Chitra Banerjee Divakaruni: Anand im Schattenland

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Chitra Divakaruni eröffnet uns die märchenhafte, faszinierende Welt der indischen Zauberer und Heiler. Eine Abenteuer-Trilogie voller Spannung und Magie. Einige Monate sind vergangen seit der aufregenden Reise in die Vergangen heit, und Anand und Nisha erlernen nun wieder im wunderschönen Silbertal die geheimen Heil- und Zauberkünste. Doch als Anand eines Tages von einem Besuch beim Eremiten in den Bergen zurückkommt, findet er anstelle des Silbertals nur noch die verzweifelte Nisha vor: Alles andere ist verschwunden ...

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Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin und Dichterin Chitra Banerjee Divakaruni wurde 1957 in Indien geboren. Sie promovierte in Berkeley über Englische Literatur. Ihr literarisches Werk, darunter die Romane Die Hüterin der Gewürze und Der Duft der Mangoblüten, wur­de in zwanzig Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Houston.

Einige Monate sind vergangen seit der aufregenden Reise in die Vergangenheit, und Anand und Nisha erlernen nun wieder im wunderschönen Silbertal die geheimen Heil­ und Zauberkünste. Doch als Anand eines Tages von einem Be­such beim Eremiten in den Bergen zurückkommt, findet er anstelle des Silbertals nur noch die verzweifelte Nisha vor: Alles andere ist verschwunden. Böse Mächte aus der Zukunft haben die Muschel, die magische Energiequelle, und mit ihr das gesamte Silbertal und seine Bewohner zu sich hinübergezogen. Gemeinsam reisen Anand und Nisha der Muschel hinterher, um das Unmögliche zu versuchen und das Silbertal zu retten. Sehr bald stellt sich jedoch he­raus, dass die düstere, kalte Zukunftswelt, in der sie gelandet sind, die heilsamen Kräfte der Muschel mindestens ebenso dringend braucht …

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Chitra Banerjee Divakaruni

AnAnd im SchAttenlAnd

Deutsch von Christiane Schott­Hagedorn

BLOOMSBURYKinderbücher & Jugendbücher

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Februar 2010

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Shadowland bei

Roaring Book Press, New York | Copyright © 2009 Chitra Banerjee

Divakaruni | Für die deutsche Ausgabe © 2010 BV Berlin Verlag GmbH,

Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin | Alle Rech­

te vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg |

Gesetzt aus der Stempel Garamond und der eXOcet durch Greiner &

Reichel, Köln | Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck |

Printed in Germany | ISBN 978­3­8270­5008­3 | www.berlinverlage.de

MixProduktgruppe aus vorbildlichbewirtschafteten Wäldern und

anderen kontrollierten Herkünften

Zert.-Nr. GFA-COC-001223www.fsc.org

© 1996 Forest Stewardship Council

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Für meine drei Männer,Murthy, Abhay und Anand,die von Anfang anan mich geglaubt haben.

Und für Juno,die jeden Tag neben mir saß,während ich dieses Buch geschrieben habe.

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1 In geheimer Mission 9 2 Die Höhle des Eremiten 29 3 Im Schattenland 40 4 Die Farm 51 5 Die Wissenschaftler 64 6 Das Fest 80 7 Der Ausweg 98 8 Die Magier 110 9 Das Laboratorium 130 10 Erinnerungen 146 11 Der Aufruf 162 12 Freunde 175 13 Auf Messers Schneide 184 14 Die Vision 197 15 Alarm 210 16 Eine unerwartete Wendung 216 17 Die Heimkehr 226 18 Eine letzte Lektion 236

