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Cartoonmuseum Basel Vierzig Jahre für die neunte Kunst Das Magazin der Christoph Merian Stiftung Nr. 7 April 2019

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Cartoonmuseum BaselVierzig Jahre für die

neunte Kunst

Das Magazin der Christoph Merian Stiftung

Nr. 7 April 2019

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Kostproben aus dem reichen Fundus

Das CMS-Magazin RADAR soll nicht nur ein Lese-

genuss sein. Auch das Bild, die Illustration, hat

einen besonderen Stellenwert. Kunstschaffende

und Fotograf/innen haben für die bisherigen

Ausgaben gearbeitet oder ihre Werke zur Verfü-

gung gestellt. Zum 40. Geburtstag des Cartoon-

museums hat RADAR Schmuckstücke aus dem

Fundus ausgewählt: Kostproben aus dem reichen

Schatz in der St. Alban-Vorstadt 28. Ein Appetizer

für die Dauerausstellung und die thematischen

Ausstellungen in einem der kleinsten, aber bedeu-

tendsten Museen für die neunte Kunst

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Schon seit vierzig Jahren gibt es die Sammlung Karikaturen & Cartoons. Vierzig Jahre sind beachtlich, aber nicht bloss wegen der Anzahl Jahre, sondern auch wegen der Entwicklung, die die satirische Kunst und die Sammlung Karikaturen & Cartoons seit 1979 durchlaufen haben. Ange-fangen hat alles mit einem grosszügigen Mäzen, Dieter Burckhardt, dem eigensinnigen Kurator Jüsp (Jürg Spahr) und einem Kabinett, ein-gemietet in einem Altstadthaus in der St. Alban-Vorstadt. Die Stars der damaligen Zeit waren: Mordillo, Loriot, Glück, Sokol, Rosado, Sempé … Trägerin des Kabinetts war die unselbstständige Stiftung Karikaturen & Cartoons, welche Dieter Burckhardt mit Kapital geäufnet und der Christoph Merian Stiftung (CMS) geschenkt hatte. Finanziert wurde das Kulturprojekt vorerst ausschliesslich aus den Erträgen von Burckhardts Stiftung. Die Ziele der Stiftung sahen eine Beschränkung auf Origi- nalwerke des 20. Jahrhunderts vor, den Verzicht auf «tagespolitische Schöpfungen», den Aufbau einer einschlägigen Bibliothek und lang-fristig die «Schaffung eines Studienzentrums für diese Kunstrichtung». Weiter sollte die Stiftung dazu beitragen, Karikaturen und Cartoons mehr Achtung und Beachtung zu verschaffen und den Besucherinnen und Besuchern ein «Lächeln und Schmunzeln» zu schenken.

Auf Jürg Spahr folgten weitere Kuratorinnen und Kuratoren. Aus dem Kabinett wurde 1996 ein veritables Museum, ein Schmuckstück am neuen, heutigen Domizil in einem alten Haus an der St. Alban-Vorstadt 28 mit einem modernen Hinterhofgebäude von Herzog & de Meuron. Und vieles mehr hat sich geändert. Heute werden im Museum nicht mehr nur Originalwerke der Karikatur- und Cartoonkunst gesammelt und gezeigt. Das Cartoonmuseum hat sich der ganzen Fülle von Aus- drucksformen und Medien der satirischen Kunst geöffnet: Comics, digitalen Zeichnungen, Trickfilmen, Videofilmen mit zeichnerischen Elementen, Mangas, Collagen, plastischen Figuren, Wortbildern, Schab-kartons usw. Das Museum spricht damit ein breites und vor allem auch ein immer jüngeres Publikum an.

Unter Museumsleiterin Anette Gehrig hat sich das Cartoonmuseum mit qualitativ hochstehenden und sorgfältig präsentierten Ausstellun-gen hervorragend entwickelt. Die CMS führt es deshalb seit 2016 – neben dem Christoph Merian Verlag und den Merian Gärten – als dritte eigene Institution und alimentiert es mit zusätzlichen Mitteln. Denn die Erträge der Stiftung von Dieter Burckhardt reichen schon lange nicht mehr, um den Betrieb in der heutigen Form aufrechtzuerhalten.

Immer häufiger erhält das Museum Rechercheanfragen von Fach-leuten, Medien und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland. Erben von Nachlässen der satirischen Kunst, Bund und Kantone wenden sich im Zusammenhang mit der Sicherung und Inventarisierung von Kunst- beständen an das Cartoonmuseum – und Museen bitten um Leihgaben. So wurde das Cartoonmuseum zum nationalen Kompetenzzentrum der satirischen Kunst – worauf die CMS stolz ist – und der Traum von Dieter Burckhardt von einem «Studienzentrum» ist nach vierzig Jahren Wirk-lichkeit geworden.

Dr. Beat von WartburgDirektor der Christoph Merian Stiftung

5 Wie alles begann Sophie Burckhardt-Furrer

8 Vom Kabinett zum Kompetenzzentrum

Das Cartoonmuseum gestern und heute

10 Die Ursprünge des ComicBasel und Genf!

12 Kunst, kein KinderkramEin Plädoyer für die neunte Kunst

13 Für junge SprachtalenteWortstellwerk auf dem Dreispitz

14 Für aussergewöhnliche Menschen

AHA! im St. Johann

16 Obdachlose in BaselDie Studie der CMS

TitelbildAndreas Gefe (*1966, Schweiz), Der ungläubige Thomas, 2006, 57 × 44 cm, Acryl auf Halbkarton

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Editorial

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Dieter Burckhardt hat zusammen mit seiner Frau Sophie Burckhardt- Furrer das heutige Cartoonmuseum Basel erst ermöglicht: Das Ehepaar hat seine umfangreiche Sammlung in eine Stiftung überführt und 1979 der CMS anvertraut. Damit legte das Paar den Grundstein für eines der international bedeutendsten Museen für die neunte Kunst. Im Gespräch mit RADAR erzählt die heute 84-jährige Witwe Sophie Burckhardt- Furrer, wie es dazu gekommen ist, was sie auf ihren Reisen mit ihrem Mann und mit dem Basler Karikaturisten Jüsp erlebt hat und wie die Ankäufe zustande kamen.

RADAR: Frau Burckhardt, Ihr Mann ist 1991 verstorben. Was für ein Mensch war er?

Sophie Burckhardt-Furrer: Mein Mann war ein sehr origineller Typ. Er stammte ja aus dem ‹Daig› – aber er fiel aus dem Rahmen der gehobe-nen Basler Gesellschaft. Er hatte grossen Sinn für Humor und eine grosse Affinität zum englischen Humor. Er war ja Direktor in der damaligen Geigy, hat in den USA gelebt und auch England bereist. Ich selber hatte eine englische Mutter und deshalb ebenfalls einen starken Bezug zum englischen Humor. Das hat uns verbunden.

Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?Mein erster Mann war Direktor bei der UNO für Science und Techno-

logy. In seiner Funktion musste er viel reisen – und ich begleitete ihn. In Buenos Aires wartete ich mal in einem Hotel auf ihn. Dann kam ein hoch-gewachsener Mann herein, Hartmann Koechlin – mit Dieter, seinem Vetter. Dieter war in dieser Zeit in der Geigy für das Argentinien-Geschäft ver-antwortlich. Mein erster Mann kannte Dieter, und so kamen wir vier ins Gespräch. Dann haben Dieter und ich uns länger nicht mehr gesehen. Dieter hat uns später ins Gellertgut nach Basel eingeladen, das er später ja der CMS geschenkt hat. Ich fand Dieter ungemein lustig. So hat das angefangen …

Später haben Sie Dieter Burckhardt geheiratet …Ja, das war auch ziemlich ungewöhnlich: Dieter ist zu unserer Hoch-

zeit mit einem roten Schal und einer Dächlikappe erschienen. Er war schon ein ziemlich schräger Vogel.

Sie haben mit Ihrem Mann eine der bedeutendsten Sammlungen von Karikaturen und Cartoons aufgebaut. Weshalb?

Dieters Wunsch war es, die besten Karikaturen und kritischen Zeich-nungen der Welt zu sammeln. Er fand, dass die Schweizer vieles viel zu ernst nehmen. In dieser Zeit traf er auf dem Flohmarkt auf dem Peters- platz Jüsp, Jürg Spahr, der damals schon ein bekannter Schweizer Kari-katurist war. Sie kamen ins Plaudern, und Dieter erzählte ihm von seinem Vorhaben. Und Jüsp war Feuer und Flamme. Jüsp wurde danach quasi unser Kurator. Und dann sind wir zu dritt auf Reisen gegangen und haben die Sammlung aufgebaut.

