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Voltaire Candid oder Die Beste der Welten Deutsche Übertragung und Nachwort von Ernst Sander Reclam

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Voltaire

Candidoder

Die Beste der Welten

Deutsche Übertragungund Nachwort

von Ernst Sander

Reclam

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Französischer Originaltitel:Candide ou l’optimisme

Dieser Übertragung liegt zugrunde:Voltaire, Romans et Contes, herausgegeben von Rene Pomeau.

Paris: Garnier-Flammarion, 1966.

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 6549

Printed in Germany 201RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Markender Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-006549-5

www.reclam.de

1971 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,

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Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung Canon Deutschland Business Services GmbH,

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erstes kapitel

Wie Candid1 in einem schönen Schlosse erzogenund wie er von dort verjagt wurde

In Westfalen, im Schlosse des Barons von Thunder-ten-tronckh2, lebte ein Jüngling, der von Natur sehr sanftmütiggeartet war. Sein Antlitz war seiner Seele Spiegel. Er waraufrichtigen und einfachen Geistes, und eben deshalb, glaubeich, war er Candid genannt worden. Die alten Bedienten desHauses munkelten, er sei der Sohn der Schwester des HerrnBaron und eines guten, ehrenwerten Landjunkers aus derNachbarschaft, den das gnädige Fräulein niemals habe hei-raten wollen, weil er nur einundsiebenzig Ahnen nachzu-weisen vermochte, während der Rest seines Stammbaumesvom Zahn der Zeit abgenagt worden war.Der Herr Baron war einer der mächtigsten Edelherren West-falens, denn sein Schloß hatte eine Tür und Fenster. Imgroßen Saal hing sogar ein Gobelin. Seine Kettenhundegaben zur Not eine Meute ab, die Stallknechte Piqueure,und der Dorfpfarrer war der Großalmosenier. Alt und jungnannte ihn Hochfreiherrliche Gnaden, und wenn er Ge-schichten zum besten gab, wurde gelacht.Die Frau Baronin wog gut dreihundertfünfzig Pfund undgenoß deswegen großes Ansehen, das sie durch die Würde,mit der sie die Honneurs des Hauses erwies, noch zu steigernwußte. Ihre siebzehnjährige Tochter Kunigunde war rot-bäckig, frisch, rundlich und appetitlich. Der Sohn des Baronswar ein würdiges Abbild seines Herrn Papa. Das Hausorakelstellte Magister Pangloß3 dar, und der kleine Candid nahmjede seiner weisen Lehren mit der Treuherzigkeit seines Al-ters und Charakters auf.Pangloß lehrte die Metaphysiko-Theologo-Kosmolo-Nigo-logie.4 Bewunderungswürdig bewies er, keine Wirkung

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könne ohne Ursache sein, und in dieser besten aller mög-lichen Welten sei das Schloß des Barons das schönste derSchlösser, die gnädige Frau die beste aller möglichen Baro-ninnen.»Die Dinge können nicht anders sein, als sie sind«, demon-strierte er: »denn da alles zu einem Zweck geschaffen wor-den ist, muß es natürlich zum besten Zweck sein. Seht eureNasen an: sie wurden gemacht, damit ihr Brillen tragenkönnt; folglich gibt es Brillen. Wie der Augenschein dartut,habt ihr Beine, um Stiefel zu tragen; deshalb gibt es Stiefel.Die Steine sind dazu da, daß man sie behaut und Schlösserdaraus baut; daher haben Seine hochfreiherrliche Gnadenein prächtiges Schloß, denn der mächtigste Edelherr desLandes muß auch am besten wohnen. Die Schweine sind da,daß man sie ißt, deshalb essen wir das ganze Jahr Speck.Aus alledem ergibt sich klar und einleuchtend: eine Dumm-heit sagt, wer da behauptet, alles sei gut geschaffen worden;nein, man muß sagen: alles wurde auf das beste gemacht.«Mit beiden Ohren lauschte der junge Candid, und in seinerEinfalt glaubte er alles. Denn er fand Fräulein Kunigundeaußerordentlich schön; doch nie hatte er den Mut gehabt, esihr zu sagen. Nächst dem Glück, als Baron von Thunder-ten-tronckh geboren zu werden, so glaubte er, sei die zweiteStufe irdischer Seligkeit, Fräulein Kunigunde zu sein; diedritte, sie täglich zu sehen; und die vierte endlich, MagisterPangloß zuzuhören, dem größten Philosophen des Landesund folglich der ganzen Welt.Als Kunigunde eines Tages in dem Wäldchen beim Schlosse,dem »Park«, lustwandelnd sich erging, sah sie hinter Busch-werk den Doktor Pangloß, wie er Versuche aus der Experi-mentalphysik mit ihrer Mutter Kammerzofe anstellte, einemniedlichen, dunkelhäutigen, gar gefügigen kleinen Mädchen.Fräulein Kunigunde hatte ungemein große Anlagen für dieWissenschaften; so beobachtete sie mit atemloser Spannungdie Experimente, deren Zeugin sie war; deutlich sah sie desDoktors zureichenden Grund, die Ursachen und ihre Wir-kung; ganz außer sich und angestrengt nachdenkend schlich

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sie fort; die Begierde, gelehrt zu werden, erfüllte sie völlig,und da fiel ihr ein, daß sie vielleicht des jungen Candid zu-reichender Grund werden könne, und er der ihrige.Vor dem Schloß traf sie Candid und errötete; Candid er-rötete gleichfalls. Sie begrüßte ihn mit versagender Stimme,und Candid antwortete ihr und wußte nicht, was er sagte.Am folgenden Tag trafen sie sich nach aufgehobener Tafelhinter einem Wandschirm. Kunigunde ließ ihr Taschentuchfallen, Candid hob es auf. In aller Unschuld bot sie ihm dieHand, die der Jüngling küßte, gleichfalls in aller Unschuld,jedoch lebhaft, gefühlvoll und höchst anmutig. Ihre Lippenbegegneten einander, ihre Blicke entflammten sich, ihre Kniebebten, ihre Hände verirrten sich. Just ging der Herr Baronvon Thunder-ten-tronckh an dem Wandschirm vorbei, undals er diese Ursachen und Wirkungen sah, jagte er Candidmit wuchtigen Fußtritten in den Hintern zum Schloß hin-aus. Kunigunde sank in Ohnmacht; als sie sich ein wenigerholt hatte, wurde sie von der Frau Baronin geohrfeigt,und in dem schönsten und angenehmsten aller Schlösserherrschte allgemeine Bestürzung.

zweites kapitel

Was Candid bei den Bulgaren5 erlebte

Vertrieben aus seinem irdischen Paradiese, wanderte Candidlange ziellos umher. Er weinte und erhob seine Augen genHimmel, und oftmals wandte er sich um nach dem Schlosse,das die schönste der Baronessen einschloß. Mit leerem Magenlegte er sich mitten im Felde zwischen zwei Furchen nieder,um zu schlafen, und der Schnee fiel in dicken Flocken. Ganzverklammt schlich Candid am nächsten Tage nach Wald-berghoff-Trarbk-Dickdorff6, der nächsten Stadt. Trauriglehnte er sich an die Tür eines Wirtshauses, denn er besaßkeinen Heller und verging fast vor Hunger und Müdigkeit.

