Charles und Mary Lamb SHAKESPEARE- GESCHICHTEN · Charles und Mary Lamb SHAKESPEARE-GESCHICHTEN ......

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Charles und Mary Lamb SHAKESPEARE- GESCHICHTEN Die 20 besten Stücke neu erzählt Aus dem Englischen von Karl Heinrich Keck Herausgegeben von Günther Klotz Anaconda

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    Charles und Mary Lamb

    SHAKESPEARE-GESCHICHTEN

    Die 20 besten Stücke neu erzählt

    Aus dem Englischen von Karl Heinrich Keck

    Herausgegeben von Günther Klotz

    Anaconda

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    Titel der englischen Originalausgabe: Tales from Shakespeare(London 1807)Der vorliegende Band ist ein unveränderter Nachdruck der AusgabeMary und Charles Lamb: Shakespeare für Eilige. Die zwanzig bestenStücke als Geschichten. Hrsg. von Günther Klotz. Aufbau TaschenbuchVerlag, Berlin 2001. Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der AufbauVerlag GmbH & Co. KG

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung© dieser Ausgabe 2014 Anaconda Verlag GmbH, Köln© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2001, 2008Alle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: John William Waterhouse (1849–1917), »Ophelia« (1894), Private Collection / Photo © Christie’s Images /bridgemanart.comUmschlaggestaltung: dyadesign, Düsseldorf, www.dya.dePrinted in Czech Republic 2014ISBN [email protected]

  • INHALT

    Komödien

    Die beiden Veroneser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Der Widerspenstigen Zähmung . . . . . . . . . . . . . . . . 26Die Komödie der Irrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40Ein Sommernachtstraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Der Kaufmann von Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74Viel Lärmen um nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Wie es euch gefällt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108Was ihr wollt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129Maß für Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147Ende gut, alles gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166Perikles, Fürst von Tyrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182Das Wintermärchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204Cymbeline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219Der Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

    Tragödien

    Romeo und Julia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253Hamlet, Prinz von Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296König Lear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314Macbeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334Timon von Athen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

    Anhang

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

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  • KOMÖDIEN

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  • Die beiden Veroneser

    Es lebten einmal in der Stadt Verona zwei junge Männervon Adel namens Valentin und Proteus, zwischen welchenlange Zeit eine feste, nie unterbrochene Freundschaft be-standen hatte. Sie besuchten fleißig miteinander die Hör-säle und verbrachten ihre Mußestunden meistens einer indes anderen Gesellschaft, ausgenommen wenn Proteus einjunges Mädchen besuchte, das er liebte; und diese Besuchebei seiner Angebeteten und diese Leidenschaft des Proteusfür die schöne Julia waren die einzigen Gegenstände, überwelche die Freunde nicht übereinstimmten. Denn Valen-tin, der selbst nicht liebte, fühlte sich mitunter ein bißchengelangweilt, wenn er seinen Freund immer und ewig vonseiner Julia reden hörte, und dann pflegte er wohl überProteus zu lachen und in scherzenden Ausdrücken überdie Leidenschaft der Liebe zu spotten und zu erklären, daßniemals solche müßige Träumereien bei ihm Eingang fin-den würden; denn er ziehe das freie, glückliche Leben, daser führe, bei weitem den ängstlichen Hoffnungen und Be-fürchtungen des verliebten Proteus vor.

    Eines Morgens kam Valentin zu Proteus, um ihm mitzu-teilen, daß sie eine Zeitlang sich trennen müßten, denn ersei im Begriff, nach Mailand zu reisen. Proteus, der gar nichtgeneigt war, seinen Freund scheiden zu lassen, brachte vieleGründe vor, um Valentin zu bestimmen, daß er ihn nichtverlassen möchte. Aber Valentin sagte: »Höre auf, mir zu-zureden, teurer Proteus. Ich will nicht wie ein Müßiggängermeine Jugend in Trägheit zu Hause hinbringen. Jungen, die

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  • stets zu Hause hocken, behalten für immer einen haus-backenen Witz. Wäre deine Neigung nicht gefesselt an diesüßen Blicke deiner holdseligen Julia, so würde ich dich bit-ten, mich zu begleiten, um die Wunder fremder Länder zubeschauen; aber da du verliebt bist, so liebe nur immer wei-ter, und möge deine Liebe gesegnet sein.«