Tomi Ungerer (1931–2019, Frankreich/Irland), 1996, 30 × 21 cm, Tusche auf Papier

Ronald Searle (1920–2011, Grossbritannien), Der Babysitter, 1976, 66 × 51 cm, Tusche und Aquarell auf Papier

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«Er war ein sehr

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Gespräch

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Claire Bretécher (*1940, Frankreich), Die Schwangere, aus: Die Frustrierten, 1978, 38 × 37 cm, Tusche und farbige Tusche auf Papier

Sempé (*1932, Frankreich), Ohne Titel, 1974, 45 × 41 cm, Aquarell, Kreide und Farbstift auf Papier

Wie muss man sich diese Reisen und Ankäufe vorstellen?Wir haben uns direkt mit den Künstlern in Verbindung gesetzt oder

über die Botschaften deren Adressen erhalten. Dann haben wir mit ihnen einen Termin abgemacht und sind in verschiedene Länder gereist: Argen-tinien, Japan, Brasilien, Frankreich, Belgien, Polen … Meistens haben wir sie in unser Hotel eingeladen. Zum Beispiel ins Hotel Lancaster in Paris oder ins Algonquin in New York. Sie kamen und brachten ihre Mappen mit. Wir haben mit den Künstlern diskutiert, ihre Werke ausgebreitet und nahmen dann eine erste Auswahl vor. Und eine zweite und dritte. Jeder von uns dreien sagte, welches Werk uns am besten gefiel. Und am Schluss sind Dieter und ich aus dem Zimmer raus und Jüsp hat mit den Künstlern allein über das Finanzielle weiterverhandelt. Jüsp war der Profi und auch ein guter Geschäftsmann – er hatte ja eine eigene Werbeagentur. Aber wir haben nicht ‹gemärtet›. Wir haben den Künstlern immer gesagt, dass wir die Werke nicht weiterverkaufen, sondern einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Das hat bei ihnen ‹gezündet› – deshalb haben sie uns oft auch Werke und Bücher dazugeschenkt. Und natürlich haben wir die Künstler auch in ihren Ateliers besucht.

Zu dritt reisen ist ja noch speziell … mit zwei sehr selbstbewussten Männern!

Wir waren ein eingeschworenes Trio. Jeder hat seine Rolle gehabt, ich war nicht nur das ‹Fraueli›. Mein Métier war es, mich in den Buchhand-lungen der Länder umzuschauen und einzukaufen: Kataloge, Publikatio-nen, Zeitschriften und Bücher. Da haben sie mir auch nicht reingeredet. Wir haben auf unseren Reisen laufend schwere Pakete nach Hause geschickt – so kam auch die internationale Bibliothek des heutigen Car-toonmuseums zustande, die ich in der Anfangszeit mit aufgebaut und betreut habe. Mit vielen historischen Standardwerken wie dem französi-schen ‹Rire›, ‹L’assiette au beurre›, den ‹Münchner Bilderbogen›, dem amerikanischen ‹The New Yorker› oder dem ‹Simplicissimus›. Und ich habe während der Treffen auch übersetzt. Ich beherrsche mehrere Sprachen, und Dieter und Jüsp konnten kein Spanisch.

Erinnern Sie sich noch an besondere Erlebnisse auf Ihren Reisen?In Buenos Aires zeigten uns mal zwei Herren das dortige Karikatu-

renmuseum am Stadtrand. Zwei Herren mit gelackten Haaren. Als wir dort waren, gab’s einen Wolkenbruch mit sintflutartigen Regenfällen. Und dann brach das Wellendach ein und wir standen buchstäblich im Regen. Wir haben so gelacht – aber den beiden Museumsbesitzern war das natürlich sehr peinlich.

Erinnerungen an Begegnungen mit Künstlern?An Saul Steinberg natürlich. Der war damals schon ein älterer Herr.

Er hat uns Basler in einer richtigen Ritterrüstung empfangen, als Gag. Und natürlich auch an Sempé – ein Gentleman alter Schule. Oder Loriot, den haben wir in der Nähe von München besucht. Ein aristokratischer Landlord. Viel ernster, als man es erwarten würde. Und Martial Leiter! Jesses, war das eine Nummer! Und Claire Bretécher, eine der wenigen Frauen. Eine beeindruckende, sehr direkte, sehr kritische Frau. Ich habe sie in Basel getroffen, und wir schrieben uns eine Zeit lang.

Welche Karikaturisten mögen Sie am liebsten?Den grossen britischen Zeichner Ronald Searle mag ich sehr. Seine

Katzen! Ich bin ein Katzennarr. Ein Bild von ihm habe ich behalten. Und Jüsp hat mir zum 60. Geburtstag ein Katzenbild geschenkt.

Wer waren die Lieblinge Ihres Mannes?Vor allem Karikaturisten, die im ‹New Yorker› publiziert haben. Etwa

Peter Arno. Diese Art von Humor gefiel Dieter ganz besonders: Wenn man die Karikaturen mit wenigen oder, noch besser: ohne Worte versteht. Oder Charles Addams: herrlich! Dieter mochte speziell auch jene Künstler, welche die bürgerliche Gesellschaft aufs Korn genommen haben. Das hat vielleicht auch mit seiner Herkunft zu tun: Er, der selber aus dem ‹Daig› stammte, konnte sehr bissige Bemerkungen machen. Er hatte auch Spitz-namen für Familienmitglieder: den gefrorenen Bajass zum Beispiel.

Wie kamen Sie auf die Idee eines Museums?Dieter sagte einmal: «Auch du lebst nicht ewig.» Und wir waren uns

einig: Unsere Arbeit und die Werke sollten in guter Hand und öffentlich zugänglich sein. Deshalb haben wir unsere Stiftung 1979 der Christoph Merian Stiftung übergeben. Unsere Sammlung ist jetzt vor einigen Jahren aus dem alten Haus umgezogen in das von Herzog & de Meuron reno-vierte neue Cartoonmuseum. Schön!

Verfolgen Sie die Aktivitäten des Cartoonmuseums noch?Dieter ist vor bald dreissig Jahren gestorben, und ich bin jetzt selber

alt. Letzten Sommer war ich noch im Cartoonmuseum und habe dem Museum nach meinem Umzug in die Altersresidenz noch Werke aus mei-nem privaten Bestand übergeben. Ich freue mich, dass das Museum so erfolgreich ist – und dass ich regelmässig eingeladen werde.

InterviewSylvia Scalabrino und Anette Gehrig

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Gespräch

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Seit 1979 unterwegs für die Zeichnung

Ausstellung ‹Ulli Lust. Zu viel ist nicht genug›, 2018

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Ausstellung ‹Lorenzo Mattotti. Imago›, 2017

In den vierzig Jahren seines Bestehens hat sich das Cartoonmuseum Basel vom kleinen Kuriositäten- kabinett für Karikaturen zu einem international bedeutenden Kompetenzzentrum für die gezeichnete Erzählung entwickelt.

Der Basler Dieter Burckhardt-Furrer (1914–1991) trug neben seiner beruflichen Tätigkeit als Agrochemiker aus persönlichem Interesse eine hochkarätige und repräsentative Sammlung von Originalwerken der gros-sen humoristischen Zeichner des 20. Jahrhunderts zusammen. Dabei folgte er einerseits persönlichen Vor-lieben und besuchte andererseits mit systematischer Akribie Künstler aus rund vierzig Ländern, um Werke anzukaufen. Sein Interesse galt weniger den tagespo-litischen Karikaturen als vielmehr Cartoons und Zeich-nungen aus gesellschaftskritischer oder alltagsphilo-sophischer Warte mit entsprechend längerer Lesbarkeit. Um seine Sammlung öffentlich zugänglich zu machen, baute Burckhardt zusammen mit seinem Freund, dem Zeichner und ersten Kurator Jürg Spahr (Jüsp, 1925–2002), das Museum vor vierzig Jahren auf.