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Zwei Blauröcke7 erblickten ihn: »Kamerad«, sagte der eine,»sieh den jungen Menschen dort, wie gut er gewachsen ist!«Sie gingen auf Candid zu und luden ihn höflich zum Essenein. »Meine Herren«, sagte Candid mit entzückender Be-scheidenheit, »Ihre Einladung ehrt mich, doch ich habe keinGeld, um meine Zeche zu bezahlen.« »Aber, lieber Freund«,sagte einer der Blauen, »Leute Ihres Aus- und Ansehensbrauchen nichts zu bezahlen; sind Sie nicht fünf Fuß undfünf Zoll groß?« – »Tatsächlich, meine Herren«, sagte ermit einer Verbeugung. – »Dann schnell zu Tische! Wir be-zahlen nicht allein die Zeche für Sie, sondern sorgen auchfür alle Zukunft, daß ein Mann wie Sie stets Geld hat. DieMenschen sind dazu da, einander gegenseitig unter die Armezu greifen.« – »Sie haben recht«, sagte Candid. »Herr Pan-gloß hat mir das stets gesagt, und so ist es schließlich auch ambesten.« Man nötigt ihm einige Taler auf, er nimmt sie undwill es ihnen schriftlich geben; sie schlagen es aus, man setztsich zu Tische. »Lieben Sie nicht innig – –?« – »Ja, freilich«,antwortet er, »ich liebe innig Fräulein Kunigunde!« – »Nein,nein«, fiel einer der Herren ein, »wir fragen Sie, ob Sienicht innig den König von Bulgarien lieben?« – »Ganz undgar nicht«, entgegnet er; »ich habe ihn ja niemals gesehen!«– »Was? Wie? Er ist der vortrefflichste der Könige! Wirmüssen auf seine Gesundheit trinken!« – »Oh, gern, meineHerren!«, und er trinkt. »Abgemacht!«, wird ihm gesagt.»Jetzt sind Sie Schutz und Schirm, Retter und Held derBulgaren! Sie haben Ihr Glück gemacht: die Bahn des Ruhmssteht Ihnen offen!« Seine Füße werden in Eisen geschlossen,man führt ihn zum Regiment. Er muß rechtsum, linksummachen, Gewehr auf Schulter, Gewehr ab, Feuer, Laufschrittmarsch marsch. Dabei bekommt er dreißig Stockschläge; amfolgenden Tag exerziert er schon etwas besser und erhält nurzwanzig, am übernächsten Tage kriegt er nur zehn, undseine Kameraden begaffen ihn als Weltwunder.Candid war ganz verblüfft und begriff noch gar nicht, wieer zum Helden geworden war. An einem schönen Frühlings-morgen kam es ihm in den Kopf, spazierenzugehen, immer

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der Nase nach, denn er glaubte, Menschen wie Tiere genössendas Vorrecht, sich ihrer Beine nach Belieben bedienen zudürfen. Noch hat er keine zwei Meilen zurückgelegt, als vierandere Helden von sechs Fuß Länge ihn einholen, bindenund ins Gefängnis bringen. Ein Kriegsgericht fragt ihn, waser lieber hätte: sechsunddreißigmal Spießruten zu laufenoder sich zwölf bleierne Kugeln zugleich ins Gehirn jagenzu lassen. Candid hatte gut reden, der Wille des Menschensei frei, und er möge weder das eine noch das andere; manließ ihm keine Wahl. Kraft der guten Gottesgabe, Willens-freiheit genannt, entschloß er sich also, sechsunddreißigmalSpießruten zu laufen. Zweimal durchlief er die Gasse. DasRegiment bestand aus zweitausend Soldaten, das macht vier-tausend Hiebe. Alle Muskeln und Nerven seines Rückensvom Nacken bis zu den Backen lagen blank und offen da.Als Candid den dritten Gang tun sollte, konnte er nichtmehr und bat, man möge ihm gnädigst den Kopf abschlagen.Es wurde ihm gewährt; man verbindet ihm die Augen, ermuß niederknien. Da kommt just der König von Bulgarien8

vorbei und fragt nach dem Verbrechen des armen Sünders.Und dieses Königs großes Genie erkannte aus alledem so-fort, daß Candid ein junger Metaphysiker und mit denTücken dieser Welt nicht vertraut sei. Er begnadigte ihn alsomit einer Milde, die alle Chroniken und alle Jahrhundertepreisen werden. Ein tüchtiger Chirurg heilte Candid inner-halb dreier Wochen nach den Vorschriften des Dioscorides9.Haut hatte er so ziemlich, und marschieren konnte er auchschon wieder, als der König der Bulgaren dem König derAbaren10 eine Schlacht lieferte.

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drittes kapitel

Wie Candid den Bulgaren entkamund was dann geschah

Nichts war so schön, so gewandt, so stattlich, so wohlgeord-net wie die beiden Heere. Selbst in der Hölle hatte mankaum jemals ein Konzert vernommen, das sich mit dem derTrompeten, Pfeifen, Hörner, Trommeln und Kanonen hättemessen können. Zuerst rissen die Kanonen auf jeder Seitegegen sechstausend Mann nieder; dann säuberte das Mus-ketenfeuer die beste aller möglichen Welten von neun- biszehntausend Schurken, die ihre Oberfläche vergifteten. Undauch das Bajonett war ein zureichender Grund, daß einigetausend Menschen umkamen. Im ganzen mochten es an diedreißigtausend gewesen sein. Candid zitterte wie ein Philo-soph. Er versteckte sich während dieser heroischen Schläch-terei, so gut er konnte.Als endlich jeder der beiden Könige in seinem Lager dasTedeum anstimmen ließ, entschloß er sich, anderwärts überUrsachen und Wirkungen nachzudenken. Er stieg über Hau-fen von Toten und Sterbenden hinweg und gelangte in einnahegelegenes Dorf. Es bestand nur aus Aschenhaufen: da esein Abarendorf gewesen war, hatten die Bulgaren es nachden Bestimmungen des Völkerrechts in Brand gesteckt. VonSchüssen durchsiebte Greise sahen hier ihre erdrosseltenFrauen sterben, die Kinder noch an die blutenden Brüstegepreßt. Aufgeschlitzten Leibes hauchten einige Mädchenihren letzten Seufzer aus, nachdem sie die natürlichen Be-dürfnisse einiger Helden befriedigt hatten. Andere lagenhalbverbrannt da und wimmerten flehentlich, daß man sievollends töte. Zwischen abgerissenen Armen und Beinen warauf dem Boden Gehirnmasse verspritzt.So schnell er vermochte, floh Candid in ein anderes Dorf.Es gehörte den Bulgaren, und abarische Helden hatten esgenauso zugerichtet. Candid schritt über zuckende Glieder,zwischen rauchenden Trümmern hindurch, bis er sich schließ-

