[Camillo Sitte (Auth.)] Der Städte-Bau Nach Seine(BookZZ.org)

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SCHRIFTEN REIHE DES INSTITUTS FÜR STÄDTEBAU,

RAUMPLANUNG UND RAUMORDNUNG

TECHNISCHE HOCHSCHULE WIEN

BAND 5

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Nach der 1901 im Verlag Karl Graeser in Wien erschienenen 3. Auflage

unverändert mit einem Vorwort herausgegeben von

o. PROFESSOR DR. RUDOLF WURZER

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CAMILLO SITTE

DER STÄDTEBAU NACH SEINEN KüNSTLERISCHEN GRUNDSÄTZEN

SECHSTE A UFLACE

Springer-Verlag Wien GmbH 1965

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Copyright by Springer-Verlag Wien

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Georg Prachner Verlag, Wien 1965 Ursprünglich erschienen bei Institut für Städtebau 1965. Photo graphische und Buchbindearbeiten: Urania V. U., Wien

ISBN 978-3-211-80737-8 ISBN 978-3-7091-7560-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-7091-7560-6

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VORWORT DES HERAUSGEBERS

ZUR SECHSTEN AUFLAGE

Das Institut für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung an der Technischen Ho.chschule Wien gelangte mit Zustimmung der aka­demischen Behörden und des Bundesministeriums für Unterricht vom 21. Dezember 1962 in den Besitz des von Maria Sitte (t) und Josef Schwarzl (t) betreuten Nachlasses von Franz, Camillo und Siegfried Sitte. Trotz der umfangreichen Vorarbeiten für die Herausgabe des Gesamtwerkes war es notwendig, das immer stärker werdende Inter­esse an Sittes städtebaulichen Zielsetzungen zunächst durch die Her­ausgabe seines Hauptwerkes zu befriedigen, um so vor allem der studierenden Jugend einen Einblick in Gedankengänge zu geben, die mit Recht als grundlegend und richtungsweisend für den moder­nen Städtebau angesehen werden müssen.

Da die fünfte und bisher letzte Auflage aus dem Jahre 1922 schon seit langem vergriffen ist und diesem Mangel daher möglichst bald abgeholfen werden sollte, wurde auf eine textkritische Bearbeitung des Werkes vorläufig verzichtet. Statt dessen erfolgte die Wiedergabe als Faksimiledruck eines Exemplares der dritten Auflage des Buches vom Jahre 1901. Da durch glückliche Umstände das handschriftliche J.,lanuskript der ersten Auflage erhalten geblieben ist, führen wir im Anhang die Manuskriptseite 27 (etwa um ein Drittel verkleinert) deshalb vor, weil sich dadurch doch ein unmittelbarer Kontakt mit dem Wirken Camillo Sittes ergibt.

Zum Beweis der Wertschätzung und der Anerkennung, die das Le­benswerk Camillo Sittes überall in der Welt gefunden hat, wurde die Festrede vorangestellt, die o. Prof. Dr. Erwin I I z, Ordinarius für Städtebau und Siedlungswesen an der Technischen Hochschule Wien, am 17. April 1943 anläßlich der hundertsten Wiederkehr von Camillo Sittes Geburtstag hielt. ?\ach u. E. stellt diese Rede eine so grundlegende und tiefgehende Würdigung des Sitte'schen Werkes dar, daß Gültigeres kaum mehr darüber gesagt werden kann, wenn auch vom heutigen Standpunkt geringfügige Korrekturen in der Be­wertung einiger wesentlicher Gedanken vorgenommen werden müssen.

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Dies auch deshalb, weil durch die Darstellung der Auswirkungen seiner städtebaulichen Zielsetzungen auf die Entwiddung des Städte­baues in den angelsächsischen Ländern zum Teil völlig neue Aspekte aufgetreten sind. Unserem Unternehmen soll daher nicht vorgegriffen werden - es ist eine Aufgabe, die der eingehenden Erhellung, Wertung und Würdigung des Gesamtwerkes vorbehalten bleiben muß.

Für die Mithilfe bei der Herausgabe bin ich Renate Schweitzer ebenso zu Dank verpflichtet wie dem Verlag Georg Prachner in Wien, der die vorliegende neue Auflage in Kommission genommen hat.

Wien, im Februar 1965

o. PROF. DR. RUDOLF WURZER

Ordinarius für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung

an der Technischen Hochschule Wien

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Umseitig Seite 27 des handschriftlichen Manuskripts zu Camillo Sittes Werk

"Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen".

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o. PROF. DR. ERWIN ILZ "

FESTREDE ZU CAMILLO SITTES HUNDERTSTEM GEBURTSTAG

GEHALTEN AM 17. APRIL 1943 IM FESTSAAL

DER TECHNISCHEN HOCHSCHULE IN WIEN

Je weiter die Zeit über ein abgeschlossenes Menschenleben fortge­schritten ist, desto mehr verblassen persönliche Züge, mögen sie auch noch so wertvoll, ja hinreißend gewesen sein; desto deutlicher zeichnet sich das Vergängliche einer Leistung vom Bleibenden ab; denn nur dem unvergänglichen Verdienste flicht die Nachwelt ihre Kränze. So ist die Zeit ein unerbittlicher Wertmesser für den Menschen und seinen Beitrag am Bau der Kultur und Zivilisation. Wir haben Fälle gesehen, da ein Mann zu seinen Lebzeiten geradezu Be­geisterungsstürme zu entfachen wußte; wenige Jahre nach seinem Tode aber war sein Name schon in Vergessenheit geraten. Wir haben es aber auch erlebt, daß die Zeit längst vergessene Verdienste oder Leistungen eines Verschollenen wieder ans Tageslicht förderte. Es hat zweifellos etwas zu bedeuten, wenn wir heute am Tage der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages Gamilla Sittes - volle vier Jahrzehnte nach seinem Heimgang - seiner in Ehren gedenken können und in einem großen Kreise der Fachwelt sowie in der breiten Öffentlichkeit Verständnis hiefür finden. Anders gerichtet muß dieses Gedenken jedoch sein als das Gedenken, das seinem Namen und seinem Werke anläßlich des achtzigsten Ge­burtstages gewidmet wurde. Damals konnte noch ein - heute schon selbst dahingegangener - Freund des Meisters vor einem Kreise sprechen, in dem die Mehrzahl vielleicht Sitte, der insbesondere auf die jüngeren Fachgenossen eine zwingende Anziehungskraft auszu­üben wußte, noch persönlich gekannt hatte. Professor v. Feldegg durfte an vieles anknüpfen, dessen Kenntnis er von seinen Zuhörern

" Erwin Hz, 12. 5. 1891 bis 12. 5. 1954. Seit 1932 a. o. Professor für Wohnungsbau, Städtebau und Sied­lungswesen an der Technischen Hochschule Wien. Von 1939 bis 194.3 o. Professor für Städtebau und Siedlungswesen an der Tech­nischen Hochschule \Vien. Verfasser von ,,\Viener Verkehrsfragen -Zentralbahnhof und Nahverkehr", Wien 1935 sowie zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften.

