich lud eine weitere Person ein, ich

stellte ihn vor: ‚Er ist jener [tal y tal], er ist von der Universität des Altiplano‘, weil er studierte an der

Universität des Altiplano‘“(Burch 18.07.2011).297 Die Tatsache, dass selbst extra-kommunale Perso-

nen, die von jemandem aus der Kommune eingeladen wurden, selbst wieder ihre Freunde mitbrin-

gen können, zeigt, wie umfangreich solche Feste angelegt sind. Aber die Inklusion läuft nur über

komme auf deren Bedeutung als Patron in Kapitel

6.2.2 Arten der Vernetzung einflussreicher Patrons innerhalb Gamarras zu sprechen. Gewisse Kommunen

sorgen dafür, dass das neu verheiratete Paar, ein Startkapital besitzt, welches es unternehmerisch einsetzen kann. 297

Original: “’La fiesta es un asunto de acercarnos más, de ver como ellos son’. – ‘Importante es entonces’ – ‘Claro porque cuando yo fui a una fiesta de Puneños fue por una invitacion por una amiga. [...] Fuimos a Puno. Puedes venir con otro pues; hay comida y todo. Soy invitada de tal y tal, le presentaron y ya; yo invité a otro; le presenté: El es tal y tal, es de la universidad del Altiplano, porque estudió en la universidad de Altiplano’” Burch 18.07.2011.

Abbildung 7: Eine Cargonte-Familie mit dem Haupt-

Organisationspaar vor der Kapelle

Abbildung 8: Zwei Schwager aus der Cargonte

Familie am Umzug

An der Wand stehen zwei Figuren des Dorfpatrons „Señor

Santiago“.

Quelle: Aus dem privaten Fotoarchiv der Beteiligten, Kom-

mune von Pairaca, 2007

Der Haupt-Cargonte trägt symbolisch die

(religiöse) Kommune in der Hand.

Quelle: Aus dem privaten Fotoarchiv der

Beteiligten, Pairaca, 2007

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Netzwerke; man muss vorgestellt werden und zum Beispiel sagen, bei wem man untergebracht ist

und wen man sonst noch mitnahm. Denn ein solches Fest gibt auch immer Gelegenheit zu stehlen.

Nachdem man vorgestellt wurde, sollte man die Organisatoren und die Angehörigen der Kommune,

als Tio (Onkel) oder Tia (Tante) ansprechen, auch wenn man nicht verwandt ist. Es ist höflich und

„….más en confianza, aunque no es tu tío“ (…mehr im Vertrauen, auch wenn es nicht dein Onkel

ist)(Burch 18.07.2011).298 Gerne unterhält man sich an solchen Festen über die Job-Situation, deshalb

sagt man bei der Vorstellung auch zugleich, wo und was man studiert; Personen werden durch ihre

Arbeit geradezu identifiziert. Zuweilen werden so auch interregionale Unternehmensnetzwerke ins

Leben gerufen. Man sieht neue Möglichkeiten des Arbeitens, weshalb diese Fiestas Patronales auch

einen innovativen Gesichtspunkt in sich tragen. An der „Fiesta patronal“ werden zwischen den Teil-

nehmern und Teilnehmerinnen sehr viele Informationen ausgetauscht. Besonders interessant und

begehrt sind gesellige Gespräche mit den erfolgreichen Patrons oder deren Sub-Patrons. Dies sind

jeweils Personen, die es besonders verstehen, an moderne Erwartungen der Funktionssysteme (der

Weltgesellschaft) anzuschliessen und es zum Beispiel geschafft haben, in einer Unternehmung mit

Anschluss an die Weltgesellschaft zu arbeiten.299 Die besondere Wahrnehmung der Herkunftsregion

fiel mir auch im Kontext der Interview-Interaktionen auf.300

Kommunale Grenzen werden vielfältig bis heute reproduziert. Neues überlagert das Alte, woraus

etwas Neues entsteht. Kommunen „vermitteln“ Patrons und Klienten. Die Kommune ist sogar in Lima

adressierbar bzw. „vertreten“. Laut Cánepa (2006, S. 230ff) definiert sich der kontemporäre Bewoh-

298

Die Anrede zeigt zudem, wie wichtig in der Verwandtschaft der Onkel oder die Tante ist; die Begriffe erset-zen das übliche „Herr“ (Señor) oder „Frau“ (Señora). 299 Siehe dazu das Kapitel 7. 300

Zum ersten Interview mit einem einflussreichen Patron begleitete mich eine Person aus Villa El Salvador. Mir fiel bald auf, dass der Patron ihn ziemlich barsch behandelte, nicht nur bei der Begrüssung. So durfte er sich nie zu Wort melden und tat er es, dann ignorierte der Patron dessen Mitteilung vollständig. Dahingegen kommuni-zierte er rege mit der Person, welche mich das zweite Mal begleitete. Bereits bei der Begrüssung stellte sie sich als Cusqueña vor, worauf der Patron meinte, dass die Cusqueños gut seien. Er käme zwar selbst nicht aus Cus-co, jedoch seine Frau; im Interview erklärte er dann auch, wieso er die Personen aus der Region Cusco mag: „… ich mag den Cusqueño, weil es hier viele Cusqueños gibt. […] Sie sind nicht faule Kerle“ Burch 19.08.2010. Da-hingegen bezeichnet er die Bewohner von Villa el Salvador als faul, da deren Kommune in Lima von der Regie-rung unterstützt wurde, abgesehen davon, wohnen in Villa el Salvador nicht viele Cusqueños. Gamarra ist laut des Patrons so etwas wie das Gegenteil von Villa El Salvador: “Por ejemplo Villa el Salvador tiene otra realidad. Villa el Salvador, ellos han agarado terreno y el gobierno, el rey de España les ha dado dinero, les apoyó con maquinarias, les hizo un montón de cosas pero Gamarra tiene otra realidad” Burch 19.08.2010. Die Geschichte Villa El Salvadors ist jedoch nicht so harmonisch wie dies der Patron darstellt. Unterstützung und einen legalen Status erhielt Villa El Salvador erst nach Jahren. Zum einen wanderten intakte Comunidades nach Villa El Salvador. Diese waren fähig, sich zu organisieren. Strassen und Schulhäuser wurden gemeinsam erbaut und Werkstätten errichtet. Die Regierung akzeptierte die illegale Landbesetzung lange nicht. Erst auf Druck, als sich ein einflussreicher Priester auf die Seite der Bewohner Villa El Salvadors stellte und die Aufmerk-samkeit der Weltöffentlichkeit auf Perus Regierung gerichtet war, änderte sich die Kommunikation. Villa El Salvadors Bürgermeister erhielt daraufhin von einer globalen Institution einen Preis, der die erstaunliche Selbst-Organisation des Quartiers würdigte. Heute ist in Villa El Salvador ein wirtschaftliches Zentrum angesie-delt, in welchem insbesondere Möbel hergestellt werden (Einträge ins Forschungstagebuch, Gespräche mit Personen aus Villa El Salvador).

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ner Limas als Stadtbewohner (Limeño) und als Landbewohner (Provinciano) zugleich. Dies machen

auch die vielen Migranten-Clubs sichtbar: Durch Inklusion in einen Migrantenclub Limas versteht

man sich als Stadtbewohner. Der limenische Verein fügt jedoch den Namen der Herkunftskommune

hinzu. So wird eine kommunikative Anschlussfähigkeit innerhalb und ausserhalb der Stadt ange-

strebt. Lima konstituiert sich damit zugleich als eine multikulturelle Stadt. Die Netzwerke der Gamar-

ra entstanden nur aufgrund solcher kommunalen und dennoch offenen Strukturen, die auch in einem

neuen Umfeld aktualisiert und reproduziert werden konnten und eine mehrfache Inklusion zulassen.

Anfänglich deckten sich in den 80er Jahren kommunale und unternehmerische Netzwerke beinahe.

In dieser Zeit befasste sich auch die Sozialwissenschaft am stärksten mit dem Thema der Reprodukti-

on von kommunalen Erwartungen im metropolitanten Raum Limas. Angefangen hat Altamirano

(1984) mit seiner Monographie über die „Clubes de Provincianos“ in Lima.301 Altamirano migrierte

selbst aus einer Kommune aus Apuríamac nach Lima und konnte aus erster Hand beobachten, wie

Sozialbereiche aus einem ländlich geprägten Umfeld in einer Stadt-Land Umgebung reproduziert

werden. Moderne kommunale Erwartungen, die verschiedenste kommunale Asociaciones hervorrie-

fen, beziehen sich laut Altamirano immer auf Stadt-Landzusammenhänge. Die Asociación unterhält

Tauschbeziehungen mit dem Herkunftssegment: “Erstens: Die regionalen Assoziationen können nicht

als exklusive Stadtphänomene erachtet werden. Zweitens: Die Assoziationen können nicht separat

vom Prozess ländlich-urbaner Migration analysiert werden. Drittens: Die Natur und die Partikularitä-

ten dieses Sozialphänomens können nicht ausreichend erklärt werden, wenn man sie nur als Medium

der Adaption der Migranten an einen urbanen Kontext erachtet…“ (Altamirano 1984, S. 17).302 Alta-

mirano beschreibt Migration nicht als „passive“ Anpassung; urbane Asociaciones ändern auch Erwar-

tungen in der Herkunftskommune. Adaption erfolgt komplexer; eine Struktur passt sich nicht passiv

der anderen, hier städtischen Struktur an. Diese Überlegung zum Begriff „Adaption“ ist interessant

und passt zur damaligen amerikanischen Soziologie.303 Seit den 80er Jahren sah sich die peruanische

Anthropologie laut Golte (2000, S. 220ff) „gezwungen“, städtische Phänomene zu untersuchen, zu-

mal sich ihr klassisches Forschungsfeld in die Stadt ausdehnte. Gemäss Golte braucht „die“ Anthropo-

logie komplexere Konzepte, denn so wie sich ihr Forschungsgegenstand neu adaptierte, muss es auch

anthropologisch orientierte Forschung tun. Golte betont in seinem Beitrag, dass sich die ehemals

ruralen Institutionen in der Stadt vollkommen neu reinterpretierten. Er spricht dabei ausdrücklich

301

Weitere Werke, welche sich mit Strategien der Migranten befassen, sind von Golte und Adams 1987. Siehe auch Grompone 1985 und Quijano 1998. 302

Original: „Primero: las asociaciones regionales no pueden ser consideradas como fenómenos exclusivamente urbanos. Segundo: las asociaciones no pueden ser analizadas separadamente del proceso de migración rural-urbana. Tercero: la naturaleza y als particularidades de este fenómeno social, no pueden ser suficientemente explicados, [...], si se le considera sólo como medio de adaptación de migrantes al contexto urbano...” Altamirano 1984, S. 17. 303

Siehe vor allem Parsons 1977, welcher den Begriff „Adaption“ eine zentrale Bedeutung zur Beschreibung der Moderne bzw. ihrer Entstehung zukommt.

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von einer „reelaboración“ und von „reinterpretación". Es entstanden „redes étnicas supralocales“

(superlokale ethnische Netze); es kam zu einer Osmose zwischen verschiedenen Gruppen. Sozialwis-

senschaftler und -wissenschaftlerinnen sollten also generell kommunal organisierte Erwartenserwar-

tungen auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft berücksichtigen, um moderne Gesellschaft ange-

messen zu verstehen.

Heute sind kommunal-urbane Zusammenhänge laut Golte (2000) komplexer als in den 80er Jahren.

Dies beobachtete ich auch in Gamarra. Patrons betonen, dass die Gamarra keine Comunidad aus-

grenzt und insofern ganz im Sinne von Goltes Idee der superlokalen ethnischen Netzwerke aus Per-

sonen der verschiedensten Regionen besteht. Diese Idee wird im folgenden Zitat besonders gut deut-

lich. Ein Patron erzählt, die Gamarra besteht, „nur aus Personen des Inneren [des peruanischen Hin-

terlandes]. Wir sind aus allen Orts- und Völkerschaften: Aus Cusco, aus Arequipa, Huancayo, Caja-

marca… Wir sind hier aus allen Orts- und Völkerschaften. Es [die Gamarra] ist eine Mischung… es ist

ein Ensemble aus Provinzler, die auf ihr Land setzen. Sie setzen alles auf ihre Familie. Und das war die

Entwicklung, das Wachstum, weil wir hier die Feiertage nicht beachten, wir schauen auf keine Rezes-

sion, wir beachteten die Epoche des Terrorismus nicht… wir beachten nur Arbeit (Burch

19.08.2010).304 Bohn (2009) betont, dass wirtschaftliche Inklusion keine Assimilation erfordert. Inso-

fern ist die Aussage obigen Patrons mit der modernen wirtschaftlichen Beobachtungsweise kompati-

bel. Die Kommunen sind in Peru zueinander nicht hierarchisiert, das heisst, keine Kommune monopo-

lisiert zum Beispiel Anschlüsse an die formale Politik, wie dies zum Teil in anderen Differenzierungs-

varianten, welche sich oft durch lange kriegerische Interaktionsgeschichten charakterisieren, der Fall

ist.305 Die meisten Personen Limas reisen einmal pro Jahr in ihre Herkunftsgemeinde, um an der Fies-

ta Patronal ihres Herkunftsortes teilzuhaben. Dies ist interessant. Bürgerorte und gemeindliche Feier-

tage hatten früher in der Schweiz auch eine grössere Bedeutung. Heute erinnert noch die „Chilbi“ an

solche ähnlichen Dorffeste, welche ebenfalls religiösen Ursprungs sind.306

Alle Kommunen des peruanischen Hinterlandes sind also als Migrantenclubs und kommunalen Asso-

ciaciones in Lima vertreten. Cánepa (2006) kommt zum Schluss, dass sich Limas Bewohner als Dop-

pelbürger oder wenn nicht gar als dreifach inkludierte Bürger sehen. Einerseits beschreibt man sich

304

Original: Solamente es gente del interior. Somos de todos los pueblos, de Cusco, de Arequipa, Huancayo, Cajamarca de todos los pueblos somos aca. Es una mezcla.... es un conjunto de provincianos que apostaron por el país, se apostaron por su familia. Y eso fue el desarollo, el crecimiento porque aca nosotros no miramos feriados, no miramos recesión, no miramos la epoca del terrorismo,.... solamente miramos el trabajo Burch 19.08.2010. 305

Ich beziehe mich beispielsweise auf Konflikte im Nahen Osten aber auch Afrikas. Die Region war in ihrer jahrtausendealten Geschichte nie komplett hierarchisiert; auch nicht zur Zeit des Inkareiches, der Reichsbildung kurz vor Ankunft der Europäer. Es waren nur die Clan-Anführer, gewisse spezialisierte Teil-Segmente sowie speziell erwählte Einzelpersonen in die Hierarchie des Zentrums inkludiert. Siehe dazu: Burch 2010. Die Erfolgs-geschichte der Segmente bzw. der Kommunen reicht also mehrere Tausend Jahre in die Geschichte zurück. 306

So ist beispielsweise Sankt Michael der Schutzpatron von Zug. Die Gemeinden von Zug feiern bis heute indi-viduell. Siehe dazu einen Zeitungsartikel Agentur Zuger Presse 2012. Nicht zuletzt musste diese Dissertations-schrift unter Nennung des Bürgerortes eingereicht werden.

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als Peruaner andrerseits jedoch auch als Limeño oder Limeña (eine Person aus Lima). Dazu kommt

meist die Inklusion in eine Comunidad bzw. die Identität, welche auf der Teilhabe an einer bestimm-

ten Provinz, bzw. Kommune basiert. Cánepa betitelt diese mehrfache Identitätskonstruktion als die

Identität des „Nuevo Limeño“ (des „Neuen Limeño“, bzw. des neuen „Teilhabers“ an Lima). Dabei

bezeichnet das Wort „Bürger“ interessanterweise nicht unbedingt politische sondern vielmehr religi-

öse Zusammenhänge. Die Kommunen vermitteln heute auf eine mit funktionaler Differenzierung

kompatibler Art und Weise Identität. Die Kommunen haben politisch-religiöse Bedeutung. Die religi-

ös-wirtschaftliche Sinngebung innerhalb von Kommunen wurde anhand der Institution der „Fiesta

Patronal“ soeben erörtert. Der politisch-religiösen Sinn zeigt sich darin, wie die Schutzpatrone gefei-

ert werden. Diese religiös-politischen Sinnzusammenhänge sollen abschliessend kurz erläutert wer-

den, um kommunale Strukturen als Basis von Wirtschaftspatronage umfangreich zu verstehen.

Eine Kommune würdigt jeweils an einem bestimmten Tag im Jahr ihren ganz spezifischen Patron.

Ebenfalls die Stadt Lima feiert in den Strassen ihren Schutzpatron, den „Señor de los Milagros“ oder

die „Virgen de Rosaria“, der einzig offiziell von Rom anerkannten peruanischen Heiligen. An diesem

Umzug geht es auch darum, das religiöse Einflussgebiet der heiligen Vertreterin Limas zu demonstrie-

ren. Limas Teilnehmer und Teilnehmerinnen symbolisieren den weitreichenden Einfluss ihrer Heili-

Abbildung 9: Limas Virgen de Rosaria im internationalen Flaggen- und Menschenmeer

Quelle: Eigene Foto, eigene Akzentuierung durch Farbgebung, August 2010, Plaza de Armas, Lima

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174

gen mit Flaggen diverser, vor allem lateinamerikanischer Staaten (vgl. Abb. 9). Dabei wird das Religiö-

se auf das Politische appliziert. Politische Binnengrenzen werden mit religiösem Sinn gefüllt und poli-

tische Erwartungszusammenhänge rücken als politische Entitäten in den Hintergrund. Religion be-

steht in Peru aus verschiedenen, miteinander kompatiblen, konzentrischen Kreisen bzw. Segmenten

und zeichnet sich insofern durch eine identitätsstiftende „Binnendifferenzierung“ aus. Diese Binnen-

differenzierung beschränkt man nicht lokal sondern erweitert dieses Prinzip vor allem in Lima auf die

Ebene der Weltgesellschaft, indem man sich deren politische Semantik der Binnendifferenzierung

entleiht.

Der religiöse Einfluss von Limas „Virgen de Rosaria“ strahlt aber nicht nur international gegen aussen

in verschiedene, hauptsächlich lateinamerikanische Staaten (als das globale Merkmal, welches in der

lokalen Selbstbeschreibung Limas hervorgehoben wird), sondern auch nach innen bis in die entle-

gensten Provinzen des andinen Hochlandes wie zum Beispiel in das zerklüftete Gebiet von Chalhuan-

ca. Dabei generiert die religiös-politische Kommunikation eine Art „Asymmetrie“. So wird an den

lokalen Feierlichkeiten in Chalhuanca Werbung für die Prozession der „Virgen de Rosaria“ in Lima

gemacht (vgl. Abb. 10). Umgekehrt macht Limas Virgen keine Promotion für eine provinziale Schutz-

patronin oder -patron. Dies generiert religiöse Binnen-Asymmetrien. Sie können sich langsam verän-

dern und entwickelt, indem zuerst bloss gewisse Tänze einer bedeutenden Stadt an der Feierlichkeit

in einer Provinz auch zelebriert werden.307 Die Asymmetrie wirkt jedoch nicht exkludierend. Angehö-

rige würdigen Limas Schutzpatrons, aber auch ihrem oder ihrer jeweiligen kommunalen Heiligen.308

Die "Hermandades", die religiösen Zentren lokaler Schutzpatrons, also kommunale Vereinigungen,

die ihre "Imagenes", das heisst, die Statuen ihres Schutzpatrons auch in Lima bewahren, erschaffen

immer vollere Kalender, um ihre Präsenz in der Öffentlichkeit zu sichern. Seit den 80er Jahren, also

seit Gamarras Konsolidierung, werden auf Limas Hauptplatz andine Feste aus dem Hinterland durch-

geführt. Diversität wird laut Cánepa (2006, S. 233) zu einem „nationalen“ Gut. Wobei synkretistisches

Zusammenführen und Neukombinieren von religiösem Sinn seit Jahrhunderten in dieser Region re-

produziert wird.309 Schafft eine Kommune es, eigene Festlichkeiten zum Beispiel in den Kalender der

307

Siehe dazu: Cánepa 2006. 308

Limas Schutzpatrons sind mehr oder weniger tolerant; nicht jeder reist immer in seine Herkunftsgemeinde. Manche etwas einflussreichere, regionalen Heiligen tolerierten Limas Kleriker (zeitweise) offiziell, andere wer-den innerhalb von Migranten- und kommunalen Asociaciones in Lima inoffiziell verehrt, was jedoch komplett legitim ist und manchmal mit der Zeit offiziellen Status erreicht, weil der „fremde“ Schutzpatron oder die Schutzpatronin in Limas Kalender der religiösen Feierlichkeiten inkludiert wird. Der aus Cusco stammende „Se-ñor de Q'oyllur Riti“ bleibt zum Beispiel an seinem Patrons-Tag nicht in seinem Schrein in Lima, sondern wird in Limas Hauptkathedrale gefeiert. Diese Zeremonie wurde jedoch von der Kirche in den letzten Jahren etwas eingeschränkt. Siehe Cánepa 2006, S. 230ff. 309

Synkretismus entstand in den vielen Grossreichen, die sich in der Region immer wieder vor der Ankunft der Europäer bildeten, zum Beispiel in der Huari Kultur um 700 v.Chr. Auch die diversen andinen Schutzpatrons sind synkretistische Verschmelzungen zwischen christlichen und voreuropäischen Glaubensvorstellungen. Li-mas einflussreicher Schutzpatron, der dunkelhäutige „Señor de los Milagros“ ist eine Verschmelzung aus dem voreuropäischen Heiligen „Pachacamac“ (Erschaffer der Erde) und Jesus Christus. Die Küstenstätte von „Pacha-

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bedeutenden "Celebración del aniversario de Lima" zu integrieren, ersucht man um Teilnahme am

urbanen „Patrimonio des

centro historico von Lima“

(Cánepa 2006, S. 233f). Ga-

marras Unternehmer

netzwerke reproduzieren

sich also indirekt im Kontext

von religiösem Sinn. Wirt-

schaftliche Inklusion

via Netzwerke und religiöse

Reproduktion kommunaler

Strukturen gehen Hand in

Hand; das gemeinsame Fest

erinnert an den quasi glei-

chen Ursprung und bestärkt

die Patronage-Beziehungen

als „strong ties“.

Das Religiöse verarbeitet

dabei die Instabilität des

national Politischen. Die

politische Semantik ist

hauptsächlich eine Hülle der

andin-christlich religiösen

Semantik. Die Personen füh-

len sich als Teilhabende an

bestimmten Kommunen,

nicht weil diese besondere

politische Programme ver-

treten, sondern weil diese

einen bestimmten Schutz-

camac“ war lange vor der Ankunft der Spanier bereits in vorinkaischer Zeit und auch während der inkaischen Vorherrschaft wohl der bedeutendste interregionale Wallfahrtsort der gesamten andinen Grossregion. So er-staunt es nicht, dass die Spanier ihre Hauptstadt neben dieser heiligen Stätte bei Lima errichteten. Das Gebiet war bereits ein sehr einflussreiches religiöses Zentrum. Siehe zum christlich-andinen Synkretismus von Limas Schutzpatron: Rostworowski 2002, S. V.a. 97ff.

Abbildung 10: Promotion für Limas „Virgen de Rosaria“

an den kommunalen Feierlichkeiten in der Comunidad Chalhuanca (Apu-

rímac) zu Ehren ihres Schutzpatrons “Señor de los Animas“.

Quelle: Eigene Foto, Comunidad Chalhunaca, Apurímac, Juli 2002

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patronin bzw. den gleichen Schutzpatron verehren. Das Religiöse ist im Gegensatz zum Politischen

gut direkt an „formale“ Handlungsweisen anschliessbar. Es ist bei einer Fiesta Patronal immer ein

Priester dabei, der den rituellen Teil anleitet (vgl. Abb. 11).310

Abbildung 11: Fiesta Patronal mit dem Träger-Paar, der Schutzpatronin und dem Padre

Quelle: Eigenes Foto, Colca, eine abgelegenen Kommune in der Provinz Apurímac, Sommer 2002

Gamarras Unternehmensnetzwerke wurzeln in kommunalen, religiösen Sinnzusammenhängen. Dies

gilt insbesondere auch für internationale Kooperation. Gamarra ist bloss der verdichtete und sichtba-

re Kern eines Wirtschaftszentrums. Ein Netzwerk eines sehr einflussreichen Patrons besteht im Ge-

gensatz zu einem einfacheren Patron beinahe ausschliesslich aus Sub-Patrons, die wiederum Brü-

ckenpositionen besetzen. Insofern ist ein einflussreicher Patron ein Knotenpunkt mehrerer Unter-

nehmensnetzwerke, die ihm fertige Produkte zuliefern. Kommunale, religiös legitimierte Strukturen

sind mit dem Prinzip von Organisation kompatibel und genau diese Kompatibilität macht sie so er-

310

Es handelt sich dabei um eine Mischung aus christlichen und vorspanischen Praktiken. In vorspanischen Zeiten besass jede Kommune bzw. jeder Gross-Clan seinen Schutzpatron oder seine Schutzpatronin in Form eines Schreins (Huaca in Quechua). Dieser wurde an bestimmten Anlässen, wie heutzutage das christliche Heili-genbild, durch die Strassen getragen. In dieser Hinsicht wäre ein Vergleich mit anderen Regionen zum Beispiel der Schweiz spannend.

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folgreich in Gamarra. Kommunale Erwartungszusammenhänge scheinen vor allem bezüglich höherer

Positionen eine wichtige Rolle zu spielen, wenn es um die Organisation von Galerien geht.

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6.2.2 Arten der Vernetzung einflussreicher Patrons innerhalb Gamarras

Wie sind die Galerien, die Zentren der Gamarra, heutzutage organisiert? Im Unterschied zum voran-

gehenden Kapitel soll an dieser Stelle der Fokus nicht auf Patron-Subpatron sondern auf Patron-

Patron-Beziehungen gelegt werden. Es geht nun um die Organisation des Zentrums der Gamarra.

Geht man durch die belebtesten Einkaufszeilen Gamarras, fallen jedem Besucher die für Lima unty-

pisch hohen mehrstöckigen Gebäudekomplexe auf: Sogenannte „Galerias“, in welchen produziert

aber vor allem ausgestellt und verkauft wird. Vorerst betrachte ich drei Arten der Vernetzung von

Patrons, um danach auf ein Patron-Netzwerk, das mehrere Galerien beinhaltet, zu sprechen zu

kommen.

Kapitel „6.1.1. Politische Funktionen“ erörtert, wie „der Patron“ sich um die Sicherheit innerhalb

seiner Galerie sorgt, indem er eine private Sicherheitsagentur beschäftigt. Doch wer oder was ist

„der“ Galerie-Patron? Wie wird diese persönliche Variante von „Staatlichkeit“ innerhalb einzelner

Galerien organisiert? Welche Möglichkeiten wurden erfunden? Ist der Patron immer nur eine Per-

son? Zu den ältesten noch reproduzierten Problemlösungsmöglichkeiten, Galerien zu organisieren,

zählen 1) Erwartungen, die kommunal-politische Organisation auf neue Art reproduzieren. Die Gale-

rie „Santa Lucia“ gehört zu den ältesten Galerien Gamarras. Maricela, eine Tochter eines Unterneh-

mers, der noch in der Galerie „Santa Lucia“ ein Geschäft kaufte, erzählt davon, wie sich die Patrons

organisierten: “Gut, in dieser Galerie besass zuerst die Gebäudebaugesellschaft die Administration,

diejenigen, welche [die Galerie] erbauten, nicht wahr? Aber der Vertrag sah vor, dass nach Ablauf

einer bestimmten Anzahl von Jahren die Administration dieser Galerie mittels einer ‚Junta directiva‘

an die Eigentümer übergeht. Deshalb wählen sie jedes Jahr eine ‚Junta directiva‘ bestehend aus fünf

Personen, die sich um die Administration der Galerie kümmern. […]. Dies war die ‘Junta der Eigentü-

mer’” (Burch 23.07.2011).311 Die Galerie wird also von gewählten Personen geführt, welche darin

tätig sind. Die Organisation der Galerie gleicht somit der andinen kommunalen Organisation, deren

Bürgermeister ebenfalls alle ein bis vier Jahre demokratisch von den Mitgliedern des Segmentes bzw.

der Gemeinde gewählt werden. Es gibt jedoch beträchtliche Unterschiede zur ländlich-politisch

kommunalen Organisationsform. Die Frage lautet: Wie wird die „Junta directiva“ gewählt? Die Spezi-

alistin detailliert: “... Allen gehört die Galería auf unterschiedliche Art. […] So haben sie eine ‚Junta

von Besitzern‘, die man jedes Jahr wählt und die damit beauftragt wurde, die Mietzinsen der gemie-

teten Stände einzuziehen, Geld einzuziehen für den Erhalt [der Galerie], sei es für die Sicherheit…. für

311

Original: “Bueno, en esta galería primeramente la administración tenía la inmobiliaria, ellos que la han construido, no? Pero el contrato tenía que después de una cantidad de años esta galería pasa a ser administrada por los proprietarios a través de una Junta. Por eso ellos sacan cada año una Junta de cuatro cinco personas que se encargaban de la administración de la galería. [...] Entonces eso era la Junta de los Proprietarios” Burch 23.07.2011.

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alles. Und jedes Jahr wählen die Besitzer, das heisst eine Wahl für eine neue ‚Junta directiva‘, nicht

wahr. Jede Person besitzt ein Teilnahmerecht, klar, es hängt vom Stockwerk ab. Pro Stockwerk hat es

sechs Läden, aber im Keller gibt es gut vierzig Geschäfte. Alsdann gibt es mehr Eigentümer unter dem

Boden als oben. So hat jeder Besitzer einen prozentualen Anteil der Galerie; das heisst, [ein Ladenbe-

sitzer] hat eine bestimmte Anzahl von Stimmen“ (Burch 23.07.2011).312 Diese Galeríe aus den 70er

Jahren wird also nicht von einem Patron in Eisenstadts Sinne, sondern von einem Patronat organi-

siert. Wie sich dieses Patronat zusammensetzt, bestimmten die Meist-Besitzenden. So mutet die

Organisation der Galerie zwar demokratisch an, doch sie ist eher mit dem Modell einer AG vergleich-

bar als mit einer auf Gleichheit basierenden Entität. Die teuersten Geschäfte im Erdgeschoss sind am

wertvollsten. Dahingegen besitzen die vielen unterirdischen Geschäfte wenig Mitspracherecht. Mari-

cela erzählte meistens in der Vergangenheitsform. Die Praktiken scheinen sich geändert zu haben.

Inzwischen stieg der Liegenschaftspreis in dieser Galerie derart stark an, dass sich heute selbst in den

oberen Stockwerken nicht drei oder vier sondern dreissig kleine Geschäfte befinden. Diese interne

Zersplitterung hat mehrere Gründe.313 Der Zugang zu den Netzwerken einer Galerie ist derart wert-

voll, dass in vielen Galerien nicht mehr produziert wird. Die Produktion wurde oft in andere Quartiere

Limas, zum Beispiel nach San Juan de Lurincancho ausgelagert. Mit der Zersplitterung entfällt jedoch

auch die Kontrolle der Besitzenden; die oberen Stockwerke unterscheiden sich kaum mehr von den

Kellerstockwerken. Die einst grossen Geschäfte verloren durch ihre Zersplitterung an Einfluss. Die

„Juntas directivas“, sind deshalb im Verschwinden begriffen. Sie waren vor allem in den 80er Jahren

verbreitet.

Der tendenzielle Rückgang der „Juntas de directiva de los Proprietarios“ soll jedoch nicht bedeuten,

dass sich kommunale Strukturen als Organisationsform der Galerie zurückbilden. Um eine Galerie zu

errichten braucht es vor allem viel Kapital. Wie wird dieses Problem gelöst, wenn den Migranten der

Zugang zu den Banken grösstenteils unmöglich ist, da sie als Unternehmer informal jenseits von Quit-

tungen und Eigentum operieren? 314 Maricela sagt dazu: „Gut, es gibt auch andere Galerien, welche

von Landsmännern [paisanos] geformt werden. Landesmänner, das heisst wie im Falle der Puneños

312 Original: “....a todos le pertenece a la galería por diferente manera. [...] Entonces ellos tienen una junta de proprietarios que se elige cada año y que se encargó en cobrar los alquileres de los puestos que alquilan, cobrar el mantenimiento, sea seguridad, todo. Y cada año los proprietarios escojen... sea una elección para una nueva junta directiva, no? Cada persona tiene una participación, claro, depende por piso, por piso hay seis tiendas pero en el sótano hay como cuarenta tiendas. Entonces hay más proprietarios abajo que arriba. Entonces cada dueño tiene un porcentaje del propriedad de la galería; entonces tiene una cantidad de votos” Burch 23.07.2011. 313

Eine Ursache, wieso die Unternehmer keine grossen Geschäfte mehr wollen, wurde in Kapitel 6.2.1 Symmet-rische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen“ erörtert. Eine Kleinunternehmerin be-richtet dabei, dass „Kleinheit“ eine Strategie ist, um der überlasteten Steuerbehörde auszuweichen. Die Behör-de wurde in den letzten Jahren auf die Zentrumsentwicklung, bzw. auf die eintragsreichen Unternehmen der Gamarra aufmerksam. 314

Die Kommunen sind schon seit Jahrhunderten stark auf wirtschaftliche Zusammenhänge ausgelegt. Siehe zum geschichtlichen Hintergrund Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommuna-le Strukturen.

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[Leute aus Puno], die zwei Galerien in der Gamarra besitzen. Das ist gleich, es tun sich vier, fünf In-

vestoren zusammen, die alle Mitglieder derselben Provinz sind und kaufen ein Grundstück und bauen

eine Galerie, nicht wahr. Und dann legen sie eine gewisse Anzahl an Läden in dieser Galerie an und

verkaufen sie. Aber es sind sie, welche die ganze Galerie administrieren“ (Burch 23.07.2011).315 Pat-

rons adaptieren also kommunale Erwartungszusammenhänge 2.) auf wirtschaftliche Organisation.

Die segmentäre Struktur wird nicht nur als Alternative oder Vermittlung zur Bank nutzbar gemacht

sondern auch dazu, um die Infrastruktur der Galerie zu organisieren und gegebenenfalls zu erwei-

tern. Wie die „Junta directiva“ sind die Administratoren selbst Unternehmer. Sie haben als einfluss-

reiche Patrons jedoch Zugang zur wirtschaftlichen Formalität. In Kapitel 6.2.1 Symmetri-

sche/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen wurde bereits in verschiedenen

Kontexten darauf hingewiesen, dass ethnische Netzwerke Stadt-Land Differenzen überbrücken und

in der Gamarra erfolgreich sind. Aber nicht alle dieser Netzwerke schaffen es, sich als Patrons in Ga-

lerien zu organisieren. Eines der einflussreichsten Patron-Netzwerke ist dasjenige der Puneños

(Kommuneros aus dem südlichen Peru). Das Netzwerk ist exklusiv und grenzt sich auch durch die

Sprache „Aymara“ einer indianischen Minderheitensprache, die in Peru nur im äussersten Süden

gesprochen wird, vom anderen indianischen Idiom, dem „Quechua“, der meist gesprochenen indiani-

schen Sprache der Welt, ab. In Gamarra findet man Leute, welche die „Aymara“ als Rassistisch be-

zeichnen, da sie die „Quechua“ nicht in ihre Netzwerke lassen und sich untereinander in Aymara

verständigen. Der Anthropologe Golte erzählt von eigenen Erfahrungen: „Die Quechuas beschuldigen

die Aymara, Rassisten zu sein, weil in ihre Netzwerke, in die Netzwerke der Aymara können sie nicht

beitreten; niemand, der nicht zu ihnen gehört. Und viele sprechen die Aymara-Sprache und auch als

ich sie fragte, woher sie das Kapital haben, um sich ihre Territorien [zum Errichten von Märkten] zu

kaufen, begannen sie untereinander in der Aymara-Sprache zu diskutieren. Dann sagte ich ihnen:

‚Aber nicht doch, wir sind Freunde und in Europa ist es ein wenig Brauch, dass man die Sprache

sucht, die alle sprechen, damit zwischen Freunden kein Misstrauen entsteht‘. – ‚Ja, ja, wir wissen,

dass du unser Freund bist, aber die SUNAT [die Steuerbehörde] kann kein Aymara‘. Sie sind sehr ge-

schickt“ (Burch 16.07.2011a).316 Kommunal, verwandtschaftliche Erwartungszusammenhänge repro-

duzieren die Aymara in vielen Situationen. Altamirano (1988) schrieb schon früh ein Buch über kol-

315

Original: „Bueno de otras Galerías también hay formados por paisanos. Paisanos, digamos como en el caso de los Puneños que tienen dos galerías allá en Gamarra. Este es igual; se juntan entre cuatro, cinco inversionistas que son todos paisanos de la misma provincia y compran el terreno y construyen una galería,no? Y colocaban una cantidad de tiendas en esta galería y se las venden pero son ellos que administran toda la galería” Burch 23.07.2011. 316

Original: „Los quechua acusan a los Aymara de ser rasistas porque a sus redes, a los redes aymaras no entran, nadie que no pertenezga a ellos. Y muchos llevan acabo hablando el aymara y precisamente cuando yo estaba preguntando por el origen del capital que tenían para comprarse sus terrenos, entre ellos empezaron a hablar en Aymara. Entonces yo les digo pero no, pero somos amigos y en Europa es un poquito la costumbre que uno busque la lengua que todos hablen para que no se crea desconfianza entre amigos. ‘Sí, sí nosotros sabemos que tu eres nuestro amigo pero la SUNAT no sabe aymara.’ Son muy muy hábiles” Burch 16.07.2011a.

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lektive Überlebensstrategien der Aymaras in Lima: Über interfamiliäre Tauschsysteme (Ayni), über

Nachbarschafts-Kommunen innerhalb Limas – es migrierten ganze Kommunen nach Lima und siedel-

ten sich in einzelnen Distrikten nachbarschaftlich an – und über Asociaciones, die auf diesen nach-

barschaftlichen Strukturen basieren. Diese adaptierten sich an ein städtisches Umfeld und organisier-

ten vor allem in den Anfängen zum Beispiel als „comedor popular“ (populäre Kantine) die Verkösti-

gung der Dorfmitglieder. Altamirano bezeichnete diese Institutionen der Aymara in den 80er Jahren

als Überlebenspraktiken; heute hat sich das Bild gewandelt. Die kommunalen Strukturen, welche

Altamriano noch als urban-rurale Überlebensstrategien marginaler Personen beschreibt, bewähren

sich bis heute auf immer neue Art, um wirtschaftliche Kommunikation zu organisieren und diese

teilweise gar erfolgreich auf die Administration von Märkten, sprich Galerien zu monopolisieren.

Nicht alle kommunalen Segmente reproduzieren sich derart erfolgreich in Gamarra. Manche Migran-

ten lösten sich mehr oder weniger von kommunalen Erwartungen. Die Aymara aus Puno sind für ihre

starken segmentären Erwartenserwarungen jedoch bekannt. So meinte auch eine Angestellte in Li-

ma, dass: „… die Leute aus Puno sind ein Volk, das etwas maliziös ist. Es ist ein Volk, das etwas miss-

trauisch ist“ (Burch 17.07.2011),317 weil sie ihre kommunalen Mitglieder stark bevorteilen. Die seg-

mentären Erwartenserwartungen der Aymara aber auch die Art, wie sie fremdbeobachtet werden,

erinnert entfernt an die Juden.318 Auch die Minderheit der Aymara reproduziert segmentär-

familiäre Strukturen besonders erfolgreich im Kontext von Wirtschaft. Dass solche segmentären Ar-

ten der Vernetzung von Ayamara Patrons heutzutage sehr erfolgreich sind, betont auch der Anthro-

pologe Golte in seinem Interview. Dieses Patronat besitzt informalen Zugang zu informalen Erwar-

tenserwartungen anderer Variationen in der Weltgesellschaft. Die Aymara „kennen“ Zöllner und

mieten turnusmässig Flugzeuge, um Kleider und Stoffe aus China zu importieren. Eine Tatsache, die

zeigt, dass sich Teile der Gamarra angesichts weltweiter Konkurrenz mehr und mehr auf den Verkauf

und nicht auf die Produktion von Kleidern spezialisieren. Anfänglich kauften die Aymara als Zwi-

schenhändler Kleider bei den eingewanderten Chinesen in Lima. Bald waren die Aymara bestrebt,

einzige Zwischenhändler zu sein. Eine Gruppe von Aymaras “mietete sich ein Flugzeug, zuerst um

Waren einzukaufen – sie hatten ihre Sache mit dem Zoll, wobei ich nicht weiss, wie sie dies machen –

und brachten ein Flugzeugt voller Marktwaren. Und das war ein grosses Geschäft [….]. Und seither ist

es institutionalisiert, dass sie immer wieder ein Flugzeug schicken; insbesondere an Weihnachten

und auch an jenen Tagen wie am 28. Juli, wenn die Leute spezielle Gratifikationen erhalten, schicken

sie ihre Flugzeuge, um Güter einzukaufen und so machen sie ihre Geschäfte als Händler. Sie sind in

317

Original: “....la gente de Puno es una gente un poco más maliciosa. Es una gente un poco más desconfiada” Burch 17.07.2011, 318

Interessanterweise pflegten die Aymara in vorspanischen Zeiten auch einen eigenen Kult. Sie verehrten einen Schöpfergott namens „Viracocha“. Ein Teil des inkaischen Zentrums interessierte sich für diesen Kult, welcher die Entstehung der Welt genereller erklärt und den Ursprung aller Völker thematisiert. Siehe: Szemiñsky 1997.

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diesem Sinne sehr globalisiert“ (Burch 16.07.2011a).319 So sind heutzutage einige der erfolgreichs-

ten Patrons sehr ähnlich wie in den Kommunen organisiert. Das ist erstaunlich. Im vorherigen Kapitel

wurde erörtert, wie einzelne Patrons als Vermittler zu anderen Differenzierungsvarianten in der

Weltgesellschaft auftreten. Die Aymara üben diese Rolle kollektiver aus; sie sind als kommunale

Gruppe Vermittler zu Patrons anderer Differenzierungsvarianten in der Weltgesellschaft. Erstere

Patrons spezialisieren sich auch auf Vermittlerrollen zu formalen Unternehmen. Dies erörtert Kapitel

7. Die kommunalen Patronsnetzwerke der Aymara spezialisieren sich hingegen noch mehr auf infor-

male Wirtschaftskommunikation. Die Aymaras vereinen verschiedene Wirtschaftszentren. Sie sind

Brücken zwischen ganzen Clustern, die sich auf verschiedene Funktionen spezialisierten. Die Aymara,

bzw. Puneños besitzen und administrieren nicht nur Textil-Galerien sondern dominieren auch das

angrenzende Zentrum, „Conglomerado metal mecánico“, durch dessen Pforte unter anderem Textil-

Maschinen importiert werden.320 Wie schafft es dieser Clan, ganze Galerien exklusiv zu besitzen und

zu verwalten? Die Aymara handeln schon seit Jahrhunderten interregional. Anders als die Kommunen

der Quechua, die zwischen verpflanzten Clan-Gruppen Austauschbeziehungen pflegten, spezialisier-

ten sich die Aymara zusätzlich auf Handelskommunikation. Golte (Burch 16.07.2011a) vergleicht die

Aymara mit den Phöniziern des Mittelmeeres. Die Aymara waren, „diejenigen, welche den Transport

organisierten, den Fernhandel organisierten und dies bis heute tun. Zum Beispiel kenne ich welche,

die Verkäufer von Schuhzubehör sind, Nägel, Sohlen… all dies und sie machen es in ganz Peru! Es

besteht eine lange Tradition. Die Aymara sind Händler aus erster Hand und es gibt sie auch in der

Gamarra“ (Burch 16.07.2011a).321 Die Aymara erfanden also nicht nur eine eigene Art, Galerien in der

Gamarra zu administrieren, sondern betreiben Handel im Style von McDonalds: Nämlich überregio-

nal Läden zu eröffnen mit ähnlichen Produkten. Man könnte den Clan eventuell gar mit dem mittelal-

terlichen Ritterorden der Templer vergleichen, falls die Aymara auch interregional Geld verkaufen.

Schaut man in die Geschichte zurück, zeigt sich ein interessantes Bild. Die Aymara waren laut Stanish

(2003) Herren einer Gesellschaft, die mehrere Jahrhunderte vor dem Inkareich ein Zentrum von einer

Peripherie differenzierte: Das sogenannte Reich der Tiwanaku. Deren Kernzone konzentrierte sich

vom Titicacasee spinnenförmig auf das südliche Peru und das nördliche Bolivien. Das Kerngebiet in-

319 Original: “...alquilaron un avión, primero para comprar mercancia, tenían sus cosas con la aduana, de que no se como hacen esto, y traían un avión lleno de mercancia. Y eso era un gran negocio.[...] Y de allí se institucionalizó que cada tiempo mandaban un avión, especialmente para navidad, también por esas fechas, el 28 de julio cuando la gente tiene gratificaciones especiales, mandan sus aviones para comprar bienes y así hacer su ganancia como comerciantes. Son – en ese sentido digo bastante globalizados” Burch 16.07.2011a. 320

Auch Gonzales 2001, S. 28f verweist auf die familiären gut integrierten Netzwerke der Puneños im Mecha-nikmetall Cluster. Es wäre interessant, die kommunikativen Verbindungen zwischen den unterschiedlich spezia-lisierten Clustern genauer zu untersuchen. 321 Original: “...siquiera los que organizaron el transporte, organizaron el intercambio de larga distancia y hasta hoy los aymara tienen eso. Por ejemplo conozgo unos que son vendedores de implementos para arementar zapatos, clavos, suelas todo eso y lo hacen en todo el Perú! Hay una tradición larga. Los Aymaras son negociantes de primero orden y también en Gamarra hay!” Burch 16.07.2011a.

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kludierte schon damals ca. 200km entlegene Enklaven bzw. Segmente.322 Werden die Geschäfte der

Aymara heutzutage auch in gewissen Enklaven betrieben oder sind deren Aktivitäten in ganz Peru

verstreut? Die Frage kann hier nicht beantwortet werden. Aymara besitzen nicht nur in Gamarra

ganze Galerien sondern erstellten auch im weiteren Lima gesamte Märkte. Ein interessantes Beispiel

ist das Aymara-Dorf Unicache, das in Lima zum Beispiel in den Micro-Combis eines der Hauptge-

sprächsthemen ist, wenn es um Wirtschaft geht. Immer wieder wiesen Insassen mich darauf hin, dass

dieser und jener Markt den Aymara-Bewohnern aus Unicache gehöre. Doch wie akkumulieren sie all

dieses Kapital, um sich gesamte Märkte und Galerien zu kaufen? Golte stellte sich diese Frage auch:

„Sie [die Aymaras von Unicache] besitzen Märkte in allen Conos [Stadtgebieten]!323

Märkte! Und einen Supermarkt im nördlichen Cono... [Unicache] ist ein kleines Dorf

an der Grenze von Peru und Bolivien. Und ich möchte immer herausfinden, von wo

sie das Geld haben, um dies zu tun. Sie sagen mir: ‚Uy, wir stehen früh auf; wir ar-

beiten sehr viel‘, aber wenn man schaut, wie viel ihnen nur schon das Grundstück

gekostet haben musste… niemand steht so früh auf [lacht]…. um sich ein Grund-

stück von 100‘000m2 für einen Supermarkt zu kaufen. Aber wenn man das Dorf

Unicache anschaut, verstehe ich perfekt, dass sie genau an der Grenze von Peru

und Bolivien sind und sie sind Experten darin… Es gibt dort also eine Akkumulation

in anderer Form und dies [dieses Geld] haben sie hier realisiert, indem sie Märkte

bauten“ (Burch 16.07.2011a).324

322

Die Hochphase der Tiwanaku konzentrierte sich auf 800 bis 900 v.Chr. Insgesamt übten die Aymara jedoch von 300 bis 1000 v.Chr. einen Einfluss auf das gesamte südliche Andengebiet aus. Das Reich war zusammenge-schlossen mit dem nördlichen Grossreich der kriegerischen Huari. Der Handel mit Küstengesellschaften spielte bei den Ayamaras eine zentrale Rolle. Siehe: Stanish 2003. Die Geschichte der Tiwanaku ist verknüpft mit der Geschichte des Inkareiches. Dieser Punkt soll an dieser Stelle jedoch nicht ausgeführt werden. 323

Die Conos bezeichnen die drei grossen metropolitane Räume Limas. Sie sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Sie wurden in den vergangenen Jahrzehnten von Migranten aus dem Landesinnern „besetzt“ und zu sogenannten illegalen „Barriadas“, „Elendsvierteln“ umgeformt. Heute sind die Conos jedoch legalisierte moderne Stadtkerne, in welchen die Mehrheit der Bevölkerung wohnt. Um genau zu sein, wohnten im Jahre 2003 von den 8 Mio. Einwohnern beinahe 5 Mio. in den sogenannten Conos. Die Bewohner Limas sprechen jedoch nicht mehr von den Conos, sondern von Lima Norte (Nord Lima), Lima Este (Ost Lima) und Lima Sur (Süd Lima), da man den metropolitanen Raum Limas nicht in ein Lima und in die Conos teilen will. Die neuen Be-zeichnungen machen diesen Unterschied nicht mehr und sprechen allesamt von Lima. Siehe zu den Stadtgebieten: Arellano und Burgos 2004. 324 Original: “...tienen mercados en todos los conos, mercados (¡!) y un mercado mayorista en el cono del norte.... [Unicache] es un pueblo chico de aymara en la frontera entre peru y bolivia. Y yo siempre quiero sacar de dónde tiene el dinero para hacerlo?! Me dicen: ‘Uy nos llevantamos muy temprano, estamos trabajando mucho”, pero cuando uno mire más o menos cuanto le va haber costado el terreno no más, nadie se levantando tan temprano para... [lacht]... para comprarse un terreno de 100’000 m2 para un mercado mayorista. Pero cuando se ve el pueblo de Unicache entiendo perfectamente bien que están exactamente en la frontera entre peru y bolivia y ellos son expertos en esto... Entonces hay una acumulación allí de otra forma y esto han realizado aca construyendo mercados” Burch 16.07.2011a.

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Es fällt auf, dass mitten durch das ehemalige Einflussgebiet der Tiwanaku heutzutage die national-

staatliche Grenze zwischen Peru und Bolivien verläuft. Die Personen dieser Kommune fühlen sich

jedoch nicht (nur) entweder als Bolivianer oder als Peruaner, sondern als Aymara. Politische Formali-

tät kann man sich zunutze machen. Die politische Grenze trennt das Dorf nicht, sondern bringt es

geradezu verstärkt zusammen; kommunale Strukturen und Austauschbeziehungen werden wegen

der formalen Grenze verstärkt in Form von wirtschaftlicher Kommunikation reproduziert. In Bolivien

traut man der formalen Finanzkommunikation des Zentrums noch weniger als in Peru. Die Comune-

ros müssen die Einkünfte also anderweitig anlegen: Sie investieren in Märkte. Informal erworbenes

Geld fliesst dann nicht ins Zentrum des Wirtschaftssystems, sondern wird in urbanen Zentren der

Region investiert.

Zurück zu den Textil-Märkten bzw. den „Galerias“, den Kleider-Ausstellungsmärkten Gamarras. Ne-

ben den „Juntas directivas“ und den ethnisch-exklusiven Arten der Vernetzung einflussreicher Pat-

rons gibt es noch eine dritte Variante, wie Galerien organisiert werden. Die geordnetsten Galerien

sind 3.) im Besitz von einzelnen Familien. Eine Tochter eines Patrons erzählt: “Im Falle der ‘Guizados’,

ist es eine Familie, die Eigentümerin einer Galerie ist. Sie verwalten die Galerie. […] Du hast deinen

Stand und nichts weiter. Es wird keine ‘Junta directiva’ gewählt, niemand. Es ist immer die Familie,

die Guizados” (Burch 23.07.2011).325 Laut der Expertin handel es sich um Patrons, die von aussen (de

afuera) bzw. „von Lima“ sind. Das heisst, sie begannen oder spezialisieren ihre Karriere nicht in Ga-

marra. „Der ‚Párque Cánepa‘ ist nicht von Leuten, die früher in der Gamarra arbeiteten, nicht wahr.

Normalerweise sind es Leute aus der Gamarra…. die hier arbeiteten, die hier anfingen, aber sie sind

Leute, sagen wir, von aussen, von Lima, von einem anderen Ort…. Die hingehen und ein Territorium

kaufen und dort bauen, weil es ein guter Ort ist, um Geld zu investieren, nicht wahr“ (Burch

23.07.2011).326 Die Familie Cánepa kam nur insofern von „aussen“, als dass sie in kein kommunales

Segment inkludiert ist. Es handelt sich um die gleiche Familie, welcher als Hacendado das ganze Terri-

torium gehörte. So ist die teuerste Galerie „Párque Cánepa“ in Familienbesitz. Im Falle des Párque

Cánepa vermietet der Eigentümer die Läden nur. Ein Indiz, dass zwischen dem Galerienbesitzer und

den Verkaufschefs kein (multifunktionales) Patronageverhältnis besteht. Es müsste jedoch unter-

sucht werden, wie der Eigentümer die Mieter auswählte. Es ist lukrativ, in dieser gut frequentierten

Galerie zu verkaufen. Werden die Plätze nur an „amigos“ vermittelt? Die Frage kann hier nicht be-

antwortet werden. Die Expertin meinte zur Galerie „Párque Cánepa“ weiter: “Das heisst, nicht ein

325 Original: “En el caso de los “Guizados”, es una familia que es dueña de una galería. Ellos siguen administriendo las galerías, sí. [...] Tu tienes tu stand, nada más. No se escoge una junta directiva, nadie. Siempre administra la familia que son ellos, los Guizados” Burch 23.07.2011. 326 Original: “Tanto El Rey como el parque Cánepa no son de gente que trabajaba antes en Gamarra, no? Porque de normal son Gente de Gamarra que... ha trabajado allí, que iniciaban allí pero ellos son gente digamos de afuera, de Lima, de otra parte... que van y compran un terreno y construien allá porque es un buen lugar para invertir dinero, no?” Burch 23.07.2011.

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Laden wurde verkauft. Alle sind gemietet, weil der Besitzer des kommerziellen Zentrums von der

Municipalidad [Limas Stadtverwaltung] ist, er ist nicht von hier. Die Municipalidad verschaffte diesen

Leuten [den Cánepas] Beziehungen [conexión], damit sie bauen; sie [die Standinhaber] mieten es“

(Burch 23.07.2011).327 Die Eigentümer pflegen mit der lokalen Gemeinderegierung also ein gutes

Verhältnis. Dies dürfte eventuell auch ein Grund sein, wieso die SUNAT, die Steuerbehörde diese

Galerie besonders stark frequentiert. Die galerieinternen Konflikte, die daraus entstehen, erörtert

Kapitel 8. Über dem semi-unterirdisch gebauten Marktplatz thronen zudem auch die wichtigsten

Banken und eine grosse Kantine mit verschiedensten Fastfood-Ketten. Letzteres ist in Gamarra ein-

malig.

Es gibt also neben der indivuellen Organisation von Galerien drei weitere Möglichkeiten. Die Analyse

dieser Möglichkeiten führt uns auf das in Kapitel 6.1.1 erwähnte Konfliktverhältnis zwischen politi-

schen Leistungsrollenträgern und Patrons zurück. Manche Patrons, vor allem eine Familie, schliessen

an den Erwartungen der lokalen Behörden an. Es erhebt sich die Frage, ob sich hinsichtlich des Um-

gangs mit der Politik in Gamarra mindestens zwei elitäre Netzwerke differenzieren, wenn es um die

Organisation von Galerien geht. Der Besitzer der Verkaufs-Galerie „Párque Cánepa“, arbeitet mit der

Municipalidad, während die restlichen Galerien-Patrons sich gegen die politischen Leistungsrollen-

träger zusammenschlossen. Diese beiden Gruppen kommunizieren kaum, ansonsten handelt es sich

um Konfliktkommunikation. In Gamarra herrscht ein latenter, immer währender Konflikt zwischen

diesen beiden mehr oder weniger getrennten Netzwerken.

327

Original: “Sea, ni una tienda se vendía, son todos alquiladas porque el dueño del centro comercial al fin es del municipio, no es de aca. El municipio daba conceción a esta gente para que ellos lo construyan, lo alquilen” Burch 23.07.2011.

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Der Párque Cánepa scheint noch in anderen Belangen ein Sonderfall zu sein. Im Gegensatz zum

Párque Cánepa nehmen sich die restlichen Galerien eher jeweils als Einheit wahr und treten gegen

aussen wie in Abb. 12 als „Galerie“ auf. Sie treten als einzelne Agenten in einem organisierten Netz-

werk der „Coordinadora de Empresarios de Gamarra“ auf. Dieser Zusammenschluss von Patrons,

deren Karrieren im Textilsektor begann und sich auf Gamarra konzentrieren, wendet sich vorderhand

gegen lokal-politische Kommunikation. Diesen Widerstand zeigt ein Plakat, welches die „Privatisie-

rung der Gamarra“ bzw. den Verkauf von öffentlichen Räumen, wie Strassen und Parkanlagen an-

prangert (vgl. Abb. 12): Man lasse nicht zu, dass öffentliche Räume wie der „Párque Cánepa“, in wel-

chem in 300 Geschäften mehr als 1‘400‘000$ Umsatz pro Jahr erwirtschaften, vom Bürgermeister an

private Investoren verkauft werden. Ein Auslöser dieses Protestschreibens ist der Bau halb-

unterirdischer Toilettenanlagen, deren Baustellen zwei zentrale Strassen beinahe unpassierbar ma-

chen und im Falle einer Katastrophe sämtliche Fluchtwege abschneiden. Das Plakat verweist auf die

gravierende Einschränkung offener Fluchtwege, welche im Falle eines Erdbebens von grosser Bedeu-

tung wären. Erdbeben sind am pazifischen Feuergürtel keine Seltenheit. Der Bauherr dieser Toilet-

ten-Anlagen verletzt aus Sicht der „Coordinadora“ das Allgemeingut „Strasse“. Das Plakat ruft des-

halb zum Streik auf. Gamarra soll die Arbeit in Protest gegen die Privatisierung der Strassen niederle-

Abbildung 12: Protestmitteilung der „Coordinadora de Empresarios de Gamarra“

Quelle: Eigenes Foto, Sommer 2010, Gamarra

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gen und an einem Protestmarsch zum nationalen Gerichtshof teilnehmen. Die Mitteilung endet mit

der Betonung: “Nein, zu den Toiletten in den Strassen, nein zur Korruption, nein zum Ende der Gale-

rien. [...] Nein zum Verkauf von Strassen und Parks. Alle zusammen vereint, um Respekt zu fordern

und die Korruption zurückzuhalten“ (vgl. Abb. 12).328 Das Plakat kommuniziert eine starke Abneigung

gegen politische Leistungsrollenträge und Patrons, welche mit diesen in Gamarra kommunizieren.

Die meisten Patrons von Gamarra haben vor Grossinvestoren um ihre Galerien Angst, insbesondere

weil der Bürgermeister gemäss der Patrons der „Coordinadora“ nicht modern-politisch agiert, son-

dern Territorien auserwählten Personen verkauft. Der Párque Cánepa wird von Gamarras langjähri-

gen Wirtschaftspatrons nicht als Galerie sondern als fremde Einmischung wahrgenommen, obwohl

es sich ebenfalls um ein Gebäude handelt, das – wie es für eine Galerie üblich ist – mehrere Hundert

Stände beherbergt. Zugleich findet der Vorsteher dieser Vereinigung von Patrons auch das Einziehen

von Steuern als nicht legitime Einmischung: „Alles haben wir gemacht… und jetzt kommen sie, um

uns zu zerstören!?“ (Burch 20.07.2010).329 Es fanden mehrere Protestmärsche statt, die jedoch wenig

Wirkung zeigten.330 Es ist zudem nicht einfach, die Unternehmer für einen Protest zu mobilisieren.

Die Unternehmer können sich die damit einhergehenden Verluste des Tagesgeschäftes kaum leisten;

des Weiteren ist nicht ganz Gamarra von der Strassenblockade betroffen. Die Unternehmerpatrons

verstehen die Forderungen der fremden politischen Leistungsrollenträgern nicht.331 Das politische

Projekt des Toilettenbaus wird von Gamarras Kundschaft bestenfalls als politische Propaganda ver-

standen: Die Politik müsse noch schnell ein sichtbares Zeichen für ihr Publikum setzen, weil bald Bür-

germeister-Wahlen anstünden.332 Das parteipolitische Publikum verdächtigt in der modernen politi-

schen Kommunikation schnell versteckte patronagehafte Interessen. Demgegenüber freut sich der

Bürgermeister nicht an den kommunalen, selbstorganisierten Patrons von Gamarra, da sie zum Teil

Steuern und Abgaben umgehen. Beide Parteien beschuldigen ihr Gegenüber, nicht modern zu operie-

ren und entweder korrupt oder informal zu sein. Ich komme auf dieses Problem gegen Ende dieses

Kapitels im Zusammenhang mit Netzwerken zurück.333 Ich möchte an dieser Stelle den Zusammen-

schluss der kommunalen Patrons, die „Coordinadora de empresarios“ genauer erörtern.

Die Feindschaft zwischen den Behörden und den Unternehmern ist auf den ersten Blick nicht sicht-

bar. Sie wird jedoch umso stärker beobachtbar, wenn man Gamarras Teilnehmer eingehend beo-

328

Original: „No a los Baños en Calles, no a la corrupción, no al Remate de Galerias [...] No a la venta de Calles y Parques. Todos juntos para exigir respecto y detender la corrupción” (vgl. Abb. 12). 329

Original: „Todo hemos hecho nosotros… para que vengan a destruirnos ahora!?“ Burch 20.07.2010. 330

Siehe beispielsweise die kleinen Zeitungsartikel in der populären Tageszeitung Agencia Trome 27.07.2010 und Agencia Trome 12.08.2010. 331 Siehe zur Thematik der zwei Arten des Umgangs mit moderner politischer Kommunikation Kapitel 9. 332

Nicht selten ärgern sich Limas Bewohner über politische Projekte des Infrastrukturausbaus. Diese werden nämlich unglücklicherweise meistens alle gleichzeitig durchgeführt: Vor den Wahlen. Lima gleicht zeitweise einer Baustelle. Diese Kumulation vieler Strassenausbesserungs-Projekte verlangsamen das Durchkommen, was für die Ambulanz ein ernsthaftes Problem ist. 333

Siehe dazu insbesondere auch Kapitel 9.

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bachtet und Gespräche führt.334 Der Konflikt ist unauffällig, aber seltsamerweise dennoch stark politi-

siert.335 Die „Coordinadora de los Empresarios de Gamarra“ kritisiert nicht nur die nichtkapitalisti-

schen Wirtschaftspraktiken des Bürgermeisterns und seine Nicht-Leistungen in Gamarra. Der Zu-

sammenschluss der langjährigen Patrons der Gamarra möchte auch zeigen, dass im Sinne des frühen

Sartre (Sartre und Priest 2001) eine Gesellschaft ohne Staat möglich sei. Dieser Ansicht ist auch der

Anthropologe Golte: “Man muss berücksichtigen, dass die sogenannten Informalen, es geschafft

haben, gut ohne Staat zu leben. Und sie denken sogar, dass der Staat ein Laster ist“ (Burch

16.07.2011a).336 Und wie wird dieser Anspruch ansatzweise umgesetzt? Es ist auffallend, dass sich

der Vorsteher der Coordinadora, explizit als Präsident und nicht als „dirigente“ bezeichnet. Er korri-

gierte mich jedes Mal, wenn ich ihn mit „dirigente“ ansprach. Ein dirigente ist lediglich ein Parteifüh-

rer, aber ein Präsident ist Vorsteher eines Staates. Er sagt, er sorge sich für seine Klienten und noch

für viel mehr, für die ganze Gamarra, die sein Königreich zu sein scheint…. und es ist wahr, spaziert

man an seiner Seite durch Gamarras Strassen, grüssen alle Arbeiter und Unternehmer freundlich den

schlicht gekleideten Mann. Er scheint in der Gamarra einen hohen Status zu geniessen. Diesen Status

hat sich der Patron explizit und ganz im Sinne Luhmanns angenommen. Denn gemäss Luhmann wird

"[e]in Ranganspruch […] zum Status in dem Masse, als sein Träger sich auf eine bestimmte Selbstdar-

stellung festgelegt hat und darin sozial anerkannt wird, so dass er nicht mehr frei ist, in Einzelbezie-

hungen darüber zu verfügen und als jemand anderes zu erscheinen" (Luhmann 1999c, 1964, S.

159f.). Der Patron setzt sich mit Gamarra gleich. Er scheint wie im europäischen Mittelalter die Funk-

tion eines auf die Wirtschaftspolitik spezialisierten Fürsten inne zu haben. Insbesondere in Kriegszei-

ten wird ein König wirklich benötigt. Macht der Dauerkonflikt mit der Politik die Position eines Reprä-

sentanten langjähriger Unternehmensnetzwerke erst notwendig?337 Im Unterschied zu einem Staat,

ist der Kern dieses Zusammenschlusses jedoch ein Geheimbündnis, das sich auf wirtschaftliche

Kommunikation spezialisierte. Die Hauptmitglieder werden nicht bekannt gegeben. Er betonte, dass

der Coordinadora beinahe alle 20‘000 „Gamarrinos“ folgen. Trotz der grossen Anhängerschaft fürch-

334 Während meines Aufenthaltes kam es auf der Baustelle der Toiletten-Anlagen in der Gamarra zu einem tödlichen Unfall. Eine ganze Wand stürzte halb-unterirdisch ein, da die unzureichend mit Stahl angereicherten Betonwände dem Druck der lecken Wasserröhren nicht standhalten konnten. Im Nachhinein kritisiert die Pres-se, die schnelle und billige Bauweise. Das Arbeitsministerium verurteilte den Bürgermeister als auch die Bau-firma. Siehe: Rochabrum 2010 und Agencia Trome 27.07.2010. 335 Viele Exklusionen werden nicht direkt mitgeteilt und passieren laut Stichweh 2004 einfach so. Ich fragte

mich immer wieder, wieso Gamarra nicht mehr Beachtung fand in wissenschaftlichen Untersuchungen. An-fangs „befremdete“ mein Forschungsprojekt in Lima etwas. Gamarras Unternehmer „verdienen“ wissenschaft-liche Aufmerksamkeit quasi nicht wirklich. Nebenbei ist empirische Forschung in Gamarra auch anstrengend. Staatliche Universitäten wie San Marcos kommen hingegen nicht an Forschungsgelder für solche Projekte. Dies erfuhr ich in informalen Gesprächen an verschiedenen Instituten und soll hier bloss nochmals das Ausmass dieses latenten Konfliktes darlegen. Ich komme auf die Grenzziehung zwischen Personen mit Zugang zur forma-len Politik und den Personen mit beschränkt modern politischem Anschluss in Kapitel 9 zu sprechen. 336

Original: “… hay que ver bien los llamados informales, han logrado vivir bien sin estado. Y piensan más bien que el estado es un láster” Burch 16.07.2011a. 337

Siehe zur vergesellschaftenden Wirkung von Konflikte das Kapitel „Der Streit“ in Simmel 1992b.

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ten sich die Patrons vor Repressalien, weshalb er das sichtbare bzw. einzige offizielle Gesicht der

Vernetzung ist.

Der Patron erzählte, wie er diese Funktion als Präsident der Gamarra erhielt: „Es ist nicht so, dass

mich die Leute gewählt hätten. Ich bin der Präsident weil ich der Anführer der Bewegung war; ich

war derjenige, der die Entwicklung [den Fortschritt] vorantrieb, ich förderte die Arbeit. […] Ich trat

bei, weil es mir gefällt, weil es keine Leute gab, die es taten, weil alle Angst haben; es ist Furcht. Denn

du weisst, wenn du Dinge dieser Art machst, gibt es Repressalien; sowohl vom Ambulante [Strassen-

händler], oft auch von der zentralen Regierung, von der lokalen Regierung, weil du im Widerspruch

mit ihren Interessen stehst“ (Burch 20.07.2010).338 Der Vorsteher dieses Netzwerkes erhielt sein Amt

vor allem aufgrund charismatischer Kriterien. Alle fürchten sich vor Repressalien von Seiten der Poli-

tik. Die heutige Funktion der Coordinadora ist dabei mit einer Lobby und ferner mit einer Partei ver-

gleichbar. Sie beobachtet wirtschaftspolitische Kommunikation. Aber wieso fürchten die Patrons

Repressalien von Seiten der Ambulantes, den Strassenhändlern? Die Coordinadora wurde 1999 ins

Leben gerufen und machte gewissermassen den Weg frei für die Vernetzung der Wirtschafts-Patrons

in Galerien, denn “….im Jahre 99, waren wir, die Gamarra, im Begriff zu verschwinden. [Die Gamarra]

war voll von Ambulantes [mobilen Strassenhändlern], alle Strassen waren von informalem Handel

[gekennzeichnet], Qosqos [Kommuneros aus Cusco]! Man konnte beinahe nicht mehr durch die

Strassen gehen, weder die Ambulantes noch wir. Das gab den Ausschlag, eine ‚Coordinadora‘ von

Unternehmern der Gamarra zu kreieren, nicht wahr. Mit dem Ziel, den Micro- und Kleinunternehmen

zu dienen, zur Entwicklung der Wirtschaft“ (Burch 20.07.2010, 20.07.2010)339 Auch in diesem Zitat

wird ersichtlich, wie sich der Patron und seine Coordinadora mit der gesamten Gamarra gleichsetzt,

so als mache es keinen Unterschied, ob von ihm, der Coordinadora, der Gamarra oder gar von der

ganzen Wirtschaft gesprochen wird. Nur die Wirtschaft und nicht die Politik kann gemäss ihm Fort-

schritt sichern. Was die Ambulantes betrifft, so ist die Coordinadora in einem Punkt gleicher Meinung

mit den lokalen Politikern; denn für beide Lager gelten die Ambulantes als sogenannt „informale

Akteure“. Aber nur die „Coordinadora“ der Patrons war im Stande, das Ansinnen der lokalen Politik

umzusetzen: Die Ambulantes weitgehend aus Gamarras Strassen zu vertreiben. Zugleich wendet die

Coordinadora sich bezüglich anderer Themen – und das ist die Normalität - jedoch gegen die Pro-

gramme der lokalen und zentralen Politik und/oder fordert politische Versprechen ein. Die Politik hat

338 Original: „No es que la gente me eligieron. Porque yo era la cabeza del movimiento, yo era el que impulsea el desarollo, impulsea al trabajo. [...] Yo entré porque me gusta, porque no había gente que lo haga porque todo el mundo tiene miedo, que es temor. Porque tu sabes que cuando tu haces cosas de este tipo hay represalias tanto del Ambulante, muchas veces tanto del gobierno central, del gobierno local porque tu estás chocando con sus intereses” Burch 20.07.2010. 339 Original: „...en el año 99 nosotros, Gamarra, ya iba a desaparecer, estaba lleno de Ambulantes, todas las calles de comercio informal, Qosqos, para la calle ya no se podía caminar tanto ni para el Ambulante ni para nosotros. Entonces allí donde se crea la coordinadora de empresarios de Gamarra con un fin, no?, de poder servir y lograr un éxito para poder servir a las micro y pequeñas empresas para el desarollo de la economía” Burch 20.07.2010.

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die Probleme der Gamarra gemäss dem Patron noch nie verstanden. Bereits im Jahre 1998 schlossen

sich die Patrons der Gamarra zusammen, um gegen Fujimoris neo-liberale Politik zu demonstrieren.

Der Präsident des Patronverbandes erzählt die Hintergründe: “Es wurden massiv gebrauchte Kleider

nach Peru geschmuggelt. Deshalb veranstalteten wir einen Marsch zur Regierung von Fujimori, um

ein Gesetz zu widerrufen, das gültig war, da die Richter grünes Licht gaben, um 240 Containers mit

gebrauchten Kleidern passieren zu lassen“ (Burch 20.07.2010). Dies war sozusagen das erste Prob-

lem, welches nur organisiert angegangen werden konnte. Denn ansonsten sind Gamarras Patrons

trotz der hohen Bedeutung von kommunalen Strukturen und den darin eingebetteten Patronage-

Verhältnisse paradoxerweise geradezu sehr individualistisch. Auf meine Frage, was seine „Coordina-

dora“ für das Wohl jedes einzelnen der Gamarra unternimmt, antwortet er: „Jeder einzelne ist für

sich; wir sind frei, wir sind frei, alles zu tun. Jeder ist Besitzer seines Ladens. Aber gegenüber der Poli-

tik, ja, weil wir wollen, dass die Regierung dir klare und transparente Dinge gibt, die den Micro- und

Kleinunternehmen helfen. Denn manchmal erstellen [sacan] sie Gesetze, welche dem Mikro- und

Kleinunternehmen schaden. Deshalb müssen wir dort sein, um zu sehen, dass die Gesetze für alle

günstig sind“ (Burch 20.07.2010).340 Gesetze werden in Lima also undemokratisch aufgestellt; sie

werden quasi aus dem Nichts „hervorgezogen“ (sacar). Die Mehrheit ist aus diesem rechtlichen Ent-

scheidungsprozess exkludiert. Gesetze werden in Lima erst als (fertige) Gesetze bobachtbar. Es

braucht Spezialisten, die sich auf bestimmte Themen konzentrieren; in diesem Falle sind das die Pat-

rons, welche im Nachhinein gewisse neo-liberale Gesetze anfechten. Kritik anbringen können also

nur organisierte Interessenverbände, das heisst, Lobbys, welche kollektive Meinungen, aber auch

Zeit und Geld bündeln können. Die Coordinadora vermittelt also zwischen Informalität und Formali-

tät. Die Tatsache, dass der Patron und die Coordinadora die Gesetze beobachten, zeigt auch, formale

juristische Programme bzw. insbesondere Wirtschafts- und Unternehmensgesetze werden als kausal

relevant erachtet. Um Probleme zu lösen müssen rechtliche Erwartungen berücksichtigt werden.

Dies bringt wiederum zum Ausdruck, dass auch juristische Formalität in Gamarra nicht nur existiert,

sondern dass sie genauestens beobachtet wird. Informalität ist der Formalität stets unterlegen. Denn

wäre diese Asymmetrie zugunsten der Formalität nicht vorhanden, würden sich die Patrons der Ga-

marra nicht um die Gesetze kümmern und sie misstrauisch genau beobachten. Informalität ist an

Formalität gekoppelt. Rechtliche Normierungen passen den Unternehmern oft nicht; hunderte von

Jahren waren es kommunale Strukturen, welche normative Erwartungen reproduzierten. Während

der Präsident der Patron-Vereinigung Gamarras in der Wirtschaft die Freiheit erlebt, beschreibt er

die Gesetzgebung als Hauptgrund, sich vernetzen zu müssen. Nur Lobbys können die Gesetzgebung

340 Original: “Cada uno somos aparte, somos libres, somos libres de hacer todo. Cada uno es dueño de su tienda. Pero ante la politica sí, porque nosotros queremos que el gobierno te de cosas claras y transparentes que apoyen a la micro- y pequeña empresa porque a veces sacan leyes que hace daño a la micro- y pequeño empresa. Entonces nosotros hay que estár allí para ver que las leyes sean pues favorables a todos” Burch 20.07.2010.

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im Nachhinein beeinflussen. Parteipolitik ist in Lima also auf aufwändige Protestkommunikation re-

duziert, welche sich nur eine organisierte „Lobby“ leisten kann. Aufwändig ist die Kommunikation

deshalb, weil man gemäss Aussage des Patrons oft physisch anwesend sein muss, damit die politi-

schen Leistungsrollenträger die Gesetze ändern. Es bestehen also Parallelen: Sowohl an formale Par-

teipolitik als auch an formale Wirtschaft ist oft nur mittels eines Patrons anschliessbar.341 Die Ver-

mittlung zur formalen Parteipolitik ist Gegensatz zur formalen Wirtschaft nur über organisierte Pat-

ronageverbände möglich.

Wie geht die “Lobby” im Streit gegen die Politik vor? Erstaunlicherweise orientiert man sich an recht-

lichen Konfliktmechanismen, so gibt es in der Gamarra dann auch keine grösseren Gewaltausschrei-

tungen: „Nun gut, wir haben eine Anklage erhoben; wir besitzen einen Anwalt. Daneben präsentie-

ren wir Schreiben, wir haben sie präsentiert und diese Dokumente an verschiedene Instanzen der

Regierung geschickt. Und wir warten nun auf die Antworten, nicht wahr“ (Burch 20.07.2010).342 Die

Coordinadora, die Intergalerien-Vernetzung der Patrons, ist also kompatibel mit Erwartungen des

Rechtswesens. Man hat Anwälte. Gamarras Patrons stufen die rechtlichen Konfliktmechanismen als

kausal relevant ein.343 Zugleich wendet sich die Coordinadora jedoch auch an die Politiker persönlich.

Ganz so sicher ist man sich den rechtlichen Verfahrensregeln also auch wieder nicht; man sichert sich

doppelt ab. Denn obwohl der Patron derart gegen das Politische ist - sowohl gegen neo-liberale Pro-

gramme als auch gegen Abgaben, weil die Politik diese Einnahmen nicht lokal einbringt – kannte er

doch zwei Präsidenten, zum Beispiel Toledo, welche ihm Preise verliehen haben. Nichtsdestotrotz hat

sich das Verhältnis zum Bürgermeister bis heute nicht zum Besseren gewendet. Der Vertreter der

Coordinadora meint: „Mit der Gemeindeverwaltung haben wir viele Probleme. Die Gemeindeverwal-

tungen kommen nur aufgrund persönlichen Appetites. Er, zum Beispiel der heutige Bürgermeister

kassiert willkürlich 50% mit dem Ziel, eine generelle Sicherheit aufzustellen. […] Sie möchten 80 Poli-

zisten aufstellen; sie tun es nicht, sie halten es nicht ein, [aber] sie kassieren überall. Und so fragt

man sich, wohin dieses Geld geht, weil sie es nicht sichtbar machen, sie es nicht für die Entwicklung

der Wirtschaft investieren. Jetzt verbauen sie die Strassen; ich weiss, dass wir mit den Bürgermeis-

tern immer in Rechtsstreitigkeiten verwickelt sein werden, weil sie [Dinge] tun möchten; sie glauben,

sie seien die wirklichen Besitzer [der Gamarra]; sie glauben, sie seien die Besitzer der Strassen, der

Fussgängerwege… Es sind Leute, die von anderen Orten kommen; es sind fremde Leute, die nicht die

341 Wieso physische Präsenz wichtig ist, zeigt Kapitel 8.2, an jener Stelle werden Erwartungen innerhalb der

Gerichte dargestellt. 342

Original: „Bueno, nosotros hemos presentado una denuncia, tenemos abogado. A parte de esto presentamos escritos, hemos presentado, mandado estos documentos a varias instancias del gobierno. Y estamos esperando las respuestas, no?“ Burch 20.07.2010. 343 Wirft man einen Blick zurück in die Geschichte, so sieht man, dass sich die indianische Oberschicht schon

wenige Jahre nach der Eroberung im 16. Jahrhundert an den rechtlichen Kommunikationsformen der Kon-quistadors orientierten. So sind mehrere Rechtsstreitigkeiten nach Ankunft der Europäer belegt, als ranghohe Familienclans ihr Land vor Gericht beanspruchten. Siehe dazu Julien 2000, S. 35ff.