Der erste Ausstellungsort an der St. Alban-Vor-stadt 9, die ‹Sammlung Karikaturen und Cartoons›, wie das Museum 1979 hiess, war ein verwinkeltes Alt-stadthaus und als klassisches Kabinett eingerichtet. Die meist kleinformatigen Bilder zeitgenössischer Zeichner wurden in nostalgischen, von Spahr mit Liebhaberblick zusammengetragenen Rahmen prä-sentiert. Die pittoreske Inszenierung der holzgetäfer-ten kleinen Zimmer machte bewusst Anleihen bei Kuriositätenkabinetten und Wunderkammern und betonte die Vielfalt der thematisch und stilistisch zusammengewürfelten Sammlung. Die aufwendige,

plastische Rahmung von Zeichnungen, die eigentlich für die Publikation in Zeitschriften geschaffen worden waren, ironisierte und miniaturisierte zudem das nahe gelegene Kunstmuseum mit seinen schweren Gold-rahmen. Dieser humorvolle Kontrast zum bürgerli-chen Kunstbetrieb war eine subversive Triebfeder Burckhardts, der Parodien auf Kunst und Künstler zu einem inhaltlichen Schwerpunkt seiner Sammlung machte. Den Umzug ins grössere, von Herzog & de Meuron rückseitig mit einem Neubau ergänzte spät-gotische Altstadthaus an der St. Alban-Vorstadt 28 im Jahr 1996 hat Dieter Burckhardt leider nicht mehr erlebt.

Ein bedeutendes Leitmedium für Burckhardts Sammlung war das 1925 erstmals erschienene Maga-zin ‹The New Yorker›, das seine Kurzgeschichten, Kri-tiken und Essays mit Cartoons der besten internatio-nalen Zeichner ergänzt und dessen Titelblatt immer eine Zeichnung ziert. Burckhardt stellte zu Lebzeiten vor allem jene Künstler aus, die im ‹New Yorker› pub-lizierten. Später öffnete sich das Magazin auch dem Comic – insbesondere, seit Françoise Mouly dessen Bildredaktorin ist (Mitbegründerin des Comicmaga-zins ‹RAW› und Frau des ‹Maus›-Zeichners Art Spiegel-man). Diese Öffnung vollzog auch das Cartoonmu-seum Basel, denn viele der besten und wichtigsten Zeichnerinnen und Zeichner arbeiten heute im Comic. Der Comic hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts fundamental verändert, zielt thematisch und inhaltlich auf ein erwachsenes Publikum und ist in Teilen zu einer literarisch und zeichnerisch bedeu-tenden Kunstform herangereift. Er vereint heute Ele-mente aus freier Kunst und Literatur zu kraftvoller, gezeichneter Erzählung.

Schon kurz nach der Eröffnung 1996 begann das Car-toonmuseum Basel unter der Leitung des Direktors und Kurators Daniel Bolsiger mit der Präsentation thema-tischer Wechselausstellungen, die nicht mehr nur auf Werke aus Burckhardts Sammlung zurückgriffen. Wenn das Museum heute Zeichnung zeigt, deckt es deshalb mit so unterschiedlichen Künstlern wie Lorenzo Mat-totti, Robert Crumb, Jacques Tardi, Joe Sacco, Ulli Lust, Joann Sfar und Christoph Niemann ein viel breiteres Spektrum ab als zu den Zeiten seiner Gründung.

Die Bilderzählung im erweiterten Sinn ist zur Klammer der Ausstellungstätigkeit geworden. Das Cartoonmuseum ist genauso offen für eine winzige Tuscheskizze wie für einen abendfüllenden Zeichen-trickfilm, eine aquarellierte Illustration wie eine 400 Seiten starke Graphic Novel, eine grossformatige Kohle- zeichnung wie eine 3-D-Animation für VR-Brillen. Es hat sich in den vierzig Jahren seines Bestehens von einem aus der eigenen Sammlung heraus wirkenden Kabinett zu einem neugierigen Ort für die erzählende Zeichnung entwickelt. Zu einem Haus für die sorgfäl-tige und qualifizierte Vermittlung einer hochaktuel-len, aber immer noch unterschätzten Kunst, das international wahrgenommen und gewürdigt wird und ein grosses, interessiertes und durchmischtes Publikum anspricht.

Das Cartoonmuseum ist aber nicht nur Ausstel-lungsort, sondern auch Kompetenzzentrum, das dank seiner öffentlichen Bibliothek, der Aufnahme von bedeutenden Nachlässen und seiner aktiven Vernet-zungsarbeit fest in die Zeichnerszene eingebunden ist – und diese mitgestaltet. Dazu gehört beispielsweise das von ihm jüngst mitinitiierte, schweizweit aktive Réseau BD Suisse (Comic Netzwerk Schweiz).

Zum 40. Geburtstag des Cartoonmuseums wün-sche ich dem Haus weiterhin viel Aufmerksamkeit von seinem Publikum und eine innovative und breit aufge-stellte Unterstützung, die mithilft, den Schub und die Leuchtkraft der zeitgenössischen narrativen Zeichnung und des Comic weiter zu fördern und zu vermitteln.

Anette GehrigLeiterin und Kuratorin Cartoonmuseum Basel

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Entwicklung

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C’est à Bâle où il réside de l’été 1492 à l’automne 1493 que le jeune Albrecht Dürer, 21 ans, participe à l’illust-ration, sous la forme de bois gravés, d’un poème sati-rique appelé à devenir un best-seller : Das Narrenschiff de Sebastian Brant. Paru en 1494, ce livre décrit la folie humaine en 112 chapitres et donne naissance à un nou-veau genre littéraire : la Narrenliteratur.

À Bâle aussi que le dessinateur, graveur et orfèvre d’origine soleuroise Urs Graf s’établit dès 1509, pionnier d’une autonomisation du dessin, premier « dessina-teur » de l’histoire de l’art suisse, qui pratique le dessin non comme étape préparatoire au tableau, mais le dessin pour lui-même, un dessin puissamment narratif, qu’il peuple de soldats, de filles d’auberge et de fous. Voyez son Champ de bataille de Marignan ou sa Scène de taverne de 1521 (dans ce dernier dessin, la Mort s’ex-prime dans des phylactères).

À Bâle encore que Hans Holbein projette en 1520-22 le décor fantasmagorique et en strips architecturaux de la maison « Zum Tanz » à l’angle de Eisengasse et Tanzgässlein (détruite hélas, mais documentée par des dessins). À Bâle que le même Holbein orne de savou-reux dessins les marges d’un exemplaire de L’Éloge de la folie d’Érasme et qu’il compose, vraisemblablement en 1526, son Totentanz, une suite de 41 bois gravés qui sera publiée à Lyon en 1538 sous le titre Les Simulachres et historiées faces de la mort.

« Historiées faces »…Si l’humanisme rhénan ne fait pas encore de bande dessinée, il participe de la façon la plus décisive au genre « historié » et à l’avè-nement d’une puissance folle (comme toutes les puis-sances), la puissance narrative, pour ne pas dire Narr-ative, du dessin. Et ladite puissance narrative ne répond-elle pas à un besoin primordial de l’homme ? Ne nous ramène-t-elle pas par le chemin des écoliers à une période antérieure aux premières écritures ? La grotte Chauvet (Aurignacien) nous met en présence de représentations d’animaux qui semblent témoigner déjà d’un besoin originel de communiquer avec le seul moyen pré-scriptural, l’image, le dessin.

« Raconter des histoires…. », c’est ainsi que le célèbre dessinateur de bande dessinée et théoricien Will Eisner ouvre son livre sur Le Récit graphique. « Raconter des histoires est une habitude profondément ancrée dans les groupes humains, tant anciens que modernes. On utilise des histoires pour enseigner le comporte- ment social, pour débattre de morale et de valeurs, ou pour satisfaire la curiosité. La narration d’une histoire requiert une habileté à dramatiser les relations des indi-vidus et les problèmes du quotidien, à communiquer des idées ou à mettre en scène des fictions. »

Trois petits siècles et 250 kilomètres séparent la Renaissance bâloise de l’invention de la bande dessinée. C’est à un Genevois en effet, l’artiste et pédagogue Rodolphe Töpffer, que revient l’idée, en 1827, d’exploiter la puissance narrative du dessin sous forme d’albums qui combinent texte et dessin dans des strips. « Ce petit livre, explique-t-il au sujet de Histoire de Monsieur Jabot, est d’une nature mixte. Il se compose de dessins autographiés au trait. Chacun des dessins est accom-pagné d’une ou deux lignes de texte. Les dessins, sans le texte, n’auraient qu’une signification obscure ; le texte, sans les dessins, ne signifierait rien. » Immédia-tement l’invention de Töpffer séduit Goethe, Balzac, l’Europe des lettres.

In Basel schuf der junge, gerade 21-jährige Albrecht Dürer während seines Aufenthaltes vom Sommer 1492 bis zum Herbst 1493 einige der Holzschnitte für die Publikation eines satirischen Gedichts, das zum Bestsel-ler avancieren sollte: ‹Das Narrenschiff› von Sebastian Brant. Das 1494 veröffentlichte Werk beschreibt die menschliche Torheit in 112 Kapiteln und begründete ein neues literarisches Genre: die Narrenliteratur.