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1 in geheimer miSSiOn

Anand tigerte ungeduldig in der Höhle auf und ab, die nur spärlich von einer zischenden Öllampe beleuchtet wurde, deren Flamme jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Seine Schritte hallten an den feuchten, grob behauenen Wänden wider. Er war verdrossen, und wer hätte es ihm verdenken können? Seit vier Tagen wartete er nun schon in diesem eis­kalten Loch hoch oben am Berghang – die letzten vierund­zwanzig Stunden ohne Essen und Wasser. Und noch immer war von dem Einsiedler, dessentwegen er den ganzen Weg hier heraufgekommen war, nichts zu sehen oder zu hören. Hätte er den Mann nicht im letzten Jahr ein­ oder zweimal mit eigenen Augen eine Felswand hinaufkraxeln gesehen wie eine drahtige Bergziege, das graue Haar zerzaust und mit im Wind wehenden Gewändern, Anand hätte inzwi­schen, trotz allem, was ihm Abhaydatta, der Meisterheiler, über ihn erzählt hatte, daran gezweifelt, dass es den Eremi­ten überhaupt gab.

Obwohl Anand dem Heiler als sein Schüler die größte Ehrerbietung entgegenbrachte, war er jetzt auch auf ihn wütend. Ohne Abhaydatta wäre er schließlich nicht hier gewesen, halbverhungert und wahrscheinlich auch noch mit einer fürchterlichen Erkältung im Anzug. Sein Kopf fühlte sich an wie mit Wolle ausgestopft, und er hörte alles ver­zerrt und undeutlich, wie aus weiter Ferne. Zum Teil hatte

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Anand zwar seine missliche Lage mitverschuldet, doch er verdrängte die leisen Gewissensbisse.

Ich warte noch, bis die Lampe ausgeht, sagte er sich. Dann steige ich wieder hinab ins Silbertal und sage Abhay­datta, dass ich versagt habe.

Er setzte sich auf den feuchten, unbequemen, scharfkan­tigen Felsboden direkt am Eingang der Höhle. Dabei musste er ein wenig den Kopf einziehen, denn er war im letzten Jahr, seit er fünfzehn geworden war, ein ganzes Stück gewachsen und hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt. Von dort hielt er Ausschau nach dem Eremiten, obwohl er nicht mehr viel Hoffnung hatte. Er zog seine gelbe Wolltunika, die alle Schüler trugen, enger um sich und strich sich die langen Haare aus dem Gesicht. Die Niedergeschlagenheit, die sich seiner bemächtigt hatte, passte eigentlich gar nicht zu ihm. Normalerweise mochten ihn die Heiler besonders wegen seiner Fröhlichkeit und Gewissenhaftigkeit, und auch seine Mitschüler hatten ihn gern, auch wenn sie sich gelegentlich beschwerten, dass er die Welt zu ernst nehme. Meist aber begegneten sie ihm mit Ehrfurcht, denn er nahm in der Bruderschaft eine besondere Stellung ein. Er war der Hüter der magischen Muschel, von der die Heiler ihre Kräfte be­zogen, und der Einzige, mit dem die Muschel kommuni­zierte. Anand selbst war allerdings ziemlich bescheiden und hielt sich nicht für etwas Besonderes. Vielmehr hegte er aller hand Zweifel an seiner Befähigung – und die schienen sich jetzt gerade allesamt bestätigt zu haben.

Nach vier Tagen mit heftigem Wind und Graupelschau­ern war es jetzt endlich klar draußen, und die Sonne schien auf Berge von Schnee. Es war immer noch kalt – aber das war es so hoch oben im Himalaja schließlich immer, außer im

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Silbertal, wo Anands Schulkameraden sich in diesem Mo­ment zu einem heißen, wohltuenden Mittagsmahl nieder­setzten. Der Verdruss machte sich wieder in ihm breit, als er an das leckere Essen dachte. Dienstags – heute war doch Dienstag, nicht wahr? – gab es herzhaften Reis­und­Linsen­Eintopf mit frischem Gemüse aus dem Tal und Bratkartof­feln. Sein Magen knurrte vernehmlich bei der Vorstellung, in so eine saftige, würzige Kartoffel hineinzubeißen. Doch der Appetit verging ihm gleich wieder. Was würde Abhay­datta zu seinem Scheitern sagen? Und zu seinem Ungehor­sam, denn der Heiler hatte ihn ausdrücklich angewiesen, gestern ins Tal zurückzukehren. Abhaydatta hielt nicht viel von Strafpredigten. Wahrscheinlich würde er sich einfach mit vor Enttäuschung zusammengepressten Lippen umdre­hen und ihn stehen lassen. Aber ein paar von den anderen Schülern würden sich bestimmt über Anand lustig machen.