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Realität des Einzelnen kennen“ (Burch 20.07.2010).344 Der letzte Satz könnte aus dem Munde eines

Einheimischen vor fünfhundert Jahren stammen. Dies entspricht Matos Mars These (2004a) einer

Parallelgesellschaft in Lima, die eine ethnische Grenze entlang geht. Matos Mar schreibt staatlich-

formale Kommunikation den Personen der ehemaligen kreolischen Oberschicht Limas zu und appli-

ziert die wirtschaftlichen Praktiken der Migranten, sprich beinahe der gesamten Bevölkerung Limas

auf das Informale. Letzterer Bereich invadierte inzwischen laut Matos Mar auch den anderen.345

Wenn man die Unterscheidung formal / informal auf der Ebene von Praktiken ansiedelt, wird klar,

dass sich Gamarras Unternehmer weitgehend über die Wirtschaft in die Weltgesellschaft inkludieren,

da andin-kommunale Erwartungszusammenhänge mit den weltgesellschaftlichen Prämissen der

Wirtschaft kompatibel gemacht wurden. Gemäss obiger Ausführung hinsichtlich Arten der Vernet-

zung bzw. Nicht-Vernetzung der Patrons, wurde der Anschein erweckt, dass Gamarras Wirtschaftseli-

te aus mehreren Netzwerken besteht, die einen anderen Umgang mit moderner Politik pflegen. Alle

wirtschaftlich erfolgreichen Patrons der Gamarra sind in der Lage, gewisse staatliche Dienstleistun-

gen zu kaufen, beispielsweise Zoll-Leistungen. Nicht alle Patrons können hingegen staatliches Territo-

rium erwerben.346 Es generiert im Sinne der „kleinen Korruption“ keinen grossen Skandal, wenn Pat-

rons Zoll-Leistungen kaufen; hingegen empört die „grosse Korruption“, wenn ein Patron gut gelege-

nes staatliches Territorium erwirbt, bzw. behalten kann. Zoll-Leistungen sind nicht begrenzt, optimale

Territorien in einem wirtschaftlichen Zentrum hingen schon. Erst wenn Knappheit betroffen ist, kön-

nen sämtliche Patrons in Gamarra politische Güter oder Dienstleistungen nicht mehr kaufen.347 In

Gamarra herrscht Unmut darüber, dass eine Unternehmergruppe ein grosses Grundstück erwerben

konnte mit der Auflage, einen Park zu errichten. Der Unternehmer baute die Galerie halb-

unterirdisch, damit die politische Idee eines grünen Parks über der Galerie Platz hätte. Doch anstelle

von Bäumen finden sich nun eine Fastfoodkantine und Banken auf dem Dach von Gamarras bedeu-

tendstem Verkaufszentrum. Es geht an dieser Stelle nicht darum, inwiefern es in diesem Fall zutrifft,

ob eine Galerie rechtmässig erworben wurde. Die Studie wirft lediglich die Frage auf, ob es zwei Ar-

344 Original: “Con la municipalidad tenemos muchos problemas. Las municipalidades solamente vienen por apetitos personales. Ellos por ejemplo este alcalde de hoy, nos cobra los arbitrios el 50% con la finalidad de poner una seguridad total. [...] Eh, quieren poner 80 policias, [...] no lo hacen, no cumplen. [...] cobran por todos los lados. Y uno se pregunta por donde va este dinero, porque no lo revisten, no lo invierten en el desarollo de la economía. Entonces y ahorta están abriendo las calles, sé que nosotros estamos pues siempre en pleito con los alcaldes porque ellos quieren hacer, crean que son dueños de la verdad, crean que son dueños de las pistas, de las veredas, de las calles. Y son gente que viene de otros sitios, son gente extraña que no conocen la realidad de cada uno” Burch 20.07.2010. 345 Nichtkapitalistische Praktiken ausserhalb Gamarras werden in Kapitel

9 Verortungen einer Parallelwelt in der Theorie der Weltgesellschaft erörtert. 346

Der Fall „Cánepa“ ist nicht so klar gelagert, war diese Familie doch ursprünglich Besitzerin des Gebietes bei Gamarra. Hacendados wurden in den 60er Jahren jedoch vom Staat zwangsenteignet und gut entschädigt. Ich komme darauf später noch zu sprechen. 347 Dieses Problem wird nach Überlegungen zur Generalisierung von Gamarra auf Lima in Kapitel 9.

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ten des informalen Umgangs mit modernen politischen Erwartungen des Landes gibt: 1.) Informale

semilegale Praktiken, welche staatliche Dienstleistungen kaufen, und 2.) informale illegale Praktiken,

welche begrenzte staatliche Güter kaufen können. Selbstverständlich gibt es auch elitäre Netzwerke,

welche formal an politische Erwartungen anschliessen. Diese beiden Arten des Umgangs mit Politik

könnten für Lima generell gelten und werden im letzten Kapitel, in Kapitel 9, thematisiert.

Alle bisher erörterten Vereinigungen Gamarras schliessen nur teilweise mittels Miet- und Kaufvertrag

an der formalen Politik des Landes an. Eigentum wurde legal erworben. Es bestehen jedoch Proble-

me, die einer noch komplexeren Lösung bedürfen.

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194

6.2.3 Berufsverbände: Die Logistik zwischen Formalität und kommunalen

Erwartungen

Man fragt sich, wie die schweren Stoffrollen schnell von den Anfahrstellen der Zulieferer zu den Pro-

duzenten ihren Weg finden. Wie wird das Risiko des Diebstahls gelöst? In Anbetracht dessen, dass

die Unternehmer ihre Geschäftsräume klein halten und an verschiedenen Standorten produzieren,

sind sie oft weit von Lieferzentren entfernt. Es kommt hinzu, dass manche Werkstätten sich tief im

Inneren von Galerien befinden. Gamarras Hauptachsen sind nicht befahrbar aufgrund der Tausenden

von Kunden und Kundinnen, die sich täglich durch die Einkaufsmeilen drängen. Dazu gesellen sich

mobile Handyverleih-Unternehmen, mobile Klein-Küchen, Jaladores, welche Kundschaft in die Läden

„ziehen“ usw. Wie lösen die Unternehmer dieses logistische Problem in einer Region, welche kaum

an staatlicher Kommunikation anschliesst?

Die Migranten bzw. die Kommunen sind Spezialisten darin, Transport zu organisieren. Bis im August

2010 war der öffentliche Personentransport des ganzen metropolitanen Raumes von Lima aus-

schliesslich von tausenden Mikro- und Klein-Unternehmen organisiert.348 Erst vor wenigen Monaten

eröffnete der Staat eine erste Buslinie mit festem Fahrplan nach europäischen Vorbild: Den Metropo-

litano.349 Entlang dieser zentralen Route streikten deshalb die Micro-Combi Unternehmer, weil sie für

die betreffenden Straßen nicht mehr zugelassen werden. Wieder empört man sich über die staatliche

Einmischung. Das neue Busunternehmen gehört zum Teil Ausländern (Kolumbianern). Doch der

Grossteil des Transportes wird wie seit Jahrzehnten noch immer von den Bewohnern selbst organi-

siert. Dieser auf Micro-Combis basierende „Öffentliche Verkehr“ ist ein weiteres geeignetes Beispiel,

um zu zeigen, wie Migranten-Netzwerke bzw. Patronagen, die sich auf kommunale Strukturen stüt-

zen, ganze Teile des Staates ersetzen bzw. wichtige staatliche Aufgaben wahrnehmen, die momentan

kein einzelnes Grossunternehmen alleine lösen könnte. Ich erlaube mir die Freiheit, kurz auf ein kon-

kretes Problem einzugehen, welches die internen Erwartungen dieser zentralen Transportunterneh-

men vor Augen führt. Nicht zuletzt funktioniert Gamarra nur aufgrund solcher logistischen Problem-

lösungen, handelt es sich doch um das Transportmedium vieler Arbeiter. Wie schaffen es die Beteilig-

ten, viel befahrene Routen so zu organisieren, dass sich die Busse in etwa gleichen Abständen bewe-

348 Die Mehrheit der Limeños bewegt sich in den immer gut gefüllten und mit Musik beschallten Micro-Combis fort. Die Leistung dieser Micro-Bus-Unternehmen ist also absolut zentral. Die Fahrt im Micro kostet (mit 1 S./ bis 1.40 S./, also ca. zwischen 30 und 40 Rappen) ca. zehn Mal weniger als in einem Taxi. Für lange Distanzen kostet ein Taxi gar fünfzig Mal mehr, zum Beispiel von San Borja bis Callao gut 50 S./. (27 Franken). (Eintrag in mein Forschungstagebuch) 349 Siehe zum Metropolitano deren Website auf: Instituto Metropolitano Pro Transporte de Lima 2012 und den Tageszeitungsbeitrag: Agencia Trome 18. Juli. Neben dem Metropolitano-Linienbus ist eine grösstenteils auf Säulen über der Stadt fahrender Elektro-Stadtbahn im Bau. Alán García hat den Zug in seiner ersten Präsident-schaft von 1985 bis 1990 vorangetrieben; das Projekt sollte trotz der langen Aufschübe gemäss den Medien Agencias El Comercio 17.06.2010 im Jahre 2013 fertig gestellt werden.

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gen? Dies ist essentiell, ansonsten ist der eine Bus komplett überfüllt und der andere halb leer. Ich

beobachtete wie ca. alle fünf Minuten der Cobrador, das heisst, der Türöffner und Kassierer nach

draussen auf die Strasse sprang, wo schon eine Person mit einem Block wartete, eine Zeit notierte,

eine Zeit mitteilte und etwas Geld vom Türöffner entgegen nahm. Wieso wird allgegenwärtig Geld

ausgetauscht? Ich musste dieser Frage nachgehen und unterhielt mich mit mehreren Türöffnern und

dessen Chefs, den Fahrern. Die Personen an den Strassenrändern mit den Notizblöcken sind Dateros.

Sie sind ein „suplemento“ (einen Zusatz) für die Micros; es ist ein neuer Job, der durch die Migranten

geschaffen wurde. Ein Datero selegiert drei, vier Bus-Linien und notiert jedes Mal die Zeit, wenn ein

Microbus durchfährt sowie die Anzahl der Insassen. Sobald ein Micro seiner Linie kommt, springt der

Datero dem Cobrador entgegen und nennt jenem die Zeit des vorherigen Micro und informiert ihn

kurz, wie viele Personen etwa darin sassen. Der Cobrador wirft ihm zehn Centimos (ca. 3 Rappen) als

Lohn entgegen. Diese Kommunikation geschieht innert wenigen Sekunden. Der Cobrador informiert

aufgrund dessen den Fahrer bezüglich den Abständen, bzw. ob er schneller oder langsamer fahren

soll. War der vorangehende Micro-Bus leer, dann fährt man langsamer. War der vorherige Micro

hingegen voll, dann fährt man selber schneller, um den anderen möglichst zu überholen und den

eigenen Bus mit Leuten zu füllen. Das Erfindungsreichtum der Teilnehmer erstaunt.

Manche Kommunen spezialisierten sich auf Transportleistungen. Dass sich ganze Kommunen auf den

Transport von Waren spezialisierten – und diese Dienstleistung beim Anwachsen der Städte auf den

Personentransport ausweiteten – hat eine lange Geschichte. Der Anthropologe Golte weiss davon zu

berichten:

„Hier in den Bergen von Lima gibt es ein Dorf, das schon im 19. Jahrhundert den

Transport mit den Mauleseln von den Minen in der Sierra Central zum Hafen durch-

führte. Als der erste von ihnen 1920 nach Lima migrierte, übertrug er diese Beru-

fung, Transporteur zu sein, ins Umfeld der Stadt von Lima. Im Jahre 1920 begann

es, mehr Automobile zu haben, so startete er und kaufte einen Omnibus. Und spä-

ter… alle die von diesem Dorf emigrierten, betraten [Lima] durch dieselbe Strasse;

sie besassen ihre Transport-Linie, städtisches Personal; aber manche besassen auch

Camions mit Ziel in die Provinz.

Und der erste, der ankam oder der dieses Geschäft in den 20er Jahren begann, war

ein Herr Mosquito, der in den 80er Jahren starb. Er besass eine grosse Anzahl von

Angestellten in seinen Firmen, die mehr oder weniger gross waren; [es waren] An-

gestellte, die vom selben Dorf kamen. Formal waren sie in einer Position von Lohn-

arbeitern, aber sie versuchten, die Beziehung als Lohnempfänger als eine ver-

wandtschaftliche Beziehung und einer Beziehung derselben Herkunft zu kaschie-

ren. Als der Herr Mosquito starb, bauten sie ihm ein Mausoleum in seinem Her-

kunftsdorf und luden alle 1500 [Arbeiter] ein, die aus demselben Dorf kamen, mit

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einer Flotte von Omnibussen, um am Begräbnis von Herrn Mosquito wie an einem

Ritual teilzunehmen. Die Beziehung zwischen ihnen, die vom selben Dorf sind und

wo alle verwandt sind und wo alle in ein Netzwerk gehören, in welchem gegenseiti-

ge Verpflichtungen bestehen, was wichtig ist im Transport, weil der Transport ist

eine Form, in welcher man ein gewisses Vertrauen braucht, weil es viele Formen

gibt, das Einkommen für andere Zwecke abzuzapfen, nicht für die Ziele des Besit-

zers des Transportunternehmens. […] Die Verwandtschaft ist eine Basis-Ideologie“

(Burch 16.07.2011a).350

Viele der Microbus-Unternehmen sind heute formale Miniunternehmen; formal im Sinne, dass die

Betreiber eine Bewilligung des Ministerio de Transporte (permiso de circulación) besitzen. Die For-

malität gilt jedoch nur für die Organisation nach aussen, das heisst, für Beobachter der weltgesell-

schaftlichen Vorderbühne. Die internen Praktiken, zum Beispiel das Kerngeschäft des Ticketverkaufes

und Arbeitsverhältnisse sind jedoch informaler Art. Die Unternehmung bzw. Limas gesamtes Trans-

portwesen kann nur aufgrund der informalen Praktiken bestehen. Es existieren keine Arbeitsverträ-

ge; diese werden durch kommunale Patronage ersetzt.351 Anders gesagt, benützen die Teilnehmer

ihre kommunalen Dorfstrukturen, um an die Formalität anschlussfähig zu sein. Im Falle des Transpor-

tes bedurfte es der Initiative und Idee eines Patrons, welcher in der Stadt neue Möglichkeiten für

Transportleistungen beobachtete und so schrittweise Personal aus seinem Dorf bezog. Sein Dorfper-

sonal war bereits bestens ausgebildet, in dem Sinne dass sich deren Mitglieder gewohnt sind, logisti-

sche Probleme zu lösen und einander vertrauen. Die andine Problemlösungsmöglichkeit im Bereich

landwirtschaftlicher Produktion lässt sich auch gut auf das Transportwesen übertragen: Man tritt

dann gegen aussen nicht mehr als Dorf auf, sondern als Transportunternehmen, pflegt die (asymmet-

risch)-reziproken Austauschbeziehungen intern jedoch weiter; insbesondere gegenüber des Patrons,

350

Original: “Aquí en las cierras de Limas hay un pueblo que ya en el siglo 19. Hicieron el transporte con las mulas en las minas de la cierra central al puerto. Cuando el primero de ellos migró a Lima en 1920 trasladó esa vocación de ser transportista al ambiente de la ciudad a Lima; en 1920 empezaron a tener más automóbiles, carros, entonces el empezó con tener un omnibus y después todos que imigraron de eso pueblo entraron por la misma vía; teniendo línea de transporte, personal urbano; pero también algunos tenían camiones de destino provincial. Y el primero que llegó o que empezó este negocio en los años veinte era un Señor Mosquito que murió en los años ochenta y ya tenía un gran número de dependientes en sus empresas que eran más o menos grandes; dependientes que venían del mismo pueblo que eran en una posición formalmente asalariados pero trataban de disfrazar la relación de asalariados como una relación parental y una relación del mismo orígen. Entonces cuando murió el Señor Mosquito le construieron un mausoleo en el pueblo origen y invitaron a todos que eran 1500 que vinieron del mismo pueblo con una flota de omnibuses a participar en el sepello del señor Mosquito como haciendo un ritual; la relación entre ellos que son del mismo pueblo y que todos son parientes y que todos pertenecen en una red donde hay obligaciones mutuas que es importante en el transporte porque el transporte es una forma donde debe haber cierta confianza porque hay mucha forma de derivar los ingresos a otros fines, no a los fines del dueño del medio de transporte. [...] El parentesco es como una ideología de base” Burch 16.07.2011a. 351 Die Angaben basieren auf informalen Gesprächen mit Micro-Bus Betreibern.

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bzw. des Herrn Mosquito, welcher wie ein Alcalde (Dorf-Bürgermeister)352 die Arbeits-Einsätze im

Sinne der Ideologie der Teilnehmer re-organisiert und überwacht.

Wie wird nun der Transport bzw. die Logistik in der Gamarra organisiert? Die Ware muss in der Ga-

marra nicht nur sicher ankommen sondern auch pünktlich. Meistens handelt es sich dabei um inter-

regionale Kommunikation. Einen ähnlichen Erwartungszusammenhang wie zuvor beschreiben, beo-

bachtet man interessanterweise auch in der Gamarra. Die Träger erkennt man bereits von bloßem

Auge. Sie sind alle uniformiert und gehören zur Organisation ASETRAM, was „Asociación de Transpor-

te menor de Gamarra“ („Assoziation kleineren Transportes der Gamarra“) bedeutet. Die Uniformie-

rung ist etwas Einmaliges in Lima; da ansonsten nur die Polizei und die Schüler Uniformen tragen. Ich

komme auf deren Bedeutung noch zu sprechen. Was leistet diese Organisation? Es ist nicht ganz

einfach, mit den viel beschäftigten Trägern zu sprechen. Die Interviews konnte ich nur während des

Arbeitens durchführen, aber eigentlich darf man mit den Trägern nicht während der Arbeit sprechen.

Angeblich kommt das auch nie vor. Ein Arbeitskollege fand die Interview-Situation derart abstrus und

fragte: „Señorita, está sacando el premio mayor ese chato?“ (Hat der Kerl im Lotto gewonnen?). Aber

insbesondere sollte man Schweigen, wenn ein Patron in der Nähe ist. Die Träger sind Vertrauensper-

sonen, die sich nur um logistische Probleme kümmern. Ein Unternehmer fragte mich barsch, was ich

hier mit meinem Recording Gerät tue und beendete so meine Kommunikation mit „seinem“ Träger

schnell. Auch der zweite Träger - es war einer der wenigen, der am Straßenrand stand und auf seinen

Kunden (bzw. Patron) wartete - wollte anfänglich nicht sprechen. Er erklärte, es gab schon grosse

Probleme, als Arbeiter etwas unautorisiert sagten. Doch da seine Frau aus Chalhuanca war und ich

als Madrina einer Familie aus einem nahe gelegenen Dörfchen ebenfalls diesem Dorf angehöre, ent-

wickelte sich dann doch ein Gespräch, das ich sogar diskret aufzeichnen durfte: „Hier sind wir alles

‚Provinzler‘. Wir halten viel aus. Hier gibt es keinen einzigen Limeño. Sie besitzen keine physische

Resistenz. Sie dauern nicht lange [halten dies nicht lange durch]. Ihnen gefällt das einfache Leben. Ich

bin aus Huanuco und wohne in Villa El Salvador“(Burch 16.07.2011b).353 Bereits in dieser kurzen Aus-

sage wird ersichtlich, wie wichtig kommunale Zugehörigkeit ist. Erstens grenzt sich der Träger als

Provinzler von den Bewohnern Limas ohne Migrationshintergrund ab, im nächsten Schritt bezeichnet

er sich unaufgefordert als einen Zugehörigen zum Dorf Huanuco. Er bleibt dies, auch wenn er jetzt in

Lima im Stadtbereich von Villa el Salvador wohnt. Dies entspricht dem in Kapitel 6.1.3 erörterten

Konzept von Cánepa (2006) hinsichtlich des „Nuevo Limeño“, „des Neuen Bewohner Limas“. Die Or-

352

Die Dorfbürgermeister werden von der Kommune gewählt. Inwiefern sie jedoch aus einer bestimmten Fami-lie stammen müssten, kann hier nicht erörtert werden. Sie dürfen die moderne Variante der Curaca in vorspa-nischer Zeit sein. Die Curaca waren Vermittler zwischen einem peripheren Segment bzw. Dorf und einem an-ders strukturierten Zentrum. Siehe zu den Curaca in vorspanischen Zeiten: Rostworowski 2004a (1988), S. 210ff.. 353 Original: “Aca todos somos provincianos. Nosotros aguantan. Aca no hay ningun Limeño. No tienen

resistencia fisica. No duran. A ellos les gusta la vida facil. Yo soy de Huanuco, vivo en Villa el Salvador” Burch 16.07.2011b.

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ganisation von Transport liegt in der Familie; einer seiner Söhne arbeitet als Chauffeur in einem in-

terprovinzialen Car-Unternehmen aus Cusco. Es ist jedoch nicht so, dass alle Träger Gamarras aus-

schliesslich aus Huanuco stammen. Die Mitglieder von ASETRAM kommen aus verschiedensten Pro-

vinzen. Es handelt sich um einen Verband, der mehrere Segmente inkludiert. Der Träger arbeitet

direkt jedoch vor allem mit seinen zehn Dorfkollegen zusammen. Insbesondere in der Anfangsphase

vor zehn, fünfzehn Jahren war es absolut notwendig, auf die Hilfe von Dorfkollegen zählen zu kön-

nen. Der seit 1982 als Träger Arbeitende erzählt von seinen Anfängen: “Ich wusste nicht, wie tragen

und wie [die Last] festschnüren und dann waren da zusätzlich noch die Diebe. Wir trafen in Aviación

aufeinander, man packte einander, schlug sich und ich gewann“ (Burch 16.07.2011b).354 Ganz am

Anfang war er noch ziemlich auf sich gestellt; seine Dorfgenossen arbeiteten jedoch in derselben

Cuadra (Häuserblock) und man eilte einander zu Hilfe, wenn ein Dieb die auf der Rollbahre ange-

brachte Fracht stehlen wollte. Anfänglich gab es verschiedene Kommunen, die sich als Träger in der

Gamarra getrennt engagierten und sich selbständig um Sicherheit sorgten, bzw. sich mit Händen und

Fäusten gegen Diebe wehrten: „Es waren mehrere Assoziationen und es hat sich eine einzige daraus

konstituiert… Jetzt leisten wir bessere Arbeit, weil es keine anderen Konflikte mehr gibt“ (Burch

16.07.2011c).355 Diese kommunale, funktional orientierte Problemlösung ist interessant. Es gibt nun

keine „Revier-Kämpfe“ um Cuadras (Häuserblocks) mehr: “Es gab früher sehr aggressive Leute. Die

schlimmsten, waren diejenigen, welche glaubten, sie seien die Besitzer der cuadra“ (Burch

16.07.2011b).356 Statt sich die Arbeit gegenseitig zu erschweren, schlossen sich die verschiedenen

Trägervereinigungen zu einer Organisation zusammen. Auch die Diebe haben jetzt mehr Respekt;

denn die Träger helfen sich gemeinsam und erkennen sich aufgrund ihrer Uniform schnell. Die Uni-

form ist sichtbares Zeichen von Organisation und Zusammenhalt. Zusätzlich übernimmt die Organisa-

tion gewisse strafrechtliche Aufgaben wahr: “Ay ja, wenn ein Dieb kommt: Wumm! Wenn wir einen

Dieb schnappen, bringen wir ihn zum Büro, wo wir einen Wasser-Tank besitzen. Und wir stecken ihn

dort rein und machen ihn nass“ (Burch 16.07.2011b).357 Diebe gibt es jedoch noch immer. Deshalb ist

es effizienter, gleich wie noch vor hunderten von Jahren, die Stoffbahnen von Hand auf einer Karre

zu den Transport-Höfen und den Unternehmen zu rollen. Die Schub-Karren eignen sich besser als

motorisierte Geräte, da der Träger die Fracht im Auge behalten kann: „Sie wollten einige Karren für

motorisierte Fracht anschaffen. Aber mit diesen Karren gäbe es eine Fracht-Begrenzung; motorisiert

wäre noch schlechter. Mit dieser einfachen Karre kann ich mehr Fracht mitnehmen; es gibt keine

354

Original: “No sabía ni cargar ni amarrar y sufrí y allí estaban encima los choros. Nos acercamos en Aviacion, se acarra a golpes y yo salí ganando” Burch 16.07.2011b. 355

Original: „Eran varias asociaciones y se han constituido una sola…. Ahora hacemos mejor el trabajo para que no hay otras conflictos” Burch 16.07.2011c. 356

Original: „Había antes gente maleadas lo que eran mas malos se creían dueños de la cuadra“ Burch 16.07.2011b. 357 Original: „Ay sí, cuando viene un choro: Wumm! Cuando agaramos un choro, le llevamos a la oficina donde tenemos un tanque de agua. Y lo meten y lo remojan allá” Burch 16.07.2011b.

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Begrenzung. Zudem besitze ich die Kontrolle. Die Leute haben nicht Angst; damit kann man sich zwi-

schen die Leute begeben und um Durchlass bitten. Ich habe mehr Kontrolle mit meiner Karre. Zudem

beaufsichtigen uns die Diebe; sie beobachten uns“ (Burch 16.07.2011b).358 Da sich Träger nun gegen-

seitig und uneingeschränkt bzw. generell bei der Verteidigung unterstützen, sind die Verluste nicht

mehr so gross. Die Organisation kümmert sich soweit es geht auch direkt um die Sicherheit. Die Trä-

ger können im ummauerten Hof der Agentur über Nacht ihre Karre stationieren.359 Diebstahlproble-

me hat man mehr oder weniger im Griff.

Anders als beim ersten „öffentlichen“ Transportunternehmen Limas, das von Herrn Mosquito ge-

gründet wurde; arbeiten bei ASETRAM Mitglieder aus unterschiedlichen Dorfkommunen in einer

Organisation. Mehrere Kommunen schlossen sich zusammen unter einem funktionalen Aspekt: Dem

Träger-Beruf. Die Mitglieder erachten sich als ausdifferenzierte, eigenständige Organisation; niemand

helfe ihnen: „…weder die Unternehmer der Gamarra, noch die lokale Behörde, noch der Staat“

(Burch 16.07.2011b).360 Zudem entfaltet die Organisation bezüglich ihrer Zuständigkeit generalisie-

rende Voll-Inklusionspflicht. Es gibt in der Gamarra beinahe keine Träger mehr, die nicht Mitglied der

Organisation sind. Träger, welche sich nicht inkludieren lassen, werden „Piraten“ genannt und man

ist stolz über jeden „informalen Piraten“, der sich als Mitglied aufnehmen liess: „… man muss ruhig

[ehrlich] arbeiten, nicht als Piraten. […] Es gibt [nur noch] wenige Piraten, wir haben sie aufgenom-

men und angegliedert. […] Wir haben etwa zwanzig Piraten als Mitglieder aufgenommen“ (Burch

16.07.2011c).361 Organisationsmitglieder ordnen Personen, die derselben Tätigkeit nachgehen, der

formalen oder informalen Seite zu und möchten die Informalen durch Inklusion in die Organisation

formalisieren. So besitzt ASETRAM heute über 300 Träger. Diese besitzen im Gegensatz zu den „Pira-

ten“ ein gemeinsames Reglement, auf dessen Normen sie stolz sind. Das Reglement stellt insbeson-

dere fest, wie sich die Mitglieder gegenüber der Kundschaft zu benehmen haben und vereinheitlicht

somit das Auftreten gegen aussen, was Erwartungssicherheit in beide Richtungen generiert: „Wir

besitzen ein Reglement, das uns sagt, wie man die Klientel zu behandeln hat“. Er meint auch: „Wir

dürfen weder Fehler machen noch uns ’anbieten‘“ (Burch 16.07.2011c).362 Die Träger dürfen also

nicht wie Strassenverkäufer ihre „Ware“ bzw. Dienstleistung anpreisen und sich den Kunden eventu-

ell unangenehm aufdrängen. Sie müssen ruhig am Strassenrand stehen, ohne zu „betteln“, man muss

358 Original: “Querían poner algunos coches para carga motorisados. Pero con estos coches hay limites de carga. Motorisado sería peor. Con este carrito puedo llevar más carga, no hay limite. Además voy controlando. La gente no tiene miedo ; eso se puede meter entre la gente y pedir permiso. Tengo más control con mi coche. Encima los rateros nos están supervisando, nos están mirando” Burch 16.07.2011b. 359

Früher war dies ein viel grösseres Problem. Den Trägern wurde die 600 Soles teure Karre immer wieder gestohlen. 360

Original: „…ni los comerciantes de de Gamarra, ni la municipalidad, ni el estado“ Burch 16.07.2011b. 361

Original: „… uno tiene que trabajar tranquilamente, como pirata no. […] Hay pocas piratas, les hemos acogido y asociado. […] Hemos acogidos como veinte piratas como socios...” Burch 16.07.2011c. 362

Original: “Tenemos un reglamento que nos dice como tratar la clientela. [...] No podemos hacer faltas, ni correar“ Burch 16.07.2011c.

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seine „Ehre“ bewahren („mantener su dignidad“) und warten bis ein neuer Auftrag eingeht. Alle Trä-

ger sind mit Handys ausgerüstet. Der Träger nennt weitere Regeln aus ihrem Reglement: “... den

Kunden gut betreuen, sauber sein, Respekt, Pünktlichkeit...” (Burch 16.07.2011c).363 Das Reglement

verpflichtet die Mitglieder zudem, eine blaue Uniform zu tragen. So generiert die Organisation Ver-

trauen gegenüber Fremden: „Mit der Uniform gibt es mehr Vertrauen. Das [das heisst, Vertrauen zu

generieren] ist die Zuständigkeit der Assoziation: Sauber, geordnet, nicht so wie wir früher waren…“

(Burch 16.07.2011c).364 Die Träger machen immer wieder Vergleiche mit chaotischen Zuständen in

der Vergangenheit; ein Indiz, dass man den jetzigen organisierten Zustand gut heisst. Jeder Träger ist

identifizierbar; er trägt nicht nur eine Uniform, sondern auch eine Nummer und ein „comunicado“,

einen signierten Ausweis mit Foto und persönlichen Angaben, welcher zusammen mit der Nummer

im Büro von ASETRAM hinterlegt ist (vgl. Abb. 14). Die Arbeiter sind also „kodifiziert“ und jederzeit

adressierbar. Wenn ein Unternehmer einem Träger einen Auftrag erteilt, so weiss er, dass alle Daten

des Arbeitnehmers bei der Assoziation hinterlegt sind; der Träger muss auf der „Quittung“ immer

seine Nummer angeben, wenn er Ware liefert oder abholt. Die Organisation substituiert Arbeitsver-

träge.

Auf die Frage, ob er mit den Unternehmern, für die er arbeitet, Verträge abschliesst, insbesondere

wenn es sich um teures Gut handelt, antwortet der Träger: „Nein, für uns bürgt unser Unternehmen.

Da ich rechtlich anerkannt bin und sie mein Haus kennen, [und sie wissen,] von welcher Provinz ich

bin, um in meinen Strafregisterauszug einzusehen, bin ich ein Vertrauens-Bürger“ (Burch

16.07.2011b).365 Die Organisation beobachtet also auch rechtliche Beobachtungen, obwohl sie in

einem anderen Zusammenhang mittels Substitution von Verträgen, den Bezug zum Recht unterbin-

det. Denn nur Verträge jedoch nicht Patronagebeziehung generieren einen Anschluss an rechtliche

Normierung. Der Verband beobachtet rechtliche Kommunikation, eine weisse Weste zu haben, ist

eine essentielle Inklusionsbedingung; die Mitglieder dürfen nicht vorbestraft sein. So sichert ASE-

TRAM Qualität, denn wer will seine teure Ware schon einer Person mit krimineller Geschichte anver-

trauen? Der Verband garantiert Qualität und Vertrauen zugleich mit dem Statement, dass die Waren

immer ankommen; der Verband übernimmt das Risiko während des Transportes. Es ist genau gere-

gelt, wer im Falle des Verlustes der Ware die Schuld trägt. Ein Träger berichtet aus eigener Erfahrung:

“Ich wurde beraubt und ich bezahlte 4000 Soles, er raubte mir ein Paket Pullover. Ich bewahrte es in

der Agentur auf und […] ich muss die Hälfte der Ware bezahlen. Sobald ich die Fracht beim Laden

363

Original: „.. atender bien a las clientes, el aseo (estár limpio), el respeto, puntualidad” Burch 16.07.2011c. 364 Original: Con uniforme hay más confianza. Eso es responsablilidad de la asociación (dar confianza), asteadamente (existiert als Wort nicht, aber meint « limpio », sauber), ordenadamente, no como que eramos…” Burch 16.07.2011c. 365

Original: „No, a nosotros nos avala nuestra empresa. Como yo soy reconocido juridicamente y saben mi casa, de que provincia soy, para sacar mis antecedentes penales. Soy un ciudadano de confianza…” Burch 16.07.2011b.

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[des Unternehmers] abhole, bin ich verantwortlich während der Reise. So sagte der Besitzer, dass ‚du

hast meine Fracht mitgenommen, alsdann musst du sie mir zurückgeben. Ich musste 2000 Soles be-

zahlten“ (Burch 16.07.2011b).366 Da die Ware in der Agentur von ASETRAM gestohlen wurde, musste

er nur die Hälfte bezahlen. Versicherungen gibt es nicht, welche dieses Problem extern professionell

lösen würden. Doch meistens wird in der Agentur nicht geraubt; sie ist von einer dicken Mauer um-

geben und wird beaufsichtigt.

Die Organisation ASETRAM löst also logistische Probleme, indem sie die Qualitätskontrolle über-

nimmt. Das heisst, die Organisation ersetzt nicht nur Verträge sondern auch Zertifikate. Es kommen

nur gelernte Träger zum Einsatz; die Organisation ist Wissensvermittlerin und instruiert ihr Personal

insbesondere darin, wie die Ware auf der Karre effizient festgebunden wird: „Die Neuen, ja, die wer-

den unterwiesen. Uns lehrten sie nicht; es gab diese Assoziation noch nicht“ (Burch 16.07.2011b).367

Diese neuartige Kombination ermöglicht es Trägern, wirtschaftliche Arbeits-Beziehungen mit Frem-

den jenseits von persönlichen Kontakten einzugehen. Ein Träger hat nicht nur zu einem Kunden Kon-

takt, so wie das ansonsten in Form von Patronage üblich ist, sondern arbeitet für mehrere Hundert

Unternehmer: „Ich habe über 500 Läden, zehn rufen mich häufig an“(Burch 16.07.2011b).368 Der

Verband überdeckt gegen aussen seine internen kommunalen Grenzen und macht sich so als Organi-

sation gegen aussen rechtlich anschlussfähig. Die segmentären Strukturen mischen sich jedoch auch

intern mit Entscheidungsprämissen der Organisation, welche innerhalb des gesamten Verbandes

respektiert wird. Dies und dass die Organisation andrerseits Verträge und Zertifikate zugleich substi-

tuiert, macht den Berufsverband zu etwas Besonderem. Anfänglich schlossen sich verschiedene

kommunale Träger-Segmente zu einem funktional bestimmten Berufsverband zusammen, um Grup-

penkonflikte und Sicherheitsprobleme zu lösen. Mittlerweile vermittelt der Verband wichtige Kontak-

te. Da sich die Mitglieder an das Reglement des Verbandes halten und der Verband diese Normen

kontrolliert, vermittelt die Organisation in einer Umwelt eines schwachen Staates Kontakte und pro-

fessionell Vertrauen jenseits von persönlichen Netzwerken. ASETRAM besitzt viele Kontakte: „Wir

sind mit verschiedensten Transportunternehmen, Frachtgut-Unternehmen verbunden“ (Burch

16.07.2011b).369 ASETRAM vermittelt Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wobei deren Beteiligte nicht

aus derselben Dorf-Kommune stammen. Es gibt also neben der Inklusion in Patronage mittels kom-

munaler Netzwerke einen interessanten Inklusionsmechanismus via Organisation bzw. via einen Ar-

beitsverband in ein Arbeitsverhältnis. Arbeit wird professionalisiert. Der Verband ist also funktionales

366

Original: “A mi me robaron y pagué 4000 Soles, me robó un paquete de chompas. La guardé en la agencia y […] tengo que pagar la mitad de la mercadería. Cuando recogo la carga en la tienda yo soy responsable en el viaje. Entonces el dueño dijo que tu llevaste mi carga, entonces tu me la tienes que devolver. Yo tuve que pagar 2000 Soles“ Burch 16.07.2011b. 367

Original: „A los nuevos si les enseñan. A los nuevos que suerte. A nosotros no nos enseñaron, no había esta asociacion” Burch 16.07.2011b. 368

Original: „Tengo mas de 500 tiendas, me defienden (siempre llaman) con diez“ Burch 16.07.2011b. 369

Original: “Estámos relacionados con varias empresas de transporte, de cargas Burch 16.07.2011b

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Äquivalent zu Arbeitsverträgen und Zertifikaten. Ein Träger meint stolz: „Wir besitzen eine ‚junta

directiva‘,370 einen Sozial-Assistenten, so sukzessive“ (Burch 16.07.2011b).371 Der Anschluss an die

funktionale Differenzierung ist gemäss dem Träger ein Prozess, der Zeit in Anspruch nimmt; aber

schrittweise möchte man sich diesem selbst gesetzten Ziel annähern. Mit der “ junta directiva“ und

dem Geschäftsführer (gerente) sowie einem Supervisor besitzt der Verband Spezialisten, die sich

ausschliesslich um die Strategie der Organisation kümmern. Wie jede moderne Organisation besitzt

der Verband:“….reconocido jurídico” (juristische Anerkennung).372 Der Verband ist von der lokalen

Municipalidad, der Gemeindeverwaltung von La Victoria, offiziell anerkannt: “… wir haben mit der

Municipalidad einen Vertrag gemacht“ (Burch 16.07.2011b).373 Die Schub-Karren der Träger sind

auch mit „MLV“, Municipalidad de La Victoria, bezeichnet und somit politisch genehmigt. Die Organi-

sation der Träger ist also im Gegensatz zu vielen Patrons und deren Zusammenschlüssen fähig, an

moderne politische Kommunikation anzuschliessen. Es gibt sogar direkte Kommunikation mit Leis-

tungsrollenträgern der Politik. Einerseits verfügen die Träger über eingeschränkte staatliche Sozial-

leistungen: „Es nützt ein wenig für medizinische Hilfe und soziale Assistenz“ (Burch 16.07.2011c).374

Auch der andere Träger meint: „Con el gobierno no tenemos problemas, estamos asegurados“ (Mit

der Regierung haben wir keine Probleme; wir sind versichert)(Burch 16.07.2011b).375 Andrerseits

betonen die Träger, dass es von keiner Regierung Unterstützung gibt. Beide meinen unabhängig: „Es

gibt keine ‚beneficios‘. Es gibt keine einzige öffentliche Einheit. Es gibt keine Hilfe von Seiten der Re-

gierung“ (Burch 16.07.2011c).376 Dahingegen bekam der Berufsverband der Schuhputzer jedoch

staatliche Hilfe. Der erste „indigene“ Präsident, Alejandro Toledo, unterstützte die Schuhputzer, weil

er selber zu Beginn seiner Karriere als Schuhputzer tätig war. Der Träger interpretiert diese staatliche

Hilfe jedoch anders und erklärt, dass “die Schuhputzer vielleicht irgendwie ‘durch die Hintertür be-

günstigt’ wurden" (Burch 16.07.2011b).377 Im Spanischen Original bezeichnet der Träger den Begriff

‚begünstigen‘ mittels des Ausdrucks: „tener alguna argolla”, was wörtlich „einen Ring besitzen“

heisst. Dieser Ausdruck (mit dieser Bedeutung) existiert nur in dieser Region. Es gibt in Lima viele

Semantiken, um klientelistische Zweckfreundschaften zu bezeichnen. Man erwartet solche kliente-

listischen Erwartungszusammenhänge überall; insbesondere jedoch in politischen Sphären; so wer-

370 Die “Junta directiva” ist ein typisch kommunales Strukturelement. Man findet diese Problemlösung auch

bezüglich der Administration von Galerien. Siehe dazu Kapitel:

6.2.2 Arten der Vernetzung einflussreicher Patrons innerhalb Gamarras. 371

Original: “Tenemos una junta directiva, un asistente social, … así sucsesivo“ Burch 16.07.2011b. 372

Aussage eines Trägers, der die Gestaltung des Verbandes seit den Anfängen miterlebte Burch 16.07.2011b, 373

Original: „… hemos hecho contrato con la municipalidad“ Burch 16.07.2011b. 374

Original: „Sirve en algún apoyo en medicina y asistencia social“ Burch 16.07.2011c. 375

Original: „Con el gobierno no tenemos problemas, estamos asegurados“ Burch 16.07.2011b. 376

Original: „No hay beneficios. No hay ninguna entidad pública. No hay apoyo de gobierno“ Burch 16.07.2011c. 377

Original:„Quizás los lustrabotas han tenido alguna argolla” Burch 16.07.2011b.

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den finanzielle staatliche Leistungen gemäss Ansicht des Trägers also nur selektiv vom Staat verteilt.

Das ist aus seiner Sicht quasi normal und ungerecht zugleich. Des Weiteren betont er, dass die staat-

lich-medizinische Unterstützung des Arbeitsverbandes äusserst beschränkt sei, weshalb viele Träger

krank sind: „Sie [die Municipalidad bzw. die lokale Behörde] helfen uns nicht, aber sie verlangen, dass

wir am Umzug [anlässlich des Nationalfeiertages] mitmachen; und wir ja, wir wirken mit. Und dort,

natürlich, applaudieren sie uns zu. Aber wenn wir eine medizinische Behandlung wollen, drei, vier

Male… so helfen sie uns nicht. 70% [der Träger] sind krank und so fahren wir mit der Arbeit fort“

(Burch 16.07.2011b).378 Im Sinne des Trägers handelt es sich bei staatlicher Kommunikation nicht um

echte reziproke Austauschbeziehungen, wie er sich das von seiner Kommune gewohnt ist. Die Leis-

tungen des Staates sind ungenügend; die Personen sind krank. Der Umzug anlässlich des peruani-

schen Unabhängigkeitstages wird als etwas ausser-kommunales betrachtet, das im Interesse des

„Staates“ liegt. Um Unruhen und Streitigkeiten zu vermeiden, beugt man sich und nimmt an diesem

Anlass teil. Man muss andine Austauschbeziehungen kennen, um zu verstehen, wieso der Träger das

Mitlaufen an einem Umzug als derart bedeutende Leistung gewichtet. Der staatlich organisierte Um-

zug ist wie ein andines Dorffest, an welchem man nur aktiv mitmacht, wenn man in die kommunalen

Austauschbeziehungen inkludiert ist. Man partizipiert an « rituellen Feierlichkeiten » nur, wenn man

von den Organisatoren später eine Gegenleistung erwarten kann. Eine aktive Teilnahme an einem

„fremden“ Fest bezeugt Anteilnahme bzw. Werteübernahme. Teilnahme an Umzügen geht einher

mit Allianzbildung und Praktiken der Macht bzw. Ohnmacht.379 Der Staat bzw. die Distriktverwaltung

tritt als Patron auf. Doch da der Staat zu instabil ist, müssen kommunale Strukturen wohlfahrtsstaat-

liche Leistungen, so gut es geht, ersetzen. Der Staat ist aus Sicht der Träger also ein ziemlich „schwa-

cher Patron“. So möchte keiner der Träger am Umzug teilnehmen. Doch die „junta directiva“ des

Verbandes entschied, dieser Pflicht nachzukommen und die Mitglieder haben sich diesem Entschei-

den zu unterwerfen.380 Der Entscheid, welche Träger am Umzug teilzunehmen haben und die Sankti-

378 Original: “No nos apoyaron (la municipalidad) pero nos piden que colaboren en el desfile ; y nosotros sí, colaboramos. Y allí sí, nos aplaudan. Y si nosotros queremos un tratamiento en el médico 3, 4 veces … no nos apoyan. 70% están enfermos y así seguimos trabajando” Burch 16.07.2011b. 379

Siehe zum andinen Dorffest 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Struktu-ren. 380

In der Agentur des Verbandes sah ich eine grosse Tafel, die mitteilte, wer bzw. welche Nummern am Umzug wie teilnehmen müssen. Das „comunicado“ war mit einer Drohung kombiniert; es nannte die Sanktionen, falls sich jemand dem Beschluss entzieht, am Umzug mitzumachen: “Den Mitgliedern [von Nummer xy bis Nummer xy] wird kommuniziert, am Tag [xy] anwesend zu sein, um am grossen zivilen Umzug für „Fiestas Patrias“, der von der MDLV [Municipalidad La Victoria] teilzunehmen. […] Die Mitglieder [Socios] müssen gut uniformiert erscheinen, im aktuellen Pullover von ASETRAM [usw.]. Die Anwesenheit wird geprüft gemäss des Sub Sec. ‚Disziplin‘ Nr. 156... [...].... wer nicht erscheint, wird eine Busse von 50 S./ bezahlen. Mitglieder, die nicht gut uniformiert kommen, werden am Umzug nicht teilnehmen und werden ihre Busse ohne Reklamation bezah-len“. Original gemäss Foto: „Se comunica a los Socios del [numero – numero] tendran que asistir el día [..] para participar en el Gran Desfile Civico por Fiestas Patrias realizando por la MDLV [...] Los socios tienen que venir bien uniformados, polo de ASETRAM actual [...]. La asistencia se estára controlando por el Sub Sec. Disciplina

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onen, falls man zu spät oder nicht gut uniformiert erscheint, werden für alle sichtbar kommuniziert

(vgl. Abb. 13). Als Organisation bzw. als Berufsverband ist man auf der Vorderbühne der Weltgesell-

schaft beobachtbar, das heisst, der Verband ist auch für den Staat adressierbar. Die Organisation

kann sich diesen formalen Erwartungszusammenhängen nicht entziehen.

Abbildung 13: Comunicado des Consejo Directivo in der Zentrale von ASETRAM

Es wird genau kommuniziert, welche Träger bzw. welche „Socios“, die alle mit einer Nummer kodifiziert sind,

am Umzug teilzunehmen haben. Wer nicht gut uniformiert erscheint, kann nicht teilnehmen und muss eine

Busse bezahlen.

Quelle: Eigene Foto, Gamarra, August 2010

Es handelt sich beim Trägerverband um eine Organisation mit Mitgliedschaftsbedingungen. ASE-

TRAM würde auch Fremde aufnehmen, die den Trägerberuf ausüben möchten. Diese Eigenschaften

sind typisch für moderne Organisation. Die Inklusionsbedingungen sind auf die Weltgesellschaft zu-

geschnitten. Zugleich verstärkt Organisation die Diversität in der Weltgesellschaft. Auf meine Frage,

ob auch Fremde, die nicht zu einer Transport-Kommune gehören, aufgenommen werden, antwortete

der Träger: „Klar, vielleicht können wir weitere Konnexionen machen, denn wir wollen mit dem

No 156...[...] ... que no asista, pagará la multa de 50.00 Nuevos Soles. Socios que no vienen bien uniformado no participarán en el desfile y pagara su multa sin ningun reclamo”.

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Fracht-Transport in Venezuela Einzug halten. Dort sagen sie, dass es keine solche Dienstleistung gibt,

wie wir sie anbieten, nur für Maschinen“ (Burch 16.07.2011b).381 Sozialkapital und nicht Verdienst-

möglichkeiten ist für diese Organisation von besonderem Interesse. Fremde Personen, die nicht einer

Träger-Kommune angehören, werden sehr gerne aufgenommen; sie bringen Innovation und neue

Kontakte in die Organisation. Diese Fähigkeit ist ein grosser Vorteil der Formalität, passt jedoch zum

andinen System des „Compadrazgo“, welches fremde Personen durch Anverwandtschaft zu inkludie-

ren pflegt. Die formale Organisation organisiert dies jedoch weniger aufwändiger; sie ist nicht vom

Familiensystem abhängig, welches diffus weitere Pflichten und Erwartungen an den „inkludierten

Fremden“ stellt, sondern begrenzt sich als Zweckverband funktional auf ihre Organisationsziele. Es ist

geradezu erstaunlich, wie die Berufs-Organisation der Träger gewissen Organisationen aus Amerika

oder Europa gleicht. Die Organisation ist nicht nur intern ebenfalls hierarchisch strukturiert sondern

pflegt bezüglich Innovation und Erweiterung ähnliche Erwartungen. So suchen Funktionssysteme laut

Stichweh (2005a) nach Innovation, indem „marginal men“ bzw. fremde Personen, die aus anderen

Funktionskontexten kommen, privilegiert behandelt werden, wenn es darum geht, Personal anzustel-

len. Dies erinnert auch geringfügig an die Erwartungen von ASETRAM. Von Fremden erhofft sich der

Verband ebenfalls Innovation und Erweiterung. Ein offener Umgang mit Fremden sei zentral. Es ge-

hört sogar offiziell zum Reglement von ASETRAM: “Leute aus anderen Orten, gut zu behandeln. So

muss es sein, denn wenn nicht, wo wären wir dann?“ (Burch 16.07.2011b).382 Der Verband expan-

diert aufgrund der Inklusion von Fremden in Leistungsrollen. So bemerkten Mitglieder des Träger-

Verbandes, dass es in Venezuela noch keine personifizierten „Vertrauens-Träger“ gibt und diesbezüg-

lich eine Marktlücke besteht. Ein Träger vergleicht diesen Zustand in Venezuela mit der Vergangen-

heit von ASETRAM: „So war es auch in Peru früher. In den Jahren 85 […] Aber sie produzierten so

schon Hemden und exportierten diese nach Chiclayo oder nach Pucallpa“ (Burch 16.07.2011b).383

Alles ging jedoch langsamer. Der Verband generalisierte seine Erwartungen also zuerst auf alle Träger

der Gamarra, nun – da alle Träger Mitglieder sind – erwarten die Organisationsteilnehmer, dieses

Modell in benachbarte Regionen zu exportieren. Der Verband sucht international nach Kundschaft

und erweitert sich nicht nur bezüglich des Tätigkeitraumes, sondern auch bezüglich der Palette an

Tätigkeiten. Die Mitglieder tragen heutzutage nicht mehr nur Stoffbahnen von den Transport-

Haltestellen zu den Unternehmen oder verschicken die Ware in Cars und Camions, sondern organi-

sieren auch ganze Zügel-Unterfangen: „… wir machen alle Art von [körperlich schwerer] Arbeit. Wir

381 Original: “Claro, de repente podemos haber más conexiones. Por que nosotros queriamos entrar a Venezuela con transporte de carga ; porque allá dicen que no hay un servicio como hacemos nosotros. Solamente para los maquinas, no más” Burch 16.07.2011b. 382

Original: “...tratar bien la gente de otros sitios, así tiene que ser, si no dónde estámos ?” Burch 16.07.2011b. 383 Original: “Así era en Peru también más antes. En los años 85 [...]. Pero ya producieron así camisas y exportaron a Chiclayo, a Pucallpa” Burch 16.07.2011b.

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machen Umzüge [mudanzas], wir machen alle Arten“ (Burch 16.07.2011b).384 Die Umzüge müssen

sich nicht auf Nähe begrenzen. Für grössere Aufträge schliesst man sich zusammen; der Tätigkeits-

raum und die Tätigkeitsarten werden also gleichzeitig erweitert: „Wir gehen nach Callao, nach Santa

Anita, nach Chocica, um Arbeiten zu verrichten… im Kleinbus. Wenn es Kampagne gibt (am 28. Juli

und an Weihnachten), rufen sie uns an. Und wir können auch einen Berg hochkommen, um Nähma-

schinen zu bringen. Sie steigen hoch und laden es ab. Diese Maschinen herunter zu holen, ist eine

sehr mutige Angelegenheit“ (Burch 16.07.2011b).385

Der Leser oder die Leserin bemerkt damit wohl bereits, inwiefern Organisation im Sinne von Stich-

weh (2006a) eine weltgesellschaftliche Eigenstruktur ist, welche die Varietät innerhalb der Weltge-

sellschaft verstärkt. Die Organisation reproduziert einerseits kommunale Strukturen, um überhaupt

zu bestehen, muss diese jedoch mit formalen, fremden Erwartenserwartungen kompatibel machen.

Das gleiche gilt beispielsweise für Zertifikate, welche der Verband ermöglicht. Der Verband ist als

juristische Person mit der weltgesellschaftlichen Formalität kompatibel und kann deshalb internatio-

nale Expansion in Betracht ziehen. Die Organisation ASETRAM verarbeitet gewisse Probleme jedoch

spezifisch auf ihre Weise, sprich anders als dies Organisationen in anderen Differenzierungsvarianten

in der Weltgesellschaft tun. So ist die Reproduktion von segmentären Dorfstrukturen essentiell, um

an die Formalität anschliessen zu können. Die hohe Bedeutung kommunaler Dorfstrukturen erkennt

man in der Abb. 15 sogar von blossem Auge, wenn ein Träger auf seiner ASETRAM-Uniform den

Dorfnamen „Huancayo“ statt der üblichen ASETRAM-Aufschrift trägt. Die Mitglieder organisieren sich

auch, um zum Beispiel staatliche, mangelnde Leistungen wie Inklusionshilfe ins Gesundheitswesen zu

entschärfen. Ein langjähriger Träger erzählt wie sie kollektiv Kapital akkumulieren: “Zum Beispiel ja,

untereinander helfen wir uns. Wenn es ein Grillgericht gibt, kaufen sie ein Bier oder eine Limona-

de“(Burch 16.07.2011b).386 Der Ausdruck „parillada“ heisst zwar übersitzt lediglich „Grillgericht“,

doch es verbirgt sich ein typisch andiner Erwartungszusammenhang dahinter, der über den üblichen

Wortgebrauch hinaus geht. Eine „parillada“ wird veranstaltet, wenn man Geld braucht. Der Betref-

fende kocht eine Mahlzeit und verkauft diese Speisen etwas teurer an seine amigos. Alle amigos und

comuneros werden an das Grillfest eingeladen und „müssen“ etwas kaufen, um so ihrem Kollegen

„die Hand zu reichen“. Selbstverständlich fährt der interviewte Träger für die „Fiesta patronal“ in sein

Dorf, um Neuigkeiten über die Stadt zu erfahren und seinen kommunalen Verpflichtungen nachzu-

kommen.387 Gerade auf dem Land erfährt man paradoxerweise vieles gebündelt über die Stadt. Er

384

Original: „… hacemos todo tipo de chamba. Hacemos mudanzas, hacemos todo tipo“ Burch 16.07.2011b. 385

Original: “Vamos a Callao, a Santa Anita, Chocica a hacer trabajos… en camioneta. Cuando hay campaña (28 de julio y navidad) nos llaman. Y que también podemos subir un cerro para llevar maquinas de coser. Suban y lo dejan. Para bajar estas maquinas es bien bravo“ Burch 16.07.2011b. 386 Original: “Por ejemplo entre nosotros sí nos apoyamos. Si hubo una barrillada compran una cerveza o una gaseosa“ Burch 16.07.2011b. 387

Siehe dazu 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen.

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207

verweilt jedoch nur kurz, denn seine Hauptpflicht gilt der Organisation: „Hay que cuidar la clientela.

Yo tengo que estár aca parado“ (Man muss sich um die Kundschaft kümmern. Ich muss hier stehen)

(Burch 16.07.2011b). Die Kunden wollen sich auf ihn verlassen können. Auch an diesem Beispiel sieht

man, wie unterschiedliche Erwartungszusammenhänge in der Weltgesellschaft aufeinander stossen.

Einerseits sollte der Träger für die Organisation arbeiten und quasi immer für seine Kundschaft da

sein, andrerseits erwarten seine Kommuneros seine Anwesenheit in der Provinz. Die andinen Dorf-

Erwartungen sind jedoch flexibel; es reicht, wenn der Träger auch nur einen Tag oder eine Woche in

sein Heimatdorf fährt. Auch wenn der Verband intern zum Teil hierarchisch organisiert ist, handelt es

sich um einen Verband und nicht um ein Unternehmen. Die Träger arbeiten selbständig; dies teilte

mir auch die Bürolistin von ASETRAM mit. Der Geschäftsführer von ASETRAM ist bezüglich der Träger

nicht ein Patron; vielmehr sichert die Organisation Vertrauen gegen aussen und ermöglicht so essen-

tielle Arbeitsbeziehungen mit verschiedensten Unternehmern jenseits von kommunalen Erwartungs-

zusammenhängen. Eine Organisation, die gegen aussen formal anerkennt ist, ist flexibel im Umgang

mit Fremden; es müssen für vertrauensvolle Aufgaben keine Patronagebeziehungen langfristig auf-

gebaut werden, und genau das macht sie so erfolgreich. Nicht zu unterschätzen sind die eingespiel-

ten informalen Gruppen. Die Organisation entstand aus kommunalen Segmenten und ist intern des-

halb gut integriert. Auch wenn die Träger selbständig sind, arbeiten sie im Team ohne dass die forma-

le Organisation ihnen diese Regeln offiziell vorzeichnet. Dies ist ein Vorteil, den sich andere formale

Organisationen zuweilen aufwändig zu erarbeiten suchen. ASETRAM wäre also ein besonders gutes

Beispiel eines „Ayllu“, einer Kommune bzw. Grosskommune, im Sinne von La Torres (2000) Idee von

einem sogenannten peruanischen „Quipu Valley“.

Nur durch die Leistung von ASETRAM ist es möglich, dass neuerdings Unternehmer den teuren

Standort Gamarras verlassen können, aber dennoch mit Gamarra vernetzt sind. Auch neue Unter-

nehmer können bereits in sogenannten “Elendsvierteln” auf Limas Hügel in Heimwerkstätten produ-

zieren. Gamarra erhält sich als Zentrum aufgrund seiner Peripherie, welche sich auf die Produktion

spezialisierte. Die Produzenten der Peripherie sind nicht nur auf Patronage mit Unternehmern aus

der Gamarra angewiesen, um in den Absatzmarkt inkludiert zu sein, sprich um ihre Waren an die

Kundschaft abzubringen.388 Ebenso essentiell sind für sie Träger, welche Maschinen und Stoffe ver-

lässlich in die Barriadas hochtragen. Der organisierte Berufsverband ermöglicht viele Patronagebe-

ziehungen zwischen Unternehmern in und ausserhalb von Gamarra. Dies gewährleistet wiederum

Gamarras Zentrumsposition mit Zugang zur Weltwirtschaft und eine neuere weitreichende regionale

Peripherie. Eine Schlüsselrolle nimmt der Verband auch für Gamarras Zugang zur formalen Weltwirt-

schaft ein. Der Anschluss an formale Unternehmen wäre für Gamarras Patrons unvorstellbar, wenn

388

Siehe zu den Unternehmensnetzwerken insbesondere das Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Fir-mennetzwerke und kommunale Strukturen.

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208

der Logistik nicht vertraut werden könnte. Um den Zugang der Patrons zur formalen Weltwirtschaft

und um den Verlauf von Karrieren handelt das nächste Kapitel.

Abbildung 14: Uniformierter ASETRAM-Träger mit

Nummer auf Karre und Hemd

Abbildung 15: ASETRAM Träger mit Ausweis um den

Hals & Aufschrift seines Dorfes „Huancayo“

Die Karre ist gelb mit MLV (Municipalidad La Vic-

toria) gekennzeichnet.

Quelle: Eigene Foto, (Es handelt sich um keine der

interviewten Personen). Gamarra, frühmorgens,

Juli 2010

Quelle: Eigene Foto, (Es handelt sich um keine der

interviewten Personen). Nebenstrasse der Gamarra,

Juli 2010

Ich erlaube es mir, an dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit bezüglich segmentärer Strukturen einzu-

fügen. Segmentäre Strukturen reproduzieren sich heute im Rahmen von Netzwerkstrukturen, Patro-

nagestrukturen und Organisationsstrukturen. Die Literatur verbindet segmentäre Strukturen oft nur

mit Netzwerkstrukturen. Diese werden entweder als parasitär oder wie im Beispiel der ethnischen

Handelsgruppen als adaptiv beschrieben. Selten wird Segmentation in Verbindung mit Patronage

erörtert, um einzelne asymmetrische Tauschverhältnisse innerhalb solcher Netzwerke zu verstehen.

Segmentation kann auch nur innerhalb von Patronage reproduziert werden und muss nicht unbe-

dingt zu Netzwerkbildung führen. Es entstanden symmetrische als auch asymmetrische kommunale

Netzwerkkommunikation. Letzteres heisst: Netzwerke können mittels Patronage globalisieren. Eine

solche Globalisierung findet meist jenseits von politischen Erwartungen statt und schliesst lediglich

über Wirtschaft an die formal organisierte Globalität an. Asymmetrisch gebaute Netzwerke sind also

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weniger mit Politik kompatibel und stehen gar oft in einem Konkurrenzverhältnis zu politischen Insti-

tutionen. Segmentation ist jedoch erstaunlich kreativ und verbindet sich auch mit Organisation wie

dieses Unterkapitel soeben erörterte. Kommunale Strukturen schliessen dann nicht nur via Vermitt-

ler an wirtschaftlicher Formalität an, sondern als Organisation, was sie zu „juristischen Personen“

macht. Solche Organisationen können im Falle des Berufsverbandes der Träger wirtschaftlich als auch

in politischer Hinsicht an formale Erwartungen der Weltgesellschaft anschliessen. Eine interessante

weiterführende Frage betrifft die Verwaltung eines gesamten Landes. Wie ist es möglich, dass am

Tag xy der Hochlandhirte xy den Wahlzettel zur Hand nimmt und abstimmen geht, wer in Lima zum

Präsidenten gewählt wird? Es geht dabei weniger um Anschlüsse an formale Parteipolitik sondern um

Fragen einer formalen Verwaltung. Die Landesverwaltung scheint in Peru nicht auf Patrons zu basie-

ren, wie dies zur Kolonialzeit der Fall war, sondern stützt sich auf kommunal gewachsene Organisati-

on. Diese schliessen gesamthaft im Bereich der Verwaltung an Formalität an.389 Die Reproduktion von

segmentären Strukturen ist vielfältig und komplex und sollte jeweils im Rahmen von Netzwerk, Pat-

ronage und Organisation beleuchtet werden. Der Gedanke wird in Kapitel 9 wieder aufgenommen.

Die Erörterung beschränkt sich jedoch auf nichtkapitalistische Praktiken. Es soll dann auch kurz der

Zugang zur formalen Weltwirtschaft unter einem historisch vergleichenden Aspekt beleuchtet wer-

den. Das nächste Kapitel erörtert nun, wie Patrons als Vermittler an die formale Weltwirtschaft an-

schliessen. In einigen Fällen bilden sich aus solchen Netzwerken ebenfalls formale Organisationen.

Letztere konnten im Rahmen dieser Studie jedoch nicht mehr so eingehend wie Gamarras bedeu-

tendster Berufsverband, den die Träger organisiert, untersucht werden.

389

Diese Informationen stützen sich auf mehrmonatige und wiederholte teilnehmende Beobachtungen durch Partizipation in diversen Kommunen Apurímacs und Cuscos.

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7 Karriereschritte kommunal-interner und -externer Patrons: Drei Arten

von Unternehmensnetzwerken mit Anschluss an die formale Weltwirtschaft

Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen erörterte

globale Wirtschaftskommunikation, die nicht an den formalen Erwartungen ausländischer Konzerne

anschloss. In Wahrheit sind die beiden Bereiche jedoch oft verknüpft. Grosse Kleidermengen werden

informal von Gamarra über die peruanische Grenze nach Ecuador gebracht – wie dies funktioniert,

erörterte Kapitel 6.2.1. – nicht selten haben die Händler in Ecuador Anschluss an die formale Wirt-

schaftskommunikation und liefern die Ware grossen Detailhändlern weiter. Ein Unternehmer erläu-

tert dies: „... Sie haben schon jemanden von Ecuador und der kauft in grossen Mengen; man schickt

es an die Grenze und: ‚Du, warte auf mich an der Grenze, ich schicke es dir via Camion‘, keine Ah-

nung, tausende von Stücke, ‚und du deponierst mir das Geld auf der Bank‘, und fertig. Es gibt andere,

die sich in Ecuador damit beschäftigen, die Ware zu erhalten und sie in Guayaquil an alle grossen

Verteiler zu verkaufen. Und diese verkaufen sie an die kleinen [meist „informalen“ Läden]“ (Burch

18.11.2008).390 Der internationale Absatz an Detailhändler erfolgt in zwei zusammengesetzten Schrit-

ten. Doch es gibt auch Patrons in Gamarra, welche ihre Ware nicht über die Grenze bringen, um sie

formal zu vermarkten. Sie schliessen selbst als Vermittler direkt an formal-globale Wirtschaftskom-

munikation an. Wie wird man ein solcher Patron? Und wie erarbeitet sich ein Patron etappenweise

den Zugang zu Banken?

Dieses Kapitel erörtert Karriereschritte. Es beginnt mit zwei verschiedenen, anfänglichen Inklusions-

strategien in den Arbeitsmarkt. Am Ende des Kapitels wird die Karriere eines kommunal-externen

Patrons erläutert, der von der formalen Seite her kommt und sich den Zugang als Vermittler auf die

andere Richtung erarbeiten musste. Was sind die Voraussetzungen, um in Gamarra erfolgreich zu

sein? Einleitend dazu ein Statement eines erfolgreichen Patrons: “Eine Person muss sagen, dass es ihr

gefällt, denn wenn es ihr nicht gefällt, kommst du nicht voran; du machst es nicht, weil du Geld ver-

dienen möchtest. Es gibt Unternehmer, die als solche [als Unternehmer] geboren sind und es gibt

Unternehmer aus Notwendigkeit und es gibt Unternehmer, die [nur] Geld verdienen möchten. Es ist

nicht so, dass ich Geld verdienen will, sondern ich mache es, weil es mir gefällt“ (Burch

19.08.2010).391 Der Patron differenziert drei Motive, diese Karriere zu starten und teilt die Unter-

390

Original: “...ya tienen otro que viene de Ecuador y les compra por cantidad; lo manda a la frontera y tu esperame en la frontera y te mando por camión, no sé, miles de piesas y tu me depositas en el banco y listo. Hay otros que se dediquen en Ecuador recibir la merquaderia y vender a Guayaquil a todos los grandes distribuidores. Y ellos a su vez venden a los más chiquitos” Burch 18.11.2008. 391

Original:“Una persona tiene que decir que le gusta porque si no te gusta tu vas quedando, tu no hagas porque quieres ganar dinero. Hay emprendedores que somos nacidos, y hay emprendedores por necesidad y hay emprendedores que quieren ganar dinero. No es que quiero ganar dinero, sino hago que me gusta” Burch 19.08.2010

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nehmer damit in drei Gruppen ein. Manche sind dazu geboren, wie das bei ihm der Fall ist, während

andere nicht für diesen Beruf prädestiniert sind und um des Geldes wegen in die Gamarra kamen.

Ganz im Sinne moderner Skripts steht diese Karriere prinzipiell jedem offen; es gib keine askriptiven

Inklusionsbedingungen: „Wir sind alle gleich, egal ob Cholo, Schwarzer oder Weisser. […]. Das Empo-

rium wird gebildet von vielen Leuten, es kommt darauf an, dass man ein Kapitalist ist….“ (Burch

19.08.2010).392 Man muss jedoch ein Kapitalist sein. Die Frage ist nun: Kann also jeder „Kapitalist“

und jede „Kapitalistin“ in der Gamarra Karriere machen? Wie verlaufen solche Karrieren?

1. Anfängliche Inklusionsstrategien

Es gibt in Gamarra zwei Arten von Karriere-Geschichten. Patrons, die einer Comunidad angehören

und solche, die von aussen als fremde Patrons hinzu kamen. Es ist nicht ganz klar, ob die kommunal-

externen oder die kommunal-inkludierten Patrons zuerst waren. Die Literatur und die Aussagen der

Patrons stimmen in dieser Hinsicht nicht überein.393 Ich erörtere zuerst Karrieren von Patrons, die

einer Kommune angehören; dieses Muster ist in Gamarra zurzeit mit Abstand am weitesten verbrei-

tet. Der erste Karriereschritt muss meistens das Problem lösen, an Kapital (und Wissen) zu kommen,

um später ein kleines Geschäft zu mieten: Kommunen vermitteln, wie in den Kapiteln 6.1. bereits

erörtert, Wissen und/oder übernehmen wirtschaftliche Funktionen. Ein besonders einflussreicher

Patron, dessen Familie aus einer Kommune aus den östlichen Anden stammt, erzählt, dass er als bar-

füssiger Ambulante in Gamarra zu arbeiten begann und sich heute um viele Unternehmen kümmert.

Viele der interviewten Unternehmer bzw. zum Teil deren Eltern starteten in Gamarra als Ambulante,

als mobile Kleiderverkäufer. Doch nicht alle, erreichen es, ein derart einflussreicher Patron zu wer-

den, der viele Unternehmensnetzwerke verknüpft. Die Frage lautet also, wieso einige Patrons derart

steile Karrieren hinlegen, während andere nur langsam, das heisst, über Generationen hinweg die

Karriereleiter hochsteigen. Die meisten Unternehmer antworten, dass sie sich langsam „frei“-

arbeiteten. Ein Wolldeckenverkäufer meint: „Nach und nach [poco a poco] und natürlich mittels Spa-

ren; es geht nicht von jetzt auf heute, es dauert Jahre, sieben, acht Jahre, dass du mit einer anderen

Person arbeitest und daneben […] da ich verkaufte – ich arbeitete in diesem Bereich – sah ich andere

Orte, Freundschaften“ (Burch 16.07.2010b).394 Der jetzt selbständige Unternehmer hat also viele

Jahre für eine andere Person als Verkäufer gearbeitet und sich währenddessen ein Netzwerk aufge-

baut. Zusätzliches Startkapital stellte ihm seine Mutter zur Verfügung. Eine solche Karriere ist der

Normalfall. Erfolgreiche Patrons waren jahrelang angestellt bei einem Bekannten: “Die Mehrheit

arbeitet so, aber nur mit jahrelangen Bekannten, mit einer ehrlichen Person, und nicht mit irgendje-

392

Original: „Todos somos iguales. Sea cholo, sea negro, sea blanco. [...] El emporio está conformado por mucha gente, depende de es capitalista....” Burch 19.08.2010.

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mandem” (Burch 16.07.2010b).395 Sie arbeiteten nicht in vielen verschiedenen Kurz-

Arbeitsverhältnissen.

Doch wie machen andere Unternehmer schnell Karriere als Patron? Die Antwort ist wohl auch in den

ethnischen Segmenten zu suchen. Kommune ist nicht gleich Kommune.396 Von besonderem Vorteil

sind Kommunen, die Geld investieren müssen, weil sie es nicht in den formalen Geldkreislauf ein-

schleusen können. Auch Golte kommt zum Schluss, dass der Einstieg in die Karriere und somit oft die

gesamte Unternehmer-Karriere von kommunalen Vorbedingungen geprägt sind; dabei sind insbe-

sondere auch semi-legale Wirtschaftspraktiken ins Auge zu fassen, dass politische Grenzen wirt-

schaftlich genutzt werden.397 Aber auch das Heiratsfest hat in manchen Kommunen einen wirtschaft-

lich angehauchten Beigeschmack, wenn sich die Beteiligten stark an kommunalen Erwartungen ori-

entieren. Die Kommune, sprich die Heirat erleichtert es, ein Unternehmen zu führen. Die Kommune

sorgt dafür, dass das neu verheiratete Paar, ein Startkapital besitzt, welches es unternehmerisch

einsetzen kann. Zudem treten neue Compadres und Comadres als Unterstützer ins verwandtschaftli-

che System hinzu. Die Angehörigen der Kommune bevorzugen es manchmal, grössere Geldgeschenke

nur zu schenken, wenn der Bräutigam / die Braut aus derselben Kommune stammt; weil in einem

solchen Fall das Kapital innerhalb der Kommune bleibt. Ein erfolgreicher Karriereeinstieg ist also et-

was an eine erfolgreiche Heirat gekoppelt. Familie und Unternehmen sind seit Beginn aneinander

gekoppelt, was jedoch auch den Umgang mit Konflikt erschweren könnte.398

Eine weitere wichtige Möglichkeit für Startkapital bietet der Lehr-Patron. Verfügt ein solcher Patron

über Zugang zu Kreditanstalten, gibt er oder sie zuweilen Kleinkredite an die Arbeiter und Sub-

Patrons weiter. Aber auch für den Patron war es nicht einfach, Zugang zu Bankkommunikation zu

erhalten, da er sich zwischen formalen und informalen Erwartungen bewegt. Nicht alle Patrons schaf-

fen diesen Zugang, wobei dieser Schritt die Karriere ziemlich bald stagnieren lässt, sollte er nicht ge-

lingen. Wie gehen Patrons mit diesem Problem um? Sie besassen anfangs ausser eventuell einem

Haus offiziell kaum Vermögen.399 Ein international tätiger Patron antwortet auf meine Frage, ob der

Zugang zu angemessenem Kredit nicht auch für ihn ein Problem darstelle, folgendermassen: „Selbst-

verständlich. Als ich in Bolivien mit dem wie ich sage informalen Sektor begann, eh, zur Bank… weil

ich bin zwischen dem Formalen und dem Informalen, so sagte ich der Bank: ‚Ich brauche einen for-

393 Siehe bezüglich kommunal-externer Textilfabriken aus Übersee das einleitende Kapitel zur Gamarra: Kap. 5. 394 Original: “Poco a poco, eh claro ahorrando, no es de ahorita es de años, siete, ocho años que estás

trabajando con otra persona y aparte de este[...] como yo vendí esto, yo trabajé en esto, vi otros sitios, amistades “Burch 16.07.2010b 395

Original: “La mayoría trabaja así pero solamente con los conocidos de años , con una persona seria pues pero no con cualquiera“ Burch 16.07.2010b 396 Siehe dazu auch Kapitel: 6.1.2 und 6.2.2 397 Siehe das Beispiel einiger Gruppen der Aymara in Kapitel 6.2.2. 398

Siehe dazu das Kapitel 8. 399

Liegenschaften sind im Unterschied zu Firmenbesitz meist als Eigentum anerkannt. Der Punkt soll hier nicht ausgeführt werden.

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213

malen Kredit. […] Und danach sagte ich ihm: „Ich muss mir ein Lokal kaufen‘. Er sagt mir: ‚Gib mir

deinen Grundbesitz, der [für den Kredit] bürgen kann“. [Ich entgegne]: ‚Ich habe nichts. Deshalb

möchte ich ja einen Kredit kaufen‘. Ich musste dann den ersten Kauf mit meinem [ersparten] Geld

tätigen, also mit meinem eigenen Geld” (Burch 18.11.2008).400 Es ist also unabdingbar, am Anfang

einen gewissen Vermögensgrundstock zu besitzen, da man als Unternehmer, der formal kaum etwas

besitzt, aus Perspektive der Bank nicht kreditwürdig ist. Wie erreicht er den Zugang zu Kredit? Der

Zugang zur Bank, erfolgt allmählich „poco a poco“. Interessanterweise ändern sich die Erwartungszu-

sammenhänge jedoch nicht, weil der Patron sämtliche wirtschaftlichen Praktiken an staatliche kop-

pelt und die Abgaben beispielsweise via Mehrwertsteuer bezahlt und deshalb seinen Gewinn formal

ausweisen kann: “Sie kennen mich allmählich […]. Sie geben mir einige Kredite“ (Burch

18.11.2008).401 Die Bank kennt also den Patron mit der Zeit; es etabliert sich eine Vertrauensbezie-

hung. Sie gibt ihm Kredit, obwohl er offiziell nur einen Teil seines Vermögens vorweisen kann. Dass

der Patron mit der Bank eine langfristige Patronagebeziehung eingeht, zeigt folgende komplettere

Aussage desselben Unternehmers: “Da ich zum Beispiel in Bolivien einen Kredit erhalten wollte, ging

ich zur Bank; aber in meiner Faktur spiegelt sich nicht alles wieder, nicht wahr? In der Balance und in

der Buchhaltung sieht es noch schlimmer aus. Insofern sagen sie dir: ‚Sagen Sie mir, wie viel sie wirk-

lich fakturieren‘. Anders gesagt, die Bank weiss es: ‚Machen Sie sich keine Sorgen‘. So nennen wir der

Bank eine Balance, die wirkliche [Balance] und die Bank – zumal es das Bankgeheimnis gibt – erzählt

es niemandem. So erzählt man der Bank die Wahrheit; denn das ist beinahe, in Anführungs- und

Schlusszeichen, beinahe legalisiert. Alsdann wenn ich es der Bank preisgebe, sage ich ihm, – ich bitte

um hundert und sechzig habe ich fakturiert und vierzig erwirtschaftete ich durch den informalen

Sektor ohne Quittungen – so erzähle ich es einfach der Bank. ‚Ah, ja‘, sagt er. Verstehst du? Das ist

das Erstaunliche” (Burch 08.12.2008).402 Patronagebeziehungen beobachten ihre Interaktionsge-

schichte. Hat sich der Unternehmer das Vertrauen grundsätzlich mal erarbeitet, erhält er Kredite, so

dass er sich dann später selber als Bank bezeichnet. Die Bank bzw. der betreffende Bankier und der

Unternehmer profitieren in dieser Patronagebeziehung symbiotisch. Die Bank kann mehr Kredite

vergeben und der Unternehmer dieselben beziehen. In diesem spezifischen Verhältnis ist die Bank in

400

Original: „Por supuesto. Cuando yo comencé en Bolivia con el sector así como te digo informal, eh al banco porque yo estoy entre el formal y el informal, entonces al banco le dije: “Necesito un crédito formal [...].Y después le dije: “Necesito comprarme un local”. Me dijo: “Dame tus bienes que puedan avalar”. No tengo. Para eso quiero comprar. Entonces la primera compra tenía que ser con mi dinero, sea con mi dinero” Burch 18.11.2008. 401 Original: “Ya me conocen pero poco a poco [...]. Me está dando algunos creditos.” Burch 18.11.2008. 402 Original: “Como yo quería sacar por ejemplo un prestamo en Bolivia, iba al banco pero en mi factura no todo se refleja, ¿lo cierto?, en el balance y en la contabilidad por lo mal. Y en tanto dicen: ‘Digame cuanto Usted factura realmente’. Sea el banco sabe, no se preocupe. Entonces nosotros les damos un balance, el verdadero al banco y el banco como hay el secreto bancario, ellos no cuentan a nadie. Entonces al banco uno cuenta la verdad pues eso es casi, casi entre comillas casi legalisado. Entonces si al banco yo entregala, yo le dice, yo le pido cien y 60 puede facturado y 40 por el sector informal sin facturar yo lo cuento pues al banco. “Ah, ya” dice. ¿Entiendes? Este es lo curioso” Burch 08.12.2008.

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der Rolle eines Patrons, da die Organisation bestimmt, ab wann sie dem Unternehmer vertraut und

ihm den geforderten Kredit ausstellt. Dass die Bank ihn hingegen nicht den Behörden ausliefert, ist

institutionalisiert, das heisst, es wird allgemein nicht erwartet, da das Bankgeheimnis gesetzlich ver-

ankert ist. Der Unternehmer erachtet diese prinzipiell nichtkapitalistische Praktik als das freund-

schaftlich generell erwartete „dar la mano“ (sich die Hand reichen): „Es ist schwierig, aber in diesen

Ländern, in diesen Ländern hilft man sich auch gegenseitig, nicht wahr? …. in Ländern wie zum Bei-

spiel Bolivien oder Ecuador, die Buchhaltung und all dies ist zum Glück nicht notwendig“ (Burch

08.12.2008).403 Wieder stossen wir auf das „dar la mano“ im Sinne einer totalen Institution von

Mauss. Da in Bolivien das Bankgeheimnis offiziell, sprich gesetzlich verankert ist, könnte man sich

jedoch fragen, ob es sich bei der beschriebenen Praktik überhaupt um eine informale handelt oder

ob man es hier mit „legaler“ Patronage zu tun hat. Die Patronagebeziehung mit der Bank löst zwei

Probleme zugleich. Einerseits erspart sie dem Unternehmer die staatlichen Abgaben in Form von

Mehrwertsteuern. Die Mehrwertsteuer ist mit 19% eine der Haupteinkommenssteuer des peruani-

schen Staates.404 Zweitens ermöglicht die Finanz-Patronage den Zugang zum Zentrum des Wirt-

schaftssystems; Patron und Klient kommunizieren in der Rolle von Kreditgeber und Kreditnehmer.