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lich außerhalb des Kriegstheaters befand. In seinem Schnapp-sack trug er ein wenig Proviant, und seine Gedanken weiltenunaufhörlich bei Fräulein Kunigunde. Sein Mundvorrat gingihm aus, als er die holländische Grenze überschritten hatte;doch da er hatte sagen hören, in diesem Lande sei jedermannreich und zudem Christ, war er sicher, daß er dort zumindestebenso gut behandelt werden würde wie im Schlosse desHerrn Baron, bevor er um der schönen Augen FräuleinKunigundes willen verjagt worden war.Er bat mehrere gravitätisch einherschreitende Männer umeinen Zehrpfennig. Sie alle antworteten, wenn er diesesHandwerk weiterhin betreibe, werde man ihn ins Zuchthausstecken, um ihm Lebensart beizubringen.Hierauf wandte er sich an jemanden, der gerade in einergroßen Versammlung eine geschlagene Stunde lang überNächstenliebe gesprochen hatte. Dieser Prediger sah ihnschief an und fragte ihn: »Sind Sie um der guten Sache wil-len gekommen, oder was ist die Ursache Ihres Hierseins?« –»Es gibt keine Wirkung ohne Ursache«, entgegnete Candidbescheiden. »Alles steht in notwendigem Zusammenhangund ist aufs trefflichste eingerichtet. Ich mußte aus FräuleinKunigundes Nähe fortgejagt werden, ich mußte Spießrutenlaufen, und jetzt muß ich mein Brot erbetteln, bis ich es mirwieder verdienen kann; all das konnte gar nicht anderssein.« – »Lieber Freund«, versetzte der Prediger, »glaubenSie, daß der Papst der Antichrist ist?« – »Ich habe nochnichts davon gehört«, meinte Candid, »aber er mag es seinoder nicht: hätt’ ich nur Brot!« – »Du verdienst keins!« riefder andere. »Fort, Schurke du, fort, Elender! Komme mirnicht wieder unter die Augen!« Die Frau des Predigersschaute just aus dem Fenster, und als sie eines Menschenansichtig wurde, der bezweifelte, daß der Papst der Anti-christ sei, goß sie ihm einen vollen …… über den Kopf. OHimmel! Wie weit reißt der religiöse Eifer Damen fort!Da sah jemand, der nicht einmal getauft worden war, einwackerer Wiedertäufer namens Jakob, wie grausam undschändlich man einen seiner Brüder behandelte, ein zwei-

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beiniges Geschöpf ohne Federn mit einer Seele. Er hieß ihnmit sich gehen, säuberte ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkteihm zwei Gulden und wollte ihm sogar in seiner Fabrik fürpersische, in Holland hergestellte Stoffe Arbeit geben. Can-did war nahe daran, sich ihm zu Füßen zu werfen, und riefaus: »Magister Pangloß hatte doch recht! Alles in dieserWelt ist aufs beste eingerichtet, denn Ihre unendliche Mild-tätigkeit erschüttert mich weit mehr als jenes Herrn imschwarzen Talar und seiner Frau Hartherzigkeit.«Als er am folgenden Tag spazierenging, begegnete er einemüber und über mit Eiterbeulen bedeckten Bettler mit er-loschenen Augen, zerfressener Nase, schiefstehendem Mundeund schwarzen Zahnstümpfen, der jedes Wort heiser hervor-gurgeln mußte; fürchterliche Hustenanfälle quälten ihn, wo-bei er jedesmal einen Zahn ausspie.

viertes kapitel

Wie Candid seinen alten Lehrer der Philosophiewieder traf, den Doktor Pangloß,

und was sich darauf ereignete

Candid fühlte mehr Mitleid als Abscheu; er schenkte diesemübelaussehenden Bettler die beiden Gulden, die der wackereWiedertäufer Jakob ihm gegeben hatte. Die Lazarusgestaltsah ihn starr an, brach in Tränen aus und fiel ihm um denHals. Entsetzt fuhr Candid zurück. »Ach!« sagte der Elendezum andern Elenden, »kennen Sie wirklich Ihren liebenPangloß nicht mehr?« – »Was muß ich hören? Sie sind meinteurer Lehrer? Und in diesem furchtbaren Zustand? Was istIhnen geschehen? Warum sind Sie nicht mehr im schönstender Schlösser? Was ist aus Fräulein Kunigunde geworden,der Perle unter den Mädchen, dem Meisterwerk der Natur?«– »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Pangloß. Candid führteihn schleunigst in des Wiedertäufers Stall, wo er ihm ein

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wenig Brot gab, und als Pangloß sich erholt hatte, fragte erihn: »Und Kunigunde?« – »Ist tot!« entgegnete der andere.Candid fiel in Ohnmacht. Mit ein wenig schlechtem Essig,der sich zufällig in dem Stall befand, brachte sein Freundihn wieder zu sich. Candid schlägt die Augen auf: »Kuni-gunde tot? O beste der Welten, wo bist du? Aber woranstarb sie? Sicher doch aus Kummer über die wuchtigen Fuß-tritte, mit denen ich aus ihres Herrn Vaters schönem Schloßhinausgeworfen wurde?« – »Nein«, sagte Pangloß, »bulga-rische Soldaten schlitzten ihr den Bauch auf, nachdem sie sofürchterlich genotzüchtigt worden war, wie das nur möglichist. Dem Herrn Baron, der ihr beistehen wollte, haben sieden Schädel eingeschlagen; die Frau Baronin wurde in Stückegehauen, und meinen armen Zögling haben sie genau wieseine Schwester behandelt. Und das Schloß – kein Stein bliebauf dem andern, keine Scheune, kein Hammel, keine Ente,weder Baum noch Strauch: doch wir sind vollauf gerächtworden, denn mit einer benachbarten Baronie, die einembulgarischen Edelmann gehörte, haben es die Abaren genau-so gemacht.«Candid fiel bei dieser Erzählung noch einmal in Ohnmacht;nachdem er jedoch wieder zu sich gekommen war und allesgesagt hatte, was er sagen mußte, erkundigte er sich nachder Ursache, Wirkung und dem zureichenden Grunde, diePangloß in einen so bejammernswerten Zustand versetzthatten. »Ach«, entgegnete dieser, »die Liebe war’s, die Liebe,die Trösterin des Menschengeschlechts, die Erhalterin desWeltalls, die Seele aller fühlenden Wesen, die süße Liebe.« –»Oh«, sagte Candid, »ich habe sie auch kennengelernt, dieseLiebe, die Beherrscherin der Herzen, die Seele unserer Seele.Mir hat sie nichts eingetragen als einen Kuß und zwanzigFußtritte in den Hintern. Wie aber hat diese schöne Ursachebei Ihnen solch abscheuliche Wirkung hervorbringen kön-nen?«Pangloß antwortete folgendermaßen: »O mein lieber Can-did, Sie haben doch Paquette gekannt, jenes niedliche Kam-mermädchen unserer erlauchten Baronin? Ich habe in ihren

