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69 wie man eine Person in einem Text beschreiben kann wie ihr literarische Porträts untersuchen könnt • wie ihr selbst eine Person in einem Porträt darstellen könnt wie ihr ein differenziertes Bild von einer Person erarbeiten könnt wie ihr Fragen entwickelt und Materialien auswertet wie ihr die Person anderen vorstellt Beschreiben und charakterisieren In dieser Einheit könnt ihr lernen, wie man sich ein Bild von Personen machen kann • wie das Äußere unsere ersten Eindrücke prägt wie man vom Äußeren auf das Innere schließt DO01314204_069_078.indd 69 11.01.2006 09:29:09

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wie man eine Person in einem Text beschreiben kann

• wie ihr literarische Porträts untersuchen könnt• wie ihr selbst eine Person in einem Porträt darstellen könnt

wie ihr ein differenziertes Bild von einer Person erarbeiten könnt

• wie ihr Fragen entwickelt und Materialien auswertet • wie ihr die Person anderen vorstellt

Beschreiben und

charakterisieren

In dieser Einheit könnt ihr lernen,wie man sich ein Bild von Personen machen kann

• wie das Äußere unsere ersten Eindrücke prägt• wie man vom Äußeren auf das Innere schließt

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Beschreiben und charakterisieren Frauenbilder

1. Sich ein Bild machen – vom Äußeren zum Inneren

1 Sucht ein Bild aus, das euch anspricht. Begründet eure Auswahl.

2 Macht euch ein Bild von der dargestellten Person. • Stellt euch eine Situation vor, die zu der Frau passen könnte.

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1. Sich ein Bild machen – vom Äußeren zum Inneren

Wissen

• Überlegt, was geschehen könnte, wo und wann es geschieht, was die Frau in diesem Moment sagen oder denken könnte, wie sie spricht usw.

• Schreibt einen Monolog und inszeniert ihn.

3 Schaut euch eine der beiden Personen auf den Fotos genauer an. • Stellt eure Eindrücke von der Person in einem Ideennetz zusammen. • Klärt im Gespräch, wodurch eure Eindrücke hervorgerufen werden.• Vergleicht die dargestellte Person mit den anderen Frauenbildern und

formuliert eure Beobachtungen. Achtet z. B. auf ✔ Körperhaltung ✔ Gesichtszüge, Gesichtsausdruck ✔ Kleidung und Frisur ✔ …

4 Schreibt einen kurzen Kommentar, in dem ihr – als Fotograf – erläutert, war-um ihr gerade dieses Motiv gewählt habt und was ihr ausdrücken möchtet.• Geht dabei auch auf Einzelheiten des Bildes ein.• Stellt eure Ergebnisse in der Klasse vor. Berichtet darüber, welche Schwierig-

keiten ihr zu lösen hattet und welche Fragen offen blieben. • Diskutiert in der Klasse über die Ergebnisse.

5 Sammelt Wörter und Ausdrücke, mit denen ihr besondere Merkmale und Eigenschaften der vier Frauen treffend bezeichnen könnt. • Vergleicht eure Formulierungen.• Besprecht, welche Bezeichnungen die Frauen eurer Meinung nach beson-

ders gut charakterisieren.

6 „Beeindruckt hat mich der Blick, wie sie …“ Setzt diesen Brief an den Fotografen/Maler/Computergrafiker fort und erläu-

tert ihm, warum euch sein Foto/Bild beeindruckt hat. Tragt eure Briefe in der Klasse vor und tauscht euch über gelungene Formulierungen aus.

Sich ein Bild von einer Person machen

Wenn wir uns ein erstes Bild von einer Person machen, achten wir zunächst auf die auffälligen äußeren Merkmale, z. B.:

• wie sich jemand kleidet• wie die Person geht, steht, …• welche Mimik und Gestik sie allein oder im Umgang mit anderen zeigt• wo sie sich aufhält• …

Von diesen Wahrnehmungen und Beobachtungen schließen wir auf Wesenszüge, den Charakter einer Person, z. B. selbstbewusst oder unsicher, lässig oder streng, … Je ge-nauer wir Menschen kennen lernen, desto differenzierter können wir die besonderen Charakterzüge wahrnehmen. Unser erster Eindruck kann dadurch bestätigt werden, oft muss man das Bild, das man sich gemacht hat, auch korrigieren.