Der Zugang zur Formalität kostet anfänglich etwas Geld, aber danach sind gutes Auftreten und adä-

quate Umgangsformen gefragt, um die Rolle des Kreditnehmer-Klienten zu erfüllen. Dass der Bank-

angestellte einen Unternehmenspatron als vertrauenswürdigen möglichen Klienten einstuft, ist ein

gewisses Vermögen und wohl auch eine gewisse Erziehung unabdingbar.

Obige Ausführungen verdeutlichen Unterschiede zwischen Funktionsbereichen. Es erwarten nicht

alle Funktionssysteme Patronagebeziehungen. In der Verwaltung gibt es kaum solche langfristige

Patronagebeziehungen zu Kunden wie im Finanzwesen. So bedauert der Unternehmer, dass es teuer

und aufwändig sei, ein Unternehmen zu besitzen, da die politisch administrativen Schritte jedes Mal

extra bezahlt bzw. mit Geldkommunikation beschleunigt werden müssen. Die politische Formalität

sieht, anders als das Finanzwesen, keine Patronagebeziehungen vor. Die Bezahlungen müssen jedes

Mal von neuem getätigt werden; die Beteiligten bleiben füreinander Fremde. „Bei jedem Schritt, bei

jedem administrativen Schritt, um Papiere zu machen, um eine Unternehmung zu führen, muss man

all ihnen Geld geben… man muss ihnen versteckt Geld geben. Und es ist beinahe ein Gesetz. Der

Herr, welcher dir die Formalität erledigt, falls du ihm zuvor kein Geld gibst, ein Geld in Form eines

Trinkgeldes [propina], wie man sagt, dauert es dir drei oder fünfzehn Tage. Und wenn du ihm etwas

gibst, erhältst du es in fünf Minuten“ (Burch 08.12.2008).405 Der Zugang zur formalen Verwaltung und

403

Original: „Es difícil pero en estos países, en estos países también se ayuda, ¿no?. En países como por ejemplo Bolivia o Ecuador porque la contabilidad y todo eso no es exigente por suerte” Burch 08.12.2008. 404

Momentan finden in Peru jedoch politische Programme Unterstützung, welche die Mehrwertsteuer etwas senken, um so den Konsum anzukurbeln. Siehe dazu: Frasudia UG 2009. 405 Original: “En cada paso, en cada paso de la administración para hacer los papeles para haber una empresa, todo, hay que darle dinero a todos pero ... hay que darles dinero escondido. Y es casi con ley, el Señor que te

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der Zugang zum formalen Finanzwesen werden also durch zwei verschiedene Arten der Informalität

hergestellt. Beide Arten der Informalität werden interessanterweise ohne Netzwerke initiiert. Ein

Unternehmer kann in der Verwaltung einen unbekannten Beamten bestechen; ebenso kann er mit

einem Bankangestellten mit der Zeit eine Patronagebeziehung eingehen, ohne dass man sich zu In-

teraktionsbeginn gegenseitig gekannt hätte oder von jemandem als „amigo“ (Kollege, Freund) vorge-

stellt wurde, obwohl sich dies sicherlich beschleunigend auswirken würde. Ist der Verwaltungsbeam-

te generell jedem offen bzw. inklusiv,406 ist das Finanzwesen geschlossener bzw. exklusiver. Es prüft

genau, welcher Unternehmer als möglicher Kandidat für eine Patronagebeziehung in Frage käme.

Personen, die keine einflussreichen Unternehmer sind, kommen als informale Klienten nicht in Frage.

hace el tramite si no le das dinero delante como se dice un dinero como la propina, te demora tres días o quince días. Y si le das, te sale en cinco minutos” Burch 08.12.2008. 406

Vergleiche Kapitel 4.2.

Abbildung 16: Stellenausschreibungen sind allgegenwärtig, vor Galerien sind sie geordneter.

Quelle: Eigene Fotos, Gamarra frühmorgens, Sommer 2010

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Mittlerweile gibt es jedoch auch „Karriere- bzw. Einstiegsmöglichkeiten“ ohne direkte kommunale

Zusammenhänge. Doch der Weg zu einem Patron dauert damit lange und ist zudem sehr ungewiss.

Meistens sind solche Karrieren schon von Anfang an beschränkt. Heute brauchen Unternehmer zu-

weilen ein, zwei Arbeiter, die keine strategischen Aufgaben übernehmen, sondern lediglich in Spit-

zenzeiten produzieren. Dieses Problem lösten die Unternehmer mit örtlichen Inseraten (siehe Abb.

16). Möglichkeiten der Ausnützung sind selbstverständlich vorhanden. Eine ehemalige Arbeiterin

fragt beim Einkaufen manchmal die Angestellten: „Ist dies deine Tante? Ja, es ist meine Tante“, sie

erkenne genau, dass dies nicht stimme und fragt weiter, ob sie denn bezahlt würde. Das Mädchen

antwortet: „No, sie geben mir einfach mein Essen, mein Essen und meine Unterkunft“. Die Kinder

gehen nicht zur Schule auch nicht zur Abendschule und diese Mädchen waren nicht… mit Onkel…

Nichten, nichts“ (Burch 18.07.2011).407 Interessanterweise ersetzt die verwandtschaftliche Semantik

zuweilen die Formalität. Denn falls sich mal die Steuerbehörde in die Semiperipherie verirrt, so sage

man bloss: „Nein, er ist mein Neffe, er ist in der Schule, er studiert“ (Burch 18.07.2011).408 Liegen also

verwandtschaftliche Verhältnisse vor, ist eine solche Patronage-Beziehung auch aus Sicht der Steuer-

behörde rechtlich legitim.

Sobald ein Unternehmen ein wenig etabliert ist, kann er oder sie Kommissionäre anstellen. In der

Gamarra arbeiten viele vertragslos als sogenannte „comisionistas“ im Akkordlohn. „Comisionista“

definiert ein Arbeitsrecht-Anwalt aus Lima wie folgt: “Wenn du [als comisionista] verkaufst, sagen wir

im Wert von 10’000, 20’000, 30’000 Soles im Tag, geben sie dir einen Anteil. Aber sie bezahlen nicht

deine Sozialleistungen. Das nennt sich ‚comisionista‘. Und wenn sie nichts verkaufen, kassieren sie

nichts ein, aber sie bezahlen dir immerhin ein Minimum. Das ist das, was oft in der Gamarra passiert.

Diese Firmen besitzen dann verschiedene Stände, Läden innerhalb der Gamarra und rekrutieren die-

se Art von Personen, die man Kommissionäre nennt“ (Burch 20.08.2010a).409 Die zunehmende inter-

nationale Konkurrenz vor allem aus China machte solche Arbeiter in letzter Zeit immer notwendiger.

Eine ehemalige Angestellte meint: „Du musst den Materialpreis senken, um wettbewerbsfähig zu

sein und vor allem wird den Angestellten weniger Lohn bezahlt. Die Konkurrenz unter den Arbeit-

nehmern ist gross. Viele kommen aus den Provinzen, die sehr billig arbeiten“ (Burch 18.07.2011).

Beinahe ganz Gamarra ist mit Annoncen tapeziert, man findet Stellenausschreibungen an Laternen-

pfosten, Fassaden, Mülleimern… Arbeit ist gefragt.

407 Original: „Este es tu tía? Sí, es mi tía (stimmt nicht) – Ah, y te pagan? – No me dan mi comida no más, mi comida y mi alojamiento. Gehen nicht zur Schule, nicht mal zur Abendschule. Y estas chicas no habían sido este…. Con este tíos, sobrinas, nada” Burch 18.07.2011. 408

Original: No, este es mi sobrino, está en el colegio, el estudia” Burch 18.07.2011. 409 Original: “Si tu vendes, decimos por valor de 10’000, 20’000, 30’000 soles en un día, te da un pequeño porcentaje. Pero no te pagan tu beneficio social, eso se llama comisionista. Entonces.... y si no venden nada, no cobra nada pero te pagan de todas maneras un minimo. Entonces eso es lo que sucede muchas veces en Gamarra. Entonces esas empresas tienen diferentes standes, tiendas dentro de Gamarra y recrutan este tipo de personas que se llaman comisionistas” Burch 20.08.2010a.

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Gamarra verdichtet Arbeitsmärkte temporär und räumlich. Diese Arbeitsmarktzentren, die sich zeit-

lich begrenzt allwöchentlich vor bestimmten Galerien verdichten, sind besonders begehrt. Ich führte

eine nicht-teilnehmende Beobachtung bei der Galerie „San Miguel“ durch (vgl. Abb. 17). Gemäss der

Unternehmer, gibt es aber auch vor der Galerie „Yuki“ einmal in der Woche einen verdichteten Ar-

beitsmarkt. Es kommen hauptsächlich Leute aus den Provinzen und sammeln sich zwischen 8h und

9h bevor die Gamarra offiziell um 10h öffnet. Wie schon seit Jahrzehnten notiert eine Person der

Galerie-Administration die Inserate noch immer ritualartig von Hand auf die Tafel. Manchmal er-

scheinen die Patrons der Galerie ebenfalls, um sich mehrere Kandidaten anzuschauen, aber meistens

notieren sich die Kandidaten die Nummern und rufen im entsprechenden Geschäft an und/oder ge-

hen in der Galerie vorbei. Auch auswärtige Patrons, die ausserhalb der Gamarra produzieren, nutzen

die Gelegenheit einer solchen Versammlung und selegieren ohne administrativen Aufwand einen

Arbeitnehmer. Zu solchen zeitlich begrenzten Arbeitsmarktzentren kommen Unternehmer aus ver-

schiedenen Orten, um Personal anzustellen. Gamarra ist ein interregionaler Arbeitsmarkt. Es ist be-

kannt, dass viele Migranten in Gamarra einen Job suchen. So sparen sich die Patrons Ausgaben für

Inserate in Zeitungen und/oder im Internet; nicht alle besitzen zudem Zugang zu Internet, vor allem

die neu eingewanderten Leute aus den Provinzen. Die Unternehmer nehmen ihre neu eingestellten

Arbeiter in andere metropolitane Räume Limas mit, beispielsweise nach San Luis, Victoria, San Borja

usw.410 Neuerdings verlagerte sich die Produktion nach aussen, da die Miet- und Liegenschaftspreise

in der Gamarra sehr teuer sind. Es kam zu einer Dezentralisierung der Produktion. Vor allem Unter-

nehmer, die neu in Gamarra begannen und am Anfang ihrer Karriere stehen, können sich die hohen

Mieten nicht leisten. Sie sind anfänglich dann auf einen „Absatz-Patron“ in Gamarra angewiesen,

später besitzen sie in der Gamarra meist (zusätzlich) einen eigenen kleinen Stand, produzieren die

Ware jedoch weiterhin an einem anderen Ort: „Sie haben also ihre Geschäfte an anderen Orten, aber

sie verkaufen in der Gamarra“ (Burch 18.07.2011).411 Dies ist möglich, weil die Logistik, wie in Kapitel

6.2.3 erörtert, formal organisiert ist. Manchmal verkaufen neue Unternehmer auch ohne Stand als

„Ambulantes“ (mobile Strassenhändler). Aber viele von ihnen besitzen eigene Werkstätten. Sobald

man eine retera (Maschine, die Geraden zuschneidet) und eine remalladora (Kettelmaschine) besitzt,

handelt es sich gemäss einer Unternehmerin (Burch 18.07.2011) bereits um ein taller (bzw. um eine

micro empresa).

410

Die Informationen beruhen auf Beobachtungen und informalen Interviews. Dies bestätigt aber auch eine ehemalige Arbeiterin der Gamarra, die heute in San Marcos studiert. Siehe: Burch 18.07.2011. 411

Original: „Entonces tienen sus talleres en otros lugares pero venden en Gamarra“ Burch 18.07.2011.

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218

Abbildung 17: Die „Pizarra“ (Tafel): Zeitlich begrenztes Arbeitsmarktzentrum

Quelle: Eigene Foto, Juli 2010, Gamarra, vor der Galería „San Miguel“

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219

2. Vom informalen zum formalen Vermittler

Weitere Inklusionsmöglichkeiten kommunal-externer Personen

Es gibt zwei Arten von Patrons: Kommunal-externe und Comuneros, bzw. kommunal-interne. Dies

möchte Abbildung 18 ansatzweise grafisch etwas verdeutlichen, welche aus der Sicht eines Migran-

ten, der einer Kommune angehört, erstellt wurde.412 Die grauen Pfeile symbolisieren eine Karrierelei-

ter. Wir befinden uns in der Erörterung momentan auf der unteren Ebene, wo es um die Zugänge

zum Arbeitsmarkt geht. Zugänge gibt es also sowohl als „fremder“ wie auch als kommunal-interne

Person. Diese beziehen sich aufeinander. Ein Kommissionär kann bei einem Unternehmer als „frem-

der“ Arbeit finden. Arbeitsverträge oder Zeugnisse verwendet man auch gegenüber solchen meist

zeitlich-begrenzt angestellten Personen nicht. Kommissionäre bleiben jedoch eher „Exkludierte“, da

sie später weniger als Sub-Patrons in das Unternehmensnetzwerk des Patrons inkludiert werden.

In der Abbildung 18 werden unter den Kommissionären die Zwischenhändler als weitere kommunal-

externe Personen aufgelistet. Diese werden im Unterschied zu den Kommissionären ins Unterneh-

mensnetzwerk inkludiert. Kann ein Zwischenhändler via Patronage ins Netzwerk aufgenommen wer-

den, bedeutet dies für alle Beteiligten ein Karrierefortschritt. Anhand von Kreditvergabe kann schnel-

ler kommuniziert werden. Was heisst das? Wie wird in diesem Fall das Vertrauensproblem gelöst?

Dies geschieht laut einer Unternehmers-Tochter mittels Zeit; so erzählt sie, dass kommunal-externe

Unternehmer bei ihren Eltern Kleider in grossen Mengen kauften: „NEIN, nein, es waren keine Dorf-

Verwandten [paisanos]. Sie waren aus verschiedenen Landesteilen. Sie kamen von den Provinzen,

um in der Gamarra zu kaufen, um so Gewinn zu machen. Zuerst gingen sie zum zentralen Markt aber

danach begannen sie, in die Gamarra, um zu kaufen. […] Sie verkauften die Kleider dann in ihren

Läden oder auf den Messen. […]. Sie nahmen Waren in grossen Mengen mit, um sie dort zu verkau-

fen. Und sie kehrten für mehr Waren zurück. Und so lernte man sich mehr und mehr kennen, nicht

wahr. […] Es war billiger, als in der Provinz die Kleider bei einem Schneider in Auftrag zu geben”

(Burch 23.07.2011).413 Zum inneren Unternehmensnetzwerk gehören solche kommunal-externen

Zwischenhändler, erst, wenn man ihnen Ware auf Kredit vergibt. Es erstaunt, wie risikobereit die

Unternehmer sind. Denn Diebstähle dieser Art können nur kognitiviert werden, da die Mittel fehlen,

aber wohl auch, weil die kommunalen Erwartungen Konflikte unterdrücken. Auf diesen Aspekt kom-

me ich im späteren Verlauf dieses Kapitels nochmals zu sprechen. An dieser Stelle möchte ich ledig-

lich festhalten: Es kann also eine interorganisationale Unternehmensbeziehung aufgebaut werden,

412

Die Abbildung soll keinesfalls als Abbild der Realität gelten. Sie soll lediglich die Argumentation unterstützen. Die Abbildung ist keinesfalls vollständig. Ein Unterfangen, das auch nicht angestrebt wird. 413 Original: “NO, no no, sea no eran sus paisanos. Eran de diferentes partes. De provincia vinieron a comprar a Gamarra en el gano. Esto es al comienzo del mercado central y después empezaron ir a Gamarra a comprar. [...]Vendían en sus tiendas o en las ferias. [...] Llevaban mercadería a mayor para venerla allá. Y volvían por más mercadería. Y así sigan conociendose, conociendose, no? [...] Entonces era más barato que hacer mandar a un sastre allá en provincia” Burch 23.07.2011.

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die sich nicht direkt auf kommunale Strukturen stützt (in der Abb. 18 mit einem dünnen Pfeil mar-

kiert). Diese Praktik macht deutlich, dass neben der „kommunal gestützten Patronage“ eine weitere

Beziehung vorkommt, welche jenseits von kommunalen Strukturen angesiedelt ist. Man könnte sie

„klientelistische Freundschaft“ nennen. Die Praktik wurzelt jedoch indirekt in vormodern gewachse-

nen Ideen, nämlich Fremde als Anverwandte (Compadres und Comadres) aufzunehmen und gegen-

über Fremden einen offenen Umgang zu pflegen. Dies entspricht der totalen Institution des „dar la

mano“. Es wird erwartet, dass man sich gegenseitig hilft und man kann erwarten, dass Personen aus

einer anderen Kommune diese Erwartung ebenfalls kennen. Ich bin mit dem Thema „Kredit“ wieder

am Anfang dieses Kapitels angelangt, welches mit dem Problem der Kreditvergabe begann. Es ist

erstaunlich, wie einfach gewisse klientelistische Zweckfreundschaften in Gamarra (und in Lima all-

gemein) eingegangen werden. Die Unternehmerin instruiert mich genauer, ab wann ein Zwischen-

händler ins Netzwerk inkludiert ist: “Diese Leute, die ein Mal kommen, zwei Mal… die konstant wie-

der kommen… so sind sie schon Bekannte. Dann sind sie deine; du kannst ihnen die Ware geben, weil

du sie kennst. Aber an Leute, die zum ersten Mal kommen, nicht. […] und später, wenn sie zum ers-

ten Mal mittels Kredit [Waren] mitnehmen, ist es dein langjähriger Klient. Denn ihm gibst du die Wa-

ren und du gibst sie ihm auf Kredit, denn es sind nicht mehr Leute, die du nicht kennst“ (Burch

23.07.2011).414 Solche Zweckfreundschaften entstehen erstaunlich unkompliziert. Personen richtig

einzuschätzen ist in der Gamarra karriereentscheidend; Informalität ist vom Prinzip her unsicher be-

züglich Erwartensenttäuschung. Dies sind sich die Unternehmer derart bewusst, dass Enttäuschun-

gen einkalkuliert werden und weniger skandalisiert werden. Dieser Schritt, sprich kommunal-externe

Unternehmer zwecks Absatzes ins eigene Unternehmensnetzwerk aufzunehmen, ist jedoch nicht

zwingend notwendig, um ein erfolgreicher Patron zu werden. Die Möglichkeit befindet sich in der

Abb. 18 deshalb auch ausserhalb des grauen Karriere-Pfeils. Dennoch handelt es sich um einen nicht

unbedeutenden Karriereschritt. Vor allem erfolgreiche Patrons verstehen es, kommunale Patronage

und Patronage mit Ausserkommunalen gekonnt zu verbinden. Dies bezieht sich auch auf den überre-

gionalen Absatz – es gibt viele Gross-Kunden, welche Kleider kiloweise in den entlegensten Provin-

zen verkaufen: „Man sammelt so viele Ware, dass man sie manchmal per Kilo verkauft; und es gibt

Leute, die es verstehen, diese ins Innere zu bringen für Warenmessen“ (Burch 18.07.2011)415 – wie

auf den lokalen Absatz vor Ort. Man kommuniziert mit Kunden und passt das Sortiment an. Mikroun-

ternehmen sind nicht nur zeitlich höchst flexibel sondern können sich sofort den Kundenwünschen

anpassen. Es ist eine Anpassungsfähigkeit, die geradezu erstaunt. Zugleich spezialisiert man sich auf

414 Original: “Esa gente que viene una vez, dos veces que viene constantamente... cuando ya son conocidos, ya son tuyos, puedes darles mercadería porque ya les conoces. Pero a gente que viene la primera vez no. [...] y luego cuando llevan primera vez por crédito.. es tu cliente de tiempo, es que a el le das la mercadería y le vas a dar a crédito pero no es gente que no conozgas” Burch 23.07.2011. 415

Original: „Se junta tanta mercaderia que a veces ya venden por kilos; y hay gente que se lo saben llevar al interior para ferias” Burch 18.07.2011.

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ein Produkt: „Herren und Frauen, 18, 35 Jahre, das ist mein Markt, mein objektiver Sektor. […] Du

identifizierst dich inklusive mit einem eigenen Namen. Du identifizierst, erschaffst jenen familiären

Raum. Ich habe viele Klienten, von welchen ich den Ehemann, die Mutter und die Kinder kenne. Das

ist der Raum, dass du ihnen ein individuelleres Produkt anbieten kannst, weil du die ganze Familie

kennst und du offerierst ein Produkt, das der Notwendigkeit jedes Familienmitglieds entspricht. Du

erreichst diesen Kenntnisgrad von deinem Klienten, dass du weisst, dieser Person gefällt diese Farbe,

jene Person besitzt diese Grösse, dieser Person gefällt das und gefällt jenes nicht, jene Person wird

dieses und jenes Modell bestellen“ (Burch 20.08.2010b).416 Aufgrund von Kundenrückmeldungen

produziert eine Unternehmerin zum Beispiel neuerdings auch gefragte Baby-Kleidung, ein andere

entdeckte Mode für Mollige. Es besteht also in Gamarra ein Informationsnetzwerk zwischen Produ-

zenten und der Kundschaft. Denn selbst ein Kunde könnte sich als interessanter Zwischenhändler

entpuppen.

Die erfolgreichen Patrons: „…saben comunicarse“ (Sie wissen es, sich zu verständigen.) (Burch

18.07.2011). Möglichkeiten zur „zweckfreundschaftlichen Beziehungen“ können generell nur wahr-

genommen werden, wenn man viel spricht. Es gibt überall und immer Gelegenheit, interessante Per-

sonen zu treffen, welche für die eigene Unternehmung essentiell sein könnten. Die Unternehmer

verharren keinesfalls innerhalb kommunaler Patronage. Selbst „Patronage, die sich auf kommunale

Erwartungen“ stützt, favorisiert selbständige Unternehmer, die ihre Kreativität und Kontakte nutzen

und diese quasi ins Unternehmensnetzwerk einspeisen. Kontrolle verliert dabei automatisch an Be-

deutung; Verantwortung wird zu Selbstverantwortung. Neben der kommunalen strong-tie Patronage

gilt es die weniger gut sichtbare aber ebenso wichtige „zweckfreundschaftliche weak-tie Patronage“

zu beachten. Letztere Verhältnisse bestehen wie erstere als Patronage, obwohl sich die Beteiligten

weit weniger sehen, als dies bei der kommunalen Patronage der Fall ist. Beispiele dieser „Zweck-

freundschaft“ gibt es etliche und dennoch finden sie in der Literatur keine Beachtung. Sie sind jedoch

essentiell. In Kapitel 6.1.3 wurde erörtert, wie Patrons Kredite an ihre Klienten vergeben. Dabei han-

delt es sich meist um eine kommunal gestützte Patronage. Doch es gibt Alternativen, die jedoch indi-

rekt wohl ebenfalls auf kommunalen Erwartungen basieren. „Mein“ Taxifahrer in Lima schilderte mir,

wie er alternativ zur Bank oder alternativ zu „Paisanos“ (das heisst, kommunaler Patronage) zu Kre-

dit kam. Es ist eine Handlungsweise, welche generell institutionalisiert ist, aber eher keine „starke

Institution“ darstellt, da sie quasi durch Zufall oder gute Leistung initiiert wird und der Verlauf nicht

416 Original: „Hombres y mujeres 18, 35 años, eso es mi mercado, mi sector objetivo. […] Tu identificas inclusivo

con nombre propio. Identificas, creas ese lapso de familiaridad. Yo tengo muchos clientes a los que conozco al esposo, conozgo a la mama y conozco a los hijos. Eso es el lapso de que tu puedes ofrecerles un producto más individualizado porque tu conoces a toda la familia y les vas ofreciendo un producto a cada necesidad a cada miembro de la familia. Llegas a tener ese grado de conocimiento de tu cliente que puedes saber a tal persona le gusta tal color, tal persona es de tal talle, a esta persona le gusta esto, no le gusta esto, esta persona me va pedir tal modelo” Burch 20.08.2010b.

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klar erwartbar ist: Als Taxifahrer baut man sich ein Kundennetz auf; er selbst spricht von einer „cade-

na“, einer Kette. Einen verlässlichen Taxifahrer zu kennen, ist in Lima wertvoll. Der Taxifahrer, wel-

cher mich zuweilen in die Gamarra begleitete, hatte das Glück, von einem entfernten Kunden einen

wohlhabenden Bankdirektor der „Banco de Nación“ „vermittelt“ bekommen zu haben, von dem er

noch nie etwas gehört hatte. Doch schon bald nutzte der Direktor den Taxiservice als „taxista de con-

fianza“ (Vertrauens-Taxi), um zu schwierigen Zeiten pünktlich am Flughafen zu sein. Wieso? Er, der

Taxifahrer erschien nie zu spät. Dies ist eine Leistung und basiert nicht nur auf genauer Kenntnis der

Verkehrslage – denn auf Limas Strassen ereignen sich viele nicht voraussehbare Dinge – sondern

auch auf Einsatzbereitschaft, mehrere Minuten zu früh auf den Kunden zu warten, sprich sehr wert-

volle Arbeitszeit der Pünktlichkeit zu opfern. Der Direktor nahm seinen pünktlichen Taxifahrer somit

als vertrauenswürdig wahr und übertrug dieses Vertrauen, welches der Fahrer in einem Kontext er-

arbeitete, auf ein anderes: Auf die Rolle des Kreditnehmers. Der Direktor gab ihm einen Kredit, und

nicht nur das, er stellte ihm den Kredit zu einem besseren Preis aus und erledigte ihm auch noch alle

„papeles“ (den administrativen Kredit-Service), wobei man ansonsten für jedes „papel“ Beschleuni-

gungsgeld bezahlen müsste. Der Taxifahrer konnte sich mit der schnellen und stark verbilligten Inklu-

sionshilfe ins Wirtschaftszentrum einen besseren Wagen kaufen. Er sparte damit gut 4‘500$, wozu

noch administrative Kredit-Service Kosten zu addieren wären.417 Insofern gibt es in Lima solche selt-

samen Personen wie einen „amigo-gerente“, das heisst ein „freundschaftlicher Geschäftsführer“. Das

ist der Ausdruck, den der Taxifahrer verwendet, wenn er von seinem wohlhabenden Kunden spricht.

Die Bezeichnung zeigt, wie Patronagebeziehungen jenseits von direkter Bekanntschaft relativ schnell

zustande kommen. Es veranschaulicht auch, wie Organisationsgrenzen (hier diejenige der Bank) er-

weitert werden und sich mit Freundschaftsbeziehungen mischen, so dass der Direktor zu einem

„Amigo-Direktor“ wurde. Diese Art von Patronage hat mit kommunalen Erwartungen direkt eher

weniger zu tun. Sie basiert auf einem „weak-tie“ Verhältnis. Der Taxifahrer sah den Bankdirektor nur

selten drei, vier Mal, wenn dieser kurzfristig international verreiste. Dennoch reichte dies interessan-

terweise, um einen verbilligten Kredit von ihm zu erhalten. Die herausragende Leistung reichte, da-

417

Das Auto kostete 10‘000 Dollars. Davon konnte er 5000 Dollars selbst bezahlen, für die restlichen 5000$ bekam er vom Bankdirektor einen Kredit, den er innert 5 Jahren zurückbezahlt. Die Bank verdient damit 4500 Dollars mehr. Das Auto kostet ihn somit 14´500 Dollars, aber nur weil der Direktor ihm den Kredit zu einem besseren Preis gab, ansonsten würde man gut 19´000 Dollars für diesen Wagen plus die erheblichen Kredit-Service Gebühren („papeles“) bezahlen. Der Taxifahrer bezahlt jetzt den Kredit monatlich mit 160$ Dollars zurück. Ohne Informalität hätte der Taxifahrer keinen Kredit erhalten, denn die Gemeindekassen verkaufen Kredite nur zu sehr teuren Preisen. Autos werden in Lima stark nachgefragt, sie ermöglichen dem Taxifahrer Selbständig-keit. Der Taxifahrer rechnet: Kostet ein Auto 13‘000$ und kann der Betreffende nur 1000$ bezahlen, kann er von der Gemeindekasse einen Kredit aufnehmen. Ein Auto-Kredit von 12‘000 Dollar erhält man während einer fünfjährigen Laufzeit, wobei der Gemeindekasse täglich 50$ zu entrichten sind. Das Autos kostet statt der 12‘000 Dollars insgesamt gut 24‘000 Dollars. Den formalen Weg beschreiten zwar einige seiner Kollegen, doch manche trieb es komplett in den Ruin. Es gibt in Lima keine Versicherungen und Auto-Diebstähle oder auch Unfälle sind keine Seltenheit. Quelle: Eintrag eines informellen Gesprächs ins Forschungstagebuch am 5. Juli 2010.

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mit er „ihm die Hand gab“ (dar la mano). Limas Bewohner pflegen einen „offenen“ Kommunikations-

stil; jeder könnte in Frage kommen, um bei einem Problem ein Patron oder eine Patronin für jeman-

den zu sein. Insofern existiert in Lima neben der „kommunalen strong-tie Patronage“ – es hört sich

paradox an – quasi eine zweckfreundschaftliche „weak-tie Patronage“.

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224

Abbildung 18: Karriereschritte, vereinfacht in Bezug auf kommunale Strukturen

Graue Pfeilbalken: Wege der Karriereschritte

Dünne Pfeile: Unternehmensbeziehungen (bzw. Netzwerke)

Die Karriere beginnt meist bei Punkt 1. Ambulante (Strassenverkäufer), dies war vor allem früher der Fall,

oder bei Punkt 2. Lehrling. Der andere Karrierestart erfolgt als Kommissionär, das heisst, mittels Arbeitsbe-

ziehung, die sich zuerst auf wirtschaftliche Kommunikation beschränkt. Wie die Kommissionäre sind auch

die Zwischenhändler kommunal-externe Personen.

Kommuneros, die informalen Zugang oder formalen Zugang zur Weltwirtschaft besitzen, können Unter-

nehmensbeziehungen mit Personen eingehen, die noch am Anfang der Karriere stehen oder irgendwo auf

dem aufwärtsgerichteten Balkenpfeil stecken geblieben sind.

Abschliessend erörtert dieses Kapitel einen Karriereeinstieg, der rechts oben in der Darstellung beginnt.

Dies ist der Fall, wenn Personen mit Zugang zur Weltwirtschaft mit sogenannt „Informalen“ eine Unter-

nehmensnetzwerk lancieren

Quelle: Eigene Darstellung

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Ich möchte kurz auf den eingangs erwähnten erfolgreichen Patron zurückkommen, um dann die Liste

einiger Karriereschritte innerhalb des dicken grauen Pfeils von Abb. 18 kurz zu verdeutlichen. Besag-

ter, erfolgreicher Patron, Señor Morales, fasst in wenigen Worten seine gesamten Karriereschritte

zusammen. Zuerst arbeitete er, „im [Bereich] fertiger Kleider: Kleider verkaufen, Hosen, Hemden…

im Verkauf. Danach arbeitete ich in einer Werkstatt [taller], wo Unterwäsche hergestellt wurde. Dar-

aufhin arbeitete ich bei der Stoffproduktion und danach öffnete ich [mein eigenes Geschäft]. So er-

öffnete ich mein erstes Stoff-Geschäft. Danach widmete ich mich der Konfektion und schliesslich

blieb ich bei den Mode-Aggregaten, denn du musst Alternativen suchen… oder [anders gesagt], was

fehlt dem Mikro- und Kleinunternehmer, um ihm zu helfen. Gib ihnen, damit sie zufrieden sind; wenn

er verkauft, verkaufst [auch] du. Du musst also das primäre Material zur Verfügung stellen, all diese

[Sachen], die Mode-Aggregate sind, damit sie sie dir herstellen; sie sind zufrieden; sie sind glücklich

und du machst gute Produkte“ (Burch 19.08.2010). 418 Dass ein Patron wie hierzulande im Mittelalter

seinen Arbeitern das Werkzeug zur Verfügung stellt, ist interessant. Ich komme sogleich auf den da-

durch vermittelten Zugang zur formalen Weltwirtschaft zu sprechen. Vorerst möchte ich Bedingun-

gen erwähnen, die ein Arbeiter erfüllen muss, wenn er mit einem Patron zusammenarbeiten will. Ein

angehender Unternehmer-Patron muss nicht nur lernwillig sein, er muss die Personen des Patrons

kennen lernen und sich selbst kennen lernen lassen: „Aber ich muss [als Klient] lernen [wollen].

Wenn du hier lernen wirst, lernst du andere Klienten kennen: Zulieferer. Man lernt dich kennen”

(Burch 19.08.2010).419 Der Patron Señor Morales lernte vieles noch aus erster Hand von Gamarras

frühsten Patrons, den sogenannten Patriarcas. Um Karriere zu machen, muss man in verschiedens-

ten Bereichen gearbeitet haben. Ich drücke dies generalisiert aus, denn das Medium Arbeit bzw. Job

löst das Problem, möglichst viele Kontakte in unterschiedlichen Bereichen zu sammeln. Umfassende

Netzwerke aufzubauen, in welchen man als „Patron“ Brückenpositionen besetzt, ist in Lima ein all-

gemeines Karriereziel, wie in Kapitel 9 verdeutlicht wird. Man muss an verschiedenen Orten gearbei-

tet haben. Im Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Struktu-

ren wurde die dezentrale Marktpräsenz erörtert: Unternehmer eröffnen mehrere kleine Unterneh-

mungen an verschiedenen Standorten und umgehen damit die fremde Besteuerung des staatlichen

Patrons, welchen sie als solchen nicht akzeptieren, da er gemäss ihrer Ansicht keine reziproken Aus-

tauschbeziehungen einzugehen im Stande ist. An mehreren Standorten tätig zu sein, ist jedoch nicht

418 Original: “En ropa hecha, vender ropa, pantalones, camisas.... en ventas. Después trabajé en taller, haciendo ropa interior, calzones... Después trabajé en telas y al final de telas yo me abrí. Entonces me abrí mi primer negocio en telas. Después me dediqué a la confección y al final me he quedado en agregados de moda. Porque tu tienes que buscar alternativas... o que le falta al micro- y pequeño empresario para apoyarlo. Darlo para que son de contenta si el venda, vendes tu. Entonces tu tienes que dar la materia prima, todo lo que son este agregados para que se te confeccione; están de contento, están feliz y hagas productos bien” Burch 19.08.2010. 419 Original: “Pero tengo que aprender, tu cuando te vas aprender allí, tu conoces otros clientes, provedores, vas conociendo” Burch 19.08.2010.

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nur bezüglich einer teilweisen Nicht-Besteuerung ein wichtiger Karriereschritt. Es ist besonders wert-

voll, wenn man in mehrere Galerien, den Verkaufszentren, inkludiert ist; da man so zu verschiedenen

einflussreichen Personen, den Galerien-Verwaltern und Besitzern, Kontakte aufbauen kann. Eine

Unternehmerin berichtet über das erfolgreiche Unternehmen ihrer Eltern bzw. der Idee einer gelun-

gen Karriere als Patron. Sie betont die Bedeutung multipler Standorte des Unternehmensnetzwerkes

ihrer Eltern wie folgt: “Ich kenne die Gamarra von meinen Eltern, weil meine Eltern begannen dort.

Es gibt viele Leute, die mit ihnen arbeiteten, diejenigen, die ich kenne, sind Personen, die Läden be-

sitzen, die nicht nur einen [Laden] sondern, die zwei, drei in verschiedenen Galerien besitzen. Ja,

denn die Expansion, welche ein Unternehmer der Gamarra anstrebt, besteht nicht darin, eine einzi-

ges Geschäft [tienda] zu machen, sondern die Vision besteht darin, […] verschiedenste Läden zu be-

sitzen. Es gibt viele bekannte Marken, die in einer Galerie zwei oder drei Geschäfte besitzen oder die

in derselben Avenida in einem Häuserblock zwei oder drei [Läden] besitzen und in der ganzen Ga-

marra so etwa zehn, zwanzig besitzen“ (Burch 20.08.2010b).420 Was für Gamarras Unternehmer

selbstverständlich ist, hört sich zum Beispiel für Leser und Leserinnen aus der Schweiz seltsam an: In

Gamarra ist nicht nur die Massenproduktion sondern auch der „Massenverkauf“ abwesend.421 Man

sucht im Verlaufe der Karriere unterschiedliche Kontexte bzw. Standorte: Viele verschiedene Stand-

orte sind wertvoll. Ich komme auf diesen Karriereschritt im letzten Kapitel, welches die Generalisie-

rung auf Lima fokussiert, im Zusammenhang mit der Idee der Parallelgesellschaft zu sprechen, da

auch ausserhalb Gamarras Standorte von Organisationen des Gesundheits- und des Erziehungswe-

sens eine grosse Bedeutung beigemessen wird.

Ein weiterer wichtiger Karriereschritt beschreibt verschiedene Zugänge zur Weltwirtschaft. Es gibt

bezüglich des Absatzes gewisse Probleme, die Gamarras Patrons nur via Formalität und nicht infor-

mal mittels kommunal-interner oder -externer z.T. internationaler Kontakte lösen können, wie dies in

Kapitel 6.2.1 erörtert wurde. Erwartungen variieren innerhalb der Weltgesellschaft. So sind nicht alle

Zöllner weltweit bestechlich. Ein weiterer Karriereschritt besteht darin, Zugang zur formalen Welt-

wirtschaft bzw. zum Welthandel zu erlangen. Wie sieht also die zweite Art von globaler Vermitt-

lungsposition aus? Gewisse Unternehmer treten als Vermittler zwischen Unternehmensnetzwerken

auf, wobei mindestens eine Einheit (jedenfalls zum Teil) formal organisiert ist. Ein solcher Patron

schildert, wie er den Kontakt zu formalen Unternehmen herstellt, bzw. bereits herstellte. Es verläuft

folgendermassen: „Du nimmst einige Muster mit; du erklärst ihnen die Muster, das was tu machen

420 Original: “Y es allí donde conozgo este Gamarra, por mis padres, por mis padres que comenzaron allí. Hay bastante gente que ha trabajado con ellos, los que yo conozgo que son gente que tiene tiendas, que no solamente tienen uno sino dos, tres en distintas galerías. Sí porque mayormente la expansión que un empresario de Gamarra busca, no es... en hacer una sola tienda sino [...]la visión es tener varias tiendas. Hay muchas marcas conocidas que tienen pues en una sola galería420 tienen dos o tres tiendas o en la misma avenida en una misma cuadra tienen dos o tres y en todo Gamarra tienen pues como 10, 20” Burch 20.08.2010b. 421 Siehe zur Abwesenheit der Massenproduktion die Kapitel zu den kommunalen Strukturen.

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kannst…. oder manchmal machst du ‚exportorientierte Textilfabrik‘ (maquila); mit den Vereinigten

Staaten von Amerika ist es zum Beispiel ‚maquila‘: Sie geben dir den Faden… sie geben dir alles und

du fabrizierst es hier und schickst es dorthin. Sie bezahlen das Primärmaterial“ (Burch 20.07.2010).422

Ähnlich im Sinne von Tönnies (1991 (1887)) Beschreibung der Entstehung der Feudalgesellschaft

sorgt sich hier das amerikanische Unternehmen, um die Materialien und stellt diese einem Vermittler

zur Verfügung. Es besteht jedoch ein struktureller Unterschied zum europäischen Mittelalter. Das

ausländische Unternehmen braucht einen Vermittler, weil es sich um eine Kommunikation zwischen

verschiedenen Differenzierungsvarianten in der Weltgesellschaft handelt. Es ist klar, dass für diese

Vermittlerposition nur Patrons in Frage kommen, die vor Ort mit vielen Klienten, bzw. Sub-Patrons

arbeiten. Ich fragte den Patron, wie er für Zwischenhändler, die für grosse Firmen tätig sind, arbeite:

“Selbstverständlich, weil, schau... manchmal kann der Kleine nicht exportieren, deshalb macht er es

mittels der Zwischenhändler der Packer (embaladores). Die Packer sammeln das ganze Produkt an

und exportieren es“ (Burch 20.07.2010).423 So sammeln „Packer“ die Ware der Sub-Patrons für einen

Patron, der Zugang zur Weltwirtschaft besitzt. Besonders lukrativ ist dies im Bereich der Markenpro-

duktion. Selbst beobachtete ich in Gamarra Lacoste und Holister-Produktion. Diese Marken werden

per Subunternehmen (subcontratación) fabriziert. Die formale Mutterfirma kümmert sich dann um

die Qualitätskontrolle und um den Zugang zu teuren Maschinen und der Patron organisiert die Pro-

duktion vor Ort. Gamarras Patrons verknüpfen sich also nicht nur mit (informalen) internationalen

Netzwerken wie zum Beispiel mit Unternehmern Chinas. Gamarras Patrons kommunizieren auch mit

internationalen Firmen, so dass in Gamarra Markenkleider fabriziert werden. Dies ist historisch ein-

malig, da indianische Patrons während vieler Jahrhunderte Vermittler zwischen Kommunen und den

lokalen spanischen Kolonialherren in Lima waren, und lange keinen direkten Bezug zu ausländischen

Abnehmern hatten. In Kapitel 6.2.2 wurde auf das Bestehen verschiedener elitärer Netzwerke hin-

gewiesen. Auch Chion (2003) verweist darauf, dass Gamarras einflussreichste Patrons, von Limas

restlicher Elite abgekoppelt sind: „Trotz ihrer früheren marginalen Kondition liessen die Unterneh-

men im Konfektionsdistrikt von Gamarra die Industrieelite ausser Acht und konnten direkten Zugang

zu internationalen Netzwerken knüpfen“ (Chion 2002).424 So ist Gamarra seit 2006 trotz des Markt-

einstiegs von China, Vietnam und Malaysia ein attraktives Zentrum für die international grossen Tex-

til- und Kleidermultis. Markenkleiderhersteller wie Inditex kaufen einen Teil ihrer Produktion in Peru.

422

Original: “Tu llevas algunas muestras, les enseñas las muestras lo que puedas hacer... o a aveces haces maquila. Con los Estados Unidos es maquila por ejemplo, ellos te dan el hilo, te dan todo y tu lo fabricas aca y lo mandas allí. Pagan la material prima“ Burch 20.07.2010. 423 Original: “Por supuesto porque mira... a veces el chico no puede exportar entonces lo hace por intermedio de embaladoras. Las embaladoras estas.... acopian todo el producto y ellos exportan” Burch 20.07.2010. 424

Original:"A pesar de su previa condición marginal, los negocios en el Distrito de Confecciones de Gamarra han obviado la elite industrial y han podido establecer acceso directo a redes internacionales espezializadas" Chion 2002.

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Sie arbeiten mit Vermittler-Patrons in der Rolle als Zwischenhändler.425 Diese fürchten sich auch nicht

wirklich vor Chinas weltweit übermächtiger Konkurrenz. China wird wie ein grosser Teil der Kommu-

nikation innerhalb Gamarras in Termini von Patronage als Partner beschrieben. Auf meine Frage, ob

China ein Konkurrent sei, antwortete mir ein bedeutender Patron: „Nein, wenn wir sie als Konkurren-

ten betrachten, geht es uns schlecht. Du musst Alternativen suchen, um all diesem Übel, das du auf

der anderen Seite hast, entgegen zu wirken. Und es ist dasselbe: Wenn du heiratest und du hast

Angst vor deinem Ehemann, so wird dich deine Heirat dein ganzes Leben lang belasten“ (Burch

20.07.2010).426 Markenproduktion ist eine dieser Alternativen, um nicht Angst vor “dem Gatten”

China haben zu müssen.

Die Rolle des Vermittlers ist äusserst wertvoll. Nicht immer nimmt der oder die Patronin diese Rolle

selbst ein, sondern delegiert die Aufgabe an eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter. Das ist jedoch

ein grosses Risiko, welches jedoch eingegangen werden muss, wenn sich der Firmenbesitzer auf eine

weitere Tätigkeit, zum Beispiel der Kreation einer eigenen Marke spezialisieren möchte. In solchen

Fällen können mangelnde staatliche Erwartungen nur schlecht durch Patronage kompensiert wer-

den: Eine Arbeiterin, namens Alba Torres, die in einem Mikrounternehmen für einen solchen exter-

nen Patron bzw. Zwischenhändler arbeitet erzählt, dass soeben der „Auditor“ erschienen sei. Auf

meine Frage, was der Auditor mache, kommentiert sie: „Er kam, um die Kleider zu kontrollieren, wie

sie [die Fabrikate] korrespondieren oder wie der Fortschritt aussieht, all dies. Der Auditor kümmert

sich um dies“ (Burch 12.08.2010).427 Verträge wurden keine geschlossen; man kennt sich. Der Auditor

hinterlegt das Geld mittels Cheque auf einer Bank. Weiter meint die Angestellte: “Und von dort [vom

Zwischenhändler] verteilen sie [die Kleider] an Ripley [ein grosses peruanisches Shoppingzentrum]

und andere Geschäfte” – “Und die Etiquette?“ – „Alles, es kommt mit allem, das heisst, alles was zu

Ripley kommt, alles ja” (Burch 12.08.2010).428 Wie geht also Markenproduktion von statten? Ripley,

ein für peruanische Verhältnisse eher teures grosse Einkaufszentrum – welches übrigens in chileni-

scher Hand ist – stellt seine Markenkleider mittels Patronage-Vermittler in Gamarra her: „Sie geben

uns ein Muster und entsprechend machen wir es. Genau gleich“ (Burch 12.08.2010).429 In diesem Fall

wurden die Produktionsschritte auf verschiedene Mikrounternehmen verteilt. Das Mikro-

Unternehmen arbeitet höchst spezialisiert und erledigt nur den letzten Produktionsschritt, nämlich

das Zusammennähen der fertig gelieferten Teile, das heisst, perfekte Endverarbeitung. Man setzt

425

Siehe dazu: Robles 2006, S. 16. 426 Original: “No, si les vamos a tener a la competencia, estamos mal. Tu tienes que buscar alternativas para contrarrestar todos estas males que tienes en otros lados. Y es igual, tu te casas y tienes miedo a tu marido, entonces pues tu matrimonio toda la vida te va pretratar” Burch 20.07.2010. 427

Original: „Vino a revisar la prenda como está saliendo o el avance, todo esto. El auditor se embarga de eso“Burch 12.08.2010. 428

“Y allí ya reparten a Ripley y a otras tiendas” – “Y la etiqueta?” – “Todo, todo viene, sea todo que va entrar a Ripley, todo sí” Burch 12.08.2010. 429

Original:„Ellos nos dan una muestra y de acuerdo a esto lo hacemos. Igualito“ Burch 12.08.2010.

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abschliessend die gewünschte Etiquette auf. Die Mikro-Unternehmung produzierte auch Marken-

kleider für einen spanischen Künstler: „…. und abgesehen davon, arbeitete ich für Joaquím Miro“

(Burch 12.08.2010).430 Ihre Patronin hatte gute Kontakte; die Unternehmung war erfolgreich und

innerhalb dieser fünf Jahre, in welchen sie mit ihrer Patronin, die eine Bekannte von ihr ist, zusam-

menarbeitete, verdiente sie genug Startkapital: Insbesondere in technischer und sozialer Hinsicht.

Stolz erzählt sie, dass sie soeben mit ihrer Schwester ihr eigenes Geschäft in der Gamarra eröffnete.

Bei genauerem Fragen, stellt sich jedoch heraus, dass es sich nicht wirklich um Schwestern handelt

sondern um entfernte Comadres, also um Anverwandte, die momentan in ihrem Haus in der Provinz

wohnen. Wieder zeigt sich die inklusive Art der Reproduktion kommunaler Strukturen. Personen

werden als Schwestern bezeichnet, obwohl diese biologisch nicht verwandt sind. Es ist jedoch ein

Problem, stabiles Personal zu bekommen; denn für die Wahlen wollen die beiden wieder in die Pro-

vinzen zurück. Dieser Karriereschritt, weiteres Personal aus der Provinz in die Gamarra zu holen, war

nur möglich, da sie von ihrem Vater unterstützte wurde. Er kaufte ihr vier Maschinen. Wie ist es mög-

lich, dass sie jetzt selbst erfolgreich für internationale Kunden produziert? Alba Torres arbeitete als

Angestellte in der früheren Firma als Ansprechperson in einer Brückenposition für den externen Zwi-

schenhändler bzw. Auditor. Nun besitzt sie ihr eigenes Unternehmen und kann nun selbst für den

Zwischenhändler arbeiten. So ein Vorgehen bezeichnete die Unternehmerin Olivia Nieves, bei wel-

cher ich arbeitete, als Diebstahl. Ihr Lagerist stahl ihre Kundendaten. Auch in diesem Fall pflegte die

Ansprechperson Kundenbeziehungen wie üblich persönlich. Diese Kontakte sind das wahre Kapital

der Firma; es ist an eine Person gebunden, weil es auf persönlicher Patronage bzw. auf Vertrauen

basiert. Sobald Spezialisierung eingeführt wird, braucht eine Unternehmung eine Person, welche sich

um die Kunden kümmert. Schriftliche Kundenkarten nützen nichts, wichtiger ist, wer mit ihnen kom-

muniziert, da die ganze Kommunikation informal via Patronage verläuft; also keine Kaufverträge er-

stellt werden. Die Kunden hängen also oft an einer Person. Da es kein Konkurrenzverbot in Gamarra

gibt, können die Arbeiter ungehindert das Kunden-Netz der Herkunftsunternehmung mitführen. Hät-

te die Angestellte hingegen keine vertraulichen Kunden- und Zulieferer-Kontakte, wäre sie auch als

Besitzerin eines eigenen Unternehmens noch von ihrer Patronin abhängig und müsste für sie produ-

zieren. Hier der Dialog dazu: “... für eine Marke von Salamanca: [teate?], Mopa; ich weiss nicht, ob

du davon schon gehört hast. Wir fabrizieren Polohemden für sie“ – „Ah, bereits direkt für eine Firma?

Gibt es keinen Vermittler?“ – „Nein, nein, nein. Es ist direkt […]… an den Zulieferer der ehemaligen

Arbeits-Señora [ihre Ex-Patronin]… sie teilen nie, sondern… weil sie meine Telefonnummer besas-

sen… sie pflegten mich immer in der Werkstatt anzurufen, um sich zu erkundigen, wie es vorwärts

430

Original: „…y aparte de eso salí para Joaquím Miro” Burch 12.08.2010.

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geht, all das“ (Burch 12.08.2010).431 Der wahre Karriereschritt liegt also nicht darin, ein eigenes Un-

ternehmen zu gründen, sondern er gründet darin, an Kunden bzw. Grossabnehmer zu kommen. Inte-

ressant ist dabei das Verhältnis zum vorgängigen Unternehmen. Die Karriere geht eventuell langsa-

mer voran, wenn das vorgängige Unternehmen einziger Kunde ist, als wenn man alle Kunden besag-

ter Firma selbst übernimmt. Kundenkontakte sind von unersetzlichem Wert. Die Angst vor Vergel-

tung ist abwesend. Alba Torres erzählte ihre Geschichte der soeben erlangten Selbständigkeit voller

Begeisterung. Der/die Schlauere gewinnt und dies scheint legitim zu sein? Ich komme im nächsten

Kapitel darauf zurück.

Die Unternehmer sind bestrebt, eigene Markenkleider zu entwerfen. Ist man in der Karriere weiter,

orientiert man sich bei Marken-Kreationen an globalen Wirtschaftssemantiken bzw. bekannten Mar-

ken. Ein einflussreicher Patron meint: „Man muss das Modell bringen. Kopiere es jedoch nicht, son-

dern mach ein neues Modell“ (Burch 19.08.2010).432 Wie sich Patrons zum Weltmarkt Zugang ver-

schaffen, wurde bereits erörtert. Das Ziel eines Patrons ist es folglich, sich an erfolgreichen Marken-

Modellen zu orientieren, diese aber nicht eins zu eins zu kopieren, sondern eine neue Kreation zu

erschaffen. Innovation und Kreativität sind für Patrons erst in der Mitte der Karriereleiter erreichbar.

Ein Bereich der Organisation musste an eine Vertrauensperson delegiert werden. In Gamarra gibt es

viele eigene Marken. Diese Kreativität erstaunt; hier zeigt sich auch, dass man sich es gewohnt ist,

nach fremden Modellen etwas Eigenes zu produzieren. Einer der letzten Karriereschritte ist, wenn

man folgende Wahl hat: „Du kannst es veranlassen, dass deine Marke produziert wird, oder ich ma-

che meine Marke selber“ (Burch 20.07.2010).433 Der Patron besitzt eine eigene Unternehmung, ver-

fügt jedoch auch über Sub-Patrons, welchen er die Produktion seiner Marken in Auftrag geben könn-

te. Er ist somit sehr flexibel hinsichtlich der Frage, wie, was und wann er Kleider herstellt.

Die Zuliefererkontakte wurden mit dem Markteintritt Chinas interessanterweise einfacher im Ver-

gleich zum Absatz. Die Stoffe und anderes Primärmaterial werden für viele Unternehmen grössten-

teils aus China importiert. Diese Waren kommen per Container in „riesigen Unternehmungen“ inner-

halb Gamarras an. Ein Wolldeckenverkäufer antwortet, ob die Zulieferung heute schwieriger sei:

„Nein, nein, ich erinnere mich, dass sie mit Schrift arbeiteten, schriftlich…. Aber es ändert, es ist eine

andere Art von Leuten, eine andere Art zu arbeiten. […] Früher gab es mehr Fabriken. Jetzt nicht

mehr, weil dies [zeigt auf eine Decke aus China] kam. Dies kommt vielfach aus China. Jetzt gibt es nur

431

Original: „...para una marca de Salamanca: [teate] mopa (7: 01)431

, no sé si ya escuchaste. Polos para ellos sacamos” – “Ah ya directamente para una firma, no hay un intermediario?” – “No, no, no. Es directo. [...] A los proveedores de la señora antigua de trabajo [...] ... ellos nunca reparten sino que ellos como tenía mi número telefonico.... con ellos siempre me llamaban al taller para saber como estaba el avance, todo esto” Burch 12.08.2010. 432

Original: “Hay que traer el modelo. No copies sino haz un modelo nuevo” Burch 19.08.2010. 433

Original: „Tú puedes hacer mandar tu marca; o yo hago mi marca“ Burch 20.07.2010.

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noch zwei Fabriken“ (Burch 16.07.2010b).434 Vor Chinas Markteintritt war die Kommunikation mit

den europäischen Zulieferern formeller, das heisst, wenn man als Organisation keinen Zugang zur

Formalität besass, bedurfte man eines Vermittlers. Ware wurde nur vertraglich „con letra“ (schriftlich

bzw. wörtlich „mit Schrift“) geliefert. Heutzutage sind die Abläufe informaler, die Ware billiger. Von

den fünfzehn europäischen Zulieferern bestehen aufgrund Chinas Konkurrenz nur noch fünf. Chinesi-

sche Unternehmer lösten einen Schub der Informalität aus, weshalb es einfacher wurde, Zulieferer zu

finden. Absatzbeziehungen sind hingegen schwieriger zu erarbeiten als die Zulieferkontakte. Bei der

Zulieferung gilt es jedoch zu unterscheiden, ob es sich um einfache, allgemeine Importprodukte han-

delt oder um „Spezial-Aggregate“, welche vor Ort nicht erworben werden können. Ich komme später

darauf zurück.

Absatz wird international organisiert und schliesst an formaler Wirtschaft an. Sehr erfolgreiche Pat-

rons gedenken jedoch noch stärker vor Ort zu expandieren. Wie ist dies geplant? Es handelt sich da-

bei nicht um eine wirtschaftliche Patronage, es handelt sich um eine interessante Art der Einführung

von formalen Krediterwartungen. Es erstaunt, dass Patrons nicht nur zum formalen Finanzwesen

vermitteln oder/und selber informale Finanzinstitute begründen, sondern dass sie Kredite generell

im Bereich des Konsums einführen wollen. Dies ist ein Karriereschritt, welcher soeben erfunden wur-

de. Es ist das neuste Projekt in Gamarra: Ähnlich einer Bank möchten Gamarras Patrons wirtschaftli-

che Inklusion ins Zentrum der Wirtschaft auf ihre Kundschaft generalisieren. Den Patrons geht es

darum, neben den Arbeitern auch die Kundschaft stärker an sich zu binden. Die Kredit-Leistungen der

Patrons beschränken sich weiterhin auf ihre Unternehmensnetzwerke.435 Wie lösen die Patrons die-

ses Problem? Sie bedienen sich zweier Strategien: Erstens sind in Gamarra Kreditkarten bereits allge-

genwärtig. Die häufige Beschilderung, dass internationale Kreditkarten wie Visa und Master Card

akzeptiert werden, zeigt eine gewisse Erwartungshaltung von Seiten der Unternehmer an ihre Kund-

schaft. Man erwartet Kundschaft, die ins Zentrum der Wirtschaft inkludiert ist und man erwartet,

dass die Kundschaft dies auch erwarte. Die Kreditkartenverbindungen existieren jedoch oft nur se-

mantisch, denn in den seltensten Fällen kann man mit der Kreditkarte wirklich bezahlen, die Technik

funktioniert meistens „quasi momentan“ nicht. Visa und Master Card Schilder betreffen die Sphäre

der Semantik und kaum den Bereich der Praktiken. Aber wieso kleistern sich einige Geschäfte gera-

dezu mit dieser „irreführenden“ Mitteilung zu? Eilt die Semantik der Praktik voraus, wobei man nicht

weiss, ob sich die semantischen und die praktischen Erwartungen wirklich jemals treffen werden?

Visa und Master Card Schilder sind Semantiken der Moderne; nämlich dass die Gamarra den Zugang

zum Zentrum der Wirtschaft wünscht. Sind die allgegenwärtigen Schilder ein schönes Beispiel für

434 Original: “No, no, me recuerdo que trabajaban con letra, a letra..... Pero cambia, es otro tipo de gente, otra moda de trabajo. [...] Antes había más fabricas, quince fabricas. Ahora ya no porque ha venido este [zeigt auf Decke aus China]. Esto ha entrado mucho por China. Ahora hay dos fabricas no más” Burch 16.07.2010b. 435 Siehe dazu Kapitel 6.1.3 und Kapitel 6.2.1.

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Meyers et al. (2005c) „Entkoppelungsthese“? Es existiert bezüglich Kreditkarten in Gamarra eine

formale Weltstruktur, welche sich nach kulturellen Symbolen der Weltgesellschaft richtet, ohne dass

diese Symbole jedoch einen praktischen Nutzen erfüllen (vgl. Abb. 20). Obwohl die Technik nur im

Zentrum von Gamarra hin und wieder funktioniert, funktioniert die Semantik, d.h. die Erwartung.

Und das ist das Essentielle. Die Schilder wurden nicht von Banken in Form von Reklame aufgehängt

sondern von den Unternehmern selber. Man möche dadurch Modernität kommunizieren. Bei jedem

Einkauf in Gamarra verstehen die Kunden diese Orientierung an der Moderne. Die Visa- und Master-

cardschilder kommuizieren eine moderne, nicht zu unterschätzende Erwartenshaltung. Komplett

entkoppelt sind diese Semantiken also nicht von lokalen Problemlösungen, wie das Meyers These

meinen lässt, wenn man sie auf die Weltgesellschaft anwendet. Gamarras Patrons schliessen nun an

diesen quasi „nutzlosen“ Semantiken der Weltgesellschaft an, um eigene Probleme zu lösen. Aller-

dings braucht deren Implementierung noch Zeit.

Die Patrons versuchen, die affirmative

Erwartungshaltung der Teilnehmer

Gamarras gegenüber Kreditkarten an

eine eigene „Gamarra Card“ anzu-

schliessen. In den besseren Galerien

werben die Patrons bereits für die

neue Kreditkarte (siehe Abb.19).

Das Geld der Patrons reicht zwar für

netzwerkinterne Kreditvergabe, doch

für ein solches Projekt braucht es den

Zugang zum formalen Wirtschafts-

zentrum. Gamarras Patrons sind auf

die Formalität angewiesen und ver-

handeln momentan mit verschiede-

nen Banken. Es gibt jedoch mehrere

Probleme. Einerseits müssen die Ban-

ken noch überzeugt werden, andrer-

seits kennt man Kreditkarten in den

peruanischen Provinzen nicht, in Lima

erfuhren sie jedoch einen hohen Zu-

wachs. Ein in dieses Projekt stark be-

teiligter Patron berichtet von der Ga-

marra Card und ihren Problemen:

Abbildung 19: Werbung für die Gamarra Card an einer Lift-Tür

Quelle: Eigene Foto, Galerie „El Rey“, Gamarra, August 2010

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„Zum Beispiel verlangen [Perus grosse Warenhäuser] Ripley und Saga, was sie wol-

len anhand ihrer Karte. Wenn sie eine Preissenkung machen: Mit der Karte. Ohne

Karte kannst du nicht einkaufen, hast du bemerkt? Hier ist das nicht der Fall; sie

müssen es dir mit Geld bezahlen und nicht mit der Karte“. F: „Besitzt Gamarra eine

Kreditkarte?“ – U: „Ja, die Gamarra Card“. – J: „Mit welcher Absicherung?“ – U:

„Wir konzipieren sie mit der ‚Banco de Trabajo‘ [?]…. Aber es gibt nicht viel [?]. Es

ist gut, dass Gamarra eine Karte haben wird, aber sie können nicht damit umgehen.

[?] Es sind nicht mehr als 40‘000 Personen…. die Karte ist Mastercard. Das Problem

ist, dass sie widerspenstig sind... [¿] dass wir uns gegenseitig konkurrieren.... Weil

es nicht viel Werbung gibt; es gibt niemanden, der im Hinterland Werbung macht”

(Burch 19.08.2010).436

Interessanterweise erachtet der Patron Limas Umwelt bzw. insbesondere das Hinterland als kausal

relevant. Dies zeigt, dass die Unternehmensnetzwerke nicht an der Grenze der Metropole enden. Mit

den Banken konnten die Patrons schnell verhandeln; der Unternehmer kennt einige Bankiers zum

Teil persönlich (einer von ihnen war gar während des Interviews zufälligerweise präsent). Dahinge-

gen ändern sich informale Erwartungen, nämlich zum Beispiel ohne Quittung zu kaufen / verkaufen,

nicht schnell, obwohl sich mittlerweile viele Limeños eine Kreditkarte leisten können. Über diese

„Widerspenstigkeit“ beklagt sich paradoxerweise ein Patron. Er sieht das Hauptproblem nicht in der

Trägheit der Informalität sondern in der Konkurrenz von Seiten der Mastercard. Bei Spezialangebo-

ten könnte die Gamarra Card jedoch funktionieren, jedenfalls auf der Seite der Kundschaft.

Inwiefern Patrons bzw. deren umfassende klientelistische Netzwerke formalen Banken substituieren

oder inwiefern Patrons eine Vermittlungsposition einnehmen und das Netzwerk an die formale Fi-

nanzwirtschaft anschliessen bleibt noch genauer zu untersuchen. Hinsichtlich dieser Frage sind auch

die generellen Erwartungen der Kreditnehmer zu analysieren. In Lima sind Kreditkarten und somit

Inklusion ins wirtschaftliche Zentrum trotz der enorm hohen Zinskosten erstaunlicherweise im Vor-

marsch und dies betrifft auch Mikro- und Kleinunternehmer.437 Bei Grossprojekten wie der Gamarra

436 U: „Por ejemplo Ripley y Saga [...] ellos te cobran lo que quieren por su tarjeta, porque cuando ellos hacen

un rebaje: con tarjeta. Sin tarjeta no puedes comprar, te das cuenta? Aca no, te tienen que dar con tu moneda, no con tarjeta“.- F: „¿Gamarra ha sacado una tarjeta?“ - U: “Sí, la Gamarra Card”. - J: “¿Con qué resbaldo?” - U: “Lo sacamos con el banco de trabajo [¿?] pero tampoco no te da mucho [¿]. Es bien que Gamarra tendrá tarjeta pero ellos no lo manejan. [¿?] No están más que 40’000 personas.... que la tarjeta es Mastercard. El problema es que son desgreñados.... [¿?] que realmente entre nosotros mismos nos competimos.....Porque no hay mucha propaganda, no hay nadie que está haciendo propaganda en el interior” Burch 19.08.2010. 437

Die Gesellschaft bzw. die Massenmedien erachten dieses Thema als sozial relevant. So berichtet die Presse stetig, dass Bezahlungen per Kreditkarten in Peru stark zunehmen. Die Tageszeitung Peru.21 Cabanillas 2010 verzeichnet im Juli 2010 gar einen neuen Rekord des Plastikgeldes: So gibt es auf dem peruanischen Markt über sechs Millionen Kreditkarten. Der Gebrauch beziffert sich im Juni 2010 erstmals auf über 10‘000 Millionen So-les. Im zeitlichen Vergleich waren es im Januar 2004 erst etwas mehr als 2 Millionen Soles. Der Zuwachs verlief

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Card sind Gamarras Patrons nicht nur Vermittler zum formalen Finanzbereich, sondern sie sind in

Bezug auf Kunden bestrebt, formale Erwartungen in informale Bereiche einzuführen. Die Patrons

versprechen sich dadurch höhere Einkäufe und könnten Lockangebote lancieren, wie dies in grossen

Shoppingzentren der Fall ist. So werben sie für die Gamarra Card mit dem Slogan „Usa tu Tarjeta

Gamarra Card y obtén grandes Beneficios“ (Benütze deine Gamarra Card und erhalte viele Vorteile,

vgl. Abb. 19). Das Projekt „Gamarra Card“ zeigt, wie in einer Region in der Weltgesellschaft von Sei-

ten (informaler) Patronage-Netzwerke versucht wird, moderne Finanzwirtschaft zu implementieren.

Das ist interessant. Kreditvergabe ist in Lima ein alltägliches und zentrales Thema. Leere Mythen sind

die Visa-Schilder in Gamarra keinesfalls. Man beschäftigt sich stark mit ihnen.

kontinuierlich. Dies liegt daran, dass es der peruanischen Wirtschaft gut geht und die Banken neue Kreditneh-mer wie auch unabhängige Arbeiter oder Mikro-Unternehmer inkludieren. Zugleich lernen die Kreditnehmer den Umgang mit dem Kredit, so verwenden ca. 40% der Arbeiter ihre Sommer-Gratifikation, um ihre Schulden zu bezahlen. Zudem wurde im April 2011 ein Gesetz verabschiedet, welches elf Kommissionsbezahlungen ab-schafft. Mit der Begründung, dass diese administrativen Kosten bereits im Zins enthalten seien. Das Plastikgeld wird also erschwinglicher.

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Eine Kreditkarte einzuführen ist einer der letzten Karriereschritte eines Patrons. Die meisten „fortge-

schrittenen Patrons“ beschränken sich darauf, Vermittler zur formalen Wirtschaft zu sein. Sehr er-

folgreiche Unternehmer schaffen es, zugleich Vermittlerpatron und formaler Firmeninhaber zu sein.

Wie sehen die Karriereschritte eines solchen Unternehmers aus, beispielsweise von Aquilino Flores,

des bedeutendsten Textil-Unternehmers Perus? Er startete seine Karriere zwar nicht in Gamarra

Abbildung 20: „Somos modernos“: Die Allgegenwart der internationalen Kreditkarten in Gamarra

Quelle: Eigene Fotos, Gamarra, Juli und August 2010

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236

sondern im angrenzenden „Mercado Mayorista“. Die Erwartungszusammenhänge dieser Wirt-

schaftszentren sind strukturell gleich gebaut. Heute ist Flores der Inhaber des grössten peruanischen

Textilunternehmens, Topi Top, welches jährlich für über 100 Millionen US Dollars Kleider verkauft.

Davon werden 85% der Waren international exportiert. Flores besitzt alleine in Peru 35 Warenhäu-

ser, zehn weitere befinden sich in Venezuela. Aquilino Flores verankert sich laut Córdova (2008) mit-

tels Kundenkreditkarten auch in der Finanzwirtschaft. Das Kreditvorhaben, welches die Patrons der

Gamarra, mit Gamarra Card realisieren wollen, hat er bereits umgesetzt. Gemäss Cordero (31.12.11)

erwirtschaftet der Unternehmer heute 275 Millionen Dollars jährlich. Wie üblich migrierte auch die-

ser Patron aus dem Hinterland in die Metropole. Er begann im Kindesalter als Autowäscher zu arbei-

ten. Nun treffen wir wieder auf die zweckfreundschaftliche „weak-tie Patronage“. Gleich wie bei der

Unternehmerstochter, deren Eltern Fremden bald Kleider in grossen Mengen auf Kredit anvertrauten

oder noch ähnlicher wie beim Bankdirektor, der sich zu einem „amigo-gerente“, zu einem „freund-

schaftlichen Direktor“ wandelte, entwickelt sich auch hier eine ausserkommunale Zweckfreundschaft

im Sinne der Regel des „dar la mano“ (sich die Hand geben). Hier war es einer der Autobesitzer, wel-

cher Flores hin und wieder die Reinigung seines Wagens anvertraute. Jener Autobesitzer besass laut

(Ricardo Candela Casas) ein „informales“ Kleider-Unternehmen. Eines Tages schlug ihm der Autobe-

sitzer vor, für ihn zwanzig seiner Pullover auf der Strasse zu verkaufen. Der junge Flores war darin so

begabt und verkaufte alle Pullover innerhalb eines Tages. Zugleich merkte sich der Autowäscher, dass

die Pullover mit Figuren bei den Kunden besonders beliebt waren. Eines Tages bat er seinen Zuliefe-

rer-Patron, ihm Pullover mit bunten Figuren herzustellen; doch da dieser keine gestempelten Fabri-

kate produzierte, beschäftigte er selber einen Färber, der ihm die Verzierungen hinzufügte. Bald

konnte Flores sich eine Nähmaschine leisten und eigene Kleider herstellen. Da das Geschäft gut lief,

holte er seine Brüder aus der Provinz Huancavelica als Mitarbeiter in sein Unternehmen. Aquilino

verstand es, die beiden Arten von Patronage zu verbinden. Zuerst ging er quasi eine zufällige, zweck-

freundschaftliche Patronage ein und danach stützte er sich auf kommunale Beziehungen. Ein bedeu-

tender Karriereschritt gelang ihm dann, als ein Händler aus der Grenzregion von Peru und Bolivien

von ihm T-Shirts im Wert von 10‘000$ bestellte. Hier sieht man wieder die grosse Bedeutung kom-

munaler Strukturen. Es waren auch wieder die kommunalen Strukturen, welche es Señor Flores er-

laubten, innerhalb von kürzester Zeit so viele Mikro-Unternehmen zu subkontratieren, um diesem

Grossauftrag termingerecht nachzukommen.438 Daraufhin eröffnete der Patron seine ersten eigenen

Läden in Lima und substituierte die Beziehungen mit den interregionalen Händlern. Anfangs der 80er

Jahre wurde Topi Top als formales Unternehmen gegründet und kaufte mehrere Textilfirmen auf.

438 Wie bereits erwähnt, geht dies auf die andine Produktionsweise zurück. Diese basierte darauf, innerhalb

einer Kommune genaue Patronage-Regelungen zwischen Verwandten und anverwandten Compadres im Vor-aus festlegten, wer, wem zuerst bei der Feldbestellung zu helfen hat. Siehe insbesondere Kapitel 6.1.2.

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Eine solche Firma kann nicht mehr mittels persönlicher Patronage zu den einzelnen Mitgliedern ope-

rieren. Wie löst der Patron dieses Problem?

Speziell erfolgreiche Patrons sind nicht nur Vermittler zur Formalität, sondern sie führen Formalität

teilweise in ihrer Organisation ein. Die Organisation ist ein Mischverhältnis; sie ist jedoch vor allem

gegen aussen formal organisiert. Topi Top stellt 70% seiner Arbeiter formal an, während 30% der

Produktion informal ausgelagert ist. Die Nutzerfirma bedarf nicht mehr stabiler Arbeiter“ (Burch

12.02.2011).439 Topi Top ist ein Unternehmensnetzwerk mit einem Zentrum, das formal organisiert

ist und selbst auch wie die Klein- und Mikrounternehmen der Peripherie produziert. Anfangs basierte

das Unternehmen auf „relaciones paternalistas“, das heisst, auf Patronage, aber als die Firma mehre-

re Hundert Arbeiter beschäftigte, musste die Firma Ingenieure anstellen. Aber auch innerhalb der

„formalen Organisation“ des Zentrums sind keine oder nur auf drei Monate befristete Verträge insti-

tutionalisiert, so funktionieren selbst die sogenannt „formalen“ internen Arbeits-

Erwartungszusammenhänge nicht nach den Regeln des Kapitalismus. Es handelt sich bei den internen

Arbeitsverhältnissen dieses Zentrums wie bei gewissen Galerien der Gamarra (Párque Cánepa) um

paradoxe Hybride: Um Patronage ohne Patron. Das Verhältnis basiert auf Patronage, wobei Patrona-

ge dieser Art jedoch in ihrer Komplexität begrenzt ist und sich deshalb an den Regeln moderner An-

stellungsverhältnisse orientieren muss. Gerade diese teilweise Einführung von Vertrag innerhalb

eines Unternehmens macht jedoch den abwesenden Vertrag sichtbar. Gleich wie wenn auf zeitlicher

bzw. semantischer Ebene temporär „Formalität“ eingeführt wird, wie dies in der Galerie Párque

Cánepa der Fall ist, wird Formalität auch stärker sichtbar, wenn der Arbeitgeber nur einen Teil der

Arbeiter formal anstellt.440 Eine Arbeiterin erzählt bezüglich grösserer Textilfabriken: „Es gibt Fabri-

ken, welche zwei Türen besitzen. Es sind Fabriken, die verschiedene Maschinen besitzen aber nur

vier oder fünf Personen haben ihre Papiere. Aber es arbeiten nicht nur vier oder fünf [Leute]. Sie

beschäftigen fünfzehn, zwanzig Arbeiter. Wenn das Arbeitsministerium kommt und anklopft, so sa-

gen sie: ‚Du, du, du, du und du verschwindest!‘ (Burch 18.07.2011).441 Gewisse Erwartungszuammen-

hänge formalisiert der Patron schrittweise. Insbesondere macht er das Unternehmensnetzwerk als

Ganzes mehrfach mit Formalität kompatibel, was ein weltgesellschaftlich legitimes Auftreten gegen

aussen ermöglicht. Der Unternehmer führt im Zentrum, d.h. in der Organisation mit gewissen Schlüs-

sel-Personen eine vertragsartige Patronage ein, deren Erwartungszusammenhang sich auf wirtschaft-

liche Funktionen reduziert. Arbeitet ein solches Unternehmen zudem 30% mit vorwiegend informal

439

Original: „La empresa usuaria ya no necesita de trabajadores estables“ Burch 12.02.2011. 440

Ich komme darauf in Kapitel 8.2 zu sprechen. 441 Original: „Hay fábricas que tienen dos puertas. Son fabricas que tienen diferentes maquinas pero solo

cuatro o cinco personas tienen sus papeles. Pero no trabajan solo cuatro cinco, tienen quince, veinte trabajadores. Viene el ministerio de trabajo, toca. Y entonces te dicen: ‘Tu, tu, tu, tu y tu sales!« (Burch 18.07.2011). Solche Grossunternehmen sind konfliktfähiger als Mikro- und Kleinunternehmen, die komplett auf

Patronage basieren. Siehe zum Gewerkschaftsstreit bei Topitop Kapitel 8.2.

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kommunizierenden Mikro- und Kleinunternehmen, so braucht der Firmen-Inhaber meist einen Ver-

mittler-Patron, der die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Klein- und Mikrounternehmen

kanalisieren und die Lieferung als auch die Produktion kontrolliert.

An dieser Stelle möchte ich in einem Zwischenfazit vereinfacht einige Karriereschritte aufzählen. In

der Abb. 18 beginnen diese Schritte im grossen grauen Pfeil; hier eine typische Möglichkeit eines

solchen Karriereablaufs, welche nicht unbedingt bei Punkt eins beginnen muss:

1. Ambulante: Er bedarf bereits eines Patrons, der die Kleider zuliefert.

2. Bei einem Patron im Unternehmen arbeiten, lernen, Kunden kennen lernen und Kapital erwirtschaf-

ten: Kommunale Erwartungen strukturieren Arbeitsbeziehungen zwischen Padrinos, Onkel und Nef-

fen442

3. Sich selbständig machen und eigenes Personal finden; anfangs für Patron A arbeiten, zum Beispiel Ba-

sics liefern. Für diesen Schritt sind Verwandte bzw. Anverwandte (Freunde) wichtig; Neffen und Nich-

ten müssen aushelfen; das wird in der Kommune erwartet.443

4. Eigenes Netzwerk strukturieren: Familiäres Personal wird meist schon ausgelagert, wenn möglich als

eigenständige Patrons. Massenproduktion wird nicht angestrebt; sondern eine flexible Netzwerk-

Unternehmung.

5. Gewisse Arbeiter des Unternehmernetzwerkes voranbringen. Wem kann man die Kundendaten anver-

trauen, um sich auf die Kreation eines eigenen Produktes (sacar un producto) zu konzentrieren?

6. Mit eigenen ehemaligen Klienten arbeiten und selbst von ihnen Basics erhalten

7. Mehr tiendas eröffnen, am besten in bedeutenden Galerien, um auf dem Markt präsent zu sein und

mehr Kontakte zu knüpfen, ev. auch versteckte „tiendas clandestinas“ eröffnen, falls Familienmitglie-

der disponibel sind, um die Produktionskosten niedrig zu halten

8. Exportieren und Importieren

9. Sich mit anderen mächtigen Patrons zusammenschliessen, ev. Koordinationsmitglied der

„Coordinadora de Empresarios de Gamarra werden“

10. International an den formalen Grosshandel liefern

11. Einen Teil des Unternehmens formalisieren, um nicht nur in der Vermittlerrolle formalen Zugang zur

Weltwirtschaft zu haben.

12. Eine eigene Kreditkarte lancieren usw.

Zwischen formalen und „informalen“ Unternehmen besteht eine zirkuläre Verbindung. Laut Chion

(2002) verkaufen einerseits Gamarras „informale Unternehmer“ Produkte, deren Bestandteile zum

Teil aus formalen Betrieben stammen. Andrerseits verkaufen formale Einkaufshäuser „informal“ her-

gestellte Ware. Wer profitiert in diesem Kreislauf aus Sicht der Teilnehmenden am meisten? Gemäss

442 Siehe Kapitel 6.1.2. 443 Siehe ebenfalls Kapitel 6.1.2.

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einer Kleinunternehmerin, sind es die grossen formalen Warenhäuser: C: “Wir können sagen, dass

diejenigen die profitieren, die grossen Unternehmen sind.... mit der Marktöffnung, mit dem Vertrag

der freien Marktwirtschaft. [...]”. Taxista: “Das gab uns der Vertrag der freien Marktwirtschaft [den

Fujimori unterzeichnete], alles [Geld] geht nur zu ‚Plaza Vea‘, ‚Wong‘… dahin. Die Besitzer sind Aus-

länder, es sind nicht Peruaner. Für sie ist es einfach. [...] Diejenigen, die wenig Geld besitzen, müssen

sich in Gruppen zusammenschliessen”. C: “Das sieht man auch auf der Ebene der Besteuerung. Wie

man im TV Canal 5 sieht, grosse Unternehmen, wir sehen, eine Unmenge an grossen Unternehmen,

die Unmengen an Geld [der Steuerbehörde] schulden, Millionen von Millionen Soles….“ (Burch

20.08.2010b).444

Bis anhin wurde der Karriereweg von der Informalität zur Formalität bzw. zum Zugang zur formalen

Weltwirtschaft erörtert. Weitaus seltener findet man die Karriere in umgekehrter Reihenfolge. Wie

erarbeitet sich ein Unternehmer mit Zugang zur formalen Weltwirtschaft die Rolle eines Patrons?