Er konnte ja nicht wissen, dass nichts von alledem ge­schehen würde, sondern etwas viel Schlimmeres ihn im Tal erwartete.

Vor fünf Tagen. Da hatte alles angefangen.Anand war gerade mitten in einer Stunde mit Meister

Mihirdatta gewesen, dem Heiler, der sich auf die Transfor­mation spezialisiert hatte, eine Fertigkeit, die es einem erlaubte, in das Wesen der Dinge einzudringen und die Teil­chen zu verschieben, die in ihrem Kern herumwirbelten.

»Wenn du es schaffst, deinen Geist so auf einen Gegen­stand zu konzentrieren, dass du dich bis auf diese Energie­ebene herabbegeben und seine ureigene Schwingung spüren

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kannst, dann kannst du ihn, wenn nötig, in etwas anderes verwandeln«, hatte ihnen Mihirdatta erklärt. »Aber das ist selbst für die Älteren unter euch eine fortgeschrittene Fähig­keit, die man nie leichtfertig anwenden darf, denn das Wesen eines noch so kleinen Dings zu verändern ist gefährlich und kann weitreichende Konsequenzen für das Universum oder den Heiler haben.« Dann stellte er den Schülern eine ein­fache Aufgabe: Sie sollten das Palmblatt, auf dem sie sich ihre Notizen machten, in Pergament verwandeln.

Anand schloss die Augen und konzentrierte sich, so wie der Heiler es ihm erklärt hatte, bis er in einen Zustand hinü­berglitt, der sich am besten als Wachtraum beschreiben lässt, dann versuchte er, tief in die Struktur des Blattes einzutau­chen. Gerade als er das Gefühl hatte, das Blatt würde sich in eine Lache flimmernder Lichtblitze auflösen, hatte ihn das Auftauchen eines Boten abgelenkt. Es war Raj­bhanu, ein Freund von Anand. Die beiden hatten zusammen ein Aben­teuer erlebt, als Raj­bhanu noch ein fortgeschrittener Schü­ler gewesen war. Vor kurzem hatte er die Abschlussprüfung bestanden und das Gewand eines Nachwuchsheilers erhal­ten. Er entschuldigte sich mit einer Verbeugung vor Mihir­datta für die Störung, sagte aber, er habe eine dringende Nachricht von Abhaydatta, mit dem sich Anand gleich nach dem Unterricht im Saal der Visionen treffen solle.

Das war höchst ungewöhnlich. Der Tagesablauf der Schüler folgte einem strengen und – Anands Ansicht nach – allzu voraussehbaren Schema. Die anderen flüsterten unter­einander und warfen Anand neugierige Blicke zu. Der saß kerzengerade da und fragte sich mit klopfendem Herzen, warum ihn sein Mentor wohl zu sich bat. Ihm war klar, dass es etwas Wichtiges sein musste, sonst hätte Abhaydatta

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nicht extra den Unterricht gestört. Anand hoffte nur, es möge sich dabei um etwas Spannendes handeln.