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2. Eine Person beschreiben: im literarischen Porträt

Botho Strauß: Mädchen mit Zierkamm

Es ist Mittag, und sie sonnt sich in der kleinen Anlage vor der U-Bahn-station. Sie bückt sich nach einem Teil, einem Haarschmuck, etwas, das verloren neben der Bank am Boden liegt.Sie selbst trägt ein stakig kurzes Punkhaar, steife Strähnen, wie in einer Alb-Nacht gezaust und zu Berge stehen geblieben. Vanilleton mit schnee-weißen Streifen. Dazu ein violetter Pulli mit schlappem Schalkragen, ein sehr knapper Lederrock, schwarze Strumpfhose, schwarze abgelaufene Stiefeletten, auch die Augen in schwarz ausgemalten Höhlen. Sehr kleines Gesicht, dünne, mondbleiche Haut, so dass an der Schläfe die Ader blau hervorschimmert. Zierliche, glatte Nase, bleigrün gestrichene Lippen, ein etwas zu breiter Mund, abfallendes Kinn.Was also anfangen mit der kleinen Schildpattharke? Sie betrachtet sie, sie wendet sie, kratzt mit dem Daumennagel am Lack. Echt oder nicht? Sie lehnt sich zurück, nimmt das hübsche Fundstück zwischen die spuchtigen Finger, spielt damit, als riefe es irgendeine Erinnerung herauf, an eine Freun-din, eine Schwester vielleicht oder auch an die eigene Frisur, wie sie vor Jahren war … Dann werden die Ellbogen hochgezogen und auf die Bankleh-

ne gestützt, die Beine überkreuz, der rechte Fuß wippt angeregt. Die lasch herab-hängende Hand schaukelt das Ding, zwischen Zeige- und Ringfinger geklemmt, immer noch schielt sie hin mit leicht geneigtem Kopf, hält es anhänglich im Blick. Ein denkwürdiges, ein willkommenes Ding, eine kleine Freude offenbar.Das Ding ist keine Spange. Wie heißt es? Haarklemme? Wie sagt man genauer? Steckkamm. Die einfachsten Dinger, die man immer vergisst, verliert. Das Mädchen ist bisher schlecht und recht mit den Menschen ausgekommen. Ihrer Meinung nach haben sie alle zu viel von ihr verlangt. Sie hat sich immer in der Lage befunden, irgend jemand anblaffen zu müssen. Sie hat ein loses Mund-werk, sagte man früher. Aber das ist es nicht. Ihr Mund hat sich zu einer kleinen schnellfeuernden Schallwaffe entwickelt. Sie lässt sich nichts gefallen, aber ihr gefällt auch von vornherein nie etwas. Alle wollen irgendwas von ihr, das sie ab-solut nicht will. Weil einfach nichts von ihr gewollt werden soll. Was sie aber will, versteht sowieso keiner. […] Es gäbe die Möglichkeit, wirklich die Frisur zu wechseln. Die Haare wachsen las-sen, einfach ein anderer Typ sein. Sie beugt sich vor, hebt die Hand, sieht sich das Stück von nahem an. Schildkrötenpanzer. Braungelb geflecktes Horn. Drecksding. Schildkrötenmörder. […]Jedenfalls müssten die Ohren frei bleiben. Man kann sich ja auch mit dem Ding die Haare bloß an der Seite hochstecken. Aber ich habe ein viel zu kleines Gesicht für lange Haare. Früher ja. Aber im Sommer ist es die Hölle.Das Mädchen nimmt, was es zuerst einen Steckkamm genannt hat, zwischen die Ballen der rechten und linken Hand. Sie spreizt die Ellenbogen und drückt zu. Das Horn zerbricht, sie lässt beide Teile zwischen ihren Beinen zu Boden fallen. […]

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Botho Strauß (geboren 1944), deutscher Schriftsteller, zielt mit seinen Dramen, Gedich-ten, mit Prosa und Essays auf die Durchbrechung fester Wahrnehmungsmuster in un-serer Gegenwart. 1989 erhielt er den renommierten Büchner-Preis.

spuchtig (niederdt.):zart, mager

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Wissen

1 Tauscht euch über eure Eindrücke von diesem Mädchen aus.

2 Stellt Haltungen, Gesten und Bewegungen des Mädchens in Szenen und Bil-dern nach. Kommentiert eure Vorstellungen von der Figur.