    Sie schieden voneinander mit gegenseitigen Versicherun-gen unwandelbarer Freundschaft. »Liebster Valentin, lebewohl!« sagte Proteus; »denke an mich, wenn du irgendeinseltenes Ding erblickst, das schön und der Beachtung wertist auf deinen Reisen, und wünsche mich zu dir, dein Glückzu teilen.«

    Valentin trat noch an demselben Tage seine Reise nachMailand an; und Proteus setzte sich, als sein Freund ihnverlassen hatte, nieder, um einen Brief an Julia zu schrei-ben; er gab ihn ihrer Dienerin Lucetta zur Besorgung anihre Herrin.

    Julia liebte Proteus ebenso zärtlich wie er sie. Aber siewar eine stolze Jungfrau und glaubte, daß es ihrer weib-lichen Würde nicht wohl anstünde, sich zu leicht gewinnenzu lassen. Deshalb tat sie, als bemerkte sie seine Leiden-schaft nicht, und sie verursachte ihm im Verlauf seiner Be-werbung viel Aufregung und Unruhe.

    Und als Lucetta Julia den Brief überreichte, wollte sie ihnnicht annehmen und schalt ihr Mädchen, daß sie sich Briefevon Proteus geben lasse, und befahl ihr, das Zimmer zu ver-lassen. Aber heimlich wünschte sie so sehr, den Inhalt desSchreibens zu erfahren, daß sie bald das Mädchen wiederhereinrief, und als Lucetta zurückkam, sagte sie: »WievielUhr ist es?« Lucetta, die wohl merkte, daß ihre Herrin mehrden Brief zu sehen wünschte, als die Tageszeit zu erfahren,antwortete nicht auf ihre Frage, sondern überreichte wiederden zurückgewiesenen Brief. Julia, voll Ärger, daß ihrMädchen sich die Freiheit nahm, sich den Anschein zu ge-ben, als kenne sie ihren wirklichen Wunsch, zerriß den Brief

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  • in Stücke, warf sie auf den Fußboden und wies ihre Diene-rin noch einmal hinaus. Als Lucetta im Begriff war, sichzurückzuziehen, hielt sie ihren Schritt an, um die Stücke deszerrissenen Briefes aufzulesen; aber Julia, die sich nicht sovon ihnen zu trennen gedachte, sagte, sich ärgerlich stel-lend: »Geh, mach dich fort! Laß die Papiere liegen. Du hät-test sie gern in Händen, mich zu ärgern.«

    Julia fing nun an, die zerrissenen Stücke, so gut sich’s ma-chen ließ, zusammenzusuchen. Sie brachte zuerst dieseWorte heraus: »Der liebeswunde Proteus«; und sie jam-merte laut über diese wie ähnliche Liebesworte, die sie her-ausbrachte, obgleich sie alle in Fetzen zerrissen waren oder,wie sie sagte, verwundet (durch den Ausdruck »der liebes-wunde Proteus« war ihr dieser Gedanke gekommen), undsie sprach zu den Papierstückchen gütige Worte: sie wollesie an ihrem Busen wie in einem Bette herbergen, bis ihreWunden alle geheilt wären, und sie wolle jedes einzelneStückchen küssen, wie um Ersatz zu leisten für ihr Unrecht.

    In dieser Weise plauderte sie noch einige Zeit mit sichselbst in anmutigem Spiel, halb Kind, halb Jungfrau, bis siedie Unmöglichkeit erkannte, das Ganze zu entziffern; undzürnend über ihre Lieblosigkeit, solche süßen Liebesworte,wie sie sie nannte, zerstört zu haben, schrieb sie einen Briefan Proteus, der viel freundlicher war, als sie jemals einengeschrieben hatte.

    Proteus war entzückt beim Empfang einer so günstigenAntwort auf seinen Brief; und während des Lesens rief eraus: »O süße Liebe, o süße Zeilen, süßes Leben!« Mitten inseiner Begeisterung wurde er unterbrochen durch seinenVater. »Ei! ei!« sagte der alte Mann, »was für ein Brief ist’s,den du liest?«

    »Vater«, erwiderte Proteus, »es ist ein Brief von meinemFreund Valentin in Mailand.«

    »Gib mir den Brief; laß sehen, was er enthält«, sagte seinVater.

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