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Armen alle Wonnen des Paradieses genossen, und die habendie Höllenqualen hervorgebracht, die mich verzehren, wieSie sehen: sie war damit angesteckt und ist vielleicht darangestorben. Paquette erhielt dieses Geschenk von einem hoch-gelahrten Franziskaner, der es sich an der Quelle geholthatte: denn er bekam es von einer alten Gräfin, die es voneinem Rittmeister empfangen hatte, welcher es einer Mar-quise verdankte, die es von einem Pagen besaß, dem es einJesuit beigebracht hatte, der es während seiner Novizen-schaft in gerader Linie von einem Gefährten des ChristophColumbus bekommen hatte. Was mich betrifft: ich werde esan niemanden weitergeben können, mit mir geht’s zuEnde.«»O Pangloß«, rief Candid, »welch absonderlicher Stamm-baum! Sollte die Wurzel nicht der Teufel sein?« – »Durch-aus nicht!« erwiderte der große Mann, »es ist etwas Unent-behrliches für die beste aller Welten, ein notwendiger Be-standteil. Denn hätte Columbus sich nicht auf einer InselAmerikas diese Krankheit zugezogen, die die Quelle derZeugung vergiftet, ja häufig sogar diese verhindert und demgroßen Zweck der Natur offenbar entgegenwirkt – wirwürden weder Schokolade noch Cochenille11 haben. Und fer-ner muß man bedenken, daß diese Krankheit bis auf denheutigen Tag eine Eigentümlichkeit unseres Erdteils geblie-ben ist, genau wie die Religionsstreitigkeiten. Die Türken,Inder, Perser, Chinesen, Siamesen und Japaner kennen sienoch nicht, doch ist ein zureichender Grund zu der Annahmevorhanden, daß auch sie in einigen Jahrhunderten sie ken-nenlernen werden. Inzwischen hat sie bei uns die herrlichstenFortschritte gemacht, namentlich in den großen, aus ehren-werten und wohlerzogenen Söldnern bestehenden Heeren,die über die Schicksale der Staaten entscheiden. Wirklich,man kann schon sagen, daß, wenn dreißigtausend Manngegen ein gleich großes Heer eine Schlacht liefern, sich aufjeder Seite ungefähr zwanzigtausend mit dieser Seuche Be-haftete befinden.«»Das ist bewundernswert!« rief Candid, »aber Sie müssen

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geheilt werden.« – »Wie sollte das geschehen?« fragte Pangloß,»ich besitze keinen roten Heller, lieber Freund, und auf demganzen Erdenrund gibt’s weder einen Aderlaß noch einKlistier, ohne daß man bezahlt oder jemand anders bezahlenläßt.«Diese letzten Worte gaben Candid einen Gedanken ein: erwarf sich sogleich seinem barmherzigen Wiedertäufer Jakobzu Füßen und gab ihm eine so rührende Schilderung vonseines Freundes Zustand, daß der biedere Mann ohne Zau-dern den Doktor Pangloß zu sich nahm und ihn auf seineKosten heilen ließ. Pangloß verlor während der Kur nur einAuge und ein Ohr. Er schrieb gut und verstand vortrefflichzu rechnen. Der Wiedertäufer Jakob machte ihn deshalb zuseinem Buchhalter. Als er nach Verlauf zweier Monate inHandelsgeschäften nach Lissabon reisen mußte, nahm er seinebeiden Philosophen zu sich aufs Schiff. Pangloß erklärteihm, daß alles auf der Welt vortrefflich eingerichtet sei.Jakob war nicht dieser Ansicht. »Die Menschen«, sagte er,»müssen wohl die ursprünglich vollkommene Natur ein we-nig verdorben haben; sie sind nicht als Wölfe geboren, son-dern sind erst zu Wölfen geworden; Gott hat ihnen wedervierundzwanzigpfündige Kanonen noch Bajonette gegeben:sie haben Bajonette und Kanonen erst erfunden, um sichgegenseitig umzubringen. Auch die Bankrotte könnte ich er-wähnen und die Justiz, die sich der Vermögen der Bankrot-ten bemächtigt, um die Gläubiger darum zu betrügen!« –»All dieses ist unerläßlich«, entgegnete der einäugige Dok-tor, »das Unglück des einzelnen begründet das Wohl derGesamtheit, so daß es ums allgemeine Wohl desto bessersteht, je mehr privates Unglück es gibt.« Während er der-gestalt philosophierte, verfinsterte der Himmel sich, ausallen vier Ecken der Welt bliesen die Winde, und angesichtsdes Hafens von Lissabon wurde das Schiff vom fürchterlich-sten Unwetter überfallen.