3 Ergänzt euer Bild von dem Mädchen: • Welche Mimik könnte passen?• Wie geht sie, wie spricht sie in eurer Vorstellung?• Welche Musik hört sie vielleicht? • Was tut sie abends? • Welche Filme schaut sie an?• Was isst sie?• …

Stellt euer Bild von dem Mädchen mit Zierkamm vor und begründet.

4 Untersucht genauer, wie der Erzähler dem Leser ein Bild von dem Mädchen vermittelt. Achtet dabei auf folgende Elemente und ihre Reihenfolge. Klärt, welche Bedeutung sie für die Charakterisierung haben:✔ Ort, Situation ✔ Aussehen✔ für die Figur typisches Handeln✔ Wunschvorstellungen, Gedanken✔ …

5 Tauscht euch über die Haltung des Erzählers gegenüber dem Mädchen aus. • Klärt, an welchen Stellen und durch welche Mittel der Darstellung die

Erzählerhaltung deutlich wird.• Diskutiert diese Haltung.

6 Stellt mögliche Gründe dafür zusammen, warum der Autor des Erzähltextes die Situation im Präsens darstellt.

7 Schreibt selbst einen Text als Momentaufnahme einer Person, die euch begeg-net ist und die eure Aufmerksamkeit erregt hat. Bevor ihr schreibt:• Stellt einen „Fahrplan“ für euren Text auf. Ihr könnt euch an den Aspekten

orientieren, die ihr in Aufgabe 4 verwendet habt.• Vergleicht mit dem Aufbau des Textes von Botho Strauß und beurteilt die

unterschiedlichen „Fahrpläne“.

Figuren beschreiben und charakterisieren

Das Bild, das man sich von Figuren macht, ist beeinflusst durch die Art und Weise, wie sie dargestellt werden. Dabei kann man unterscheiden zwischen

• einer indirekten Charakterisierung durch: – Beschreibung der äußeren Merkmale – das Handeln und das Verhalten – Äußerungen, Gedanken und Gefühle einer Figur (direkte und indirekte Rede)

Inszenieren literarischer TexteSeite 261Arbeitstechnik RollenspielSeite 271 f.Arbeitstechnik StandbilderSeite 272

Erzählende Texte erschließenSeite 260ErzählerSeite 260

2. Eine Person beschreiben: im literarischen Porträt

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Beschreiben und charakterisieren

• und einer direkten Charakterisierung durch: – Aussagen (der Figur selbst, des Erzählers oder anderer Figuren) zu den Eigen-

schaften und Wesenszügen der Figur – Urteile über die Figur, Bewertungen

Das Bild, das beim Leser von einer Figur entsteht, wird vor allem beeinflusst durch• Auswahl und Aufbau der Informationen über eine Figur• den gewählten Fokus (Wo wird der Schwerpunkt gesetzt?)• die Perspektive, aus der die Figur betrachtet wird (Außen- und Innensicht)• die Haltung des Erzählers gegenüber der Figur

Anwenden

Arbeitszimmer von Friederike Mayröcker

1 Betrachtet das Zimmer und tauscht eure Eindrücke aus. Stellt euch eine Frau vor, die zu diesem Zimmer passen könnte. Denkt dabei an Aussehen, Klei-dung, Alter, Beruf, Details wie z. B. Frisur, Schmuck, Eigenschaften, … Sucht im Bild nach Anhaltspunkten für eure Vorstellungen.

2 Verfasst zu dieser Fotogra-fie einen Text. Wählt eine Variante als Tagebuchnotiz oder als Brief:• „Habe heute ein Foto von

Mayröckers Arbeitszimmer gesehen. Bin mir selbst nicht recht im Klaren dar-über, …“

• „Liebe Frau Mayröcker, der Blick in Ihr Arbeits-zimmer …“

Lest eure Texte in der Klas-se vor. Sprecht darüber, welche Texte ihr überzeu-gend findet. Klärt dabei eure Bewertungsmaßstäbe.