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voraussetzen durfte; er konnte an manmes rein Persönlime erinnern und an manme Probleme in Sittes Leben, für welme heute eine Aufnahmebereitsmaft nimt mehr im gleimen Maße besteht. Weitere zwanzig Jahre sind seither vergangen: zwanzig Jahre, von denen mindestens zehn einer Entwiddung angehören, die uns von Camillo Sittes Lehre leider remt weit abseits geführt hatte. Und erst der Anbrum des neuen Zeitalters hat uns wieder gelehrt, dort anzuknüpfen, wo Sittes seherische Begabung uns den Weg des Smaffens smon früher hätte weisen können. Vom Mensmen Sitte haben wir uns entfernt oder - besser gesagt - hat uns der Smritt der Zeit entfernt. Seinem Werke aber, jenem Werke, das seinen Namen für alle Zeiten unvergänglim gemamt hat, wenn von Stadtbaukunst die Rede ist, fühlen wir uns näher als im Jahre 1923; wir fühlen uns ihm enger verbunden als je - vielleimt sogar enger als manme seiner Zeitgenossen, welme aus den Lehren des Meisters nur einige ÄußerliWkeiten herauszulesen verstanden. Daß wir heute zu ihm zurüd<:kehren, bedeutet mehr, viel mehr als die Begeisterung jener, die zu Sittes Lebzeiten unter dem Bann seiner überragenden PersönliWkeit, seines beredten Wortes und seiner Darstellungskraft gestanden sind. Wenn wir heute bei Camillo Sitte Einkehr halten, so sei es, um uns die \Vesenszüge seines Geistes zu vergegenwärtigen, die ihn als Armitekten, als smaffenden Künstler und Gelehrten notwendiger­weise auf das Gebiet der Stadtbaukunst führen mußten, und um uns zu vergegenwärtigen, welmer Art seine bahnbremende Tat ge­wesen ist und welme Bedeutung sie für unser heutiges und alles künftige Schaffen besitzt. Camillo Sitte war selbst Sohn eines Armitekten, Franz Sitte, der Ende der 1830er Jahre aus seiner Reimenberger Heimat als Smüler Nobiles an die Wiener Akademie der bildenden Künste kam, wegen Meinungsversmiedenheiten mit seinem Lehrer jedoch bald wieder von dort aussmied. Er gehörte nämlim zu jenem Kreise für die neuen Ideen der Romantik begeisterter junger Künstler, die den Smweizer Armitekten lohann Georg Müller 1848 auf den Smild hoben und dessen Projekt für die Alt-Lerchenfelderkirche zum Siege verhalfen. Und Franz Sitte war es, der nach Müllers frühem Tode den Bau dieser Kirme leitete und den befreundeten loset FühriCh zur Ausmalung des Inneren heranzog. So erlebte Camillo schon in bildsamen Jünglingsjahren das Entstehen eines Werkes, das in dem Zusammenwirken aller Zweige der bildenden Kunst seine Vollendung fand. Es war dies zweifellos einer der Eindrüd<:e, die seine geistige und künstlerisme Haltung für das ganze spätere Leben bestimmten. Dazu kam Sittes eigene Vielseitigkeit, die ihn - man kann sagen -auf allen Gebieten der Kunst und vielen Zweigen der Wissensmaft

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- nimt etwa bloß als Liebhaber - sondern als simeren Könner befähigt zeigte: er behandelte in seinen Smriften und Aufsätzen Fragen der bildenden Künste, der Armitektur, Plastik, Malerei und des Kunstgewerbes als hervorragend befähigter Gelehrter. Hatte er dom neben seinem Hauptstudium an der Temnismen Homsmule unter Heinrich Frhr. v. Ferstel, Ende der 1860er Jahre, aum an der Universität archäologisme, unter Rudolt v. Eitelberger kunsthistori­sme sowie unter loset Hyrtl sogar anatomisme Studien betrieben. Neben seinem armitektonismen Schaffen wußte er mit ebensolmer Sicherheit, wie er in philosophismen und pädagogismen Fragen die Feder führte, den Zeimenstift, die Tafelkreide, das Modellierholz und den Pinsel zu gebraumen. So stammt die gesamte plastische und malerische Ausstattung der von ihm erbauten Memitaristenkirche aus seiner eigenen Hand. Ja nicht genug damit: Sitte war selbst ein ausgezeichneter ausübender Musiker, Cellist und Pianist, der in jun­gen Jahren bei Kammermusikaufführungen sogar öffentlich auftrat. Die Kritik der damaligen Zeit begrüßte ihn als "hoffnungsvollen Cellisten" .

Entsprechend dieser allseitigen Aufgeschlossenheit allen Wissen­~chaften und Künsten gegenüber war auch der Freundeskreis be­schaffen, den Camillo Sitte, der Tradition seines Elternhauses fol­gend, um sich sammelte. Neben den bildenden Künstlern, wie dem Maler loset Hottmann, dem Bildhauer Brenek und den Architekten F eldegg und Koch, waren auch zahlreime Geisteswissenschaftler dort vertreten - ich nenne nur den Germanisten Blume und den Kunst­historiker Ilg -, Philologen, Schriftsteller und Journalisten; insbe­sondere aber Musiker, unter denen wohl Hans Richter, der mit Sitte nahezu gleichaltrige und wahrhaft gleimgesinnte große Bayreuther und Philharmoniker-Dirigent, den hervorragendsten Platz einnahm. Wie innig die Verbindung zwischen den beiden bedeutenden Män­nern gewesen sein muß, wieviel insbesondere Sitte sogar einem Künstler anderer Fachrichtung und vom Format eines Hans Richter zu geben imstande war, geht aus einem Briefe hervor, den Richter lange nach Sittes Tode an einen von dessen Söhnen schrieb und in welchem er dieses Verhältnis mit den Worten kennzeichnet: ,,viel verdanke ich seinem Einfluß, wenn aus mir was geworden ist". Richter war es, der seinerseits wieder Sitte in unmittelbare Be­rührung mit dem Bayreuther Meister bramte, zu dessen größten Verehrern Sitte zeitlebens zählte und für dessen Ruhm und Ver­ständnis er unentwegt in Wort und Schrift eintrat. In jenen Tagen - es war in den 1870er Jahren - war Richard Wagners Platz auf dem musikalischen Parnaß noch lange nicht in solcher Weise unum­stritten wie heute. Für uns ist gerade diese Einstellung zu Wagner besonders auf-