Wie findet er Zugang zu Mikro- und Kleinunternehmern? Abschliessend möchte ich ein Beispiel einer

Karriere eines Patrons vorstellen, dessen Eltern Analphabeten waren, er nun jedoch ein äusserst

erfolgreicher Unternehmer ist. Wie verläuft eine derartige Karriere? Es handelt sich um eine Unter-

nehmung, die Spezialteile an Mikro-Unternehmen in vier verschiedenen Ländern verkauft, ähnlich

wie der einflussreiche Patron Morales in Gamarra, Mode-Aggregate an die Mikro-Unternehmer ver-

kauft.445 Es handelt sich zwar nicht um Textil-Teile, doch es betrifft äquivalente Erwartenserwartun-

gen, weshalb das Beispiel auch auf die Gamarra übertragbar wäre. Das Motto lautet ebenfalls: „Gano

con ellos“ (ich verdiene mit ihnen). Diese Ausweitung der Perspektive ist zudem bereits ein Anklang

auf das folgende, letzte Kapitel, welches die Resultate bezüglich der Studie von Gamarra auf Lima

und Peru überträgt.

3. Karriere als kommunal-externer Patron

Wenn der kommunal-Externe bereits Zugang zur Formalität besitzt

Wie verschafft er sich als Aussenstehender den Zugang zu Unternehmer, die kommunale Erwar-

tungszusammenhänge reproduzieren? Präziser als die Bezeichnung „kommunal-extern“ wäre viel-

leicht der Ausdruck: „Eine Person, welche ihre Karriere nicht im betreffenden Sektor startete“.

Selbstverständlich könnte ein Fremder sich als Compadre in eine Comunidad inkludieren versuchen;

444

Original: C: “Podemos decir los que son beneficiados son los grandes empresas. .... con la apertura del mercado, con el trato de libre comercio. [...]”. Taxista: “Eso es que decía el trato de libre comercio, solo se va a Plaza Vea, Wong... eso. Los dueños son extranjeros, no son peruanos. Para ellos es facil. [...] El que tiene poco dinero, tiene que juntarse en grupos”. - C: “Eso también se ve en el nivel tributaria. Como se ve, grandes empresas, Canal 5, vemos un monton de empresas que deben un monton de tributos, millones y millones de soles...” Burch 20.08.2010b. 445

Die Unternehmung besitzt 25 feste Mitarbeiter im Jahre 2010. Der Hauptsitz befindet sich mit 25 Personen in Lima, weitere Standorte sind Bolivien, Ecuador und Kolumbien. In jedem Land ist die Firma in ihrem Bereich der Marktführer, da sie alle „Sektoren“ erreicht. Siehe: Burch 18.11.2008.

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dies kann jedoch zeitaufwändig werden. Wie ging er also vor, funktionierende Unternehmensbezie-

hungen zu Abnehmern zu erarbeiten? Es fällt auf, dass er nicht betont, in erster Linie industrielle

Spezialteile aus Deutschland zu vermarkten. Er bezeichnet seine Tätigkeit mehr als Wissensvermitt-

lung. Der Aspekt der Wissensvermittlung ist absolut zentral. Der Patron beschreibt sich als Lehrer

und nicht als Händler. Die Idee, ein Wissensvermittler zu sein, verkörpert bereits die andine Ethik,

welche diese Leistung von Patronage gut legitimiert, weshalb sich um diese Funktion herum langfris-

tige Verhältnisse bilden. Der Unternehmer Sánchez ist quasi strukturell bereits ein Patron, da er Zu-

gang zur formalen Weltwirtschaft besitzt, was auch mit einem technologischen Wissensvorsprung

verbunden ist. Man kann sich jetzt fragen, wie er sich als Sohn einer armen indianischen Familie die-

sen Vorteil verschaffte. Er war in der Schule immer einer der Besten und bekam schliesslich ein Sti-

pendium, um in Frankreich an der Universität Sorbonne Ingenieurwissenschaften zu studieren, da-

nach promovierte er in Deutschland. Freunde schlugen ihm vor, in Peru deutsche Produkte zu ver-

kaufen. Es sei zwar schwierig, dass man Lateinamerikanern Vertrauen schenke, doch da ihn seine

Freunde gut kannten, war dies kein Problem. Er und seine Kollegen begriffen, dass „la gente del

campo“ (die Leute des Landes) nicht arm seien. Seine Landsleute arbeiten und sparen, was sie nur

können; sie sind in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen und sich deshalb nicht gewohnt, das Geld

auszugeben. Er kenne dies nur zu gut, denn seine Eltern wie auch er seien genau gleich. Seine Ge-

schichte zeigt nebenbei, dass das Erziehungssystem in Lima kausal relevant und global anschliessbar

ist. Zugleich wusste er, wie die Erwartungszusammenhänge in den Kommunen strukturiert sind und

wie er das Vertrauen der „indigenen“ Bevölkerung gewinnt, nämlich indem er zu ihnen geht und mit

ihnen an einem Tisch isst. Doch dies war nicht die anfängliche Idee; sie war die Folge einer misslun-

genen Strategie. Anfangs versuchte er seine Spezialprodukte an „moderne“ Grossunternehmen zu

verkaufen: “Wenn man in Bolivien verkaufen möchte, fixiert man sich auf die grossen Unternehmen

oder auf die Verteiler, die gut situiert sind, nicht wahr? Auf die Bekanntesten. Und das machen alle

Unternehmen, die kommen. Ich ortete eine in La Paz und ich begann, ihnen formal zu schreiben; ich

schickte ihnen die Konditionen, sprach mehrere Male mit dem Besitzer, brachte ihnen Muster… Sie

baten mich um eine CD der Requisiten und so gibt man viel Geld aus“ (Burch 18.11.2008).446 Wie am

Falle von erfolgreichen Textilfirmen gezeigt, reproduzieren formale Unternehmen jedoch intern in-

formale Erwartungszusammenhänge; es bedarf als Fremder viel Zeit und somit auch Geld, um ihr

Vertrauen zu gewinnen und mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Herr Sánchez verhandelte mit den

grossen Unternehmen, welche ihm die Preise diktierten. Sie wollten nur wenig und zu einem schlech-

ten Preis kaufen. Er gab diese Strategie auf. Herr Sánchez begann daraufhin, die Mechaniker direkt zu

446 Original: “Cuando yo quize vender en Bolivia, uno se fija en las grandes empresas o en grandes tiendas o distribuidores los que están bien ubicados, ¿lo es cierto? Las más conocidas. Y eso que lo hacen todas las empresas que vienen. Yo ubiqué uno en La Paz y le comencé a escribir formalmente, le mandé condiciones, hablé con el mismo dueño muchas veces, les llevé muestras, me pidieron una CD de requisitos y entonces uno va gastando dinero” Burch 18.11.2008.

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kontaktieren. Er fragt sie, welche Teile sie genau bräuchten und welche sie am meisten verkauften:

“Ich bemerkte, dass sie viel Geld bewegen. Sie leben wie man sagt in einem armseligen Lehmhaus”

(Burch 18.11.2008).447 Er entschied sich also für die Karriere eines „Patrons“. Es erfolgte der erste

Karriereschritt, in einem zweiten Versuch, das Vertrauen seiner neuen Abnehmer zu gewinnen. Wie

geht der Fremde vor, um mit Unternehmen mit sehr Beschränktem Zugang zur Weltgesellschaft ins

Geschäft zu kommen? Herr Sánchez klärt auf: “Als ich anfangs mit ihnen ins Gespräch kam, drückte

ich mich nicht als Ingenieur aus; ich präsentiere mich als einen von ihnen. Zuerst etablieren wir

Freundschaft; ich blieb bei ihnen. Da ist die Differenz zu anderen, die in ihrem Auto kommen; ich

kam wie einer von ihnen. Ich unterhielt mich mit ihnen und so als sie Vertrauen zu mir gewannen,

brachten sie mich in ihre Zimmerchen“ (Burch 18.11.2008).448 Erfolgreiche Geschäfte finden nicht in

der Werkstatt statt, sondern in den familiären „Zimmerchen“. Wichtige Kommunikation ereignet sich

im Haus oder sonst einer familiären Umgebung. Ab diesem Zeitpunkt ist er als Patron erstmals akzep-

tiert. Herr Sánchez berichtet, wie ein solches Tauschgeschäft abläuft: “.... dieser Herr, welcher in

seinem Bettchen wohnte, wo er eine kleine Küche hatte - er war ledig – nur so in einem solchen ein-

fachen Zimmerchen [...], sagte mir: ‚Aber lass mir alles [alle Waren], die du hast, hier‘.- ‚Ja, ich kann

dir alles hier lassen, aber du musst mir zumindest die Hälfte bezahlen‘ - . ‚Ich gehe schauen, ob es mir

reicht‘, sagt er. Er hebt die Mattratze, und dort, wo wir uns befinden – er sass auf dem Bett -, hebt er

die Mattratze und entnahm alles Geld, das ihm reichte; es waren mehr oder weniger gleich viele

Dollars und Bolivianos. Es waren etwa 3000, 3500 Dollars; er gab sie mir: ‘ta, ta, tan, ta, ta, tan’, zähl-

te er. Keine Quittung, nichts. Als ich ihm alles brachte, gibt er mir die Differenz, sprich die andere

Hälfte des Kaufbetrages, etwas weniger, womit er beinahe 6000 Dollars komplettiert. ‚Gut so! ‘, sagte

er mir, ‚kein Problem‘ (Burch 18.11.2008).449 Von einer Quittung war nicht die Rede. Der angehende

Patron muss es also bewerkstelligen, mit einem fremden Produkt einerseits fremd genug zu erschei-

nen, zugleich aber eine familiäre Atmosphäre schaffen können. Die Patronage substituiert in diesem

Erwartungszusammenhang die Quittung. Seine Klienten bindet der Patron insbesondere durch Wis-

sensvermittlung an sich. Gleich einem Anfangsgeschenk überreicht er Wissen und übergibt seinem

Gegenüber gewissermassen eine offene Schuld, die in Zukunft reziprok durch Loyalität beglichen

447

Original: “Yo me dí cuenta que ellos mueven mucho dinero. Viven así como se dice en una casita así de barro” Burch 18.11.2008. 448 Original: „Cuando yo entré con ellos primero, yo no me expresé como ingeniero, yo me presento como uno más de ellos. Primero establemos amistad, se quede con ellos, allí estaba la diferencia de otros que llega por su auto y todo, entré como uno más de ellos. Les conversé, hablé y así cuando ya ganaron confianza, me llevaron a sus cuartitos” Burch 18.11.2008. 449

Original: “...solo este Señor que vivía en su camita, donde tenía una cocinita y era soltero así en un cuartito de esos [...]. - ‘Pero deje me todo que tienes aca’, me dice. ‘Sí, te puedo dejar por lo menos la mitad’. ‘Yo voy a ver si me alcanza’, me dice. Levanta el colchón y allá donde estamos, estaba en la cama sentado, levantó el colchón, saquó toda la plata que le alcanzó, más o menos entre dolares y bolivianos que tenía, como unos 3000, 3500 dolares, me dio ‘ta, ta, tan, ta, ta, tan’ me lo contó. Nada de un recivo, nada. Entonces cuando le traiga todo, me da la diferencia, o sea otra cantidad poco menos para que complete casi los 6000 dolares. ‘!Ya!‘, me dijo, ‚no hay problema‘ Burch 18.11.2008.

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wird, wie es für Patronage im Sinne von Eisenstadt typisch ist. Wie verläuft eine solche Schlüssel-

Interaktion?

„Ich sah einen Herrn, der Angeln [pernitos] verkaufte und der Herr tat mir leid. Ich

sage: ‚Während dieser Zeit sah ich nicht, dass jemand eintritt, um eine Angel zu

kaufen; ich weiss nicht, ob ihnen das reichen wird, um zu leben‘. Als ich in der

Schlange stand, sage ich ihm: ‚Hören Sie, haben Sie schon bemerkt, dass sie auf der

anderen Strassenseite Angeln verkaufen, weiter hinten, wieder Angeln und noch

weiter…. Alle, alle verkaufen dasselbe. Wieso spezialisieren Sie sich nicht in etwas?

‘Er sagte mir: ‚Gut‘, der Herr hörte auf mich: ‚Aber was kann ich verkaufen? ‘ Ich

sagte ihm: ‚O’Rings‘, die ich zu dieser Zeit verkaufte. […] Das nächste Mal, als ich

ihn sah, sagte ich ihm: „Siehst du, so musst du denken. Verkaufe nicht das, was die

anderen anbieten. Spezialisiere dich in etwas‘. Sein Unternehmen begann zu wach-

sen und zu wachsen und nach einer Zeit, sah ich dort einen grossen Laden. ‚Möch-

test du mehr? ‘, fragte ich ihn, ‚weisst du, jetzt wirst du mich für die Beratung be-

zahlen‘, sagte ich ihm als Witz. Er sagte: ‚Ja, selbstverständlich, wie viel Don Jaime

soll ich Ihnen bezahlen? ‘ – ‚Nein, nein‘, sage ich ihm, ‚mich befriedigt es, zu sehen

wie sie wachsen“ (Burch 18.11.2008).450

Dankbarkeit verbindet beständiger als monetäre Erwartungen. Seine Klienten bezahlen ihm nichts für

seine anfängliche „Lektion“; Nicht-monetäres hat viel mehr Wert: Das Gefühl der Dankbarkeit belässt

den Beschenkten in Schuld und ist Basis für eine langfristige Zusammenarbeit. Bereits die Anrede wie

die einseitig verwendete Höflichkeitsform oder das „Don“ verraten, dass es sich um ein asymmetri-

sches Verhältnis handelt, von dem zwar beide profitieren; am meisten gewinnt jedoch der Patron in

der Brückenposition zwischen informalen und formalen Erwartungszuammenhängen. Er ist der allei-

nige Zulieferer der Spezialprodukte aus Europa und muss nicht um seine Patron-Position bangen,

auch wenn manche seiner Klienten inzwischen auch schon offiziell registrierte Unternehmen besit-

zen.

Um die Position als Patron zu bewahren, ist das Reproduzieren von Dankbarkeit und einer familiären

Atmosphäre nicht zu unterschätzen. genau diese kann in Massenbetrieben nicht hergestellt werden,

450 Original: „Yo veía un Señor que vendía pernitos así cosas chiquitas. Y a mí me daba pena por este Señor. Yo digo: “Durante vuestro rato no veía que alguien entra comprar y si entran comprar un pernito, no sé si le alcanzará para vivir”. Pero mientras yo tomaba la Cola le digo: “Oiga, no se da cuenta que al otro lado venden pernitos, más allá pernos, más... todos, todos venden lo mismo. ¿Por qué Usted no se especializen en algo?” El me decía: “Bien”, el señor me hacía caso. ¿Pero qué puedo vender?” Yo decía: “A los ‘O’Rings’ que en este tiempo yo vendía. [...]La siguiente vez que venía le dije: “Mira, tienes que pensar así. No vendas lo que tienes los otros. Especialízate en algo.” Comencó a crecer y crecer y después de un tiempo , yo ví una tienda bien grande. “?Quieren más?” le preguntaba, “?sabes que ahora me vas a pagar por la asesoría?” Yo lo decía en broma. El me decía: “Sí, está bien cuánto Don Jaime le tengo que pagarle?” “No”, le digo, “a mí me da mucha satisfacción de ver como crecele” Burch 18.11.2008.

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was ein weiterer Grund ist, wieso in dieser Region keine grossen Unternehmen vorhanden sind: „In

Lima gibt es viele informale Unternehmen […] Viele Banken investieren ihr Geld in Mikro-

Unternehmen, weil es sind diese [die Mikrounternehmen], welche das Geld bewegen. Es sind sie, die

die Wirtschaft bewegen“ (Burch 18.11.2008).451 In Gamarra erklärt mir ein anderer Unternehmerpat-

ron auf ähnliche Weise, wie er seine fremden Arbeiter (Ayudantes, die mittels Inserat angestellt wur-

den) „multifunktional“ motiviert:

„Zuerst muss deine Werkstatt gut aufgeräumt sein; alles muss in bester Ordnung

funktionieren, sauber, codiert, alles ist ein Prozess, es ist nicht nur eine Sache….

Wenn du dein Produkt machen willst, muss alles ordentlich sein, damit deine Arbei-

ter ein adäquates Ambiente sehen können“. Bis hierhin könnte man meinen, es

spräche ein deutscher Unternehmer; des Weiteren meint er: „Du legst für diejeni-

gen, die arbeiten, ihr Musikchen auf, ihnen gefällt die Chicha [Musikstil der traditi-

onelle andine Musik mit Cumbia mischt], ihnen gefällt ihr Huaynito [traditionelle

andine Musik, die koloniale Musik mischt], ihnen gefällt ihre Musik da von Puno

[Saya, Toba, Tinku usw.]; ich weiss nicht, von wo…. Wenn jemand aus [?] ist, dann

lege ich ihm seine Techno auf [lacht], damit sie sich wohl fühlen. Sie müssen zufrie-

den sein, man muss sie gut behandeln, sie angemessen bezahlen; so fühlen sich

auch gut, nicht wahr“ (Burch 24.08.2010a).452

Es ist wichtig, dass sich die Arbeiter und Arbeiterinnen ein Stück weit wie zu Hause fühlen. Die richti-

ge Wahl von „Musik“ und nicht ein Arbeitsvertrag stabilisieren Arbeitsbeziehungen. Anonymen Mas-

sen-Arbeitsverhältnissen setzt man sich nur kurz und gezielt aus, um sich zum Beispiel im Ausland

Methoden und Wissen anzueignen. Der ständige Austausch zwischen Patron und Klient muss wie-

derholt kommuniziert werden; denn nur reziproke Austauschbeziehungen sind in den Kommunen

legitim. Der Gedanke, dass alle profitieren, ist essentiell. Es muss ein Austausch zwischen den Betei-

ligten stattfinden: “Ich ging zu den Informalen und ihnen half ich zu wachsen; auf eine Art, sich zu

formalisieren, nicht wahr. Und sie begannen, zu wachsen und ich begann, sie gratis zu unterrichten

und sie sind sehr dankbar mit all meinen Hilfeleistungen. Aber am Ende bin ich derjenige, der profi-

tiert. Oder besser gesagt, wir alle profitieren. Ich lehrte sie: ‘So musst du verkaufen’” (Burch

451

Original: “En Lima hay muchos negocios informales […]Muchas bancas están investigando el dinero en microempresas porque son ellos que están moviendo el dinero. Son ellos que mueven mucho de la economía“ Burch 18.11.2008. 452 Original: “Primero tu taller tiene que ser en orden, todo tiene que funcionar en orden, limpiar, codificar, todo es un proceso, no es una cosa... cuando quieres hacer tu producto, tiene que estár bien en orden para que tus trabajadores puedan ver un ambiente adecuado. Le pones su musiquita, a los que trabajan, les gusta este la Chicha, le gusta su Huaynito, le gusta su música de allá de Puno, no sé de donde es el, cuando es pues de [¿?] le pongo pues la tecno [lacht] para que ellos se sienten cómodo. Tiene que ser contento que uno mismo también les trata bien, que hay buen trato,no? Le pagas bien, entonces también se sienta contento, no?“ Burch 24.08.2010a.

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18.11.2008).453 Er lehrte seine Klienten, die ihm immer Dankbarkeit schulden, und verhalf ihnen zum

Markteintritt, womit auch er als Patron profitiert. Dankbarkeit kann nicht kommuniziert werden; sie

erhält jedoch das System der Patronage, denn solche Klienten bleiben loyal. Der Patron betont an

mehreren Stellen, dass er seine Klienten immer wieder belehrt; sei es im Bereich Marketing oder

Preisbildung; er kümmert sich persönlich um ihr Wohl: „Aber ich kümmere mich darum, dass sie zu-

frieden sind, denn ihnen nützt es, sie nicht zu betrügen und schliesslich verdient man mit [solchen]

minimalen Details mehr. Sie verkaufen meine Produkte; ich besitze treue Klienten, weil sie wissen

wie man es braucht, weil ich sie belehre, sogar bezüglich zur Qualität [unterrichte ich sie], weil ich sie

nicht betrüge. Ich lehre sie sogar, wie man arbeitet“ (Burch 18.11.2008).454 So ist der Patron der ein-

zige, welcher seinen Klienten Wissen vermittelt und sie aktiv fördert.455 Die Karriere des Patrons

hängt aber auch von den einzelnen Karriereschritten seiner Klienten ab. Denn es gilt ein kurioses

Gesetz: “.... seltsamerweise gewinne ich mit ihnen: Es ist eine Sache, sie zu belehren, zum Beispiel

lehrt sie niemand. […]Wenn sie fühlen, dass sie nicht hintergangen werden, dann fühlen sie sich sehr

dankbar. Sehr, sehr, sehr dankbar […]. Das erfüllt mich mit Zufriedenheit und alle sind vereint; es gibt

ein Team und ich fühle mich wie den sozialen Teil, da ich Arbeit gebe“ (Burch 18.11.2008).456 Auch in

diesem Statement kommt wieder die Dankbarkeit zum Ausdruck, welche ein Schlüsselelement lang-

fristiger Patronage ist. Dankbarkeit ruft quasi ungezwungene, bzw. freiwillige und wiederkehrende

Gegenleistungen nach sich, wobei die Schuld nicht beglichen werden kann, da sie sich monetären

Kategorien entzieht. Es ist eine Art wahrer Macht, die jenseits von Drohungen operiert; sie basiert

auf Dankbarkeit und Reziprozität. Gabentausch und Machtbeziehungen, die auf asymmetrischer Re-

ziprozität basieren, sind also sehr aktuelle Erwartungszusammenhänge. Die Weltgesellschaft repro-

duziert sie auf ihren Hinterbühnen. Sie beschränken sich keinesfalls auf einfache Gesellschaften, auch

wenn die Begriffe des Gabentausches aus der Anthropologie stammen. Monetäre bzw. utilitaristische

Theorien können Erwartenserwartungen in Lima nur unzureichend beschreiben.457

453

Original: “Fui a los informales y a ellos les ayudaba a crecer – en una forma de formalizarse, ¿no? Y ellos han comencado a crecer y yo les comencé enseñar gratis y ellos están muy agradecidos con todo lo que les ayudo. Pero al final quien beneficia soy yo. O sea beneficiamos todos. Yo les aprendí, tenías que vender así” Burch 18.11.2008. 454

Original: „Pero yo me preocupo en que ellos estén contentos, que a ellos les sirva en no engañarles y al final con detalles minimos, uno gana más. Venden mis productos, ya tengo como clientes fieles porque saben como utilizar porque les enseño hasta cual es la calidad y porque no les engaño. Yo les enseño hasta como trabajar” Burch 18.11.2008. 455

Das Konzept der Dankbarkeit erörtert vor allem Simmel auf interessante Weise. Siehe: Simmel 1992b. 456

Original: „...curiosamente yo gano con ellos: Una de las cosas es, enseñarles a ellos, por ejemplo nadie les casi enseña. [...] Entonces cuando sienten que no les engaña, entonces ellos se sienten muy agradecidos. Muy, muy, muy agradecidos. […] Me satisfeche es la gente y todos como están unidos, hay un equipo; yo me siento como doy la parte social, que doy trabajo” Burch 18.11.2008. 457

So ist es dann auch nicht mehr erstaunlich, dass Oberschichten komplexer Grossreiche wie dem Inkareich ohne monetäre Mittel nur auf Grund verschiedener Arten von Reziprozität es zustande brachten, sich von einer Peripherie und den unteren Schichten abzugrenzen. Siehe zum Inkareich: Burch 2010; siehe zum Gabentausch in vormodernen Gesellschaften: Sahlins 1972. Insbesondere wird jene Machtkommunikation, wie oben darge-

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Der Patron betont beinahe in jeder Aussage, dass er seine Klienten nicht betrügt. Er „beschenkt“ sie.

Gegen wen grenzt er sich mit dieser mitgeteilten Information ab? Wer sind ergo die Betrüger? Gleich

wie grosse Massenunternehmen kommt auch der unpersönliche Staat schlecht mit solchen kommu-

nal-reziproken Erwartungszusammenhängen klar. Wenn man jedoch keine persönliche Hilfe erhält,

handelt es sich aus der Perspektive eines Beteiligten in besagter Region nicht um einen Patron son-

dern um einen Schwindler: „Wir wachsen alleine. Deshalb glaube ich, dass viele peruanische Unter-

nehmen die Steuern umgehen, weil sie keine Hilfeleistungen erhalten“. Und weiter schlussfolgert er:

„Ich glaube, die Leute wachsen auf Grund der Informalität“ (Burch 18.11.2008).458 Der Patron wächst

aufgrund „der“ Informalität, genauer gesagt, er verdient, weil er auf der Hinterbühne der Weltgesell-

schaft an die kommunalen Erwartungszusammenhängen der Teilnehmer anzuschliessen weiss; er

entrichtet weder Mehrwertsteuer noch vollumfängliche Zölle. Die Patronage ersetzt moderne Insti-

tutionen, welche verschiedene Funktionssysteme strukturell verbinden. Er präsentiert eine einfache

Rechnung, um den Gewinn der Patronage in Zahlen zu formulieren: „Die besten Geschäfte sind in

den informalsten Risiko-Ländern. Denn in den formal, formalen Ländern weisst du schon, dass von

100% du 30% gewinnen musst. Von den 30% musst du wohl Steuern von 20% bezahlen und das, was

dir bleibt sind 10%. Also ist dein Gewinn limitiert. Das Risiko ist kleiner, aber in den informalen Län-

dern, kann dein Gewinn 200% oder 300% sein. Wenn du davon 100% für eine Versicherung für was

weiss ich für was eine Sache ausgibst, verdienst du sehr gut“ (Burch 18.11.2008).459 Das Risiko, dass

klientelistische Erwartungen in dieser Region nicht eingehalten werden, liegt um einiges tiefer als die

übliche Besteuerung und könnte sogar mit einer teuren Versicherung gedeckt werden. In diesem

Zitat liegt bereits eine Erklärung für ein Problem, welches im nächsten Kapitel eingehend erörtert

wird: Asymmetrische Netzwerke, die aus mehreren Patronageverhältnissen bestehen, sind interes-

santerweise im Stande, Enttäuschungen zu kognitivieren. Es ist eine Erklärung dafür, wieso Gamarras

Unternehmer auch das Risiko eingehen, fremde Händler, die zuweilen vor allem in einer anderen

Region tätig sind, in ihr Netzwerk aufzunehmen. Die Gewinne sind derart hoch, dass gewisse Unter-

nehmer Diebstähle verkraften. Auch der Unternehmer, der anfänglich als fremder „Patron“ ohne

Klienten daher kam, weiss, dass das Enttäuschungsrisiko in dieser Region grösser ist, als zum Beispiel

in Deutschland. Aber das Risiko, dass gewisse Enttäuschungen kognitiviert werden müssen, ist bei

weitem kleiner als der Gewinn, der mittels dieser Paradox anmutenden teilweise“ kognitivierten Pat-

stellt, selbst heute auf verschiedenste Arten reproduziert. Siehe zum Gabentausch: Mauss 1990 oder Wilk und Cliggett 2007. 458

Original: Crecemos solo. Entonces yo creo de que muchas empresas peruanas pues evaden [los impuestos] porque no tienen ayudas. Creo que la gente que crece es por la informalidad” Burch 18.11.2008. 459 Original: „Los mejores negocios están en las países más informales de riesgo. Porque los países formales, formales ya sabes de que del 100% tienes que ganar el 30%, de 30% de repente tienes que pagar impuestos de 20% y lo que te queda es 10%. Entonces ya tienes casi limitado tu ganancia. El riesgo es menos pero en los países informales tu ganancia puede ser el 200% o el 300% si tú de eso vas a dar 100% para un seguro en caso de no sé que cosa, ganas muy bien” Burch 18.11.2008.

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ronage“ erzielt werden kann. Das ist interessant. Das Element einer ausdrücklichen Kontrolle ist er-

staunlich gering vorhanden. Diese Beobachtung fehlt in der Literatur komplett und verdient genaue-

re Untersuchung, weshalb sich das nächste Kapitel verschiedene Konfliktmechanismen vornimmt.

Die Klienten sind dem fremd dahergekommenen Patron jedoch loyal gesinnt. Während der Vermitt-

lerpatron den Zugang zu seinen formalen Zulieferern aus Deutschland nicht immer wieder aktualisie-

ren muss, hat er sich auf der Absatzseite stets um seine Sub-Patrons persönlich zu kümmern. Er muss

temporär vor Ort sein, physische Anwesenheit ist wichtig. Die periodische Anwesenheit des Vermitt-

lers zeigt im wahrsten Sinne des Wortes, dass er sich um das Wohlergehen des Firmennetzwerkes

bzw. um seine Sub-Patrons aufrichtig kümmert. Umso mehr Klienten ein Patron besitzt und umso

mehr diese verkaufen, je besser ist die Position des Patrons. Die Karriere ist also in ihrer Struktur eine

Netzwerkkarriere, die sich zwar auf wirtschaftliche Kommunikation spezialisiert, aber auch Leistun-

gen anderer Funktionsbereiche wie Erziehung und Gesundheitswesen inkludiert; Vertrag, Zertifikat

und Besteuerung werden dadurch wie in Kapitel 6.1 detailliert erörtert, zum Teil ersetzt.460

Interessanterweise konnte dieses Netzwerk in viele südamerikanische Länder expandieren. Der

„Hauptpatron“ kann jedoch nicht überall und immer anwesend sein. Wie wird dieses Problem ge-

löst? Die Frage kann hier nur ansatzweise erläutert werden. Vertrauen ist ein Medium, das übertra-

gen werden kann, wenn der Hauptpatron einen Patron eingehend persönlich vorstellt. Die Selekti-

onsübernahme hängt stark davon ab, wie der neue Patron vorgestellt wird und inwiefern sich dieser

für diese Rolle eignet. Quechuakenntnisse sind von Vorteil. Die interessante Frage betrifft auch die

Problematik, wie schnell Vertrauen von einer Person auf eine andere „übertragen“ werden kann.

Eine genauere Erforschung des Mediums „Vertrauen“ und seiner Übertragbarkeit innerhalb solcher

„geplanter“ asymmetrischer Unternehmensnetzwerke wäre interessant, würde den Rahmen dieser

Arbeit jedoch sprengen. Prinzipiell liegt der Problematik ein strukturell äquivalentes Problem zu

Grunde, wie bei meinem Feldzugang zur teilnehmenden Beobachtung, der unter Punkt 3.1. erörtert

wurde. Ein Kunde stellte mich einer Unternehmerin vor, wodurch die Erfolgswahrscheinlichkeit, dass

ich in besagter Firma eine teilnehmende Beobachtung durchführen durfte, anstieg. Im Gegensatz zu

einem Hauptpatron war der Kunde jedoch in einer weniger zentralen Position, zudem wurde ich nur

sehr kurz vorgestellt. Die Position des Hauptpatrons innerhalb des gesamten Netzwerkes ist zentral,

in dem Masse, dass er als einziger Zugang zu formalen Zulieferern hat und deshalb das Bestehen der

einzelnen Mikro- und Kleinunternehmen von dieser Beziehung abhängt. Eine weiterführende Frage

lautet dann: Wie bildet sich innerhalb asymmetrischer Netzwerke die Rolle eines Hauptpatrons her-

aus? Was bedeutet sie? Diese Rolle beschreibt eine Form wirtschaftlicher Globalisierung, welche

viele verschiedene asymmetrisch gebaute Netzwerke verbindet. Das Zentrum des Netzwerkes ist als

Organisation formalisiert und schliesst als „Juristische Person“ mehrfach an die formale Kommunika-

460

Siehe dazu die Kapitel zu den Leistungsarten der Patrons: 6.1.

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tion in der Weltgesellschaft an. Die Differenzierungsform Zentrum / Peripherie erweist sich als nütz-

lich, um Problemlösungen in der peruanischen Differenzierungsvariante zu beschreiben. Im Gegen-

satz zu umfangreichen Unternehmensnetzwerken ohne Hauptpatron besteht das Zentrum des so-

eben erörterten Netzwerkes nicht aus einem Patron, als einem Vermittler zur formalen Weltwirt-

schaft, sondern aus einer Organisation.

Die in diesem Kapitel dargelegten empirischen Problemlösungsmöglichkeiten des Anschlusses an die

formal-globale Wirtschaft sollen nun in einem kurzen Fazit vergleichend aufgelistet werden.

4. Fazit zu diesem Kapitel

Ein Fazit dieses Kapitels ist die soeben beschriebene Entdeckung der Rolle des „Hauptpatrons“. Vieles

spricht dafür, dass die Rolle des „Hauptpatrons“ eine Übergangsrolle darstellt: Nämlich von Patrona-

ge zu Organisation. Dies betrifft das Zentrum des Unternehmensnetzwerkes. Unternehmensnetzwer-

ke ohne Hauptpatron sind in ihrer Expansion beschränkter, da sie keine Vorderbühne besitzen. Sie

konzentrieren sich stärker auf einen Raum. Es macht den Anschein, dass sich drei Arten von Unter-

nehmensnetzwerken beschreiben lassen, welche an die formale Weltwirtschaft anschliessen:

1. Unternehmensnetzwerke, deren Zentrum aus einer formalen Organisation be-

steht. Die Peripherie, welche asymmetrische Netzwerke inkludiert ist im Gegen-

satz zum Zentrum um einiges kleiner. Das wäre der Fall des Textilimperiums To-

py Top.

2. Unternehmensnetzwerke, deren Zentrum ebenfalls aus einer formalen Organi-

sation besteht, wobei das Zentrum jedoch weitaus kleiner ist im Vergleich zu

seiner Peripherie, welche aus umfangreichen asymmetrischen und dezentrali-

sierten Netzwerken besteht. Das ist der Fall des Unternehmensnetzwerkes, das

durch einen kommunal-externen Patron initiiert wurde.

3. Unternehmensnetzwerke, deren Zentrum vor allem aus der Vermittlerposition

eines Patrons besteht. Eine formale Vorderbühne wurde nur ansatzweise er-

stellt. So besitzt die Firma einen RUC Eintrag, kennt jedoch keine temporären

Verträge, die stets erneuert werden.461 Intern werden auch im Zentrum die Ei-

genstrukturen, Vertrag, Zertifikat und zum Teil Besteuerung und Abgaben weit-

gehend substituiert.

Viele Theorien der Organisationssoziologie beachten die Hinterbühnen und somit diese Unterteilung in (mindestens) drei Arten des Zugangs zur formalen Weltwirtschaft nicht. Es macht einen Unter-schied ob man von Weltgesellschaft spricht oder nicht. Es bedarf dazu der Unterscheidung nach

461

Solche Kurzverträge, die stets erneuert werden, erörtert Kapitel 9.

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Zentrum und Peripherie. Das Zentrum eines Unternehmensnetzwerkes ist anders strukturiert als die Peripherie. Alle diese Problemlösungsmöglichkeiten des Anschlusses an formale Weltwirtschaft ba-sieren von Punkt 1) nach 3) in zunehmender Weise auf kommunalen Strukturen. Bei Punkt 1) handelt sich um Unternehmen, die als Einheit bzw. als Organisation wie das Zentrum von Unternehmen unter Punkt2) umfassende Zugänge zum Weltmarkt besitzen. Dieses Zentrum spezialisiert sich bei Organi-sationen aus dem Bereich 2) auf administrative Aufgaben. Dahingegen wird im Zentrum von Organi-sationen aus dem Bereich 1) auch produziert. Gerade im Textilbereich sind jedoch innerhalb dieser quasi formalen Zentren des Bereiches von 1) quasi informale Anstellungsverhältnisse legalisiert. Ge-gen Ende des nächsten Kapitels unter Punkt

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249

8.2 Arbeitsrechtliche Konfliktmechanismen: Juristische Patronage und die auffallende Bedeutung des

Verfassungsgerichtes sollen rechtliche Erwartungen an eine Textilorganisation aus dem Bereich 1)

erörtert werden.

Die Unterscheidung obiger drei Arten des Zugangs zur formalen Weltwirtschaft erweist sich als inte-

ressant. Ich wage es, zu behaupten: Die Punkte 1) bis 3) zeigen eine evolutionäre Entwicklung in

zweierlei Hinsichten: Erstens entstand genau in dieser Art die Firma Topy Top. Es könnte also beinahe

Topy Tops Karrieregeschichte sein. Zweitens stehen die drei Arten auch für sich alleine. Es heisst

nicht, dass sich Unternehmensnetzwerke jeweils von 3) zu 1) bewegen und ihr Zentrum ausbauen. So

findet man auch in Europa Unternehmen, die Arbeit im Sinne von 2) outsourcen. Das Zentrum und

die Peripherie sind dann räumlich getrennt; beschreiben jedoch zwei Seiten eines Systems, das ohne

die andere nicht bestehen kann. Gerade in Lima kommt Massenproduktion selten vor. Die wenigsten

Unternehmen entwickeln sich zu Firmen aus der Kategorie 1). Ein erfolgreiches Organisationsmodell

scheint unter Punkt 2) beschrieben zu sein. Man könnte es als „Satellitenproduktion“ bezeichnen.

Den Arten von 2) und 3) ist die starke Fokussierung auf kommunale Netzwerkstrukturen gemeinsam.

Alleine wächst man nicht, Patrons bzw. Hauptpatrons (bei Punkt 2) wachsen nur durch ihre Unter-

nehmensnetzwerke, die sie strategisch um sich herum aufbauen. Da Patrons darauf angewiesen sind,

ihr Netzwerk zu erweitern und zu stabilisieren, müssen sie wiederum Patrons hervorbringen. Dieser

Aspekt ist bei den Unternehmensnetzwerken im Sinne von Punkt 1.) nicht mehr essentiell. Der Fokus

wird auf Organisation gelegt. Nur Unternehmensnetzwerke der Bereiche 1) und 2) besitzen über

Vorderbühnen. Das Problem abwesender Vorderbühnen soll in Kapitel 9 aufgenommen werden.

Während gewisse Massenprodukte wie Billigstoffe heutzutage in Gamarra ziemlich leicht ohne Zu-

gang zur Formalität erhältlich sind, ist der Zugang zu Spezialteilen umso gefragter. Patrons mussten

sich in Gamarra den Zugang zu „Spezial-Aggregaten“ aufwändig erarbeiten. Das bezieht sich vor al-

lem auf Punkt 3.). Auf die Zuliefererfunktion spezialisierten sich jedoch auch Patrons, die zum Bei-

spiel kommunal-extern hinzukamen (vgl. Punkt 2.). Beide beliefern ihre Unternehmer mit Spezialma-

terial. Der Unterschied zwischen den Unternehmensnetzwerken der Art 2) und 3) liegt in ihrer Expan-

sionsart. Beide erachten sich als „Staaten“, auch wenn sich natürlich vor allem die Unternehmens-

netzwerke unter Punkt 2) offiziell als Organisation bezeichnen. Der eine „Staat“ tritt im Sinne des

üblichen Staatsverständnisses regional verdichtet auf (Punkt 3) und empfindet den formalen Staat in

manchen Belangen als Konkurrenten, auch wenn innerhalb dieses „Staates“ normative Erwartungen

weniger im Vordergrund stehen als beim „richtigen“ Staat. Der „Staat“ im Sinne von Punkt 2) ist de-

zentraler und zeichnet sich durch Satellitenbildung aus. Anders formuliert handel es sich gemäss dem

Hauptpatron um einen „estado chiquito“ (Burch 18.11.2008), das heisst, „um einen winzigen Staat“,

der vor allem auf der Hinterbühne der Weltgesellschaft verortet ist. Zu diesem „Staat“ gehört auch

eine gewisse Nachsichtigkeit. Der Patron „macht kein Büro auf“, sollte ein Sub-Patron gelegentlich

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einen Kredit nicht zurückbezahlen. Über den Umgang mit Enttäuschungen handelt nun das nächste

Kapitel.

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8 Konfliktmechanismen

Wie werden Enttäuschungen behandelt, wenn lokal kaum an politische Erwartungen des Landes an-

geschlossen wird? Wie werden Konflikte ausgefochten? Gemäss Luhmann (1987b, S. 530) liegt ein

Konflikt vor, „wenn einer Kommunikation widersprochen wird. Man könnte auch formulieren, wenn

ein Widerspruch kommuniziert wird“. Wie entsteht aus einer Enttäuschung ein Konflikt? Luhmann

(2008b) unterscheidet einen normativen von einem kognitiven Umgang mit Enttäuschungen. Interes-

sant ist dann, wie die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit enttäuschten Erwartungen umgehen:

Normativ, indem sie an ihren Erwartungen festhalten und diese notfalls mit Gewalt oder Rache

durchsetzen oder kognitiv, indem sie lernen und die Enttäuschung erlebend hinnehmen.

8.1 Patronageartige Konfliktmechanismen

Wie werden Konflikte zwischen einem Patron und einem Klient gelöst? Während meiner teilneh-

menden Beobachtung fiel mir auf, dass Konflikte abwesend sind. Sie wurden nicht einmal themati-

siert. Im vorherigen Kapitel 9 wurde das Vorhandensein einer teilweise “kognitivierten Patronage“

bereits angesprochen. Dies gilt es zu erläutern. Gibt es keine Konflikte innerhalb der Unternehmen in

Gamarra?

Kleinere Konflikte fielen mir auf, in gewissen Fällen halten Patrons also ihre Erwartungen aufrecht,

auch wenn diese enttäuscht wurden. Normen werden dann durchgesetzt. So geschah es einmal, dass

ein Arbeiter zu spät zur Arbeit erschien und verwarnt wurde. Ein ständiges Zuspätkommen beobach-

tet die Unternehmerin ganz klar als Regelverstoss der Organisation gegenüber. Auf die Frage, ob sie

Arbeiter entlasse, die ab und zu nicht zur Arbeit kommen, antwortet sie deutlich: „Ja, weil man nicht

so arbeiten kann. Manchmal bereite ich in der Nacht etwas [die Tagesaufträge] vor, dass diese Per-

son morgen dies macht und wenn diese Person dann fehlt, nein… das zerstört alles. Alle sind wichtig,

wenn einer fehlt, nein. Weil abgesehen davon gibt es einen Schneider, wir besitzen einen Sticker, wir

haben eine Stickereimaschine. Wir geben ihnen [Aufträge], wir erklären ihnen, was wir wollen und

sie machen es. Er erledigt die Aufgabe selbständig, es zuzuschneiden, es zuzuschneiden lassen und

die vom oberen Geschäft liefern uns schon alles hergestellt“ (Burch 24.08.2010b).462 Die Unterneh-

merin entliess schon Arbeiter, die wiederholt zu spät oder gar nicht zur Arbeit erschienen, da das

Personal exakt berechnet und jeder im Produktionsprozess eingebunden ist. Gegenüber rangniede-

462 Original: „Sí porque así no se puede trabajar. Sea a veces yo... yo hago en la noche, este en la noche yo propongo algo, mañana haz esto, esto, tal personal hace esto y falta esta persona ya no... se malogra pues. Todos son importantes, uno falta, ya no. Porque aparte de eso también aca de eso hay un cortador, aca de eso tenemos un bordador, tenemos maquina bordadora. Les damos, les explicamos lo que queremos y el lo hace, y el mismo se encarga en cortar de mandar a coserlo y ya de arriba del taller nos baja ya todo hecho” Burch 24.08.2010b.

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ren Klienten verfügt die Unternehmerin über Sanktionsmöglichkeiten. Auch der Ehemann und Mitbe-

sitzer der Firma bekräftigt, dass es sich grundsätzlich nur um kleine aber oft wiederkehrende Konflik-

te in Form von Diebstählen handelt. Die Arbeiter tun so, als würden sie den Abfall entsorgen, neh-

men jedoch Kleider mit. Falls jemand erwischt wird, wird er entlassen. Im gleichen Atemzug meint er

jedoch, es ist gut, wenn die Arbeiter bleiben. Entlassungen nimmt man nur ungerne vor.

Noch weniger thematisiert werden Konflikte mit ranghohen Organisationsmitgliedern. Erst nach zwei

Monaten erzählte mir die Patronin in informeller Form nach einem langen Leitfadeninterview von

einem schwerwiegenden Konflikt. Die Patronin wollte sich auf das Designen von Marken konzentrie-

ren und ernannte einen Mitarbeiter zum Verkaufschef. So beschäftigte sie in dieser Position einen

jüngeren Mann, einen „jóven de confianza“, der ein „amigo“, ein Befreundeter war. Das ging ganz

gut; da vertraute sie ihm auch die Kasse sowie alle fünf wichtigen Bücher an und liess ihn zusätzlich

als Verkaufsvorsteher arbeiten.463 Sie konnte sich somit ganz auf das Entwerfen von neuen Designs

spezialisieren. Der junge Mann widmete sich jedoch heimlich während dreier Jahre des Diebstahls

von Kundenkontakten. Das Geld der Kasse interessierte ihn nicht. Nur die Kundendaten interessier-

ten ihn. Er besass zwar noch kein eigenes Geschäft, er produzierte jedoch nicht wenige ihrer Kun-

denaufträge in seiner Heimwerkstatt. Er zapfte also Kundenaufträge ab. Bei diesem Diebstahl spielte

das Handy eine wichtige Rolle, denn nur aufgrund des Handys war es ihm möglich, mit den Kunden,

die er ihr stahl, zu kommunizieren. An diesem internen Konfliktfall werden die Organisationsgrenzen

deutlich. Gemäss der Unternehmerin handelt es sich hier um einen schwerwiegenden Diebstahl bzw.

um ein Brechen der organisationsinternen Entscheidungen. Kundendaten sind das wichtigste Gutha-

ben einer Firma; der Verlust kann eine Firma schnell in den Ruin treiben. Wie löste die Patronin die-

sen schweren Konflikt mit einem ihrer obersten Mitarbeiter? Ihr Umgang mit Enttäuschungen er-

staunte mich. Als sie seine geheimen Machenschaften entdeckte, versetzte sie ihn in den Lagerbe-

reich, damit er in dieser beschränkten Funktion weiterarbeite. Sie entliess ihn nicht. Interessanter-

weise kam es trotz dieses schweren Regelbruchs zu keiner Entlassung. Auch seinen Lohn kürzte sie

nicht, obwohl er sie bestahl und obwohl er danach in einer tieferen Position arbeitete. Diese kogniti-

ve Art des Umgangs mit Enttäuschungen irritierte mich. Es fand kein Konflikt statt, nichts. Wie lässt

sich das erklären? Verhindern kommunale Erwartungen Racheakte und Konflikt? Gemäss der Patro-

nin gab es keine andere Möglichkeit, weil sie ihn schon lange kannte. Auch kannte er die Organisati-

onsprozesse ihrer Firma und ihre Produkte gut. Sie nahm ihm nicht einmal sein Handy ab, sie erteilte

ihm lediglich ein Benutzungsverbot. Kommunale Strukturen sind also imstande, nicht nur normative

Erwartungen zu stabilisieren sondern wirken erstaunlicherweise auch kognitivierend. Auch in diesem

Beispiel eines grösseren Diebstahls, das im Gegensatz zu Kapitel 9 nicht aus der Perspektive der Täte-

463 Eintrag in mein Forschungstagebuch, 24. August 2010, Gamarra. Siehe zu den firmeninternen Büchern 6.1.3.

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rin sondern aus Sicht des Opfers erörtert wurde, ist Rache nicht präsent. Die Unternehmerin lernte

jedoch aus der Enttäuschung: Markenkleider zu produzieren, hat mit erfolgreicher kommunaler Pat-

ronage zu tun, die sich nicht auf entfernte Bekannte oder Freunde verlassen muss, sondern sich auf

Familienmitglieder stützt. Die Rolle der Verkaufsleitung ist in den meisten Betrieben für den Firmen-

eigentümer reserviert. Demgegenüber enttäuschten die Familienmitglieder in tieferen Positionen,

weshalb sie diese ersetzte.464

Ich fragte später noch den Mann der Geschäftsführerin, wie es ihnen dazumal aufgefallen sei, dass

sie von diesem „joven“ beklaut wurden. Er sagte, dass sie die Verkäufer, die dessen Ware, die er in

seinem Haus heimlich herstellen liess, zufälligerweise kannten. Die Verkäufer waren ihre „amigos“

und erzählten dem Unternehmerpaar von dem Kundendiebstahl und der heimlichen Produktion.

Netzwerke sind sehr weitreichend. Die Unternehmer kennen jeden: Vom Zulieferer bis zu den Ver-

käufern, die einen Teil der Ware anderorts verkaufen. Patronagesysteme charakterisieren sich durch

eine hohe interne Abhängigkeit, insofern werden Konflikte nicht ausgetragen.465 Trotz dieser sehr

geringen Sanktionen arbeitete der junge Mann kaum eine Woche als Lagerist im Kleiderlager. Er legte

den Job plötzlich nieder und eröffnete daraufhin sein eigenes Kleidergeschäft. Im Konfliktfall könne

sie sich nicht auf die Polizei oder jemanden Externes stützen, sondern sei gezwungen, die Angele-

genheit selbst zu regeln. Es gibt keine Polizei. Bereits der Arbeitsausfall, um zur Polizei zu gehen, kann

nicht in Kauf genommen werden. Die Unternehmerin wägt die Vor- und Nachteile bewusst ab und

entscheidet sich gegen eine Sanktion. Das Erstaunliche ist, dass jedoch auch Rache nicht in Erwägung

gezogen wird. Von Rache war nie die Rede. Der Konflikt ist beendet, sobald er auftaucht. Es bestünde

immer ein Risiko, wenn man Leute anstellt. Es gibt in der Gamarra keine externe Organisation, die

wie die Mafia, die Konflikte gewaltsam regelt. Einflussreiche Patrons kümmern sich bloss um ihre

eigenen wirtschaftlichen Geschäfte und interessieren sich nicht für die Konflikte ausserhalb ihres

Netzwerkes.466 Als ich sie fragte, wieso sie nicht zu xy, einem einflussreichen Patron ginge und ihm

die Ungerechtigkeit berichte, sagte sie stoisch: „Die arbeiten nur unter Freunden“. Insofern gibt es

selbst für diesen schweren Diebstahl keine Konfliktmechanismen. Enttäuschungen werden hinge-

nommen. Er wird auch nicht gerächt. Rache lohnt sich nicht. Gestohlene Kundendaten können auch

gewaltsam nicht wieder erworben werden. Insofern wird der Konflikt komplett gelöst bzw. ad acta

gelegt. Man ist sich dessen bewusst. Die Unternehmerin nimmt Verluste erstaunlicherweise ander-

weitig kalkuliert in Kauf. Sie agiert wie der erfolgreiche kommunal-externe Patron, dessen Karriere

soeben in Kapitel 9 erläutert wurde. So lohnt es sich laut der Unternehmerin sogar, das Risiko einzu-

gehen, Kleider vertragslos zu vermieten. Dass in einem quasi staatslosen Raum Kleider nicht nur pro-

duziert und verkauft, sondern auch vermietet werden, erstaunt wieder zutiefst. Die Unternehmerin

464 Siehe dazu Kapitel 6.1.3. 465

Siehe Luhmann 1987b, S. 532ff. 466

Siehe zur sizilianischen Mafia: Gambetta 1993.

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geht wie folgt vor: „Du [bzw. der Ausleihende] hinterlässt die [Nummer] deines Identitätsausweises.

Manchmal, wenn es sich um eine grosse Menge handelt, die den Wert von 250 Soles [ca. 90 CHF]

übersteigt, verlangen wir eine Garantie: Die Wasserrechnung, die Lichtrechnung oder wir rufen per

Festnetztelefon an, um sicher zu sein, dass die Person dort wohnt“ (Burch 24.08.2010b).467 Bringt die

Person trotz dieser Vorkehrungen die Leihgabe nicht termingerecht zurück, bzw. wird die Ware nicht

zurückgebracht – und dies kommt ab und zu vor – so gehe sie zum Wohnort der betreffenden Per-

son und erhalte die Ware auf diese Art meistens. Dann werde etwas Verzögerungsgeld verlangt, so

käme die Ware eigentlich immer schnell zurück. Sanktionsmöglichkeiten besässe sie keine.

Werden Erwartungen enttäuscht, gibt es meist nur zwei Alternativen: Entweder fällt das Patronage-

verhältnis auseinander oder es bleibt bestehen, wobei in beiden Fällen der Konflikt sofort beendet

wird. Viele Diebstähle nehmen die Patrons lediglich erlebend hin. Dies ändert sich nur geringfügig,

wenn man das Zentrum der Gamarra betritt, in welchem die Verkaufspunkte in mehrstöckigen Blö-

cken, den sogenannten Galerías organisiert sind. Dort finden sich an der zentralen Stelle neben dem

Lift Personenfotos. Die Fotos fielen mir als Auswärtige zuerst kaum auf. Ich bemerkte sie erst nach

mehrmaligem Übersehen bzw. nach einigem Ein- und Ausgehen. Der danebenstehende Bediener des

Liftes erklärt, dass diese Fotos Diebe zeigen. So wird verhindert, dass diese Personen das Gebäude

erneut betreten, was einem Hausverbot gleichkommt. Die Verwalter oder der Besitzer der Galerie

prangern Diebe öffentlich an. Dazu hängt man an einer zentralen Stelle, zum Beispiel über dem Lift

ein Foto des oder der Betrügerin auf, manchmal kombiniert mit dem Personenausweis (siehe Abb.

22). Der offizielle Pranger ist jedoch ein Glaskasten, der verschlossen ist und nur vom Besitzer bzw.

dem Vermieter der Galerie geöffnet werden kann (siehe Abb. 21). Eine Galerie ist ein Reputations-

system, das über einen Verantwortlichen und ein Publikum verfügt, weshalb Anprangerung im Zent-

rum von Gamarra ein möglicher Konfliktmechanismus ist.

467 Original: “Nos dejas tu DNI, a veces si es una cantidad fuerte de un valor de los 250, queremos garantía, recibo de agua, de luz o llamamos a su teléfono fijo pues para estár seguro si vive allí” Burch 24.08.2010b.

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Die Polizei kommt hingegen nicht oder höchstens in sehr schwerwiegenden Fällen zum Einsatz. Aber

selbst im Zentrum der Gamarra beobachtet man kaum Konflikte. So fragte ich einen in einer Galerie

arbeitenden Patron, was er unternimmt, wenn ihn ein Arbeiter bestiehlt. Seine Antwort: „Was soll

ich schon tun? Sie beraubten mich schon; sie stahlen mir eine Schneidemaschine, sie stahlen Schreib-

tische. Sie berauben dich eben. So funktioniert das. Gut, deshalb muss man ihre Dokumente genau

anschauen, wo sie wohnen. Es kommt oft vor, dass in gewissen Werkstätten alle Maschinen [von den

Arbeitern] gestohlen werden… im Lastwagen habe sie sie mitgenommen. Klar, so ist es hier eben “

(Burch 24.08.2010a).468

468 Original: “¿Qué voy a hacer? A mí ya me robaron, me robaron una cortadora, me robaron escritorios, te roban. Así funciona eso. Bueno, por eso hay que mirar bien pues sus documentos, donde vive porque hay muchas veces que en algunas talleres se llevan las máquinas! Sucedió casos. [...] en camión se han llevado. Claro, aca es así pues” Burch 24.08.2010a.

Abbildung 21: Glaskasten-Pranger

Quelle: Eigene Foto, August 2010, Gamarra, Galeria „Guizado”

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256

Über Diebstähle regt sich der Betroffene selbstverständlich auf, aber Normbrüche gehören zum Ge-

schäft: „So ist das eben hier“. Es ist für einen Auswärtigen mehr als erstaunlich, wie stoisch Unter-

nehmer mit Diebstählen umgehen und diese erlebend hinnehmen. Enttäuschungen werden also

kognitiv abgewickelt; man lernt aus dem Fall und passt seine Erwartungen an. Die Einstellung zu Ent-

täuschungen mutet etwas fatalistisch an. Rechtliche Konfliktmechanismen entfallen, aber auch Rache

wird nicht als Lösung erachtet. Das liegt sicherlich auch an den kommunalen Erwartungen, die das

Prinzip der Blutrache nicht kennen. Zur Umsetzung der Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fehlen

einerseits die Mittel, andrerseits würde es das Problem nicht lösen. Die eigene Erwartung wird bei

einer Enttäuschung angeglichen; sie wird nicht mittels Rache gesühnt.469 Man lernt etwas und ver-

zichtet zu einem Teil bewusst, sämtliche Mittel auszuschöpfen, da es ungewiss ist, ob dies ein befrie-

digendes Resultat herbeiführen würde. Man bemüht sich, es nicht mehr so weit kommen zu lassen

und platziert die teuersten Maschinen beispielsweise im hintersten Bereich der Unternehmung.

In anderen Fällen wurden Normen gar angepasst. Eine Unternehmerin, die mit 25 tiefer positionier-

ten Mitarbeitern arbeitet, meint gelassen: „Das heisst, es kann sein, dass das Personal hier ein halbes

Jahr arbeitet und danach gehen sie. Sie kommen nach einem, zwei Monaten, ja bis zu einem halben

469

Siehe zu den Formen der Enttäuschungsabwicklung: Luhmann 2008b. Er unterscheidet in diesem Beitrag kognitive und normative Arten des Umgangs mit Abweichungen.

Abbildung 22: Öffentlicher Raum einer Galerie als Pranger…

….eine erweiterte Nutzung des viel betrachteten Lift-Symbols

Quelle: Eigene Foto, August 2010, Gamarra

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257

Jahr [jedoch] wieder zurück“ (Burch 24.08.2010b).470 Sie erzählte dies so gelassen, dass ich nachfra-

gen musste, ob dieses ungeplante Kommen und Gehen des Personals ein Problem für die Unterneh-

mung darstelle. Worauf sie antwortet, dass es natürlich Probleme bereite, aber was solle man dage-

gen schon tun. Es liegt wohl nicht nur an der Reproduktion kommunaler Strukturen, dass Enttäu-

schungen nicht vergolten werden. Oft fehlen den Patrons schlicht und einfach die Mittel. Drei Tage

später am 27. August 2010 erzählt mir auch ihr Ehemann: „Ach, manchmal gehen sie [die Arbeiter],

weil ihnen jemand anders etwas mehr Lohn verspricht. Doch die meisten kommen wieder zurück,

weil sie an anderen Orten nicht gut behandelt werden. Diese Zurückgekehrten bleiben dann sehr

gerne bei uns.“ Selbst wenn einen die Arbeiter verlassen, nehmen dies der Patron und die Patronin

erlebend hin. Während diese unangekündigte Arbeitsniederlegung in anderen Regionen zu einer

fristlosen Entlassung führen würde. Aber in der Gamarra lebt man mit solchen Abweichungen. Man

kann nichts gegen sie unternehmen; anders als in der Schweiz braucht ein Arbeiter keine formelle

Kündigung. Staatliche Leistungsansprüche wie Sozialversicherungen und Arbeitslosengeld existieren

in Gamarra nicht. Ein Arbeiter, der seine Arbeit unverhofft niederlegt, erleidet also in Gamarra keine

Nachteile. Dahingegen kommuniziert man hinsichtlich Netzwerke. Ein Arbeiter, der wieder zurück-

kommt, verfügt sehr wahrscheinlich über mehr und vielfältigere Kontakte als zuvor. Deshalb ist er

selbst am alten Ort wieder willkommen. Solche Fälle bezeichnen also im Unterschied zu grösseren

Diebstählen nur kleine Enttäuschungen. Man lernte daraus, dass selbst Arbeiter, welche die Firma

plötzlich verliessen als kompetentere Arbeiter zurückkamen.

Man muss sich mit diesen Instabilitäten und Diebstählen wie mit der ständig sichtbaren Konkurrenz

arrangieren. Es gibt dagegen nichts zu unternehmen. Konkurrenz existiert einfach. Interessanterwei-

se sehen dies auch international agierende Patrons hinsichtlich der Konkurrenz auf weltgesellschaft-

licher Ebene gleich. Obwohl sich beinahe die ganze Welt von Chinas Wirtschaft konkurriert fühlt,

sehen das diese Patrons anders. Auf die Frage, ob China eine Konkurrenz für Gamarra darstelle, ant-

wortet er: „Nein, wenn wir sie als Konkurrenten betrachten, geht es uns schlecht. Und es ist dassel-

be; du heiratest und hast Angst vor deinem Partner, so wird dich deine Heirat das ganze Leben be-

lasten“ (Burch 20.07.2010).471 Erstaunlicherweise konzentriert sich der Patron auf seine Geschäfte.

So erachtet man selbst China gelassen als „Ehepartner“, mit welchem man sich irgendwie arrangie-

ren muss. Es macht selbst den Anschein, dass es innerhalb von Familien erwartet wird, sich zu „ar-

rangieren“ und Enttäuschungen lernend hinzunehmen. Patronagesysteme sind in Gamarra erstaun-

lich kognitiviert. Es sind keine Konfliktsysteme. Man geht also weder auf Konkurrenzbeziehungen und

insbesondere nicht auf Konflikte offenkundig ein. Ein erfolgreicher Unternehmer betont, dass der

470

Original: „Sea el personal puede trabajar medio año aquí y después se va. Después se va, regresa después de un mes, dos meses hasta medio año y luego regresa” Burch 24.08.2010b. 471 Original: „No, si les vamos a tener a la competencia, estamos mal. [...] Y es igual, tu te casas y tienes miedo a tu marido, entonces pues tu matrimonio toda la vida te va pretatar“ Burch 20.07.2010.

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Terrorismus in der Gamarra „nicht beobachtet“ wurde, da man sich hier nur auf die Arbeit konzent-

riert und Ideologien unwichtig sind: „….wir beachteten die Epoche des Terrorismus nicht… wir beach-

ten nur Arbeit“ (Burch 19.08.2010).472 Die Teilnehmer verschwenden sozusagen keine Energie an

ideologische Kämpfe. Konfliktlinien bilden sich nicht. Die Patrons erachten sich als wirtschaftliche

Patrons und nicht als politisch mächtige Patrons, auch wenn sie sich mit einem Präsidenten verglei-

chen. Sie verfechten kein ideologisch-normatives Programm, dies wäre anfällig für Ablehnung und

somit Konflikt, das bedeute Ablenkung von der Arbeit. Kampf wird nur in der Art des latenten Kon-

kurrenzkampfes im Sinne von Simmel (1992a) betrieben. Die Umwelt wird als Ort der Enttäuschun-

gen beobachtet. Man warnt sogar die anonyme Umwelt, dass man keine Kommunikation eingehen

möchte. Denn da man Enttäuschungen in der durch Patronage charakterisierten Gamarra kaum nor-

mativ zu verarbeiten weiss, bleibt nur das Lernen aus der Erfahrung. Man reserviert strategische

Positionen für engere Verwandte, verlangt bei der Anstellung von Unbekannten die DNI (Nummer

des Identitätsausweises), usw. Gewisse Handlungen unterlässt man dann zuweilen komplett: Ein

Unternehmer wendet sich damit an alle Auswärtigen. Er befestigte an seinem (zu dieser Zeit noch

geschlossenen) Geschäft einen Zettel mit der Bemerkung: „Esta propiedad no se vende. Propiedad

privada. No se deje sorprender por Estafadores“. (Dieses Eigentum ist unverkäuflich. Privatbesitzt.

Wir lassen uns nicht von Betrügern überraschen), (vgl. Abb. 23). Eine solche Information mutet in

einer Region, in der vieles käuflich ist, was in anderen Regionen der Weltgesellschaft nicht monetär

erworben werden kann, geradezu seltsam an. Es ist jedoch weniger die Geldkommunikation, die ab-

gelehnt wird, sondern das Risiko eines Konfliktes, der dem Geschädigten nichts anderes übrig liesse,

als den Widerspruch zu Normen, lernend hinzunehmen.

472

Original: “...no miramos la epoca del terrorismo,.... solamente miramos el trabajo” Burch 19.08.2010.

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259

Gewisse Enttäuschungen, aber längst nicht alle, werden ins Familiensystem verschoben. In der Fami-

lie muss man sich gemäss dem Patron ebenfalls „arrangieren“. Da wichtige Positionen für Verwandte

reserviert sind, finden Enttäuschungen, welche die Unternehmung betreffen, zugleich auch im fami-

liären Kreis statt. Wirtschaftliche Zusammenhänge und Familie sind zuweilen eng gekoppelt. Famili-

enkonflikte verschweigt man oder entkräftet sie, indem man Kausalität externalisiert. Eine Unter-

nehmerin, welche früher in ihrem Familienunternehmen in der Gamarra sogar eigene Markenkleider

produzierte, erklärt, wieso die Produktion nicht mehr rentabel war: T: „Vor allem auf Grund der Re-

gierung Fujimoris, weil wegen Fujimori kamen alle chinesischen Produkte. Er gab den Chinesen grü-

nes Licht. Dies beeinträchtige Gamarra” [....] U: “Gut, auf Grund dessen stoppte meine Familie mit

Abbildung 23: Enttäuschung: Man informiert und teilt mit, was man nicht verkauft…

… und wieso nicht:

„Esta propiedad no se vende. Propiedad privada. No se deje sorprender por Estafadores.”

(Dieses Eigentum wird nicht verkauft. Privatbesitz. Man lässt sich nicht von Betrügern überraschen.)

Quelle: Eigene Foto und farbliche Hervorhebung, Juli 2010, Gamarra, Lima

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260

der Produktion. Und da es keine [staatliche] Hilfe für [Mikro]-Unternehmen gab, wurde es immer

schwieriger zu produzieren“ (Burch 20.08.2010b).473 Sie erzählt im Interview nichts von einem famili-

ären Konflikt; sie sagte nicht, dass interne Probleme für das Geschäft gravierend waren sondern ex-

ternalisiert diese auf die wirtschaftspolitische Lage. Erst nach dem Interview deutet sie an, dass es

manchmal schwierig sei, mit engen Familienmitgliedern eine Unternehmung zu managen. Im Inter-

view betonte sie hingegen nur die externe, hindernde Politik Fujimoris, welche jedoch sicherlich auch

Probleme bereitete. Nur über einen Bekannten, welcher mir den Kontakt via seines Onkels zu ihr

vermittelte, erfuhr ich später, wieso ihr ehemals derart erfolgreiches Familienunternehmen seine

gesamte Produktion schliessen musste: Ihr Vater verliess das Unternehmen. Dies geschah während

der Regierung Fujimoris. Der Vater war der Patron des Unternehmens. Er verwaltete das Vermögen,

besass grundlegendes Wissen, wie die Preise zu beziffern sind, akquirierte die Kundschaft und stellte

die Arbeiter ein. Die Kopplung familiärer Erwartungen an unternehmerische birgt also auch Risiken,

zumal ein Konflikt vom einen Bereich direkt in das andere System übertragen wird. Die Wirtschaft

belastet familiäre Erwartenszusammenhänge. Interessanterweise legt die Unternehmerin den Fokus

auf den wirtschaftlichen Zusammenhang. Obwohl er die Familie verliess, bleibt er jedoch ihr Vorbild,

da sie die unternehmerische Tätigkeit von ihm erlernte.474 Familie kann Konflikte zwar länger ertra-

gen als Patronage, doch ist auch sie kein wirklich geeignetes Konfliktsystem. Zumal man familiäre

Streitigkeiten höchst ungern Anderen mitteilt, bestehen auf der Ebene der Selbstdarstellung keine

Konflikte. Wirtschaftliche Unternehmenskonflikte sind an familiäre Interaktionsgeschichten und Er-

wartungen gekoppelt und politisieren sich selten in Gamarra. Konflikt ist eine vergleichsweise einsa-

me Angelegenheit, die sich nicht auf Unternehmensnetzwerke oder gar Kommunen erweitert.

Wieso gibt es in der Gamarra keine grösseren Gewaltausschreitungen zum Beispiel gegen gewisse

schweigende Patrons, welche die Kommunikation verzögern? Man muss zwei weitere Systeme in

diesem Zusammenhang berücksichtigen: Kommunale Normen und familiäre Erwartungen. Die Will-

kür der Patrons wird durch kommunale Erwartungen eingeschränkt. Wird Rache dadurch einge-

dämmt, weil Sozialkapital mehr gewertet wird als Geld? Patronage funktioniert zwar ohne Anschluss

an Recht; dabei übernimmt jedoch die Fiesta Patronal ansatzweise äquivalente Funktionen.475 Die

Fiesta patronal ist keine justizähnliche Institution. Vielmehr handelt es sich um ein „Gericht“ in der

Art eines Reputationssystems, das sich alljährlich in der Herkunftskommune verdichtet und auf phy-

sischer Anwesenheit der Teilnehmer beruht. Aber es gibt auch in Lima kommunale Migrantenverei-

473

Original: T: “Sobre todo por el gobierno de Fujimori porque gracias a Fujimori entraron todos los chinos. El dio puerta libre para que llegan los chinos. Entonces eso afectó a Gamarra”. [...] U: “Bueno, a raíz de eso es lo que en el caso de mi familia dejó de producir. Y como no había apollo para la empresa, que era cada vez más difícil producir” Burch 20.08.2010b. 474

Interview: Burch 20.08.2010b und Forschungstagebucheintrag vom 12. Juli 2010. 475

Siehe zur Institution der „Fiesta Patronal“ 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kom-munale Strukturen“.

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261

nigungen, so dass man sich nicht erst an der Fiesta Patronal sieht. Eine ehemalige Arbeiterin der Ga-

marra erklärt: „… hinter Lince ist der Club Puno [die Asociación der Aymaras in Peru, bzw. der Pune-

ños]. Du gehst zum Lokal der Punos… wie heisst es schon wieder? dasjenige welches hinter dem Spi-

tal von „San Juan de Dios“ ist… „Las Torres“, heisst es, ay. Und dort findest du die Puneños. Möchtest

du Huancayos treffen, dann in [?], möchtest du diejenigen aus Ayacucho treffen, ihr Club ist hier bei

[Diarte?], dahinter befindet sich eine Asociación. […] Sie machen ihre Feste und dort trittst du mit

ihnen in Kontakt. Möchtest du eine Gruppe Cusqueños treffen, gehst du zum Haycan. Und so weiter.

Wenn man nicht in die Provinz gehen kann, hier innerhalb von Lima triffst du alles“ (Burch

18.07.2011).476 Die Provinzen sind als kommunale Vereinigungen segmentär in Lima vertreten; die

Migranten in Lima sind somit immer informiert über ihre Herkunftsgemeinde und umgekehrt.477

Deshalb ist in der Gamarra Ehrlichkeit erfolgbestimmend; betrügt man einen Kommunero, wissen es

viele andere auch. Selbst wenn man Auswärtige zu stark unterdrückt, könnte dies Konsequenzen

haben, da die Migranten in Asociaciones vereinigt sind. Andrerseits erachten sich die Unternehmer

als selbständig. Ehrlichkeit ist eine kommunale Regel, die von allen Unternehmern als die wichtigste

Regel bezeichnet wird. Aber auch wenn diese Regel gebrochen wird, dehnen sich Konflikte dennoch

nicht auf die gesamte Kommune aus. Kommunale Konfliktmechanismen laufen lediglich über Presti-

ge; die Handlungsfähigkeit der Asociación ist begrenzt; sie setzt keine Normen aktiv durch, sondern

ist eher eine Art Reputationssystem. Sie liefern dennoch auch eine Basis, sich organisieren zu kön-

nen. So gingen viele Berufsverbände aus solchen Migrantenvereinigungen hervor; die Teilnehmer

wussten also, kommunale Praktiken in einem beruflichen Umfeld in Hinsicht auf Organisation zu re-

produzieren.478

Unmittelbare Konflikte werden hingegen nur zwischen sehr wenigen Teilnehmern ausgetragen. Des-

halb muss man zweitens auch das Familiensystem im engeren Sinne genau betrachten. Konflikte

werden in den Medien als familiäre und nicht als wirtschaftliche Konflikte beschrieben. Auch Anwälte

beteuern, dass das Rechtssystem von familienrechtlichen Fällen überflutet wird. Es handelt sich vor

allem um Ehescheidungen. Das Familiensystem ist also sehr stark belastet. Wieso? Weil es sich nur

bedingt von wirtschaftlichen Erwartungszusammenhängen abgrenzen kann? Das Familiensystem

vermag die anfallende Komplexität aus der Umwelt kaum zu verarbeiten. Dem Familiensystem

kommt somit eine ambivalente Funktion zu; so wie das Familiensystem in Lima ein Auffangmecha-

476

Original: „...atras de Lince este el club Puno. Te vas al local puneño... como se llama? Que queda detrás del hospital San Juan de Dios.... Las Torres se llama, ay! Y eso es para encontrar los Puneños. Quieres encontrar Huancayos en tal [¿], quieres encontrar a los de Ayacucho, su club es aca por [Ditarte?!] para atrás alla esta una asociacion. [...] Hacen sus fiestas y allí te relacionas con la gente; ellos exportan [artesania]. Quieres encontra a un grupo de Cusqueños te vas al Haycan. Y así. Si uno no puede ir a Provincia, aca adentro de Lima encuentras todo“ Burch 18.07.2011. 477

Dies ist natürlich bereits ein Hinweis für das letzte Kapitel 9 in welchem die Generalisierung der Resultate der Gamarra erörtert wird. Die Aussage wird in besagtem Kapitel wieder aufgenommen. 478 Siehe dazu das Beispiel des Trägerverbandes in der Gamarra: 6.2.3. Es wurde im vorherigen Kapitel erörtert.

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nismus für Exklusionskarrieren und ein Inklusionsmechanismus in die Arbeitswelt ist, ist es auch ein

Startpunkt von Exklusionskarrieren.479 Familie und Unternehmen fallen dann gleichzeitig auseinan-

der. Inwiefern dies der Fall ist, bedarf jedoch weiterer Forschung, um zu verstehen, wie gescheiterte

Unternehmen bzw. Familien mit solchen Situationen umgehen. Interessant ist beispielsweise die

Frage, an welchen Erwartungszusammenhängen (familiäre oder wirtschaftliche) zuerst wieder ange-

schlossen wird. Dabei handelt es sich jedoch nur um einen Teil wirtschaftlicher Kommunikation in

Gamarra. Untere Positionen sind davon nicht oder nur schwach betroffen. Es handelt sich oft nicht

einmal um firmeninterne Probleme, sondern um Probleme mit einer separat von einem engen Fami-

lienmitglied geführte Unternehmung. In diesen Positionen bewährten sich Familienmitglieder; an-

sonsten arbeitet man nicht mehr gerne auf rein wirtschaftlicher Basis mit Personen aus der Fami-

lie.480

Kognitivierung hat also mehrere Ursachen. Einerseits dämpfen kommunale Strukturen Rachegefühle

gegenüber Personen, die man schon länger kennt und andrerseits fehlen die Mittel. Doch das erach-

ten die Unternehmer nicht als sonderlich tragisch, da der Gewinn die Risiken mehr als deckt. Diese

Konstellation ist sonderbar und fehlt in der Literatur. Autoren gingen immer davon aus, dass Institu-

tionen „stark“ seien; man nahm an, mit Enttäuschungen werde normativ umgegangen, andernfalls

handelt es sich um eine wirtschaftliche Brache. In Lima und auch Bolivien sind jedoch gerade Zentren

der Wirtschaft erstaunlich kognitiv strukturiert. Patronage ist imstande, beide Arten der Enttäu-

schungsverarbeitung miteinander zu kombinieren und genau dies macht diese Struktur derart erfolg-

reich und interessant. Angesichts dessen, dass es in Gamarra kein Konkurrenzverbot im Wirtschafts-

bereich gibt, charakterisiert sich das Konglomerat durch die subtilste Art von Konflikt: nämlich Kon-

kurrenz.481 Wir haben es also mit einer Differenzierungsvariante der Weltgesellschaft zu tun, welche

sich in einem unterschwelligen Dauerkonflikt befindet, was erstaunlicherweise den Regeln moderner

Marktwirtschaft entspricht. Patronage zeichnet sich also durch zum Teil auch kognitivierte Strukturen

aus. Konflikte sind teuer; die Unternehmer können sich diese „Freiheit“ nicht leisten. Es gibt kein

„Krieg aller gegen alle“ trotz Enttäuschungen. Sich auf einen Anderen zu konzentrieren, um ihn zu

vernichten, ist zu teuer. Zudem wird innerhalb von Kommunen Reputation vergeben oder entzogen.

Auffällig ist auch die hohe Bedeutung von Arbeit, die in den Kommunen vermittelt wurde und wird,

wobei Arbeit heute nicht ohne Konkurrenz auskommt. Die Anthropologen (Huber 1997) sowie Adams

und Valdivia (1994) vergleichen die andine Arbeitsethik mit Webers Idee der protestantischen Ethik.

479

Siehe zu den strukturellen Momenten von Exklusionskarrieren Stichweh 2000c, S. 91ff.. Er unterscheidet Start-, Auffangmechanismen von Exklusionskarrieren, sowie Beschleunigungsmechanismen. Während die Be-schleunigungsmechanismen quer zur funktionalen Differenzierung liegen, können die Funktionssysteme den ersten beiden Mechanismen zugeordnet werden. Im Falle Limas ist Familie jedoch nicht nur ein Start- sondern auch ein Auffangmechanismus von Exklusion. 480 Siehe die Gründe in Kapitel 6.1.3 und Kapitel 6.1.2 aber auch Kapitel 6.2.1. 481

Siehe zu Konkurrenz und Konflikt: Simmel 1992a.

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Weber (2010) beschreibt die protestantische Arbeitsethik als das ideelle Fundament des Kapitalis-

mus. Dem Protestanten ist die Arbeit bzw. der Beruf Selbstzweck und nicht Mittel. Der Fleiss ist reli-

giös motiviert, Gott zeigt bereits auf Erden, wer zu den guten Menschen gehört, nämlich diejenigen,

welche im Beruf erfolgreich sind. Diese Ansicht scheinen Gamarras Unternehmer zu teilen.482 Jeden-

falls ist die andine Arbeitsethik mit der christlichen Vorstellung kompatibel, dass nämlich das Dies-

seits durch den Mensch verändert werden kann. Die Welt zu verändern, ist geradezu die Hauptbot-

schaft eines der einflussreichsten Patrons Gamarra. Am Ende eines Interviews wendet sich ein Patron

sowohl an seine Landsleute als auch an alle Jugendlichen der Welt. Die Aussage gleicht einer Me-

dienbotschaft: “.... mögen die Jugendlichen keine Angst haben. Mögen sie auf der ganzen Welt un-

ternehmerisch tätig sein. Es ist die Angst, welche sie nicht entwickeln lässt. Klar. Und dass sie ma-

chen, was sie wissen. Aber mögen sie es nicht deshalb tun, um Geld zu verdienen. Mögen sie das tun,

was ihnen gefällt und mögen sie sich beharrlich bemühen; es wird der Tag kommen, an welchem sie

gross sein werden“ (Burch 20.07.2010).483 Der Antrieb soll nicht monetärer Art sein. Die andine Ar-

beitsethik ist im Gegensatz zur protestantischen jedoch weniger individuell, da eine Person nur vor-

wärts kommen kann, wenn die Familie es auch tut. Dies erfolgt aus Sicht der Migranten nur durch

harte Arbeit. Rache lenkt hingegen von der Arbeit ab.

