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Jahrbücher der Sartre-Gesellschaft e.V. 3 Carnets Jean Paul Sartre Reisende ohne Fahrschein. Jahrbücher der Sartre-Gesellschaft e. V. (2012) Bearbeitet von Vincent von Wroblewsky, Peter Knopp 1. Auflage 2012. Taschenbuch. 238 S. Paperback ISBN 978 3 631 63872 9 Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 320 g Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft > Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Jahrbücher der Sartre-Gesellschaft e.V. 3

Carnets Jean Paul Sartre

Reisende ohne Fahrschein. Jahrbücher der Sartre-Gesellschaft e. V. (2012)

Bearbeitet vonVincent von Wroblewsky, Peter Knopp

1. Auflage 2012. Taschenbuch. 238 S. PaperbackISBN 978 3 631 63872 9

Format (B x L): 14,8 x 21 cmGewicht: 320 g

Weitere Fachgebiete > Philosophie, Wissenschaftstheorie, Informationswissenschaft >Philosophie: Allgemeines > Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

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Editorial

Sartre schätzte das Reisen sehr und gewährte ihm einen wichtigen Platz in sei-nem Leben. Von Beauvoir in den Entretiens von 1974 dazu befragt, gibt er an, seinen früheren Lektüren von Abenteuerromanen einen ‚Geschmack für die ganze Welt’ zu verdanken: „Was die Abenteuerromane mir gegeben haben, und wofür ich ihnen sehr dankbar bin, ist ein Sinn für die ganze Erde. Ich dachte sehr selten, daß ich Franzose war, ich dachte manchmal daran, aber ich dachte auch, daß ich ein Mann war, dem die ganze Erde, ich will nicht sagen, gehörte, aber Ort seines Lebens war, ein vertrauter Raum war.“1

Das war lange bevor allerorts von Globalisierung gesprochen wurde, zu ei-ner Zeit, in der (wie heute leider auch, gar zunehmend) nationale Beschränkthei-ten als Tugenden gepriesen wurden. Zunächst war Sartre ein Privatreisender, der von seiner Neugier nach Spanien, Italien, Griechenland, Marokko geführt wur-de, später kamen viele Reisen hinzu, die politisch motiviert und weniger auf Eu-ropa und angrenzende Regionen begrenzt waren. Diese Reisen verdankte Sartre vor allem seiner Berühmtheit und den entsprechenden Einladungen. Ihn zog es überall hin, wo Veränderungen stattfanden, Widersprüche Entwicklungen voran-trieben oder hemmten, Gesprächspartner bereit waren, ihm diese zu erläutern oder sich für seine Meinung interessierten – und sich auch aus seinem Ruhm Gewinn versprachen – ob Mao Zedong, Fidel Castro, Che Guevara, Nikita S. Chruschtschow, Gamal Abdel Nasser u.a. Doch für Sartre oft wichtiger waren die Gespräche mit Schriftstellerkollegen oder mit Dolmetscherinnen (die manchmal auch seine Geliebten waren, wie in Brasilien, Japan oder der Sowjet-union).

Von allen diesen und anderen Reisen – in die USA, in den mittleren Osten, nach China, ja auch nach Deutschland – wird in diesem Heft weniger oder nicht die Rede sein. Doch von einem mehrfachen Reiseziel Sartres ist ausführlich die Rede – von der Sowjetunion. Sartres Verhältnis zu diesem Land ist Gegenstand der Analyse von Alfred Betschart, dem bei dieser Gelegenheit nicht nur für sei-nen Text, sondern auch für seine Großzügigkeit gedankt sei, die dieses Heft we-sentlich ermöglicht hat, gewissermaßen die unverzichtbare Fahrkarte für die et-was abenteuerliche Reise zu erwerben erlaubte.

1 Simone de Beauvoir, „Gespräche mit Jean-Paul Sartre“, in: Die Zeremonie des Abschieds

und Gespräche mit Jean-Paul Sartre. August-September 1974, Übertragen von Uli Au-müller und Eva Moldenhauer, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 297.

Simone de Beauvoir, „Entretiens avec Jean-Paul Sartre. Août-Septembre 1974“, in: La cérémonie des adieux, Gallimard, Paris 2007 [Ersterscheinung: 1981], S. 325.