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schlußreich. Was Sitte an dem Werke Wagners derart begeistert, ist die Verschmelzung von Idee und sinnlicher Darstellung der Natur auf nationaler Grundlage, in welcher Synthese er das Kennzeichen des vollkommenen Kunstwerkes erblid<t. Dann aber Wagners Tat, Dichtung, Musik und Bühnenbild zu einer wahren Einheit zu ge­stalten, wie es vor ihm noch niemand auch nur versucht hatte. Auch in der Gewalt dieses Eindrud<es erkennen wir Sittes Empfänglich­keit für den Geist des totalitären Kunstwerkes. Niemals war es die vereinzelte, losgelöste artistische Leistung, die ihn pad<en konnte und die seinem Wollen jemals hätte genügen können. "So ward der sehnsüchtige Drang des Jahrhunderts endlich erfüllt" - sagt Sitte in einer Schrift "Richard Wagner und die Deutsche Kunst" aus dem Jahre 1875 - "und nun werden die Bildner, der Mime, der Maler, alle nicht lange mehr fehlen. Alle, die schon mutlos ihr Werk auf­gegeben haben, werden die große wundersame Mär vom Siegfried hören - und wie? Sollte es das ganze Volk nicht gelüsten, ihren Wotan und Freia, die Holde, Brunhild und Siegfried mit eigenen Augen zu schauen, nachdem sie nach mehr als tausendjähriger Ver­bannung wieder unter uns in ihrer Heimat eingekehrt sind. vVelche Aufgaben für den Bildner? Alles was die griechische Bildkunst ge­wesen in Beziehung zu Homer, hier ist es neu und ähnlich und doch ganz anders und grundverschieden noch einmal zu vollbringen". Und dann noch: "So kann auch das Werk des Bildners noch dem Werk des Dichters entspringen". Aus diesen Worten können wir außer der Freude über die Schaffung des totalitären Kunstwerkes, welches ein Zusammenwirken aller Künste zum Ziele hat, noch ein zweites erkennen: Sittes unbedingten Glauben an die nationale, völkische Grundlage aller Kunst - eine Überzeugung, für die er in zahllosen Äußerungen immer wieder kämpft und die ihn von der künstlerischen Seite her zum aufrechten Mann emporwachsen läßt. Sittes Jünglingsjahre fallen in die Zeit von \Viens großer franzisco­josefinischer Stadterweiterung. 1857 war Sitte wohl erst 14 Jahre alt; es ist aber anzunehmen, daß er in dem Kreise, in dem er auf­wuchs, und bei seiner reichen Auffassungsgabe für alles Sichtbare, für alles Gestaltende - als in den folgenden Jahren die Arbeiten der Stadterweiterung anliefen - gar bald daran Anteil zu nehmen begann. Gefördert wurde diese Anteilnahme in den Hochschuljahren zweifellos durch seinen Lehrer Eitelberger, der eine Veröffentlichung über die Wettbewerbsentwürfe herausgegeben und bereits im Jahre 18.'58 in einem Vortrag "Über Städteanlagen und Stadtbauten" ein­schlägige Fragen zur Sprache gebracht hatte. Soweit standen die Dinge in Sittes Leben, als er 1875 die Einrichtung und Leitung der Salzburger Staatsgewerbeschule antrat. Seinem

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freien Smaffen, als Armitekt war mit dieser Wendung leider ein vorläufiges Ende gesetzt. Eine Bereimerung dieser Zeit bildeten aber zablreime Reisen, hauptsädtlim nam Frankreich und Italien; doch ist zweifellos - nicht ohne Bedauern - festzustellen, daß die in der ersten Wiener Zeit begonnene vielverspre<hende Praxis außer in einigen Spätwerken nicht mehr so recht in Fluß kommen sollte. 1883 kehrte Sitte als Direktor der neuen Staatsgewerbeschule im 1. Bezirk nach Wien zurüdc Und nun begann die Zeit, in der er zu jener Persönlichkeit heranreifte, als die wir ihn - über alle anderen seiner Verdienste, Fähigkeiten und Leistungen hinaus - in dauern­dem Gedenken behalten müssen. Durch sein 1889 erschienenes Buch "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" wurde Sitte zum Erneuerer der Stadtbaukunst. In der Tat, welche dieses Buch bedeutet, liegt sein unsterbliches Verdienst. Die geistigen Vorbedingungen zu diesem Werke lagen zweifellos in der universellen Blid<richtung, die für Sitte besonders kennzeichnend ist. Einen gewissen Anstoß dürften aber wohl auch die bespromenen Eindrücke von außen her gegeben haben: die Raumschöpfungen des Vaters, der vielseitige und doch von gemeinsamen Interessen ge­tragene Freundeskreis, die künstlerische Totalität des Musikdramas Rimard Wagners, die Anregungen Eitelbergers während der Studien·· zeit; schließlich die Reisen nach Deutschland und Italien, die sein Auge noch empfänglicher gemacht hatten für eine Gesamtsmau in städtebaulichem Sinne. Und doch mutet uns das Erscheinen dieses Werkes an wie das Auf­leuchten eines Kometen in düsterer Nacht; so unvermittelt schaltet es sich ein in eine Zeit, deren künstlerische Äußerungen in lauter zusammenhanglose Einzelleistungen aufgespaltet und zersplittert waren. Ja, Sitte selbst hatte sich vor der Herausgabe dieses Werkes kaum mit Städtebau beschäftigt, praktisch überhaupt nicht und theore­tisch nur in ein oder zwei Zeitungsartikeln. In dem einen hatte er auf Gottfried Sempers großes Dresdener Projekt hingewiesen, das die Querachse des Zwingers mit Monumentalbauten bis ans EIbeufer fortführen wollte. Um Einblick zu gewinnen in die Größe und Bedeutung von Sittes Tat, müssen wir uns ein wenig zurückversetzen in den Stand des städtebaulichen Geschehens vor 1889. Um 1800 war auf dem Gebiete der Stadtbaukunst ein grundlegender Wandel eingetreten. Die Barocke, welche in ihren Schöpfungen immer auf eine große einheitliche Zusammenfassung mit klar erkennbaren Dominanten hingearbeitet hatte, war verklungen. Mit der Barocke sank eine künstlerische Tradition dahin, die ihre Kraft noch aus einem Born urwüchsigen Wollens und Könnens geschöpft hatte. Da-