Konflikte werden verschwiegen. In der speziellen Galerie, die sich ausschliesslich auf den Verkauf

spezialisierte, vernahm ich jedoch, wie sich Arbeiterinnen untereinander über die unmöglichen Ar-

beitsbedingungen beklagen. Wie ist dies zu erklären? Es handelt sich bei dieser Galerie um die teu-

erste und zentralste von Gamarra: Dem „Párque Cánepa“. Alle Angestellten befinden sich in diesem

geometrisch angeordneten Raum in einer ähnlichen Lage, es handelt sich um Verkaufspersonal, wel-

ches die unterschiedlichsten Stände bedient. Es kommt auch bessere Kundschaft, da die Stände

übersichtlich angeordnet sind, „Qualitätsware“ angeboten wird und sich relativ nahe bei dieser halb-

unterirdischen, einstöckigen Galerie ein eingezäunter und bewachter Autoparkplatz befindet. Dies ist

insbesondere im Juli der Fall, wenn formal Angestellte anlässlich des Nationalfeiertags einen Bonus

erhalten, aber auch im Dezember, wenn die Weihnachtseinkäufe getätigt werden. Mit dem Geld

kommt in diesen beiden Monaten auch die SUNAT in besagte Galerie. Die Steuerbehörde interessiert

482

Spricht man in Gamarra insbesondere mit Personen aus den südlichen Provinzen, so wird man als erstes oft darauf angesprochen, was man beruflich mache. Wenn ich in den Provinzen mit meiner Kamera auf den Fel-dern war, wollten sich die Bauern nicht während der Pause sondern während der Arbeit fotografieren lassen. Einerseits unterscheidet sich gemäss Gonzales 2001 die andine Arbeitsethik von gewissen europäischen Regio-nen oder insbesondere auch asiatischen Regionen in der Weltgesellschaft; in welchen Arbeit mit niederem Status gleichgesetzt wird, wo die Oberschicht nicht zu arbeiten pflegt. In der andinen Vorstellung definiert sich eine Person jedoch über ihre Arbeit; Arbeit wird als Quelle des Wohlergehens betrachtet. Es bliebe zu untersu-chen, inwiefern sich die Teilnehmer ähnlich der protestantischen Ethik durch Fleiss versprechen, von Gott ge-liebt zu werden. 483

Original: „....qué los jovenes no tengan miedo, qué hagan negocio por qualquier parte del mundo. Que pierden el miedo. El miedo es lo que no les deje desarollar. Claro, y que haga lo que ellos saben, que no hagan por ganar plata, que hagan lo que les gusta y que perseveren en ellos y va haber un día que van ser más grandes“ Burch 20.07.2010.

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sich für Unternehmen, die ihre Arbeiter nicht offiziell per Vertrag anstellen und somit keine oder zu

wenige Steuern bezahlen; sie werden mit einer Geldbusse und z.T. mit einer vorübergehenden

Schliessung sanktioniert. Immer wieder stösst man auf kurzzeitig versiegelte Türen, da Unternehmen

keine kompletten Zahlungsbelege an die Steuerbehörde aushändigten (vgl. Abb. 24).

Abbildung 24: Von der Steuerbehörde temporär geschlossenes Unternehmen

Quelle: Eigene Foto, August 2011, Gamarra im „Párque Cánepa“

Aus informalen Gesprächen mit Unternehmern im Zentrum der Gamarra entnahm ich, dass „der

Konflikt“ per se, sich auf die Steuerbehörde bezieht. Dies ist insbesondere im „Párque Cánepa“, der

prestigeträchtigsten Galerie, der Fall. Es geht jedoch äquivalent wie in den restlichen Unternehmen

nicht darum, den Konflikt als solchen zu bearbeiten und zu reflektieren, sondern es geht darum, ihn

zu vermeiden, ihn nicht entstehen zu lassen. Das Interessante an diesem Problem ist, was dieses

Problem als Problem aus Sicht der Unternehmer und Unternehmerinnen kommuniziert: Nämlich dass

das Bezahlen von Steuern nicht der Normalfall ist, sondern ein Konfliktfall generiert. Darin kommt die

Parallelwelt besonders gut zum Ausdruck, handelt es sich doch um zwei separate Erwartungszusam-

menhänge innerhalb der Weltgesellschaft. Da mein Taxifahrer eine Verkäuferin in dieser Galerie

kannte, konnte ich mit einer Verkäuferin ein Leitfadeninterview durchführen. Da die Behörden vor

Ort waren, tauchte jedoch auch der Mieter des Standes ab und zu auf. Die Sozialstruktur stiess dabei

auf die Interviewsituation durch. Sobald der Mieter kam, mussten wir ein Telefongespräch simulieren

und uns dann für ein paar Minuten aus dem Staub machen. Arbeiter dürfen in dieser Galerie keine

Interviews geben. Gesprochen wurde im Flüsterton. Die Verkäuferin erzählte, dass momentan das

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Arbeitsamt kontrolliert, ob die zwei zusätzlichen Monatslöhne den Arbeitern entrichtet werden. Die-

ses Unterfangen sei lächerlich, zumal die Arbeiter hier oft nicht mal per Vertrag angestellt seien und

man insofern von den Zusatzleistungen gar nicht sprechen kann: „Gut, seit zwei Wochen ist das Ar-

beitsministerium gekommen und gab uns angeblich einen Prospekt, damit wir reklamieren könnten,

keine Gratifikation zu erhalten. Aber wir haben mit dem Besitzer gesprochen; er möchte uns das Geld

nicht geben. Heute oder morgen wird das Arbeitsministerium hier vorbeikommen. Aber in diesem

Fall, wenn ich sage, er hat mir nichts gegeben, kann ich meinen Job verlieren“ (Burch 16.07.2010a).484

Der Mieter des Standes (auch Besitzer genannt) weiss also, wann das Amt seinen Stand kontrolliert.

Meistens genügt eine Drohung von Seiten des Standmieters an die Arbeiter, um einen Konflikt mit

der Steuerbehörde zu vermeiden. So sind also Rangregeln ein wichtiger Konfliktmechanismus. "Jedes

langfristige System erleichtert sich durch solche Rangregeln die Verständigung über angebrachtes

Verhalten" (Luhmann 1999c, 1964, S. 158). Doch reine Rangungleichheit bzw. Drohung beherbergt

selbst hohes Konfliktpotential und kann nur bei Arbeitern eingesetzt werden, die noch nicht lange in

der Unternehmung arbeiten und auf den Job angewiesen sind. Asymmetrische, nur auf wirtschaftli-

che Funktionen basierende Patronagesysteme lockern sich mit der Zeit, da die Arbeiter Erfahrungen

und Geld sammeln und sich innerhalb von vier, fünf Jahren selbständig machen. Die Verkäuferin er-

zählt, dass sie sich verbal mit dem Eigentümer stritt, weil er das Monatsgehalt von Juli sowie viele

Überstunden nicht bezahlte. Sie kann sich einen solchen direkten Konflikt mit dem Standvermieter

nur leisten, da sie wohl bald aus diesem Verhältnis austritt und eine eigene Mikrounternehmung

eröffnet. Solche langfristigen Arbeiter sind für den Standvermieter ein Risiko. Dennoch braucht die-

ser routiniertes Personal, das zum Beispiel weiss, wie man eine Bestandsaufnahme durchführt und

neue Arbeiter und Arbeiterinnen instruiert. Um Konflikte mit der Steuerbehörde und den Arbeiten-

den zu vermeiden, führen die Patrons zeitlich befristete Kurzverträge ein.485 Zu dem Zeitpunkt, wenn

die Unternehmung am stärksten exponiert ist, das heisst, im Juli und im Dezember, werden exponier-

te Angestellte für je drei Monate formal per Vertrag angestellt. Dies ist eine neuere Entwicklung, da

das Ministerium während der letzten zwei Jahre die Kontrollen verstärkte. So war es das letzte Jahr

das erste Mal in dem jetzt insgesamt fünf Jahre währenden Anstellungsverhältnis der Verkäuferin,

dass sie sechs Monate im Jahr einen Arbeitsvertrag besass und minimal gegen Krankheit versichert

war. Da die Kontrollen andauern, nimmt sie an, sie werde wieder einen Kurzvertrag erhalten, da ge-

rade Inventur gemacht wird. Kann man damit sagen, sie sei sechs Monate formal angestellt? Die kor-

484

Original: “Bueno, hace quince días el ministerio de trabajo ha venido supuestamente nos ha dado una folleto para nosotros reclamar que no hay gratificación. Pero hemos hablado con el dueño, no nos quiere dar el dinero. Hoy día o mañana el ministerio de trabajo va pasar por aca. Pero en este caso si digo, no me ha dado, puedo perder mi trabajo" Burch 16.07.2010a. 485 Funktional äquivalente Lösungsansätze des Umgehens von Besteuerung wurden im Kapitel 6.2.1 Symmet-rische/asymmetrische Firmennetzwerke“ unter dem Stichwort „tiendas clandestinas“ (geheime Unternehmen) oder Geisterfirmen erörtert.

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rekte Frage lautet: Ändern sich die Erwartungen der Partizipierenden? Kaum, denn es wird generell

angenommen, dass man elf bis zwölf Stunden pro Tag arbeitet, egal ob man einen Vertrag hat oder

nicht. Dabei werden nur die gesetzlich erlaubten acht Stunden ausbezahlt; die restlichen vier Stun-

den muss man gratis arbeiten. Der Vertrag existiert folglich nur in semantischer Form und nicht auf

der Ebene der Praktiken. Kommt nun der Beamte der Steuerbehörde, müssen die Arbeiter angeben,

erst ab dem Zeitpunkt der Vertragserstellung in dieser Unternehmung zu arbeiten und zwar nicht

mehr als acht Stunden pro Tag: „Der Besitzer fragt die fünfzehn [Mitarbeiter] und sagt, ihr müsst

sagten, dass ihr alle einen Vertrag habt und dass ihr alle Sozialleistungen erhält. Und falls ihr lügt,

bzw. falls ihr nicht lügt, werfe ich dich raus“ (Burch 16.07.2010a).486 Aber eigentlich arbeite sie schon

fünf Jahre ohne Vertrag in dieser Unternehmung. Dies führt zur Frage, wie solche Verhältnisse zu

verstehen sind. Einerseits orientieren sie sich nicht an formalen vertraglichen Erwartungen, andrer-

seits nimmt der Patron kaum seine Funktion als Patron wahr, zumal die Angestellten selbständig

arbeiten. Es existiert jedoch auch keine Organisation wie im Falle des Berufsverbandes der Träger.

Die Beziehung zwischen Arbeitgeber und -nehmer ist bezüglich der Rangfrage asymmetrisch und ist

rein auf wirtschaftliche Kommunikation spezialisiert. Angesichts dessen handelt es sich ebenfalls

nicht um einen Typus von Patron in Eisenstadts Sinne sondern um ein Mischverhältnis. Es mutet je-

doch seltsam an, dass die Angestellten jahrelang in einem asymmetrischen Arbeitsverhältnis verwei-

len und sich quasi nur monetär motivieren. Das ist für die Gamarra sehr irritierend, Migranten neh-

men eine unselbständig und rein monetär motivierte Arbeit nur als Übergangslösung an. Dieses for-

mal, informale Mischverhältnis ist eine neuere Strategie und beruht darauf, dass sich die Galerie zu

einem Zentrum innerhalb der zentralen Gamarra entwickelte und das Interesse von Investoren weck-

te. Deren Zentrumsposition innerhalb eines Zentrums macht sie für ihre Umwelten interessant, wo-

bei hier insbesondere an die Steuerbehörde zu denken ist. Die Patrons wissen, dass die Steuerbehör-

de vertragliche Anstellung und Buchführung erwartet. Die Behörde macht dies auch für alle sichtbar

(vgl. Abb. 24). Wie die oben zitierte Verkäuferin erwähnte, arbeitete sie fünf Jahre vertragslos. Kon-

fliktkommunikation ist neu. Es ist eine Antwort auf die neuliche Einführung von (zeitlichen) Verträ-

gen. Arbeitsverträge, selbst zeitlich befristete, gibt es in der restlichen Gamarra nirgends. Deren Ein-

führung erspart dem Vermieter einerseits Schwierigkeiten mit der Steuerbehörde; andrerseits führt

der Vertrag quasi nebenbei eine moderne Kommunikationsform ein, nämlich eine Kommunikations-

form, welche sich an Gesetzen orientiert. Arbeiter sehen sich plötzlich als rechtlich Angestellte. Man

existiert als Verkäuferin manchmal quasi nicht nur wirtschaftlich sondern auch rechtlich. Die zeitliche

Begrenzung der Inklusion ins Rechtssystem macht dabei verstärkt sichtbar, dass man über viele Mo-

nate keinen Vertrag hat und von diesem modernen Kommunikationszusammenhang, das heisst, auch

486

Original: “El dueño pregunta a los quince y le dice, Ustedes tienen que decir que tienen contrato y que tienen todos los beneficios. Y si miente o sea si no mienten, te boto” Burch 16.07.2010a.

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von staatlichen Leistungen und Gratifikationen sowie Ferienansprüchen, exkludiert ist. Man sieht

auch, dass der Vertrag nur als Semantik behandelt wird. Diese Doppelung erachten die Arbeitnehmer

als illegitim. Alle Vermieter selegierten den zeitlich befristeten Vertrag als Problemlösung bezüglich

der Steuerbehörde. Neuerdings werden von gewissen Arbeiterinnen konkrete Konfliktmechanismen

verwendet, nämlich rechtliche. Auf deren ernüchternden Erfolg komme ich im nächsten Kapitel zu

sprechen. Wieso schliessen sich die Arbeiterinnen dieser Galerie nicht zusammen? Wie bildet sich

eine Konfliktlinie und mit ihr eine Gewerkschaft? Inwiefern ist eine Gewerkschaft in rechtlichem Sin-

ne erfolgreich?

Beziehungen, die weder formal sind und auch kaum als Patronage organisiert werden, kommen in

der restlichen Gamarra ebenfalls vor. Meistens handelt es sich um Arbeiter, welche anhand einer

Ausschreibung einen Job im Akkordlohn antreten. Der Unterschied zu den Arbeitsverhältnissen in der

Verkaufsgalerie „Párque Cánepa“ besteht darin, dass bei diesen Verhältnissen prinzipiell die Möglich-

keit offen steht, dass sich aus der rein monetär motivierten Arbeitsbeziehung, eine Patronagebezie-

hung entwickelt. Fähige Arbeiter richtig einzuschätzen, ist eine wichtige Leistung, um ein erfolgrei-

cher Patron zu werden. Kapitel 7 wird sich mit diesem Punkt befassen.

Párque Cánepa ist hinsichtlich Konflikts komplexer gebaut als seine Umwelt. Genau das macht die

Arbeitsverhältnisse konfliktanfälliger. Es handelt sich nicht, um kommunal fundierte Patronagebezie-

hungen, sondern um asymmetrische Mischverhältnisse; die als exponierte Geschäfte den formalen

als auch den informalen Erwartungen gerecht zu werden versuchen. Patronagebeziehungen unter-

binden im restlichen Gamarra Konflikte. Wer nicht gehorcht, fällt quasi konfliktlos aus dem System.

Enttäuschungen zwischen Arbeiter und Patron werden nicht normativ abgewickelt. Deshalb beo-

bachtete ich seltsamerweise Gewalt im grossen Stil nirgends. Mehr oder weniger heimliche Konflikt-

kommunikation beschränkte sich auf die eine Verkaufsgalerie. Patronage, die sich auf kommunale

Erwartungen stützt, reproduziert also gewisse Normen, wickelt zentrale Enttäuschungen jedoch oft

erstaunlich kognitiv ab. Gerade diese Mischung, sich gegen den Konflikt zu entscheiden oder ihm

auch machtlos gegenüber zu stehen, ist irritierend. Dass Patrons grössere Normverstösse kognitivie-

ren, erstaunt und fehlt in der Literatur. Patrons ersetzen staatlich-normative Strukturen also nicht zu

hundert Prozent, weil den Patrons die Mittel zuweilen fehlen. Zugleich sind jedoch auch Normen,

nämlich kommunale Erwartenserwartungen dafür verantwortlich, dass Normverstösse kognitiviert

werden. Kennt man einen Arbeiter schon sehr lange, wird es schwieriger, Enttäuschungen normativ

zu verarbeiten. Das erstaunt und wurde in dieser Art kaum wissenschaftlich beobachtet. Kontempo-

räre Patronage ist komplexer und vor allem vielseitiger als dies Eisenstadt beschreibt. Sind Unter-

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268

nehmensnetze also entgegen Chion (2003) und North (2009) nicht durchgehend „ stark institutionali-

siert“? Die Frage sollte unbedingt in Betracht gezogen werden.487

Wie geht damit der Bereich in der Gesellschaft um, welcher eigentlich für die Konfliktabwicklung

zuständig ist? Wir werfen im Folgenden einen genaueren Blick auf das Arbeitsrecht. Die Verkäuferin

erzählte von ihrer Kollegin, welche in derselben Galerie zehn Jahre für einen Vermieter und Kleider-

verkäufer tätig war, aber etliche Leistungen nicht ausbezahlt bekam. Diese entschloss sich, den

Rechtsweg zu begehen. Wirtschaftliche Patronage wird also von den Erwartungen des Rechtssystems

irritiert, wenn temporäre Kurzarbeitsverträge bestehen. Wie geschieht dies? Und in welchem Aus-

mass?

487

Ich beziehe mich zum Beispiel auf folgendes Zitat: „Dieses Distrikt [Gamarra] nutzte den Erlös, den stark institutionalisierten Netzwerke, welche aus dem informalen Sektor hervorkamen, generieren, wenn sie sich mit einer Diversität von internationalen, dezentralisierten Netzwerken intersektieren“ Chion 2002. Mit den stark institutionalisierten Netzwerken des informalen Sektors meint Chion das Reproduzieren von kommunalen Er-wartungen, verdeutlicht dies jedoch nicht detailliert. Auch wenn diese Art von Patronage es sicherlich zum grössten Teil ermöglicht, dass es für Patrons in der Gamarra möglich ist, direkt mit formalen Organisationen zu kommunizieren, sollten dennoch auch kognitivierende Möglichkeiten nicht ausgeblendet werden.

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269

8.2 Arbeitsrechtliche Konfliktmechanismen: Juristische Patronage und die

auffallende Bedeutung des Verfassungsgerichtes

Wie ist die Resignation der Verkäuferinnen der einen Galerie in Gamarra zu erklären? Das peruani-

sche Recht ist im Prinzip erstaunlich lernfähig und beobachtet seit zwei Jahren auch vertragslose

Verhältnisse als rechtlich relevant. Dennoch ist das Recht für die wenigsten eine Problemlösung hin-

sichtlich enttäuschter Erwartungen. Ich komme im späteren Verlauf der Argumentation darauf zu

sprechen. Prinzipiell versuchen rechtliche Programme, sich in gewisse informale Arbeitsverhältnisse

einzumischen. Dies betrifft nur wenige Patronageverhältnisse, nämlich vertragslose Arbeitsverhält-

nisse, die sich auf wirtschaftliche Kommunikation spezialisieren und keine Möglichkeit einer weiter-

reichenden Inklusion in das beschränkte Patronageverhältnis besteht. In Frage kommen auch Arbei-

ter aus Organisationen und organisierten Zentren eines ansonsten informal strukturierten Unter-

nehmensnetzwerkes. Selbst wenn kein rechtlich-legaler Vertrag erstellt wurde, sagt das Rechtswe-

sen: Dies fällt dennoch in unseren Kommunikationsbereich. Dass sich Erwartungen ändern, braucht

eine Umstellung der sozialen Umwelt.488 Wie kam es zu dieser rechtlichen Grenzverschiebung in den

informalen Bereich der Weltgesellschaft?

Vor ein paar Jahren übernahm der frühere peruanische Präsident Fujimori ein Gesetz nach amerika-

nischem Modell. Dieses Gesetz heisst in Peru „la ley service“ und wurde 1995 eingeführt. Es erlaubt,

Firmen zu gründen, deren Kerngeschäft es ist, Arbeitsauslagerung zu organisieren.489 Die Service-

Unternehmungen stellen in Peru Arbeiter informal ohne Vertrag für eine andere Firma an, die als

„Mutterfirma“ bezeichnet wird. Das Gesetz bezüglich „Service“ erlaubt es, legal 20% Leiharbeiter in

einer Firma zu beschäftigen. Ein peruanischer Anwalt meint: „Gut, oftmals gibt es Verträge, aber

andere haben keine Verträge, sie sind nicht fest angestellt. Und vor allem um nicht der SUNAT [der

Steuerbehörde] Steuern zu entrichten“ (Burch 20.08.2010a).490 Auch wird dadurch Verantwortung

abgegeben. Die Mutterfirma braucht keine festangestellten Arbeiter mehr, die ganze Verantwortung

bezüglich der Sozialleistungen wird der Zwischenfirma zugeschrieben. Zudem ist die Mutterfirma

rechtlich nicht greifbar: “Eine Unternehmung besitzt drei, vier Namen. Sie wechselt sie, damit die

Person nicht reklamiert und sie keine Steuern zu entrichten haben. Sie verkauft viele Waren, über

den Warenverkauf kommt viel [Geld] herein. Alsdann bewerkstelligt sie, dass die andere Firma [?],

488

Siehe Luhmann 1983. 489

Dies war in den 60er/70er Jahren undenkbar, als die linke Militärregierung an der Macht war und für stabile Arbeitsbeziehungen und Arbeitnehmerschutz sorgte Burch 20.08.2010a. 490

Original: "Bueno, hay contratos muchas veces, otros no hay contratos, no están en planilla para eludir beneficios sociales. Y sobre todo y más importante para no pagar a la SUNAT, para no pagar impuestos" Burch 20.08.2010a.

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aber sie rechnet im Namen dieser Firma ab“ (Burch 12.02.2011).491 Solche sogenannten „empresas

fantasmas“ (Geisterfirmen) sind kaum adressierbar und fielen anfangs lange Zeit niemandem auf.

Auf die arbeitsvertragslosen Arbeitsverhältnisse wurden Anwälte erst durch gehäufte Klagen auf-

merksam, da viele Arbeiter nicht rechtmässig entlohnt wurden. Die Kläger und Klägerinnen waren oft

desorientiert und verklagten fälschlicherweise die Mutterfirma, bei der sie meinen zu arbeiten, statt

die Zwischenfirma, welche die Arbeitsauslagerung vornahm (Burch 20.08.2010a). Die gehäuften

falsch adressierten Klagen irritierten das Recht. In den 90er Jahren war es jedoch unmöglich, recht-

lich gegen solche Zwischenfirmen vorzugehen. Diese Vermittlungsagenturen besitzen meistens viele

Namen und wechseln diesen je nach Bedarf bzw. wandelten sich in eine andere Firma und waren

damit rechtlich ungreifbar. Erst seit wenigen Jahren änderte sich die Gerichtspraxis und es wurde ein

neues Gesetz, „la ley solidaria“ verabschiedet, welches vorschreibt, dass im Falle von Missständen

beide Firmen, also insbesondere auch die formale Mutterfirma, gleichermassen solidarisch haften.

Die Service-Unternehmung hat erstens sowieso kein Geld, das rechtlich eingefordert werden könnte

und kann sich zweitens durch Namensänderung einfacher verstecken, als die Auftraggeberin, welche

zum Beispiel das gesamte Inventar im Grundregister einzutragen hat. Der Anwalt wusste sogar von

einem Kollegen, der momentan einen solchen Fall bearbeitete: „Ich kenne einen konkreten Fall […].

Ich begleite einen Kollegen aus der Nähe, der einen Klienten in dieser Materie hat. Es handelt sich

um eine grosse Textilfirma, welche in der Gamarra unterbeschäftigt, um mehr wirtschaftliche Gewin-

ne zu schreiben“ (Burch 20.08.2010a).492 Der Arbeitsrechtsanwalt meint, es gibt in Lima einige

Rechtsfälle, bei denen der vertragslos angestellte Arbeiter gegen die Firma gewann: „…es gibt meh-

rere juristische Prozesse, in welchen die Richter ein Urteil zugunsten der Arbeiter fällen“ (Burch

20.08.2010a).493 Dies ist interessant und mutet unwahrscheinlich an. Wie behandeln Richter patro-

nageartige, vertragslose Arbeitsverhältnisse, die sich auf wirtschaftliche Kommunikation spezialisie-

ren, konkret?

Wir werden im Folgenden dieser Frage anhand des Problems nachgehen, wie in Lima das Gerichts-

verfahren ausdifferenziert ist. Denn auch dies ist laut Luhmann (1983, S. 60ff) von der Gesellschaft

abhängig. Dabei interessiert vorerst das Beweisrecht. Wie kann ein Arbeiter vor Gericht gegen einen

Wirtschafts-Patron gewinnen? Ich untersuche dies zuerst an einem Rechtsfall, in welchem ein Arbei-

ter die Textilfirma xy wegen fehlender Sozialleistungen und willkürlicher Entlassung einklagte (Poder

Judicial del Peru, Corte Superior de Justicia Lima, Pago de Beneficios Sociales vom 30.09.2009). In

491

Original: „Una empresa tiene tres, cuatro nombres. Cambia para que esta persona no lo reclama y no se paga los impuestos. Vende un montón de mercadería, sobre la venta de mercadería, llega mucho. Entonces hace que la otra empresa le [¿] pero factura con este nombre” Burch 12.02.2011. 492 Original: “Conozgo un caso concreto sobre esto proceso,[...]. Yo acompaño un amigo que está cerca de aquí y tiene un despediente sobre esta materia. Es una empresa textil grande que para tener más beneficios económicos alquila en Gamarra“ Burch 20.08.2010a. 493 Original: “….existe bastantes procesos judiciales en que incluso los jueces muchas veces fallan a favor de los trabajadores” Burch 20.08.2010a.

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271

diesem Fall bestand ein sogenannt „unpersönlicher Arbeitsvertrag“, auf den ich sogleich zu sprechen

komme. Die angeklagte Textilfirma bestritt die Arbeitsbeziehung (relación de trabajo) nicht, so muss-

te nicht bewiesen werden, dass eine arbeitsrechtliche Beziehung zustande kam. Hätte der Arbeit-

nehmer noch vor wenigen Jahren keine Chance vor Gericht gehabt, sieht dies heute anders aus. Die

Rechtsprechung änderte sich: Die Arbeiterin erhielt Recht und bekommt ihre ihr rechtmässig zuste-

henden 72‘115.89 Soles, das heisst, ca. 21‘170 EUR für die fehlenden Sozialleistungen und die will-

kürliche Entlassung.494 Der Anwalt (Ochoa 2010) erklärt die richterliche Auslegung. Seit Fujimori bzw.

seit der Verfassung von 1993 gibt es in Peru zwei Arten von Arbeitsverträgen: Erstens der „normale

Vertrag“ („contrato normal“) und zweitens der „unpersönliche Service-Vertrag“ („contrato de servicio

no personal“). Arbeiter, die einen „normalen Vertrag“ besitzen, bekommen Sozialleistungen und

Gratifikationen, wie dies von einem Arbeitsvertrag zu erwarten ist. Hinsichtlich des „unpersönlichen“

Service-Vertrages sind die Rechte jedoch stark beschränkt: Unbezahlte Überzeitarbeit, keine bezahlte

Ferien, keine Rente, keine Gratifikation usw. sind normal. Gemäss des Arbeitsrechtsanwaltes (Ochoa

2010) handelt es sich um ein seltsames Rechtsgebilde. Diese sogenannt „unpersönlichen“ Verträge

werden nicht in der Unternehmung registriert, dennoch wird per RUC-Quittungen bezahlt, womit

sich der Vertrag rechtlich formalisiert. Man könnte auch sagen, es handelt sich um ein Paradox: Um

eine formalisierte Informalität. Personen in Organisationen arbeiten somit ausserhalb des eigentli-

chen Arbeitsrechts, obwohl sie vertraglich angestellt sind.495 In den letzten zwei Jahren findet sich auf

der Ebene der Rechtsprechung aber eine Angleichung statt. Auch wurden solche unpersönliche Ver-

träge für Industriearbeiter auf drei Jahre und für die restlichen Professionellen auf sechs Jahre redu-

ziert; arbeitet ein Angestellter länger als diese Zeitspanne, wäre die Unternehmung von gesetzeswe-

gen verpflichtet, den Betroffenen „normal“ einzustellen. Der Arbeitnehmer bzw. der Leiharbeiter ist

verpflichtet, dem Vertragspartner seine Arbeitsdienste zur Verfügung zu stellen, ohne diesem offiziell

untergeordnet zu sein. Dabei sollte es sich um eine befristete Arbeit handeln bzw. um ein bestimm-

tes Arbeitsprojekt (un trabajo determinado). Dies steht im Gegensatz zu einer Bezahlung (retribuci-

ón).496 Es gibt kein wirkliches, das heisst, persönliches Arbeitsverhältnis: Deshalb die Bezeichnung

„unpersönlich“. Es bestehen nach wie vor zwei Arten von Arbeitsverträgen. Der in den 90er Jahren

eingeführte Unterschied zwischen „normalen“ und „unpersönlichen“ Arbeitsverträgen ohne Rechts-

sicherheit schwindet jedoch zugunsten der „normalen“ Verträge mit Rechtssicherheit.

494

Der Betrag entspricht 21‘170 EUR (Wechselkurs vom 15.05.12) und setzt sich zusammen aus: 1. Wiedergut-machungsgeld wegen willkürlicher Entlassung, mangelnder Feriengelder, Gratifikation und fehlenden Honorar-gelder. 495

Rechtlich verankert ist der „unpersönliche Vertrag“ in Artikel 1764 des Zivilgesetzbuches. Ochoa 2010. 496

Der unpersönliche Vertrag „contrato servicio no personal“ ist nicht zu verwechseln mit Arbeitsauslagerung. Wird jemand mit „boleto RUC“ entlohnt, dann handelt es sich aus rechtlicher Sich um „subonctratación“ bzw. um Arbeitsauslagerung.

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272

Wieso kommt es zu dieser Angleichung? Nicht nur die organisierte Textilindustrie oder der Handels-

und Industriesektor waren von den legalisierten „unpersönlichen Verträgen“ betroffen, sondern auch

die Leistungsrollenträger des Rechtswesens.497 Der Anwalt meint bezüglich des „unpersönlichen Ser-

vice-Vertrages“: „Es ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, zudem findet man diese Praktik wirk-

lich etabliert in der öffentlichen Aktivität, das heisst, der Staat [operiert] unter dieser Modalität, um

den Angestellten nicht Sozialleistungen zu bezahlen. Man ist gezwungen, den Vertrag (unpersönli-

chen Service-Vertrag) zu akzeptieren, aus einem einfachen Grund, weil logischerweise alle arbeiten

wollen, um zu leben […]selbst in der Judikative findet man dieses Muster; die Anwälte, manche An-

wälte sind dieser Praktik unterworfen. Deshalb fand vor einigen Tagen ein nationaler Streik aller Ar-

beiter des Gerichtswesens statt. Diese Modalitäten existieren in den Aktivitäten des Gesundheitswe-

sens, das heisst, die Krankenpflegerinnen, die Ärzte, die Geburtshelferinnen, die Assistenten, die

administrativen Angestellten, die, wenn sie ungerechterweise entlassen werden, häufig den Rechts-

weg beschreiten, um ihre Rechte einzufordern“ (Ochoa 2010).498 Nicht zuletzt waren also die system-

eigenen Leistungsrollenträger ebenfalls von diesem Gesetz betroffen. Es gab zu viel Erwartungsunsi-

cherheit aus allen funktionalen Gesellschaftsbereichen, wenn Verträge vorhanden, aber nicht recht-

lich als „normale Verträge“ institutionalisiert waren: Es betrifft das Gesundheitswesen, aber auch

sämtliche Angestellte des Staates und des Rechtsapparates, so dass in Peru selbst rechtliche Leis-

tungsrollenträger oft streiken. Das Rechtssystem und die Politik versuchen also auch, die eigene Ope-

rationsweise erwartungssicherer zu gestalten, indem es Arbeitsverträge einheitlich als Arbeitsverträ-

ge behandelt, in welchen die Arbeiter gewisse Rechtssicherheiten geniessen. (Kurz-)Arbeitsverträge

beginnen sich in Lima also gerade in der breiten Gesellschaft zu institutionalisieren. Doch wie werden

die Rechte geltend gemacht? Gerede bedeutende Schichten vermissen keine stabilen Arbeitsverträ-

ge. Dies erörtert unter anderem das nächste Kapitel. Die „unpersönlichen“ Verträge sind so etwas

wie ein stark begrenzter Arbeitsvertrag, mit welchem die Gesellschaft mit der Institution des Vertra-

ges experimentiert. Sie stabilisieren die Arbeitsbeziehungen für ein paar Jahre. „Unpersönliche Ver-

träge“ dürfen jedoch nur während drei bis fünf Jahren verwendet werden. Besteht das Arbeitsver-

hältnis länger, müsste der Vertrag von gesetzeswegen in einen „normalen Arbeitsvertrag“ geändert

werden. Dies wird jedoch nicht getan: „Hier in Peru gibt es insbesondere jenes Muster – dass wenn

497 Dies sei eine Vorbemerkung zu Kapitel 9, wo das Problem der Generalisierung nochmals aufgefasst wird. 498 Original: „… es un asunto muy complicado por cuanto esta practica se encuentra realmente establecido en la actividad publica, vale decir, EL ESTADO para no pagar beneficios sociales a los trabajadores bajo esta modalidad, se obligan a celebrar el contrato respectivo, (CONTRATO DE SERVICIO NO PERSONALES) POR UNA SENCILLA RAZON, que todos quieren trabajar, logicamente para poder subsistir [...] porque incluso en el Poder Judicial, se dan estas figuras, los abogados, algunos abogados estan sometidos a esta practica, es por ello que hace unos dias recien se ha levantado una huelga nacional de todos los trabajadores del Poder Judicial, existen estas modalidades en la actividad de la salud, tambien, vale decir, las enfermeras, doctores, obstetras, asistentes, empeleados administrativos, es por ello que cuando son injustamente despedidos recurren en forma frecuente a la via judicial, para reclamar sus derechos” Ochoa 2010.

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du mehr als fünf Jahre [arbeitest], sucht man ein Motiv, um dich zu entlassen“ (Burch

20.08.2010a).499

Ein Blick in neuere Urteile zeigt, das peruanische Rechtswesen beschäftigt sich in einigen Fällen mit

komplett vertragslosen Arbeitsbeziehungen. Aus neuerer rechtlicher Sicht handelt es sich bei infor-

malen, vertragslosen Arbeitsverhältnissen um einen funktional äquivalenten Tatbestand zu den „un-

persönlichen Verträgen“. Klagt ein Klient, der ohne Vertrag in einem wirtschaftlich-klientelistischen

Verhältnis arbeitete, so stellt der Richter zuerst fest, ob ein Arbeitsverhältnis zustande kam. Luhmann

(1983, S. 62ff) unterscheidet rollenabhängige und freie Beweisrechte, wobei in Lima letztere zur An-

wendung kommen, zumal prozessfremde Rollen unberücksichtigt bleiben. Ein peruanischer Anwalt

nennt dies „akkreditieren“ und erläutert: “... aber in diesen Fällen, wenn sie [die Arbeiter] keinen

Vertrag besitzen, müssen sie ihn akkreditieren, nicht wahr, auf dem Rechtsweg müssen sie ihn akkre-

ditieren mit Beweisen. Das heisst mit Zeugen, irgendeinem anderen Dokument, das die Arbeitsbezie-

hung [vinculo laboral] akkreditiert“ (Burch 20.08.2010a).500 Für das Bestehen einer arbeitsrechtlichen

Beziehung sind gemäss Ochoa (2010) drei Kriterien ausschlaggebend: Erstens, das Vorliegen einer

persönlichen Leistung (La prestación personal de Servicios), das heisst, der Arbeiter musste tatsäch-

lich konstant und persönlich seine Arbeitspflichten erfüllt haben. Zweitens, muss eine Arbeitsvergü-

tung vorliegen (Remuneración) und drittens muss der Arbeiter einem Chef tatsächlich untergeordnet

gewesen sein (Subordinación). Doch welche Beweise werden zugelassen, um in diesem informalen

Verhältnis zu prüfen, inwiefern sich eine permanente Aktivität etablierte? Das wichtigste Indiz, sind

regelmässige Honorar-Bezahlungen. Besitzt eine Unternehmung einen Eintrag ins RUC-Register („Re-

gistro único de Contribuyentes“, Einziges Register der Steuerzahler) wird mittels „boleto RUC“ ent-

lohnt. In einem Rechtsfall aus dem Veterinärwesen geht es um einen solchen Konflikt. Eine Assisten-

tin eines Tierarztes bekam keine Gratifikation und forderte dieses Recht nachträglich vor Gericht ein.

Das Gericht prüft nun, ob eine Arbeitsbeziehung vorlag und zieht dazu verschiedene Beweise herbei.

Als Beweis gilt zum Beispiel eine e-Mail: “...die Arbeitsbeziehung zur angeklagten Partei wurde be-

wiesen, diese [Arbeitsbeziehung] wurde anerkannt von der Präsidentin der angeklagten Partei in

einem der elektronischen Nachrichten, welche ihr versandt wurde, welche zudem manifestiert, dass

diese über sieben Jahre für die Angeklagte arbeitete, wobei das Zivilgesetz nur maximal sechs Jahre

vorsieht, um eine Person als Independenten Arbeiter zu beschäftigen“ (Corte Superir de Justicia de

Lima, Decimo Juzgado de Trabajo, Pago de beneficios economicos vom 27.07.2004, S. Notificacion

499 Original: „Aca en el Perú hay mayormente esa figura – que cuando tu sobrepasas los cinco años inmediatamente ya te buscan un motivo para despedirte” Burch 20.08.2010a. 500 Original: “... pero en estos casos cuando no tienen contrato, tiene que acreditar, no? en via judicial tiene que acreditar con pruebas. Vale decir con testigos, algún otro documento que acredita el vinculo laboral” Burch 20.08.2010a.

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Judicial).501 Neben der elektronischen Nachricht wurden Mitarbeitende als Zeugen hinzugezogen. Im

Urteil finden sich dann auch die Kopien mehrerer „RUC Honorarauszahlungen“. Jede Quittung einer

Honorarauszahlung gilt als Beweis, insofern gewann die Klagepartei den Gerichtsprozess: “… der

Richter anerkennt die Sozialleistungen, auf Grund, dass mehrere oder viele „RUC-

Honorarquittungen“ abgegeben wurden, so akkreditierte sich ein Arbeitsverhältnis“ (Ochoa 2010).502

Des Weiteren gibt es erstaunlicherweise Rechtsfälle, in denen ein informal arbeitender Angestellter

gegen den Staat vorgeht. Sobald regelmässiger Lohnerhalt verschriftlicht wurde, setzt das Recht die-

se Praktik einem Arbeitsvertrag gleich.

Es bestehen Sachverhalte, in welchen keine Quittungen vorliegen. Wie prüft der Richter in solchen

komplett schriftlosen Fällen, ob ein Arbeitsverhältnis zustande kam oder nicht? In einem neueren

Urteil (Juzgado Especializado en lo laboral en Lima, Liquidación de Beneficios Sociales vom

16.02.2010) wurde ein informal Arbeitender grund- und fristlos entlassen. Man sieht an diesem (wie-

derkehrenden) Klagegrund auch, wann Klienten den Rechtsweg begehen, nämlich wenn das wirt-

schaftliche Patronageverhältnis aufgelöst wurde oder bald aufgelöst wird. Zuvor scheint rechtliche

Kommunikation kein Konfliktmechanismus zu sein. In besagtem Urteil handelt es sich um einen Rei-

nigungsangestellten, der über zehn Jahre in einem türkischen Bad arbeitete. Das Gericht hält fest,

dass der Kläger keine Quittungen bekam. Die angeklagte Partei bestreitet, dass der Kläger jemals für

ihr Unternehmen konstant arbeitete und kontert, sie können sich nicht daran erinnern, dass der Herr

mehr als ein, zwei Mal pro Monat mithalf. Es handelte sich nur um ganz sporadische Arbeitsleistun-

gen, die sie ihm spontan anbot, weil er zuweilen vorbei kam und nach Arbeit fragte. Für sie existiere

folglich keine Entlassung, weil es nie eine permanente Arbeitsbeziehung (vinculo laboral) gab. Dahin-

gegen beteuert der Kläger, dass er im Januar 2010 entlassen wurde, weil er von der „Patronin“ ver-

langte, dass er sozial versichert werde. Die Beweislast trägt der Angestellte bzw. der Kläger. Der Rich-

ter prüft das Arbeitsverhältnis und sendet daraufhin eine „declaración jurada“ an den ehemaligen

Arbeitsort des Klägers, ein Dokument, damit sämtliche Mitarbeiter unterschreiben (oder dies unter-

lassen), dass der besagte Herr permanent in der betroffenen Unternehmung mitarbeitete. Im Urteil

finden sich über sechzig Unterschriften und viele Fotos, die dies bezeugen. In diesem Fall genügten

dem Richter die vielen Unterschriften und Zeugenaussagen. Die Klagepartei hätte recht bekommen.

Doch da dem Arbeiter das Geld ausging, konnte gemäss Anwalt der Fall nicht zu Ende gebracht wer-

den. Solche Fälle dauern mehrere Jahre.

501 Original: „...ha probado la relación laboral que existió con la demandada, la misma que ha sido reconocida por la presidente de la demandada en uno de los correos electrónicos que le fuera enviado, manifestando además [...] que ha laborado para la demandada por mas de siete años cuando el código civil solo contempla hasta un máximo de seis años para tener a una persona como trabajador independiente” Corte Superir de Justicia de Lima, Decimo Juzgado de Trabajo, Pago de beneficios economicos vom 27.07.2004, S. Notificacion Judicial. 502

Original: „…el juez reconoce sus beneficios sociales, en razon que al haber emitido varias o muchas boletas RUC, se ha acreditado que ha existido un vinculo laboral“ Ochoa 2010.

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Angesichts dieses Urteils scheint das peruanische Rechtswesen dennoch gewisse Konfliktmechanis-

men für wirtschaftlich begrenzte Patronage bereit zu stellen, was solche Patronagebeziehungen

kompliziert. Von Interesse ist jedoch nun die Frage, wie die Urteile zustande gekommen sind. Könnte

es sein, dass es auch im Rechtsbereich eine bis jetzt kaum beleuchtete Hinterbühne gibt? Wie be-

ginnt man eine rechtliche Kommunikation? Das Rechtswesen teilt zusammen mit der Politik bzw. mit

der politischen Verwaltung dasselbe Problem: Beide Grossbereiche sind masslos überlastet. Zudem

ist die Eigenzeit des Rechts- und Verwaltungssystems generell, das heisst auch in Differenzierungsre-

gionen wie der Schweiz zum Beispiel langsamer als Wirtschaftskommunikation. In Gamarra belaufen

sich Arbeitszeiten auf vierzehn bis fünfzehn Stunden pro Tag. Ein Anwalt vergleicht diese Arbeitszei-

ten mit denjenigen am Gericht: „Leider arbeiten die Leute hier in Peru so, zwölf Stunden normaler-

weise, auch im Gerichtswesen! Ja, die Sekretäre treten um acht Uhr morgens ein und verlassen das

Gebäude um sieben Uhr abends, obwohl ihr Zeitplan acht Stunden vorsieht. Aber wegen der Prozess-

Belastung, nicht wahr, um in den Prozessen weiterkommen, deshalb müssen sie bleiben“ (Burch

20.08.2010a).503 Es kommt hinzu, dass Aufgabenlasten ungleich verteilt sind. Dieses Problem – man-

che Richter sind mit bis zu 4000 Rechtsfällen eingedeckt – wird mit einem anderen Problem gelöst

bzw. verschärft. Um diese Personen zu entlasten, verschiebt man die Zuständigkeiten. Das Verschie-

ben führt jedoch zu weiteren zum Teil erheblichen Aufschüben, weil sich mit der Änderung der per-

sönlichen Zuständigkeit jeweils mehrere Personen umorientieren müssen und sich das Verfahren nur

begrenzt auf feste Abläufe verlassen kann. Ein Rechtsfall dauert mindestens fünf, sechs aber auch

locker fünfzehn Jahre (Burch 20.08.2010a). So meint der Anwalt: „… sie wechseln den Richter, sie

wechseln das Prozessdomizil, sie wechseln das Gerichtsgebäude….Wenn der Richter zum Beispiel

3000 Fälle hat, so ernennt man besser einen winzigen Richter [un juez chiquito], einen kleinen, zu-

sätzlichen Richter, damit er Tausend Fälle übernimmt. Der andere bleibt mit zwei Tausend und er

wird etwas entlastet. Das heisst, dein Fall war hier, sie sandten ihn dorthin. Der Transfer von hier

nach dort dauert in der Regel ein, zwei, drei Monate“ (Burch 20.08.2010a).504

Gerichtsverfahren sind ausdifferenziert, aber lassen sich die Teilnehmer überhaupt auf diese langsa-

me Kommunikation ein oder arrangieren sie das Problem nicht doch eher ausserhalb des Rechts

(Luhmann 1983)? Die letzte Frage kann nicht mit ja oder nein beantwortet werden. Das peruanische

Rechtswesen ist eine komplexe Mischung aus formaler und informaler Kommunikation, wobei nur

503 Original: „lastimosamente aca en el Perú la gente trabaja así, doce horas normalmente, incluso en el poder judicial! Sí, los secretarios entran a las ocho de la mañana y están saliendo a las siete de la noche aunque su horario son ocho horas. Pero por cuestiones de carga procesal, no, avanzar en los procesos, tienen que quedarse” Burch 20.08.2010a. 504

Original: „… cambian del juez, cambian domicilio procesal, cambian del juzgado también para descarcar la carga procesal. Por ejemplo si el juez tiene 3000 casos, entonces mejor vamos a creer otro juez chiquito, un juez pequeño adicional para que lleve mil casos. Ese se queda con dos mil y el puede descargar un poco. Sea, tu caso estaba aca, lo tienen que mandar aca. El traslado ese de aca demora promedio un mes, dos meses, tres meses” Burch 20.08.2010a.

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die professionellen Leistungsrollenträger wissen, wann wie kommuniziert werden muss. Ein Arbeits-

rechtsanwalt unterscheidet vornweg drei verschiedene Arten von Erwartungszusammenhängen be-

züglich Richter. Alle Richter studierten Recht und besitzen also ein Zertifikat als Jurist, doch dieses

macht einen noch nicht zum Richter. Es gibt gemäss einem peruanischen Anwalt dafür drei verschie-

dene Wege:

„Es gibt Richter, die einen öffentlichen Wettbewerb gewonnen haben. Diese Rich-

ter nennt man „titulares“ (Betitelte), bzw. der Karriere wegen werden sie so ge-

nannt. Diese Herren arbeiten meistens immer so wie es sein sollte, verstehst du

mich? Weil sie [offiziell] ernannt wurden, sie haben keine Gefälligkeiten von Seiten

niemandem.

Es gibt andere Richter, die man „suplentes“ (Aushilfskraft) nennt. Das heisst – wie

ihr Name bereits sagt – bezieht er sich auf Ergänzen, das heisst, ersetzen. Diese

Herren sind nicht von der [Rechts]-Karriere, nicht von der Magistratur. Sie wurden

nicht innerhalb des Rechtswesens geformt. ‚Ich bin Freund des Präsidenten oder

eines hohen Richters des obersten Gerichts‘. Sie sagen: ‚Kann ich Sie um einen Ge-

fallen bitten und sie ernennen mich dann zu einem Aushilfsrichter?“ Verstehst du

mich? So werden sie genannt. […] Diese Herren, die Aushilfsrichter, sind nicht ver-

pflichtet, so zu arbeiten, wie es sein sollte. Sie sind langsam, sie sind faul, sie kom-

men nicht zur Arbeit, erscheinen spät, bitten um Erlaubnis oder wenn sie richterlich

urteilen, machen sie dies gegen den Kläger, obwohl er recht hätte, sie entscheiden

den Prozess dagegen. Deshalb kennt man sie als „Aushilfsrichter“.

Gleichermassen gibt es einen anderen Typ von Richter, der sich ebenfalls „Provisio-

nal“ (Provisorisch) nennt. Es gibt drei Klassen von Richtern: Betitelte, Aushilfskräfte

und Provisorische. Die Provisorischen werde ich dir ausführlich erklären. Diese Her-

ren sind karrierenmässig betrachtet Anwälte, sprich, sie sind Sekretäre des Ge-

richtswesens. Sie arbeiten innerhalb des Rechtswesens. Oder sie sind auch Bericht-

erstatter der oberen Gerichtssäle, der „sala suprema“. Sie sind auch Sekretäre der

Zivilsäle oder der höchsten Gerichtskammer. Da diese eine rechtliche Karriere ma-

chen - aber ich wiederhole, sie bestanden keine Prüfung wie die ‘Betitelten’ – da

sie innerhalb des Rechtswesens arbeiten, haben sie Erfahrung, sie kennen die Pro-

zesse, alsdann auch sie besitzen eine Affinität zu einem Richter, zu einem Präsiden-

ten des [Gerichts]-Hofes und diese befördern sie, sie befördern sie zu Richtern.

Alsdann wenn sie [alle diese Richter] ihre Resolutionen unterzeichnen, dann sieht

man es, [mit welcher Art Richter man es zu tun hat]. Zum Beispiel wenn neben dem

[Namen des] Richters ein ‚T‘ steht, bedeutet dies ‚Betitelter [titular]. Wenn

daneben ein P erscheint, ist dies ein Provisorischer und wenn eine S steht, ist es ein

Hilfsrichter [suplente]. […] Und diese [letzt genannten] Herren sind gleich wie die

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Hilfskräfte. […] Sie arbeiten langsam, sie arbeiten voreingenommen und manchmal

intrigenhaft, das heisst, sie kommen nicht voran, wie es sein sollte. Weil sie, wie ich

dir sagte, nur ein Ersatz sind, nichts mehr. Das sind die drei Klassen von Richtern,

die es in Peru gibt“ 505

Nur ein Teil der Richter, die „Betitelten“, besitzt einen Karriereabschluss, der gemäss universitären

Eigenlogiken erarbeitet wurde. „Betitelte“ bestanden die öffentliche Prüfung, welche sie zu Richtern

ernannte. Dies bezeichnet man in Lima, einen öffentlichen Wettbewerb bestehen. Der Anwalt (Burch

05.03.2010) betont, dass es sehr schwierig sei, bei diesen Prüfungen zu mogeln oder sich das Zertifi-

kat zu kaufen, da die Prüfungen eben alle öffentlich vor einem heterogenen Publikum stattfinden.

Hervorragende universitäre Leistung ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Richter zu werden. In

Lima sind ca. 30% aller Richter „Titulares“. Der Rest erhielt den Titel auf informale Weise: Mittels

Netzwerkkommunikation. Entweder sind es rechtssysteminterne Netzwerke, in welche sich der Kan-

didat mit der Zeit einarbeitete, was ihm dann zu einem Richterposten verhilft oder es handelt sich

um rechtssystemexterne Leistungsrollenträger wie der Politik oder der Wirtschaft. Im ersteren Fall

bezeichnet man solche Richter als „provisionales“ im zweiten als „suplentes“; von der ersten, den

„titualers“ bis zur dritten Variante, den „suplentes“, nimmt der Anteil formaler Erwartungen ab. Der

Bruch passiert jedoch nach der ersten Variante, das heisst zwischen den „Titulares“ und den „Provisi-

onales“. Je nachdem, wie man sich eine Position als Richter erarbeitete, erfolgt eine andere Art der

Anschlusskommunikation bzw. des Umgangs mit rechtlicher Kommunikation. Für die rechtlichen

Erwartungszusammenhänge spielt es eine ausschlaggebende Rolle, wie jemand zum Richter wurde.

505 Original: „Hay jueces que han ganado un concurso público. Estos jueces se llama ‘titulares’, o sea de carrera, así son nombrados. Entonces estos señores mayormente siempre trabaja como debe ser, ¿me entiendes? [...] Porque están nombrados, ellos no tienen favores de nadies. Hay otros jueces que les llaman suplentes, jueces suplentes. Quiere decir como su nombre mismo lo indica “suplir”, sea reemplazar. Estos señores no son de la carrera, de la magistratura. No están trabajando dentro del poder judicial. “Yo soy amigo del president o de un vocal de la corte suprema”. Entonces yo le digo, “le pido un favor?” Entonces me nombra como juez suplente, ¿me entiendes? Así es su nombre. [...]Entonces estos señores como son suplentes, entonces no están obligados para trabajar como debe ser. [...]Son lentos, son flojos, no vienen a trabajar, llegan tarde, piden permiso o si resuele una sentencia lo hacen en contra del demandante de a pesar que tiene la razón, fallan en contra. Por eso se les conoce como suplentes. Igualmente hay otro tipo de juez que también se llama provisional. Hay tres clases de jueces. Titulares, suplentes y provisionales. Los provisionales te voy a explicar en forma amplia. Estos senñores son abogados de carrera, vale decir, son secretarios del juzgado. Trabajan dentro de un juzgado. O también son relatores de salas superiores, de sala suprema o también son secretarios de sala civil o de sala, la corte superior o suprrema. Entonces como ellos hacen carrera judicial, pero como te repito ellos no han dado examen como los titulares. Como ellos trabajan dentro del poder judicial, tienen experiencia, conocen los procesos, entonces, igualito, tienen afinidad con algun vocal, con algun presidente de la corte y los promueven, les promueven para que sean jueces. Entonces cuando ellos firman en sus resoluciones, allí sale. Por ejemplo al ladito del juez hay una T que significa “titular”. Si al costadito aparece una P que es “provisional” y si al costadito aparece una S que es suplente. [...]Y estos señores también son igual como los suplentes. […] Trabajan con lentitud, trabajan perjudicando a veces el [intigrante], sea, no avanzan como debe ser. Porque ellos, como te digo, son de reemplazo nada más. Eso son los tres clases de jueces que hay en el Perú” Burch 12.02.2011.

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Es besteht gewissermassen eine Art Pfadabhängigkeit. Die fähigen Richter, die ihre Position gemäss

modernen Erwartungen erhielten, kommunizieren auch später als professionelle Richter und nicht

als juristische Freunde. Interessanterweise werden diese beiden Erwartungszusammenhänge für

internes Personal erkenntlich gemacht; Informalität wird intern also formal explizit gemacht, damit

man weiss, mit welcher Art von Richter man es grundsätzlich zu tun hat. Diese schriftliche Bezeich-

nung wird nur von den juristischen Teilnehmern verstanden. Schriftlichkeit ist also nicht automatisch

mit Formalität gleich zu setzen. Insofern weiss man als Anwalt meistens schnell, welche Variante von

Richter einem gegenüber sitzt. Zwar geschieht dies nicht erst anhand der Signatur. Es gibt einen Aus-

druck für informal arbeitende „Problemrichter“: „Jugadores“, das heisst: Spieler. „Es ist eine wichti-

ge Unterscheidung für Anwälte: ‚Spielt er oder spielt er nicht? Ja er spielt, sagt man dann“ (Burch

20.08.2010a).506 „Spielende“ Richter sagen nicht direkt, dass sie für gewisse beschleunigende Leis-

tungen Geld wollen; zumal eine solche Erwartung illegal ist. Dies müsse man als Anwalt schon mer-

ken: “Hier in Peru hintergehen dich die Richter oft, sprich sie lügen. Sie sagen: ‚Ja, die Resolution wird

innerhalb eines Monats bewerkstelligt‘. Es vergeht ein Monat, aber sie kommt nicht. So gehst du

wieder hin und beklagst dich… wieder lügt er dich an; er sagt dir: ‚Ja, ja, ich werde es erledigen […],

aber sie [die Resolution] kommt nie an“ (Burch 12.02.2011).507 So pflegen die „Spieler“ einen ande-

ren Umgangsstil. Um als Anwalt zu bestehen, muss man möglichst früh erkennen, nach welchen Re-

geln ein Richter handelt: „Wenn ich sehe, dass mich der Richter zurückweist, dann sagt man sich,

dass es deshalb ist, weil er Geld will“ (Burch 12.02.2011).508 Man muss dies selbst bemerken, es wird

nicht direkt kommuniziert. Unprofessionelle Richter weisen ein Gesuch zum Beispiel ohne rechtlich

valide Begründung quasi grundlos zurück, so dass dem Anwalt und dem Kläger nichts anderes übrig

bleibt, als den Instanzenweg fortzusetzen und das heisst meistens, bis zur letzten, obersten Instanz,

dem „tribunal constitucional nacional“, dem „nationalen Verfassungsgereicht“, vorzuschreiten, wel-

ches eine autonome Instanz darstellt. Ein Anwalt berichtet und diese Aussage wird sich als essentiell

erweisen: “Ja, aber hauptsächlich muss man bis zur letzten Instanz gehen, das heisst zum Verfas-

sungsgericht. Aber in dieser Zeit verlierst du bereits zwei Jahre. Das Verfassungsgericht ist eine auto-

nome Einrichtung. Es hängt nicht von der Gerichtsgewalt ab“ (Burch 12.02.2011).509 Die unteren In-

stanzen kommunizieren also informaler und orientieren sich stärker an persönlichen und monetären

Logiken. Die „spielenden“ Richter sind gemäss unserem Anwalt ein Hindernis. Viele Fälle müssen

506

Original: “Eso es el térmio juridico de los abogados: ‘Juega o no juega, sí, juega’, dice” Burch 20.08.2010a. 507 Original: Muchas veces aca en Perú los jueces, te engaña, o sea te miente, te dice, “ya sí te va salir la resolución

de aca en un mes.” Pasa un mes, no llega. Entonces te vuelves a quejar, vuelves.... te vuelve a mentir, te dice “sí, sí,

ya lo voy descargar [...] pero nunca llega” Burch 12.02.2011. 508

Original: „Veo que el juez me rechaza, entonces uno dice si me rechaza es porque quiere plata“ Burch 12.02.2011. 509

Original: „Sí pero mayormente tienes que ir hasta la última instancia que es el tribunal constitucional. Pero ya en este lapso has perdido dos años. El tribunal constitucional es ente autonomo, no depende del poder judicial” Burch 12.02.2011.

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weitergezogen werden; alle Beteiligten verlieren Zeit, so kommen auch viele simple „kleine“ Fälle bis

zur höchsten Instanz. Selbst Richter der mittleren Instanz überlegen es sich, wieso sie den Entscheid

ihres Kollegen anfechten und dem Angeklagten recht geben sollen und sich so eventuell unbeliebt

machen bei ihrem Kollegen. Sie unterstützen ihren Kollegen. Ein Skandal wird nicht stattfinden, weil

dem Kläger noch die Möglichkeit bleibt, den Instanzenzug fortzusetzen. Untere und oft auch inter-

mediäre Instanzen lösen Rechtsfälle eher selten, weshalb die obersten und professioneller arbeiten-

den Instanzen konstant überlastet sind.

Richter-Anwalt Interaktion bildet zuweilen eine Art Patronage bzw. Zweckfreundschaft – oder man

müsste vielleicht eher sagen „Zweckfeindschaft“ –, welche Zeit beobachten. Gewisse Richter sind

Zeitmanager; sie disponieren darüber, wie schnell ein Klient (hier der Anwalt), seine Anschlusskom-

munikation fortsetzen kann. Das Rechtsverfahren ist also besonders in höheren Positionen, sprich

hinsichtlich Verwaltungsgerichtes ausdifferenziert. So entscheiden die unteren oder mittleren nicht

selten „spielenden“ Richter „por espiritu de cuerpo“ (wörtlich: „aus dem Geiste des Körpers“). Das ist

wieder ein Insider-Begriff und bedeutet „aufgrund von compañerismo oder amigismo“, das heisst,

mittels Kameradschaft oder Freundschaft. Ein Anwalt muss möglichst genau wissen, welcher Richter

welchen ihm höher gestellten Richter kennt, um zu entscheiden und ob es sich eventuell lohnt, be-

reits einen unteren Richter zu bestechen, um so Zeit zu sparen – wir sprechen hier nicht von Tagen

sondern von Jahren – das heisst, um im schlimmsten Fall nicht bis zur letzten Instanz weiterziehen zu

müssen. Gewisse Patrons, hier „spielende“ Richter machen den Beteiligten somit die Kontingenz des

zeitlichen Prozessierens der Kommunikation sichtbar; der Umgang mit Zeit ist ihre Stärke. Netzwerke

ändern sich schnell je nach Bedürfnissen und lebensweltlichen Problemlagen der Beteiligten.510 Aber

auch der entlastende Zuständigkeitswechsel der Fälle und die damit verbundene spontane Einstel-

lung weiterer, vorübergehender Entastungs-Richter, sorgen dafür, dass sich die „Stabilität“ von in-

formalen Erwartungszusammenhängen zwischen Anwalt und Richter bilden.

Die Anwälte sind deshalb auf Informationsaustausch mit ihren Kollegen angewiesen und treffen sich

gerne in den umliegenden Restaurants der Plaza Mayor nahe dem Gerichtsgebäude. Man unterhält

sich, welche Richter, wie viel Beschleunigungs-Geld verlangten. „Sie [die Anwaltskollegen] sagen es

dir auch, sie sagen es dir auch. Sie sagen es dir manchmal direkt, frontal“ (Burch 12.02.2011).511 Eine

Alternative, um solche Details herauszufinden, ist der Sekretär, bzw. generell das Personal, das mit

dem bestimmten Richter arbeitet. Es ist für einen Anwalt essentiell, mit den Sekretären gut auszu-

kommen, um zeitliche Vorteile zu erlangen bzw. um eigene juristische Kommunikation zu beschleu-

nigen. So ist es für einen Anwalt normal, die Sekretäre hin und wieder wie die Anwalts-Kollegen zum

510

Besonders in gewissen Schichten aber auch in Gamarra wird nicht das langjährige Verharren in einer Patro-nage angestrebt. Gefragt sind Personen, die es wissen, sich schnell in Netzwerken einzugliedern und sich wie-der zurückzuziehen ohne den Kontakt abzubrechen. Siehe dazu das nächste Kapitel. 511

Original: “Ellos también comentan, ellos también comentan. Ellos a veces dicen directo, frontal“ Burch 12.02.2011.

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Essen einzuladen: „Gut, es ist immer so, aber es ist etwas freundschaftliches, nicht weil du die Pflicht

hast, ihn einzuladen - wie man sagt. […] Sagen wir, in Peru ist es wie eine Routine. Es ist kommun.

Wenn du einen Sekretär siehst, zum Beispiel, sagst du ihm: ‘Höre, compadrito, ich lade dich ein...’,

oder manchmal gehen sie aus, um zu essen – du weisst, oder? Sie sind in einem Restaurant und ich

setze mich an seine Seite zum Beispiel und bezahle: ‚Ah, gib kein Geld aus, ich werde bezahlen, com-

padre, du bist mein Freund. […] Ja, weil normalerweise die Restaurants nahe sind, ja sie sind neben

dem Justiz-Palast. Klar. Und ich studierte in der Universität. Alsdann sind meine eigenen Kollegen der

Universität auch Sekretäre. […] So bitte ich ihn um Hilfe. Ich bitte ihn, dass er mir hilft, die Resolution

schneller zu erhalten. Das beeinflusst“ (Burch 12.02.2011). 512 Die Begriffe “compadrito” bzw. „com-

padre“ sind alte Semantiken, welche einen Wahlverwandten bezeichnen.513 So deutet bereits die

Semantik darauf hin, dass es sich um eine symmetrische Art von Patronagebeziehung handelt, in der

Geld in Form von Einladungen und Gefälligkeiten gegen juristische Beschleunigung getauscht wird.

Die Zeit bedeutet alles bei peruanischen Gerichtsprozessen. Der Anwalt meint dann auch, dass man

als Anwalt hart kämpfen müsse (pelear duro). Man brauche geradezu viel „mania“. „Mania“ bedeu-

tet laut unseres Anwaltes „habilidad“ (Fähigkeit) im Sinne von, dass man auf den Richter ständig

Druck ausüben muss, dass dieser seine Resolution bzw. sein Urteil fällt. Natürlich gibt es auch ein

rechtsinternes Organ, der „consejo nacional de la magistratura“ (nationaler Richterrat), bei dem man

untätige Richter verklagen kann. Doch effizienter ist es, auch selbst Druck auszuüben und mit dem

Richter in Kontakt zu bleiben, das heisst, ihn per Telefon anzurufen und zu mahnen.

Die „spielenden“ Richter erkennt man also schnell. Es spricht sich zudem herum, wenn ein Richter

plötzlich über Nacht reich wurde und auf einmal ein Haus und ein Auto besitzt. Die Leute werden

misstrauisch und früher oder später wird ein solcher Richter „verschwinden“. Diese Ansicht des An-

waltes ist interessant; werden die informalen Richter und ihre Netzwerke als illegitim und deren Posi-

tion insgesamt als instabil erachtet. Zugleich ist es für unseren Anwalt jedoch auch ganz klar, dass es

von Vorteil ist, gewisse Richter bzw. insbesondere die höheren Richter zu kennen. Die Netzwerke

gehen oft auf Uni-Zeiten zurück; insofern bereitet die Uni indirekt auf die Profession vor. Er meint:

„Oder manchmal sind gar die Richter, die amtlichen Richter Professoren der Uni-

versität, weisst du. Klar. Sie waren irgendwann meine Lehrer. [...] Deshalb sage ich

512

Original: „Bueno, siempre es así pero es algo así amigable. No porque tu tengas la obligación de invitarle, como se dice. [...] Vamos a decir en el peru es como rutinario. Es común. Si tu ves a un secretario por ejemplo, tu le dices: ‚Oye, compadrito, te invito pues este…‘, o a veces salen a comer, tu sabes, no? Están en un restaurante y me siento a su lado por ejemplo y yo voy a pagar: ‘Ah no gastes, yo voy a pagar, compadre, tu eres mi amigo. [....] Si, porque normalmente los restaurantes están cerca del palacio de justicia por decir al lado. Claro. Y además porque también sabes, yo estudié en la universidad. Entonces mis propios compañeros de la universidad de salon también son secretarios’. [...] Entonces yo le pido ayuda a el. Le pido que me ayude, que me saca la resolución rápido. Eso influye” Burch 12.02.2011. 513 Siehe dazu das Kapitel über Ayni und Verwandtschaftsideologie: 6.2.1 oder auch das Kapitel 6.1.2.

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dir, die amtlichen Richter kenne ich bereits. Deshalb wurden schon einige Rechts-

fälle gewonnen. Ich sage ihm: ‘Doktor, erinnern sie sich an mich, Professor?’. Er

sagt: ‚Welches Jahr? ‘- ‚In diesem Jahr‘. Oft haben wir uns bei den Professoren be-

rühmt gemacht. Ja. Weisst du wie es ist? Das heisst, sie kommen auf einen zu,

wenn sie die Universität beendeten. Sie wollen dann an der Universität unterrich-

ten. Da es keinen Wettbewerb gibt, gibt es einen ‚Vertrag‘. Du weisst es sehr gut,

es gibt Verträge. Dann bringen wir, die Schüler, den Lehrer, wir stellen uns dem De-

kan vor und sagen: ‚Professor, wir wollen dass er uns unterrichtet‘“ (Burch

12.02.2011).514

In diesem Zitat werden auch interessante informale Erwartungszusammenhänge innerhalb des uni-

versitären Erziehungssystems sichtbar. Der Anwalt kennt nicht nur gewisse Richter, sondern pflegt

mit ihnen eine langjährige weak-tie Patron-Klient oder zweckfreundschaftliche Beziehung. Man un-

terstützt angehende Dozenten, das bedeutet, man gibt dem Kandidaten, der Universitätsprofessor zu

werden gedenkt, „die Hand“, indem man sich als Student beim Dekan für dessen Berufung einsetzt.

Dies ist der übliche Weg, um Professor zu werden. Es gibt keinen „Wettbewerb“ sondern nur Kon-

taktnetzwerke, welche auf der formalen Seite der Gesellschaft Arbeitsverträge institutionalisieren.515

Wechselt der Dozent vom universitären Bereich in den juristischen, so erinnert sich dieser an das

Jahr seiner Ernennung und schuldet seinen Unterstützern von damals Gegenleistungen. Kontaktsys-

teme bedeuten nicht immer Rechtsbrüche; es geht in Lima meist um Beschleunigung und nicht um

Rechts-Kauf. Letzteres beschränkt sich auf ein bestimmtes Segment des Rechtswesens. Ich komme

später darauf zurück.

Für einen Anwalt ist es auch von Vorteil, wenn ein Familienmitglied bei der Polizei arbeitet. So über-

brückt man analog wie in der Verwaltung den anfänglichen Türöffner zum Rechtswesen. Es genügt

oft, vorweisen zu können, dass man einen Polizist innerhalb der Institution kennt. Die Kollegen geben

sich dann meist kooperativer:

„… oft missbrauchen die Polizisten ihre Kondition, ihre Autorität. So begegnen sie

dir mit Arroganz. Manchmal möchten sie dir keine Informationen aushändigen.

514

Der Anwalt geht davon aus, dass diese Praktiken weltweit institutionalisiert seien. Er ist sich sicher, dass ich diese Vorgehensweise kenne. Original: „O a veces los mismos jueces, los mismos vocales, tu sabes, son profesores de la universidad. Claro, en alguna oportunidad ellos han sido mis maestros. […] Por eso te digo con los vocales ya nos conocemos. Por eso pues ya varias veces así los juicios se ganaron. Le digo: ‘Doctor, Usted se acuerde de mí, professor?‘, le digo. ‘En qué año?‘, me dice. ‚En tal año‘. Muchas veces nosotros nos hemos hecho famosos a los profesores, Sí. Sabes cómo es? Sea, ellos se acercan cuando terminan la universidad. Ellos quieren enseñar en la universidad. Entonces como no hay concurso, entonces hay contrato. Tu lo sabes muy bien, hay contratos. Entonces nosotros los alumnos nos llevamos al profesor, nos presentamos al decano y decimos: ‚Profesor queremos que nos enseñe’“ Burch 12.02.2011. 515 Wir kommen unter Kapitel 9 im Zusammenhang der Generalisierung der Resultate nochmals darauf zu spre-

chen.

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Und dann, wie ich dir sage: ‚Gut, wenn du mir die Information nicht geben willst,

wieso sie diese Person verfolgen, so habe ich einen Bruder, der Polizist ist‘. Ich su-

che also nach meinem Bruder und sage ihm: ‚Schau, diese Person hat einen Haftbe-

fehl‘. Dann geht er auf Grund seiner Befugnis als Polizist sofort in ein Büro, welches

sich ‚Steckbriefe‘ [requisitorias] nennt und [schaut], ob es konstituiert. […] Am An-

fang möchten sie dir [die Information] nicht geben. Sie verschliessen sich, manch-

mal verlangen sie Geld. – F: Aha, und wenn sie wissen, dass du einen Bruder hast….

– Ochoa:… erleichtern sie dir die Information, klar, die Information, die du

brauchst“. (Burch 12.02.2011).516

So gibt es im Rechtswesen zwar formale Abläufe, doch der angemessen schnelle Zugang wird durch

persönlichen Kontakt und/oder Geld geregelt. Erst die Erwartungszusammenhänge der informalen

Hinterbühne ermöglichen, dass formale Kommunikation stattfinden kann. Insofern der Anwalt also

einen Bruder hat, der bei der Polizei arbeitet, kommt er zu Informationen bzw. ist seine Kommunika-

tion direkt anschlussfähig. Erfolg ist nur mittels familiärer Zusammenarbeit schnell möglich. Und

selbst wenn der (fremde) Polizist ihm kritisch gegenüber tritt und nachfragt, wo sein Bruder genau

arbeitet, gibt der Anwalt dem betreffenden Polizisten die Telefonnummer seines Büros im Kommis-

sariat an und so kooperieren sie, das heisst, sie „rücken“ die Information heraus. Der Anwalt sagt

aber meistens einfach: “‘Ich habe auch einen Bruder, der Polizist ist und gut, alsdann können wir uns

vielleicht, die Hand reichen [dar la mano]? ‘ – Das ist ein Ausdruck, mit dem wir mit ihnen zu spre-

chen pflegen. ‚Ja, ja’, sagt er mir, ‘mach dir keine Sorgen, ich werde dir die Daten bringen” (Burch

20.08.2010a).517 Insbesondere verdeutlicht dies: Nicht nur die Funktionssysteme sind in Lima schlecht

strukturell gekoppelt sondern auch die Organisationen desselben Funktionsbereichs. Jede Institution

operiert gewissermassen für sich selbst und beobachtet ihre Umwelt nur bedingt. Eine Kopplung zu

anderen Leistungsrollenträgern und Organisationen findet nur via Rückgriff auf die informale Hinter-

bühne statt.

Auf die Frage, ob er selber schon mal einen Richter bestechen musste, antwortete der Anwalt vor-

erst wie erwartet, dass er noch nie mit Bestechung zu tun hatte. Auf meine Anschlussfrage, ob er also

immer monatelang auf ein Urteil zu warten pflegt, erklärte er: „Es gibt ein sehr wichtiges Detail. Hier

516 Original: „… muchas veces los policias abusan de su condición, de su autoridad. Entonces te viene con prepotencia, a veces no quieren dar información. Entonces como yo le digo: ‘Bueno, si tu no me quieres dar información, por qué están persiguiendo esta persona, yo tengo un hermano que es policia’. Entonces yo lo busco a mi hermano y le digo: ‘Mira, esta persona está con una orden de captura, entonces es por su condición de policia inmediatamente va si constituya una oficina que se llama ‘requisitorias’. [...] Al principio no te quieren dar pues. Ellos se cierran, a veces te piden plata. – F: Aha, y cuando saben que tienes un hermano…. – P:.... te faciliten la información, claro, la información que quieres” Burch 12.02.2011. 517

Original: “También tengo un hermano que es policia y bueno pues quizás nos podemos dar la mano?” – así es un lexico que manejamos con ellos, no “Ya, ya”, me dice, “no te preocupes, te voy a dar el dato”, me dice. Burch 20.08.2010a. Siehe zum Ausdruck “dar la mano” in Abgrenzung zu “romper la mano” das Kapitel 4.2.

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sagen wir, dass sie dir „das Bett betten“ können (hacer las camitas). Das heisst, wenn du Richter oder

Sekretär bist und der Richter wütend auf mich ist; und ich ihm das Geld gebe, dann werde ich auf der

Stelle gefasst. Klar“ (Burch 20.08.2010a).518 “Hacer las camitas” bedeutet im peruanischen Justiz-

Slang: “Eine Falle stellen”. Aus diesen Grund müssen die Anwälte immer abwägen, wie, wann und

wem Bestechungsgeld überreicht wird. Wie wird das Problem konkret gelöst? Es gibt dazu genaue

Regeln, die historisch variieren. Früher war es gemäss dem Anwalt üblich, einem Richter das Geld in

einer Akte getarnt am Gerichtshof indiskret zu überreichen. Bestechungsgeld muss man also tarnen.

Diese Tarnung wurde intensiviert: “Heute erwartet man sie in einer Cafeteria, in einer Ecke oder an

irgend einem anderen Ort. Dort knüpft man die Kontakte” (Burch 12.02.2011).519 Das Bestechungs-

geld wird von den Teilnehmenden noch stärker als etwas Systemfremdes wahrgenommen, so dass

eine Prozess-Beschleunigung nicht mehr innerhalb des Gerichtsgebäudes gekauft werden kann. Der

illegitime aber notwendige Tausch wird nach draussen auf die Hinterbühne verlegt. Er ist nicht mehr

indiskreter Bestandteil einer Akte innerhalb des Gerichtes. Die Praktik wurde verbannt. Die Praktik

wird nicht nur räumlich distanziert sondern auch zeitlich: „Es ist eben so, dass es das Geld nicht heute

macht. Das Geld bewerkstelligt es an einem anderen Tag, weil die Regel nachträglich gilt. Wenn du

dich näherst mit einem Bestechungsgeld und sagst: ‚Ich habe eine Akte, ich möchte, dass du mich

beschleunigst [aceleres]‘; dann würdest du so sagen: ‚An einem anderen Tag dann‘. Und dann wie

gesagt, vereinbarst du das Datum der Bezahlung: ‚An diesem Tag gehen wir nach draussen‘. Nicht

wahr. Denn das ist die Furcht, die man hat“ (Burch 12.02.2011).520 Es ist also nicht so einfach, einen

Richter zu bestechen; Kontakt- und Verfahrenssystem sind in Lima eng ineinander verwoben. Es

macht den Eindruck, rechtliche Kommunikation bestehe in Lima zu einem grossen Teil aus Risiko-

kommunikation. Wie und wann wird bestochen? Verneinte der Anwalt zuerst, mittels Geld einen

Prozess beschleunigt zu haben, konstatiert er wenige Minuten später, dass es in Peru so sei. Die Prak-

tik ist jedoch riskant, man landet im Gefängnis und auch die Anwaltsschule suspendiert einem, falls

eine der Parteien auf die formale Seite wechselt, wenn zum Beispiel der Richter bzw. sein Sekretär

der Presse oder einem Kollegen der Polizei die Tauschabsicht mitteilt.

Manchen Richtern kann man jedoch nicht ausweichen. Man muss ihnen ein beschleunigendes Beste-

chungsgeld geben. Kleine Beträge gelten als normal: „Klar, hier ist es so, normal. Ein kleines Beste-

518

Original: “Hay un detalle muy importante. Aca decimos que te pueden hacer las camita, te puede hacer una trámpa. Vale decir si tu eres juez o secretario y si el juez me tiene bronca a mí, yo le doy el dinero y inmediatamente me capta a mí. Claro” Burch 20.08.2010a. 519

Original: “Ahora ya les esperan en una cafetería, en una esquina, en algun otro lugar. Entonces es allí donde se hace los contactos” Burch 12.02.2011. 520 Original: „Es que el dinero no lo hace hoy día, el dinero lo hace otro día porque la regla es posterior. Si tu te acercas con una coima y dices, tengo un expediente, quiero que me aceleres, entonces ya pues tu dirás, “otro día ya”. Ya entonces como dice, acuerda la fecha del pago, tal día nos vemos afuera, no? Entonces eso es el temor que uno tiene” Burch 12.02.2011.

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chungsgeld, ja, das geschieht immer“ (Burch 20.08.2010a).521 Dennoch besteht jeweils ein Risiko auf

beiden Seiten, da Informalität sich immer auf die Formalität beziehen muss. Gerade im Falle höherer

Bestechungsgelder ist es für den Geldgeber angebracht, wenn man die Praktik nicht nur räumlich und

zeitlich sondern auch sozial distanziert. Das heisst, man überreicht als Anwalt nicht selbst das Beste-

chungsgeld, sondern beauftragt zum Beispiel ein Familienmitglied. Diese Praktik kommt jedoch weni-

ger im Zivilrecht sondern mehr bei strafrechtlichen Fällen vor, wenn es darum geht, jemanden aus

dem Gefängnis zu holen: „Aber um sie via einer ‚provisorischen Freiheit‘ aus dem Gefängnis zu holen,

verlangte der Sekretär des Gerichts Geld. Aber wie ich dir bereits sagte, gab ich ihm das Geld nicht

direkt, ich gab es ihm nicht. Ich gab es ihm mittels eines Familienmitgliedes“ (Burch 12.02.2011).522

Dabei kannte der Anwalt den Richter bzw. dessen Sekretär nur aufgrund des Rechtsfalles. So gibt es

also im Strafrecht ganz bestimmte Konstellationen, in welchen ein juristischer Entscheid monetär

gekauft werden kann, ohne dass es dazu einer wirklichen Patronagebeziehung bedarf. Nur in einem

solchen Fall wird die Autonomie des Rechtssystems weitgehend durch Geld unterwandert. Der An-

walt betont: “Die Bestechungsgelder gibt man hauptsächlich in den strafrechtlichen Prozessen.

Hauptsächlich“ (Burch 12.02.2011).523 Es geht dann oft darum, einen Entscheid zu kaufen, um zum

Beispiel jemanden aus dem Gefängnis zu holen. Geld und Recht sind also im Strafrecht zuweilen aus-

tauschbar. Geld hintergeht die Autonomie des Rechts auf sachlicher Ebene.