Ebenfalls in Basel wurde 1509 Urs Graf ansässig. Der Zeichner, Stecher und Goldschmied aus Solothurn war ein Pionier der Zeichnung als Gattung per se, der erste eigentliche ‹Zeichner› der Schweizer Kunstge-schichte, der seine Zeichnungen nicht als erste Schritte zu einem Gemälde betrachtete, sondern als eigenstän-dige Kunstform, durch und durch narrativ geprägt und bevölkert von Soldaten, Kneipendirnen und Narren. Siehe hierzu seine ‹Schlacht von Marignano› oder ‹Wer-bung› von 1521, wo der Tod seine Meinung auf Spruch-bändern kundtut.

Wiederum in Basel entwarf Hans Holbein 1520–1522 die phantasmagorische Bemalung des Hauses ‹Zum Tanz› an der Ecke Eisengasse und Tanzgässlein (leider zerstört, aber in Zeichnungen erhalten), die wie in Comicstrips in eine Scheinarchitektur integriert ist. Im selben Basel schmückte derselbe Holbein die Seiten eines Exemplars von Erasmus’ ‹Lob der Torheit› mit köstlichen Zeichnungen und schuf wohl 1526 seinen ‹Totentanz›: eine Folge von 41 Holzschnitten, die 1538 in Lyon unter dem Titel ‹Les Simulachres et historiées faces de la mort› (Die Erscheinungen und erzähleri-schen Gesichter des Todes) veröffentlicht wurde.

«Erzählerische Gesichter». Auch wenn der Huma-nismus in der Stadt am Rheinknie damals noch keine Comics hervorbrachte, trug er doch überaus entschei-dend zum ‹erzählerischen› Genre und zum Entstehen einer ungezähmten Kraft (ungezähmt wie alle Kräfte) bei: der narrativen, wenn nicht sogar der narr-ativen Kraft der Zeichnung. Und entspricht diese narrative Kraft nicht einem grundlegenden Bedürfnis des Men-schen? Holt sie uns nicht über einen Umweg in eine Zeit zurück, die vor den ersten Schrifterfahrungen liegt? Die Chauvet-Höhle im Tal der Ardèche (Aurignacien-Kultur) zeigt uns Darstellungen von Tieren, die bereits Zeugnis von einem ursprünglichen Bedürfnis ablegen, anhand des einzigen vorschriftlichen Mittels zu kommunizieren: des Bildes, der Zeichnung.

«Geschichten erzählen» ... So beginnt der berühmte Comiczeichner und Theoretiker Will Eisner sein Buch über ‹Grafisches Erzählen›: «Geschichten erzählen ist eine tief verwurzelte Gewohnheit in Menschengruppen, sowohl der alten als auch der modernen Zeit. Geschich-ten nutzt man, um soziales Verhalten zu schulen, um sich mit Moralvorstellungen und Werten auseinander-zusetzen, oder um die Neugier zu stillen. Die Erzählung einer Geschichte erfordert ein bestimmtes Geschick darin, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die alltäglichen Probleme zu dramatisieren, Ideen zu ver-mitteln oder Fiktionen zu inszenieren.»

Knapp drei Jahrhunderte und 250 Kilometer tren-nen die Basler Renaissance des Comics von seiner Erfindung. Es war tatsächlich einem Genfer, dem Künstler und Pädagogen Rodolphe Töpffer, vergönnt, 1827 die narrative Kraft der Zeichnung in Alben zu erschliessen, die Text und Zeichnung in Strips verbinden. «Dieses kleine Buch hat einen gemischten Charakter»,

Car elle est une littérature, mais aussi un langage, et surtout un art. En 1964, elle obtient sa place dans la fameuse classification universelle des arts en devenant le neuvième art. Comme quoi la classification des arts est mauvaise mathématicienne : la bande dessinée est une combinaison du troisième art (les arts du dessin) avec le cinquième (la littérature), autrement dit : 3 + 5 =… 9.

Rendez-vous compte ! Elle est le seul médium artistique jamais inventé par un Suisse ! La Suisse n’a-t-elle pas de quoi être fière ? Et si aujourd’hui, la bande dessinée se cherche encore un toit dans son lieu de naissance au bout du lac Léman, elle s’en est déjà trouvé un à Bâle. Depuis plusieurs années en effet, à un kilomètre des strips architecturaux de la défunte Haus zum Tanz de Holbein, se dresse le Cartoonmu-seum. Principal lieu de conservation (avec le Centre BD de Lausanne) et unique lieu d’exposition de la bande dessinée en Suisse, son architecture se compose de deux maisons reliées entre elles par des passerelles, un peu à l’image du médium qu’il défend et qui opère la réunion des arts. Au fil d’une programmation intel-ligente et rigoureuse alternant les scènes nationale et internationale, les sujets patrimoniaux et les nouvelles tendances, on a vu défiler des artistes aussi remar-quables que (pour me limiter à quelques noms) : Anna Sommer et Noyau, Winsor McCay, Joost Swarte, ATAK, Joe Sacco, Robert Crumb, Zep, Lorenzo Mattotti, Ulli Lust, et actuellement Jacques Tardi….

Responsable de cette programmation et du repo-sitionnement du musée, sa directrice Anette Gehrig est également cofondatrice et présidente du Réseau BD Suisse, toute jeune association qui s’est créée l’année dernière dans le but d’acquérir à la bande dessinée ses lettres de noblesse, la reconnaissance, les espaces, la visibilité, le soutien, les prix qu’elle mérite.

Longtemps décriée – mes parents ne pensaient-ils pas que c’était une sous-littérature ? –, la bande des-sinée s’impose désormais à côté (et non plus en des-sous) de la littérature, de la peinture, du cinéma, comme l’un des médiums artistiques les plus fasci-nants et les plus innovants. Et aux côtés de Holbein, Füssli, Vallotton, Giacometti ou Godard, aux côtés de Rousseau, Walser ou Dürrenmatt, il y a Töpffer et ses disciples, la puissance narrative du dessin pour faire rayonner la Suisse artistique loin à la ronde….

Dominique Radrizzanidirecteur artistique de BDFIL

Dominique Radrizzani: Historien de l’art, directeur artistique de BDFIL et de la revue Bédéphile, ex-directeur du Musée Jenisch Vevey, Prix Malraux 2004, commissaire de la rétrospective  Balthus (Tokyo-Kyoto, 2014) et de L’Écriture dessinée (Maison Balzac, Paris, 2015). Il a notamment écrit sur Alechinsky, Bol-tanski, Duchamp, Lemancolia, Vallotton.

sagt er über ‹Histoire de Monsieur Jabot›. «Es besteht aus hektografierten Zeichnungen. Jede Zeichnung wird mit ein oder zwei Zeilen Text ergänzt. Ohne den Text hätten die Zeichnungen eine unklare Bedeutung; ohne die Zeichnungen würde der Text nichts bedeuten.» Und sofort waren Goethe, Balzac, die europäische Intelli-gentsia von Töpffers Erfindung fasziniert.

Denn der Comic ist eine Literatur für sich, aber auch eine Sprache und nicht zuletzt eine Kunstform. 1964 wurde ihm in der berühmten universellen Klassi-fizierung der Künste der Rang der neunten Kunst zuge-wiesen. Demzufolge erweist sich die Klassifizierung der Künste als schlechte Mathematikerin: Der Comic ist eine Kombination der dritten (der Zeichnung) und der fünf-ten Kunst (der Literatur), anders gesagt: 3 + 5 =… 9.

Man stelle sich vor – der Comic ist das einzige künst-lerische Medium, das je von einem Schweizer erfunden wurde! Sollte die Schweiz darauf nicht stolz sein? Auch wenn heute die Comic-Kunst in ihrem Geburtsort am Ende des Genfer Sees noch immer eine Bleibe sucht, so hat sie jedenfalls eine solche in Basel bereits gefunden. Denn seit mehreren Jahren befindet sich einen Kilome-ter von den Architekturstrips des ehemaligen Holbein-schen Hauses ‹zum Tanz› entfernt das Cartoonmuseum. Als zentraler Aufbewahrungsort (zusammen mit dem Centre BD in Lausanne) und einziger permanenter Aus-stellungsort für Comic-Kunst in der Schweiz besteht das Museum aus zwei Häusern, die miteinander durch Brücken verbunden sind. Darin ähnelt es dem Medium, das es vertritt und das verschiedene Künste vereint. Aufgrund einer intelligenten und durchdachten Pro-grammgestaltung wechseln sich hier die nationale und internationale Comicszene, die Tradition und neue Strömungen ab. Hier wurden so bedeutende Künstler gezeigt wie (um nur wenige Namen zu nennen): Anna Sommer und Noyau, Winsor McCay, Joost Swarte, ATAK, Joe Sacco, Robert Crumb, Zep, Lorenzo Mattotti, Ulli Lust, und aktuell Jacques Tardi.