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Reisende ohne Fahrschein, das heißt ohne Rechtfertigung, ohne Legitimie-rung – das ist auch eine Metapher, die Sartres Denken und Leben über eine wei-te Strecke seiner Existenz begleitete, eine vielsinnige, mehrere Interpretationen erlaubende Metapher, wie dieses Heft zeigen wird – auch in den Aufsätzen, die sich weniger mit den Reisen als mit dem Reisenden und seinen Weisen, die Welt zu sehen, beschäftigen.

Das schließt selbstverständlich das Imaginäre ein – das untrennbar mit der Existenz, ihrer Freiheit und ihren Risiken, verbunden ist. Denn jeder Kreative, das heißt jeder Mensch, in mancher Profession, Situation mehr, in anderer weni-ger, ist auch ein Vorstellender, ein Erfinder. Es ist sein vorstellendes Bewusst-sein, das ihn in Bewegung hält, Vorstöße, Vorwegnahmen oder auch Fluchten ins Imaginäre, ins Reich des Möglichen und des Noch-nicht, ins Irreale auslöst. Vermittels der Freiheit des Bewusstseins und ihrer Transzendenz, die ein Über-schreiten des Gegebenen hin auf ein frei gesetztes Ziel ist, streben Reisende nach der Realisierung ihrer vorgestellten Idee: eine (Über-)lebensmöglichkeit, eine soziale Verbesserung, eine politische Lösung, ein Kunstwerk.

Erfreulich ist der Anteil jüngerer Autoren und Mitarbeiter an diesem Jahr-buch: Marie Minot, die parallel zum Abschluss ihres – übrigens mit Auszeich-nung bestandenen – Philosophiediploms ihren Beitrag schrieb und mit kritischen Hinweisen zur Verbesserung anderer Texte beitrug, Sebastian Seidler, der im Rahmen der Sartre Gesellschaft einen Vortrag mit Filmbeispielen hielt und sei-nen Vortrag überarbeitet nun hier vorlegt, Sophie Astier-Vezon, mit deren Nen-nung deutlich wird, dass sich die Sartre Gesellschaft in Deutschland, wie in den vorangegangenen Jahrbüchern, in keiner Weise auf Deutschland beschränkt. Be-sonders zu erwähnen ist Anna Bernhard, die als Absolventin der Universität Marburg eine Bachelorarbeit über Sartre schrieb und in hervorragender Weise das Lektorat des gesamten Bandes, oft unter Zeitdruck und erschwerten Bedin-gungen, sicherte. Diese jüngeren Mitstreiter stehen gleichberechtigt und durch-aus ebenbürtig neben den altbewährten, die seit Jahrzehnten Sartre zu ihrem ständigen Reisebegleiter erkoren haben. Sie seien in alphabetischer Reihenfolge genannt, also von Knopp über von Wroblewsky bis Zimmermann. Sie – diese jüngeren – lassen hoffen, dass der Zug Sartre nicht, wie viele seit langem be-haupten und wünschen, auf ein Abstellgleis geraten ist, sondern noch weite Rei-sen vor sich hat, auch in bisher weniger befahrene Gegenden. Und dass dieser Zug – und bescheidener auch dieser Band – interessierte Leser finden möge, die die Reise wagen.

Peter Knopp Vincent von Wroblewsky

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I.

Aufsätze

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Marie Minot „Der Reisende ohne Fahrkarte“außerordentlicher x-beliebigereiner visumlosen Menschheit

Madame, there are always two paths to take: one back towards the comfort and security of death, the other forward to nowhere. You would like to fall back amongst your quaint tomb-stones and familiar cemetery walls. Fall back, then, fall deep and fathomless into the ocean of annihilation1.