Bis anhin wurden solche Tauschstrategien und die Mechanismen der Risikoverminderung insbeson-

dere von Seiten des Geldgebers erörtert. Aber auch für den Empfänger bestehen informale Regeln.

Das Risiko der Bestechungskommunikation gilt auch in umgekehrter Richtung. Ein Bestechungsgeld

anzunehmen ist ebenfalls für den Empfänger, bzw. für den richterlichen Sekretär ein Risiko. Der Klä-

ger könnte zuvor alle Noten des Bestechungsgeldes fotokopiert haben, um so der Polizei zu bewei-

sen, dass der Sekretär genau diese Geldscheine angenommen hat. Wie wird also das Problem ent-

schärft, damit nicht der Geldgeber kurz vor dem Tausch zur formalen Seite wechselt? Damit der Klä-

ger solche „Fallen“ unterlässt, ist es zentral, dass der Richter eine realistische Bestechungssumme

festlegt. Das Risiko ist um einiges grösser, wenn der Richter den falschen Preis selegiert und zu viel

verlangt. Angemessene Preise werden hingegen gebilligt; sie sind normal und niemand empört sich

darüber; schliesslich kommt der Klient so schneller zum Ziel.

Ähnlich handelt in Lima auch die Polizei. Dort findet sich auch die Bezeichnung dieses Erwartungszu-

samenhanges. In Lima kann man von der Polizei bereits verhaftet und auf das Präsidium abgeführt

werden, nur weil man keinen Personalausweis bei sich trägt. Der Polizist muss dann wie der Richter

den richtigen „Preis“ finden, um das Problem zu „regeln“. Der Arbeitsrechtanwalt erklärt: „Und dort

521 Original: “Claro, aca es así, normal. Coima pequeña, sí, siempre sucede” Burch 20.08.2010a. 522 Original: „Pero para sacarle de la carcel mediante una libertad provisional, el secretario en el juzgaco me pidó dinero. Pero como te he dicho, yo no le dí directamente, yo no le dí. Por familia le dí” Burch 12.02.2011. 523

Original: „Las coimas mayormente se da en los procesos penales. Mayormente” Burch 12.02.2011.

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fragen sie dich dann aus: Als was arbeitest du? Wie viel verdienst du? Von was lebst du? Gemäss

dessen.... das nennt sich ‘pulsear’. Das ist der Begriff. Er bedeutet, die Daten der Person herauszube-

kommen, die persönlichen Daten. […] Denn gemäss dessen, gemäss diesen Fragen weiss die Polizei,

ob die Person Geld besitzt oder nicht. […] Hast du die Krankenschwestern gesehen, wenn sie dir am

Handgelenk den Puls messen. Das ist der Puls; von dort kommt das Wort ‚pulsear‘. Sie analysieren die

Person“ (Burch 12.02.2011).524 Es geht also bei Bestechung in erster Linie um die spezifische Preisfin-

dung. Fixe Tarife bestehen nicht, es ist jeweils eine Einzelabstimmung. Der richtige Preis ist absolut

zentral für das Interaktionssystem. Verlangt der Richter zu viel, bleibt dem Kläger nichts anderes üb-

rig, als sich mit allen Mitteln vor dem Ruin zu wehren. Ein Richter muss es also wie ein Arzt beherr-

schen, den „Puls“ des Klienten zu messen. Aber nicht nur die Höhe der Bestechungsgeldsumme muss

angemessen sein, sondern auch der Zeitpunkt. Ob jemand die Polizei benachrichtigt oder das Beste-

chungsgeld bezahlt, ist gemäss dem Anwalt auch: „…eine Frage, in welcher Form er dich nach Beste-

chungsgeld bittet. Manchmal bittet er konstant immer wieder, plötzlich nur für einen einzigen Ar-

beitsschritt […] er sollte nicht jederzeit kontinuierlich nach [Geld] verlangen“ (Burch 12.02.2011).525

So gibt es im Verlaufe des Gerichtsverfahrens genaue Zeitpunkte, wann erwartet wird, dass ein Rich-

ter Bestechungsgeld fordert oder man selbst den Gerichtsprozess anhand Geldes beschleunigen

kann.

Interne Erwartungssets des peruanischen Rechtswesens sind also sehr heterogen. Formale und in-

formale Praktiken wechseln sich innerhalb kurzer Sequenzen ab. Mittels Bestechung erreicht ein

Anwalt punktuelle Beschleunigung; nicht immer braucht es dazu stabile Netzwerke, dazu sind die

Prozesse zu komplex, als dass man in jeder Situation und in jeder Stelle des Verfahrens auf einen

Kontakt zurückgreifen könnte. Netzwerke sind locker gestrickt. So muss man als Anwalt andere An-

wälte ab und zu im Restaurant zum Essen einladen, um an Informationen bezüglich Richter zu kom-

men. Auch wenn man als Anwalt nicht alle Richter kennt, ist es dennoch von Vorteil, zu möglichst

vielen Richtern längerfristige patronageartige Zweckfreundschaften aufzubauen und mit ihnen gut

auszukommen. Ein erfolgreicher Anwalt kennt auch die Richter höherer Instanzen; Austauschbezie-

hungen begrenzen sich jedoch auf die unteren und mittleren Instanzen. Insofern könnte man bezüg-

lich der höheren Richtern von Zweckfreundschaften reden und bei den Verhältnissen mit unteren

und intermediären Richtern von Patronage, die sich auf rechtliche Kommunikation spezialisiert, da

man diese häufiger trifft:

524 Original: „Y allí te pregunta pues, en qué trabajas, cuánto ganas, de qué vives? Entonces de acuerdo a esto... se llama pulsear. Ese es el léxico. […] Significa averiguar datos de la persona, los datos personales. […] Entonces de acuerdo a ese, a esas preguntas la policía sabe si esa persona tiene o no tiene dinero. […] Has visto las enfermeras cuando te atocan el pulso en la mano. Eso es pues el pulso pues. De allí viene pues la palabra ‚pulsear‘. Analisan la persona“ Burch 12.02.2011. 525

Original: „…cuestión en que forma te pide dinero. A veces te pide seguido de repente por un solo trabajo nada más [...] que no pide cada rato continuamente “Burch 12.02.2011.

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„… durch meine eigene Arbeit, wie man sagt, spreche ich nicht nur mit den Rich-

tern der ersten Instanz. Verstehst du mich? Wenn eine Akte durch Berufung auf-

steigt, so spreche ich mit den höheren Richtern, mit den Stammrichtern [vocales].

Und oft kennen wir uns schon aufgrund des täglichen Umgangs; ich gehe wegen ei-

ner oder zwei, drei Akten, die in seiner Jurisdiktion sind. Alsdann kenne ich ihn. Das

ist ebenfalls in der höchsten Instanz [suprema] so. Wir haben direkten Zugang zu

ihnen, um uns mit ihnen zu unterhalten. Deshalb kennen sie mich schon (Burch

12.02.2011).526

Es gibt Bereiche, in denen sich Kontakte wiederholen und sich patronageartige Beziehungen ausdiffe-

renzieren, welche insbesondere die zeitliche Autonomie des Gerichtsverfahrens unterbinden. Aber

selbst auf solche persönlichen Kontakte, die quasi täglich gefestigt werden, ist nicht Verlass: Besitzt

der Gegner viel mehr Geld, in diesem Fall war dies eine Bank, so nützt dem Anwalt die persönliche

Beziehung zum Richter wenig. Der monetär stärkere Gegner kann das Strafrechtverfahren mittels

Bestechung einfrieren. Mit Geld kann rechtliche Kommunikation also nicht nur beschleunigt sondern

auch verlangsamt werden, damit die Klage verjährt und juristisch unbeobachtet bleibt. Wurde der

Ausgang des Verfahrens also durch Geld diktiert? Man muss die Hinterbühne der rechtlichen Kom-

munikation differenziert betrachten:

“Das Bestechungsgeld macht alles möglich bezüglich der Länge des Prozesses. Ins-

gesamt verlängerte sich dieser Prozess um mehr als das Gesetz erlaubt. […] Unge-

achtet dessen dass ich immer hinging, hinging, um zu versuchen, dass sie ihn sank-

tionieren, dass sie diese Person verurteilen, nicht wahr. Aber die ökonomische

Macht konnte mehr als das Gesetz […]. Ja denn die Bank gab heimlich Beste-

chungsgeld, damit ihr Funktionär nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. So ver-

jährte dieser Fall. Aber ich gewann den zivilen Prozess, in erster und zweiter In-

stanz. Die Richter gaben mir recht“ (Burch 20.08.2010a). 527

526 Orignal: “...con mi propio trabajo como se dice, yo también no solo converso con l os jueces de la primera instancia. ¿Me entiendes? Cuando un expediente sube en apelación, yo converso con los jueces superiores, con los vocales. Y muchas veces ya nos conocemos por el trato mismo de diario yo me voy por un expediente o por dos tres expedientes que están en su jurisdicion. Entonces me conozgo con el. Igual en la suprema también. Es que nosotros tenemos acceso directo para entrevistarnos con ellos. Entonces ya me conoce pues Burch 12.02.2011. 527 Original: “La coima, hace todo lo posible para la larga del juicio. En total este proceso se alargó más alla de que establece la ley [...] A pesar que yo estaba yendo, y yendo para tratando que lo sancionen, que condenan a esta persona, no?, pero el poder economico pudo más que la ley. [...] Sí pues el banco para no perjudiciar a su funcionario, por debajo de la coima. Entonces este caso cayó en prescripción. Pero yo gané el juicio civil, primera y segunda instancia. Los juezes me daron la razón” Burch 20.08.2010a.

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Diese Konstellation macht deutlich, dass Verfahren und deren Hinterbühnen differenziert betrachtet

werden müssen. Überall und jeden kann man in Lima nicht bestechen. So verlor der Anwalt den

strafrechtlichen Prozess gegen die Bank, gewann jedoch den zivilrechtlichen. Der Ausgangsentscheid

des Strafverfahrens kann jedoch während des Verfahrens durch monetäre Mittel beeinflusst werden.

Der strafrechtliche Entscheid wurde nicht monetär selegiert sondern verlangsamt. Zivilrechtliche

Verfahren sind schwieriger zu verlangsamen. Zivilrechtliche Verfahren werden auf der Hinterbühne

tendenziell durch Kontaktsysteme ermöglicht, wobei diese das Verfahren beschleunigen, jedoch

nicht den Ausgang des Verfahrens bestimmen. Das Rechtssystem bzw. rechtliche Verfahren sind in

vielen Belangen strukturell gleich gebaut wie politische Verfahren. Die an vielen Stellen anfallenden

Beschleunigungsgelder und/oder die Kontaktsysteme kompensieren den lokal schwachen Staat. Löh-

ne von rechtlichen Leistungsrollenträgern sind niedrig. Nur die Informalität ermöglicht die Formalität

bzw. das Zustandekommen eines Urteils. Die Entscheidbarkeit der Probleme ist somit vorhanden,

was laut Luhmann (1983, S. 11ff.) die Funktion rechtlicher Verfahren darstellt. Die Bank bezahlte eine

hohe Busse aufgrund des zivilrechtlichen Urteils. Im Strafverfahren ist das Recht jedoch in seinem

Entscheiden beeinträchtigt, weil es auch verlangsamt werden kann.528 Die Hinterbühne von Strafver-

fahren gilt es zu verdeutlichen.

Unkonventionelle Praktiken im Strafverfahren kann man nach meiner Ansicht danach unterscheiden,

ob es sich um eine rein illegale Praktik oder um Informalität mit illegalem Bezug handelt. Illegalität

kleidet sich nicht selten in Informalität, um als informale Praktik daher zu kommen. Der Anwalt er-

klärt genau, wie man jemanden mittels Bestechungsgeldes aus dem Gefängnis holt:

“Wenn sie dich jetzt in flagranti festnehmen, du begehst ein Delikt, sie senden dich

ins Gefängnis; du bist jedoch noch nicht verurteilt. Achtung, noch nicht, du bist

bloss festgenommen, wie man sagt. Aber das Gesetz ‚ermöglicht‘ es dir, eh… es gibt

verschiedene Arten, wie du herauskommst. Das was man provisorische Freiheit

nennt oder Berufung gegen das Festnehmungsmandat einlegen. Dort bei diesem

Durchgang generiert sich… die Bestechung, wie man sagt. Die Person, welche fest-

gehalten wird in der Strafanstalt oder auf Grund der Verzweiflung, eingesperrt zu

sein, möchte frei kommen, wie auch immer. So nutzt der Richter die Gelegenheit,

diese Verzweiflung der Person, um ihr entgegen zu kommen mittels eines „vorin-

haftierten Benefizes“. Klar. Im Urteil ist es das gleiche; im Urteil passiert dasselbe.

528

Siehe zur Legitimation und Funktion von Verfahren generell Luhmann 1983, 11ff. Luhmann kritisiert in die-sem Werk die klassische Konzeption des Verfahrens und ersetzt den Wahrheitsbegriff durch das Prinzip der Entscheidbarkeit.

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Wenn er möchte, spricht er ihn frei und er entkommt aus dem Gefängnis“ (Burch

12.02.2011).529

Die Beeinflussung des Strafverfahrens ist auf das Verfahren begrenzt. Sobald das Verfahren abge-

schlossen und das Urteil gefällt ist, kann der Entscheid nicht mehr geändert werden. An diesem Bei-

spiel wird folgendes ersichtlich: Wenn es sich nicht um eine Verlangsamung handelt, rekurriert der

Strafrichter auf „Sonderklauseln“ (hier auf einen „vorinhaftierten Benefiz“). Es ist dann nicht mehr

eindeutig, ob eine rechtliche Regel umgestossen wurde oder nicht. Generell werden in Lima Ge-

richtsverfahren durch informale Kontaktsysteme komplettiert – man könnte auch sagen ermöglicht.

Im Strafverfahren können Entscheide während des Verfahrens jedoch stärker beeinflusst werden als

in den restlichen Bereichen des Rechtssystems.

Das Rechtswesen wie die politische Verwaltung besitzt viele Publikumsrollenträger. Es gehen gerade-

zu Unmengen an Klagen ein; insofern wird das Recht in Lima als kausal relevant wahrgenommen.

Doch wer beruft sich wann auf die formalen Regeln? Gemäss Luhmann (1999a, 1964, S. 308) bleiben

Regeln nur lebendig, wenn sie zitiert und benutzt werden. Erörtern wir dies hinsichtlich des Arbeits-

rechts, da uns interessiert, inwiefern und wie rechtliche Kommunikation in einer bestimmten Galerie

von Gamarra bzw. im Textilsektor Konfliktmechanismen bereit stellt. Wann beschreiten in der Ga-

marra Klienten den Rechtsweg? Letztere Frage ist schnell zu beantworten: Es wird rechtlich erst

kommuniziert, wenn der Konflikt die Anschlusskommunikation zum wirtschaftlichen Patron beende-

te. Nachdem man zum Beispiel entlassen wurde. Das Recht löst insofern keine Konflikte, es bearbei-

tet diese im Sinne von Luhmann nur nachträglich. Es geht nur um den Versuch, vergangene Leistun-

gen, welche einem formell nach Gesetz zustünden, beispielsweise Sozialleistungen und Gratifikatio-

nen, im Nachhinein einzuholen.

Welche Möglichkeiten hat ein Arbeiter, seinen ehemaligen Patron anzuklagen? Der Arbeiter muss

gemäss dem Anwalt (Burch 20.08.2010a) zuerst auf das Arbeitsministerium gehen, damit der Arbeits-

inspektor die Daten der betreffenden Firma aufnimmt und sich die beiden Parteien anhört. Den Frie-

densrichter des Arbeitsamtes erachtet der Anwalt jedoch nicht als internen Bestandteil des Lösungs-

weges, um einen Konflikt zu bearbeiten. „Zuerst muss er [der Arbeiter] auf das Arbeitsministerium.

Das heisst, es ist eine Voraussetzung, damit er die Klage gerichtlich eingeben kann“ (Burch

529 Original: „Si a ti te detiene inflagranti ahora, cometes un delito, te mandan a la carcel; todavía no estás condenado, ojo, sino que simplemente estás preso, como se dice. Pero la ley te faculta, eh... hay varias maneras para que tue puedas salir. Lo que se llama libertad provisional o apelando el mandato de detención. Allí en ese transe que se produce la... la coima, como se dice. La persona como está detenida en el penal o por la deseperación de estár encerrado, quiere salir como sea, entonces el juez se aprovecha de este momento de desesperación de la persona para darle un beneficio, beneficio [predetenciario]. Claro. En la sentencia igual, en la sentencia es igual. Si quiere lo absuelve y sale libre de la carcel” Burch 12.02.2011

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20.08.2010a).530 Das Arbeitsministerium wird lediglich als notweniger Startpunkt und nicht etwa als

eine Art Friedensrichter erachtet, obwohl dem Arbeitsministerium formell diese Aufgabe zukäme.

Der erste rechtliche Schritt wird also lediglich auf eine „Voraussetzung“ reduziert. Vom Arbeitsminis-

terium erwarten die Teilnehmenden keine Lösungsvorschläge. Neben den verschiedensten schriftli-

chen Arbeitsnachweisen, Fotos und Zeugenaussagen, besteht gemäss dem Anwalt (Burch

05.03.2010) auch die Möglichkeit, das Arbeitsministerium anzurufen, um einen Inspektor zu bestel-

len, der die Gegebenheiten offiziell analysiert.531 Die geeignetere Möglichkeit, um den Rechtsweg zu

beschreiten, generiert jedoch nicht das Arbeitsministerium. Die Problemlösung ist informaler Art,

nämlich persönlich einen Anwalt zu kennen, dem man vertrauen kann: „Klar, exakt, natürlich. Nor-

malerweise kennt man sich gemäss Referenz, nicht wahr“ (Burch 20.08.2010a).532 Auf die Frage, wie

ihn seine Mandanten als Anwalt „finden“, antwortet er: “Mittels Referenzen, eine Referenz, so wie

man in der ganzen Familie fragt: ‚Wer kennt irgendeinen Anwalt, der die Materie des Arbeitsrechts

kennt? ‘, zum Beispiel. ‚Mir wurde gekündigt. ‘ Die Leute verständigen sich. In meinem Fall, so habe

ich mit diesem Herrn fünfzehn Jahre lang gearbeitet. Ich arbeitete mit ihm in einem Unternehmen,

das auch zur Gemeindeverwaltung von Lima gehört“ (Burch 20.08.2010a).533 Klienten sind also

Freunde und damit werden mehrere Probleme gelöst. Denn wieso soll ein Anwalt seinen Mandanten

jahrelang vertreten und den Fall nicht sofort aufgeben, sobald die Chancen auf ein positives Urteil

nicht so gut aussehen? Auch einflussreiche Unternehmer mit Zugang zur Weltgesellschaft vertrauen

in Lima nur Anwälten, die sie aus anderen Zusammenhängen kennen. Hier ein Dialog aus einem In-

terview dazu. Der Unternehmer erklärt, wie er gute von schlechten Anwälten selegiert: „Wir besitzen

in Lima Anwälte, in Lima. Aber es ist schwierig - eh, weil sogar auch darin muss man… - wenn du

einen guten Anwalt brauchst und nicht einen schlechten, denn es gibt auch üble Anwälte“. – For-

scherin: „Und wie findet man einen guten Anwalt?“ – „Indem man sich kultivierte Leute sucht mit

Präparation und mit Prinzipien“. – Forscherin: „Und wie nimmt man wahr, ob ein Anwalt Prinzipien

530

Original: „Breviamente tiene que concurrir al ministerio de trabajo. O sea es un requisito para que ingrese a la demanda al poder judicial” Burch 20.08.2010a. 531

Solche Inspektoren kommen insbesondere bei grossen Unternehmen zum Einsatz, wo sich Konflikte auswei-ten können, da entweder viele Arbeiter dem gleichen Patron unterstehen oder viele Arbeiter auf engem Raum die gleiche Tätigkeit ausüben und sich zu beobachten und eventuell in „Asociaciones comerciantes“ zu organi-sieren beginnen. Dies ist jedoch nur in grossen Unternehmen möglich, zumal in einer mittelständischen Firma meist nur ein Prozentsatz informal arbeitet und es schwierig ist, eine Konfliktlinie zu generieren. Die Polizei übernähme eigentlich die gleiche Funktion wie der Inspektor. Aber da die Polizei privat vom Patron bezahlt wird, eignet sie sich nicht als Inklusionsmechanismus ins Rechtssystem. Es kommt zuweilen vor, dass der Patron den Inspektor kennt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens, schickt der Patron dann alle vertragslos arbei-tenden weg, indem er ihnen zum Beispiel einen Tag frei gibt oder sie in die Toilette einsperrt, wie dies eine ehemalige Arbeiterin Burch 18.07.2011 der Gamarra berichtet. Siehe zu dieser Unternehmensstrategie auch

das Kapitel 7. Aufgrund der Möglichkeit, dass Inspektoren kommen, bilden sich also kaum Konfliktlinien.

532 Original: “Claro, exacto. Precisamente. Normalmente se conoce por referencia, no?“ Burch 20.08.2010a. 533 Original: “Por unas referencias, una referencia de que como en toda familia siempre pregunta, quién conozga algun abogado que conoce materia laboral, por ejemplo. “Me han despedido del trabajo”. Entonces estas personas eh se comunica. En este caso mio, este señor, yo he trabajado con el hace quince años. Había trabajado con el en una empresa que también es de la Municipalidad de Lima” Burch 20.08.2010a.

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besitzt?“ – „Wir kennen sie, weil wir mit ihnen studierten, aufgrund Freundschaft“ (Burch

18.11.2008).534 Kennt man den Anwalt nur unzureichend, und das kommt vor, muss der Kläger oder

die Klägerin damit rechnen, dass der Anwalt den Fall aufgibt, sobald die Gewinnchancen nicht mehr

sehr gut stehen. Sieht der Anwalt keine Gewinnchancen, wird der Fall für ihn uninteressant, da im

Arbeits- und Zivilrecht der Anwalt auf das Resultat hinarbeitet, weil im Arbeitsrecht anders als im

Zivilrecht die Klagepartei nicht im Voraus bezahlen muss: „Denn im Arbeitsrecht arbeitet man auf das

Resultat hin. […]. Anders ausgedrückt, fixieren wir ein Prozentsatz-Honorar gemäss dem, was im Ur-

teil herauskommt. […] Bei Schadenersatz-Streitigkeiten muss der Kläger ebenfalls kein Geld ausge-

ben. Wieso? Weil wir erwarten, dass das Urteil positiv ausfällt“. – Forscherin: ”Aha, deshalb verlässt

der Anwalt manchmal den Prozess, wenn er sieht, dass kaum Chancen bestehen, den Fall zu gewin-

nen; er würde nichts verdienen und gibt den Fall auf“. – „Klar, meistens passiert dies, sehr oft“ (Burch

20.08.2010a).535 Alle Verfahrenskosten übernimmt der Verlierer am Prozessende. Das heisst; erst

wenn der Fall gewonnen wurde, bekommt der Anwalt seinen Anteil, andernfalls geht er leer aus und

erhält nur sein vergleichsweise niedriges Honorar. Klienten müssen also ihren Anwalt umso mehr

beobachten je weniger sie ihn kennen. Es besteht immer eine Erwartungsunsicherheit, inwieweit das

rechtliche Interaktionssystem von Seiten des Anwalts reproduziert wird. Zudem kommt auch folgen-

der Sachverhalt vor: Der Mandant erbrachte alle Beweise, muss das Verfahren wegen Zeitmangel

beispielsweise einstellen. Für den Anwalt ist es jedoch lukrativ, den Prozess nicht einzustellen und ad

acta zu legen, sondern ihn alleine zu Ende führen und zu verschweigen, dass der Klient den Prozess

verlassen hat. So kassiert der Anwalt am Ende das dem Klienten zustehende Geld von Seiten der un-

terlegenen Partei. Dies ist gemäss Aussagen unseres Anwaltes eine ziemlich häufige Praktik (Burch

20.08.2010a). Es existieren also mehr Fälle als es eigentlich Mandanten gibt. Es spricht für sich selbst,

dass dieser Sachverhalt das Rechtssystem zusätzlich belastet und zusätzlich verlangsamt.

Das Risiko, dass das juristische Betreuungs-Interaktionssystem auseinanderfällt, besteht aber auch

auf Seite des Mandanten. Dem Mandanten ist das Risiko, dass sein Anwalt bei negativem Urteil quasi

leer ausgeht, bekannt. Anwaltshonorare sind hingegen kaum als Tarife fixiert und werden zwischen

den Parteien ausgehandelt. Der Anwalt, mit dem ich mich unterhielt, verglich sich immer wieder mit

anderen Anwälten. Dies ist erforderlich, denn bei dieser Unsicherheit kann der Verdacht aufkommen,

der Anwalt verlange ein zu hohes Honorar und stecke zudem auch einen Teil der „üblichen“ Beste-

534 Original:„Nosotros tenemos en Lima abogados, en Lima. Pero es difícil, eh, porque hasta en esto hay que ser este, si necesitarías abogados para el bien no para el mal que también hay abogados para el mal” – “¿Y cómo se encuentra un bien abogado?” – “Buscarse personas cultas y con preparación y con principios.” – “¿Y cómo se percibe si un abogado tiene principios?” - “Les conocemos porque hemos estudiado con ellos, por amistades.” Burch 18.11.2008. 535

P: „Porque en el derecho laboral se trabaja al resultado […] O sea fijamos un honorario del porcentaje de lo que va salir en la sentencia. […] En cuestiones de indemnicación normalmente tampoco gasta el demandante. Por qué? Porque estámos a la espera de que la sentencia salte favorable” – F: “Aha, por eso el abogado normalmente quita el proceso si ve que no hay oportunidad para ganar el caso, no va ganar nada y abandona”. – P: “Claro, mayormente sucede eso, en muchas veces” Burch 20.08.2010a.

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chungsgelder in die eigene Tasche. Verlangt der Anwalt aus Sicht des Mandanten also zu viel “Bear-

beitungsgelder”, die in der Verwaltung auch oft anfallen, so ist die juristische Anschlusskommunika-

tion von Seiten des Mandanten gefährdet. Ein Anwalt berichtet aus eigener Erfahrung: “Weil der

Anwalt in Peru normalerweise daran gewohnt ist, vom Mandanten Geld zu verlangen. [...] Für jedes

Schreiben, für jede Konsultation, für jede juristische Sorgfaltspflicht verlangen sie manchmal Geld“

(Burch 20.08.2010a).536 Übertreibt es ein Anwalt aus Sicht des Mandanten, so ist der Klient geneigt,

sich nach einem anderen Anwaltspatron umzusehen. Wenn Misstrauen aufkommt, dass der Anwalt

willkürlich Gelder verlangt, zerfällt das Interaktionssystem und der Klient sucht sich einen neuen An-

walt. Juristische Vertretung ist also komplex, da ein Fall mehrere Personen adressiert. Dass der Man-

dant den Anwalt wechselt, ist ein weiterer Grund, weshalb Rechtsfälle so lange dauern in Lima. Bis

sich der neue Anwalt in die ganze Materie eingearbeitet hat, vergeht viel Zeit. In diesem Verhältnis

ist jedoch eine Asymmetrie eingebaut. Für den Anwalt ist es weniger wichtig, den Klienten gut zu

kennen. Während für den Klienten der Anwalt ein „amigo“ (Freund) sein sollte, reicht dem Anwalt

bereits eine „recomendación“ (Empfehlung) völlig. Der Anwalt entscheidet dann nach wenigen Wor-

ten, ob der Empfohlene „honrado“ (ehrlich) ist oder ob er sich als Klient nicht eignet. Als Anwalt hat

man immer genügend Klienten; das sei kein Problem.537 Das quasi freundschaftliche Verhältnis zwi-

schen Anwalt und seinem Mandanten ist also eine Patronage in Eisenstadts Sinne. Sie ist jedoch sehr

spezialisiert auf ein juristisches Problem. Die Hürden zum Rechtssystem sind nicht zu unterschätzen.

Eine Verkäuferin in besagter Galerie in Gamarra erzählt, dass eine Kollegin einen Prozess verlor, weil

sie keinen Anwalt kannte und die Beschleunigungsgelder nicht entrichten konnte. Sie musste sich auf

eine obligatorische Vertretung von Seiten des Staates beschränken: “... eine Kollegin ging aus ihrem

zehnjährigen Arbeitsverhältnis und er [der Patron] wollte ihr nicht die jährlichen [Gratifikationen]

bezahlen und am Schluss verlor sie den Gerichtsprozess und der Chef gewann. Wieso? Weil du keine

Anwälte hast… [….]. Mit den Gesetzen ist es so. Wer Geld hat gewinnt und wenn nicht, vergiss es”

(Burch 16.07.2010a).538 Am Schluss schreibt die Verkäuferin das Problem jedoch nicht dem Rechts-

wesen, sondern wie üblich der Politik zu: „Es gibt keine Politik, für nichts, es gibt nur Korruption, Be-

stechungsgeld“ (Burch 16.07.2010a).539 Die Politik wird mit Korruption gleichgesetzt. Selbst die Prob-

leme des Rechtswesens werden teilweise der Politik zugeschrieben. So kommt es zum Paradox, dass

man Gesetze fordert, zugleich aber den Bereich, welcher für deren Implementierung und Umsetzung

zuständig ist, entmoralisiert und als handlungsunfähig erachtet, selbst wenn die Inklusions-

536

Original: „Porque el abogado normalmente aca en el Perú está acostumbrado pedirle dinero al demandante.[...] Por cada escrito, por cada consultorío, por cada dirigencia judicial a veces pide dinero” Burch 20.08.2010a. 537

Alle Informationen sind aus dem Interview entnommen: Burch 12.02.2011. 538

Original: “...una compañera ha salido con su trabajo de diez años y no le quiso pagar lo que es [gratificación] y al final ella perdió el juicio y el jefe ganaba. ¿Por qué? Porque tu no tienes abogados...[…] Con las leyes es así. Quien tiene dinero gana y si no, olvidate” Burch 16.07.2010a. 539

Original: „No hay politica de nada, solamente hay corrupción, coima” Burch 16.07.2010a.

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Hindernisse rechtlich, informaler Art sind. So gibt es zwar in Lima ein ausdifferenziertes Rechtssys-

tem. Wie die Politik oder die Wirtschaft funktioniert auch das formale Rechtswesen nur via informale

Hinterbühne. Der Zugang wird durch Patronage organisiert. Der Kläger muss einen Anwalt kennen,

um die Tür zum Recht zu öffnen. Und auch der Anwalt löst im Rechtssystem viele Probleme, wobei es

in diesem Feld insbesondere um Beschleunigung der Kommunikation geht, mittels Kontaktsysteme

auf der informalen Hinterbühne. Entscheidet man sich für den Rechtsweg, so wird der Arbeiter zum

Kläger und hat es dann zwar nicht mit einem vorwiegend wirtschaftlichen sondern mit einem juristi-

schen Patron zu tun. Die Inklusionsbedingungen des Rechtssystems sehen also gemäss einer Anwäl-

tin, welche das Interview mit dem Arbeitsanwalt verfolgte, folgendermassen aus: „… der Kläger muss

ein Minimum an Kenntnissen besitzen, dass er in die Justiz vertraut und die ökonomischen Möglich-

keiten haben, sowie die Zeit und die Tauglichkeit. Wenn er diese Dinge nicht besitzt, geht die Person,

deren Rechte verletzt wurden nicht [den Rechtsweg], sie zieht es vor, […] eine andere Arbeit zu su-

chen und mit Arbeiten fortzufahren (Burch 20.08.2010a).540 Die Inklusionsanforderungen von Seiten

des Rechtssystems sind also komplex. Einerseits muss der Kläger in den formalen Code recht / un-

recht vertrauen und einigermassen überzeugt sein, dass der Ausgang des Gerichtsverfahrens unge-

wiss ist, was gemäss Luhmann (1983, S. 80) der eigentlich legitimierende Faktor des Verfahrens ist.

Daneben muss der Kläger jedoch auch informale patronageartige Inklusionsbedingungen erfüllen; er

muss einem Anwalt vertrauen können und das heisst auch, er braucht viel Zeit und genügend Geld.

Der Kläger muss sich im Klaren sein, dass der Anwalt zudem Geld als Beschleunigungsmechanismen

braucht. Diesen doppelten Erwartungszusammenhängen gerecht zu werden, ist anspruchsvoll. So

meint der Anwalt auch: “So gibt es alles, manche verlassen [den Prozess], einige wenige gewinnen”

(Burch 20.08.2010a).541 Luhmann (1983) fragt sich, ob der Beschwichtigungs- und Legitimationseffekt

der Kontaktsysteme nicht zu teuer bezahlt wird. Die Frage kann man nicht auf den Preis der Hinter-

bühne übertragen. Ohne Hinterbühne gäbe es auch keine Formalität. Bezüglich des Rechtssystems

generiert dies jedoch ein legitimatorisches Problem. Die Umwelt des Rechtssystems versteht die

Hinterbühne nicht als Hinterbühne. Selbst eine Anwältin ist der Ansicht, dass das Rechtssystem und

insbesondere das Strafrecht nicht legitimiert ist: „Da du spürst, dass es Straffreiheit gibt, vertraut

niemand der Rechtspflege“ (Burch 27.11.2008). Dieser Meinung ist auch die soeben zitierte Verkäu-

ferin aus Gamarra, wonach eben Geld und Beziehungen zu Anwälten die Inklusionsbedingungen des

Prozesseses sind: „Weil du keine Anwälte hast… [….]. Mit den Gesetzen ist es so. Wer Geld hat ge-

winnt und wenn nicht, vergiss es” (Burch 16.07.2010a). Der Generalisierungsstil der Kontaktsysteme

widerspricht im Sinne Luhmanns (1983, S. 80ff) derjenigen des Rechts, weil sie das Gleichheitsprinzip

540 Original: „… el demandante tiene que tener un minimo de conocimiento que confie en [?] la justicia y tiene las posibilidades economicas y el tiempo y la aptitud. Si no tiene estas cosas, la persona agraveada no va, prefiere buscar [...]a otro trabajo y seguir trabajando” Burch 20.08.2010a. 541

Original: “Entonces hay de todo, algunos abandonan, algunos pocos ganan” Burch 20.08.2010a.

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missachten. In Lima wird jedoch mehr das Medium Geld als das Korrumpierende erachtet und weni-

ger die Patronagebeziehung per se. Die Patronagebeziehung ist jedoch sehr voraussetzungsvoll und

an Geldbesitz und Zeit gebunden. Patronagebeziehungen im Rechtsbereich absorbieren die Personen

stark, so dass sich der Kläger genau überlegen muss, ob er es sich leisten kann, rechtlich zu kommu-

nizieren oder ob er die Enttäuschung kognitiviert und sich eine nächste Arbeit sucht. Die Inklusion

via Arbeit in den Arbeitsmarkt und die gleichzeitige Inklusion als Kläger in das Rechtssystem ertragen

sich nur schlecht. Man kann schlecht an zwei Orten oft simultan physisch anwesend sein. So ist das

Rechtswesen wegen seiner Hinterbühne, die auch auf Geld basiert, in Lima schlecht legitimiert, ob-

wohl Entscheide nur im Strafrecht während des Verfahrens beeinflusst, das heisst verlangsamt wer-

den können. Das Hauptproblem bereitet das Kennen und Finanzieren eines Anwaltes.

Zu Beginn wurde erwähnt, dass Arbeiter, die in Unternehmensnetzwerke mit einem organisierten

Zentrum inkludiert sind, rechtliche Konfliktmechanismen am häufigsten verwenden. Dass sich jedoch

Konfliktlinien längerfristig stabilisieren, ist voraussetzungsvoll. Wenn jedoch ein Kollege sich einen

Anwalt beschaffen konnte, dann kommt es häufig vor, dass man den Arbeitskollegen unterstützt, sich

also für eine konkrete Person eine Konfliktlinie bildet und Zeugenaussagen oder Unterschriften getä-

tigt werden. Man schliesst sich also zusammen, trägt den Wiederspruch jedoch nicht physisch gegen

den Arbeitgeber aus. Erst wenn der „Patron“ komplett anonym ist und das ist insbesondere bei gros-

sen ausländischen Unternehmen der Fall, bilden sich langfristige Konfliktlinien, die mit Gewalt pro-

testieren, wenn sie keinen Zugang zum Rechtswesen besitzen. Dies ist insbesondere im Bereich des

Bergbaus zu beobachten und bezieht sich weniger auf Gamarra, die sich durch viele Mikro- und

Kleinunternehmen und diverse Patronagebeziehungen chararakterisiert. Ausser in der Galerie

„Párque Cánepa“ versuchte sich niemand der Klienten in rechtlicher Kommunikation. Nur in jener

Galerie, in welcher Patronage nur bedingt besteht, weichen die Teilnehmer auf mögliche rechtliche

Konfliktmechanismen aus; jedoch mit bescheidenem Erfolg, da die Verkäuferinnen keine Anwälte

kennen. Anders sieht dies In Textilorganisationen oder in einem organisierten Zentrum von einem

Unternehmensnetzwerk aus. In besagten Organisationen bilden sich dauerhafte Konfliktlinien. Dort

versuchen sich die Arbeiter als Gewerkschaft zu formalisieren.

Während das Recht in Lima erstaunlich lernfähig ist, verweigert es jedoch in gewissen Bereichen ge-

radezu zu lernen. Dies wurde am Ende von Kapitel 7 bereits thematisiert. Genau im Textilbereich

existiert ein Exportgesetz, la ley 78 auch „la ley de la industria textil para exportación no-tradicional“

genannt, welches seit seiner Kodifizierung im Jahr 1978 nicht angepasst wurde. Das Gesetz wollte

den damals nicht „traditionellen“, bzw. nicht üblichen Export von Textilien fördern. Der Gesetzgeber

tat dies, indem er die „Flexibilität“ der peruanischen Textilindustrie rechtlich stabilisierte und für

ausländische Investoren attraktiv machte, indem instabile Arbeitsbeziehungen im Sinne des „unper-

sönlichen Arbeitsvertrages“ (servicio no-personal) legalisiert wurden. Das „Gesetz 78“ (Gobierno

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central 1973, Promulgación: 21.11.1978) legalisiert quasi Informalität innerhalb von Textilorganisati-

onen. Ein Arbeiter braucht nicht fest angestellt zu werden, egal ob er vier Monate oder schon zwan-

zig Jahre in einer Textil-Firma arbeitet. Ein ähnliches Export-Gesetz gab es nur noch in Kambodscha;

doch dieses wurde mittlerweile abgeschafft. In Peru besteht es hingegen noch, obwohl der Textilsek-

tor heutzutage international etabliert und bekannt ist. Mittlerweile änderte sich die Rechtssprechung

auch bezüglich dieses Gesetzes. Wie ging dies vonstatten? Im grössten peruanischen Textilunter-

nehmen Topy Top formierten sich Konfliktlinen gegen dieses Gesetz. Die Arbeiter von Topy Top er-

suchten in einem Schreiben für humanere Arbeitsbedingungen Unterstützung vom Staat:

(06.01.2007). Sie rufen zu einem Marsch zum peruanischen Kongress auf, um gegen die Ausnützung

durch das Gesetz „Ley de Exportación No tradicional“ zu protestieren. Erfolgreich war Topitops Ge-

werkschaft, die damals vom Staat noch nicht anerkannt wurde, jedoch erst, als sie nicht auf rechtli-

che Konfliktmechanismen zurückgriff, sondern sich einen gleichgebauten Ansprechpartner suchte:

Eine anerkannte Gewerkschaft mit Sitz in Spanien, welche mit der internationalen Textilgewerkschaft

verbunden ist. Es handelte sich bei dieser spanischen Gewerkschaft laut (Saravia) um die Gruppe

Inditex, welcher auch die spanische Firma Zara angehört, die unter anderem Fabrikate der peruani-

schen Unternehmung Topi Top bezieht und international distribuiert.542 In der (grössten) peruani-

schen Textilfirma Topy Top waren die Konditionen so schlecht, dass die Geschichte der Arbeiterschaft

ein Charles Dickens als Vorlage für seinen Roman „Oliver Twist“ gedient haben könnte. Erst als Topi-

top für Zara zu produzieren begann, konnten die Arbeiter gegen ihr Unternehmen vorgehen. Zara’s

und somit auch Inditex Prestige waren in der Weltöffentlichkeit bereits angeschlagen und durfte

nicht noch mehr Schaden nehmen. Topitop produziert selber, lagert einen Teil seiner Produktion

jedoch an „informale Betriebe“ aus. Während Topitop noch direkt mit „informalen Unternehmen“

via einen Vermittler kommuniziert, hat Zara selbst nichts mit „informalen Unternehmen“ zu tun;

trägt also quasi keine Verantwortung, wenn zum Beispiel Besteuerung umgangen wird, auch braucht

die Firma sich nicht um Ansprüche der Arbeiter wie rechtlich vorgeschriebene Gratifikationen usw. zu

kümmern. Informalität ist von der Weltgesellschaft schlecht legitimiert. Deshalb muss sich vor allem

Topitop mit diesem Problem auseinandersetzen und seine Strategie, mit Informalen „formal“ zu ar-

beiten, in Vorträgen rechtfertigen. 543 In früheren Jahren verwarnte das Arbeitsministerium des Gi-

ganten Suramericano (UNASUR – Unión de Naciones Suramericanas) das Unternehmen Zara. Die

Unternehmung stellte gemäss (Saravia) in Brasilien zwecks Flexibilisierung 63 Mikro- und Kleinunter-

nehmen an, in welchen illegale Migranten aus Peru und Bolivien in schlechten Arbeitsbedingungen

Kleider herstellten. In Peru konnte Zara diese Verantwortung an Topitop weitergeben; es konnte das

Problem der Informalität quasi formal auslagern, da sich in Peru aufgrund von adaptiven kommuna-

542

Die Karriere-Geschichte des Gründers von Topitop wird in Kapitel 7 erörtert. 543

Siehe dazu die Präsentation von Topy Top.

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len Strukturen ein Unternehmensnetzwerk ausdifferenzierte, welches über ein genügend komplexes

Organisationszentrum verfügt, das selbst auch produziert. Inditex pflegte also oft die Schuld zurück

zu weisen, mit der Begründung, sie können nichts dafür, wenn ihre Geschäftspartner „informale Mik-

ro- und Kleinbetriebe“ unterbeschäftigten. In diesem Falle war jedoch die firmeninterne Belegschaft

von Topi Top betroffen, weshalb sich die Gewerkschaft von Inditex an die internationale Föderation

der Textilarbeiter wandte, mit der Aufforderung die peruanischen Arbeiter von Topitop zu unterstüt-

zen.544 Diese Föderation (Secretaría de Acción Sindical Internacional de FITEQA-CC.OO. 30 de junio de

2007) wandte sich daraufhin an den peruanischen Staat, genauer gesagt gegen das peruanische Ar-

beits- bzw. Exportgesetz aus dem Jahre 1973. So erreichten es die Arbeiter von Topitop, ihre Ge-

werkschaft beizubehalten; die Arbeitszeiten von 14 Stunden pro Tag wurden gesenkt. Dabei wurde

nicht nur Topitop, also die Organisation, sondern auch der peruanische Staat verwarnt, welcher sol-

che unstabilen schlechten Arbeitsbedingungen im Textilsektor rechtlich toleriert. Der Kongress

schaffte das Gesetz 73 im Jahre 2007 zwar nicht ab, aber ein aktuelles Urteil (Tribunal Constitucional,

vom 11.11.2011) zeigt, dass das Verfassungsgericht das Gesetz 78 anders auslegt und es somit ent-

kräftet. Einen entlassenen Arbeiter musste Topitop wieder einstellen.

Da alle formalen Einheiten sich in einer Weltgesellschaft befinden, müssen sie sich mit den globalen

Erwartungszusammenhängen auseinandersetzen. Sobald eine Einheit formal ist, werden auch die

Arbeiter von rechtlichen Konfliktmechanismen irritiert. In diesem Fall erfanden die Arbeiter eine

funktional äquivalente Lösung: Gewerkschaften. Gewerkschaften sind funktionale Äquivalente zu

Anwälten. Solche Konfliktmechanismen, die auf der Weltöffentlichkeit und den anerkannten Kon-

fliktmechanismen in anderen Regionen in der Weltgesellschaft basieren, beschränken sich auf grös-

sere Firmen, die ihr Personal bzw. einen grösseren Teil ihres Personals mindestens temporär vertrag-

lich in Kontinuität anstellen. Die ausländische Gewerkschaft fühlte sich für diesen Konflikt zuständig

und solidarisierte sich mit ihren peruanischen Kollegen, auch wenn sich keiner der Beteiligten (zuvor)

je gesehen hat. Im Gegensatz zu einem Anwalt trägt das funktionale Äquivalent der Gewerkschaft

eine weltgesellschaftliche Komponente in sich, die imstande ist, mit der Weltgesellschaft kompatible

Normen durchzusetzen. Topi Tops Gewerkschaft ist ein einzigartiges Beispiel für Perus früh-

gewerkschaftliche Arbeitersolidarität, deren weitere Erforschung interessant wäre, da Europa ähnli-

che Erwartungsstrukturen ausbildete, als in England Ende des 19. Jahrhunderts die „trade und labour

unions“ von dem damals ebenfalls schwachen englischen Staat anerkannt wurden.545

544

Siehe: Das Antowrt-Schreiben: Secretaría de Acción Sindical Internacional de FITEQA-CC.OO 20 de junio de 2007 545

Interessant beschreibt Curthoys 2004, wie Patronagebeziehungen durch die formelle Anerkennung der Ge-werkschaften in England an kausaler Bedeutung verloren. Dies geschah in England ebenfalls in einer Zeit, wel-che durch Paradigmen der freien Marktwirtschaft und eines schwachen Staates gekennzeichnet wären. Die Rezeption einer historischen Analyse bezogen auf England würde den Rahmen dieser Studie sprengen. Ge-werkschaftsbildung wäre jedoch ein nächstes interessantes Gebiet.

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Gewerkschafsbildung bedarf der strukturellen Kopplung zu Organisation. So kommt es selbst im

„Parque Cánepa“ nicht zur Bildung einer Arbeitersolidarität. Das erstaunt. Haben wir es doch mit

einer Galerie zu tun, in welcher alle die gleiche Tätigkeit als Verkäuferin ausüben. Dennoch politisie-

ren sich die einzelnen Konflikte zwischen Arbeiterinnen und Standvermieter nicht. Wieso? Da sich in

dieser Galerie auf engem Raum viele Arbeiter befinden, die organisationsübergreifend dasselbe

Problem besitzen, fragt man sich, wieso sich diese nicht zusammenschliessen. Ich wandte mich mit

dieser Frage direkt an eine Verkäuferin: „…. 30% der Besitzer halten [ihr Versprechen]... […] momen-

tan haben wir [Arbeiter] uns mit einem anderen Geschäft [zusammengeschlossen]. Wir haben uns

vereint, aber damit nur rückwärts gemacht. Es ist besser, [dies] nicht mehr [zu tun]“ (Burch

16.07.2010a).546 Es ist schwierig abzuschätzen, mit wem man sich zusammenschliessen kann und mit

wem man sich über dieses risikoreiche Thema austauschen soll. Gewerkschaften bilden sich nicht

zwischen Arbeiter, die unterschiedlichen Firmen angehören. Vieles spricht dafür, dass sich Arbeiter-

solidarität nur in organisierten Betrieben bildet, in welchen alle Personen vom gleichen Problem be-

troffen sind. Interessante Möglichkeiten bilden auch Berufsverbände, wie der Trägerverband in Ga-

marra. Rechtliche Fälle sind bis jetzt jedoch keine bekannt. Insgesamt finden sich keine Kläger aus

Gamarra. Den Rechtsweg beschritten haben nur ein paar Verkäuferinnen der Galerie „Párque Cáne-

pa“. Sie blieben jedoch erfolglos, da Beziehungen zu Anwälten, monetäre Mittel und Zeit fehlen. Da

man prinzipiell den ganzen Instanzenweg bis zum Verwaltungsgericht begehen muss, dauern Fälle

viele Jahre und kosten entsprechend viel Geld. Ausserhalb Gamarras sind dennoch wenige strukturell

ähnlich gelagerte Fälle bekannt, in welchen ein paar vereinzelte Arbeiter, die in ein wirtschaftlich

spezialisiertes „Patronage“-Verhältnis eingebunden waren, vor Gericht Recht erlangten. Interessan-

terweise fehlen hingegen Rechtsfälle, deren Klagepartei ein (wirtschaftlich spezialisierter) Patron ist,

komplett. Ein bestohlener Patron kann nicht rechtlich gegen seinen Arbeiter klagen, auch wenn die

klientelistische Kommunikation zu seinem Arbeiter auf wirtschaftliche Kommunikation spezialisiert

war und insofern das Arbeitsverhältnis bezüglich der Erwartungen einem vertraglichen Arbeitsver-

hältnis (im Sinne des „contrato no personal“) strukturell gleich gebaut ist. Aus Sicht der Arbeitgeber

ist das Recht kein Konfliktmechanismus.

Was zeigte die Analyse rechtlicher Konfliktmechanismen in besonderer Weise? Beachtenswert ist,

dass auch im Falle von Topitop wieder der ganze Instanzenzug zurückgelegt wurde. Rechtliche Kom-

munikation ist in Lima an der Spitze des Systems konzentriert. Das peruanische Urteil spricht sich

gegen Gesetz 73 aus. Die Verfassungsrichter stützen sich in ihrer Begründung auf das Arbeitsministe-

rium, welches das Gesetz als nicht zeitgemäss und als ungerecht entlarvt: „In erster Hinsicht affek-

tiert dieses Regime das Arbeitsrecht (Artikel 22 der Verfassung), indem es die Gültigkeit der eingetre-

546 Original: “... el 30% los dueños cumplen. [...] en momento estamos con una otra tienda. Nos hemos reunido pero después hecho para atrás y ya no, mejor no” Burch 16.07.2010a.

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tenen Stabilität schmälert. In zweiter Hinsicht generiert es eine Einkommensbresche zugunsten des

Personals, das auf unbestimmte Frist angestellt ist [contratado] bezüglich denjenigen, die es mit fixer

Frist sind; was den gerechten Inhalt und die ausreichende Entlohnung affektiert (Artikel 24 der Ver-

fassung). In gleicher Weise affektiert es das Recht der Freiheit der Gewerkschaftsbildung, denn die

hohe Fluktuation determiniert subsequent eine niedrige gewerkschaftliche Aktivität“ (Tribunal

Constitucional, vom 11.11.2011).547 Die wirksamsten rechtlichen Konfliktmechanismen sind auf den

obersten Instanzen, sprich beim Verwaltungsgericht angesiedelt. Es ist das Verfassungsgericht, wel-

ches quasi alle arbeitsrechtlichen Fälle entscheidet. Rechtliche Kommunikation funktioniert in Lima

also erstaunlicherweise besonders als (strukturelle) Kopplung, sprich in Verbindung zu staatlichen

Erwartenserwartungen. Es ist die Verfassung, welche das Funktionssystem der Politik mit dem Recht

verknüpft. Insofern ist die Verfassung nicht eine leere Hülle in Lima. Dies widerspricht Neves (2008)

wissenschaftlicher Argumentation, der lateinamerikanischen Verfassungen lediglich als ein semanti-

sches Artefakt bezeichnet. Im Gegensatz zu anderen Institutionen wie Vertrag, Zertifikat und Besteu-

erung, ist die peruanische Verfassung und insbesondere das damit verbundene Verfassungsgericht

jedoch erstaunlicherweise ein besonders aktiver – wenn auch überlasteter – formaler Bereich des

peruanischen Rechtswesens, das an die Erwartungszusammenhänge der Weltgesellschaft an-

schliesst. Es wäre nicht angemessen, die Institution der Verfassung als leere Hülle zu deklarieren.

Weder Verträge, Zeugnisse oder Besteuerung sondern die Idee der Verfassung scheint in Lima be-

sonders erwartbar zu sein. Insbesondere das Verfassungsgericht respektiert und beobachtet die Ver-

fassung und somit auch den Kongress und weltgesellschaftliche Erwartungen. Die unteren Instanzen

gaben hingegen nicht dem Kläger sondern der Firma Topitop recht und zwar obwohl internationale

Gewerkschaften den Kongress genau in diesem Zusammenhang verwarnten. Im Arbeitsrecht sind mir

keine Fälle bekannt, welche ein unteres Gericht zu Gunsten des Arbeitnehmers entschied. Rechtliche

Konfliktmechanismen beschränken sich also auf den oberen Teil der peruanischen Justiz, den das

Verfassungsgericht bearbeitet.548

In Lima beobachtet man zusammengefasst drei Arten von Konfliktmechanismen innerhalb von Ar-

beitsbeziehungen: Formale wie die rechtlichen (des Verfassungsgerichts) und die global-

gewerkschaftlichen und patronageartige, welche jedoch sehr beschränkt sind und vor allem normati-

ve Erwartungen des Tagesgeschäftes, zum Beispiel den Imperativ durchsetzen. Patronage wurzelt in

547

Dieser beiliegende Bericht des Arbeitsministeriums wurde verfasst vom Direktor Aurelio Soto Barba für die General-Direktion besagten Ministeriums. Original: „En primer lugar, este régimen afecta al derecho al trabajo (articulo 22 de la Constitución) al restar vigencia a la estabilidad entrada. En segundo lugar, crea una brecha de ingresos a favor del personal que es contratado a plazo indeterminado con respecto al que lo es a plazo fijo, lo que afecta al contenido equitativo y suficiente de la remuneración (articulo 24 de la Constitución). Igualmente, afecta al derecho de libertad sindical, pues la alta rotación subsecuente determina una baja actividad sindical” Tribunal Constitucional, vom 11.11.2011. 548

Das deutet darauf hin, dass „der“ Staat ein sehr heterogenes Gebilde ist, was formale und informale Erwar-tenserwartungen anbelangt.

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kommunalen Strukturen, weshalb zum Beispiel auch die „Fiesta patronal“ den Umgang mit Enttäu-

schungen kanalisiert. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Während Patronage wie

in Kapitel 8.1 Patronageartige Konfliktmechanismen erörtert, erstaunlich kognitiviert ist, konzentriert

sich normative Enttäuschungsverarbeitung in Lima vor allem auf das Verfassungsgericht. Die Verfas-

sung wird rechtlich oft verwendet. Enttäuschungen werden vor allem vom Verfassungsgericht nor-

mativiert. Die Verfassung ist also sowohl gegen innen und selbstverständlich auch gegen aussen,

bzw. in Hinsicht auf weltpolitische Ebene institutionalisiert.

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9 Verortungen einer Parallelwelt in der Theorie der Weltgesellschaft

Die Erschliessung der Kommunikation in Gamarra unter Kapitel 6 zeigte unter anderem, dass in je-

nem Textilzentrum erstens eine Parallelgesellschaft besteht, welche sich durch eine strukturelle Ent-

kopplung ihrer Funktionssysteme auszeichnet. Zweitens brachte die Analyse zum Vorschein, dass

kommunal basierte Patronage einer Kognitivierung erstaunlich standhält. Das erinnert an eine Idee

des frühen Sartre. Jean-Paul Sartre, einer der grössten Denker Frankreichs, dessen Schriften weltweit

grosse Beachtung finden, war unter anderem nicht nur Paradefigur der französischen Intellektuellen

sondern auch ein politischer Theoretiker. Sartre beschäftige sich unter anderem mit der spannenden

Frage, inwiefern eine Gesellschaft ohne Staat möglich sei.549 Sartre fragte sich, ob es eine Gesell-

schaft ohne Staat gibt, die sich nur auf Freundschaft stützt. In Kontrast zu Sartre betont North (2009,

S. 34ff.; 48ff.) die Bedeutung der formalen Regeln und die Notwendigkeit starker Institutionen. Die

empirischen Untersuchungen in Kapitel 6 erwecken stark den Anschein, dass die Migranten der Ga-

marra Sartres Weg ein Stück weit eingeschlagen haben. Insbesondere fällt auf, dass das Organisati-

onsmodell der Hazienda sich in Gamarra nicht durchsetzte.

Die Unternehmer reproduzieren ältere, indianische Dorfstrukturen, welche nie zerschlagen wurden.

Dies ist zugleich eine zeitliche Verortung des Falles. Den Zugang zur Weltwirtschaft vermögen in Ga-

marra erfolgreiche Patrons zu überbrücken. Eine Massenproduktion sucht man vergebens. Die Mik-

ro- und Kleinunternehmen, welche den Patron beliefern, stützen sich allesamt auf kommunale Struk-

turen, die eine besondere Flexibilität zulassen, welche bereits vor Jahrhunderten wenn nicht Jahrtau-

senden in den Anden vor allem im Bereich des Ackerbaus reproduziert werden. Schon in vorspani-

schen Zeiten entstanden verschiedene Konföderationen und Grossreiche, in welchen Clanvorsteher

zwischen einem Zentrum und einer Peripherie vermittelten.550 Auch in der Kolonialzeit regelten

diese vorspanischen Vermittler, „Curaca“ genannt, die Kommunikation zwischen dem spanischen in

Lima verdichteten Zentrum und dem andin geprägten Hinterland. Man nannte sie ab dann nicht

mehr „Curaca“ sondern verwendete den spanischen Begriff „Cacique“ (Kazike).551 Macera (1977)

untersuchte die Struktur der peruanischen Hazienda und kommt zum Schluss, dass die Hazienda als

wirtschaftliche Einheit mittels Hacendado an den globalen Markt anschlussfähig war, intern jedoch

hierarchisch-feudal aufgebaut war. Kontemporären Arten der Patronage, die sich im Kontext von

global operierenden Funktionssystemen in Gamarra reproduzieren, unterscheiden sich stark vom

frühmodernen Klientelismus der Haziendaorganisation. Im Unterschied zu Gamarra waren die Ha-

ziendaarbeiter nicht wirklich Selbständige, oft waren sie auch stark beim Hacendado verschuldet,

549

Siehe zu Sartre eine Edition von Priest: Sartre und Priest 2001. 550

Siehe unter anderem Burch 2010. 551

Siehe das umfangreich recherchierte Werk von Garett 2005.

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welcher ihnen Saatgut und zum Teil Maschinen zur Bestellung der eigenen Felder zur Verfügung stell-

te. Vormoderne bzw. frühmoderne Patronage war normativer gebaut als ihre kontemporären Varian-

ten. Erwartungen wurden auch bei Enttäuschungen innerhalb der Hazienda nicht fallen gelassen. Der

Hacendado sanktionierte sämtliche Diebstähle und anderweitige Regelverstösse gegen die Organisa-

tion. Auch die Todesstrafe wurde verhängt. Die Haciendas bestanden gemäss Fajardo (2009) bis in

die 60er Jahre. Vor der Agrarrevolution in den 60er Jahren waren die Klienten, das heisst, die Hazien-

daarbeiter mit ihrer ganzen Person in ein solches Verhältnis inkludiert. Die Arbeiter arbeiteten wenn

nicht lebenslänglich, dann doch für viele Jahre für den gleichen Patron und hatten keine Karriere-

möglichkeit, selbst Patron zu werden. Das Modell der Hazienda ist hierarchisch während in Gamarra

erstarrte Hierarchien fehlen. Selbst familiäre Grenzen wurden in einer Hacienda vom Patron nicht

eingehalten; die Ehefrauen der Arbeiter gehörten zuweilen auch dem Haziendabesitzer. Ebenso ge-

hörte das beste Land laut Fajardo (2009) dem Haziendapatron, den Rest durften die indigenen Arbei-

ter zur Selbstversorgung bewirtschaften. Wissensvermittlung zwischen dem Patron und seinen Klien-

ten fand nicht statt; dies wurde Peru unter anderem zum Verhängnis, als die linke Militärregierung

unter General Velasco in den 60er Jahren die Haziendas verbot, um in Lima die Industrialisierung zu

forcieren.552 Der Staat enteignete die Hacenderos; bezahlte jedoch sehr hohe Abfindungssummen,

damit diese das Geld in die Industrialisierung Limas investieren, zum Beispiel in die Textilindustrie,

welche insbesondere in den 70er Jahren durch das Gesetz „Ley de Exportaciones no Tradicionales“

gefördert wurde.553 Die vielen Arbeiter waren von einem Tag auf den anderen richtig selbständig:

Ohne Patron mit Zugang zur formalen Wirtschaft und dem technologischen Wissen konnten sie je-

doch nicht einmal geeignetes Saatgut beziehen und waren ohne Kenntnisse plötzlich völlig auf sich

gestellt. Der Staat entsandte daraufhin Agraringenieure, um die Haziendapatrons zu ersetzen und die

Arbeiter wieder zu organisieren. Wohingegen heute Patronage staatliche Institutionen erstaunlich

umfangreich ersetzen kann, war dies umgekehrt nicht möglich: Staatliche Angestellte konnten die

Rolle des Patrons nicht einnehmen. Die staatlichen Ingenieure beherrschten kein Quechua und

wohnten meistens entfernt in Lima, weshalb zu den Arbeitern kein Vertrauen hergestellt werden

konnte. Die vormoderne bzw. auch die frühmoderne diffuse Patronage, welche beinahe die gesamte

Person des Arbeiters inkludierte, konnte nicht durch eine funktional spezifiziertere Patronage, sprich

durch funktionale Rollen ersetzt werden. Das war das Ende des Modelles „Hazienda“. Wie die Arbei-

ter hatten auch viele Haciendapatrons mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wirtschaft-

lich gesprochen rutschte die ehemals sehr wohlhabende Schicht zur Mittelschicht ab; Viele von ihnen

552

Siehe zur Agrarrevolution in Peru: Fajardo 2009. Fajardo beschreibt die peruanische Agrarrevolution als gescheitert, da sich Peru lange nicht mehr selbst ernähren konnte und auf Lebensmittelimport (insbesondere von Seiten der USA) angewiesen war. Sogar die Kartoffel, die Knolle, welche ursprünglich aus Peru kam und zu hunderten verschiedensten Sorten gezüchtet wurde, musste aus Holland importiert werden. 553 Siehe zu diesem Gesetz das Kapitel 8.2.

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waren angesichts der Globalisierung nicht mehr konkurrenzfähig.554 Die Haziendaarbeiter sahen auf

dem Land keine Zukunftsperspektive mehr und zogen in den 60er Jahren zu Hunderttausenden nach

Lima, u .a. in die Gamarra.555 Bis heute reproduziert wird nicht das Modell der Hazienda sondern die

ältere segmentäre Dorfstruktur (sogenannte indianische Dorf-Ayllus und Dorfenklaven). Die heutige

„kommunale Patronage“ ist gemäss den Untersuchungen in Kapitel 6 spezifischer und richtet sich auf

funktional differenzierte Rollen aus, welche sich auf bestimmte Erwartungszuammenhänge be-

schränken. Die Patronage bzw. das Abhängigkeitsverhältnis ist für Aussenstehende praktisch un-

sichtbar. Heutige langfristige Patronagebeziehungen vermitteln im Gegensatz zu ihren Vorgängern

auf der Hazienda Wissen; erzieherische Funktionen besitzen neben wirtschaftlichen Funktionen eine

Schlüsselposition. Lediglich die Sorge um physische Sicherheit ist ähnlich. Auch der Hacendado si-

cherte sein Gut und seine Arbeiter; konnte seine Sicherheitsleute jedoch nicht formal politisch ver-

wenden, um beispielsweise Personen ausserhalb der Hazienda oder gar einen anderen Staat offiziell

anzugreifen. Innerhalb der Hazienda übernahm der Patron jedoch hoheitliche richterliche Funktio-

nen. Gamarras Patrons führen keine gerichtsähnlichen Verhöre. Das Patronageverhältnis ist insge-

samt weniger diffus. Die Rollen verschmelzen weniger.

Die Erwartungszusammenhänge von Gamarras Wirtschaftszentrum können nur systematisch reflek-

tiert auf Lima und Peru generalisiert werden. Dieses Kapitel öffnet den Blickwinkel und betrachtet

nichtkapitalistische Praktiken in umliegenden Regionen, vor allem bezüglich Limas und Peru. Ich

möchte Sartres Frage etwas gesamthafter am Beispiel der Differenzierungsvariante von Lima erör-

tern. Dennoch soll die Frage der Generalsierung auf Lima und Peru mehr ein Ausblick darstellen, dies

gilt insbesondere für die Regionen ausserhalb der Westküste Südamerikas. Die Parallelwelt in der

Weltgesellschaft ist nicht überall gleich sichtbar. Meist ist sie gut geschützt durch aufwändige, forma-

le Vorderbühnen. Dort wo die Hinterbühnen jedoch mehr oder weniger zugänglich sind, ist For-

schung aufwendig. Gemäss Señor Sánchez macht in Peru niemand eine Untersuchung über Gamarra

in der vorliegenden Art: “Quién se mete allá?! Nadie“ („Wer begibt sich schon dorthin?! Nie-

mand“).556 Er betonte zudem, man findet dort „alle Handlungsarten Perus“. Auch in den vorangegan-

gen Kapiteln wurden an verschiedenen Stellen immer wieder Bezüge zu Erwartenserwartungen aus-

serhalb Gamarras gemacht. Die Parallelgesellschaft scheint also keineswegs auf Gamarra begrenzt zu

sein. Das erste Unterkapitel bespricht die Generalisierung der Resultate auf Lima und Peru. Im zwei-

ten Kapitel möchte ich als eine Art Ausblick auf Lateinamerika und insbesondere auf Europa zu spre-

chen kommen.

554

Dies erfuhr ich in einem informalen Gespräch mit einem Sohn eines ehemaligen Hacendado. Ich komme im Verlauf des Kapitels darauf zurück. 555 Siehe zu den geschichtlichen Hintergründe der Gamarra Kapitel 5. 556

Informales Gespräch, Eintrag im Forschungstagebuch, 26. Juli 2010, Lima.

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Laut Matos Mar (2004a, S. 102) ist Lima ein Mikrokosmos für gesamt Peru. Dies sehen peruanische

Wissenschaftler, die sich mit Limas Stadtentwicklung heute befassen, noch immer so. Es ist: „… die

intense Migration, welche eine starke Verbindung mit sich brachte, welche sie [die Metropole Lima]

auf den Rest des Landes abstimmte“ (de Gonzales et al. 2011, S. 135).557 Lima ist Spiegel des nationa-

len Makrokosmos. Relevante Strukturen in Lima sind also über die Region Lima hinaus zu erwarten,

wenn auch die Verknüpfungskommunikation zwischen formalen und informalen Erwartenserwartun-

gen innerhalb von Peru in Lima am dichtesten ist. Eine Unternehmerin setzt Lima unaufgefordert mit

Peru gleich; eine Aussage, die ich in Lima oder in den Provinzen zum Beispiel auf den Märkten Cuscos

oft zu hören bekam: „Wenn man nicht in die Provinzen gehen kann, so findest du dort innerhalb

Limas alles” (Burch 18.07.2011).558 Wenn Lima für Peru repräsentativ ist, so lautet die weiterführen-

de Frage also, inwiefern die Erwartungszuammenhänge innerhalb der Gamarra auf Lima generalisiert

werden können. Auch diesbezüglich vernahm ich in den Interviews einige spontane Indizien. Auf eine

Anschlussfrage, „…also hilft dir die Kommune in der Gamarra Geschäfte zu machen?“, antwortete

eine ehemalig in der Gamarra arbeitende Unternehmerin: „Nicht nur in der Gamarra sondern in un-

terschiedlichsten Bereichen, denn die Gamarra ist [nur] ein Punkt. Wenn du eine Forschung über

verschiedene Orte machst, wirst du in der Gamarra eine hohe Diversität sehen, […] in der Gamarra

gibt es alles, formal und informal, alles“ (Burch 18.07.2011).559 Das Textilquartier „Gamarra“ ist ge-

mäss dieser Unternehmerin ebenfalls pars pro toto für Lima; man findet dort alle nichtkapitalisti-

schen Praktiken. Doch ist dem wirklich so? Es trifft sicherlich auf einen grossen Teil Limas zu. Sämtli-

che Mikro- und Kleinunternehmen kommunizieren intern wie Gamarras Mikro- und Kleinunterneh-

men mittels klientelistischer Erwartungen, die kommunale Strukturen reproduzieren. Die grosse

Mehrheit von Limas Bevölkerung arbeitet in solchen Unternehmen, insofern ist die kommunale Art

der Patronage am meisten verbreitet.560 Wir finden in Lima eine grosse Hinterbühne: „Der informale

557

Original: “... la intensa migración que trajo consigo un fuerte vínculo que la sintonizó con el resto del país” de Gonzales et al. 2011, S. 135. 558

Original: “Si uno no puede ir a provincia, aca adentro de Lima encuentras todo” Burch 18.07.2011. 559 Original: “Entonces la comunidad te ayuda en hacer empresa en Gamarra? – No solamente en Gamarra sino en diferentes porque Gamarra es [solo] un punto. Si tu haces una investigación de lugares; en Gamarra vas a ver una diversidad. [...] en Gamarra hay de todo, formal e informal, todo” Burch 18.07.2011. 560 „Kommunal“ ist wie in Kapitel 6.1.2 nicht auf biologische Verwandtschaft reduzierbar. Kommunale Struktu-

ren sind erstaunlich inklusiv und nehmen „An-Verwandte“ auf. Dass die peruanische Wirtschaft von Mikro- und Kleinunternehmen dominiert wird, sagt beispielsweise der Anthropologe Golte Burch 16.07.2011a. Aber auch die offiziellen Statistiken, belegen, dass ca. 80% der perua-nischen Wirtschaft auf besagten Organisationsformen basiert. Siehe dazu: Kapitel 5. Dabei werden Mikro- und Kleinunternehmen hinsichtlich einer politischen Praktik unterschieden. Ist das Unternehmen im staatlichen Register (RUC) inkludiert, handelt es sich laut der Statistik bereits um ein formales Unternehmen. Dass interne Praktiken jedoch informal sind, beobachtete ich im Unternehmen, in welchem ich selber mitarbeiten konnte. Siehe vor allem Kapitel 6.1.3. Die Statistiken sind also extrem oberflächlich gehalten. Siehe die Kriterien in: Registro Nacional de la Micro y Pequeña Empresa 2009. Beinahe drei Viertel aller Mikro- und Kleinunterneh-men befinden sich in der Region Lima und Callao. Es waren bereits im Jahre 2009 beinahe 820‘000 (sogenannt formale) Firmen. Ministerio de la Producción 2009.

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Teil ist sehr gross, es ist das, was sie nicht sehen“ (Burch 18.11.2008).561 Der international tätige Un-

ternehmer spricht weiter aus eigenen Erfahrungen: „Die informale Seite ist diejenige, welche die

Wirtschaft sehr sehr bewegt. Du kannst dir kaum vorstellen, die Menge Geld, welche sie bewegt“. Als

ich fragte, ob der informale Sektor mehr Geld als der formale bewegt, meinte er klar: „So ist es. [Er]

ist viel grösser. Viel grösser. Denn die grosse Mehrheit lebt vom informalen Sektor” (Burch

18.11.2008).562 Wenn man sich Limas Stadtentwicklung vergegenwärtigt, so wurden innerhalb weni-

ger Jahre aus den ehemaligen Elendsvierteln ansehnliche Stadtteile mit grossen Einkaufszentren und

beleuchteten Strassen. Dieser erstaunliche Wandel fand unglaublich schnell statt. Ludeña (2011, S.

67ff.) spricht deshalb nicht mehr von einer „métropolis-barriada“, einer „Elendsviertel-Metropole“

sondern von einer Metropole. Die vielen Megaprojekte und der Wandel sind ebenfalls in Arellanos

Büchern gut dokumentiert: Arellano beschreibt darin die damit einhergehende Diversifizierung der

Lebensstile, was er als „Modernisierung“ erachtet.563 Auch an der Universität „La Católica“ in welcher

ich mein Projekt vorstellte, interessierte man sich für meine Fallstudie. Gamarra sei für Lima reprä-

sentativer, als zum Beispiel das Quartier von Villa El Salvador, welches ein stark vor Augen der Welt-

öffentlichkeit entstandenes Quartier darstellt, da sich die Kirche unter anderem für dessen Legitimie-

rung einsetzte.

Angesichts der grossen Bedeutung kommunaler Strukturen, ist es dringend notwendig, die Hinter-

bühnen der Weltgesellschaft angemessen zu beschreiben. Angemessen meint, anhand einer Begriff-

lichkeit, welche eine globale Vergleichbarkeit ermöglicht. Das Problem der Vergleichbarkeit beginnt

bereits innerhalb Limas. Auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung Limas wie in Gamarra in Mikro-

und Kleinunternehmen tätig ist, gibt es auch grössere Organisationen, die sich durch ihre mehrfache

Anschlussfähigkeit an formale Zusammenhänge charakterisieren. Gewisse Firmen bzw. Unterneh-

mensnetzwerke inkludieren – wie es in vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurde – Patrons aus

Gamarra. Das betrifft jedoch nicht alle Unternehmen und Funktionssysteme. Wie handhaben Organi-

sationen, die mit mehreren Funktionssystemen kompatibel sind und somit mehrfach an formalen

Erwartungszusammenhängen in der Weltgesellschaft anschliessen, die Unterscheidung formal / in-

formal? Um dieser Frage nachzugehen, führte ich zusätzliche Interviews mit Personen durch, welche

ausserhalb Gamarras in grösseren formal mehrfach anschlussfähigen Unternehmen Limas arbeiten.

Die Resultate zeigen selbst bezüglich grosser Wirtschafts-Unternehmen erstaunliche bis jetzt uner-

forschte Hinterbühnen. Die Interviewten sind angestellt bei einer privaten Universität, beim Staat

und in wirtschaftlichen Unternehmen.

561

Original: „La parte informal es muy grande, es la que no ven“ Burch 18.11.2008. 562 Original: El lado informal es el que mueve mucho mucho la economía. No puedes tener una idea, la cantidad

de dinero que se mueve. [...] Así es. Mucho más grande. Mucho más grande.La gran mayoridad vive del selctor informal pues” Burch 18.11.2008. 563

Siehe: Arellano 2010. Siehe eventuell auch sein Vorgängerwerk: Arellano und Burgos 2004.

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1. Organisationsbereichsinterne „Patronage“

Das Konzept der Patronage, das aus einem Patron mit Zugang zu einem Zentrum und einem Klient

besteht, ist vielfältig. So erzählt Juana Bustamante,564 eine Angestellte eines Wirtschaftsunterneh-

mens in Lima, dass es selbst bei grösseren Firmen, die oftmals international tätig sind, intern nicht

längere Arbeitsverträge wie in der Galerie von Párque Cánepa gibt, das heisst, drei Monate: „Norma-

lerweise sind die Verträge für drei Monate. Nicht mehr. Sie erneuern ihn dir; alle drei Monate erneu-

ern sie ihn dir. Sollte es vorkommen, dass er [der neue Vertrag] ein Jahr dauert; dann ist dies die Un-

ternehmung, die dich fest angestellt.“ (Burch 17.07.2011).565 Wie in der Galerie „Cánepa“ in der Ga-

marra findet man also in Lima selbst in Grossunternehmen hauptsächlich Kurzverträge von wenigen

Monaten. Selten gibt es einjährige Verträge, wobei es sich dann bereits um eine Festanstellung han-

delt. Der einzige Unterschied: Im Gegensatz zur Galerie „Párque Cánepa“ in der Gamarra wird der

Arbeitsvertrag einige Male kontinuierlich erneuert, Grossunternehmen können sich nicht wie die

Verkäufer der Gamarra vor Besteuerung verbergen und ihre Angestellten nur in Spitzenzeiten über

Juli und vor Weihnachten vertraglich anstellten. Die Angestellten erhalten ihren Lohn schriftlich be-

legt mittels „recibo por honorarios“. Dennoch generiert der Kurzvertrag kaum Erwartungssicherheit,

man ist sich nie sicher, inwiefern der Vertrag erneuert wird. So finden sich also kaum Arbeitsverträge

über mehr als drei Monate, obwohl das Gesetz (ausser im exportierenden Textilsektor) vorschreibt,

nach vier Jahren Anstellung statt der dreimonatigen Kurzverträge feste Verträge zu benutzen.566

Kurzverträge lösen ein Problem, nämlich Personal auch in grösseren Firmen flexibel anstellen zu kön-

nen. Es kommt jedoch eine weitere Besonderheit – man muss schon fast sagen „Kuriosität“ - hinzu:

Wenn ein Bereichsleiter einer der Firma wechselt oder entlassen wird, so muss die gesamte ihm un-

tergeordnete Belegschaft ebenfalls die Firma verlassen und zwar vom Assistenten bis zum niedrigs-

ten Mitarbeiter. Im Bereich des Verkaufs sind dies beispielsweise die einzelnen Verkäufer: „Norma-

lerweise, wenn eine neue Geschäftsführung eintritt – und das pflegt man in allen Unternehmen zu

machen – dass, wenn die neue Leitung eintritt, tritt sie mit ihren eigenen Leuten ein“ (Burch

564 Juana Bustamante ist 28 Jahre alt. Sie arbeitete über mehrere Jahre hinweg in der Gamarra. Ihre Familie

blieb in Cusco. Sie konnte jedoch keine Tienda eröffnen, obwohl sie gerne ein eigenes Kleider-Geschäft gehabt hätte. Ihr fehlte das Startkapital. Die Familie war uninteressiert; sie hatte keinen Ehepartner und brauchte das Geld für laufende Kosten. Zudem wollte sie nebenbei studieren. Sie arbeitet als Assistentin eines Verkaufschefs eines Import-Unternehmens in Lima. Ihre Aufgabe bestand in der Hilfe bei der Koordination des Verkaufs. Sie schickt die „chicos“ (Warenlieferer) in verschiedenste Teile des Landes und kontrollierte deren Verkäufe (Ein-trag ins Forschungstagebuch, 19. August 2010). 565

Original: “Normalmente los contratos son tres meses. Nada más. Y te renuevan, cada tres meses de dan renovando. Si llegará pasar un año, si quiera la empresa de hace estable” Burch 17.07.2011. 566

Die grossen Firmen im Textilsektor besetzen eine Sonderstellung aufgrund des Rechts. Das Gesetz „La ley de exportaciones no tradicionales“ legalisiert instabile Arbeitsbeziehungen und gestattet es, dass selbst Mitarbei-ter, die bereits zwanzig Jahre in einer Firma tätig sind, nicht fest sondern mittels dreimonatigen Kurzverträgen angestellt werden. Umso wichtiger ist der Blick auf grössere Organisationen mit Anschluss an die Formalität in anderen Bereichen, um Aussagen über gesamt Lima, Peru machen zu können.