3 Stellt selbst Material zu-sammen – Gegenstände, Fotografien, Zitate, … –, das für eine Person cha-rakteristisch ist. Verfasst Texte, in denen ihr die Zu-ordnung von Person und Material erläutert.

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3. Ein Personenporträt erarbeiten

3. Ein Personenporträt erarbeiten: Sophie Scholl

Gestapo: Geheime Staatspolizei, poli-tische Polizei des Innenministeriums im Dritten Reich

Filmankündigung: Sophie Scholl – Die letzten Tage

In den schlimmsten Zeiten des Naziterrors stellten sich Sophie Scholl und ihre Freunde gegen ein unerbittliches System – und wurden zugleich Opfer und Hel-den. Der Name Weiße Rose steht noch heute für Zivilcourage und friedlichen Wi-derstand.Februar 1943: Bei einer Flugblatt-Aktion gegen die Nazi-Diktatur wird Sophie Scholl (Julia Jentsch) zusammen mit ihrem Bruder Hans (Fabian Hinrichs) in der Münchner Universität verhaftet. Tagelange Verhöre durch die Gestapo entwickeln sich zu Psychoduellen zwischen der Studentin und dem Vernehmungsbeamten Robert Mohr (Alexander Held), in denen Sophie um ihre Freiheit kämpft. Als die Beweislast erdrückend wird und ihr Bruder ein Geständnis ablegt, stellt sich das junge Mädchen schließlich durch ihr eigenes Geständnis schützend vor die an-deren Mitglieder der Weißen Rose. Ihren Überzeugungen schwört sie auch dann nicht ab, als sie dadurch ihr Leben retten könnte …

1 Beschreibt, was auf den abgebildeten Szenenfotos aus dem Film Sophie Scholl – Die letzten Tage dargestellt ist. Klärt im Gespräch, um welche Situationen des Geschehens es sich handeln könnte.

2 Überlegt euch andere Titel für den Film über Sophie Scholl. Begründet eure Antwort anhand der Inhaltsangabe in der Ankündigung.

3 Informiert euch über die Weiße Rose. Stellt eure Informationen dazu auf einem Plakat zusammen.

4 Tauscht eure Eindrücke aus, die ihr durch die Informationen zu Sophie Scholl gewonnen habt. Was könnte den Regisseur bewogen haben, über ihre letzten Tage einen Film zu drehen?

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Projekt

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Die Schauspielerin Julia Jentsch sagt in einem Interview: „Es ist der Versuch, an die Wahrheit einer Person heranzukommen. Man sucht Strohhalme, etwas, das einem helfen kann, seien es Texte oder Zeitzeugen oder Fotos. Man sammelt das alles. Wenn man in Räumen war, von denen man wusste: Da ist Sophie Scholl auch durchgegangen, dann fragt man sich schon: Was hat sie gedacht, was hat sie wahrgenommen? Wie ist sie gegangen? In solchen Momen-ten sieht man sie neben sich und würde gerne fragen können.“

5 Findet einen eigenen Weg, um an die Person Sophie Scholl heranzukommen.• Sammelt Fragen zu und an Sophie. • Ordnet die Fragen in einer Mindmap.

Sophies ältere Schwester, Inge Aicher-Scholl, erinnert sich

Die Leistungen der Schüler in den Grundschulen wurden damals nicht nur nach Noten gemessen. Sie drückten sich auch in der Platzierung im Klassenzimmer aus. Wer sich hervortat, rückte nach vorn. Wer in Leistungen nachließ, musste nach hinten rücken. Außerdem enthielt das Zeugnis am Ende eines Schuljahres einen Vermerk über den Sitzplatz. Bei diesem ständigen Versetzen passierte es, dass meine Schwester Elisabeth ausgerechnet an ihrem Geburtstag einen Platz her-untergestuft wurde, wahrscheinlich aus einem ziemlich nebensächlichen Grund. Sophie saß im selben Klassenraum – oft wurden zwei oder drei Jahrgänge von ei-nem Lehrer gemeinsam unterrichtet. Das Zurücksetzen meiner Schwester empörte sie derartig und verletzte ihr Gerechtigkeitsgefühl so sehr, dass sie nach vorn zum Lehrer ging und protestierte: „Meine Schwester Elsbeth hat heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!“ Der Lehrer ließ es geschehen.