Henry Miller, The Colossus of Maroussi

‚KAfKA. Ich mach’ mit’, stand in großen Buchstaben auf weißen Zetteln, rot umrandet nach der Art eines Verkehrsschilds. Als ich das in den letzten Tagen auf den Straßen in den Vitrinen von Lebensmittelgeschäften und Imbissbuden angeschlagen sah, fragte ich mich zuerst, ob mir das ganze Lesen vielleicht zu Kopf gestiegen sei. Näher betrachtet, handelte es sich um eine Aktion, genannt ‚Kein Alkohol für Kinder Aktion’, nach § 9 des Jugendschutzgesetzes, im Auf-trag und auf Initiative des Bezirksamtes Pankow. Abgesehen davon, was von einer Kampagne zu halten ist, die moralische Zustimmung solchermaßen er-zwingt, fragte ich mich, was das mit Franz Kafka zu tun haben sollte. Das Kür-zel KafKA bloß als Merkwort? Ein wenig seltsam, wenn gerade in der Alltags-sprache ‚kafkaesk’ für ‚absurd’, oder – nach der Definition vom Wahrig-Lexikon – für ‚unheimlich, beängstigend, irreal’ steht.

Bekräftigt durch den Umstand, daß ein paar Meter weiter unter der S-Bahn-Brücke auf dem riesigen Werbeplakat einer Fastfood-Kette wiederum ein Kürzel stand – ‚SMS’ –, das in diesem Fall ‚schnell mal sparen’ heißen sollte, entschied ich, daß erstgenanntes Kürzel mit Franz Kafka inhaltlich nichts zu tun habe. Die Übernahme war mir überdrüssig; Kafkas Name schien als kulturelle Referenz beliebig austauschbar zu sein. Dafür hingegen ergriff ich die Gelegenheit, wie-der etwas von Kafka zu lesen: schon seit einiger Zeit wollte ich wissen, was es mit dessen Hungerkünstler auf sich habe.

1 Henry Miller, The Colossus of Maroussi, San Francisco 1941, S. 142f.

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12 Marie Minot

Ein Hungerkünstler ist nicht nur der Titel eines einzelnen Textes, sondern auch einer Sammlung, in der drei weitere Kurzgeschichten enthalten sind2. Der Protagonist einer dieser Geschichten, „Erstes Leid“, ist eine dem Hungerkünstler sehr verwandte Figur; nur ist der Hungerkünstler alt, der andere – Trapezkünst-ler – ist jung. Die Geschichte fängt so an:

Ein Trapezkünstler – bekanntlich ist diese […] Kunst eine der schwierigsten unter allen, Menschen erreichbaren – hatte, zuerst nur aus dem Streben nach Vervoll-kommnung, später auch aus tyrannisch gewordener Gewohnheit sein Leben derart eingerichtet, daß er, solange er im gleichen Unternehmen arbeitete, Tag und Nacht auf dem Trapez blieb3.

Und geht folgendermaßen weiter: So hätte der Trapezkünstler ungestört leben können, wären nicht die unvermeidli-chen Reisen von Ort zu Ort gewesen, die ihm äußerst lästig waren. Zwar sorgte der Impresario dafür, daß der Trapezkünstler von jeder unnötigen Verlängerung seiner Leiden verschont blieb: [...]; im Eisenbahnzug war ein ganzes Kupee bestellt, in welchem der Trapezkünstler, zwar in kläglichem, aber doch irgendeinem Ersatz sei-ner sonstigen Lebensweise die Fahrt oben im Gepäcknetz zubrachte; im nächsten Gastspielort war im Theater lange vor der Ankunft des Trapezkünstlers das Trapez schon an seiner Stelle, auch waren alle zum Theaterraum führenden Türen weit ge-öffnet, alle Gänge frei gehalten [...]4.

Die Erzählung endet während einer solchen Zugfahrt, nachdem sie sich noch-mals verdichtet hat. Der Künstler bittet den Impresario um ein zweites Trapez. Er betont, daß von nun an zwei Trapeze einander gegenüber zur Ausübung sei-ner Kunst unerläßlich seien und fällt in so heftiges Schluchzen, daß es dem Im-presario nur durch viel Zureden gelingt, ihn zu besänftigen.

Er selbst [der Impresario] aber war nicht beruhigt [...]. Wenn ihn [den Trapezkünst-ler] einmal solche Gedanken zu quälen begannen, konnten sie je gänzlich aufhören? [...] Und wirklich glaubte der Impresario zu sehn, wie jetzt im scheinbar ruhigen Schlaf, in welchen das Weinen geendet hatte, die ersten Falten auf des Trapezkünst-lers glatter Kinderstirn sich einzuzeichnen begannen5.