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fünftes kapitel

Sturm, Schiffbruch, Erdbeben,und was sich mit dem Doktor Pangloß,

Candid und dem Wiedertäufer Jakob begab

Die eine Hälfte der Reisenden wäre vor Schreck fast gestor-ben in jenem unbeschreiblichen Angstgefühl, welches dasRollen eines Schiffes in den Nerven und den hin- und her-geschüttelten Säften des Körpers hervorbringt. Sie fandennicht einmal die Kraft, sich über die Gefahr zu beunruhigen.Die andere Hälfte schrie und betete. Die Segel waren zerris-sen, die Maste zerbrochen, das Schiff leck. Wer konnte, legteHand an, aber einer hinderte den andern, niemand befeh-ligte. Der Wiedertäufer leistete Hilfe beim Wenden, erstand auf dem Verdeck. Ein wütender Matrose versetzt ihmeinen heftigen Schlag und streckt ihn auf die Planken nie-der; doch infolge der Wucht des Hiebes bekam er selbereinen solchen Stoß, daß er köpflings über Bord stürzte. Dochblieb er an dem zerbrochenen Mast hängen. Der brave Jakobeilt ihm zu Hilfe und stützt ihn beim Heraufklettern, wirdaber bei der Anstrengung vor den Augen des Matrosen insMeer geschleudert, und der sieht ihn untergehen, ohne ihmauch nur einen Blick zu gönnen. Candid läuft herzu, siehtseinen Wohltäter noch einmal auftauchen und dann auf ewigversinken. Er will sich ihm nach ins Meer stürzen – derPhilosoph Pangloß hindert ihn daran und beweist ihm, daßdie Reede von Lissabon eigens dazu erschaffen worden sei,damit jener Wiedertäufer dort ertrinke. Während er ihmdies a priori beweist, geht das Schiff aus den Fugen; allekommen um bis auf Pangloß, Candid und das Scheusal voneinem Matrosen, das den tugendhaften Wiedertäufer ersäufthatte. Glücklich gelangte der Schurke schwimmend ans Ge-stade, wohin Pangloß und Candid auf einer Planke getrie-ben wurden.Sobald sie sich einigermaßen erholt hatten, machten sie sichauf den Weg nach Lissabon. Sie besaßen noch einiges Geld,

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mit dem sie sich vor dem Hungertode zu retten hofften,nachdem sie dem Sturm entgangen waren.Kaum jedoch haben sie unter Tränen über den Tod ihresWohltäters die Stadt betreten, als sie fühlen, daß die Erdeunter ihren Füßen zu beben beginnt. Brausend erhebt sichdas Meer im Hafen und zerschellt die dort vor Anker lie-genden Schiffe. Flammen und Aschenwirbel hüllen Straßenund Plätze ein, Häuser stürzen zusammen, Dächer fallenauf die Mauern, die Mauern zerbersten. Dreißigtausend Ein-wohner jeglichen Alters und Geschlechts werden unter denTrümmern begraben. Pfeifend und fluchend rief der Ma-trose: »Hier gibt’s was zu verdienen!« – »Welches mag derzureichende Grund für dieses Naturwunder sein?« fragtePangloß. »Der Jüngste Tag ist gekommen«, jammerte Can-did. Unverzüglich läuft der Matrose mitten in den Trüm-merhaufen hinein, bietet dem Tod die Stirn, nur um Geld zufinden, findet welches, reißt es an sich, besäuft sich, und alser voll ist, kauft er sich die Gunst der ersten besten Hure,die er zwischen den Ruinen der zerstörten Häuser, zwischenSterbenden und Toten findet. Pangloß zupfte ihn am Ärmel:»Lieber Freund«, sagte er zu ihm, »so etwas gehört sichnicht. Sie vergehen sich an der allgemeinen Vernunft undwenden Ihre Zeit schlecht an.« – »Hölle und Teufel!« ver-setzte der andere, »ich bin Matrose und in Batavia geboren!Ich habe auf vier Reisen nach Japan viermal das Kruzifixmit Füßen getreten; bei mir bist du an den Rechten gekom-men mit deiner allgemeinen Vernunft.«Einige herabstürzende Steine hatten Candid verletzt; vonTrümmern bedeckt lag er auf der Straße niedergestreckt.»Ach«, sagte er zu Pangloß, »verschaff mir ein wenig Weinund Öl, ich bin am Sterben.« – »Dieses Erdbeben ist durch-aus nichts Neues«, versetzte Pangloß. »Voriges Jahr erst er-litt die Stadt Lima in Amerika dieselben Erschütterungen.Gleiche Ursachen – gleiche Wirkungen. Sicherlich zieht sichein unterirdisches Schwefellager von Lima nach Lissabon.«– »Das ist äußerst wahrscheinlich«, entgegnete Candid, »aberum Gottes willen, bring mir Öl und Wein.« – »Wieso wahr-

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scheinlich?« erwiderte der Philosoph, »ich behaupte, daß dieSache erwiesen ist!« Candid schwanden die Sinne, und Pan-gloß brachte ihm etwas Wasser aus einem nahen Brunnen.Nachdem sie am nächsten Tag beim Durchstöbern der Trüm-mer einigen Mundvorrat gefunden hatten, erholten sie sichein wenig. Später beteiligten sie sich wie die andern an derRettung der Einwohner, die dem Tod entgangen waren.Einige Bürger, denen sie beigestanden hatten, gaben ihnenein so gutes Mittagessen, wie man es nach einem solchenUnglück irgend beschaffen konnte: wahrlich, das Mahl ver-lief traurig, die Geladenen benetzten das Brot mit Tränen;Pangloß jedoch tröstete sie, indem er versicherte, die Dingekönnten gar nicht anders sein. »Denn«, sagte er, »all diesesist so gut wie irgend möglich. Wenn es bei Lissabon einenVulkan gibt, konnte er nicht anderswo sein. Denn unmöglichist es, daß die Dinge nicht dort sind, wo sie sind. Denn es istalles gut.«Ein kleiner, schwarzhaariger, dem Inquisitionskollegium an-gehörender Mann, der neben ihm saß, ergriff höflich dasWort und sagte: »Augenscheinlich glauben der Herr nichtan die Erbsünde; denn wenn alles gut ist, gibt es wederSündenfall noch Strafe.«»Ich bitte Eure Exzellenz demütigst um Verzeihung«, ent-gegnete Pangloß womöglich noch höflicher, »aber der Sün-denfall und die Verfluchung der Menschen gehören mitNotwendigkeit zur besten der Welten.« – »Der Herr glau-ben also nicht an die Willensfreiheit?« fragte der Inquisitor.»Eure Exzellenz verzeihen«, sagte Pangloß, »die Willens-freiheit kann sehr wohl neben der absoluten Notwendigkeitbestehen; es war notwendig, daß wir frei sind; denn kurzund gut, der bedingte Wille – –« Pangloß war mitten in sei-nem Satze, als der Inquisitor seinem Bedienten, der ihm justWein aus Porto oder Oporto einschenkte, mit dem Kopf einZeichen gab.