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von unterschied sich der neu aufkommende Klassizismus - ebenso wie die Romantik - ganz wesentlich durch eine rein akademische und individualistische Ausrichtung. Die Werke jener Zeit entspringen nicht mehr dem prometheischen Schöpfergeist, sondern streben nach einer rationalistischen Kunstübung auf Grund fester Regeln und damit im Zusammenhang steht die individualistische Loslösung des Werkes aus seiner Umgebung. Der Klassizismus kennt keine höhere Einheit als das Einzelbauwerk, und wo er die Zusammenordnung versucht, entsteht im besten Falle ein sauberes Nebeneinander. Um dies an zwei allbekannten Beispielen darzutun: Der Josefsplatz in Wien in seiner überwältigenden Geschlossenheit und seinem einheit­lichen Gesamtentwurf und der Königsplatz in München, ein großes Viereck, an drei Seiten mit je einem mäßig großen, freistehenden Bau besetzt, die Platzecken offen; ja, auch der Torbau, die Propyläen, - welcher Widersinn - frei hingestellt! Auch in den anderen Künsten vollzieht sich derselbe Umschwung. Vergleichen wir z. B. den überschäumenden Schwung einer Pestsäule mit der grundver­schiedenen Auffassung, die sich etwa in dem Christinendenkmal in der Augustinerkirche kundtut. Beides hervorragende Kunstwerke, voneinander aber durch weltenweite U nterschiedlichkeit getrennt. Es würde zu weit führen, wollten wir die Parallelen in Weltanschauung und Geistesleben ziehen, die diesem Wandel im künstlerischen Aus­druck entsprechen. Eines ist sicher, die neue Kunst um 1800, so verehrungswürdig sie uns in ihren Einzelleistungen erscheint, hat eine Epoche der Zersplitterung eingeleitet, die ihr Gegenstück in der Spezialisierung aller Wissenschaften und in der individuali­stisch-partikularistischen Aufspaltung des Gemeinschaftslebens ge­funden hat.

Auf dem einmal beschrittenen Wege ging es unaufhaltsam weiter. Der Wirkungskreis des Baukünstlers endete an den Grenzen des ihm zugemessenen Bauplatzes und an den Fronten seines Bauwerkes. Da allerdings war er unumschränkter Herrscher, und wenn es sich einmal ereignete, daß eine einvernehmliche Zusammenarbeit ver­langt wurde, dann brach ein Sturm der Entrüstung los, ob solcher unberechtigten und unerwünschten Einmengung. Ja, nicht einmal auf einheitliche Gesimshöhen konnten sich Nachbarn einigen, ver­suchten es auch gar nicht. Indessen aber entglitt dem Baukünstler die Leitung und Pflege des Gesamtkunstwerkes, die Stadtbaukunst, die in einem Schematismus endete, der nicht mehr zu überbieten war. In völliger Gedankenlosigkeit wurde das akademisch-geometri­sche System, ob es nun ein Rechtecksraster, ein Diagonalsystem oder ein kombiniertes System war, auf die Altstadt ebenso wie auf Neu­baubezirke angewandt. So wurde der natürliche Unterschied zwischen Innenstadt und Stadterweiterung verwischt. Letztere wurde nur zum

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minderwertigeren Abklatsm der sogenannten vornehmen Bezirke. Der Bebauungsplan war nimts anderes als ein Spiel mit Baublock­figuren ohne jede Abstufung nam den Bedürfnissen des Verkehrs, des Wohnens, der Erholung, der Industrie. Daß jede dieser Lebens­funktionen an die Auf teilung des Bodens andere Bedingungen stellt, daran damte man nimt einmal im Augenblick der Planaufstellung und der Bauwerber sah den Bebauungsplan als eine vom Himmel gewollte Tatsame an, an der nimt zu rütteln war - außer unter dem Hinweis auf bessere AussmIamtungsmöglichkeit. Bauplatz war Bauplatz, gleimgültig ob für Fabrik oder für Mietkaserne, Straße war Straße, ohne Differenzierung nach ihrem Verkehrswert; und ließ man sim einmal dazu herbei, an eine Erholungsfläche zu denken, dann wurde eben einer der Blöcke ausnahmsweise nicht bebaut, sondern zu einer jener fragwürdigen Grünanlagen ausersehen, für die der Volksmund eine treffende Bezeimnung geprägt hat. Alle diese Erscheinungen haben sich in einer Zeit allergrößten Städte­wachstums vollzogen, ihre Auswirkungen konnten sich daher so aus­breiten und festsetzen, daß sie heute noch das Bild sämtlicher grö­ßeren Städte der ganzen Welt bestimmen. Da der Künstler dem Städtebau völlig entsagt hatte, verkümmerte auch die Fähigkeit, welche die Alten in so hohem Maße besessen hatten, nämlich die menschlichen Siedlungen den Gegebenheiten der Natur anzupassen, die Hilfen und Hinweise zu verstehen, welche die Natur dem planen­den Künstler an die Hand gibt, um sein Werk tatsächlich mit dem Boden verwachsen und eine künstlerische Einheit aus Natur und Menschenhand erstehen zu lassen. Jahrzehnte bedarf es und vieler Rufer im Streite, um eine solche Fähigkeit, die ein Jahrhundert hindurch ungepflegt und vergessen blieb, wieder zu erwecken und zu schulen. Es war so billig, immer von der "gewachsenen Stadt" zu sprechen, in der sich offenbar alles von selbst gemacht hatte. Ver­gessen wir aber nicht, daß auCh diese "gewachsene Stadt" von Men­schen gebaut werden mußte, allerdings von MensChen, welche so gut verstanden, sich der Natur und auch den größeren von Menschen­hand gesChaffenen Gegebenheiten unterzuordnen, daß man ganz auf sie, auf ihre Namen vergaß, obwohl - oder vielmehr - weil sie eben ihr Gemeinschaftswerk zu einem wahren Gesamtkunstwerk zu formen wußten. Der erste dieser Rufer im Streite, dieser Künder, die uns wachge­rüttelt haben, war Camilla Sitte. Sein Buch "Der Städtebau nadl seinen künstlerischen Grundsätzen" war im Jahre 1889, wenige \Vo­chen nach seinem Erscheinen bereits vergriffen, so daß noch im sei ben Jahre eine zweite Auflage erscheinen mußte. Bis 1922 erlebte es ins­gesamt fünf Auflagen in deutscher, eine in französischer und eine in spanischer Sprache.