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17.07.2011).567 Zwischen dem Bereichsleiter und seinen untergeordneten Mitarbeitern besteht eine

funktional spezialisierte Patronagebeziehung. Juana Bustamante nennt diesen an den Leiter gebun-

denen Wechsel „monopolio“; alle Mitarbeiter kennen sich innerhalb eines Bereichs. Insbesondere

haben sie nicht schon für den früheren Bereichs-Chef gearbeitet. Dieses Erwarungs-Set “bereichsin-

terner Patronage” ist weit über die Region Lima, Peru hinaus institutionalisiert. Es stellt zudem ein

Mechanismus dar, um Firmen international zu übernehmen:

“In allen Unternehmen, immer wenn es einen Wechsel in der Organisation gibt,

treten die Leute mit ihren neuen Leute hinzu, so wie es jetzt auch in der Firma

“Winter” [¿] geschieht. Es ist eine Süssigkeiten-Firma. In diesem Falle exportiert

und importiert sie [Süssigkeiten]. Aber da in die Unternehmung “Winter” eine neue

Leitung eintrat, eine kolumbianische – schau, um über Grossunternehmen zu spre-

chen - also eine kolumbianische Leitung - treten diese Leute mit ihrem Personal

aus Kolumbien in die Firma „Winter“ ein. Und nach und nach begann sie das Perso-

nal und die Leute aus Kolumbien zu holen; jetzt arbeiten sie im Administrations-

Bereich in der Unternehmung „Winter“. Es ist somit ein ‚Monopol‘, nicht wahr?“

(Burch 17.07.2011).568

Firmen bzw. deren Bereiche bestehen aus Netzwerken, die verschiedene spezialisierte Patronage-

verhältnisse inkludieren, deren Leistungen sich vor allem an der Organisationsgrenze, das heisst, den

organisationsinternen Entscheidungen orientieren. Es ist deshalb keine Frage, ob Organisation in

Lima als System ausdifferenziert ist. Das ist selbstverständlich der Fall; aber selbst grosse Organisati-

onen operieren intern völlig unterschiedlich als dies auf der Vorderbühne sichtbar ist. Bensman und

Gerver (1963) beschreiben informale Gruppen als wichtigen Bestandteil einer Organisation, doch in

Lima sind solche informalen Erwartungszusammenhänge unabdingbar. Organisationsstrukturen wer-

den in Lima generell durch spezialisierte Patronage überlagert. Organisationen zählen zu den Eigen-

strukturen der Weltgesellschaft, welche im Sinne von Stichweh (2006a) die Diversität innerhalb der

Weltgesellschaft nicht abbauen sondern verstärken, wenn man die Sicht nicht nur auf die formale

Vorderbühne der Organisation beschränkt. Die Informalität bezieht sich auf die Formalität. Eine Vor-

derbühne bzw. ein global legitimer Akteur-Status ist äusserst wichtig für den Unternehmenserfolg

von Grossfirmen. Grossfirmen sind im Stande, ihre Hinterbühnen besonders effizient gegen externe

567

Original: „Normalmente cuando ingresa una nueva gerencia y eso se suele hacer en todas las empresas, que al ingresar la nueva gerencia, ingresa con su gente“ Burch 17.07.2011. 568 Original: “En todas las empresas que siempre cuando hay un cambio de organizacion, la gente ingresa con su nueva gente como estaba pasando en la empresa Winter [¿¿], es una empresa de golosinas, en este caso exporta e importa pero como ya en ese caso ha ingresado una nueva gerencia pero colombiana, mira a ir a mayores, colombiana, esta gente en este caso ha entrado su personal de colombia a la empresa peruana Winter, y poco a poco empezaba a sacar el personal y gente de colombia ahora está trabajando en la parte administrativa en la empresa Winter. Es así un monopolio, no?” Burch 17.07.2011.

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Beobachter abzudichten. Meistens besitzen sie firmeninterne Korruptionsbüros, welche standardi-

sierte Antworten zum Beispiel bezüglich der Anstellung von Personal vorgefertigt haben. Grossfirmen

müssen ihre Hinterbühnen verbergen, da mächtige Akteure solche nichtkapitalistischen Erwartens-

erwartungen schnell als moralisch verwerflich bzw. als korrupt degradieren. Die Weltgesellschaft

versucht in dieser Hinsicht ihre eigene Diversität zu verbergen. Einmal als korrupt deklarierte Firmen

können ziemlich schnell ihre formale Anschlussfähigkeit an die (formale) Weltwirtschaft verlieren.

Das ist sicherlich ein Grund, weshalb die Hinterbühnen von Grossfirmen zu den am schlechtesten

untersuchten Institutionen überhaupt gehören. Ich möchte meine Ausführungen diesbezüglich noch

etwas vertiefen. Innerhalb von grösseren Organisationen regeln in Lima diverse Patronagebeziehun-

gen zwischen Chefs und Mitarbeitern bzw. Untergeordneten die Organisationskommunikation. Die

Organisationsstruktur begrenzt die Patronagebeziehungen auf einzelne Funktionsbereiche. Man

könnte auch sagen, es handle sich um eine hybride Art von „organisierter bzw. organisationsbe-

reichsinterner Patronage“. Ein Mitarbeiter muss sowohl die Entscheide der Organisation beobachten

als auch den informalen organisationsinternen Anforderungen nachkommen. Diese Beobachtung

schliesst prinzipiell an Studien der Managementwissenschaften der 70er und 80er Jahren an. Diese

Studien interessierten sich für unterschiedliche Produktionsmodelle. Man wunderte sich damals,

wieso die amerikanische Massenproduktion in Japan in der Nachkriegszeit nicht funktionierte. Boyer

(1998) untersucht anhand des Konzeptes der Hybridisierung den globalen Transfer von „Best Practi-

ces“ innerhalb von Organisationen. Boyers Herangehensweise eröffnete Möglichkeiten des Ver-

gleichs, um insbesondere organisationsinterne Unterschiede zu notieren. Hybridisierung entsteht

innerhalb von Organisationen wegen der Unmöglichkeit, ein Produktionsmodell strikt identisch in

andere Kontexte zu kopieren.569 Die Studie beobachten jedoch zu wenig, dass gewisse Unterneh-

menspraktiken in der Weltgesellschaft schlecht legitimiert sind und deshalb auf die Hinterbühne

verbannt werden. Auch werden weitere gesellschaftliche Erwartungszuammenhänge vernachlässigt,

obwohl die Autoren betonen, dass Organisationen in Kontexte eingebunden sind; die Differenzie-

rungsvariante bzw. die umliegende Umwelt der Organisation wird jedoch unzureichend beobachtet.

Dennoch machen Boyers Studien auf die Diversität von formalen Organisationserwartungen auf-

merksam. Um die Diversität umfassend zu verstehen, dürfen jedoch informale Erwartungszuammen-

hänge nicht ausgeblendet werden. Wieso handelt es sich bei dieser Patronage innerhalb von perua-

569 Boyer 1998 beobachten in der Autoindustrie, dass amerikanische Produktionspraktiken in Japan in der Nachkriegszeit nicht funktionieren. Statt der Massenproduktion findet man in Japan die „Lean Production“. So sind es in Japan kleine Produktionsgruppen, die mit reduziertem Personal die Qualitätskontrolle sofort und nicht erst am Ende des Produktionsprozesses feststellen. Die Studie geht jedoch nicht genauer auf die Unter-schiede ein; macht also keinen Bezug zwischen Erwartungen die in der Differenzierungsvariante bestehen. Die Studie von Boyer et al. passt jedoch zu Stichwehs Argument, dass Organisation eine Eigenstruktur der Weltge-sellschaft darstellt, die diversifizierend wirkt. Es geht in der Weltgesellschaft auch um organisationsinterne Praktiken, die nachträglich als Modelle anerkannt und über Beratung diffundieren. Jedoch nur in der Form von Hybriden und niemals eins zu eins. Siehe: Boyer 1998.

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nischen Grossunternehmen um eine vordergründig nicht so einfach legitimierbare Praktik? Die Pat-

ronage ersetzt im Gegensatz zur kommunalen Patronage Zertifikate und Verträge zwar nicht, be-

schreibt aber einen informalen Umgang mit diesem. Im Falle von Grossunternehmen ermöglicht die

Patronage den Arbeitsvertrag erst. Diese Ermöglichung wird auf Ebene der Weltgesellschaft jedoch

nicht sichtbar, da sich solche Praktiken hinter Vorderbühnen verbergen. Der Arbeitsvertrag ist jedoch

an funktionierende, organisationsbereichsinterne Patronage innerhalb einer Organisation gebunden.

Der Bereichsvorsteher ist im Gegensatz zum schweizerischen Organisationsmodell Vermittler zum

Firmenbesitzer oder CEO. Entfällt der Vermittler, so werden auch seine Unterstellten nutzlos und der

Kurzvertrag wird höchstwahrscheinlich nicht mehr verlängert. Der Vertrag ist in Lima an die Person

des Bereichsleiters gekoppelt.

In vorherigen Aussagen, erzählte die Interviewte zu Beginn, dass es normalerweise der Fall sei, dass

bei einem Abgang des Bereichsleiters dessen ganze Belegschaft ebenfalls die Firma verlässt. Was ist

also die Ausnahme dieser Informalität? In ihrem Fall gab es ein Problem, das jedoch nicht wirklich

gelöst werden konnte und zeigt, wie wichtig erfolgreiche Patronage selbst in Limas Grossunterneh-

men ist. Sie erzählt weshalb ihr gekündigt wurde:

„In diesem Fall musste der Leiter, der Verkaufschef war, seinen Arbeiter, seinen As-

sistenten mitbringen. Aber da es gerade keinen gab, gaben sie mir eine Alternative,

drei weitere Monate zu bleiben, bis sie in diesem Fall einen neuen Assistenten fan-

den. […] Es vergingen drei Monate, das Resultat war sehr gut, die Verkäufe gingen

sehr gut, sie erneuerten mir sechs Monate. […] Das Problem, wieso sie mich her-

ausstellten, war weil mein Verkaufschef leider nicht Einhalt gebot, er war nicht im

Büro; er machte nicht die Arbeit, die er tun sollte. Und das veranlasste, dass sein

Personal, alle seine Verkäufer, der ganze Verkaufs-Bereich sich an mich wandte.

Und das akkommodiert jeden, weil der dachte, dass ich vielleicht gegen ihn kämp-

fe, denn vielleicht möchte ich seinen besseren Posten übernehmen oder so. Das

besteht immer, die Angst von jeder Person, seinen Job zu verlieren. So kam es, dass

sie mich wegen persönlichen Sachen hinausstellten“ (Burch 17.07.2011).570

570

Original: „En este caso el gerente trajó a su trabajador que era el jefe de ventas y tenía que traer a su asistente. Pero como no lo tenían a la mano, me dieron una alternativa de quedarme tres meses, hasta que consiguieran en este caso una nueva asistente. [...]Pasaron tres meses, resultó muy bien, las ventas iban muy bien, me renovaron seís meses. [...] El problema por la cual a mí me sacaron fue porque lamentablemente mi jefe de ventas en este caso no paraba, no estaba en la ofician, no hicia el trabajo que debería hacer. Y eso hacia que a su personal, todos sus vendedores, toda la parte de ventas, apudieran a mí. Y eso a cualquiera le incomodo porque el pensó que de repente yo iba hacer lucharlo, porque de repente yo iba a tomar su puesto adelante o algo. Esto es siempre, la angustia de cualquier persona de perder el trabajo. Hizo que por cosa personales me sacaron a mí” Burch 17.07.2011.

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Man darf als Mitarbeiter dem Patron bzw. dem Bereichsleiter in einem Grossunternehmen keine

Konkurrenz machen; Patronage behindert innerhalb von grösseren Firmen mit Zugang zur Formalität

Konkurrenz und ist so etwas wie ein funktionales Äquivalent zum mangelnden rechtlichen Konkur-

renzverbot. Dies steht ganz im Gegensatz zur Patronage, welche sich auf kommunale Erwartungen

stützt. Zwischen den Mikro- und Kleinunternehmen der Gamarra sind Konkurrenzbeziehungen allge-

genwärtig mit zum Teil vernichtenden Auswirkungen, wenn ein Klient seinem Patron die Kundenda-

ten stielt und sich selbständig macht, ohne dass diese Konkurrenz irgendwie eingeschränkt werden

kann. Es ist in der vorliegenden Differenzierungsvariante für Mitglieder einer Grossorganisation abso-

lut zentral, den eigenen Bereichs-Chef zu unterstützen. Wird nämlich dem Chef oder der Chefin ge-

kündigt, muss die ganze Abteilung das Unternehmen verlassen. Dies wusste auch der Leiter der In-

terviewten. Er konnte davon profitieren: Erstens blieb er der Arbeit fern, weshalb sie als seine Assis-

tentin seine Arbeit erledigen musste und zweitens konnte er ihr kündigen und ihr vorwerfen, sie tre-

te zu ihm in Konkurrenz, da sie sich in seine Arbeit einmischte. Die Mitarbeiter bemühen sich, solche

Konkurrenzverhältnisse zu vermeiden.

Gemäss einer international operierenden Buchhändlerin (Burch 15.11.2008) ist es in Lima ganz nor-

mal, nicht nur Freunde und Bekannte, sondern auch den Vorgesetzten und Personen, die in Organisa-

tionen eine wichtige Position besitzen, an Feiertagen zu beschenken: „Und es gibt sogar Läden, die

sich spezialisieren, diese Art von Geschenk herzurichten“. Man beschenkt also neben Freunden und

unbekannten Leistungsrollenträgern auch Vorgesetzte wiederholt. Dass der Vorgesetzte, bzw. der

Dorfvorsteher vor der Ankunft der Europäer gewisse Extra-Leistungen erhielt (Mink’a) war ebenso

normal, wie heute Vorgesetzte kleine Geschenke erhalten, um sie, etwas übertrieben formuliert,

ähnlich einem Schutzpatron gütig zu stimmen.571 In diesem Sinne besitzen professionelle Leistungs-

rollenträger ihre Stelle inoffiziell, so wie dies laut Scott (1969) auch bei Beamten im viktorianischen

England der Fall war, jedoch mit dem Unterschied, dass dies der Normalität entsprach und sich die

Kommunikation nicht in Netzwerken oder informalen Semantiken abzusichern brauchte.572 Ich kom-

me auf diese Thematik im Verlaufe dieses Kapitels im Zusammenhang von Profession nochmals zu

sprechen.

Besagte Patronage erschwert es, implizites Wissen innerhalb der Organisation zu behalten. Die ganze

Belegschaft einer Abteilung wechselt gleichzeigt. Die Identität der Organisation ist jedoch nicht be-

troffen. Mit jedem Wechsel verschwindet auch Wissen, falls es nicht explizit gemacht wurde. Dies ist

ein Preis der Patronage, welcher jedoch ermöglicht, dass in Lima Organisationen bestehen können

und als solche Einheiten global als legitime Akteure beobachtet werden. Besonders betroffen ist ge-

mäss Bustamante (Burch 17.07.2011) der Verkaufsbereich, denn der Kundenbezug sei das „Herz“

571

Der indianische Quechuabegriff „Mink’a“ bezeichnet einen asymmetrischen Tausch zwischen mindestens zwei rangungleichen Personen. Siehe: Burch 2010. 572

Siehe ferner auch: Huber 2008.

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einer jeden Firma. Der Wechsel findet deshalb am häufigsten im Verkaufsbereich statt. Ein anderer

Preis, den jede Organisation eingeht in Lima, sind Irritationen durch persönliche Konflikte. Bustaman-

te verlor deswegen ihren Job; solche diffusen Konflikte, die Organisationsgrenzen überschreiten fin-

det sie nicht legitim. Eine Entlassung “por cosas personales” findet sie ungerecht und nicht legitim.

Ganz im Gegensatz dazu, ist es erstaunlicherweise jedoch normal, die ganze Belegschaft zu entlassen,

wenn der Bereichsleiter die Unternehmung verlässt. Dass somit instabile Arbeitsbeziehungen ge-

pflegt werden, erachtet sie als völlig normal und legitim, obwohl dies Erwartungsunsicherheit hervor-

ruft. Diese Konstellation erinnert an das Beispiel aus Gamarra. Legt ein Arbeiter plötzlich die Arbeit

nieder, wird dies stoisch erlebt. Instabilität generiert Probleme aus unserer Sicht, aus Perspektive der

Teilnehmenden schafft es jedoch Möglichkeiten. Der Arbeiter könnte mit neuen Kontakten zurück-

kommen. Die Dauer von bereichsinterner Patronage innerhalb von grossen Organisationen ist zuwei-

len an die Organisation gekoppelt; so ist es nicht sicher, ob im Falle einer Kündigung der Bereichs-

Patron mit allen Klienten in der nächsten Firma weiterarbeitet: In solchen Organisationen besteht

eine dauernde „ angustia de cualquier persona de perder el trabajo“ (Angst den Job zu verlieren), wie

Juana Bustamante konstatierte. Im Gegensatz zu Gamarra kommt das Risiko „von oben“. Während in

Gamarra die Arbeiter die Unternehmung plötzlich verlassen, sind es in diesem Zusammenhang die

Chefs. Doch diese Angst ist gemäss Ansichten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen normal. Es sieht

nicht danach aus, als würde die „organisationsbereichsinternen Patrons“ in Lima, Peru bald ver-

schwinden.573 Es ist dies gemäss der Teilnehmenden sogar die einzige Methode, eine Firma aus dem

Sumpf zu holen: “Wenn die Leitung in einem Moment eintritt, in welchem es der Firma nicht gut geht

und sie diesen Wechsel macht und sich mit diesem Wechsel erholt, so ist es ein positiver Wechsel.

Aber wenn die Leitung eintritt und die andere Leitung sehr gut war und die Firma mit diesen neuen

Leuten einen Rückfall erleidet, ist es ein negativer Wechsel. Das ist das Spiel, in welches sich alle Un-

ternehmer begeben“ (Burch 17.07.2011).574 Sie hatte das Glück, auf eine reorganisierende Organisa-

tion zu stossen und fand durch ihre guten Qualifikationen schnell eine Arbeit; im Gegensatz zu staat-

lichen Organisationen seien die Grossunternehmen offener zugänglich und berücksichtigen Zertifika-

te stärker. Aber wie gewohnt, besteht auch in diesem neuen Unternehmen, ein internationales

Grossunternehmen, diese funktional klar begrenzte „organisationsbereichsinterne Patronage: „So-

eben fand ich bei einer Versicherung Arbeit, sie heisst „xy“ [anonymisiert…] Und das ist eine sehr

grosse Unternehmung, die sowohl ein peruanisches als auch ein ausländisches Konsortium besitzt.

573

Die misslungene Agrarrevolution der 60er Jahre zeigte bereits, dass Patrons eben nicht durch unpersönliche Chefs ersetzt werden können. Der Versuch scheiterte und Peru schnitt sich seine gesamte Nahrungsproduktion ab. Siehe die Einleitung zu diesem Teil: Kapitel 9. 574 Original: “Si la gerencia entra, en un momento donde la empresa no está muy bien, y hace este cambio, y en ese cambio levanta la empresa, es un cambio positivo. Pero si la gerencia entra y la gerencia estaba muy bien y que la empresa con esta nueva gerencia recae, es un cambio negativo. Eso es el juego a que todos empresarios se lanzan” Burch 17.07.2011.

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Hier ebenfalls, im Bereich, in welchem ich mich befinde, in der Beratungsstelle [asesoría], wurde

ebenfalls die Leitung gewechselt. Und in diesem Fall – ich sage, das was ich sehe, nicht wahr? – kam

eine neue Leitung und es brauchte eine neue Chefin…. dasselbe, was mir in der anderen Firma pas-

sierte. Für den nächsten Monat, für den Monat August, wird es einen neuen Plan und Arbeitssystem

geben. Sogar das wechselt“ (Burch 17.07.2011).575 Ein neuer Bereichsleiter wechselt auch die Pro-

gramme, in welche frühere Mitarbeiter eventuell nicht mehr passen würden. Auch um Karriere zu

machen sind diese „Patrons“, wie auch in anderen Regionen in der Weltgesellschaft üblich, unum-

gänglich: “La empresa donde estoy ahora hay mucha gente que quieren subir. Y para eso también

hay que tener vara” (In der Unternehmung, in welcher ich jetzt bin, gibt es viele Personen, die auf-

steigen möchten. Und dazu muss man auch eine „vara“ besitzen) (Burch 17.07.2011).576 Der Aus-

druck “Vara” ist eine peruanische Semantik, welche vor allem einen Patron bezeichnet, der oder die

einem hilft, einen Karriereschritt nach oben zu tätigen oder sonst ein formelles Problem schneller auf

der Hinterbühne zu lösen. Eine Anwältin betont, dass Stellen allgemein vor allem via „Vara“ erreich-

bar sind: Hier in Peru spricht man viel vom Begriff „la vara“ [wörtlich: die Fee]. „Vara“ ist so wie wenn

man sagt, dass du jemanden hast in der Institution, welcher dir die Hand reichen kann [dar la mano]

oder dir hilft, dir ein Bittgesuch zu verfassen, eine Anforderung zu erleichtern, damit du den Wett-

bewerb gewinnst. Dies kann für eine Arbeit oder für eine andere Sache sein; das ist die ‚vara‘“ (Burch

27.11.2008).577 Staatliche Organisationen bzw. Institutionen sind nur über eine „vara“ bzw. Netzwer-

ke und Patronage zugänglich; Zertifikate sind Voraussetzung, jedoch tritt die Aussage bzw. die Note

des Zertifikates in den Hintergrund. Innerhalb des Staates gelten besondere Arbeitsverträge: CAS-

Arbeitsverträge (Contrato administrativo de Servicios).578 Die Arbeitsverträge sind meist zeitlich un-

begrenzt (tiempo indefinido) und ziemlich gut bezahlt, auch wenn man nicht immer Anspruch auf

bezahlte Ferien, eine Altersrente oder Gratifikationen hat. Zudem sind die Verträge an Amtsperioden

575

Original: „Ahora encontré trabajo en una aseguradora, se llama xy. [...] Y eso es una empresa muy grande que tiene un corsorcio tanto peruano y extranjero. Aca también, en la área donde yo me encuentro, lo que es asesoría, también se ha dado el cambio de gerencia. Y en este caso – yo digo que veo, no? - una nueva gerencia entró y salió una nueva jefe... lo mismo lo que me pasó en la otra empresa. Para el próximo mes, para el mes de agosto va haber otro nuevo plan y sistema de trabajo. Hasto eso cambia” Burch 17.07.2011. 576

Original: “La empresa donde estoy ahora hay mucha gente que quieren subir. Y para eso también hay que tener vara” Burch 17.07.2011. 577 Original: „Cuando una persona decide postular a un trabajo, uno postula con todos los requerimientos especiales que se requiere para postular con todo el perfil necesario, todos los requisitos y existen otras personas que no cumplen todo el requerimiento para postular al trabajo. Pero por el hecho de tener una influyencia dentro de la institución que está convocando el puesto laboral o por una conversación interna, íntima o de amistad, una conversación familiar o simplemente por una cuestión económica acceden al puesto laboral. Lo que genera perjuicio al que cumplió con lo exigido y el examen que se haya rendido no importa, igual, lo van hacer ganar, o acceden sin cumplir los requisitos o no rinden el examen [...] Acá en Perú se habla mucho del termino “La vara”. “vara” es como decir que tienes a alguién allí adentro en la institución que te puede dar la mano o te ayuda para facilitarte un pedido, un requirimiento o favorecerte ilicitamente para que ganes un concurso. Puede ser para un trabajo u otro, ésta es la vara” Burch 27.11.2008. 578

Siehe zum “Administrativen Vertrag von Dienstleistungen” (CAS) die Bedingungen und Definitionen unter: Presidencia del Consejo de Ministros 2012.

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gekoppelt. Aber wie in den Wirtschaftsgrossunternehmen gelten auch hier die Regeln der „organisa-

tionsbereichsinternen Patronage“: Wenn der Bereichsleiter geht, muss auch das ganze ihm unter-

stellte Personal die Institution verlassen. Für universitäre Organisationen gelten ähnliche Regeln wie

in staatlichen.579 Die Generalisierung auf Organisationen des Rechtswesens wurde bereits in Kapitel

8.2 dargelegt und zeigt, dass juristische Professionen ebenfalls auf Patronage basieren. Es ist sogar

die Grundvoraussetzung, um Zutritt zum Recht zu erlangen. Überall, das heisst, in allen Funktionsbe-

reichen vermutet man in Lima, Peru also patronageartige Erwartungszuammenhänge. Portocarrero

(2010, S. 14) betont zur Allgegenwärtigkeit von Patronage in Lima, Peru: “Los patrones ya no existen,

pero la imagen del patrón pervive con una fuerza extraordinaria" (Die Patrons existieren nicht mehr,

aber das Bild [imagen] des Patrons überdauert mit einer extraordinären Kraft). Das Bild des vormo-

dernen Patrons und des Klienten ist in der Kommunikation stets präsent, obwohl Patronage nicht

mehr in ihrer vormodernen, stark normativen und funktional diffusen Art besteht. Man hat es in Peru

mit neuen Varianten von Patronage zu tun. Damit tun sich insbesondere politische Leistungs- und

Publikumsrollenträger schwer, keiner vertraut der anderen Rollenträgergruppe professionell zu sein

(vgl. Kap. 4.2). Zudem wird in dieser Profession gerade Unabhängigkeit und Uneigennützigkeit vor-

ausgesetzt wird, was mit Patronage nicht vereinbar ist und schnell als korrupt gilt. Durch Portocarre-

ros Aussage wird gut ersichtlich, dass Institutionen nicht auf einfachen Erwartungen basieren, son-

dern auf Erwartenserwartungen, also auf Absichtsunterstellung und Motivzuschreibung. Motivzu-

schreibungen ändern nicht so schnell; nur innerhalb kommunaler Patronage scheinen klientelistische

Motive zu funktionieren und legitim zu sein. Nicht nur die Politik sondern auch die nationale Wirt-

schaft wird stark begrenzt von formalen Erwartungen von Seite der Vorderbühne. Ich komme am

Ende dieser Arbeit darauf zurück.

2. Organisationsübergreifende Patronage innerhalb von einzelnen Funktionssystemen

Ich habe in diesem Zusammenhang noch nicht von Organisationen in den Bereichen Erziehung und

Gesundheit gesprochen. In diesen Organisationszusammenhängen – ich spreche von grossen Organi-

sationen mit Zugang zur Formalität – treten patronageartige Erwartungszuammenhänge besonders

deutlich hervor. Patronage löst in diesen Organisationstypen nicht nur innerorganisational das Prob-

lem der Karrieresukzession, sondern leistet dies auch zwischen verschiedenen Organisationen, die

zum gleichen Funktionsbereich gehören. Eine aus der peruanischen Provinz Abancay nach Lima

migrierte Anwältin berichtet über Karrieresukzession im Erziehungssystem. Ihr Beispiel bezieht sich

auf Zentrum / Peripherie-Unterschiede innerhalb der Provinz Abancay mit gleichnamiger Provinz-

hauptstadt. Dieselbe nichtkapitalistische Praktik findet jedoch auch auf der Ebene von Lima als Zent-

579

Diese Informationen beruhen auf einem informalen Interview mit einem universitären Assistenten der staat-lichen Universität und auf Gesprächen mit dem peruanischen Professor Jaris Mujica.

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rum und der Provinz als Peripherie statt. Stellen innerhalb von Organisationen mit Anschluss an die

Formalität sind einzelne Karriereetappen und besitzen einen Wert. Arbeitsverträge werden organisa-

tionsextern in Netzwerken gehandelt. So fanden Lehrer, die an einer peripheren Schule unterrichten,

eine klientelistische Lösung, um im Zentrum Karriere zu machen. Die Praktik handelt auf der Hinter-

bühne mit Arbeitsverträgen:

„Sie möchten nicht Geld ausgeben, um alle Tage von ihrem Wohnort bis zum Ar-

beitsort zu gelangen und/oder die ganze Woche in der ländlichen Zone bleiben, ge-

trennt von ihrer Familie. Das was sie ersuchen, ist ihre Arbeitsstelle mit einer ande-

ren zu verhandeln [negociar: kaufen und verkaufen]. Wir sehen, dass eine Arbeits-

stelle in Abancay [das heisst, in der Provinzhauptstadt] das Beste ist und nichts

kostet, wenn sie dir den Platz mittels Wettbewerb [gutes Schluss-Zertifikat] zuord-

nen. Dennoch, die Dozenten, welche dort arbeiten geben ihm [ihrem Arbeitsver-

trag] einen ökonomischen Wert abhängig von der Distanz [zur Provinzhauptstadt].

Dieser Dozent sucht einen anderen Lehrer, der in Abancay ist und der Geld braucht;

um das was er ihn bittet, ist, seine Arbeitsstelle von Abancay zu übertragen [traspa-

sar], indem er ihm etwas (Bestechungsgelder) bezahlt, um dafür in der [abgelege-

nen] Höhe arbeiten zu gehen. Es geht mehr oder weniger so: ‚Du möchtest nach

Abancay gehen für ein Jahr, aber du wirst mir 2‘000 Dollars bezahlen“ (Burch

27.11.2008).580

Formale Regeln werden aufgestellt – diese sind notwendig, um in der Weltgesellschaft als professio-

nelle Organisation anerkannt zu werden -, so hat das Zertifikat anfangs einen Einfluss, ob ein ange-

hender Lehrer einen Job im Zentrum oder in der entfernt und/oder hochgelegenen Peripherie erhält.

Die offizielle Zuordnung des Personals durch die UGEL-Behörde zu verschieden situierten Organisati-

onen bzw. Schulen kann danach durch das Personal, sprich von den Lehrern heimlich auf der Hinter-

bühne informal geändert werden. Die Hinterbühne hat solche Praktiken routiniert, denn: „Im Erzie-

hungssystem haben die Lehrer Tarife erstellt. […] Selbst [ein Arbeitsplatz] in grösster Entfernung hat

seinen Tarif“ (Burch 27.11.2008).581 Die Tarife sind bereits gemacht; dies erleichtert die Inklusion in

eine solche „Patronage“, da der Preis der Beziehung nicht durch die beteiligten Parteien komplett

580 Original: “No quieren gastar dinero para irse de su domicilio hasta su trabajo todos los días y/o tener que quedarse toda la semana en la zona rural separado de su familia. Entonces, lo que ellos buscan es negociar su puesto de trabajo con otro. Veremos que un puesto de trabajo en Abancay es lo mejor y no cuesta si te adjudican la plaza por medio de concurso. Sin embargo, los docentes que trabajan allí le ponen un valor económico dependiendo de la distancia. Este docente busca a otro profesor que está en Abancay y que necesita dinero, lo que le pide es ‘traspasar’ su puesto laboral de Abancay, pagándole lo que pide (coímas), a cambio de irse a a trabajar a la altura. Va mas o menos así: “Tú te quieres ir a Abancay por un año pero tú me vas a pagar 2,000 dolares” Burch 27.11.2008. 581

Original: „En el sistema educacional, los professores mismos han dispuesto unas tarifas. […] De una lejanía tiene su tarifa también!“ Burch 27.11.2008.

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neu ausgehandelt werden muss, sondern sich an Praktiken anderer Tauschvorgänge orientiert. Sys-

teme besitzen ein Gedächtnis; hier in Form von Tarifbildung. Der Betreffende benötigt für diese nicht

dem Programm des Kapitalismus entsprechende Praktik einen „colleguita“ (ein Kollegchen) und Geld.

Bezüglich Geld besteht eine ziemliche hohe Erwartungssicherheit; man kann auf den Tausch hin spa-

ren, da die Tarife mehr oder weniger bekannt sind. Erst diese Art Zweckfreundschaft bzw. ein Netz-

werk-Kontakt ermöglicht jedoch den Kauf und Verkauf der Arbeitsverträge entgegen der Entschei-

dung der UGEL („Unidad de Gestión Educativa Local“, das heisst, Einheit der lokalen Erziehungslei-

tung). Doch hatte man während der Ausbildung genügend Zeit, sich um Kontakte innerhalb des Be-

rufsfeldes zu kümmern. Die Entscheidung der Organisation UGEL ist also nur sehr bedingt relevant;

es ist einfach, einen Bekannten zu finden, der eventuell an einem temporären Tausch des Arbeits-

platzes interessiert ist. Selbstverständlich bedarf der Stellentausch auch des Einverständnisses der

UGEL: “Der Funktionär muss wissen, dass ein Wechsel gemacht wird und um eine Resolution zu

erstellen, kann er Geld einziehen. Aber er weiss, dass nicht alle Bitten angebracht sind, wenn er allen

einen Wechsel gestatten würde, dann kannst du dir vorstellen, dass alle ihre Stelle ändern würden

oder alle diejenigen, welche in den Bergen arbeiten, herbeigebracht würden; es gäbe keine Lehrer

mehr in den peripheren oder hochgelegenen Zonen“ (Burch 27.11.2008).582 Der Staat muss die Prä-

senz von Lehrern in allen Schulen garantieren. Die Informalität muss sich wie immer an der Formali-

tät ausrichten; in diesem Falle heisst das, die UGEL-Behörde kann nicht sämtliche informale Tausch-

geschäfte abwickeln, ohne selbst in Verdacht zu geraten. Das Risiko ist hoch, dass der Lehrer, welcher

in der Peripherie arbeitete im Zentrum Karriere machen konnte und nicht mehr daran denkt, in die

Peripherie zurückzukehren. Ein Lehrer muss für eine Beschleunigung seiner Karriere also den Funkti-

onär in der UGEL kennen sowie einen anderen tauschwilligen Lehrer. Wie bei der kommunalen oder

insbesondere wie bei der organisationsbereichsinternen Patronage handelt es sich um funktional

begrenzte Verhältnisse, so dass man sie zuweilen kaum als Patronage wahrnimmt. Diese Spezialisie-

rung erlaubt es, in mehrere solche Verhältnisse inkludiert zu sein. Die informalen Praktiken bzw. Ab-

machungen wie Preis und Dauer des Tausches verschriftlichen die Lehrer erstaunlicherweise zum

Teil, auch wenn es sich um exklusive, geheime Kommunikation zwischen Patron und Klient handelt:

„Damit sich die Vereinbarung materialisiert, verhandeln einige schriftlich untereinander; aber Ach-

tung, sie werden niemandem sagen, dass sie Geld bezahlen“ (Burch 27.11.2008).583 Im Falle eines

Konfliktes ist der Vertrag gemäss der Anwältin aber wertlos, da es sich um einen illegalen Vertrag

(contrato ilegal) handelt. Die informale Kommunikation ist geheim und nur innerhalb von Patronage

582

Original: „El funcionario también tiene ques aber que se va a hacer un cambio y por sacar la resolución podría estár “cobrando”. Pero sabe que no todo pedido es procedente porque si a todos admiten los cambios pues imagínate que todos se cambiarían o traerían a los que laboran en las alturas, ya no habría docentes en las zonas perifericas od e altura“ Burch 27.11.2008. 583 Original: “Entonces para que se materalice este acuerdo, algunos negocian por escrito firmado entre ellos, ojo ellos no van a decir a nadie que ellos pagan dinero de por medio” Burch 27.11.2008.

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reproduzierbar. Rechtliche Konfliktmechanismen entfallen. Bezahlungen werden oft erst komplet-

tiert, wenn die UGEL den Wechsel offiziell gutgeheissen hat: „Sie [die verhandelnden Lehrer] werden

nur mit der UGEL kommunizieren…. Sie machen die Papiere und warten auf die Resolution, in wel-

cher der Tausch akzeptiert wird. Der Tausch ist der Wechsel von einem Ort zu einem anderen, ein

Arbeitswechsel innerhalb derselben Kategorie als Lehrer, aber in einer verschiedenen Zone und es

bedarf ein gegenseitiges Einverständnis der Parteien“ (Burch 27.11.2008).584 Der Stellentausch und

die damit verbundenen heimlichen Bezahlungen sind temporär beschränkt; der zeitlich begrenzte

Stellentausch löst das Problem, möglichst interessante Kontakte kennen zu lernen: „Diese Bezahlun-

gen sind für eine determinierte Zeitspanne“ (Burch 27.11.2008).585 Die Zeit im Zentrum reicht jedoch,

um weitere, quasi bessere Kontakte mit Personen in zentralen Organisationen zu knüpfen. So wie

man auch in der Gamarra darauf bedacht ist, in möglichst vielen Einkaufsgalerien eigene Stände zu

besitzen, um mit möglichst vielen und einflussreichen Patrons in Kontakt zu kommen, ist Karriere

auch in Lima, Peru über Patronage geregelt und weniger via Zertifikaten. Die Erfolgreichen „saben

comunicarse“ (verstehen es, zu kommunizieren). Kommunizieren bedeutet in diesem Fall „Spre-

chen“, wobei das Sprechen in diesem Zusammenhang der Gegenbegriff zur Schriftlichkeit ist. Perso-

nen, die mit verschiedenen Leuten sprechen können und nicht in einer peripheren Schule oder Ver-

kaufszone „gefangen“ sind, machen Karriere. Zertifikate sind in Lima allenfalls eine Anfangsvoraus-

setzung, aber danach sind diese „Zettel“ oft wertlos. Sie ordnen die Personen horizontal den ver-

schiedenen Funktionsbereichen zu, also zum Beispiel einer Organisation des Erziehungssystems, des

Rechts,- oder des Gesundheitswesens, der Wirtschaft, dem Tourismus, dem Sport etc.; aber sie defi-

nieren nicht immer in vertikaler Hinsicht die Platzierung innerhalb der Organisation. Tendenziell be-

achten wirtschaftliche Grossunternehmen Zeugnisse jedoch prinzipiell stärker als Organisationen

anderer Bereiche oder wirtschaftliche Mikro- und Kleinunternehmen; dahingegen sind Leistungsrol-

lenträger der Funktionsbereiche, wie Erziehung, Gesundheit und staatliche Institutionen kaum an

Zertifikaten interessiert; Arbeitsplätze werden im Falle von Erziehung und Gesundheit informal ge-

handelt. Diese internen Tauschformen gibt es nicht nur im Erziehungswesen: „Im Gesundheitswesen

macht man dasselbe. […] Wenn ein Arzt zum Beispiel nicht in die Höhen [ins Gebirge] gehen will, um

zu arbeiten, bezahlt er Geld, damit sie ihm eine Resolution und eine nähere Arbeitsstelle geben. Das-

selbe, wie es mit den Lehrern passiert. Die Ärzte, die zum Beispiel in der Peripherie von Lima sind,

möchten nach Lima kommen, um in grossen Spitälern zu arbeiten. Sie möchten nicht in kleinen, ver-

584 Original: „Ellos simplemente van a comunicar a la UGEL.... hacen los trámites esperan la resolución donde le aceptan la permuta. La permuta es el cambio de un lugar de trabajo a otro, un cambio de trabajo pero por en misma categoria de docente pero en diferente zona y debe tener consentimiento de las partes” Burch 27.11.2008. 585

Original: “Estos pagos son por periodos determinados”Burch 27.11.2008.

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lassenen, wenig budgetierten, entfernten Spitälern arbeiten“ (Burch 27.11.2008).586 In besagten

Funktionssystemen ist Patronage gar zwischen Leistungsrollenträgern desselben Bereichs üblich.

Neben dem Erziehungssystem sind also auch medizinische Leistungsrollenträger nicht sonderlich an

vertraglich bestimmten Organisationszuweisung und Zertifikaten interessiert. Neben der „organisati-

onsbereichsinternen Patronage“ in grösseren und mittleren Unternehmen, existiert in Lima in gewis-

sen Funktionssystemen noch eine betriebsübergreifende (funktionssysteminterne) „Patronage“. Die

Grenze zu Zweckfreundschaft ist hier fliessend. Beide beschreiben die Art und Weise des lokalen

Umgangs mit Organisation und damit verbundenen Erwartungen an Profession. Da es jedoch um

Inklusionsstrategien in Zentren handelt, eignet sich der Begriff Patronage, um diese Institutionen zu

bezeichnen.

3. Drei, bzw. vier Varianten von Patronage im Lichte von Sartres Existenzialismus

Innerhalb von Organisationen mit eigenem Anschluss an die Formalität gibt es also zwei patronagear-

tige Sets von Erwartungen:

1. Die „Organisationsbereichsinterne Patronage“, welche Erwartenserwartungen innerhalb ein-

zelner Organisationsbereiche von Firmen mit (mehrfachem)Zugang zur Formalität beschrei-

ben und

2. Patronagen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Organisationen, wobei ein Mitglied aus

einer peripheren und das andere aus einer zentraleren Organisation desselben Funktionssys-

tems stammt: Eine „organisationsübergreifende funktionssysteminterne Patronage“.

Die zwei weiteren Arten von Patronage ersetzen im Gegensatz zu obigen Varianten Institutionen der

strukturellen Kopplung. Sie konstruieren keine formalen Vorderbühnen:

3. Patronagen aus 1) und 2) grenzen sich von der „kommunalen Patronage“ ab, welche als ein-

zige im Stande ist, Verträge, Zertifikate und Besteuerung grösstenteils zu ersetzen. Es geht

nicht nur um einen informalen Umgang mit diesen „strukturell koppelnden Institutionen“

sondern um deren Ersatz. Diese Tatsache wird als illegitim fremdbeobachtet.

586 Original: “En salud también se hace lo mismo. [...] Por ejemplo cuando un médico no quiere irse a trabajar a la altura, paga dinero para que le saquen una resolución y le den un trabajo más cercano. Lo mismo que ocurre con los docentes. Los médicos que están por ejemplo en la periferie de Lima, quieren venir a trabajar a Lima y a hospitales grandes. No quieren trabajar en hospitales chiquitos, abandonados, de poco presupuesto, lejanos” Burch 27.11.2008.

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4. Die vierte Variante entwickelt sich als „Zweckfreundschaft“ zufällig auch jenseits von kom-

munalen Strukturen. Sie wird jedoch durch gute Leistung begünstigt (das heisst, ev. in einem

anderen Bereich) initiiert. Sobald anfängliche Proben bestanden sind, gleicht sie einer spezia-

lisierten Patronage.587

Vor allem die „organisationsübergreifende Variante“ zeigt, dass ein Job einen Wert hat. Dies bringt

uns an den Anfang dieser empirischen Analyse. Dass der Job einen Wert hat, bemerkt man wie unter

Kapitel 4 erörtert, auch im Zollamt. Der Zöllner arbeitet quasi selbständig unter dem „Patronat" des

Staates und verdient sich sein Einkommen mittels des Jobs als Zöllner grösstenteils „selbständig“,

bzw. ausserorganisational. Ein erfolgreicher Wirtschaftspatron meint: „… deshalb ist es so, dass man

sagt, die Stellen der Zöllner bzw. eine Stelle als Zöllner zu erhaschen, besitze einen Wert“ (Burch

18.11.2008).588 Bereits die Wahrscheinlichkeit, an zahlungsfähige Patrons heranzukommen, hat

einen „valor“, einen monetären Wert wie dies bei einem Arbeitsplatz-Tausch der Fall ist. Zentrale

Arbeitsplätze haben besonders im Erziehungswesen einen monetären Wert und können temporär

gekauft werden. Aber auch erstere Variante generiert informale Wirtschaftskommunikation in diver-

sen Unternehmen; wenn nämlich die Bereichsmitarbeiter ihren Leiter beschenken, ist dies ebenfalls

ein ökonomisch motivierter Tusch: Loyalität gegen Geld. Paradoxerweise erlauben also gerade nicht-

kapitalistische Praktiken in Form von Patronage rigide kapitalistische Handlungsweisen. Patronagen

kompensieren die lokal schwache Politik des Landes, indem sie Abgaben, Verträge und Zertifikate

durch unterschiedliche Arten von Patronage funktional ersetzen oder sie informal ermöglichen.

Vergleichbarkeit und Anschluss an Theorie war von Anfang an Ziel dieser empirisch fundierten Studie.

Sie möchte Abhängigkeitsbeziehungen der Hinterbühnen differenzieren und damit ein Instrumenta-

rium bereit stellen, das dazu genutzt werden kann, um andere Differenzierungsvarianten innerhalb

der Weltgesellschaft zu beschreiben. Luhmanns aber auch schon Parsons Systemtheorien orientier-

ten sich schon immer an einer Begrifflichkeit, um Komparativität herzustellen. Das Konzept der Welt-

gesellschaft, die Unterscheidung formal / informal und die Idee einer Parallelgesellschaft sowie der

Begriff „Patronage“ ermöglichen es, spezifische nicht kapitalistische Wirtschaftspraktiken zu beo-

bachten und zugleich global vergleichbare Resultate zu erzielen. Da erst wenige empirische Studien

mit einer theoretischen Perspektivierung vorhanden sind, kann Vergleichbarkeit nicht voraussetzen,

dass die Weltgesellschaft schon vollständig in Variationen kartographiert sein muss. Unter Vergleich-

barkeit verstehe ich eine angemessen komplex-abstrakte Form der Beschreibung, so dass das Ver-

ständnis von Limas unkonventioneller Wirtschaftskommunikation auch für die Interpretation anderer

587

Siehe dazu das Beispiel des „amigo-gerente“, des „freundschaftlichen Geschäftsführers“ unter Kapitel 7. 588 Im Original: „.. por eso es que los puestos del aduanero para agarrar un puesto de aduanero, dicen que tiene un valor” Burch 18.11.2008.

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Variationen der Weltgesellschaft brauchbar sein kann. Hinweise, dass Limas Praktiken auch über den

Andenstaat hinweg auf Hinterbühnen institutionalisiert sind, gibt beispielsweise der international

tätige Industriehändler, wenn er aus eigenen Erfahrungen spricht. Er bezieht seine Produkte aus

Deutschland und verkauft diese in verschiedenen südamerikanischen Staaten. So sagt er: „In diesem

[informalen] Markt, sehe ich wirklich die Zukunft des Marktes von Südamerika. Es ist ein sehr, sehr

guter Markt“ (Burch 18.11.2008).589 Und an einer anderen Stelle interpunktiert er: „Ich glaube, dass

alle Geschäfte [in informalen Ländern] interessant sind. Das Einzige, was man kennen muss, ist die

Mentalität, die Realität des Landes“ (Burch 18.11.2008).590 Für den Unternehmer ist klar, dass es in

Südamerika überall informale Märkte, sprich informale Hinterbühnen gibt. Um entsprechend dieser

Erwartungszuammenhänge zu kommunizieren, muss man die Realität des Landes kennen. Er kennt

die Hinterbühnen von Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien; es sind alles Andenstaaten, in

welchen kommunale Strukturen auf ähnliche Weise Patronage formen.591 Informale Arbeit konzent-

riert sich gemäss Gonzales (2001, S. 17) auf Peru, Mexiko und Kolumbien, wo Mikrounternehmen die

grössten Arbeitgeber sind. In Bolivien sind die Mikro- und Kleinunternehmen noch seltener offiziell

registriert als in Peru, Mexiko oder Kolumbien. Ähnliches gilt für Ecuador.592 Mexiko bezeichnet sich

sogar als Land der Mikrounternehmen.593 Inwiefern Mikro- und Kleinunternehmen so erfolgreich wie

in Lima, Peru sind, hängt auch von der Beschaffenheit der kommunalen Erwartenserwartungen ab.

Diese ermöglichen in Lima eine Kognitivierung der Patronageverhältnisse. In Lima, Peru sind diese

Praktiken mit kapitalistischen Erwartungen perfekt kompatibel, was auch den enormen Erfolg Ga-

marras erklärt. So meinte Altamirano (1988, S. 66f.) in den 80er Jahren als solche kommunalen Struk-

turen in Peru am meisten untersucht wurden, dass kommunale Organisationen auch in Mexiko, Bue-

nos Aires und Guatemala bestehen, jedoch in quantitativer und qualitativer Hinsicht nicht die gleiche

Bedeutung haben wie in Peru.594 Aber auch die zweite Art von Patronage, die „betriebsinterne Patro-

589

Original: “Que este mercado [informal] yo lo veo el futuro en el mercado de America de Sur realmente. Es

un mercado muy, muy bonito” Burch 18.11.2008. 590 Original: “Yo creo que todos negocios [en países informales] son interesantes, lo único lo que hay que conocer es la mentalidad, la realidad del país” Burch 18.11.2008 591

Die Gesellschaften der Andenstaaten hatten über Jahrtausende mehr oder weniger kommunikativen Kon-takt zueinander. In der Sierra waren Kommunen seit jeher auf eine flexible Anbaumethode angewiesen, welche die Patronagestrukturen heute reproduzieren und ihre Flexibilität gewährleisten. 592

So hält der Bericht Agencia Periódico Digital de Investigación sobre Bolivia 2008 fest, dass sich in Bolivien wie in Lateinamerika generell, Arbeitsaktivitäten am Rande von staatlicher Politik entfalten. Von den 800‘000 Mikro- und Kleinunternehmen sind in Bolivien gerade einmal 50‘000 registriert. 593

Siehe zum Beispiel den Zeitungsbericht von: Lombera 2008. 594

Siehe Eversole 2003, in welchem Mikrounternehmen aus Peru, Bolivien und Guatemala komparativ unter-sucht werden. Ihnen ist gemeinsam, dass es sich um kapitalistische Unternehmen handelt, der Profit steht im Zentrum. Anders als in Bolivien sind die guatemaltekischen Unternehmer nicht aus einer langjährigen Unter-nehmerskommune. Die Studie möchte erklären, wieso einige Mikrounternehmen erfolgreicher sind als andere, tut dies jedoch nicht unter Berücksichtigung tiefergehender informaler Kommunikation wie Patronagebezie-hungen innerhalb von kommunalen Strukturen. Der Autor verwendet die Begriffe Ressource und „constraints“ viel zu generalistisch so dass man damit keine konkreten Erwartungszusammenhänge beschreiben und global vergleichen kann. So ist es dann auch unverständlich, dass der Autor zum Schloss kommt, die grösseren institu-

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nage“ dürfte nicht nur in Peru institutionalisiert sein. Eine Versicherungs-Angestellte meint: “Das

Monopol aller Unternehmen, vor allem in Peru und ich glaube auch in Südamerika, ist von dieser Art”

(Burch 17.07.2011).595 Als “Monopol” bezeichnet Bustamante die in Grossfirmen „betriebsinterne

Patronage“.596 Dass die gesamte Belegschaft die Firma verlässt, wenn der Bereichsleiter geht, dürfte

also nicht nur in Lima sondern in ganz Südamerika üblich sein. Arbeitsverträge werden selten für

mehr als drei Monate ausgestellt, so dass man quasi jederzeit entlassen werden kann: „Ich glaube, in

keiner Unternehmung, niemand ist unersetzlich. Wir alle sind nichts mehr als eine Nummer, nichts

mehr. […] In Südamerika ist das so“ (Burch 17.07.2011).597 Um genauere Aussagen zu machen, bedarf

es natürlich tiefergehende Empirie; aber es spricht vieles dafür, dass Patronage, die kommunale

Strukturen reproduziert, als auch die „betriebsinterne Patronage“ in anderen südamerikanischen

Städten verbreitet sind. Geht man weiter nördlich, so gelangt man nach Mexiko und vernimmt: “In

Mexiko [...] hilft dir die Regierung nicht. [...] Das System ist korrupt” (Burch und Strauss

14.02.2008a).598 Die Aussage könnte von einem Bewohner Limas stammen, doch sie kommt aus dem

Munde eines aus von Mexiko in die USA migrierten Firmenarbeiters. Patronage auf Hinterbühnen

gibt es in unzähligen Staaten. Weitere und tiefgründigere Beispiele würden den Rahmen dieser Ar-

beit sprengen.

Ich möchte auf Sartres frühes Problem zurückkommen, nämlich auf Sartres Frage, inwiefern eine

Gesellschaft ohne Staat möglich sei.599 Die Teilnehmer in der peruanischen Variante scheinen Sartres

Weg grösstenteils eingeschlagen zu haben. Sarte spezifiziert seine Fragestellung und fragte sich, in-

wiefern eine Gesellschaft ohne Staat möglich sei und deshalb nur auf der Grundlage von Freund-

schaftsbeziehungen besteht. Es handelt sich bei Sartres Gesellschaft um eine auf Freundschaft und

Freiheit basierenden Anarchie:

„The doctrine that human beings have an ineliminable freedom to choose, no mat-

ter how constrained they may be, is essential to Sartre’s existentialism. We are the

beings who choose what we are. […] In anarchism, fraternity makes social harmony

in the absence of the power of the state possible. Ordinary human friendships do

not need to be sustained by police, army, courts or taxation and this is a clue to the

tionellen Rahmenbedingungen müssten geändert werden, damit viele Mikrounternehmen aus der reinen Selbsterhaltungsfunktion bzw. der Subsistenz herausfänden. Dennoch zeigt die Studie, dass ähnliche Mikroun-ternehmen wie in Peru in ganz Lateinamerika existieren. Ein grosser Teil der Bevölkerung der Weltgesellschaft arbeitet in dieser Art. 595 Original: „El monopolio de todas las empresas, más que todo en el Peru y creo que en el Sudamerica también, es de la siguiente manera” Burch 17.07.2011. 596 Siehe dazu Kapitel 9. 597 Original: „Yo creo, en ninguna empresa, nadie es indispensable. Todos somos un número no más, nada más. [...] En Suramerica se da eso” Burch 17.07.2011. 598 Original: “En Mexiko […] el gobierno no te ayudaba. [...] El sistema es corrupto” Burch und Strauss 14.02.2008a. 599

Siehe dazu: Sartre und Priest 2001.

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fact that society without the state is possible” (Sartre und Priest 2001, S. pos.

131f.).

Freundschaftsbeziehungen bedürfen in Sartres Sinne keine Stütze durch rechtsstaatliche Institutio-

nen. Sie sind fähig, abwesende staatliche Handlungen zu kompensieren. Sartres frühe Idee ist höchst

interessant. Freundschaft ist im Gegensatz zu staatlichen Institutionen eine ausgeprägte „schwache“

Institution, die gezwungen ist, mit Kognitivierung von Enttäuschungen zurecht zu kommen. Kogniti-

vierte Verhältnisse, die in wirtschaftlicher Hinsicht sehr adaptiv und erfolgreich sind, findet man in

Gamarra tatsächlich institutionalisiert vor. Eine zum frühen Sartre gegenteilige Ansicht vertritt der

Nobelpreisträger North (2009), ein wichtiger Vertreter der Institutionenökonomie. Er konstatiert,

dass es rechtlich-formale Regeln und einen Staat braucht, der insbesondere das Vertrags- und Eigen-

tumsrecht durchsetzt. Ein Markt ohne formale Regeln funktioniert wegen Problemen des Misstrau-

ens nicht. Auf Gamarras interne Handlungen scheint das Grundproblem des Misstrauens jedoch nicht

zuzutreffen. North betont zudem, dass informale Strukturen nur erfolgreich sind, wenn sie „stark“

institutionalisiert sind. Auch das trifft auf Gamarra nur begrenzt zu. Sowohl Norths Institutionenöko-

nomie als auch Sartes Existenzialismus überschätzen jedoch entweder die Informalität oder die For-

malität etwas.

Ich beginne mit Sartres tendenzieller Überschätzung von informalen Erwartungszusammenhängen,

bzw. der Idee, reine Freundschaft könne staatliche Institutionen ersetzen. Die vorliegende Studie

stellte sich Sartres Frage in empirischer Hinsicht und analysierte, wie Sartres sogenannten „Freund-

schaftsbeziehungen“ aussehen. Die Werte Freiheit, Brüderlichkeit und Selbstbestimmung beschäfti-

gen Europa seit dem 18. Jahrhundert. Man macht sich jedoch schon länger Gedanken, inwiefern der

Existenzialismus (liberty), der Marxismus (equality) und die Anarchie (fraternity) miteinander

kompatibel sind: “Arguably the history of the Westernised world since the 1790s has conspicuously

included the attempt to reconcile the competing claims of liberty, equality and fraternity. If that is

right, the avid reception of Sartre’s works worldwide becomes more comprehensible” (pos. 139).

Aber erlaubt Anarchie Brüderlichkeit, das heisst, soziale Harmonie jenseits von Staat? Sartres Hin-

weis, „Freundschaftsbeziehungen“ zu berücksichtigen, ist absolut zentral, um heutige Differenzie-

rungsvarianten innerhalb der Weltgesellschaft zu beschreiben. Sartre machte jedoch keine empiri-

schen Untersuchungen und die interessante Frage lautet: Wie sehen solche „Freundschaftsbeziehun-

gen“ aus, die imstande sind, staatliche Erwartungszuammenhänge zu ersetzen? Zudem berücksich-

tigte Sartre die Ebene der Weltgesellschaft kaum. Letzteres möchte ich im Anschluss an dieses Kapi-

tel erörtern. Wenn Bailón Maxi und Nicoli (2009, S. 42) und Centeno (2004) darauf verweisen, dass

persönliche Beziehungen berücksichtigt und heutige Sozialtheorien angepasst werden müssen, um

die schnell gewandelte peruanische „Gesellschaft“, zu verstehen, geht es in die Richtung, Sartres

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Vorschlag der „Freundschaftsbeziehungen“ genau zu untersuchen. Auch Ludeña (2011) betont, dass

das gewandelte Lima von heute nur verständlich ist, wenn man die Artikulation globaler und lokaler

sowie formaler als auch informaler Netzwerke berücksichtigt. Man beschreibt Lima als globale Stadt.

Kommunale Zusammenhänge erwägt der Ökonom jedoch zu wenig. Die Instabilität des Politischen

wird in Lima vor allem durch kommunale Erwartungszuammenhänge kompensiert; also durch Erwar-

tungszuammenhänge, welche durch die Jahrtausende immer wieder neu reproduziert wurden.

Kommunal gestützte Patronage ist in der Lage, Verträge, Zertifikate und Eigentum zu ersetzen und

mit Enttäuschungen kognitiv umzugehen; Patronage unterbindet ausser der Verfassung den Zusam-

menhang zwischen den modernen Funktionssystemen. Die Funktionssysteme geniessen somit in

dieser Differenzierungsvariante quasi absolute Freiheit. Die Freiheit ist jedoch nicht für alle Funkti-

onssysteme gleich hoch, die informalen, historisch gewachsenen Erwartungszuammenhänge sind vor

allem mit der Wirtschaft kompatibel. Die weitgehend entkoppelten Funktionssysteme erzeugen zwi-

schen den Funktionssystemen ein Ungleichgewicht. Man kann dazu auch den Integrationsbegriff

benutzen. Was meint in diesem Sinne der Integrationsbegriff? In der klassischen Soziologie beruht

eine integrierte Einheit auf Konsens. Ein solcher auf moralischem Konsens basierender Integrations-

begriff ist jedoch schwer theoretisierbar. Nicht Normen sondern Institutionen haben laut Luhmann

eine integrative Funktion. Fällt der Begriff der „Integration“ also aus der Sozialtheorie? Luhmann

wendet den Integrationsbegriff auf Leistungsverhältnisse zwischen Funktionssystemen an: "Und da-

mit wird auch der Begriff der Integration entlastet, jedenfalls so umdirigiert, dass man ihn nicht län-

ger als Einheitsgarant einsetzen wird, sondern unter Integration jetzt die wechselseitige Einschrän-

kung von Freiheitsgraden von strukturell gekoppelten Systemen verstehen kann" (Luhmann 2005d, S.

227). Während der Begriff „Leistungsaustauschverhältnisse“ die Leistungen der Funktionssysteme für

ihre Umwelten bezeichnen, legt der Integrationsbegriff den Fokus auf die damit einhergehende Be-

grenzung von Freiheit. Eine Differenzierungsvariante, deren Funktionssysteme schlecht integriert

sind, zeichnet sich also durch Freiheit aus. Die Systeme geben einander kaum strukturelle Begren-

zungen vor; aber Freiheit besitzt auch einen Gegenbegriff: Die Funktionssysteme leisten für einander

nichts; und dies begrenzt die Freiheit gewisser Funktionssysteme. Eine integrierte Differenzierungs-

variante ist im Prinzip unwahrscheinlich. Strukturell gekoppelte Systeme entwickeln sich nur wäh-

rend jahrelanger Evolution. In Lima führt diese Desintegration der Funktionssysteme eine Überge-

wichtung des Wirtschaftlichen herbei. Die Wirtschaft kann sich nicht integrieren; zum Teil achtet in

Lima auch das Erziehungssystem nicht, ob es anschlussfähig ist.600 In Peru herrscht die These, dass die

Wirtschaft die gesellschaftlichen Probleme, insbesondere die politischen, lösen kann. Es ist auffällig,

600

So werden die Personen in Lima auf quasi formale Anstellungen in Grossunternehmen vorbereitet. Die Mehrheit arbeitet jedoch in Mikro- und Kleinunternehmen, wo das Erlernte an Universitäten nur sehr bedingt Anwendung findet. In Peru werden Leute ausgebildet für Karrieren in mittleren und grösseren Unternehmen, welche nicht einmal 2% der Unternehmenskraft des Landes darstellen. Siehe zum abgekoppelten Erziehungs-system Bailón Maxi und Nicoli 2009, S. 47.

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dass trotz der Betonung der Patrons, den Staat zu ersetzen, insbesondere wirtschaftliche Funktionen

übernommen werden. Es sind es vor allem wirtschaftliche Funktionen (und nicht politische Funktio-

nen), anhand dessen Patronage die politische Instabilität in Lima grösstenteils verarbeiten. Die struk-

turellen Kopplungen, welche mittels Patronage ausgeschaltet werden, Vertrag, Steuern und Zertifika-

te, welche die Wirtschaft an rechtliche und politische Erwartungszuammenhänge binden, entfallen.

Die Funktionssysteme sind nicht an rechtliche Erwartungszuammenhänge gekoppelt. In Peru findet

man folglich nur eine beschränkte Verschränkung von Normen und Institutionalisierung. Denn genau

diese Verschränkung leistet der Rechtsstaat gemäss Luhmann gegen innen. Auf globaler Ebene ist

diese Verschränkung ebenfalls nicht zu finden; es gibt laut Stichweh und Albert keinen Weltstaat in

der Art eines modernen Nationalstaates mit globaler Reichweite.601

Kommunal fundierte Patronage ist nicht die einzige Variante von Patronage bzw. patronageartiger

Institution. Ich möchte mich der Analyse weiterer „Freundschaftserwartungen“ hinwenden. Dies ist

ein notwendiger Schritt, wenn man die Gamarra verlässt und den Fokus auf weitere nichtkapitalisti-

sche Sozialzusammenhänge in Lima legt, um so zu kontextuell eingebetteten Ergebnissen zu gelan-

gen. In Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen

wurde erstmals darauf hingewiesen, zwei Arten von klientelistischen Beziehungen zu differenzieren:

Eine, die sich auf kommunale Erwartungszusammenhänge stützt und sich langfristig reproduziert und

eine zweite Art, die ohne kommunale Strukturen auskommt, jedoch quasi kurzfristig angelegt ist.

Kurzfristigkeit soll nicht heissen, dass die Teilnehmer in anderen Kontexten nicht wieder auf dieses

Verhältnis zurückgreifen können; sie charakterisiert sich durch „weak-ties“ und eine langsam ange-

legte Reziprozität bzw. auf sporadische Geschenke und deren Gegenleistung. Es ist eine Art von Pat-

ronage, welche sich weniger auf kommunale Strukturen stützt, also besonders langfristig und in ei-

nem gewissen Sinne sparsam angelegt ist, was die einzelnen Kommunikationsakte betrifft. Wenn ich

mich in Lima informal mit Personen der oberen Mittelschicht unterhielt, zeigte es sich, dass die Ab-

senz von wirkungsvollen, stabilen Arbeitsverträgen gar gut geheissen wird. Die Strategie der Teil-

nehmer lautet, möglichst viele Kontakte in möglichst unterschiedlichen Kontexten in möglichst kurzer

Zeit zu knüpfen. Einmal „beendete“ Zweckbeziehungen können jederzeit wieder aufgegriffen wer-

den. Der peruanische Soziologe (Mujica 2009) betont, dass in Peru weder Klientelismus, noch die

Mafia noch Kartelle bestehen. Wie Golte spricht sich Mujica ebenfalls gegen das Konzept der Patro-

nage aus. Es erscheint, als wolle man in Peru auch in der Wissenschaft die Idee von (vormodernen)

Patrons loswerden, welche quasi als nicht modern gelten. Doch der Begriff „Patronage“ lässt sich

komplexer verwenden.

An dieser Stelle ein ganz kurzer Exkurs, wieso ich das Konzept „Patronage“ verwende. Die vorliegen-

den empirischen Ergebnisse sprechen dafür; Patronage als Begriff beizubehalten, da alle Varianten

601

Siehe zur Thematik von Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Albert und Stichweh 2007.

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asymmetrisch gebaute Tauschverhältnisse sind, wie dies laut Eisenstadt für Patronage typisch ist.

Kontemporäre Varianten der Patronage spezialisieren sich jedoch auf funktional begrenzte Rollen.

Das Konzept eignet sich, um vergleichbare Resultate zu erhalten. Die „betriebsübergreifende Varian-

te“ wie auch die kommunale und organisationsbereichsinterne Variante kümmern sich um Karriere-

organisation bzw. um das Herstellen von Professionalität. Dabei besitzt eine Person als Patron Zu-

gang zu einem Zentrum. Bei Patronage geht es um Vermittlung zwischen Zentrum und Peripherie.

Selbst bei der organisationsbereichsinternen Patronage geht es um Vermittlung. Ein Verkäufer ist

nur so lange Mitglied der Firma als es sein Chef ebenfalls ist. Der Chef ist also Vermittler und als sol-

cher unabdingbar. Alle Varianten sind mehr oder weniger asymmetrisch gebaut, wie dies für Patro-

nage typisch ist. Deshalb belasse ich es dabei, von drei kontemporären Varianten von Patronage zu

sprechen. Gerade die Verwendung des gleichen Begriffes erlaubt es, Unterschiedliches vergleichbar

zu machen. So sieht man, dass kommunale Patronage im Vergleich zu den anderen beiden Patrona-

gen anders mit „Institutionen struktureller Kopplungen“ umgeht. Nur kommunal basierte Patronage

vermag Verträge, Zeugnisse und Besteuerung zu ersetzen. Die anderen beiden Arten pflegen lediglich

einen speziellen Umgang mit ihnen. Ich komme darauf am Ende dieses Unterkapitels im Zusammen-

hang mit Sartre und North zu sprechen.

Das Interessante ist, dass Mujica ebenfalls vorschlägt, zur Beschreibung informaler Institutionen nicht

(nur) auf Stabilität sondern auf Instabilität den Focus zu legen. Überall in Lima aber vor allem in be-

stimmten jedoch nicht unbedeutenden Kreisen wird tatsächlich nicht auf Langfristigkeit sondern

quasi auf Instabilität und Fluktuation gesetzt. In einem Gespräch betonte Mujica, dass dies insbeson-

dere bei Personen der Fall sei, welche der früheren Oberschicht der Haciendabesitzer angehörten.

Nach der Agrarrevolution in den 60er Jahren, als die Haziendas verboten und die Industrialisierung in

der Stadt Lima gefördert wurde, sank diese einst privilegierte Bevölkerungsgruppe wirtschaftlich ab;

erfüllt jedoch viele Positionen als Leistungsrollenträger in der Politik bzw. Verwaltung. In Lima finden

sich zwei verschiedene Netzwerk- bzw. Karrierestrategien. Erstens finden sich Patronagebeziehun-

gen, die kommunale Strukturen im Sinne von „strong-tie“ Beziehungen reproduzieren und zweitens

auf „weak-ties“ basierende Patronagen, welche ich auch als „klientelistische Zweckfreundschaft“

bezeichnete. Lose gestrickte Verhältnisse verarbeiten informal auf der Hinterbühne der Weltgesell-

schaft unterschiedlichste Probleme, insbesondere substituieren sie Verträge oder kommerzialisieren

diese. Viele Personen kommen auch ausserhalb Gamarras mit Verträgen aus, die durchschnittlich nur

drei Monate dauern. Laut Mujica erlauben diese kurzen CAS-Verträge, die Netzwerke flexibel zu hal-

ten (permite flexibilidad de redes). So möchte gemäss Mujica niemand länger als ein Jahr Beamter

sein: „Tienes que moverte“, „du musst dich bewegen“. So lautet das Motto gleich wie in Gamarra, wo

ein Patron den Erfolg seiner Karriere erklärt: „….tienes que caminar, tienes que ir, que moverte“ (du

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musst wandern, du musst gehen, dich bewegen“.602 Aber auch „tienes que comunicarte“ (du musst

kommunizieren). All diese Imperative sind auch Leitkonzepte andin-kommunalen Handelns. Ich traf

Leute, welche mir erzählten, sie haben schon gut bezahlte stabile Jobs abgelehnt, denn: „Nadie te va

mirar“ (niemand wird dich sehen). Der Job soll dazu dienen, um Kontakte zu knüpfen. In der andinen

Sprache Quechua existiert kein wirklicher Begriff, welcher die materielle Idee wie im Okzident be-

schreibt. Gemäss Zoomers (2005, S. 221ff.) spricht man von Armut anhand Begriffe sozialer Verein-

samung bzw. Exklusion. Zoomers (2005, S. 223) betont: “in vielen ruralen Kommunen, ist es nicht die

Norm, zu verweilen: das ‘Normale’ ist auszuwandern und ein Sozialnetz innerhalb und ausserhalb der

Kommune zu besitzen”.603 Mujica konkludiert: „Del congreso hasta Gamarra funciona así“ (Vom Kon-

gress bis zur Gamarra funktioniert es so). Das ist interessant. Peru ist auf der Hinterbühne grössten-

teils eine Netzwerkgesellschaft, die sich in Bezug auf formale Erwartungen informal reproduziert.

Dabei sind diese Netzwerke äusserst flexibel. Vor allem in oberen Positionen basieren sie auf weak-

ties. Diese Stabilität der Instabilität erstaunt. Klientelistische Kommunikationen können sich kurz

verdichten, aber lediglich um den Beteiligten danach wieder optional und vorrätig in einem anderen

Kontext zur Verfügung zu stehen. Das ist auch der Grund, wieso es in Peru keine Mafia gibt. Man

möchte möglichst viele Patronagen eingehen; Organisationen sind hohen personalen Fluktuationen

unterworfen, das entspricht nicht der Idee einer möglichst starken Mafia. Nicht Geld sondern Sozial-

kapital wird in den grössten Teilen von Peru als das wichtigste Kapital erachtet. Man „gibt sich die

Hand“, um Freundschaften zu pflegen. Geldverdienst ist nicht Zweck sondern Mittel zum Zweck.

Auch wenn quasi oft bestochen wird, geht es nicht um Geldverdienst. Der Zweck ist eine intakte

„Zweckfreundschaft“. Die Informalität ermöglicht auch in diesem Zusammenhang wieder die Forma-

lität, um an die Weltgesellschaft anschlussfähig zu sein. Externe Beobachter nehmen die Fluktuation

kaum wahr, denn die Ministerien und andere Stellen sind wie erwartet immer mit Personal besetzt.

Besonders deutlich dokumentierte dies Kapitel 8.2 bezüglich des peruanischen Rechtssystems.

Eine weitere interessante Frage ist, ob sich anhand dieser zwei Arten von Patronage, zwei elitäre

Gruppen beschreiben. Dass Gamarras Unternehmer und prinzipiell alle Bewohner Limas möglichst

kontextübergreifend kommunizieren, um neben kommunalen Patronagen auch zweckfreundschaftli-

che weak-tie Verhältnisse einzugehen, wurde vor allem in Kapitel 7 erörtert. Vielleicht gibt es jedoch

zwei Schwerpunkte, so dass manche Gruppen eher kommunal und andere eher extra-kommunal auf

der Hinterbühne kommunizieren. Besonders erfolgreich sind in Gamarra jedoch jene, die es verste-

hen, beide Arten zu kombinieren. Der andere Umgang mit Patronage wird lokal nämlich wahrge-

nommen. So ist der Zugang zu staatlichen Institutionen Limas durch Netzwerke geschlossen, in wel-

chen besonders mittels weak-tie Patronage kommuniziert wird. Eine Angestellte berichtet: “Deshalb

602

Siehe Kapitel 6.2.1 Symmetrische/asymmetrische Firmennetzwerke und kommunale Strukturen. 603

Original: „...en muchas de las comunidades rurales ‚quedarse‘ no es la norma: lo ‚normal‘ es emigrar y tener una red de relaciones sociales dentro y fuerta de la comunidad“ Zoomers 2005, S. 223.

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bevorzugen die Leute eher, bei Privaten arbeiten zu gehen als beim Staat. Weil bezüglich des Staates

weisst du, dass es normalerweise mittels ‚vara‘ (Karrierepatron) geht“ (Burch 17.07.2011).604 Eine

interessante Frage, betrifft also die Art und Weise, wie Eliten strukturiert sind. Aussagen über die

Elitenstruktur liefern immer auch Aussagen über sekundäre Differenzierungsformen der Differenzie-

rungsvariation. Dieser Frage kann hier nur ansatzweise nachgegangen werden; sie dürfte jedoch für

andere Differenzierungsvariationen in der Weltgesellschaft ebenfalls interessant sein: Inwiefern gibt

es in Lima verschiedene elitäre Netzwerke, welche jeweils einen anderen Umgang mit modernen

politischen Erwartungen pflegen? Erste Indizien fanden sich bereits im Kapitel über die Vernetzung

einflussreicher Patrons.605 Einer der erfolgreichsten „Patrons“ ist aus dem Netzwerk von Gamarras

Patrons komplett ausgeschlossen; die anderen aus Provinzen migrierten Patrons bekämpfen seine

Praktiken gar, weil er aus Sicht der restlichen Patrons knappe Güter vom Staat, sprich eine Baubewil-

ligung für eine Galerie an bester Lage kaufen konnte. Informale Praktiken begrenzen sich nicht auf

die andinen Migranten, sondern haben in Lima, Peru gemäss Golte (Burch 16.07.2011a) eine lange

Geschichte. Sie gehen gemäss des Anthropologen auf die Kolonialzeit zurück, bzw. auf Praktiken der

kreolischen Oberschicht in Lima, als diese Oberschicht eine Vermittlungsposition zwischen der loka-

len niedrigen Oberschicht und dem spanischen König inne hielten: „Bereits in der Kolonialzeit ent-

stand so etwas wie ein Doppelgesicht derjenigen, welche an der Macht waren. Einerseits waren sie

so etwas wie Vermittler der kolonialen Macht. Aber andrerseits arbeiteten sie für ihr eigenes Wohl-

ergehen in Lima; sie lernten schon in der Kolonialzeit, einerseits ein Gesicht gegenüber des Königs

von Spanien zu wahren und andrerseits Instrumente, um sich als Individuen Limas in Lima zu berei-

chern und nicht als Funktionäre des spanischen Staates. Bereits in der Kolonialzeit erscheint so etwas

wie ein Doppelgesicht dieser Sozialgruppe und dies übertrug sich auf die Republik; sie bleiben an der

Macht und sie erhalten die Macht mittels dieser Netzwerke“ (Burch 16.07.2011a).606 Goltes Aussage

der Reproduktion von informalen Praktiken seit der Kolonialzeit ist interessant. Existiert der kontem-

poräre peruanische Staat vor allem für seine Aussenpolitik? In Goltes Aussage ist jedoch ein Wider-

spruch eingebaut. Wie soll Macht in Netzwerken, die von Natur aus instabil sind, stabilisiert werden?

Netzwerke ziehen im Gegensatz zu Organisation keine festen Grenzen zur Umwelt. Deshalb müsste

man sich fragen, haben sich diese Patrons mit doppeltem Zugang zur Formalität wirklich kommunika-

tiv zusammengeschlossen? Bevor ich kurz auf diese Netzwerkfrage eingehe, ist festzuhalten, dass der

604

Original: “Por eso la gente más opta de ira a trabajar a privados que al estado. Porque del estado tu sabes que normalmente es por vara” Burch 17.07.2011. 605

Siehe Kapitel 7. 606 Original: “Ya en la colonia surge algo como una doble fase de los que están en el poder. Porque por una parte eran algo así como intermediarios para el poder colonial. Pero por otro lado estaban trabajando por su propio bienestar en Lima. Aprenden ya en la colónia a tener por una parte una cara frente a la rey de españa y por otra parte instrumentos para enriqueserse en Lima como individuos Limeños y no como funcionarios del estado español. Ya en la colonia salgo algo así como una doble fas de este grupo social y esto se traslaba a la república; mantienen el poder, y mantienen en poder mediante de estas redes” Burch 16.07.2011a.

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Einfluss von Patrons in Lima mittels der Zugangsart zur Weltgesellschaft klassifiziert werden kann.

Sehr einflussreiche Patrons schliessen nicht nur wirtschaftlich sondern auch formal-global an politi-

sche Kommunikation des Landes an. Der Anthropologe spricht aus eigenen Erfahrungen: „Die [peru-

anische] Gesellschaft ist hoch hierarchisiert. Und diejenigen, welche die Gesellschaft politisch führen,

sind Personen, welche auf irgendeine Art den Staat benutzen; selbst wenn es Produzenten sind, um

präferenzielle Verträge mit dem Staat zu erhalten. Und in Wirklichkeit die Spitze der Pyramide des

nicht andinen…, sondern auch der kreolischen Limeños arbeiten in Netzwerken der Reziprozität. Kei-

ner kreolischen Person käme es in den Sinn, irgendetwas via Rechtsweg zu erledigen. Ich gewöhnte

mich selbst daran. Wenn ich ein Problem besitze, so rufe ich einen Freund an, der einen Freund hat,

der mir das Problem lösen kann und ich gehe nicht vor Ort, um es zu lösen. Und so arbeiten sie un-

tereinander und das ist die Basis, um die Macht in der Gesellschaft zu erhalten“ (Burch

16.07.2011a).607 Das Zitat lässt vor allem eines deutlich hervortreten: Nämlich dass die peruanische

Differenzierungsvariante generell und nicht nur in Gamarra durch Patronage und Zweckfreund-

schaftsbeziehungen charakterisiert ist. Im restlichen Lima gibt es jedoch noch weitere Arten von Pat-

ronage als in Gamarra. Nicht alle einflussreichen Patrons verfügen über gleich komplexe Zugänge zur

Weltgesellschaft. Angeblich gibt es in Lima Patrons – und das betrifft die Mehrheit – welche nur via

Wirtschaft Zugang zur Formalität besitzen. Mächtige Patrons haben jedoch auch Zugänge zur forma-

len Politik und können staatliche Aufträge ziemlich eigenmächtig verkaufen. Es kann sein, dass Geld

nicht mehr nur Mittel zum Zweck ist; es geht um (schlecht legitimierten) exklusiven Geldverdienst.

Golte spricht sich dafür aus, dass Limas einflussreichste Patrons in Netzwerken kommunizieren. Diese

Praktiken werden schon seit Jahrhunderten reproduziert in Lima. Doch wie ist Goltes Aussage, einer

hierarchisierten peruanischen Variante zu verstehen? Man muss die Praktiken dieser Patrons genau-

er betrachten: 1. Gibt es empirische Daten, die darauf schliessen, dass sich diese Patrons mit doppel-

tem Zugang zur formalen Weltgesellschaft in einem Netzwerk zusammengeschlossen haben? Und 2.:

Wie grenzt sich das Netzwerk von seiner Umwelt ab? Ethnische Grenzgesichtspunkte eigenen sich

nicht mehr zur Abgrenzung; denn alle Peruaner sind Mischlinge.608 Das Netzwerk schliesst laut Golte

folgende Personen aus: „Derjenige, der keine gute Erscheinung [presencia] besitzt. Sie erkennen es

mit viel mehr Feinheit, als man es annimmt: Aufgrund der Art zu sprechen, aufgrund der Art sich zu

607 Original: “La sociedad [peruana] es altamente jerarquizada. Y los que manejan la sociedad politicamente son gente que de alguna manera utilizan el estado, incluso cuando son productores, para obtener contratos preferenciables para [...] con el estado. Y en realidad la cuspide de la piramide de los no andino sino mas bien los Limeños criollos trabajan con redes a reciprocidad. A ninguna persona criollla le ocuría irse por la via legal en algo. Yo mismo me acostumbré a esto. Cuando tengo problema, entonces yo llamo a un amigo que tiene un amigo para que me solicitione el problema y no me voy al sitio para solucionar esto. Y así ellos trabajan entre ellos y eso es la base de mantener el poder en la sociedad” Burch 16.07.2011a. 608

Es gibt sogar eine peruanische Redensweise, welche die prinzipielle Abwesenheit ethnischer Zugehörigkeit thematisiert: „El que no tiene de inca, tiene de madinga“ oder „de inga como madinga.“ Also von allem ethni-schen Blut etwas. Der Fokus muss folglich auf die Praktiken gerichtet werden. So sind zum Beispiel kommunal-andine Erwartenserwartungen nicht überall in Lima gleich bedeutend.