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sechstes kapitel

Wie man zur Verhinderung der Erdbebenein schönes Autodafe veranstaltete,

und wie Candid ausgepeitscht wurde

Nach dem Erdbeben, das drei Viertel von Lissabon zerstörthatte, wußten die Weisen des Landes kein wirksameres Mit-tel gegen den völligen Untergang der Stadt zu finden, alsdem Volke den Anblick eines schönen Autodafe12 zu gewäh-ren. Die Universität Coimbra hatte das entscheidende Wortgesprochen, daß das Schauspiel einiger feierlichst auf lang-samem Feuer verbrannter Menschen ein unfehlbares Mittelsei, die Erde am Beben zu hindern.Man hatte infolgedessen einen Biskayer aufgegriffen, derder Ehe mit einer Gevatterin überführt worden war, undzwei Portugiesen, die beim Verzehren eines Huhnes denSpeck fortgeworfen hatten13: und nach Tisch fesselte manden Doktor Pangloß und seinen Schüler Candid, den einen,weil er gesprochen, den andern, weil er mit beistimmenderMiene zugehört hatte; beide wurden getrennt in zwei außer-ordentlich kühle Gemächer gebracht, in denen einen dieSonne niemals belästigt. Acht Tage später wurden sie beidemit einem Sanbenito14 bekleidet, ihre Häupter schmückteman mit Papiermitren. Candids Mitra und Sanbenito warenmit umgekehrten Flammen und mit Teufeln ohne Schwanzund Klauen bemalt; Pangloß’ Teufel jedoch hatten Klauenund Schwänze, und die Flammen standen aufrecht. So ge-kleidet schritten sie in einer Prozession einher und mußteneine sehr pathetische Predigt anhören, der eine schöneTrauermusik folgte. Candid wurde während des Gesangesmit Ruten gepeitscht; der Biskayer und jene beiden, diedurchaus keinen Speck hatten essen wollen, wurden ver-brannt, und Pangloß hängte man, obschon das sonst nichtBrauch war. Selbigen Tages bebte die Erde noch einmal unterfürchterlichem Getöse.Entsetzt, bestürzt, seiner Sinne nicht mächtig, über und über

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blutend und zitternd, sagte Candid sich: »Wenn dies diebeste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst dieandern sein? Wäre ich wenigstens nur geprügelt worden,denn das kannte ich ja schon von den Bulgaren her! Dochdu, o teurer Pangloß, größter aller Philosophen, mußte iches erleben, wie man dich hängte, ohne zu wissen warum?Und du, geliebter Wiedertäufer, bester der Menschen, muß-test du angesichts des Hafens ersäuft werden? Und – oFräulein Kunigunde, Sie Perle der Mädchen, mußte manIhnen den Bauch aufschlitzen?«Kaum konnte er sich auf den Füßen halten und wandte sichum, ermahnt, gepeitscht, losgesprochen und gesegnet, als einaltes Weib ihn anstieß und ihm zuflüsterte: »Fasse Mut,mein Sohn, und folge mir.«

siebentes kapitel

Wie ein altes Weib Candid in seine Obhut nahm,und wie er wiederfand, was er liebte

Candid faßte keinen Mut, folgte der Alten jedoch in eineHütte: sie gab ihm einen Topf Salbe, mit der er sich einrei-ben sollte, und wies ihm ein schmales, ziemlich sauberes Bettan, neben dem ein vollständiger Anzug lag. »Essen Sie, trin-ken Sie, schlafen Sie«, sagte sie zu ihm. »Unsere liebe Frauvon Attocha, der heilige Antonius von Padua und der hei-lige Jakob von Compostella mögen Sie schützen: morgenkomme ich wieder.« Candid war noch immer benommenvon allem, was er gesehen und erduldet hatte, mehr jedochnoch von der Mildtätigkeit der Alten –: er wollte ihr dieHand küssen. »Nicht meine Hand sollen Sie küssen«, sagtedie Alte, »morgen komme ich wieder. Reiben Sie sich mitder Salbe ein, essen Sie, schlafen Sie.«Trotz aller Leiden aß Candid und schlief. Am nächsten Mor-gen bringt die Alte ihm ein Frühstück, beschaut seinen Rük-

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ken und reibt ihn selber mit einer andern Salbe ein; dannbringt sie ihm das Mittagessen. Abends kommt sie wiederund trägt das Nachtmahl auf. Am übernächsten Tag tat siedasselbe. »Wer sind Sie?« fragte Candid jedesmal, »woherrührt Ihre große Güte? Wie kann ich Ihnen danken?« Nie-mals antwortete die gute Frau; sie kam am Abend wieder,doch brachte sie kein Nachtmahl mit. »Kommen Sie mitmir«, sagte sie, »doch sprechen Sie kein Wort.« Sie nimmtihn am Arm und geht mit ihm ungefähr eine Viertelmeileaufs Feld hinaus. Sie gelangen vor ein einsames, mit Gärtenund Kanälen umgebenes Haus. Die Alte klopft an ein Pfört-chen. Es wird geöffnet, sie führt Candid über eine Geheim-treppe in ein vergoldetes Gemach, läßt ihn sich auf ein bro-katenes Sofa setzen und geht fort. Candid vermeinte zuträumen, sein verflossenes Leben erschien ihm wie ein düste-rer, der gegenwärtige Augenblick wie ein angenehmerTraum.Bald kam die Alte zurück. Mühsam unterstützte sie ein zit-terndes Weib von königlichem Wuchs, das von Edelsteinenglitzerte und verschleiert war. »Heben Sie diesen Schleierauf«, sagte die Alte zu Candid. Der Jüngling tritt herzu;mit scheuer Hand hebt er den Schleier. Welche Situation!Welche Überraschung! Fräulein Kunigunde glaubt er zusehen, wirklich, er sah sie, sie war es. Seine Kräfte schwin-den, kein Wort kann er hervorbringen, er fällt ihr zu Füßen.Kunigunde sinkt auf das Sofa. Die Alte besprengt beide mitWeingeist, sie kommen zu sich, sie sprechen: zuerst nur Ge-stammel, einander kreuzende Fragen und Antworten, Seuf-zer, Tränen, Aufschreie. Die Alte empfiehlt ihnen, möglichstwenig Lärm zu machen, und läßt sie allein. »Wie? Sie sindes?« ruft Candid. »Sie leben! In Portugal finde ich Sie wie-der? Also sind Sie nicht vergewaltigt worden? Man hatIhnen nicht den Bauch aufgeschlitzt, wie der PhilosophPangloß mir versichert hat?« – »Wenn schon«, sagte dieschöne Kunigunde, »man stirbt nicht immer daran.« – »AberIhr Vater und Ihre Mutter – sind sie getötet worden?« –»Leider, leider«, antwortete Kunigunde und schluchzte.