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Die Großtat dieses - man kann getrost sagen - epochemachenden Werkes war die Wiederentdeckung des Städtebaues als Kunst, als Kunst des Raumes, der Raumbeherrschung sowie der Versuch, die künstlerischen Grundsätze des Städtebaues auch zu erforsmen. In der Vorrede zur dritten Auflage bezeichnet Sitte als den Grund­gedanken seines Buches: "auch auf dem Gebiete des Städtebaues bei der Natur und bei den Alten in die Schule zu gehen". An die Feststellung, daß sich dieser Gedanke seit Erscheinen des Buches bereits mächtig in die Praxis umgesetzt habe, fügt er in der be­scheidensten Weise hinzu: "Das wiederholt von Fachgenossen ersten Ranges öffentlich ausgesprochene Urteil, daß dies ausschließlich das Verdienst dieses Buches sei, muß dahin richtig gestellt werden, daß eine solche Wirkung durch eine literarische Arbeit nur dann ausgeübt werden kann, wenn die ganze Sache bereits sozusagen in der Luft liegt. Nur wenn alle schon das gleiChe fühlen und erkennen und es daher nur darauf ankommt, daß es irgend einer endlich einmal auch deutlich ausspricht, sind solche erfreuliche Wirkungen möglich". Das ist wohl richtig; nur dann kann ein Werk einen solmen Erfolg erringen, wenn es die Aufnahmebereitschaft der Zeitgenossen zur Voraussetzung und zur Grundlage hat. Hier war dies - zumin­dest was den künstlerisch befähigten Teil der Bauschaffenden an­belangt - in hohem Maße gegeben. Aber ist das Verdienst desjenigen, der das erlösende Wort findet, nach dem die Menge dürstet, etwa geringer deswegen, weil ihm der Erfolg sicher ist? Im Gegenteil; denn Sitte hat dieses Wort besser zu formen verstanden, als es vielleicht ein anderer vermocht hätte, der an seiner Statt gekommen wäre. Sitte war ganz die Persön­lichkeit, seinen Gedanken und seiner Überzeugung den entsprechen­den Nachdruck zu verleihen. Heute, vierzig Jahre nach seinem Tode und 54 Jahre nach Erscheinen seines Werkes, müssen wir uns nur die Frage vorlegen: Hat sein Wort Bestand gehabt oder ist es ver­rauscht, abgelöst von anderen Ideen? War sein Erfolg nur tages­bedingt oder haben wir Anlaß, auch heute noch seinen Spuren zu folgen und seine Leistung dankbar anzuerkennen und zu feiern? Daß letzteres zutrifft, dafür möchte ich hier den Beweis antreten. Wenn es auch richtig ist, daß die Wissenschaft vom Städtebau in einem halben Jahrhundert einen weiten Weg der Vervollkommnung zurückgelegt und die Stadtbaukunst unzählige Blüten getrieben hat -wie vieles davon ist nicht bei Sitte im Keime schon vorhanden? Neben hervorragenden Leistungen der vergangenen Jahrzehnte ist aber leider auch vieles recht kläglich danebengeraten, so daß man den Verfassern das Buch Camillo Sittes in die Hand drücken und ihnen sagen möchte: "So, jetzt fangt wieder von vorne an; denn Ihr seid nicht weiter als jene, für die dieser Weckruf ertönte". Aber auch abgesehen von

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sohnen Fällen ist es immer remt heilsam, in der Entwicklung zum Urquell zurückzukehren; wenn dort aum manmes nom weniger durmgebildet ist, es bleibt immer frism und kräftig. Bei Camillo Sitte ist man außerdem oft überrasmt von der seherismen Gabe eines Mannes, der keinen Vorgänger hatte, selbst aber einer Genera­tion vorauseilte. Was Sitte in seinem Werke bringt, ist nimt etwa eine Ästhetik des Städtebaues auf philosophismer Grundlage, obwohl ihm - wie es manme seiner Scl1riften beweisen - philosophisme Gedankengänge durchaus nichts Fremdes waren. Sein "Städtebau" bildet vielmehr die Aneinanderreihung von Aufsätzen, in denen er einerseits mit dem offenen Blick des Künstlers die Smönheit aufsumt, wo sie zu finden ist, und ihren Geheimnissen namspürt, andererseits aber mit der scharfen Feder des unerbittlimen Kritikers die Verkehrtheiten des damaligen Städtebaues smonungslos - jedoch niemals persönlim verletzend - aufdeckt und brandmarkt. Alles künstlerische Schaffen muß sinnvoll sein. Abgestoßen von der nüchternen Addition gleichartiger Elemente, wie sie in den damaligen Stadtplänen üblich war, fordert Sitte als erstes Grundmotiv die Wiederherstellung eines geistigen Inhaltes im Stadtplan, die "Über­einstimmung zwischen den Plätzen, auf denen sim das öffentliche Leben abspielen soll, und den Gebäuden". Es ist das dasselbe, was wir als "organischen Aufbau" bezeimnen. Dabei stellt er ausdrüddich fest, daß es nicht seine "vorgefaßte Tendenz" sei, "jede sog. male­rische Schönheit alter Städteanlagen für modeme Zwecke zu empfeh­len". Wir sollen aber an den alten Werken die Grundsätze erkennen, denen wir heute noch folgen können und müssen. Wir dürfen eine Parallele ziehen. Der Städtebau verrannte sim nach dem ersten Weltkrieg in einen technismen Funktionalismus, der starke Ähnlichkeit hatte mit dem merkantilistischen Schematismus der 1870er und 80er Jahre. Auch unsere Zeit muß zurückfinden zum lebensvollen Aufbau des Siedlungskörpers als Ausdruck des Gemein­schaftslebens: genau das, was Sitte vorgeschwebt hatte und was er selbstverständlich nur in der Sprache seines Zeitalters ausdrücken konnte. Das zweite Grundmotiv von Sittes Arbeit ist das Raumproblem; die Wiedereinführung der dritten Dimension im Städtebau, der sich bislang nur in der zweidimensionalen Ebene des Reißbrettes ab­gespielt hatte. Straße und Platz sollten nicht mehr einfach das sein, was man in liebloser Weise zwischen den Bauparzellen übrig läßt, sondern Raum, der zu eigenem Recht besteht. Auf dieser raum­künstlerischen Auffassung beruhen Sittes Forderungen nach Frei­haltung der Platzmitte zu einer Zeit, in der es gar nicht anders denkbar war, als daß gerade in der Platzmitte ein Denkmal hinge-