Anette Gehrig ist für diese Programmgestaltung und die Ausrichtung des Museums verantwortlich. Sie leitet nicht nur das Museum, sondern ist auch Mitbe-gründerin und Präsidentin des ‹Comic Netzwerks Schweiz›. Diese noch junge Vereinigung gründete sich im Jahr 2018 mit dem Ziel, der Comic-Kunst die Ehre, Anerkennung, Räume, Sichtbarkeit, Unterstützung und die Preise zu erkämpfen, die ihr zustehen.

Der lange von oben herab betrachtete Comic (dachten meine Eltern nicht, das sei keine Literatur?) schafft sich inzwischen einen Platz neben (und nicht mehr unter) der Literatur, der Malerei, dem Film, als eines der faszinierendsten und innovativsten künstle-rischen Medien der heutigen Zeit. Und an der Seite von Holbein, Füssli, Vallotton, Giacometti oder Godard, an der Seite von Rousseau, Walser oder Dürrenmatt stehen Töpffer und seine Schüler und die narrative Kraft der Zeichnung und lassen die Kunstszene der Schweiz weit über die Grenzen hinaus leuchten.

Dominique Radrizzanikünstlerischer Leiter BDFIL

Dominique Radrizzani ist Kunsthistoriker, künstlerischer Leiter des bedeutenden Genfer Comicfestivals BDFIL (Festival de bande dessinée) und Herausgeber des Magazins ‹Revue Bédéphil›.

Robert Crumb (*1948, États-Unis, France), Couple Bigfoot, 2000, 45 × 36 cm, Aquarelle sur Papier (détail)

Robert Crumb (*1948, USA/Frankreich), Bigfoot Couple, 2000, 45 × 36 cm, Aquarell auf Papier (Detail)

3 + 5 = 9La puissance narrative du dessin Die narr-ative Kraft der Zeichnung

3 + 5 = 9

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Die neunte KunstLe neuvième art

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Brian Gallagher (*1967, Grossbritannien/Irland), The Mystery of Curating, 2012, 26 × 19 cm, Schabkarton

Schreiblabor für junge Sprachtalente

Kunst oder Kinderkram?

Plädoyer für eine stärkere Förderung

der neunten Kunst

Auf dem Dreispitz können Kinder und junge Erwachsene zwischen

11 und 25 Jahren seit Februar schreiben, mit Sprache experimentieren,

Spoken-Word-Formen erproben, mit professioneller Begleitung an

Texten feilen und in Wettbewerben auftreten. Damit hat auch Basel

endlich eine eigene Textwerkstatt für junge Sprachbegeisterte.

Die private und öffentliche Kulturförderung in der Schweiz ist im inter-nationalen Vergleich einzigartig. Fast für jede Sparte gibt es einen För-dertopf, mit dem Institutionen, Kunst- und Kulturschaffende und deren Projekte unterstützt werden. Einzige Ausnahme: der Comic. Comiczeichnerinnen und -zeichner werden kaum gefördert, und die entsprechenden Fördersummen sind im Vergleich zu anderen Sparten verschwindend klein.

In der Schweiz können sich Genferinnen und Genfer um den Prix Rodolphe Töpffer de la bande dessinée bewerben. Der Genfer Rodolphe Töpffer (1799 – 1846) gilt als Erfinder des Comics. Seit 1998 vergeben Stadt und Kan-ton Genf den inzwischen international angesehenen Preis. Vor sechs Jah-ren riefen Luzern, Zürich, Bern, St. Gallen und Winterthur die ‹Comic-Sti-pendien der Deutschschweizer Städte› ins Leben. Zeichnerinnen und Zeichner dieser Städte hatten bisher die Möglichkeit, sich für eines von drei Stipendien zu bewerben. Bern, St. Gallen und Winterthur sind auf-grund des Spardrucks im Kulturbereich unterdessen wieder ausgestiegen. Es blieben also noch Zürich und Luzern. Dafür kam vor drei Jahren dank der Initiative der Christoph Merian Stiftung die Stadt Basel dazu, deren Anteil die CMS finanziert.

Das Migros-Kulturprozent unterstützt als einzige Förderinstitution die Vermittlung und Verbreitung von Comics als spezifische Kunstsparte. Wie lange es diesen Förderbereich bei Migros-Kulturprozent aber noch geben wird, ist unsicher, da der Förderinstitution grosse Umstrukturie-rungen bevorstehen. Pro Helvetia, der Bund, die Kantone und auch viele der privaten Förderstiftungen anerkennen den Comic noch immer nicht als eigenständige Kunstform. Sie fördern ihn, wenn überhaupt, über die traditionelle Literatur- oder Kunstförderung. Als Zwitter zwischen diesen beiden ‹Hochkulturen› fällt der Comic deshalb oft zwischen Stuhl und Bank. Für die Literaturförderung sind die in der Form von Comics erzähl-ten Geschichten zu wenig komplex und zu wenig literarisch – und für die Kunstförderung Comics zu alltäglich und zu ‹angewandt›.

Natürlich gibt es auch indirekte Arten der Comicförderung: Festivals, Verlage und Galerien ermöglichen den Kunstschaffenden Plattformen und Auftrittsmöglichkeiten. Eine sehr wichtige Stellung nimmt dabei das Cartoonmuseum Basel ein, das einzige Museum für das Genre in der Schweiz, das sich um das Sammeln, Erforschen, Ausstellen und Vermitteln von Comic-Kunst kümmert. Das ist zwar verdienstvoll, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es Comics im Vergleich zu anderen Kunstsparten schwerhaben. Comics gelten im offiziellen Kulturbetrieb noch immer als Kinderkram, Schmuddel-Lektüre oder minderwertige Kunst – Comic-Künst-ler als unzureichende Literaten oder gescheiterte Künstler. Das hört man zwar nie offiziell, aber immer wieder hinter vorgehaltener Hand, zum Bei-spiel bei Jurierungen. Vorurteile und Klischees eben.

Warum ist das so? Wohl ganz einfach deshalb, weil der Comic eine vergleichsweise junge Kunstform ist. Und weil er vielleicht auch (zu) popu-lär ist. Er zieht Menschen jeglichen Alters aus allen sozialen Schichten an. Gerade der niederschwellige Zugang und seine Popularität machen ihn für den traditionellen Kulturbetrieb offensichtlich verdächtig und minder-wertig: Was zu vielen gefällt, darf nicht gut sein. Dem Comic haftet zudem der Makel des Massenerzeugnisses an. Das mag für die Asterix- und Super-man-Hefte gelten oder für die japanischen Mangas und ähnliches. Aber auch hier gibt es sehr unterschiedliche Qualitäten.

Der Comic hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant weiterentwi-ckelt und ist zu einer eigenen Kunstform geworden. Der moderne Comic kann alles sein: einfache Figuren, schnell aufs Papier geworfen, oder kunstvoll designte Graphic Novels, die Jahre bis zur Fertigstellung brau-chen. Auch bei den Themen geht es längst nicht mehr nur um leichte Kost. Gute Comiczeichnerinnen und -zeichner schaffen es, historische Motive, klassische Literatur, aktuelle (gesellschafts)politische Themen und Botschaften und auch Autobiografisches virtuos in sequenzielle Geschichten und Zeichnungen zu übertragen. In den besten Beispielen in einer Qualität, die den traditionellen Kunstformen in nichts nachsteht.

Ist die Comicszene Schweiz zu klein, als dass es sich lohnen würde, sie stärker zu unterstützen und sich für ihre Förderung einzusetzen? Ein seltsames Argument, zumal an Schweizer Hochschulen entsprechende Ausbildungsgänge auf grosses Interesse stossen und viele junge Talente ausgebildet werden. Und wie soll sich eine Kunstszene weiterentwickeln, professioneller werden und wachsen, wenn sie nicht anerkannt, unter-stützt und gefördert wird?

Darum, liebe Förderinnen und Förderer: Nehmt euch endlich der neunten Kunst an und erkennt das grosse Potenzial dieser Kunstsparte! Höchste Zeit, dass die neunte Kunst auch in der nationalen, kantonalen und privaten Kulturförderung in der Schweiz jene Unterstützung und För-derung erhält, die sie schon längst verdient.