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»Und Ihr Bruder?« – »Der auch.« – »Und warum sind Siein Portugal, und wie haben Sie erfahren, daß ich hier sei,und durch welch seltsamen Zufall ließen Sie mich hierher indieses Haus führen?« – »Alles werde ich Ihnen sagen«, er-widerte die Dame. »Doch zuvor müssen Sie mir erzählen,was Sie erlebt haben seit jenem unschuldigen Kuß, den Siemir gaben, und seit den Fußtritten, mit denen Sie bedachtworden sind.«Mit tiefster Ehrerbietung gehorchte Candid, und obwohl ernoch immer sehr beklommen war, obwohl seine schwacheStimme zitterte und sein Rücken ihn arg schmerzte, erzählteer ihr denkbar schlicht alles, was er seit dem Augenblick vonihrer beider Trennung erduldet hatte. Kunigunde hob dieAugen zum Himmel auf; sie vergoß Tränen über den Toddes wackeren Wiedertäufers und Pangloß’; dann aber sprachsie folgendermaßen zu Candid, der sich keins ihrer Worteentgehen ließ und sie mit den Augen verschlang.

achtes kapitel

Kunigundes Geschichte

»Ich lag in meinem Bett und schlief fest, als der Himmeldie Bulgaren schickte und unser schönes Schloß Thunder-ten-tronckh überfallen ließ. Sie brachten meinen Vater undmeinen Bruder um und hieben meine Mutter in Stücke. Einriesenhafter Bulgare, wohl sechs Fuß war er lang, bemerkte,daß mir bei diesem Anblick die Sinne geschwunden waren,und machte sich daran, mir Gewalt anzutun. Das brachtemich wieder zu mir. Ich kam zu Bewußtsein, schrie, schlugum mich, biß, kratzte und wollte dem langen Bulgaren dieAugen ausreißen. Ich wußte ja nicht, daß alles, was im väter-lichen Schlosse vor sich ging, etwas durchaus Übliches war.Der Unhold gab mir einen Messerstich in die rechte Seite –:noch heute sieht man die Narbe.« – »Ach!« rief Candid

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naiv, »ich möchte sie sehen!« – »Das sollen Sie«, sagte Kuni-gunde, »doch lassen Sie mich zunächst fortfahren.« – »Nurweiter!« rief Candid.Sie nahm den Faden ihrer Erzählung wieder auf. »Ein bul-garischer Hauptmann kam; er sah mich blutüberströmt da-liegen, doch der Soldat ließ sich nicht stören. Über dieAchtungsverletzung, die der Lüstling ihm bezeigte, gerietder Hauptmann in Wut –: er tötete ihn auf meinem Leibe.Darauf ließ er mich verbinden und führte mich als Kriegs-gefangene in sein Quartier. Ich wusch seine wenigen Hem-den und kochte für ihn. Er fand mich sehr hübsch, und auchich muß gestehen, daß er recht gut gewachsen war und eineweiße, weiche Haut hatte. Geist besaß er übrigens nicht undwohl noch weniger Philosophie; man sah eben, daß nichtDoktor Pangloß ihn erzogen hatte. Nach drei Monaten hatteer all sein Geld verloren, und da er meiner überdrüssig war,verkaufte er mich an einen Juden namens Don Isaschar, derzwischen Holland und Portugal Handel trieb und Frauenleidenschaftlich liebte. Dieser Jude faßte große Neigung zumir, doch mich zu besiegen vermochte er nicht –: ihm habeich besser widerstanden als dem bulgarischen Soldaten. Einanständiges Mädchen kann wohl einmal vergewaltigt wer-den, doch das festigt seine Tugend nur. Um mich kirre zumachen, brachte der Jude mich hier in dieses Landhaus. Bis-her hatte ich geglaubt, in der Welt gebe es nichts Schöneresals das Schloß Thunder-ten-tronckh; jetzt erkannte ich mei-nen Irrtum.Eines Tages wurde der Großinquisitor bei der Messe meinergewahr, er beliebäugelte mich sehr und ließ mir mitteilen, ermüsse mich in geheimen Angelegenheiten sprechen. Man ge-leitete mich in seinen Palast, ich entdeckte ihm meine Ab-stammung. Er stellte mir vor, wie wenig es meinem Rangentspreche, einem Israeliten anzugehören. In seinem Auftragwurde also dem Don Isaschar vorgeschlagen, er möge michan Seine Eminenz abtreten. Don Isaschar, der Hofbankierund ein einflußreicher Mann ist, wollte davon nichts wissen.Der Inquisitor drohte ihm mit einem Autodafe. Mein Jude

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ließ sich schließlich einschüchtern und ging einen Vertrag mitihm ein, wonach Haus und ich beiden gemeinsam gehörensollten: dem Juden standen die Montage, Mittwoche undSabbattage zu, dem Inquisitor die übrigen Wochentage. Seiteinem halben Jahr besteht dieser Vertrag. Es ging indessennicht ohne Streitigkeiten ab, denn oft blieb unentschieden, obdie Nacht vom Samstag zum Sonntag dem Alten oder demNeuen Testament gehören solle. Was mich betrifft, so habeich bis jetzt beiden widerstanden, und aus diesem Grunde,glaube ich, werde ich von beiden noch immer geliebt.Um die Landplage der Erdbeben abzuwenden, jedoch auchum Don Isaschar zu erschrecken, beschloß Seine Eminenz,ein Autodafe zu veranstalten. Er erwies mir die Ehre, michdazu einzuladen. Ich bekam einen vortrefflichen Platz an-gewiesen; zwischen der Messe und der Urteilsvollstreckungwurden den Damen sogar Erfrischungen gereicht. Wahrhaf-tig, Grausen packte mich, als ich die beiden Juden und jenenehrenwerten Biskayer, der seine Gevatterin geheiratet hatte,brennen sah: doch wie groß waren meine Überraschung,mein Schrecken, meine Bestürzung, als ich in einem Sanbenitound unter einer Mitra eine Gestalt erblickte, die Pangloßähnelte! Ich rieb mir die Augen, ich betrachtete ihn auf-merksam, sah, wie er gehängt wurde, und fiel in Ohnmacht.Kaum war ich zur Besinnung gekommen, als ich Sie nacktbis auf die Haut vor mir sah –: das war der Gipfel meinesSchreckens, meiner Bestürzung, meines Schmerzes. Wahrhaf-tig, ich muß Ihnen offen sagen, daß Ihre Haut noch weicher,noch zarter getönt ist, als die meines bulgarischen Haupt-manns. Dieser Anblick verstärkte noch die Gefühle, die michüberstürzten und zerrissen. Ich schrie auf, ich wollte rufen:Haltet ein, ihr Barbaren! Doch meine Stimme versagte;auch wäre mein Rufen unnütz verhallt. Als Sie dann aus-gepeitscht wurden, fragte ich mich: Wie kann es sein, daßder liebenswerte Candid und der weise Pangloß sich hier inLissabon befinden, der eine, um hundert Rutenstreiche zubekommen, der andere, um gehängt zu werden auf BefehlSeiner Eminenz des Großinquisitors, dessen Geliebte ich bin?