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stellt wurde - ebenso wie z. B. in einem Zimmer unbedingt ein Tisch in der Mitte stehen mußte mit einer Hängelampe darüber, während es heute längst zum Gemeingut geworden ist, daß nur die weitestgehende Zusammenfassung der Bewegungsflächen den Raum, nämlich das umgrenzte Stü<k Welt, in welchem wir uns befinden, zur vollen Wirkung kommen läßt. Dazu ist auch die Geschlossenheit der Raumumgrenzung eine unbedingte Notwendigkeit, während der zweidimensionalen Regelmäßigkeit, der grundrißlichen Symmetrie, lange nicht jene Bedeutung zukommt, zu der das Planbild verleitet. Dies alles erscheint uns heute selbstverständlich, da es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist und wir kaum noch daran denken, wel­cher schöpferischer Erkenntnisse es bedurfte, um diese Wahrheiten wieder ans Tageslicht zu fördern. Vergessen wir aber nicht, daß selbst große Baukünstler jener Zeit sich damit zufrieden gaben, daß ihre einmaligen Monumentalwerke einfach ins Leere gestellt und auf diese Weise um das Beste ihrer Wirkung gebracht wurden, und daß der einzige, der vor Sitte ein für die damalige Zeit sehr be­achtenswertes Buch über Städtebau geschrieben hat, Reinhold Bau­meister, wie aus manchen seiner Äußerungen hervorgeht, die Schwä­chen der damaligen Stadtbaukunst wohl geahnt hat, aber ihren Ur­sachen gegenüber vollkommen ratlos war; so konnte er auch keine Abhilfe schaffen. Es wäre vollkommen irrig zu glauben, daß Sitte den Städtebau lediglich als eine ästhetische Angelegenheit betrachtet habe - eine Meinung, die sich vielfach verbreitet hat, da seine nach dieser Rich­tung zielenden Gedanken den stärksten Eindru<k, die nachhaltigste Wirkung ausgeübt haben. Es wäre aber unmöglich, daß ein so aufs Ganze gerichteter Geist auf alle anderen Notwendigkeiten vergessen hätte. Schönheit und Zweckmäßigkeit müssen völlig ineinander auf­gehen, wenn von einer Lösung der künstlerischen Aufgabe die Rede sein kann. Sitte tritt vor allem für eine klare Programmaufstellung als Grund­lage aller Planung ein. Nach dieser Richtung zielten seine Bemühun­gen insbesondere zu Beginn der 1890er Jahre, als es sich um die Vorbereitung des Wettbewerbes um den Wiener Generalregulierungs­plan handelte. Er verlangt Angaben über Bodenbeschaffenheit, Grund­wasser und Baugrundverhältnisse. Er verlangt klimatische Erhebun­gen und statistische Ermittlungen der Bevölkerungs- und Verkehrs­bewegung. Auf solchen Angaben aufgebaut, also auf wissenschaft­lichem Fundament, könnten erst in verläßlicher Weise die Erforder­nisse an öffentlichen Bauanlagen sowie an Wohnbauten und sonsti­gen Anlagen aufgestellt werden. Sitte verlangt eine Differenzierung im Straßennetz nach der Wertig­keit der einzelnen Straßen, er verlangt durchgehende Verkehrs-

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straßen ohne die häufigen Unterbredmngen, wie sie sich im Raster­schema durch Querstraßen ergeben. Er enthüllt auch die kapitalisti­schen Hintergriinde dieses Rastersystems: den Grundausschlächtem war es um die größtmögliche Länge an Straßenfluchten zur Bau­blockumgrenzung zu tun, da sich damit nach damaliger Auffassung eine Wertsteigerung der Bauplätze erzielen ließ. Im Gegensatz zu dem damals üblichen Quadratraster führt Sitte - insbesondere beim Behauungsplan für ülmütz - den langgestreckt-rechteadgen Bau­block ein, den Hermann Jansen später wieder aufgegriffen und als Bauelement systematisch weiterentwickelt hat. Aus diesen Hinweisen geht deutlich hervor, daß sich Sitte auch genug mit den realistischen Belangen des Städtebaues beschäftigt hat oder zumindest mit realistischen Auswirkungen verkehrt aufgefaßter Probleme der Stadtbaukunst. Damit führte er vor einer materiali­stisch ausgerichteten Zeit den Beweis für die Richtigkeit seiner Theorien. Übrigens ist es bekannt, daß er auch die Herausgabe eines Werkes über die wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätze des Städtebaues vorbereitet hatte. Eine längere Arbeit über Enteignung im Städtebau ist im ersten Jahrgang der von ihm selbst gegründeten Zeitschrift "Der Städtebau" erschienen. Er ver­tritt darin den Grundsatz, daß - so wie die alten Flurgrenzen dem Gelände angepaßt sind - bei der Festlegung neuer Baulinien am wirtschaftlichsten und zugleich natürlichsten vorgegangen wird, wenn man sich an diese vorhandenen Flurgrenzen anlehnt. Bei solchem Vorgehen wird gleichzeitig wie von selbst die Anpassung ans Ge­lände erreicht. Ähnlich verhält es sich bei Regulierung verbauter Gebiete. Camillo Sitte war auch der erste, der die planmäßige Einordnung der Grünflächen in den Stadtplan einführte. Er bekämpft die da­malige Gepflogenheit, einfach einzelne von staubigen Straßen um­gebene Blockflächen zu Zwergparks auszugestalten. Zwar ist Sitte noch nicht zur Idee des vorschauend geplanten Grünflächensystems vorgedrungen; dies blieb einer späteren Entwicklung vorbehalten; er fordert aber ganz bewußt salon in den ersten Stadtplan-Skizzen die Verteilung der öffentlichen Gartenanlagen und ihre Verbindung mit öffentlichen Gebäuden; allerdings in anderer Weise als dies da­mals üblich war, da - wie Sitte sich ausdrückt - "das Vordringen des englischen Parks bis zu den monumentalen Hauptplätzen einer Stadt einen Konflikt zwischen den Grundsätzen und Wirkungen des Naturalismus und der stylistischen Monumentalität" hervorruft. Besonders packend sind jene Stellen in Camillo Sittes Schriften, die wie seherische Vorahnungen jener Probleme klingen, mit denen sich gerade unsere Zeit beschäftigt. Wiederholt kommt er z. B. auf die Frage der Donaustadt zu