[…] Wir unternahmen eines Tages einen Ausflug auf die Schwäbische Alb. Das Ganze nannte sich Staatsjugendtag des BDM und war entsprechend aufgezogen: mit vielen Fahnen, Uniformen und Aufmärschen. Zufällig stießen Sophie und ich auf ein Zelt mit Jungen, die keine HJ-Uniform trugen. Das machte uns neugierig. Wir sprachen sie an und provozierten sie ein wenig mit unseren Ansichten über den Nationalsozialismus. Dabei merkten wir, dass der eine Junge plötzlich die Lippen zusammendrückte und nichts mehr sagte. Da ahnten wir: Er war Jude und musste schweigen, um sich und die andern nicht in Gefahr zu bringen. Auch wir beide hatten nichts mehr zu sagen und verabschiedeten uns schweigend. Wir fanden Leute sympathisch, die wir von Staats wegen ablehnen sollten, und je mehr wir sie abzulehnen versuchten, desto stärker zogen sie uns an.

Sophie an ihren Freund Fritz Hartnagel, Soldat an der Front, 23. 9. 1940

Ich finde, dass Gerechtigkeit immer höher steht als jede andere, oft sentimentale Anhänglichkeit. Und es wäre doch schöner, die Menschen könnten sich bei ei-nem Kampfe auf die Seite stellen, die sie für die gerechtfertigte halten. Ich hielt es

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BDM: Bund deutscher Mädel

HJ: Hitler-Jugend, wie BDM Jugend-

organisation im Dritten Reich

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3. Ein Personenporträt erarbeiten

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immer für falsch, wenn ein Vater auf Seiten seines Kindes stand, etwa wenn der Lehrer das Kind gestraft hatte, selbst wenn er es noch so liebte, oder gerade des-halb. Ebenso unrichtig finde ich es, wenn ein Deutscher oder Franzose sein Volk stur verteidigt, nur weil es sein Volk ist. Gefühle leiten oft irre. Wenn ich auf der Straße Soldaten sehe, womöglich noch mit Musik, dann bin ich auch gerührt, frü-her musste ich mich bei Märschen gegen Tränen wehren. Aber das sind Sentimente für alte Weiber. Es ist lächerlich, wenn man sich von ihnen beherrschen lässt.

Erinnerungen Fritz Hartnagels an Sophie

Für Sophie, die kein kalt berechnender Mensch war, sondern sehr gefühlvoll sein konnte, war bezeichnend, mit welch scharfem Verstand und mit welch logischer Konsequenz sie die Dinge zu Ende dachte. Dafür ein Beispiel: Im Winter 1941/42 wurde die Bevölkerung in Deutschland in einer groß angelegten Propaganda- Aktion aufgefordert, Wollsachen und warme Kleidungsstücke für die Wehrmacht zu spenden. Die deutschen Soldaten standen vor Leningrad und Moskau und befanden sich in einem Winterkrieg, auf den sie nicht vorbereitet waren. Mäntel, Decken und Skier sollten abgeliefert werden. Sophie vertrat jedoch den Stand-punkt: ‚Wir geben nichts.‘ Ich kam damals direkt von der Front aus Russland. Ich sollte in Weimar eine neue Kompanie aufstellen. Als ich von Sophies harter Reaktion erfuhr, habe ich ihr vor Augen geführt, was eine solche Haltung für die Soldaten draußen bedeutete, die keine Handschuhe, keine Pullover und keine warmen Socken besaßen. Sie blieb jedoch bei ihrer un-nachgiebigen Haltung und begründete sie mit den Worten: „Ob jetzt deutsche Soldaten erfrieren oder russische, das bleibt sich gleich und ist gleichermaßen schlimm. Aber wir müssen den Krieg verlieren. Wenn wir jetzt Wollsachen spen-den, tragen wir dazu bei, den Krieg zu verlängern.“Auf mich wirkte dieser Standpunkt schockierend. Wir diskutierten heftig. Mehr und mehr musste ich jedoch einsehen, dass ihre Haltung nur konsequent war. Man konnte nur entweder für Hitler oder gegen ihn sein. War man gegen Hitler, dann durfte er diesen Krieg nicht gewinnen, denn nur eine militärische Nieder-lage konnte ihn beseitigen. Das hieß weiter: Alles, was dem so genannten Feind nützte, nützte auch uns.