Er gehörte gern zur Bruderschaft, wo er die geheimen Künste lernte, mit denen die Heiler der Welt zu Hilfe ka­men. Er wusste, er konnte sich glücklich schätzen, hier leben zu dürfen, in diesem geschützten Tal mit seinen gewun­denen, von silbrigen Parijatbäumen gesäumten Pfaden, luf­tigen Schlafsälen und dem prachtvollen Kristallsaal, der die Muschel beherbergte. Und besonders glücklich schätzte er sich, ihr Hüter zu sein, denn er liebte dieses winzige, aber ungeheuer mächtige Wesen mehr, als er je geglaubt hatte, irgendetwas lieben zu können – oder irgendjemanden. Aber seit seinem letzten Abenteuer, bei dem er zusammen mit seiner besten Freundin Nisha ein paar hundert Jahre in die Vergangenheit zurückgereist war, an den Hof des Nawab Najib, wo er dessen Volk davor gerettet hatte, von einem bö­sen Dschinn vernichtet zu werden, waren mittlerweile zwei Jahre vergangen. Nachdem er seine Aufgabe vollendet hatte, war er froh gewesen, zur Bruderschaft zurückzukehren, und in den letzten beiden Jahren hatte er hier viele wertvolle Fertigkeiten erlernt. Doch nun konnte er langsam wieder ein kleines Abenteuer gebrauchen.

Von all diesen Überlegungen abgelenkt, verpatzte er die Transformationsübung, mit der er gerade beschäftigt war, und verwandelte sein Palmblatt ganz unerklärlicherweise in einen riesigen leuchtend blauen Turban. Seine Klassen­kameraden kicherten, und Mihirdatta starrte ihn ungläubig an.

»Wie in aller Welt hast du das fertiggebracht? In all den Jahren, in denen ich schon unterrichte, habe ich so etwas noch nie gesehen. Nun ja. Offensichtlich bist du zu nichts

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mehr zu gebrauchen, bevor du herausgefunden hast, was Meister Abhaydatta von dir will. Du kannst also ebenso gut jetzt gleich zu ihm gehen.«

Anand verbeugte sich dankbar, übergab den Turban dem Schüler neben ihm und lief eilig zur Tür, wobei er fast über einen Hocker gestolpert wäre. Mihirdatta schüttelte den Kopf, aber Anand entging nicht das leise Lächeln, das um seine Lippen spielte, als habe er nicht vergessen, was es hieß, jung und übermütig zu sein.

Anand rannte den ganzen Weg zum Saal der Visionen hinab, einem eleganten kleinen Bauwerk, das vollständig aus in­einander verwobenen Bäumen mit glänzenden graugrünen Blättern bestand. Als er an der Schwelle Halt machte, um Atem zu schöpfen, hörte er drinnen Stimmengemurmel. Er war zu früh gekommen – Abhaydatta war noch mit jemand anderem im Gespräch. Er wollte sich gerade auf die andere Seite des Pfades zurückziehen, da hörte er seinen Namen.

»Seid Ihr sicher, dass Anand schon so weit ist, sich einer solchen Herausforderung zu stellen?«, fragte eine männ­liche Stimme. »Er hat sein viertes Lehrjahr noch nicht be­endet, und ihm fehlen noch die wichtigsten Schutzzauber oder die –«

Anand erschrak ein wenig, als er die Stimme erkannte: Es war die von Somdatta, dem Oberheiler. Was auch immer Ab­haydatta mit Anand vorhatte, es war offensichtlich wichtig genug für den Prior, um sich damit zu befassen. Er wusste, dass es sich nicht gehörte zu lauschen, doch er konnte nicht widerstehen. Er hoffte, sein Mentor, den er abgöttisch ver­

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ehrte, würde erklären, er habe vollstes Vertrauen in die Fä­higkeiten seines Schülers. Abhaydatta indes sagte etwas ganz anderes.