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sprechen. So sagt er an einer Stelle: "Es wäre durchaus nicht nötig, an einer so hervorragenden Stelle, welche vielleicht berufen ist, dereinst eine Glanzstelle des Wiens der Zukunft zu bilden, alles von vornherein zu verderben .... Man denke doch daran, daß Handel und Verkehr nicht ewig genau so stehen bleiben können, wie es augenblicklich der Fall ist ... und daß der Donauverkehr einer groß­artigen Steigerung fähig wäre, welche noch lange ausbleiben, aber endlich doch kommen wird und muß, da die geographischen Be­dingungen dazu vorhanden sind. Soll dann das mittlerweile all­mählich angewachsene Häusergerümpel wieder niedergerissen wer­den?" Dann weiter: "In dem hier angezogenen Beispiel müßte vor allem eine baulich ununterbrochene Verbindung mit der Altstadt gesucht werden um jeden Preis ... " An anderer Stelle, in einem Vortrag "Das Wien der Zukunft", sagt er: "Am schwierigsten dürfte sich noch die Lösung der Frage der Donaustadtteile an der Reichs­brücke gestalten. Aber auch hier liegt die Angelegenheit eigentlich sehr günstig; denn hier kann mit Gemütsruhe zugewartet werden, und es hat keinen Sinn, dem . .. Drängen der Bauunternehmer hier nachzugeben, wo so vieles am Spiele steht und die Verantwortung der Gegenwart vor dem Forum der Zukunft eine so große ist. Wer nur einigermaßen in die Zukunft Wiens zu blicken versucht, der kann mit Zuversicht annehmen, daß diese Stelle an der regulierten Donau dereinst eine ganz andere Rolle spielen wird, als sie ihr derzeit zukommt. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis die Regu­lierung der Donau am Eisernen Tor vollendet sein wird und ebenso wird der Donau-Oderkanal, ein großer Donauhafen und manches andere, was geeignet ist, den Donauverkehr um ein Vielfaches von heute zu heben, zu den vollendeten Tatsachen gehören". Auch bei anderen Mahnungen hat ihm die Nachwelt recht gegeben. Von seinen Vorschlägen für die architektonische Fassung der Ring­straßen-Monumentalbauten haben in weiteren Zeitabständen einige immer wieder die Architektenschaft beschäftigt. Und zwar handelt es sich hier um den unglücklichen Zwickelplatz vor dem Justizpalast, dessen Lösung nach dem Brande im Jahre 1927 und neuerdings im Jahre 1936 Gegenstand von Wettbewerben bildete. Im gleichen Jahre befaßte sich ein Wettbewerb auch mit dem Platz um die Votivkirche, für dessen Lösung Camillo Sitte ebenfalls schon seinerzeit grund­legende Gedanken geäußert hatte. 1917 bei einem Projekt für das Kaiser Franz Josef-Denkmal hat sich auch Ohmann mit dieser bren­nenden stadtbaukünstlerischen Frage beschäftigt. Von geradezu prophetischem Geist durchdrungen muß uns Sitte erscheinen, wenn wir sehen, daß er in einer Zeit, welche jeden Sinnes für bodenständige Baukultur ermangelte, immer wieder auf die Bedeutung der Stadtanlage und -gestaltung für die Stärkung

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des Heimatgefühls hinweist. Ist es nimt aus dem Geiste unserer heutigen Zeit gespromen, wenn er sagt: "Die Hauptplätze ... sollten im Sonntagskleide ersmeinen können zum Stolz und zur Freude der Bewohner, zur Erweckung des Heimatgefühls, zur steten Heranbil­dung großer, edler Empfindungen bei der heranwamsenden Jugend"? Und an anderer Stelle: "Die künstlerismen Anlagewerte sind da (nämlim beim Rasterplan) tatsädllim gleim Null... und in Folge davon wieder die Freude der Bewohner an ihrer Stadt gleim Null und somit ... aum die Anhänglidlkeit an dieselbe, der Stolz auf dieselbe, mit einem Wort das Heimatgefühl gleich Null, wie man es an den Bewohnern kunstloser, langweiliger Neustädte tatsächlich beobamten kann".

Diese Hinweise genügen wohl als Beweis dafür, wie sehr Camillo Sitte seiner Zeit vorausgeeilt ist. Wenn es ihm selbst nicht in allem gegeben war, zu den letzten Folgerungen aus seiner eigenen Lehre vorzudringen, so kann eine solme Feststellung niemals als Schmäle­rung seines Verdienstes gewertet werden. Es wäre ja so, als ob man dem Erfinder der Dampflokomotive einen Vorwurf daraus machen wollte, daß er noch keine moderne D-Zugslokomotive gebaut habe. Damit müssen auch jene harten Urteile zurückgewiesen werden, die hie und da aufgetaucht sind. Wenn z. B. ein Kunstgelehrter, der sich viel mit Stadtbaukunst beschäftigt, behauptet, unter Sittes Ein­fluß habe sich aus dem Widerspruch gegen ein Schema ein anderes entwickelt, so lassen sich in Sittes Schriften hundert Stellen anführen, die gegen jedes Schema Stellung nehmen; und wenn in den Stadt­planentwürfen von Architekten, die sim zur Sitte'smen Lehre be­kannten, eine allzu starke Hinneigung zur mittelalterlichen Grund­rißgestaltung zutage trat, so läßt sim aus Sittes Werk deutlim nach­weisen, daß dem Meister selbst eine solche Einseitigkeit gänzlim ferne lag; denn er hat sich mit dem Studium der stadtbaukünstleri­schen Smöpfungen aller Zeitepomen besmäftigt und ist dabei ohne jede Voreingenommenheit den allgemein-gültigen Gesetzen bildhafter Ordnung nachgegangen. Ohne Zweifel wurde Sitte von seinen un­mittelbaren Nachfolgern vielfam mißverstanden. Es mag auch sein, daß der von Sitte gebrauchte Ausdruck "malerische" Schönheit dazu beigetragen hat, daß man zu sehr im äußerlichen stecken blieb. Dessenungeachtet ist aber der Keim, den Sitte gepflanzt hat, herrlim aufgegangen. Die Erkenntnis, daß der Städtebau eine künstlerisme Aufgabe ist, hat sich durchgerungen und ist heute Allgemeingut. Von der Natur und von den Alten müsse man lernen, sagte Sitte. Und auch dieser wichtige Grundsatz seiner Lehre gilt heute als eine Selbstverständlichkeit. Aus der Natur der Örtlichkeit, aus dem Ge­füge der Landschaft ist Plan und Aufbau zu entwickeln und bei diesem ungemein schwierigen Vorgehen, das feinstes Empfinden und