Nathalie UnternährerLeiterin Abteilung Kultur Christoph Merian Stiftung

scy. Kinder, die lustvoll auf Instrumenten rumklimpern, mit ihren Fanta-siegebilden ganze Malblöcke füllen oder mit ihren Spielkameraden Thea-ter spielen … kennen wir alle. Wie kreativ! Und manifestiert sich da nicht schon ein grosses Talent? Aber Kinder oder Jugendliche, die schreiben? Womöglich noch so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist? Da ist dann mal schnell fertig lustig: Das ist falsch. Das sagt man so nicht. Hier kommt ein Komma. Das ist nicht richtiges Deutsch.

Musik, bildende Kunst, Theater und Literatur gehören zum Kulturkanon und zu unserem kulturellen Erbe. Dagegen haben Sprache und Schreiben sozusagen das Pech, dass wir sie für unsere unmittelbare Handlungsfähig-keit in der Gesellschaft brauchen. Wer ihre standardisierten Regeln als Kind nicht lernt und beherrscht, wird es später als Erwachsener schwer haben. Also bitte zuerst Grammatik und Rechtschreibung – die Kunst kann warten.

Entsprechend schreiben Kinder und Jugendliche auch in Basel, abge-sehen von ganz wenigen Nischenangeboten, ausschliesslich in der Schule. Oder individuell für sich oder auf Social Media, oft auch in Mundart. Dem-gegenüber ist das begleitete ausserschulische Angebot für die übrigen Kunstformen für Kinder und Jugendliche in Basel sehr gross. Es gibt es zahlreiche Musikschulen, die Bildschule K’Werk, die Druckwerkstatt, Angebote der Basler Museen, das ‹junge theater basel›, das Junge Haus des Theaters Basel und vieles mehr.

Die Christoph Merian Stiftung (CMS) hat die Lücke erkannt und hat mit dem ‹Wortstellwerk› im Februar ein grosses eigenes Projekt lanciert, das Kinder und junge Erwachsene zwischen 11 und 25 Jahren zum Schrei-ben ermutigt, sie unterstützt, begleitet und coacht mit pädagogisch geschulten Fachleuten und Autorinnen und Autoren. Die CMS finanziert das Wortstellwerk in den nächsten fünf Jahren mit jährlich CHF 200 000.

Das neue Schreiblabor ist im gut erreichbaren ehemaligen Vereinslo-kal der aufgelösten Werksfeuerwehr auf dem Dreispitz untergebracht und liegt zwischen stillgelegten Gleisen, Stellwerken und Weichen. Dort expe-rimentieren seit Februar junge Menschen mit Sprache und stellen im Wortstellwerk vielleicht auch ihre biografischen Weichen neu.

Das Konzept für das ‹Junge Schreibhaus Basel›, wie es auch heisst, hat die CMS zusammen mit der Spoken-Word-Künstlerin Daniela Dill, dem Schriftsteller Guy Krneta und dem Baselbieter Gymnasiallehrer Han-nes Veraguth erarbeitet. Eines der Vorbilder ist das Zürcher Junge Lite-raturlabor JULL, das 2015 gegründet wurde und das wöchentlich rund 150 Jugendliche besuchen. Im Gegensatz zum JULL wird sich das Basler Wortstellwerk noch etwas stärker auf performatives Schreiben, Slam und Spoken-Word-Formen konzentrieren. Und vor allem auch auf Jugendliche mit einer anderen Muttersprache als der deutschen.

Getragen wird das Projekt von einem Verein, in dessen sechsköpfi-gem Vorstand neben Guy Krneta (Präsident) Petra Dokic (Kulturverein Slam Basel), Christoph Meneghetti (CMS), Richard Reich (JULL-Gründer),

Marion Regenscheit (Literaturhaus, BuchBasel) und Cyril Werndli (Medi-othek Bäumlihof) vertreten sind. Operativ geleitet wird das Projekt von Daniela Dill und Hannes Veraguth.

Das Basler Projekt arbeitet eng mit den Basler und Baselbieter Schu-len zusammen, mit dem Zürcher JULL und anderen Partnern wie dem Kulturverein Slam Basel, mit Theater-Jugendclubs und Laienbühnen, mit dem ‹jungen theater basel›, mit Medien und Jugendfestivals. Es bietet jeden Mittwochnachmittag offene Text-Coachings, massgeschneiderte Workshops und Schreibwerkstätten für Schulklassen an, organisiert Spo-ken-Word-Performances und Wettbewerbe und vieles andere mehr.

Am 8. Februar wurde das Junge Schreibhaus Basel mit einem fulminanten Fest eingeweiht.

www.wortstellwerk.ch

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WortstellwerkAppell

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scy Das Haus an der Friedensgasse 59, schmucke vorletzte Jahrhundert-wende, unterscheidet sich kaum von den dreistöckigen Wohnhäusern des oberen Mittelstands im Quartier. Und doch ist das Haus ein ganz spezi-elles. Wer etwa an einem Freitag ins ehemalige Pfarrhaus der Peterskirche eintritt, wird überwältigt vom Duft frisch gebackener Zöpfe. Die Nach-barschaft gibt sich die Klinke in die Hand und kauft im zum nostalgischen Krämerladen umfunktionierten Vorzimmer im Parterre ein: Gebäck, Ein-gemachtes, Konfitüren und Chutneys aller Art. Gleich nebenan bringen junge Erwachsene das ‹Le Bistrot› auf Hochglanz und decken die Tische, wie auch im etwas grösseren ‹Le Restaurant› im ersten Stock. In der Küche bereitet das junge Küchenpersonal das Mittagessen für die täglich sechzig bis achtzig Gäste vor: für Nachbarn, Leute aus dem nahen Bio-zentrum, Stammgäste aus allen Quartieren der Stadt. Die Plätze sind meist schnell ausgebucht. Das Essen ist gut und preiswert.

Laden und Restaurationsbetrieb an der Friedensgasse sind aber nur der kleinste, öffentlich sichtbare Teil. Die AHA! bildet jährlich in der Haus-wirtschaft rund zwanzig Lernende zwischen 16 und 22 Jahren mit ver-schiedenen Beeinträchtigungen aus. Sie kommen aus heilpädagogischen Schulen, Integrationsklassen, aus Brückenangeboten und Weiterbildungs-schulen. In den meist zweijährigen Ausbildungen lernen und arbeiten die jungen Menschen in der Praxis in Küche, Service, Wäscherei und Reini-gung, erproben ihre Kenntnisse vor Ort an der Friedensgasse, besuchen einmal pro Woche die eigene interne Berufsschule oder Unterstützungs-angebote zur öffentlichen Berufsschule und absolvieren externe Praktika. Die praktische Ausbildung in der Wäscherei wurde vor fünf Jahren ins Lehenmattquartier in ein stillgelegtes Postgebäude ausgelagert.

Die AHA! bietet praktische Ausbildungen (PrA gemäss dem nationa-len Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung INSOS), Lehren für eidgenössische Berufsatteste (EBA) sowie eidgenös-sische Fähigkeitszeugnisse als Fachfrau/Fachmann Hauswirtschaft EFZ an. Darüber hinaus Supported Education (Ausbildungsbegleitung von Lernenden, die eine Lehrstelle im ersten Arbeitsmarkt haben) und Coa-ching bei der Lehrstellensuche. Und sie beliefert mit ihren Dienstleistungen Private und Unternehmen (Wäscherei und Reinigung).

Die Erfolgsbilanz der AHA! ist beeindruckend, fast ausnahmslos alle Ler-nenden finden nach Abschluss ihrer Lehre auch Anschlussengagements: Vollzeitstellen auf dem ersten Arbeitsmarkt, Teilzeitstellen mit entspre-chender Zusatzfinanzierung durch die IV oder geschützte Arbeitsplätze. Was den jungen Menschen ein eigenes (Berufs-)Leben ermöglicht. Diese Erfolgsbilanz verdankt die AHA! auch ihrer engen Vernetzung mit und Kontakten zu zahlreichen Unternehmen in der Stadt.