Eine der zentralen Textstellen zum Thema des ‚Reisenden ohne Fahrkarte’ bei Sartre – aus dem „Carnet I“ der Carnets de la drôle de guerre – fällt in die Zeit

2 Franz Kafka: „Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten“, in: Gesammelte Werke in Einzel-

bänden, hg. von Max Brod. Lizenzausgabe von Schocken Books New York. Frankfurt a.M. 1952, S. 239-291 [Erstveröffentlichung 1924].

3 Ebd., S. 241. 4 Ebd., S. 242. 5 Ebd., S. 244.

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Der Reisende ohne Fahrkarte 13

seiner systematischen Kafka-Lektüre6. Im September 1939 schildert er darin seinen Grundantrieb und bedient sich des Motivs der Reise:

[J]etzt wird mir bewußt, daß ich ins Leben gestartet bin, als würde ich eine lange Reise machen, jedoch mit gegebener Strecke und fixiertem Ziel. Man muß vor dem Abend eintreffen. Ich will weder Müdigkeit spüren noch anhalten. Mein ganzer Wil-le ist gespannt. Es gibt keinen Platz, weder für Müdigkeit noch für Unterhaltung. Ich lasse mich nie gehen, alles ist Funktion dieser Reise7.

Jean-Luc Moreau, Autor des Buches Sartre, voyageur sans billet, das ich hier selbstverständlich zu Rate ziehen werde, zitiert diese eine Stelle, doch ganz zum Schluß und ohne Kommentar8. Ich denke, daß es aufschlußreich wäre, dort an-zuknüpfen und die umliegenden Zeilen zu bedenken. Denn zunächst ist dieser Eintrag vom 26. September 1939 und schafft eine interessante Spiegelung zur damaligen unmittelbar praktischen Situation: Weder, daß Sartre physisch ernst-haft gefährdet worden, noch, daß er vom tatsächlichen Krieg begeistert gewesen wäre, aber er ist sich – hier in einer seiner früheren Schriften – vollends bewußt, mit sich und seiner Arbeit gewissermaßen ins Feld zu ziehen. Zweitens, und ins-besondere, weil die im Eintrag vom Carnet fortfolgenden Zeilen eine direkte Ergänzung zu den Gedanken um den ‚Reisenden ohne Fahrkarte’ bieten, die er viel später – 1964 – in Les Mots formulieren wird.

Das [diese Vorstellung des eigenen Lebens als Reise, und der Reise als Werk, das völlige Hingabe beansprucht] hält jede metaphysische Angst von mir fern – so wie es heute den Krieg vor mir zurückweichen läßt –, es hindert mich, ihn ganz zu füh-len. Ich habe keine Zeit zu sterben, so ungefähr fühle ich die Dinge. Und magisch-

6 In der Ausgabe von 1995 wird von den Herausgebern (S. 35) angemerkt, daß Sartre 1939

am Anfang seiner Mobilisierung zwecks eines Artikels, den er für eine Zeitschrift zu schreiben beabsichtigte, von seiner Kafka-Lektüre geradezu durchsetzt war. Er habe im Militärzug Das Urteil sowie In der Strafkolonie gelesen, und habe in seinem Gepäck au-ßerdem Das Schloss mitgenommen und bei einem späteren Zwischenaufenthalt in Meurtheet-Moselle gelesen. Später in den Carnets referiert er gelegentlich von seinen Kameraden Paul und Pieter als seine ‚Gehilfen’ (acolytes).

7 Sartre: Tagebücher. Carnets de la drôle de guerre. September 1939 – März 1940. Neue, um ein bisher unveröffentlichtes Heft erweiterte Ausgabe. Übertragen von Eva Molden-hauer und Vincent von Wroblewsky. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 55. Sartre: Carnets de la drôle de guerre. Septembre 1939 - Mars 1940. Nlle.éd. augmentée d’un carnet iné-dit. Paris: Gallimard, 1995, S. 55 [Carnet I]. „[J]e me rends compte à présent que je suis parti dans la vie comme pour faire un long voyage mais d’une distance donnée et avec un terme fixé. Il faut y arriver avant le soir. Je ne veux ni sentir ma fatigue, ni m’arrêter. Toute ma volonté est tendue. Il n’y a place ni pour la lassitude ni pour le divertissement, je ne m’abandonne jamais, tout est en fonction de ce voyage.“

8 Moreau, Jean-Luc, Sartre, voyageur sans billet. Essai, Paris: Fayard, 2005.

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erweise gibt mir das die Gewißheit, nicht zu sterben, bevor ich am Ende der Reise angekommen bin9.