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kleiden… all dies ist eine Basis, zu exkludieren. Alsdann kann man eine sehr gute Ausbildung besitzen,

aber sie sagen ‚nein, er sollte eine gute Erscheinung besitzen‘. Es ist etwas, das man nicht immer

offen in Worte fasst. Es funktioniert einfach so“ (Burch 16.07.2011a).609 Die Inklusion erfolgt also

nicht wie in der Kolonialzeit mittels Geburt und Herkunft, sondern via einen Selektionsmechanismus,

der auch in den sogenannt modernsten Variationen der Weltgesellschaft üblich ist, um Positionen im

Top Management zu vergeben.610 Andererseits spricht sich Golte dafür aus, dass es persönlicher Be-

ziehungen bedarf und auch Mujica erzählte, dass es in besseren Kreisen üblich ist, nur kurz an einem

Ort zu arbeiten, die Stelle oft zu wechseln, um möglichst viele Brückenpositionen zu verschiedenen

Netzwerken zu besitzen. Es handelt sich wohl um mehrere Netzwerke.611 Die Idee von zwei elitären

Netzwerken in Lima findet sich jedoch auch in Durand (2007). In seinem Werk stiess ich auf einen

Begriff, den ich noch nie sah: „Burguesía informal“. In Peru gibt es also eine formale als auch eine

informale Bourgeoisie. Zur informalen Bourgeoisie schreibt er:

“Sie kommen aus der Armut; das ist ihre Herkunft, wahrscheinlich leben sie mit ih-

nen in den weniger geordneten Stadtquartieren, weil ihre Kultur provinzieller oder

populärer Art ist; aber aus wirtschaftlicher Sicht sind es Aufstrebende. In ihrem

entsprechenden Sektor formen sie eine hohe Schicht. Soziologisch betrachtet sind

es erfolgreiche Leute, die mit einer anderen Kondition prahlen, da sie sich in Pat-

rons, Kommandeure von Massen [mandamases] gewandelt haben, aber nicht wie

609 Original: “El que no tiene buena presencia; lo saben con mucho mas finuro de uno puede sorpechar. Por la manera de hablar, por la manera de vestirse... todo eso es base de excluir. Entonces uno puede tener una muy buena educacion pero dicen no, debe haber buena presencia. Es algo que no se expresa siempre muy abiertamente. Simplemente funciona” Burch 16.07.2011a. 610

In erster Linie zählt die „Erscheinung“ einer Person. Siehe dazu die komparative Studie von Hartmann 2009. 611

Wenn solche Praktiken die Codes der Funktionssysteme hintergehen, handelt es sich gemäss verschiedens-ter Aussagen von Peruanern Burch 27.11.2008 um die „grosse Korruption“ welche als amoralisch gilt. Sie muss also geheim gehalten werden. Doch solche codewidrigen Praktiken, die meistens auf einer fehlenden politi-schen Autonomie in der Sozialdimension basieren, sind nicht leicht zu verbergen, obwohl sie in Netzwerken stattfinden. Personen vereinen mehrere Rollen, was solche Netzwerke zusammenstrickt. Aber genau die Logik des Netzwerkes ist auch ihre Schwäche. Bei einem der grössten Korruptionsfälle, war es der Hauptbeteiligte selbst, welcher die korrupten Praktiken des geheimen Netzwerkes für alle sichtbar machte. Montesinos, wel-cher als Geheimchef dem peruanischen Präsidenten zu unglaublicher Macht verhalf, wusste, dass seine Schmiergeldbezahlungen eines Tages aufgedeckt werden würden, weil Netzwerkkommunikation kaum planbar ist und im Laufe der Zeit dazu tendiert, mehrere Fronten zu generieren. Er brachte in seinem Büro eine Kamera an und filmte alle des Netzwerkes, wie sie von ihm Bestechungsgelder erhielten. Würde er fallen, dann nicht alleine. Auch dieses Druckmittel währte nicht ewig. Im Jahre 2000 veröffentlichte ein oppositioneller Kongress-abgeordneter eines von Montesinos Videos, in welchem ein Oppositioneller von Montesinos Geld entgegen-nahm, damit er zur präsidententreuen Wahlallianz für Fujimori von 2000 übertritt. Das Video löste einen Skan-dal aus, denn wie noch nie zuvor, machte es eine korrupte Bezahlung für alle sichtbar. Fujimori war gezwungen, für 2000 Wahlen auszuschreiben und Montesinos sitzt zurzeit eine 15 jährige Gefängnisstrafe ab. Siehe: Cánepa 2005; Burch 17.07.2011. Ein Netzwerk kann sich also kaum kontrollieren. Während der Amtszeit von Fujimori waren laut Durand 2006 auch alle Minister des MEF (Ministry of Economic and Finance) Unternehmer, weshalb die Unternehmer wie keine andere Gruppe einen privilegierten „Zugang“ zum Staat besass. Doch wie aktuelle Netzwerke dieser Art aussehen, ist nicht Ziel dieser Arbeit.

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Formale, die als comechados612

beschrieben werden, da sie sich nicht zu Tode

schuften“ (Durand 2007, S. 83f.). 613

Durand schreibt ganz klar, dass es zwei Eliten in Lima gibt: Eine formale und eine informale. Es sieht

ganz so aus, als bestünde in Lima ein elitäres Netzwerk, welches sich gegen aufsteigende Personen

widersetzt. Peru ist also im wahrsten Sinne ein gespaltenes bzw. fragmentierte Region, um Durands

Buchtitel zu benutzen. Denn wenn es im Sinne von Durand „Hinterwäldler“ (provincianos), Patrons

und „mandamases“ sowie Populärkultur (cultura popular) gibt, existieren auch Señores bzw. „wahre

Herren“. „Patrons“ sind generell nur wirtschaftlich in formale Zusammenhänge inkludiert. Dies er-

schliessen Personen der aufstrebenden Schicht ebenfalls. So erzählte mir der Industriehändler (Burch

18.11.2008) wie sein Sohn die teuersten Schulen besucht, aber dennoch gehöre er „nicht richtig da-

zu“. Gemäss Durand charakterisiert die Arbeitsethik die jeweiligen „Netzwerke“. Die Einstellung zur

Arbeit ist wie Weber schon früh beschrieb, sogar ein quasi unüberbrückbarer Erwartungszusammen-

hang, an dem sich Sozialstrukturen kondensieren. Während in den andinen Kommunen Arbeit der

Person eine Identität gibt, so ist „Arbeit“ in Durands „formalen Bourgeoisie“ hingegen eine Tätigkeit,

welche wie in der Kolonialzeit von „niedrigem“ Personal verrichtet wird. Arbeit ist unehrenhaft. Bei-

de Logiken, das heisst auch Netzwerke der Bourgeoisie, die sich als offizielle Gruppe beschreiben,

pflegen einen informalen Umgang mit der politischen Kommunikation des Landes. Die Gruppen diffe-

renzieren sich mittels Praktiken, wobei die Grenze jedoch nicht die Unterscheidung formal / informal

nachzeichnet, wie dies hingegen auf semantischer Ebene getan wird. Die einflussreichen Patrons,

welche jenseits von kommunalen Erwartungen kommunizieren, versuchen sich stark gegen die Pat-

rons, welche nur mittels Wirtschaft zur Formalität Zugang besitzen, abzugrenzen. Informalität wird

als Fremdbeobachtungsbegriff verwendet und als Machtdiskurs geführt; so dass Personen und nicht

bestimmte Praktiken als nicht-modern bezeichnet werden. Das Begriffspaar formal/informal operiert

auf semantischer Ebene im Sinne von Inklusion und Exklusion. Dieser Diskurs hat in Lima grössten-

teils rassistische Semantiken abgelöst, welche aus Perspektive der peruanischen Variante bzw. der

Patrons mit mehrfachem Zugang zur Formalität angeblich nicht mehr in die aktuelle Weltgesellschaft

passen. Patrons mit multiplem Zugang bezeichnen Patrons mit bloss wirtschaftlichem Zugang als

Informal. Wichtiger bzw. ist nun, wer im Sinne weltgesellschaftlicher Erwartungen handelt und wer

nicht. Ein richtiger Señor (Herr) ist kein Patron, der nur mittels Wirtschaft Zugang zur Formalität be-

sitzt. Auch Golte berichtet über die Exklusionssemantik bzw. über die Semantik der Informalität, die 612

Der Begriff “comechado” ist spanischer Jargon. Er bezeichnet in Peru Personen, welche erwarten, dass man sie umsorgt, ohne dass sie arbeiten bzw. etwas tun. Siehe Valeta 2010. 613

Original: „Vienen de la pobreza, ese es su origen, probablemente conviven con ellos en los barrios menos acomodados, debido a que su cultura es provinciana o popular; pero desde el punto de vista económico, son emergentes. En su sector respectivo forman una clase alta. Sociológicamente son gente de éxito que ostenta otra condición por haberse convertido en patrons, mandamases, pero no como los formales, descritos como comechados porque no se matan trabajando” (Durand 2007, S. 83f.).

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von Seiten einflussreicher Gruppierungen reproduziert wird: “.... sie möchten also – indem sie dieses

Wort erschaffen – sagen: ‚Wir sind die Korrekten, wir sind die Legalen, wir sind die Modernen und

jenes sind die Informalen‘. Oder zum Beispiel, wenn es einen reichen urbanen Kreolen gibt, so ist es

ein Herr [Señor]; er ist reich, aber wenn es jemanden hat der andin ist, so sagen sie: „Kartoffelkönig“

[rey de la papa] oder „Knollenkönig“ [rey de ulluco], abwertende Namen. […] Klar, sie [die Kreolen]

sind auch Informale, aber sie schützen sich mit der Formalität, damit andere nicht eintreten“ (Burch

16.07.2011a).614 Alle Peruaner haben nach meiner Einschätzung mehr oder weniger „andine“ Ge-

sichtszüge. Ethnische Begriffe wie „kreolisch“ oder „andin“ eignen sich nicht mehr. Es handelt sich

um Semantiken, die Praktiken auf die Person applizieren, womit die ganze Person als informal fremd-

beschrieben wird. Aber auch wenn gewisse stratifikatorische Strukturen der Kolonialzeit teilweise

mittels Netzwerken reproduziert werden, soll das nicht heissen, dass die Funktionssysteme nicht

ausdifferenziert sind. Nur auf der Hinterbühne, welche die Formalität ermöglicht, entstehen in ge-

wissen Bereichen informale Rangdifferenzen. Peru ist eine einseitig auf wirtschaftliche Praktiken

fokussierte Differenzierungsvariante, wobei nicht darüber hinweg geschaut werden kann, dass eine

solche Hinterbühne grosse Ungleichheiten zwischen Patron und Klienten aber auch zwischen unter-

schiedlichen Patrons auf engem Raum reproduziert. Seltsamerweise gibt es dazu gegenteilige Inter-

pretationen. Eine zu Golte gegensätzliche Perspektive vertritt Arellano (2010). Der Ökonom be-

schreibt die „peruanische Gesellschaft“ als „nicht-hierarchisch“ und modern. Seine Monographie „Al

medio hay sitio“ („In der Mitte hat es Platz) gehört in Lima zu einem der meist verkauften Bücher.615

Er beschreibt die „peruanische Gesellschaft“ als ein Rhombus und nicht (wie Golte) als eine Pyrami-

de. Während Golte sich stark auf die Hinterbühne fokussiert, bezieht sich Arellanos Studie zu wenig

auf die eben so wichtigen informalen Zusammenhänge. Er betrachtet die Hinterbühne nicht und

sieht somit auch die Asymmetrien nicht. Angeblich gefällt den Beteiligten Limas jedoch Arellanos

Variante; das Buch ist beliebt; man möchte in Lima also die Hinterbühne los werden. Dies ist jeden-

falls in den Kreisen so, welche jenseits oder nur am Rande von kommunalen Erwartenserwartungen

kommunizieren. Gleichzeitig heissen diese jedoch ihre instabilen dreimonatigen Arbeitsverträge gut;

auch ist es normal, dass man die Firma verlassen muss, wenn dem Bereichsleiter gekündigt wird.

Irgendwie ist dies widersprüchlich und zeigt, wie die Region mit verschiedenen Erwartungen gleich-

zeitig experimentiert. Die peruanische Variante kann also nur als Parallelgesellschaft verstanden

werden. Eine Einsicht, welche gemäss unseres promovierten Industriehändlers wenigen bekannt ist:

„Ja, das ist es, was wir ein wenig formen, so etwas wie ein paralleles Sozialnetz…. Und wir weisen

614 Original: „...ellos quisieran entonces en crear esta palabra es como decir: ‘Nosotros somos los correctos, nosotros somos los legales, nosotros somos los modernos y esos son informales.’ Ya o por ejemplo cuando hay un rico urbano cirollo entonces es Señor, es rico pero por ejemplo cuando hay alguién que es andino entonces dicen “el rey de la papa” o “el rey de ulluco”, nombres despectivos. [...]Claro, ellos [los criollos] también son informales. Pero se escudan con la formalidad para que otros no entren” Burch 16.07.2011a. 615

Dies vernahm ich an der internationalen Buchmesse in Lima im Jahre 2011. (Datum)

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exzellente Resultate auf! Einige wenige, ich sehe so einige Intelligente machen dies“ (Burch

18.11.2008).616 Nur wenige Personen, die aus formalen Zusammenhängen kommen, kommunizieren

also wirtschaftlich auf der Hinterbühne. Die grosse Mehrheit der Vermittler-Patrons kommt hingegen

von der Hinterbühne, um das mal gerichtet zu formulieren. Es macht den Anschein, dass sich infor-

male Zusammenhänge für formale interessieren müssen. So meint er weiter: „Diese Sachen, die ich

dir erzählte, sind sehr schwierig zu verstehen, weil man sieht sie nicht. Das Makrosystem analysiert

sie nicht“ (Burch 18.11.2008).617 Zwischen Formalität und Informalität besteht ein asymmetrisches

Verhältnis; so muss die informale Kommunikation stets die formale mitberücksichtigen. Umgekehrt

ist dies hingegen weniger der Fall. Es gibt es auch weniger Patrons, welche sich zuerst den Anschluss

an die Weltgesellschaft erarbeiteten und danach auf der Hinterbühne mit von der Weltgesellschaft

unsichtbaren Unternehmern arbeiten.

Doch die Asymmetrie zwischen Formalität und Informalität geht noch weiter. Die kommunal basier-

ten Unternehmensnetzwerke konstruieren keine Vorderbühnen, aber sind dennoch in wirtschaftli-

cher Hinsicht äusserst, ja erstaunlich erfolgreich. Der französische Intellektuelle hätte beinahe recht,

wenn er sagt, freundschaftliche Beziehungen können einen Staat ersetzten, wenn man die Ebene der

Weltgesellschaft und deren Asymmetrie zwischen Formalität und Informalität zugunsten ersterer

Zusammenhänge ausser Acht lässt. Erstens müsste Sartres These auf innenpolitische Zusammenhän-

ge beschränkt werden. Die Verfassung wird in Lima als einzige Institution einer strukturellen Kopp-

lung nicht durch persönliche Beziehungen substituiert. Sie ist eine wichtige Institution globalen Politi-

sierens. Auch lokal (innenpolitisch) ist das Verfassungsgericht die wichtigste rechtlich kommunizie-

rende Entität. Dahingegen ersetzt die „kommunale Patronage“ jedoch die anderen Arten strukturel-

ler Kopplungen zwischen Grossbereichen, wie Vertrag, Zertifikat und Besteuerung, weitgehend, wäh-

rend die restlichen Varianten von Klientelismus die Handhabung der „strukturell koppelnden Institu-

tionen“ bestimmt. Die als vierte Variante bezeichnete Beziehung, die „Zweckfreundschaft“ kommt

Sartres Idee erstaunlich nahe. Sie schaffen es jedoch nicht, politische Institutionen des Landes zu

ersetzen, da sie eher den Umgang mit Vertrag usw. beschreiben. Zudem ist noch unbekannt, wie

verbreitet dieser Erwartungszusammenhang ist. Aber auch Limas „betriebsübergreifende Patrona-

ge“, welche vor allem im Gesundheits- und Erziehungswesen Arbeitsverträge kommerzialisiert,

kommt der Idee von Freundschaft ziemlich nahe. Es macht den Anschein, dass Karrieresukzession auf

der Hinterbühne gemäss der These von Sartre jenseits von staatlichen Erwartungen organisiert ist. Es

sind zweckfreundschaftlich-klientelistische Erwartungen, welche die formale Bedeutung eines Ver-

trags definieren. Aber auch hier schafft es die persönliche Beziehung nicht, die politische Kommuni-

616

Original: „Sí, eso es lo que estamos un poco formando como una red social paralela. ¡Mostrando exelentes resultados, eh! Algunos, yo veo así algunos inteligentes lo están haciendo” Burch 18.11.2008. 617 Original: “Estas cositas que te cuento, es bien difícil de llegar a entender porque uno no lo ve pues. No anali-

za este el sistema macro” Burch 18.11.2008.

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kation bzw. einen Vertrag zu ersetzen. „Betriebsübergreifende Patronage“ ersetzt den Vertrag oder

ein Zertifikat nicht sondern bestimmt „lediglich“ deren Bedeutung. Es ist eine Art des Umganges mit

rechtlich-politischen Erwartungen. Dies gilt auch für die „betriebsinterne Patronage“. Innerhalb von

grösseren Firmen bestehen oft lediglich Kurz-Verträge, die alle drei Monate erneuert werden. Die

Erneuerung ist an den Bereichs-Patron gebunden. Entgegen Sartre sind in diesen beiden informalen

Erwartungszusammenhängen jeweils politische Erwartungen indirekt tangiert. Ohne Formalität gäbe

es keine Informalität und umgekehrt. „Organisationsbereichsinterne Patronage“ macht es zum Bei-

spiel erst möglich, dass (Kurz)-Verträge ausgestellt werden. Auch ist entgegen Sartre in all diesen

Beziehungen eine Asymmetrie eingebaut, was dem Sinne von wahrer Freundschaft widerspricht. Es

handelt sich um eine Art Zweckfreundschaft, wobei eine Partei gegenüber der Anderen einen Vorteil

besitzt bzw. in der Rolle eines spezialisierten Patrons agiert. Sartre beobachtet insbesondere nicht,

dass ein bedeutender Teil der Zweckfreundschaften in Lima kommunale Strukturen reproduzieren.

Nur diese Erwartungszusammenhänge sind im Stande, Verträge, Besteuerung und Zertifikate zu er-

setzen.618 Tönnies (1991 (1887)) machte sich hingegen schon früh dafür stark, dass persönlichen Be-

ziehungen auf gemeinschaftlichen Dorfstrukturen basieren. Tönnies liefert sozusagen Sartre das feh-

lende Element der Bedeutung kommunaler Erwartungen. Sartre verweist jedoch auf die Freund-

schaftsbeziehung, die bei Tönnies fehlt. Sartre überschätzt also insgesamt Freundschaftsbeziehun-

gen. Man müsste Sartre gewissermassen mit Tönnies kombinieren, um zur „kommunale Patronage“

zu gelangen. Kommunale Strukturen sind in Peru und darüber hinaus höchst adaptiv und schafften es

selbständig, nach dem Zerfall der europäischen Haciendas nicht nur eine Unzahl an Mikro- und Klein-

betrieben zu bilden, sondern diese auch zu äusserst flexiblen informalen Unternehmensnetzwerken

zu organisieren, welche gewisse Projekte je nach Bedarf via eines Patrons mit Zugang zur formalen

und/oder informalen Weltwirtschaft bewerkstelligen. North (2009) überschätzte im Gegensatz zu

Sartre hingegen etwas die Formalität, wenn er sagt, es brauche einen Staat, der das Vertrags- und

Eigentumsrecht durchsetzt. Die Reproduktion kommunaler Strukturen ersetzt Verträge, schliesst

aber an Eigentumsrecht an. Die Galerien und Läden gehören den Unternehmern in Gamarra offiziell

oder sie mieten sie offiziell. Der Staat oder auch die Formalität kann in Peru nicht alles regeln; die

Institutionalisierung der funktionalen Differenzierung braucht Zeit. Der peruanische Staat müsste sich

dieser noch mehr bewusst werden. Verträge sind in Lima generell nur ansatzweise ausdifferenziert,

und werden auch in grösseren Unternehmen, Spitälern oder Schulen informal gestützt. Der grosse

Teil der Bevölkerung, 95% arbeitet jedoch in Mikro- und Kleinunternehmen, welche Arbeitsverträge

nicht kennen. North überschätzt generell den Begriff „Institution“ etwas. Zudem sind in Limas bedeu-

tendem wirtschaftlichem Textilzentrum, das offiziell mehr als eine Milliarde Dollars Umsatz pro Jahr

618 Dass “kommunal” ein weiter Begriff ist, zeigte Kapitel 7 – es gibt sogar Patrons, die keiner Kommune ange-

hören, aber dennoch wie ein kommunaler Patron kommunizieren – als auch Kapitel 6.1.2.

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generiert, informale Verhältnisse in gewissen Problemlagen erstaunlich kognitiviert. Patronage ist

eine Institution, welche gerade auch grössere Enttäuschungen nicht selten kognitiv aber Alltagsge-

schäfte dennoch normativ zu verarbeiten weiss. Das erstaunt. Gamarra entwickelte sich zu einem

wichtigen Arbeitgeber der Region. Patrons vermitteln Arbeit, da sie sich unter anderem Exportmög-

lichkeiten erarbeiteten. Genau diese Leistung fordert das politische Publikum von einem Staat: Inklu-

sionshilfe in den Arbeitsmarkt erachten die Teilnehmer als die Hauptfunktion des Staates. Studenten

fordern gemäss Portocarrero (2010, S. 17ff) vom Staat insbesondere das Gewährleisten des Arbeits-

rechts und Inklusion in den Arbeitsmarkt. Die breite Öffentlichkeit träumt in Lima seltsamerweise

weniger von einem Wohlfahrtsstaat sondern davon, Arbeit zu haben. Die Patrons schliessen genau

an dieser Forderung an: Sie vergeben Arbeit. Ein wichtiger Unternehmer der Gamarra verdeutlicht:

„Gamarra ist ein lebendiges Zeugnis für alle Peruaner und auch für das Ausland. [...] Die einzige Zu-

kunft, die du hast, ist in der Gamarra, denn hier gibt es Arbeit” (Burch 19.08.2010).619 Tatsächlich

generiert Gamarras Textilwirtschaft über 125‘000 direkte Arbeitsplätze, von den vielen peripheren

Zulieferern gar nicht zu sprechen. Gamarras kommunal gestützte Unternehmensnetzwerke schaffen

es weitgehend, die lokale Inkompatibilität mit staatlichen Erwartungen zu kompensieren. Sowohl

kommunal gestützte als auch kommunal nicht gestützte Informalität führen zu einer lokalen Verwirt-

schaftlichung. Teilnehmer, hier eine Arbeitnehmerin eines Grossunternehmens bezeichnen dies als

Freiheit: Es ist sicher, dass hier in Peru ist es so, dass man als natürliche, unabhängige Person wohl

nicht die Restriktionen besitzt wie in anderen Ländern, [wo es heisst]: ‚Gut, du musst dich gemäss

den Regeln der Regierung ausrichten, sonst kannst du dein Geschäft nicht eröffnen‘. Nein. Wir sind

frei, wir sind gut organisiert, um unsere Geschäfte unabhängig eröffnen zu können“ (Burch

17.07.2011).620 Diese Werte werden auch in Gamarra von den Mirko-und Kleinunternehmer geteilt,

das heisst, auch von Perus grösstem Unternehmens-Sektor.621 Man sieht in der Verwirtschaftlichung

keine Folgeprobleme. Wohl aber auch deshalb weil man strukturell gekoppelte Funktionssysteme in

Lima, Peru noch nie kannte und wie soll man etwas vermissen, das es bis anhin noch nie gab? Das

Lebensmotto des Patrons Herr Morales lautet: “Jeder ist für sich, wir sind frei. Wir sind frei, alles zu

619

Original: „Gamarra es un testimonio vivo para todos los peruanos y también para el extranjero. […] El único futuro que tienes es en Gamrra, aca hay trabajo pues“ Burch 19.08.2010. 620 Original: “Si bien es cierto aquí en el Peru normalmente es como personas naturales, independientes no

tenemos de repente esa restricción como en algunos países: ‘Bueno, tu tienes que alinearte de acuerdo de las reglas del gobierno, que no puedes abrir tu negocio’. No. Somos bien libres, somos bien organizados de poder de repente abrir nuestros negocios independientemente” Burch 17.07.2011. 621 Aber auch für Wissenschaftler wie z.B. Córdova 2008 ist die steile Karriere des ehemaligen Autowäschers

und heutigen Besitzers von Perus Textilimperium Topitop Beweis, dass die „Armen“ in Ländern des Südens nicht nur mittels Informalität im Stande sind, all ihre Probleme zu lösen, sondern dass sich diese Praktiken sogar als Best-Practice Modelle eignen. Gleich wie de Soto 2002 plädiert er, die informale Wirtschaft könne alle Probleme lösen; Folgeprobleme informaler Hinterbühnen, wie Verwirtschaftlichung durch Entkopplung der Funktionssysteme oder Überbelastung des Familiensystems, werden nicht reflektiert.

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machen. Jeder einzelne ist Eigentümer seines Geschäftes“ (Burch 20.07.2010).622 In einem zweiten

Interview sieht er China gar als Vorbild bzw. als Pest-Practice Modell. In China kommunizieren die

Unternehmer gemäss seinen Beobachtungen ebenfalls jenseits von modernen politischen Erwartun-

gen: „Der Chinese sagt dir: ‚Die Regierung interessiert mich nicht, denn die Wirtschaft bin ich (la eco-

nomía soy yo). Ich muss die Wirtschaft machen‘. Wir müssen auch gleich denken. Weil uns – seit wir

in der Gamarra ankamen – keine Regierung half, weder lokal noch zentral” (Burch 19.08.2010).623 Es

gilt nicht das absolutistische Selbstverständnis, „L’État c’est moi“, sondern „die Wirtschaft bin ich“.

Im Gegensatz zur französischen Gesellschaft beschreibt sich Gamarra nicht mittels politischer Termini

sondern anhand ökonomischer Begriffe. Diese Selbstbeschreibung gleicht eher dem schottischen

Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts. Smiths Beschreibung der Marktwirtschaft ist äusserst positiv,

sorgt doch gewissermassen die Marktdynamik als „unsichtbare Hand“ dafür, dass es allen besser

geht. Der Markt gilt als anonyme Koordinationsinstanz. In Gamarra fehlt diese Anonymität jedoch

etwas im Unterschied zum Englischen Modell, das sich gerade durch seine Anonymität charakteri-

siert. Gamarras Modell, das für viele gleichgebaute Wirtschaftszentren ohne Vorderbühnen, steht, ist

weniger normativ gebaut. Konfliktmechanismen gibt es für grössere Enttäuschungen keine, aber

dennoch sind die Unternehmer äusserst erfolgreich. Das heisst: Ähnlich wie auf der Ebene von globa-

len Märkten kein Weltstaat besteht, existiert auch in Gamarra keine derartige politische Kontrolle.

Wirtschaft agiert wie auf globaler Ebene abgekoppelter von den restlichen Funktionssystemen als

dies bei anderen Funktionssystemen der Fall ist. Die Strukturen, welche in Gamarra die staatlichen

Institutionen ersetzen sind zudem zu einem Teil kognitiviert. Das heisst, informale Institutionen sind

weniger normativ als angenommen, sie sind dafür flexibler im Umgang mit Enttäuschungsverarbei-

tung.

Informalität und Formalität sind in einer Weltgesellschaft jedoch verschränkter und asymmetrischer

gebaut, als sich dies insbesondere North vorstellte. Dieses wirtschaftlich erfolgreiche Zentrum, das

vorwiegend nicht nach formalen sondern nach eigenen, informalen Regeln operiert, irritiert mächtige

Akteure der formalen Weltgesellschaft. Gamarra besitzt keine Vorderbühnen. Ausser des Berufsver-

bandes der Träger bestehen keine mehrfach formal anschlussfähigen Organisationen. Vor wenigen

Tagen reiste Hillary Clinton Mitte Oktober 2012 persönlich in Begleitung mit dem „UN Women Senior

Officer“, Michelle Bachelet und Perus First Lady, Nadine Heredia, in die Gamarra, um sich dieses

„Wunder“ mit eigenen Augen anzusehen.624 Danach überschlugen sich die Ereignisse. Ende Oktober

wollte die peruanische Regierung ihren Plan umsetzen, die Unternehmer des an die Gamarra angren-

622 Original: „Cada uno somos aparte, somos libres, somos libres de hacer todo. Cada uno es dueño de su tienda” Burch 20.07.2010. 623

Original: “El Chino te dice, el gobierno no me interesa porque la economía soy yo. Yo tengo que hacer la economía. Nosotros también tenemos que pensar igual. Porque nosotros desde que hemos llegado a Gamarra ni nos ayudó ningun gobierno, ni local, ni central” Burch 19.08.2010. 624

Siehe den Artikel in der peruanischen online Zeitung: Agencia Andina (16. Oct. 2012).

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zenden „Mercado Mayorista La Parada“ an einen anderen Ort zu versetzen. Der „Mercado Mayorista

La Parada“ zählt zu Limas grössten Hauptmärkten und versorgt die Bevölkerung mit Lebensmittel aus

dem Landesinnern, verkauft werden jedoch auch Werkzeuge und andere Utensilien. „Gamarra“, der

„Mercado Mayorista La Parada“ und das Konglomerat “Metal mecánico” sind mehr oder weniger

vernetzte Zentren. Am 23. Oktober 2012 machte ein Trupp Polizisten mit zwölf schweren Betonblö-

cken die Strasse für Automobile unpassierbar, um so und den Zugang zum Markt abzuschneiden. Die

Operation wurde zwei Wochen geplant. Da man mit Ausschreitungen gegen diese politische Aktion

rechnete, wurde der Trupp von einem ganzen Heer begleitet: 5000 Polizisten. Wie erwartet kam es

zu grossen Gewalttätigkeiten: "La Parada no se vende, La Parada se defiende" („La Parada verkauft

sich nicht, La Parada verteidigt sich“) lautete die Parole der 2000 Unternehmer, die sich in ihrer Exis-

tenz bedroht sahen. Es ist die blutigste Auseinandersetzung in Peru seit dreissig Jahren. Angrenzende

Teile von Gamarra wurden verwüstet sowie beinahe 100 Millionen Soles (ca. 36 Millionen Franken) in

Form von Agrarprodukten und Alltagsutensilien vernichtet.625 Obwohl Gamarra nicht direkt betroffen

war, besteht unterschwellig die Gefahr, dass auch Gamarra zerstört werden könnte. Sartres Idee

könnte im Zusammenhang mit kommunalen Strukturen funktionieren; doch es besteht die Gefahr,

dass solch erstaunlich erfolgreiche Zentren ohne Vorderbühne nicht geduldet werden. Gamarras

Erfolg könnte Gamarra zum Verhängnis werden. Bis jetzt funktionierte Gamarra. Das Organisations-

modell der Migranten auf Basis einer teilweise kognitivierten Patronage und damit einhergehende

Netzwerkbildung funktioniert. Ich möchte jedoch nicht behaupten, dass es keinen Staat braucht. Eine

solche Zusammenarbeit wäre von grossem Vorteil. So könnte die zum Teil schlechte Bausubstanz

längerfristig ein Problem bereiten. Der Staat änderte die Zonifizierung im Jahre 1972; das Gebiet von

Gamarra ist seit dann offiziell nicht mehr Wohn- sondern Gewerbezone. Danach versäumte es der

Staat jedoch, die Bauarbeiten zu beobachten. Es fehlen zuweilen Fluchtwege. Die Unternehmer sind

sich dessen zum Teil bewusst. Sie organisierten ansatzweise Übungen, die ein Erdbeben simulie-

ren.626Man fragt sich, wieso der Staat in Gamarra stattdessen eine Hauptsachse total durch den Bau

von unterirdischen Toilettenanlagen lahm legt. Es finden sich in den peruanischen Zeitungen unzähli-

ge Berichte mit Titel wie „Peligro en Gamarra por obras sin acabar. Principales calles afectadas son

Unanue, Humboldt y Bazo“ (Gefahr in Gamarra wegen endlosen Bauarbeiten. Betroffene Hauptstras-

sen sind Unanue, Humboldt und Bazo) (Arroyo, 2001, 4). Die Beteiligten sollten sich gemeinsam an

einen Tisch setzen, um das Probleme anzugehen. Doch wie ist dies möglich, wenn sich ein Teil von

Limas Elite als formal von der anderen abgrenzt und erfolgreiche Unternehmer Gamarras nicht ak-

zeptiert? Es wäre wichtig, dass in einem Zentrum, welches von bis zu 360‘000 Kunden pro Tag fre-

quentiert werden kann, Bauvorschriften beachtet würden, genügend Fluchtwege bestehen und Ge-

625 Siehe Kapitel 5. 626

Siehe dazu den Zeitungsartikel in Agencias El Comercio 2010d.

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bäude in Gamarras Peripherie und Semiperipherie saniert würden. Lokale und das heisst vorerst au-

tomatisch informale Problemlösungen müssen respektiert werden; funktionale Differenzierung

braucht Zeit. Insbesondere wenn kommunale Strukturen sich als derart adaptiv erweisen. Dieser

Respekt wäre der Grundstein für Frieden. Wenn kommunale Strukturen keine Möglichkeiten sehen,

sind grössere Unruhen vorprogrammiert. Eventuell sind peruanischen Politikern jedoch auch etwas

die Hände gebunden. Best Practice Modelle sind blind für segmentäre Strukturen. Es gibt in der Lite-

ratur keine erfolgreichen Zentren der Wirtschaft, welche aufgrund der Reproduktion kommunaler

Strukturen bestehen. Im Gegensatz zu den intern informal organisierten Haziendas besitzen Gamar-

ras Unternehmensnetzwerke keine Vorderbühnen. Anders als England sieht die amerikanische Ei-

genbeschreibung der Wirtschaft aus. DuPont, JR. (1993 (1977)) schreibt nicht von der „invisible

hand“ des Marktes, sondern von der „visible hand“ der US-Manager. So ist es in den USA laut DuPont

die sichtbare Hand der grossen US-Manager, welche die Marktprozesse definieren und nicht die ano-

nymen, unsichtbaren Kräfte des Marktes. Haben die Multis kein Interesse, dass ein solches Textil-

zentrum derart erfolgreich ist? Gamarras Unternehmensnetzwerke sind intern nicht kontrollierbar,

wie dies die Haziendas waren und schon gar nicht sind sie mit dem Konzept der Massenproduktion

vereinbar. Sie kommen eher der schweizerischen Wirtschaftsorganisation nahe, deren Stütze aus

innovativen KMUs besteht, welche grössere Unternehmen mit Spezialanfertigungen beliefern.627 Sind

Akteure aus Zentren der Prallelgesellschaft nicht akzeptiert? Gemäss Stichweh (2006a) wirken die

Eigenstrukturen der Weltgesellschaft auch diversifizierend. Ob die Weltgesellschaft ihre Diversität

auch anerkennt, wird sich in Lima erst noch zeigen.

627

Siehe Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (2012) und Untersuchungen des Bun-des unter Admin (2012)

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10 Schlusswort: „Vinimos de la chacra“

Segmentäre Strukturen können unglaublich adaptiv sein und werden in der Literatur unterschätzt. In

Peru und darüber hinaus werden segmentäre Erwartungen seit Jahrtausenden reproduziert. Sie stell-

ten sich auf verschiedene Umwelten ein, seien es ein karger tropischer Boden im Gebirge oder ein

globalisiertes kapitalistisches Wirtschaftsprogramm. Auch den mangelnden Anschluss an politische

Erwartungen des Landes vermögen Institutionen, die in segmentären Strukturen wurzeln, zu kom-

pensieren. In Peru existierte noch nie ein „starker“ Staat. In der Alltagspraxis schliesst man selten an

politische Erwartungen des Landes an, sondern tut dies informal auf der Hinterbühne. Diese informa-

len Anschlüsse haben zwei Gesichter und können anhand der Unterscheidung netzwerk- oder seman-

tikbasiert systematisiert werden. Beteiligte kennen informale Semantiken und wissen wann, wer, in

welcher Situation des alltagspolitischen Kommunizierens nicht formale Regeln erwartet sondern in-

formale. Einen Polizisten muss man nicht kennen, um ihm die Busse direkt zu bezahlen. Man muss

lediglich seine Sprache verstehen. Die zweite Art von Informalität im Bereich der Politik stützt sich

auf Netzwerke. Sind diese Netzwerke exklusiv angelegt, handelt es sich um die sogenannt „grosse

Korruption“, in welcher man sich nicht legitim „die Hand gibt“ und Freundschaft erhält, sondern „sich

die Hand bricht“, um illegitim Geld zu akkumulieren. „Sich die Hand zu geben“ ist alltäglich, aber

dennoch nicht wirklich normal, da der formale Weg den Teilnehmern stets präsent ist und es sich

immer um eine gewisse Art von Risikokommunikation handelt, die eben auf die Hinterbühne ver-

bannt werden muss. Zu einer wirklichen Umkehr im Sinne von Holzer kommt es nicht. Man kommu-

niziert quasi informal in Bezug auf Formalität. Informalität kann sich von Formalität nicht abkoppeln.

Gerade in Bezug auf die Formalität entwickelte sich die Institution des „dar la mano“ zu einer quasi

totalen Institution im Sinne von Mauss weiter. Es handelt sich um eine Adaption bzw. Reproduktion

der voreuropäischen Institution des Ayni oder des Yanapanakuy (sich gegenseitig helfen). Ich wage

zu behaupten, dass diese Regel von hoher Relevanz ist, da sie nicht nur in begrenzten Situationen

zum Zug kommt, sondern in verschiedenen Konstellationen in der peruanischen Differenzierungsva-

riante auftaucht. Es wird erwartet, dass man sich gegenseitig hilft und man kann erwarten, dass Per-

sonen aus einer anderen „Kommune“ diese Erwartung ebenfalls kennen. Der dahinterliegende Ge-

danke ist derselbe wie ihn Mauss beschreibt. Er ist trotz des kollektiven Ansatzes interessanterweise

von egoistischer Natur: So kann das Glück eines anderen mir in einer anderen Situation eventuell

auch einmal von Nutzen sein. Kleinere Hilfsleistungen erhält man oft bedingungslos.

Wie kommunal fundierte Erwartenserwartungen die abwesenden staatlichen Strukturen kompensie-

ren, wird besonders deutlich, wenn man die Analyse vorerst auf ein Wirtschaftszentrum begrenzt. Es

mutet unwahrscheinlich an, dass in einer Umgebung eines schwachen Staates sich ein Zentrum der

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Textilindustrie entwickelte. Um zu verstehen, wie in einem Wirtschaftszentrum Limas der mangelnde

Anschluss an moderne politische Kommunikation verarbeitet wird, muss man Hinterbühnen aus-

leuchten und dabei Konzepte verwenden, welche globale Vergleichbarkeit ermöglichen. Die System-

theorie von Luhmann und Stichwehs Weiterentwicklung auf weltgesellschaftliche Strukturen, aber

auch Holzers Verständnis von Informalität und Formalität stellten wichtige Begriffe bereit, um die

peruanische Differenzierungsvariante mittels global vergleichender Begriffe zu beschreiben. Informa-

le Hinterbühnen nehmen direkt Bezug auf ihre formalen Vorderbühnen, dennoch sind die meisten

Theorien blind für die aufeinander verweisenden Erwartungszusammenhänge. Informale Alltagsinsti-

tutionen sind schlecht erforscht, obwohl diese in vielen Differenzierungsvarianten in der Weltgesell-

schaft geradezu der Ort gesellschaftlicher Problemlösung darstellt. Während Holzers Idee, Formalität

und Informalität direkt aufeinander zu beziehen neu ist, so ist der Gedanke, dass es Bereiche bzw.

Gruppen in der Gesellschaft gibt, die anderen Logiken folgen, in der Soziologie älter. Bereits Tönnies

als auch Durkheim beobachteten in der Gesellschaft zwei Sets von Erwartungen, welche nach unter-

schiedlichen Logiken operierten, wobei sich ein Bereich auf vormodern gewachsene Strukturen be-

zieht. Vormoderne kommunal-gemeinschaftliche Strukturen können jedoch nur als aktive Adaption

im Sinne von Parsons, bzw. als Reproduktion und insofern nur im Zusammenhang mit formalen Er-

wartungen verstanden werden. Die Weltgesellschaft ist nicht so homogen, aber auch nicht so hete-

rogen wie bisweilen angenommen wird.

Gamarras Erfolg basiert auf der Art der Reproduktion segmentärer Strukturen, welche in religiösen

Dorffesten wiederkehrend gestärkt werden. Segmentäre Strukturen reproduzieren sich heutzutage

im Rahmen von Patronagestrukturen, Netzwerkstrukturen und Organisationsstrukturen. Obwohl

segmentäre Strukturen egalisierend wirken, beinhalten sie zugleich auch, viele einzelne asymmetri-

sche Erwartenserwartungen. Patrons übernehmen wichtige Rollen im Bereich Erziehung, Politik, zu-

weilen Gesundheit und vor allem im Bereich der Wirtschaft. Es wird erwartet, dass Onkel oder Tan-

ten bei der Erziehung ihre Neffen oder Nichten helfen. Während die ältere Generation dadurch ver-

trauliche Arbeitskraft zur Verfügung hat, erhalten die Jüngeren Zugang zu Wissen und Unterneh-

mensführung. Die Reproduktion dieser Erwartungszusammenhänge bildet eine wichtige die Basis für

die Unternehmensnetzwerke der Migranten in Gamarra. Die Patrons sorgen sich im Zentrum Gamar-

ras auch um die physische Sicherheit ihrer Klienten bzw. Arbeitnehmer. Sie erfüllen hauptsächlich

jedoch wirtschaftliche Funktionen, verfügen über wichtige Kundenkontakte, kennen Zulieferer und

einflussreiche Patrons oder operieren als Vermittler zu formalen Organisationen, zu nennen sind

insbesondere Banken und ausländische Firmen. Letztere können so ihre Markenkleiderproduktion

flexibilisieren. Produktion international bekannter Markenkleider ist nur aufgrund einer zuverlässigen

und langfristig funktionierenden Patronage vor Ort möglich. Ein Patron, welcher selbst eine Unter-

nehmung besitzt und zudem Zugang zu vielen anderen Sub-Patrons hat, kann die Textil- und Kleider-

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produktion äusserst flexibel gestalten. In den andinen Kommunen wurde Flexibilität schon seit Jahr-

hunderten reproduziert. Um Agrikultur in verschiedenen und zum Teil sehr unwirtlichen Zonen des

Andenhochlandes zu betreiben, bedurfte es der Zuverlässigkeit flexibler Arbeitsgruppen, deren Zu-

ständigkeiten und Verpflichtungen kurzfristig und schnell durch segmentinterne Patronage gelöst

wurde. Auch verhinderte es das Entstehen einer Marktwirtschaft. Teile der Kommune wurden in

unterschiedliche Höhenlagen versetzt, Güter und Dienstleistungen wurden segmentintern getauscht.

Die Literatur unterschätzt tendenziell Irritationen von Seiten der physischen Umwelt. Es ist eine quasi

nicht sozialwissenschaftlich anmutende Interdependenz. Man findet sie jedoch in Parsons Theorie;

diese Kopplung wurde später jedoch vernachlässigt. Die Unternehmer betonten immer wieder: „Vi-

nimos de la chacra“ (Wir kamen von den Feldern). Die kontemporäre Reproduktion dieser kommuna-

len Erwartungszusammenhänge ermöglicht weit reichende Patron-Klient-Netzwerke, die nach Bedarf

Personal flexibel beiziehen können, um Waren pünktlich zu liefern. Die Tausenden von Mikro- und

Kleinunternehmen sind in der Lage, sich zu Superorganismen – um einen Begriff aus der Biologie zu

verwenden – zusammenzuschliessen. Der Pünktlichkeit kommt eine hohe Bedeutung zu. Das Einhal-

ten zeitlicher Abmachungen ist schon seit Jahrtausenden wichtig, um die Felder zu einem flexiblen

Zeitpunkt je nach Einsetzen der Regenzeit gemeinsam mit dem Fusspflug zu bewirtschaften. Wie

vielerorts in Europa ist auch in Gamarra aber auch in Lima die Beobachtung der Zeit omnipräsent.

Jeder weiss, Kommunikation kann in den meisten Funktionssystemen beschleunigt werden. Patrons

(Unternehmer aber zum Beispiel auch Richter) können zuweilen als Zeitmanager auftreten. Sie dis-

ponieren darüber, wie schnell ein Klient, sei dies ein anderer Unternehmer oder ein Anwalt, seine

Anschlusskommunikation fortsetzen kann. Patrons machen den Beteiligten somit die Kontingenz des

zeitlichen Prozessierens der Kommunikation sichtbar; der Umgang mit Zeit ist ihre Stärke. Sehr ein-

flussreiche Patrons sind schweigende Patrons; sie verlangsamen das Interaktionssystem und halten

das Urteil, im Falle des „spielenden“ Richters oder die Bezahlung, im Falle des Unternehmer-Patrons

zurück. Schweigen zu können, ist ein Zeichen von Machtausübung. Gegen das Schweigen kann man

sich nicht wehren. Im Gegensatz zu einem mitgeteilten „nein“, bietet eine Nicht-Kommunikation

kaum Konfliktpotential. Zeit wird überall verstärkt beobachtet; wird man in Gamarra nicht schnell

bedient, so verdächtig man, nicht genügend „Einfluss“ zu besitzen. In Gamarra hörte ich von Kunden

im Umgang mit dem Verkaufspersonal ständig: „Apurate!“ (Beeile dich!). In Gamarra wird vor allem

eine Norm durchgesetzt und das ist die Regel der Pünktlichkeit: „Ein Arbeiter, der nicht pünktlich ist,

zerstört alles“, sagte eine Unternehmerin. Unpünktliches Personal ist unbrauchbar und wird entlas-

sen. Zuverlässig pünktlich arbeitende Klienten gelten als besonders wertvoll. Sie werden befördert

und erhalten zuweilen Kredite oder Inklusionshilfe ins Gesundheitssystem von Seiten des Patrons

oder der Patronin.

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Obwohl sich symmetrische und/oder asymmetrische Unternehmensnetzwerke bilden, sind die Mik-

ro- und Kleinunternehmen prinzipiell selbständig. Selbständige Sub-Patrons zu erhalten, ist bereits

das Ziel der Onkel und Tanten, wenn sie ihre Nichten und Neffen als Organisationsmitglieder in die

Firma einbeziehen. Ferner ziehen es die Unternehmer vor, viele kleine Geschäfte zu besitzen, um auf

dem Markt allgegenwärtig, aber unsichtbar für die überlastete Steuerbehörde zu sein, welche aus

Sicht der Unternehmer sich nicht als reziprok agierender Patron erweist. Gemäss Parsons spezialisier-

te sich die Westliche Gesellschaft auf adaptive Funktionen. Kommunale Erwartungen in Gamarra

gleichen in dieser Hinsicht (gewissen) europäischen Erwartenserwartungen, sie sind jedoch kollekti-

ver strukturiert. Paradoxerweise trägt dieses kollektive Element in Lima jedoch auch einen individua-

listischen Imperativ in sich. „Tienes que moverte!“ (du musst dich [räumlich] bewegen!) und „Todos

somos libres!“ (Wir alle sind frei!) sind Leitmotive der Unternehmer. Aber auch vielerorts in Europa

waren segmentäre Differenzierungsformen von grosser Bedeutung. Das kommunal-andine Leitmotiv

„Jeder ist frei“ impliziert auch einen speziellen Umgang mit Enttäuschungen. Man ist sich der doppel-

ten Kontingenz bewusst. Dies impliziert der Begriff „frei“. Um unternehmerisch tätig zu sein, nimmt

man Risiken „bewusst“ in Kauf, die Verletzung der Norm „Ehrlichkeit“ kann nicht gesühnt werden,

auch wenn dies gewisse Patrons zuweilen gerne täten. Einige Patrons verzeichnen derart hohe Ge-

winne, dass man selbst schwerwiegende Diebstähle verkraftet. Der Unternehmer weiss, dass das

Risiko in dieser Region grösser ist als zum Beispiel in Deutschland. Aber das Risiko, dass gewisse Ent-

täuschungen kognitiviert werden müssen, ist bei weitem kleiner als der Gewinn, der mittels dieser

paradox anmutenden teilweise “kognitivierten Patronage“ erzielt werden kann. Das Element der

Kontrolle ist erstaunlich gering vorhanden. Es geht immer um Unternehmensnetzwerke. Die Arbeiter

möchten prinzipiell selbständig bzw. selbstverantwortlich sein. Einerseits dämpfen kommunale

Strukturen Rachegefühle gegenüber Personen, die man schon länger kennt. Im Sinne von Nietzsche

kommt Feindschaft nicht durch Feindschaft zu Ende. Kommunale Strukturen verunmöglichen Konflik-

te ein Stück weit. Andrerseits fehlen die Mittel. Patronage ist imstande, beiden Arten der Enttäu-

schungsverarbeitung zu kombinieren und genau das macht diese Struktur derart erfolgreich und inte-

ressant. Diese Konstellation ist sonderbar und fehlt in der Literatur. In Lima und zum Beispiel auch in

Bolivien sind jedoch gerade Zentren der Wirtschaft erstaunlich kognitiv strukturiert. Kommunale

Strukturen sind imstande, nicht nur normative Erwartungen zu stabilisieren sondern wirken erstaun-

licherweise auch kognitivierend. Patronagen sind konfliktunfähige Systeme. Die nie bestandene Ver-

bindung der Wirtschaft zum Recht wird nicht vermisst. Nicht ein Staat sondern die Wirtschaft wird als

handlungsfähig erachtet. Bei erfolgreichen Patrons gilt der Slogan „Die Wirtschaft bin ich“ und nicht

die französisch, absolutistische Variante „der Staat bin ich“. In Gamarra treten Unternehmenskonflik-

te ab und an im Familiensystem auf, welche zuweilen von den Massenmedien als Familienkonflikte

fremdbeobachtet werden. Familienkonflikte wurden in dieser Arbeit nur am Rande untersucht; diese

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These bedürfte einer genaueren Überprüfung. Das Recht verlagerte seine Zuständigkeit interessan-

terweise in den informalen Bereich. Doch da es intern auf der Hinterbühne selbst informal mittels

Patronage operiert, sind seine Leistungen für die Wirtschaft begrenzt. Inklusion in Patronage spielt

beim Eintritt ins Rechtssystem eine grosse Rolle. Man muss einen Anwalt kennen. Anwalt-Mandant

Interaktionssysteme bestehen nur als Vertrauenszusammenhänge. Ähnlich wie beim Gesundheits-

wesen wird Inklusion ins Recht also durch eine persönliche Beziehung organisiert. Auch rechtsintern

sind persönliche Beziehungen zwischen verschiedenen juristischen Leistungsrollenträgern vor allem

in den unteren und mittleren Instanzen von hoher Relevanz. Das Strafrecht wird zum Teil durch In-

formalität, welche ohne Netzwerke bzw. Patronage auskommt, überlagert. Gerade das Strafrecht hat

Mühe, formal zu operieren. Dies ist erstaunlich, bezeichnet doch Durkheim das Strafrecht als das

archetypische Recht vormoderner Institutionen. Gerade das evolutionär „alte“ Strafrecht ist jedoch

alles andere als einfach implementierbar in der Umwelt von Funktionssystemen. Die Urteilsspre-

chung Limas konzentriert sich im Arbeitsrecht auf das Verfassungsgericht. Insofern kommt der Ver-

fassung eine besondere Bedeutung zu. Bereits angesichts der hohen Inklusionshürden des Rechtswe-

sens erstaunt es nicht, dass rechtliche Konfliktmechanismen nur sehr selten und erst nach Ende eines

Arbeitsverhältnisses in Erwägung gezogen werden, falls die Person einen Anwalt kennt und genügend

Zeit sowie Geld besitzt. In Gamarra begrenzt sich dieses Ansinnen hauptsächlich auf die Verkaufsga-

lerie „Párque Cánepa“, welche von einer kommunal-auswärtigen Person geführt wird. Die Stände

werden nur vermietet. Die Verhältnisse zwischen Vermieter und Verkäuferinnen sind temporär auf

semantischer Ebene quasi vertraglich geregelt. Die Tauschleistungen sind rein wirtschaftlicher Art, es

findet keine Wissensvermittlung statt und es besteht auch keine Möglichkeit sich bezüglich weiterer

Funktionen in das hoch spezialisierte Patronageverhältnis zu inkludieren. Beziehungen, die weder

formal sind, und nicht an arbeitsrechtlichen Gesetzen anschliessen, noch als Patronage organisiert

sind, geben Anlass zu Unmut. Gescheiterte rechtliche Kommunikationsversuche frustrieren die Ver-

käuferinnen zusätzlich.

Die Arbeit entschlüsselt drei Ebenen von Patron-Rollen: Patrons, Sub-Patrons und Hauptpatrons.

Zuerst wurden in Netzwerken Patrons von Sub-Patrons unterschieden. Oft sind Sub-Patrons ehemali-

ge Klienten des Patrons, welche sich verselbständigten, aber im gleichen Netzwerk tätig sind. Gamar-

ras Unternehmensnetzwerke entsprechen der Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie.

Der Patron kommuniziert praktisch ausschliesslich mit seinen Sub-Patrons; er kennt die Arbeiter sei-

ner Sub-Patrons zuweilen nicht. So wie der Patron Vermittler zur formalen (oder auch informalen)

Weltwirtschaft ist, ist der Sub-Patron Vermittler zu diesem Vermittler. Es bilden sich lange Unter-

nehmensketten, die mal mehr und mal weniger zusammen arbeiten. Die Rolle des Hauptpatrons

beschreibt noch komplexere Netzwerke und verdeutlicht, dass die Unternehmensnetzwerke als

Netzwerkgebilde nur mittels der Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie verstanden wer-

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den können. In dieser Studie wurden drei Arten des Anschlusses an die formale Weltwirtschaft un-

terschieden: 1.) Unternehmensnetzwerke mit einem grossen organisierten Zentrum, welches mehr-

fach an die Formalität anschliessbar ist. Nicht nur in der Peripherie sondern auch im Zentrum wird

produziert 2.) Unternehmensnetzwerke deren Zentrum ebenfalls aus einer formalen Organisation

bestehen. Die Peripherie, welche asymmetrische Netzwerke inkludiert, die via Vermittler mit dem

administrativen Zentrum kommunizieren, ist essentiell. Man könnte die Struktur „Satellitenprodukti-

on“ nennen. 3.) Unternehmensnetzwerke deren Zentrum aus der Vermittlerposition eines Patrons

bestehen. Eine formale Vorderbühne wurde nicht oder nur sehr rudimentär erstellt. Die Rolle des

Hauptpatrons beschreibt eventuell eine Übergangsphase eines Unternehmensnetzwerkes von dem

Bereich 3) zu Bereich 2). Patrons der Unternehmensnetzwerke aus Bereich 3) arbeiten auch mit Un-

ternehmensnetzwerken aus dem Bereich 1) und 2). In Gamarra konzentrieren sich Unternehmens-

netzwerke des Typus 3). Diese Konzentration ist auch an das Problem der Logistik gekoppelt. Seg-

mentation wird in der Literatur unterschätzt und wird nicht mit Organisation in Verbindung gebracht,

die mehrfach an formale Erwartungen anschliessbar ist. Auf Basis von kommunalen Strukturen bilde-

te sich in Gamarra ein umfangreicher professioneller Arbeitsverband, welcher als Organisation gegen

aussen mehrfach an Formalität anschliessbar ist und intern aus Selbständigen besteht. Seit Beginn

der europäischen Industrialisierung lösten ganze Kommunen in Lima das Problem des motorisierten

„öffentlichen“ Transports auf „private“ Weise. Mitglieder gewisser Kommunen spezialisierten sich

auf einen Beruf. In Gamarra bildete sich aus kommunalen Gruppen ein Berufsverband, welcher ver-

schiedene Dörfer inkludiert, die sich auf Transportleistungen spezialisierten: ASETRAM, die Asociaci-

ón der Träger. Die Organisation vermittelt Arbeitskontakte jenseits von persönlichen Kontakten und

ersetzt für Hunderte von Arbeitern zugleich Zertifikate und Verträge, da der Verband formalisiertes

Vertrauen gegen aussen vermittelt. Nur so war es möglich, dass Gamarras Unternehmensnetzwerke

an die Weltwirtschaft anschliessen konnten und sich um Gamarra eine dezentrale Peripherie bildete,

welche in Lima viele weitere Personen beschäftigt, da dieser Verband auch teure Maschinen in die

Werkstätte auf schwerzugänglichen Hügeln bringt. Der Verband verwirklichte Vollinklusion hinsicht-

lich aller Personen, welche logistische Probleme lösen und formalisiert somit dieses Feld vollständig.

Im Gegensatz zu asymmetrischen Netzwerken oder Patronageverbänden ist diese Organisation auch

im Bereich der Politik kompatibel mit Formalität. Der Verband besitzt eine Vorderbühne. Sie be-

schreiben sich deshalb nicht als „Kleine Staaten“ (estado chiquito) und stehen somit auch nicht in

einem Konkurrenzverhältnis zum Staat.

So bestehen in Lima weitere Arten von klientelistischen Verhältnissen. Diese besitzen jedoch zum Teil

Vorderbühnen und fallen nicht auf. Insgesamt unterscheidet die Arbeit vier Arten nichtkapitalisti-

scher Praktiken. 1). Eine „organisationsbereichsinterne Patronage“, so werden in Lima oft ganze Be-

reiche entlassen oder neu eingestellt, da Verträge auf der Hinterbühne durch klientelistische Tausch-

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verhältnisse bestärkt werden. 2.) Eine „organisationsübergreifende und funktionssysteminterne Pat-

ronage“: Hier ist das Element der Patronage stärker vorhanden. Es beschreibt Patronagen zwischen

Mitgliedern aus unterschiedlichen Organisationen, wobei ein Mitglied aus einer peripheren und das

andere aus einer zentraleren Organisation desselben Funktionssystems stammen. Sowohl Lehrer als

auch Ärzte organisieren Karrieresukzession ausserhalb von Organisation mittels informaler Tauschge-

schäfte. Diese beiden Arten nichtkapitalistischer Praktiken, d.h. von 1) und 2) ermöglichen die struk-

turelle Kopplung „Vertrag“ sowie formale „Organisation“, d.h. eine legitime Vorderbühne. Ohne

Vorderbühne gibt es viele Erwartungszusammenhänge, die auf „kommunaler Patronage“ basieren.

Wie im Falle von ASETRAM gesehen, ist kommunale Patronage jedoch imstande, an formale Organi-

sation anzuschliessen. Vertrag und auch Zertifikat werden dabei jedoch substituiert. Dieser Unter-

schied ist zentral und neu in der Literatur. Ähnlich wie Patronage ist 3.) auch „Zweckfreundschaft“

eine Variante von spezialisierter Patronage, welche zuweilen ohne Vorderbühne auskommt und Ver-

trag ersetzt. In Anlehnung an den „Zweckverband“ spreche ich von „Zweckfreundschaft“. Da eine

Person im Vorteil ist und der anderen zu einer Inklusion verhilft, ist nicht von „Freundschaft“ sondern

von einer asymmetrischen Beziehung die Rede. Sie entsteht in vielen Situationen und ist kaum von

der totalen Institution des „dar la mano“ zu unterscheiden. Im Gegensatz zum „dar la mano“ ist die

Zweckfreundschaft jedoch langfristig. Die Beteiligten lernen sich kennen und danach finden grössere

Tauschpraktiken statt, wobei zum Beispiel Verträge ersetzt werden. Im Unterschied zum allgegen-

wärtigen „dar la mano“ wird sie durch gute Leistung, zum Beispiel wiederholt pünktliche Leistung

begünstigt. Das „dar la mano“ beschreibt jedoch auch Tauschverhältnisse, deren Beteiligte einander

fremd sind, insofern sind diese beiden Institutionen voneinander zu differenzieren. Manche nichtka-

pitalistische Praktiken, insbesondere die kommunale Patronagen, ersetzen gewisse Institutionen

struktureller Kopplung. Es sind dies: Erstens Arbeitsvertrag jedoch nicht Miet- oder Kaufvertrag, zwei-

tens zum Teil Besteuerung jedoch nicht Eigentum und drittens Zertifikat. Die anderen Arten kliente-

listischer Verhältnisse beschreiben hingegen einen informalen Umgang mit diesen Institutionen auf

der Hinterbühne. Ich möchte in Erinnerung rufen, dass die soeben aufgezählten Institutionen wie

Vertrag, Besteuerung, Zertifikat usw. Leistungsverhältnisse zwischen jeweils zwei Funktionssystemen

beschreiben. So macht der Vertrag wirtschaftliche Kommunikation für das Recht beobachtbar. Be-

steuerung koppelt Wirtschaft strukturell mit Politik usw. Klientelistischen Verhältnissen, welche Insti-

tutionen struktureller Kopplung substituieren, führen zu einer teilweisen Entkopplung der Funktions-

systeme. Durch diese „Entkopplung“ wird jedoch informal der Anschluss an die formalen Funktions-

systeme ermöglicht. „Entkopplung“ ist wohl nicht ganz treffend, da die Funktionssysteme in dieser

Differenzierungsvariante noch nie strukturell gekoppelt waren. Die anderen Arten klientelistischer

Verhältnisse, welche im Rahmen von mehrfach an Formalität anschliessbarer Organisation stattfin-

den, beschreiben einen informalen Umgang mit strukturell koppelnden Institutionen; sie ersetzen sie

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nicht. Diese nichtkapitalistischen Praktiken erhalten sowohl Arbeitsverträge und Zertifikate als auch

den Anschluss an die Funktionssysteme auf informale Art aufrecht. Zuweilen sind diese strukturell

koppelnden Institutionen jedoch nur auf der Vorderbühne vorhanden; dies könnte insbesondere auf

Besteuerung zutreffen. Einen informalen Umgang mit Mietvertrag findet man auch bezüglich kom-

munaler Patronage. Die Funktionssysteme bestehen also in Lima, sie sind jedoch beschränkt struktu-

rell miteinander verbunden. Insbesondere Eigentum und ein Stück weit Verfassung funktionieren im

formalen Sinne. Verfassungsrechtliche Verfahren lösen juristische Fälle, strafrechtliche Entscheide

sind jedoch während des laufenden Verfahrens monetär beeinflussbar. Gerade dies macht die Be-

deutung der Verfassung ambivalent. Bereits der Anschein von Straffreiheit wirkt für das ganze

Rechtssystem delegitimierend; andrerseits ist das überlastete Verfassungsgericht in zivilrechtlichen

Prozessen eine wichtige Institution, da auf tieferen Instanzen umfangreiche Hinterbühnen bestehen

und Fälle oft bis zur letzten Instanz weitergezogen werden müssen. Im Falle der Verfassung bestün-

de sicherlich noch Forschungsbedarf, was jedoch nicht Ziel dieser Arbeit war. Verfassungen sollten

jedoch nicht als Mythen oder leere Hüllen der Weltgesellschaft bezeichnet werden; die Verfassung

ist in Lima eine aktive Stütze des peruanischen Rechtswesens. Wie sind diese Ergebnisse in der Theo-

rie der Weltgesellschaft zu verorten? Worauf machen diese Problemlösungen aufmerksam? Alle In-

stitutionen struktureller Kopplung beschreiben im Sinne von Stichweh weitere Arten von Eigenstruktu-

ren der Weltgesellschaft. Es sind dies Vertrag, Besteuerung, Eigentum, Zertifikat und Verfassung.

Diese werden ersetzt oder es wird informal mit ihnen umgegangen. So wie zum Beispiel die Eigen-

struktur formale Organisation durch Netzwerkstrukturen ersetzt werden kann, können Verträge

durch Patronage ersetzt werden. Solche Sozialzusammenhänge besitzen dann meist keine Vorder-

bühne. Im anderen Fall wird Vertrag informal durch Patronage ermöglicht, wie dies bei befristeten

Arbeits- und Mietverträgen der Fall ist. Eigenstrukturen wirken höchst diversifizierend als auch ho-

mogenisierend.

Die Funktionssysteme sind also solche in Lima ausdifferenziert, betroffen sind deren Verbindungen.

So ist die sachliche Autonomie der Funktionssysteme kaum beschränkt, es ist die zeitliche Autono-

mie, welche in Lima in vielen funktionalen Zusammenhängen nicht gewährleistet ist. Es geht um den

schnellen Erhalt einer Geburtenurkunde und nicht um deren Fälschung. Äquivalent bekommt man in

Lima im Gesundheitswesen beispielsweise eine Diagnose, es geht insofern nur um Beschleunigung,

eine Operation schnell zu erhalten. Dasselbe gilt im Rechtswesen. Schnelle Urteilsverkündigung ist

gefragt, lediglich im Strafrecht werden Urteile zuweilen illegitim gekauft. Insgesamt führt diese Kons-

tellation, das heisst, der Ersatz und der informale Umgang mit gewissen Eigenstrukturen der Weltge-

sellschaft zu einer lokalen Verwirtschaftlichung. Die mangelnden Beobachtungsverhältnisse zwischen

den Funktionssystemen bereitet nicht allen Bereichen gleich grosse Schwierigkeiten. Verlierer sind

das Gesundheits-, Rechts-, Familien-, und Erziehungssystem. Auch das „dar la mano“ wirkt in man-

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chen Situationen verwirtschaftlichend; ist jedoch notwendig, um die Formalität zu erhalten und wirkt

in anderen Situationen integrierend im Sinne von Parsons. Es wäre zudem falsch, die Verwirtschaftli-

chung der „kommunalen Patronage“ anzulasten. „Kommunale Patronage“ substituiert den mangeln-

den Anschluss an politische Erwartungen des Landes sehr erfolgreich; nicht zuletzt, weil diese Art von

Patronage wie das „dar la mano“ legitimiert ist. In Erinnerung zu rufen ist diesbezüglich auch, dass

sich in Lima Anfangs des 19. Jahrhunderts niemand einen Staat wünschte. Lima war während mehre-

ren hundert Jahren privilegierte Hauptstadt des gesamten Viezekönigreiches von Spanien. Die da-

mals vorwiegend weisse Oberschicht Limas wollte an einer „republikanischen Monarchie“ festhalten,

was umliegende Regionen jedoch vereitelten. Niemand wünschte sich ernsthaft einen Staat. Man

findet auch im übrigen Lima kaum Arbeitsverträge, die länger als drei Monate dauern und erstaunli-

cherweise wird diese dadurch generierte Instabilität nicht schlecht geheissen. Auch hier lautet die

Devise „tienes que moverte“ (du musst dich bewegen), um möglichst viel Sozialkapital zu sammeln.

Netzwerke sind das wichtigste Kapital. Sich in solch schnellen Netzwerken zu bewegen, bedarf einer

spezifischen Kompetenz und kann zuweilen überfordern. Da sie auf spezialisierten weak-tie Verbin-

dungen basiert, lässt sie – wie dies übrigens in beschränkterem Masse auch bei der kommunalen

Patronage der Fall ist – Mehrfachinklusion zu und lässt die Asymmetrie verschwinden, da eine Person

je nach Situation einmal als Klient und dann wieder als Patron oder als professionelle Person kom-

muniziert. Die Verwirtschaftlichung zeigt sich auch im Systemvertrauen. Systemvertrauen ist in Lima

höchst unterschiedlich gelagert. Die „übergeneralisierte“ Praktik der Geldannahme zeigt, wie Bohn

(2009) betont, das Vertrauen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen in eine funktionierende Wirt-

schaft. Dieses Vertrauen ist interessant; besitzen die Teilnehmer andrerseits doch kein Vertrauen in

die moderne Politik. Während politische Machtkommunikation ins Leere läuft und weitgehend un-

beobachtet bleibt, so vertrauen die Teilnehmer hingegen unhinterfragt dem Medium des modernen

Wirtschaftssystems. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht und Geld werden

geradezu konträr gehandhabt. Macht, die an Staatlichkeit gekoppelt ist, beobachten die Teilnehmer

selten. Dahingegen wird Geld problemlos als symbolisch und generalisierbar verstanden. Man zwei-

felt nicht, dass man das Geld in einer nächsten Kommunikation nicht generell verwenden kann; das

heisst man erwartet unhinterfragt, dass das Geld überall und von jedem als Symbol für Wert akzep-

tiert wird. Geld kann in Lima noch genereller eingesetzt werden als in anderen Differenzierungsregi-

onen wie zum Beispiel der Schweiz. In Lima kommt es vor, dass man sich die politische Loyalität eines

Zöllners kauft. Ein käufliches Angebot, das in anderen Regionen innerhalb der Weltgesellschaft nicht

besteht. Geldkommunikation ist in Lima also beinahe inflationär verbreitet. Und zwar dermassen,

dass man Geld nicht nur gezwungenermassen annimmt, sondern selbst Geld via Geld kauft und sich

somit ins Zentrum der Wirtschaft inkludiert. Die Idee des „Systemvertrauens“ muss jedoch noch de-

taillierter betrachtet werden. Man vertraut in Lima zwar dem Medium Geld, jedoch nicht unbedingt

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den Banken. Umgekehrt vertrauen Banken nicht informal kommunizierenden Unternehmern, da sie

ihr Eigentum nicht offiziell vorweisen können. Es bedarf Patrons, welche zwischen dem formalen

Finanzwesen und den Unternehmern vermitteln. Das Kreditwesen ist in Lima vielschichtig und inklu-

diert asymmetrisch-kommunale Netzwerke, welche durch einen Patron an formale Banken ange-

schlossen werden. In Gamarra beabsichtigen Patrons sogar, formale Erwartungen des Kreditwesens

einzuführen und lancierten jedenfalls in der Theorie eine eigene Kreditkarte. Sie schliessen an Se-

mantiken an, welche schon länger in Gamarra bestehen. Visa- und Mastercardschilder sind allgegen-

wärtig und kommunizieren eine moderne Erwartungshaltung. Auch wenn die Technik meistens nicht

funktioniert so funktioniert doch die Erwartung. Moderne Semantiken dürfen von der Wissenschaft

nicht einfach als lokal funktionslose Mythen deklariert werden, auch wenn deren Technik zuweilen

nicht funktioniert. Mythen bzw. moderne Semantiken, welche von den Teilnehmern erstellt wurden,

sind ernst zu nehmen. Meyers Entkopplungsthese kann nicht undifferenziert auf die Weltgesellschaft

angewendet werden.

Die unterschiedliche Handhabung der Institutionen struktureller Kopplungen beschreibt tendenziell

zwei Positionen von Limas Elite. Diese lässt sich des Weiteren durch einen jeweils anderen Umgang

mit politischen Erwartungen des Landes detaillieren. Auffällig ist, dass ein elitäres Netzwerk andere

elitäre Gruppen als „informale Bourgeoisie“ abwertet. Kommunale Patrons der sogenannt „informa-

len Bourgeoisie“ haben zur Formalität lediglich mittels Wirtschaft globalen Zugang und kaufen staat-

liche Dienstleistungen zuweilen, was in Lima als „kleine Korruption“ gilt. Beteiligte der Netzwerke,

welche sich als „Señores“, als „Herren“ und als „formale Bourgeoisie“ bezeichnen, sind teilweise auch

im Stande, staatlich, begrenzte Güter oder Konzessionen zu verkaufen. Sie grenzen sich vor allem

durch eine andere Arbeitsethik ab. Harte Arbeit im Sinne der „informalen Bourgeoisie“ ist aus Sicht

der „Señores“ nicht ehrenvoll. Dies steht ganz im Gegensatz zur sogenannt „andinen Arbeitsethik“,

welche stark der protestantischen Arbeitsethik gleicht. Informalität wird in Lima ähnlich wie der Beg-

riff der Korruption als Fremdbeobachtungsbegriff benutzt. Es handelt sich um einen Machtdiskurs

bzw. um eine Semantik der Inklusion und Exklusion.

Formalität und Informalität sind gleichbedeutend. Sie stehen jedoch in einem asymmetrischen Ver-

hältnis. Dies erwog Sartre bezüglich seiner existenzialistischen Idee, dass Freundschaft den Staat

ersetzen kann, nicht. Freundschaftliche Problemlösungen ohne Vorderbühne sind nicht geduldet in

einer sich selbst beobachtenden Weltgesellschaft. Generell überschätzte Sartre „Freundschaft“ et-

was. Die Strukturen, welche staatliche Instabilitäten am meisten kompensieren, sind selten „reine

Freundschaftssysteme“. Man müsste Sartres freundschaftliche Zusammenhänge quasi mit Tönnies

und Durkheims Idee kommunal(-asymmetrischer) Erwartungen kombinieren, um so zur „kommuna-

len Patronage“ zu gelangen. Solche Zusammenhänge substituieren in Lima tatsächlich viele mangeln-

de politische Erwartungen. Informale Praktiken müssen formale Erwartungen jeweils miterwägen

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und kennen diese auch genau. Umgekehrt ist dies nicht der Fall. Formalität wird deshalb zuweilen

überschätzt. So sieht North zwar einen Zusammenhang zwischen formalen und informalen Institutio-

nen. Im Kontrast zu Sartre überschätze er jedoch die Formalität etwas. Formale strukturell koppelnde

Verbindungen sind sehr voraussetzungsvoll und dürften wahrscheinlich in vielen Differenzierungsva-

rianten – und ich denke auch an europäische Varianten – nie komplett bestanden haben. So wurden

bei der Bildung der europäischen Währungsunion informale Hinterbühnen nicht in Erwägung gezo-

gen. Informalität ist jedoch nicht eine randständige in entfernten Ländern des Südens vorkommende

Art von Problemlösung. Man sollte in Erwägung ziehen, dass Informalität den Kern, nämlich die Ver-

bindungskanäle zwischen den modernen Grossbereichen trifft. Auch erwog North die Kognitivierung

informal-kommunaler Strukturen nicht. Genau diese Lernfähigkeit macht diese Struktur in Gamarra

jedoch so erfolgreich. Kommunale Patronage ist stark und schwach zugleich. Für manche mächtige,

globale Akteure sind segmentäre Strukturen eventuell zu adaptiv. Als erfolgreiches Zentrum der

Wirtschaft irritiert dieses eigenwillige Zentrum ohne schützende Vorderbühnen inzwischen mächtige

globale Akteure. Nicht das europäische Modell der Hacienda oder die amerikanische Massenproduk-

tion hat sich in Lima durchgesetzt. Die flexiblen Unternehmensnetzwerke Gamarras sind hingegen

nicht kontrollierbar; sie passen nicht in amerikanische Modelle des Best Practice. Die Konzentration

von Unternehmen ohne Vorderbühnen und der gleichzeitige Erfolg, könnten Gamarra zum Verhäng-

nis werden. Politische Leistungsrollenträger Perus müssten sich mit Vertretern und einflussreichen

Unternehmern Gamarras an einen Tisch setzen, statt diese als „informale Bourgeoisie“ zu deklarie-

ren. Doch dem peruanischen Staat sind eventuell die Hände etwas gebunden. Gamarras nichtkapita-

listische Praktiken ohne Vorderbühne werden von globalen, mächtigen Organisationen schnell als

korrupt deklariert, was die Kürzung von Geldern des globalen Finanzmarktes legitimiert. Informalität

darf jedoch nicht mit der „grossen Korruption“ gleichgesetzt werden. Formalität bedarf der Informa-

lität. Die Umsetzung funktionaler Differenzierung braucht Zeit und wird innerhalb der Weltgesell-

schaft unterschiedlich realisiert. Dass die Formalität in Peru der Informalität bedarf, machte ein Taxi-

fahrer an einem einfachen Beispiel klar: In Lima gibt es über 300‘000 Taxis und noch viel mehr Micro-

Combis. Würde man diese informal betriebenen Unternehmen abschaffen, käme niemand mehr vom

Fleck. Jemand, der sagt, man solle die Informalität abschaffen, versteht laut des Taxifahrers wenig; es

würde den Zusammenbruch der peruanischen Wirtschaft, Gesundheit, Politik, Erziehung usw. bedeu-

ten. Informale und segmentäre Institutionen sind keine Überbleibsel vormoderner Strukturen, die

allmählich oder gar schnell verschwinden werden.

Viele der Problemlösungen und Typenbildungen, welche diese Studie dokumentierte und erarbeite-

te, werden in der Literatur nirgends erörtert. Sie finden meistens auf schwer zugänglichen und/oder

nur aufwändig erforschbaren Hinterbühnen statt. Sie sind jedoch essentiell, um die Weltgesellschaft

zu verstehen und müssen in einer Theorie der Weltgesellschaft Beachtung finden. Das Staatliche ist

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kaum fähig, die Rigidität des Kapitalismus zu beschränken. Sennett (2012) hat recht, wenn er wie

Sartre und Priest (2001) die hohe Bedeutung freundschaftlicher Strukturen betont. Gamarra macht

vor allem eines sichtbar, nämlich dass kommunal-soziales Denken sehr wichtig ist. Peru ist eine Diffe-

renzierungsvariante, die sich als Netzwerkgesellschaft reproduziert. Diese Arbeit möchte in dem Sin-

ne „Instrumente“ zur Beschreibung regionaler Sozialzusammenhänge zur Verfügung stellen, dass ihre

Einsichten in eine Variation der Weltgesellschaft auch für andere Variationen brauchbar sind. Ähnli-

che Sozialzusammenhänge wie in Lima gibt es u.a. auch in Europa.

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12 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Impressionen von Gamarras Zentrum ............................................................................. 91

Abbildung 2: „Sicherheits- und Evakuationsplan für Gamarra“ ............................................................ 98

Abbildung 3: Nördliche Grenze, die mittels Zaun den Strassenmarkt von Gamarra abgrenzt .......... 101

Abbildung 4: Bewältigung des Organisationsraums ............................................................................ 124

Abbildung 5: Vorsteher der Stickereimaschinen ................................................................................. 125

Abbildung 6: Auszug aus dem Buch „Cuentas“ (Rechnungen) für einen der Hauptmitarbeiter ........ 125

Abbildung 7: Eine Cargonte-Familie mit dem Haupt-Organisationspaar vor der Kapelle................... 169

Abbildung 8: Zwei Schwager aus der Cargonte Familie am Umzug .................................................... 169

Abbildung 9: Limas Virgen de Rosaria im internationalen Flaggen- und Menschenmeer ................. 173

Abbildung 10: Promotion für Limas „Virgen de Rosaria“ ................................................................... 175

Abbildung 11: Fiesta Patronal mit dem Träger-Paar, der Schutzpatronin und dem Padre ................ 176

Abbildung 12: Protestmitteilung der „Coordinadora de Empresarios de Gamarra“ .......................... 186

Abbildung 13: Comunicado des Consejo Directivo in der Zentrale von ASETRAM ............................. 204

Abbildung 14: Uniformierter ASETRAM-Träger mit Nummer auf Karre und Hemd ........................... 208

Abbildung 15: ASETRAM Träger mit Ausweis um den Hals & Aufschrift seines Dorfes „Huancayo“ . 208

Abbildung 16: Stellenausschreibungen sind allgegenwärtig, vor Galerien sind sie geordneter. ........ 215

Abbildung 17: Die „Pizarra“ (Tafel): Zeitlich begrenztes Arbeitsmarktzentrum ................................. 218

Abbildung 18: Karriereschritte, vereinfacht in Bezug auf kommunale Strukturen ............................. 224

Abbildung 19: Werbung für die Gamarra Card an einer Lift-Tür......................................................... 232

Abbildung 20: „Somos modernos“: Die Allgegenwart der internationalen Kreditkarten in Gamarra 235

Abbildung 21: Glaskasten-Pranger ...................................................................................................... 255

Abbildung 22: Öffentlicher Raum einer Galerie als Pranger… ............................................................ 256

Abbildung 23: Enttäuschung: Man informiert und teilt mit, was man nicht verkauft… ..................... 259

Abbildung 24: Von der Steuerbehörde temporär geschlossenes Unternehmen ................................ 264