Gegründet wurde die ‹Arche›, wie sie früher noch hiess, 1960 von einem der reformierten Kirche nahestehenden privaten Kreis rund um Theo Buser und Eltern von Kindern, welche in der Regelschule in den 60er-Jahren noch nicht die nötige individuelle Unterstützung erhielten, um auf dem ersten Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben. Ihr Potenzial war nicht gefragt und blieb ungenutzt. Mittlerweile ist die ehe-malige private Sonderschule ein konfessionell unabhängiger, breit abge-stützter Verein mit Einbindung in staatliche Ausbildungsstrukturen. Die Ausbildungs- und Integrationsreformen der letzten Jahre haben die Defi-zite der Vergangenheit denn auch korrigiert. Auch die erst 1960 in der Schweiz eingeführte Invalidenversicherung IV hat ihre Strategie geändert und ist heute eine enge und zuverlässige Partnerin der AHA!. Sie finanziert die Lehrgänge und teilt sich mit der heute selbsttragenden AHA! vor allem ein Ziel: Jugendliche mit besonderen Bildungsbedürfnissen und Handi-caps in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.

Dass dies der AHA! seit Jahren so gut gelingt, hat viel mit Nicole Bernet zu tun, die seit vier Jahren deren Geschäftsleiterin ist. Die 48-jäh-rige Betriebsökonomin in Facility Management mit Zusatzausbildung in Betriebswirtschaft in Nonprofit-Organisationen kann sich dabei auf ein gut eingespieltes und engagiertes Team verlassen, vor allem auch auf die Ausbildungsleiterin Christa Sturm. Das kleine Team ist sich der besonderen Herausforderung bewusst und ist so geduldig wie anspruchsvoll gegen-über den Lernenden: «Wir legen hohen Wert auf Professionalität, fördern konsequent die Stärken unserer Lernenden und gehen auch individuell intensiv auf sie ein, damit sie Selbstvertrauen gewinnen, ihr Potenzial ausschöpfen können und weiterkommen», betont Bernet. «Wer die Anfor-derungen auf dem ersten Arbeitsmarkt aber erfüllen will, muss sich auch anstrengen. Da kennen wir kein Pardon.»

Die AHA! kann sich mittlerweile vor Anfragen kaum retten. Die neuen Lehrstellen sind jeweils ein halbes Jahr vor Lehrbeginn bereits ausge-bucht. Expandieren will die Institution aber nicht. Bernet: «Wir wollen nicht wachsen und wollen mit unseren Dienstleistungen wie der Wäsche-rei und Reinigung den ersten Arbeitsmarkt nicht konkurrenzieren. Wir wollen klein bleiben. Familiär. Nur so ist auch eine geborgene Atmosphäre möglich. Klein … aber aha!»

Die CMS hat CHF 200 000 zum dringend nötigen Ausbau des Dachstocks im Altbau beigesteuert. Dieser soll als Mehrzweckraum künftig für Schulung, Coaching, Gruppenarbeiten und Rückzugsort für Lernende, für Sitzungen und weiterhin als Materiallager dienen.

Chancengeberin für aussergewöhnliche Menschen

Die Arche Hauswirtschaftliche Ausbildungsstätte

(AHA!) im St. Johann ermöglicht jungen

Menschen mit besonderen Bildungsbedürfnissen

Lehren im Bereich Küche, Service, Wäscherei

und Reinigung. Das Ziel: professionelle Qualifika-

tion für den ersten Arbeitsmarkt. Der Ansatz:

Stärken stärken, individuelle Begleitung und

massgeschneidertes Coaching. RADAR hat den

aussergewöhnlichen Betrieb mit integrierter

Berufsschule an einem Freitag im Januar besucht

und mit Lernenden gesprochen.

Derya Kulak (18)Praktikerin Hauswirtschaft im 2. Lehrjahr

Meine Familie stammt ursprünglich aus der Türkei. Ich bin hier geboren und lebe bei meiner Mutter. Nach der Schule habe ich zuerst in der Migros und anderen Be- trieben geschnuppert. Aber dort hat’s mir gar nicht gefallen. Es hat einfach nicht gepasst zu mir. Meine Lehrer haben mich dann auf die AHA! aufmerksam gemacht. Ich habe hier geschnuppert und fand: Super! Was es braucht, damit ich mich wohlfühle? Eigentlich nicht viel. Halt das Gefühl, akzeptiert zu werden, so wie ich bin. Und gutes Teamwork ist mir wichtig. Deshalb fühle ich mich hier in der AHA! auch so mega wohl.

In meiner Hauswirtschaftslehre arbeite und lerne ich in der Küche, in der Wäscherei, der Reinigung und im Service. Die Küche mag ich besonders. Ich schneide gerne: Gemüse…alles….zack, zack, zack. Das beruhigt mich mega. Toll ist, wenn der Küchenchef mich lobt. Das letzte Mal war das, als ich mein erstes Dessert zube-reitet habe: Tiramisu. Ich achte bei der Arbeit auf Per-fektion, auch beim Dekorieren der Speisen. Es kommt

ja nicht nur drauf an, wie die Speisen schmecken – sie müssen auch schön aussehen! Sorry, aber wenn ich in einem Restaurant Essen vorgesetzt kriege, das einfach so hingeklatscht ist, dann vergeht einem doch die Lust aufs Essen. Das ist nicht professionell.

Ja, ich habe Sinn für Ästhetik. Ich zeichne zum Bei-spiel sehr gerne und habe für die AHA! auch schon Ge- burtstags- und Einladungskärtchen gestaltet. Und ich fotografiere und filme gerne. Ein paar Sachen sind auf der Website der AHA!. Schön, nicht wahr?

Und Skateboarden ist meine Leidenschaft! Ich mache das seit vier Jahren und bin … glaub schon noch gut. Ich trainiere in einer Gruppe. Als einzige Frau mit neun Jungs! Die führen sich manchmal schon affig auf. Aber ich kann mich durchsetzen, klar. Die habe ich im Griff.

Nach dem Lehrabschluss möchte ich in der Küche arbeiten. Wo? Hmmm … eigentlich am liebsten hier. Oder vielleicht im Bürgerspital. Mal sehen.

Vipulan Arulampalam (22)Praktiker Küche im 2. Lehrjahr

Ich habe eine Sehbehinderung und sehe nur noch etwa fünfzehn Prozent. Auch mein Gesichtsfeld ist einge-schränkt. Und trotzdem kann ich hier eine massge-schneiderte Lehre in der Küche machen. Das ist nicht selbstverständlich, denn normalerweise wird man in der AHA! ja auf verschiedenen Gebieten ausgebildet. Service, Reinigung und Wäscherei ist aber schwierig für mich, weil ich zu wenig sehe. Ich darf meine zwei Lehr-jahre ausschliesslich in der Küche machen. Das finde ich super. Sie gehen individuell auf uns Lernende ein und unterstützen uns bei allem. Jeden einzelnen von uns und vor allem unsere Stärken.

Ich liebe die Arbeit in der Küche und das Zuberei-ten von Essen! Vor allem die warme Küche. Braten mache ich gerne. Und schneiden, die verschiedenen Schnitttechniken. Das braucht viel Übung, bis man’s kann. Ich habe sehr viel geübt und mache das jetzt sehr

intuitiv und auch gut. Zu Hause koche ich nicht, nein. Ich koche ja hier den ganzen Tag, das ist mein Beruf! Zu Hause kocht meine Mutter, meist Gerichte meiner Heimat Sri Lanka, manchmal auch europäisch. Hier in der AHA! koche ich vor allem europäisch. Ein spannen-der ‹Kultur-Mischmasch› ist das!

In meiner Freizeit bin ich viel mit meinen Freunden unterwegs. So oft als möglich. Auch ins Kino gehe ich gern. Ok, ich sehe nicht mehr viel – aber mit meinen Freunden zusammen ist das trotzdem lässig.

Ich hoffe, ich kriege mal eine gute Stelle. Das wird schwierig mit meiner Sehbehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Teller anrichten ist zum Beispiel ein Pro-blem. Ich brauche ein gutes Team wie hier. Ich möchte in einem Betrieb arbeiten mit schöner Atmosphäre und Stimmung. Das ist für mich das Allerwichtigste. Dann kann ich auch viel leisten.

Sophie Allemann (19)

Ich habe die Sekundarschule besucht. Dann bin ich in die AHA! gekommen. Ich habe zuerst geschnuppert – und war sehr froh, dass ich 2017 hier die Lehre anfangen konnte. Ich arbeite und lerne in der Küche, im Service, in der Reinigung, der Wäscherei und zusätzlich im hauswirtschaftlichen Bereich einer Kita. Am besten gefällt mir der Service. Mit den Gästen umgehen kann ich gut. Das sagen mir alle. Ich habe hier in der AHA! viel gelernt von Frau Bernet und Frau Dalipi (Berufs-bildnerin Service). Sie unterstützen und ermuntern mich sehr. Ich habe grosse Fortschritte gemacht. Am meisten stolz auf mich bin ich, wenn ich die Tische besonders sorgfältig und schön gedeckt habe. Unsere Gäste schätzen das und sagen es auch. Das ist ein gutes Gefühl.