Sentiment: Gefühl

Sophie Scholl, links: an der Iller, 1938 rechts: letztes Pass-bild 1942

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Beschreiben und charakterisieren

Am Tag der Hinrichtung

[…] Darauf wurde Sophie von einer Wachtmeisterin herbeigeführt. Sie trug ihre eigenen Kleider und ging langsam und gelassen und sehr aufrecht (Nirgends lernt man so aufrecht gehen wie im Gefängnis.). Sie lächelte immer, als schaue sie in die Sonne. Bereitwillig und heiter nahm sie die Süßigkeiten, die Hans abgelehnt hatte. „Ach ja, gerne, ich habe ja noch gar nicht Mittag gegessen.“ […] Auch sie war um einen Schein schmaler geworden, aber in ihrem Gesicht stand ein wun-derbarer Triumph. […] Dann betonte auch sie, wie Hans, fest, überzeugt und triumphierend: „Wir haben alles, alles auf uns genommen.“ Und sie fügte hinzu: „Das wird Wellen schlagen.“ Das war in diesen Tagen ihr großer Kummer ge-wesen, ob die Mutter den Tod gleich zweier Kinder ertragen würde. Aber nun, da sie so tapfer und gut bei ihr stand, war Sophie wie erlöst. Noch einmal sagte die Mutter, um irgendeinen Halt anzudeuten: „Gelt, Sophie: Jesus.“ Ernst, fest und fast befehlend gab Sophie zurück: „Ja, aber du auch.“ Dann ging auch sie – frei, furchtlos, gelassen.

6 Lest die Texte und stellt Passagen vor, die euch beeindrucken.

7 Stellt auf einem Plakat eine Collage von besonders prägnanten Sätzen und Zitaten zusammen. Überlegt, wie die Textzitate angeordnet werden könnten. Stellt diese Textcollage vor. Begründet eure Textauswahl.

8 Haltet schriftlich fest, was ihr aus Textstellen zu Sophie Scholl erschließen könnt. Arbeitet genau am Text, z. B. so:

In der Szene, als Sophie sich empört über … (vgl. Z. 5 ff.), wird deutlich …

9 Überprüft auf der Grundlage eurer Ergebnisse noch einmal eure Mindmap. Ergänzt wichtige Aspekte. Recherchiert in Gruppen zu einzelnen Themen, z. B. im Online-Dossier www.bpb.de/sophiescholl. Ordnet eure Ergebnisse.

In dem Interview mit der Schauspielerin Julia Jentsch wird die Frage formuliert: So-phie Scholl war gerade mal 21 Jahre alt. Woher nahm sie die Stärke und die Sicherheit?

10 Gebt anhand des gesammelten Materials zu Sophie Scholl mögliche Antwor-ten auf diese Frage. Diskutiert eure Erklärungen.

11 Gestaltet eure Ergebnisse auf Plakaten. Beachtet dabei die Möglichkeiten der Gestaltung. Überlegt, ob ihr eure Plakate öffentlich oder in der Klasse ausstel-len und präsentieren wollt. Berücksichtigt Zeit, Ort und Personenkreis.

12 Liebe Sophie, … Schreibt einen Brief an Sophie Scholl. Teilt ihr mit, was euch an ihr beein-

druckt hat, was ihr anders gemacht hättet, was ihr sie gerne fragen würdet, … Überlegt, ob ihr eure Briefe oder Briefstellen innerhalb eurer Ausstellung als Lesung vortragen wollt.

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Arbeitstechnik Collage

Seite 269

Lesen und Vorlesen

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Projekt

Dossier: Sammlungvon Akten, Materi-alien zu einem Vor-

gang, Thema, …

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