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künstlerische Aufgeschlossenheit, aber auch Phantasie voraussetzt, können und müssen wir auch heute noch - wie uns Sitte lehrt -bei den Alten in die Schule gehen; denn diese besaßen eine unfehl­bare Tradition innigster Naturverbundenheit, die sie aus Urwelts­zeiten fortentwickelt und gepflegt hatten. Wenn man sich gegen Ende des Jahrhunderts und jetzt wieder -nachdem eine neue Welle naturfremden Rationalismus abgeschüttelt ist - mit der künstlerischen Seite des Städtebaues befaßt. so ist es Sittes Verdienst. Und so kommen wir auch über manches unfreund­liche Urteil leicht hinweg, da wir uns sagen müssen, daß mancher Kritiker seinen Themen auch erst durch Camillo Sitte zugeführt wurde. Wichtiger als alle Nörgelei ist uns die Meinung jener Großen, welche nach Sittes Tod die Praxis des Städtebaues tatsächlich ge­fördert und fruchtbar weiterentwickelt haben. Theodor Fischer nennt Camillo Sitte in einem Nachruf den "Vater der neuzeitlichen Städtebaukunst" und Hermann fansen bezeichnet Sittes Buch in einer Besprechung der 5. Auflage als eine "Offen­barung, bzw. Befreiung von allen Irrlehren und Blindheiten". Sittes Ruf bezeichnet er als den "Wendepunkt städtebaulichen Fühlens und Planens". Solchen Gewährsmännern dürfen wir glauben; und auch wenn Hein::; Wetzel Sittes Zielsetzung als eine "grundstürzende Tat" bezeichnet. Nach Erscheinen des Buches, das einen solchen Widerhall gefunden hatte, trat die städtebauliche Praxis an Sitte heran. Er wurde mit zahlreichen Aufgaben betraut, wie den Gesamtbebauungsplänen von Mährisch-Ostrau, Marienberg, Oderfurt-Privoz, Olmütz, Reichenberg und Teschen. In Oderfurt-Privoz war es Sitte vergönnt, das von ihm geschaffene städtebauliche Zentrum auch als Architekt durchzubilden. In jener Zeit hatte der Ruf seines Namens schon eine solche Ver­breitung gefunden, daß er bei allen städtebaulichen Wettbewerben Deutschlands als Preisrichter herangezogen wurde und Berufungen in ferne Weltteile - so nach Amerika und Australien - erhielt. Und der Städtebau ist auch jenes Gebiet seines so überreichen und vielseitigen Schaffens geblieben, das seinem Namen dauernde Gel­tung sichert. Ihm selbst freilich, der nach weit höherer Zusammen­fassung aller Kunst- und Geistesgebiete strebte, schien dieser Zweig seiner Tätigkeit nur als ein Baustein zu einem viel größeren Werk, mit dem er sich jahrzehntelang bis zu seinem Tode mühte, es jedoch nicht mehr zur Vollendung bringen konnte. Es sollte Wissenschaft und Bekenntnis zugleich sein, eine deutsChe Kunstphilosophie. Das Symbol dieses geistigen Werkes sollte ein Bauwerk sein, das Sitte nach jener von Richard \Vagner geschaffenen faustischen Gestalt "Holländer" - Turm benennen wollte. Als unwiederbringlicher Ver­lust muß es gewertet werden, daß dieses Werk, von dem nur noch

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Disposition und Inhaltsangaben im Anhiv der Familie aufbewahrt werden, ni<.ht zur Ausführung kam. Eines ist aber si<.her, daß dieses Werk - ebenso wie sein "Städtebau" auf einem bestimmten Gebiet - für das gesamte deuts<.he Geistesleben aufrüttelnd und umwälzend geworden wäre. Dafür spre<.hen die no<.h erhaltenen Aufzeimnungen, insbesondere jene, die si<.h auf Religion, Philosophie, Kunst, Wissen­s<.haft und die Politik der Zukunft, d. h. (für Sitte) des 20. Jahr­hunderts, beziehen. Wenn Sitte dieses Werk auch nicht vollenden durfte, so muß uns der Gedanke trösten, daß es wahrscheinlich überhaupt über die Kräfte eines Einzelnen gegangen wäre und daß es fast einer ganzen Generation bedurfte, bis die Zeit erfüllt und das politische und kul­turelle Ziel erreicht war, das Sitte, dem Polyhistor und genialen Denker, in einsamen Forscherstunden offenbar schon vorgeschwebt war. In diesem Falle gehört Sitte, der ja einen großen Freundeskreis besaß und sich ihm mitzuteilen pflegte, zweifellos zu jenen, die dazu beitrugen, einem Gedanken, den einer einmal aussprechen wird, den Boden dadurch vorzubereiten, daß sie - wie er selbst an einer bereits zitierten Stelle sagt - "Gleiches fühlen und erkennen". In diesen Gedankengängen erhebt sich das Bild des Meisters über die fachliche Leistung hinaus auf die Ebene allgemein-menschlicher Größe und es schließt sich der Kreis unserer Betrachtung über das Unvergängliche seiner Leistung und seines Wirkens. Camillo Sittes am heutigen Tage, in dieser Stadt, an dieser Stelle zu gedenken, war eine Ehrenpflicht - es tun zu dürfen, eine Aus­zeichnung.

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