In der AHA! finde ich toll, dass wir so gut im Team arbeiten – und auch lernen, wie man in einem Team richtig gut zusammenarbeitet. Und dass Frau Sturm, unsere Lehrerin, uns so gut unterstützt.

In meiner Freizeit gehe ich tanzen: Four Dance. Das ist eine Mischung aus Bollywood, Jazz – alles. Das mache ich seit sieben Jahren. Ich geniesse es sehr, mich zu bewegen. Und Yoga liebe ich. Meditieren. In sich hinein-schauen, den Weg nach innen suchen. Das tut mir gut.

Ich liebe Kinder und bin auch oft mit meinen kleinen Neffen und Nichten und meinem Halbbruder zusammen. Ich habe ihnen auch ein bisschen Yoga beigebracht. Das fanden sie schön – und ich auch.

Am liebsten würde ich nach der Lehre in einer Kita arbeiten. Wenn ich Glück habe, klappt das. Und wenn nicht, dann Service. Oder Yoga-Lehrerin!

Praktikerin Hauswirtschaft in Kindertagesstätten (Kitas) im 2. Lehrjahr

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AHA! AHA!

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Erstmals liegen Zahlen zur Obdach- und Wohnungslosigkeit in Basel-Stadt vor. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz gibt Einblick in die Lebenswelt und aktuelle Bedarfslage von obdach- und wohnungslosen Menschen und liefert Handlungsempfehlungen.

Linda lebt seit 32 Jahren in Basel-Stadt. Sie bezieht eine Invalidenrente und Sozialhilfe. Einmal mehr muss sie ihre Wohnung räumen; Nachbarn haben sich über Unrat beschwert, der sich ansammelt. Nun fürchtet sie, keine neue Bleibe in der Nähe zu finden und ihre wenigen Kontakte zu verlieren.

Schweizweit erste Studie mit konkreten Zahlen zur Obdach- und Wohnungslosigkeit Ähnlich wie Linda geht es vielen Menschen in Basel-Stadt. Sie sind zwar nicht obdachlos im wörtlichen Sinn, doch sie leben in einer prekären Wohnsituation. Dies ist eines der Resultate einer Studie der Fachhoch-schule Nordwestschweiz, die in den vergangenen zwei Jahren Ausmass und Formen der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Basel-Stadt unter-sucht hat. In Auftrag gegeben und finanziert wurde sie von der CMS mit dem Ziel, statistische und wissenschaftliche Informationen über Obdach- und Wohnungslosigkeit in Basel-Stadt zu erhalten und auf deren Grund-lage ihren Förderschwerpunkt ‹Prävention und Bekämpfung von Armut› den Erfordernissen anzupassen.

Das Forscherteam befragte Besucher und Besucherinnen von Obdach-losen-Einrichtungen, interviewte Fachleute und führte eine Nachtzählung durch. Statistiken, Berichte von Betroffenen und die dreimonatige Mitar-beit eines Mitglieds des Forschungsteams in Tageseinrichtungen ergänzen die Informationen.

Weit über 300 Menschen haben kein DaheimRund 100 Menschen in Basel-Stadt schlafen gemäss der Zählung tatsäch-lich ‹auf der Strasse› oder übernachten in der Notschlafstelle. Hinzu kommen über 200 Menschen, die der europaweit gebräuchlichen ETHOS- Typologie entsprechend als wohnungslos gelten, obwohl sie de facto ein Dach über dem Kopf haben. Das kann heissen, dass sie bei Freunden, Freundinnen oder Bekannten temporären Unterschlupf gefunden haben, dass sie in einer unzureichenden oder unzumutbaren Wohnung leben oder dass sie ihre Miete nicht mehr aufbringen können und keine günstigere Wohnung finden.

Rund viermal mehr Männer als Frauen sind von Obdachlosigkeit im weiteren Sinn betroffen, bei Frauen gibt es eher eine versteckte Wohnungs-losigkeit. Etwas über die Hälfte aller Wohnungslosen sind Wanderarbei-terinnen und -arbeiter, Aslysuchende oder Sans-Papiers. Letztere können aufgrund ihres ungesicherten Aufenthaltsstatus keinen Mietvertrag abschliessen und sind einem allfälligen Vermieter ausgeliefert.

Eine Kette von UrsachenDem Verlust der eigenen Wohnung gehen meist eine Reihe von Schicksals-schlägen voraus. So war es auch bei Linda. Sie war verheiratet, hatte zwei Kinder und arbeitete in einer Fabrik. Die Ehe zerbrach, Rückenprobleme führten zur Arbeitsunfähigkeit, Linda verschuldete sich und versuchte mit aller Kraft, sich und ihre Kinder durchzubringen.

Finanzielle Probleme sind gemäss der Studie der häufigste Auslöser für den Verlust der eigenen Wohnung. Gerade bei Männern setzt oft die Kündigung der Arbeitsstelle eine Abwärtsspirale in Gang. Die finanzielle und berufliche Verarmung wird verstärkt durch gesundheitliche Probleme und zunehmende soziale Isolation. Diese Mehrfachbelastungen erschweren den Betroffenen den Weg zurück und lassen das bestehende Hilfesystem an Grenzen stossen.

Ein Teller Suppe reicht nichtIn Basel-Stadt fehlt günstiger Wohnraum. Betroffene und Fachleute sind sich einig, dass es mehr bezahlbare Wohnungen für armutsbetroffene Menschen braucht. Fleur Jaccard, die Leiterin der Abteilung Soziales der CMS, betont: «Die Studie verdeutlicht auch, dass Obdachlosigkeit eine Gesamtbetrachtung und die Koordination aller Akteure erfordert. Sofort-hilfe ist zwar wichtig, aber ein Teller Suppe und ein Schliessfach reichen nicht. Obdachlose müssen befähigt werden, wieder selbstbestimmt und autonom zu leben.» Viele Betroffene seien zudem gesundheitlich ange-schlagen. «Sie brauchen einen niederschwelligen Zugang zu medizini-scher Versorgung.»

Für die CMS ist die Prävention und Bekämpfung von Armut ein Förder-schwerpunkt. Christoph Merian gründete die Stiftung mit dem Ziel der «Linderung der Noth und des Unglückes» und der «Förderung des Wohles der Menschen». Die Stiftung plant folgende Massnahmen:

Mittelfristig soll in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachstel-len des Kantons unter Federführung des Departements für Wirtschaft, Soziales und Umwelt eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Woh-nungslosigkeit erarbeitet werden, mit besonderem Augenmerk auf den Übergängen von der Strassenobdachlosigkeit zu Notwohnen, begleitetem Wohnen bis zum selbstständigen Wohnen.

Kurzfristig will die CMS ihre Liegenschaften auf Möglichkeiten für soziales Wohnen analysieren und finanzielle Hilfeleistungen für Armuts-betroffene prüfen, wo es um Garantien für Wohnraum geht. Mit den bestehenden Hilfseinrichtungen für Obdach- und Wohnungslose wird geklärt, wie Infrastruktur, medizinische Ersthilfe und Beratung optimiert werden können. Die Schnittstellen zwischen Liegenschaftsverwaltungen und Mietenden sollen so ausgestaltet werden, dass angemessener Wohn-raum nachhaltig gesichert werden kann.

Die Publikation der CMS ‹(K)ein Daheim?› fasst die wichtigsten Erkenntnisse der FHNW-Studie zusammen und zeigt auf, welche Mass-nahmen die CMS für die nächsten Jahre daraus ableitet.

Andrea Kippetext & redaktion

www.cms-basel.ch im Bereich ‹Medien› unter ‹Publikationen›

«Obdachlosigkeit erfordert eine Gesamtbetrachtung»

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T + 41 61 226 33 33

www.cms-basel.ch

Redaktion: Sylvia Scalabrino (scy), Basel; Elisabeth Pestalozzi, Carlo Clivio, Kommunikation CMS

Gestaltung: BKVK, Basel – Beat Keusch, Anna Klokow

Korrektorat: Dr. Rosmarie Anzenberger, Basel

Druck und Bildbearbeitung: Gremper AG, Basel/Pratteln

Auflage: 5 000 Exemplare; erscheint dreimal jährlich (April, August, Dezember)

Bildnachweis: Alle Abbildungen © Sammlung Karikaturen & Cartoons, Cartoonmuseum Basel (S. 1–12),

Début Début – Marisa Zürcher (S. 13), © Kathrin Schulthess (S. 14–15), BKVK (S. 16)

Studie