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Pangloß hatte mich arg getäuscht, als er mir sagte, alles inder Welt sei aufs beste eingerichtet.Erregt, entsetzt, bald außer mir, bald sterbensmatt, mußteich daran denken, wie mein Vater, meine Mutter und meinBruder hingemetzelt wurden, wie schamlos sich mein bulga-rischer Soldat gegen mich benommen, wie er mich mit demMesser gestochen hatte, wie ich als Köchin dienen mußte.Ich dachte an meinen bulgarischen Hauptmann, meinen häß-lichen Don Isaschar, meinen abscheulichen Inquisitor, an dieHinrichtung des Doktors Pangloß, an das große Miserere,das in dumpfem Tone gesungen wurde, während Sie ge-peitscht wurden, und vor allem an jenen Kuß hinter einemWandschirm an jenem Tag, da ich Sie zum letztenmal ge-sehen hatte. Ich pries Gott, der Sie mir nach so viel Prüfun-gen wiedergegeben. Ich befahl meiner Alten, für Sie Sorgezu tragen und Sie sobald wie möglich hierher zu bringen. Siehat meinen Auftrag trefflich ausgeführt. Ich habe die unaus-sprechliche Freude genossen, Sie wiederzusehen, Ihnen zu-zuhören, mit Ihnen zu sprechen. Doch Sie müssen über dieMaßen hungrig sein, und auch ich habe großen Appetit.Wir wollen also mit dem Nachtmahl beginnen.«Sie setzten sich beide zu Tisch, und nach dem Essen kehrtensie wieder auf jenes schöne Sofa zurück, dessen schon Er-wähnung getan wurde; dort saßen sie, als Don Isaschar ein-trat, der eine der Hausherren. Es war Sabbat. Er kam, umsein Recht auszuüben und seiner zärtlichen Liebe Ausdruckzu geben.

neuntes kapitel

Was mit Kunigunde, Candid, dem Großinquisitorund einem Juden geschah

Dieser Isaschar war der jähzornigste Hebräer, den es seit derbabylonischen Gefangenschaft gegeben hatte. »Wie!« schrieer, »du galiläische Hündin, ist’s noch nicht genug mit dem

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Herrn Großinquisitor? Soll dieser Lump da auch noch mitmir teilen?« Bei diesen Worten zieht er einen langen Dolch,den er immer bei sich trug, und in dem Glauben, die Gegen-partei sei waffenlos, stürzt er sich auf Candid; unser wacke-rer Westfale jedoch hatte mit dem vollständigen Anzugevon der Alten auch einen schönen Degen bekommen. Erzieht ihn trotz seiner Sanftmut und streckt den Israelitenohne weiteres mausetot auf die Fliesen nieder, zu Kunigun-des Füßen.»Heilige Jungfrau!« schrie sie auf, »was soll jetzt aus unswerden? Ein Mann in meinem Hause getötet! Wenn diePolizei kommt, sind wir verloren!« – »Wäre Pangloß nichtgehängt worden«, sagte Candid, »so würde er uns in dieserschwierigen Lage gut raten können, denn er war ein großerPhilosoph. Befragen wir statt seiner die Alte.« Sie war sehrklug und wollte gerade ihre Meinung sagen, als eine anderekleine Tür sich öffnete. Es war eine Stunde nach Mitter-nacht, der Sonntag hatte begonnen. Dieser Tag gehörte demHerrn Großinquisitor. Er tritt ein und sieht den ausge-peitschten Candid mit dem Degen in der Faust, einen Ge-töteten auf der Erde, Kunigunde voller Entsetzen und dieAlte Ratschläge erteilend.In diesem Augenblick ging folgendes in Candids Seele vor,und er dachte: wenn dieser heilige Mann um Hilfe ruft, wirder mich unweigerlich verbrennen lassen; dasselbe kann er mitKunigunde tun. Er hat mich unbarmherzig auspeitschen las-sen; er ist mein Nebenbuhler; ich bin nun mal beim Morden,also gibt es kein Schwanken. Diese Erwägung ging klar undschnell vor sich, und ohne dem Inquisitor Zeit zu lassen, sichvon seinem Erstaunen zu erholen, durchbohrt er ihn durchund durch und streckt ihn neben dem Juden nieder. »Daswäre der zweite«, sagte Kunigunde, »jetzt gibt es keineGnade mehr; wir werden exkommuniziert, unsere letzteStunde hat geschlagen. Wie haben Sie es nur angestellt, Sie,der Sie immer so sanftmütig waren, innerhalb zweier Minu-ten einen Juden und einen Prälaten zu töten?« – »Meinschönes Fräulein«, erwiderte Candid, »wenn man verliebt,

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eifersüchtig und zudem noch von der Inquisition ausge-peitscht worden ist, kennt man sich selber nicht mehr.«Darauf ergriff die Alte das Wort und sagte: »Im Stallestehen drei andalusische Pferde nebst Sattel und Zaumzeug;der tapfere Candid möge sie schirren. Gnädiges Fräuleinhaben Goldstücke und Diamanten. Obwohl ich nur auf einerHinterbacke zu sitzen vermag, wollen wir schnell zu Pferdesteigen und nach Cadiz reiten. Es ist das schönste Wetter derWelt, und während der kühlen Nacht zu reisen ist ein Ver-gnügen.«Candid sattelt sogleich die drei Pferde. Kunigunde, die Alteund er legen in einem Ritt dreißig Meilen zurück. Währendsie fliehen, erscheint die heilige Hermandad15 im Hause;Seine Eminenz wird in einer schönen Kirche beigesetzt undIsaschar auf den Schindanger geworfen.Candid, Kunigunde und die Alte befanden sich bereits inder kleinen Stadt Avacena inmitten der Berge der SierraMorena; in einer Herberge führten sie folgendes Gespräch.

zehntes kapitel

In welcher Bedrängnis Candid, Kunigunde und die Altenach Cadiz gelangen und ihre Einschiffung

»Wer hat nur meine Goldstücke und Diamanten stehlen kön-nen?« rief Kunigunde schluchzend. »Wovon sollen wir leben?Was soll ich tun, um Inquisitoren und Juden zu finden, diemir neue geben?« – »Ach«, sagte die Alte, »ich habe einenehrwürdigen Bruder Franziskaner stark in Verdacht, dergestern in Badajoz mit uns in der gleichen Herberge über-nachtete. Gott bewahre mich vor einem voreiligen Urteil,aber er kam zweimal in unser Zimmer und reiste lange voruns ab.« – »O weh«, sprach Candid, »der gute Pangloß hatmir oft bewiesen, daß die Güter dieser Erde allen Menschengemeinsam gehörten, daß ein jeder gleiches Recht darauf