Die Gedanken um den ‚Reisenden ohne Fahrkarte’ entlang von Les Mots sind Ausdruck dieser metaphysischen Angst (d.h. bei Sartre, der Nichtberechtigung der eigenen Existenz). Damit verbunden ist der wirkungsvolle Streich, den Sart-re sich im Alter von sieben Jahren in Form einer metaphorischen Inszenierung ausdachte, um dieser Angst entgegenzuwirken. Das erste explizite Vorkommen dieses Motivs findet sich erst circa in der Mitte des Buches:

[Ich war] ein Wesen, das von allen als Idol verehrt, gleichzeitig aber von jedermann abgewiesen wird [...]. [...] Da mich niemand ernsthaft brauchte, erhob ich den An-spruch, unentbehrlich zu sein für das Universum. [...] Als blinder Passagier war ich im Abteil eingeschlafen und wurde vom Schaffner wachgerüttelt. «Bitte die Fahr-karte!» Ich mußte gestehen, daß ich keine hatte. Auch kein Geld, um die Reise be-zahlen zu können. Ich begann damit, mich für schuldig zu erklären [...]. In diesem äußersten Augenblick der Erniedrigung blieb mir bloß noch der Ausweg, die ganze Situation umzustülpen: ich gab also das Geheimnis preis, daß wichtige und geheime Gründe mich zwängen, nach Dijon zu reisen, im Interesse Frankreichs und vielleicht der Menschheit. Und wenn man die Dinge in diesem Sinne betrachtete, gäbe es viel-leicht im ganzen Zug keinen einzigen Menschen, der so sehr zum Mitfahren berech-tigt sei wie ich. [...] Ein Recht auf Bescheidenheit haben nur Reisende mit gültigen Fahrkarten. Ich wußte niemals, ob ich mit meiner Methode Erfolg hatte, denn der Schaffner schwieg; ich fing mit meinen Erklärungen immer von neuem an. Solange ich redete, durfte ich sicher sein, nicht aussteigen zu müssen10.

9 Sartre, Tagebücher, S. 55. Carnets de la drôle de guerre, S. 55f. „Cela écarte de moi toute angoisse métaphysique –

tout comme aujourd’hui cela fait reculer devant moi la guerre –, cela m’empêche de la sentir tout à fait. Je n’ai pas le temps de mourir, voilà à peu près comment je sens les choses. Et, magiquement, cela me donne la certitude que je ne mourrai pas avant d’être arrivé au bout du voyage.“

10 Sartre, Die Wörter, Übertragen von Hans Mayer. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 63f. Sartre, Les Mots, Paris: Gallimard 1997 [Erstveröffentlichung 1964], S. 92f. „Idolâtré par tous, débouté de chacun, [...]. Puisque personne ne me revendiquait sérieusement, j’élevai la prétention d’être indispensable à l’Univers. [...] Voyageur clandestin, je m’étais endormi sur la banquette et le contrôleur me secouait. « Votre billet! » Il me fal-lait reconnaître que je n’en avais pas. Ni d’argent pour acquitter sur place le prix du voyage. Je commençais par plaider coupable [...]. A ce point extrême de l’humilité, je ne pouvais plus me sauver qu’en renversant la situation: je révélais donc que des raisons importantes et secrètes m’appelaient à Dijon, qui intéressaient la France et peut-être l’humanité. A prendre les choses sous ce nouveau jour on n’aurait trouvé personne, dans tout le convoi, qui eût autant que moi le droit d’y occuper une place. [...] Seuls ont le droit d’être modestes les voyageurs munis de billets. Je ne savais jamais si j’avais gain de cause: le contrôleur gardait le silence ; je recommençais mes explications ; tant que je parlerais j’étais sûr qu’il ne m’obligerait pas à descendre.“