»Ich bin mir in der Tat nicht ganz sicher«, räumte er düs­ter ein. »Aber irgendein unerklärliches Gefühl drängt mich, ihn fortzuschicken. Ich befürchte, wenn ich es jetzt nicht tue, werden wir es alle noch bedauern.«

»Ich vertraue auf Eure Weisheit, Meister Abhaydatta«, gab Somdatta zurück, auch wenn er sich dabei nicht beson­ders glücklich anhörte. »Ihr habt mein Einverständnis.«

Anand hörte ihre Schritte und verschwand rasch zwi­schen den Bäumen. Als die beiden Männer aus dem Gebäu­de traten, eilte er ihnen auf dem Pfad entgegen, der den Silberlotus­See säumte, als wäre er gerade erst angekom­men. Beide erwiderten seinen Gruß mit einem freundlichen Kopfnicken, wenn auch Abhaydatta ihm unter den buschi­gen weißen Augenbrauen hervor einen tadelnden Blick zu­warf.

Nachdem er mit Anand wieder hineingegangen war, ver­schwendete der Meister keine Zeit. »Vor einer Weile habe ich dir von dem Eremiten erzählt, der hoch oben in den Bergen wohnt, und gesagt, dass du vielleicht eines Tages bei ihm in die Lehre gehen würdest«, sagte er. »Dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Ich möchte, dass du ihn kennenlernst – be­ziehungsweise es versuchst, denn letzten Endes entscheidet nur er selbst darüber, wen er aufnimmt.«

Anand erinnerte sich an dieses weit zurückliegende Ge­spräch, denn von Zeit zu Zeit hatte er sehnsüchtig daran ge­dacht. Abhaydatta hatte gesagt, der Eremit sei der Einzige, der wisse, wie man Anands besondere Gabe entwickeln könne, über die niemand sonst in der Bruderschaft verfügte:

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seine Fähigkeit, sich mit magischen Objekten zu verstän­digen. Sie hatte es ihm ermöglicht, eine einzigartige Freund­schaft zu der Muschel aufzubauen, und mit ihrer Hilfe war es ihm gelungen, den magischen Spiegel zu finden, ohne den er niemals an den Hof des Nawab Najib gelangt wäre. Und wer weiß, mit wie vielen anderen magischen Objekten ihm der Einsiedler noch umzugehen beibringen würde? Bei die­ser Vorstellung machte sein Herz einen Luftsprung.

Abhaydatta lächelte wehmütig. »Freu dich nicht zu früh! Es ist ziemlich ungemütlich da oben in den Bergen, und der Eremit kann recht eigenwillig sein. Vielleicht bekommst du ihn auch gar nicht zu Gesicht. Aber ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen. Ich erkläre dir den Weg zu einer Höhle, die er ab und zu benutzt, und ich gebe dir ein paar Ge­schenke mit, die ihm gefallen werden. Du bekommst genug zu essen und zu trinken mit für drei Tage. Wenn er dann immer noch nicht zu dir gekommen ist, musst du zur Bruderschaft zurückkehren. Das ist wichtig! Wie du vorhin zweifellos ver­nommen hast« – erneut bedachte er Anand mit einem stren­gen Blick, so dass dieser unwillkürlich zusammen zuckte – »ist es gefährlich in den Bergen. Ich werde einen Schutzzauber um dich legen, aber er hält nur drei Tage. Danach bist du eine leichte Beute für die Mächte, die dort hausen.«

Anand wollte ihn nach diesen Mächten fragen, aber Abhay datta hob abwehrend die Hand. »Du darfst nieman­dem etwas von deiner bevorstehenden Reise erzählen. Junge Menschen können die Dinge manchmal nicht für sich behal­ten, auch wenn sie es gut meinen, und es könnte dann in die falschen Ohren gelangen.«

»Auch Nisha nicht?«, fragte Anand. Es behagte ihm gar nicht, seiner engsten Freundin und Vertrauten etwas so

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Wichtiges zu verheimlichen. Sie hatte an seinen Abenteuern teilgenommen, seit er sich als Zwölfjähriger in den Slums von Kolkata herumgedrückt und die verwaiste Straßenkeh­rerin kennengelernt hatte.

Abhaydatta schloss die Augen und überlegte einen Au­genblick lang. Dabei schossen seine Augäpfel unter den Li­dern hin und her, als würde er etwas lesen. »Ihr darfst du es sagen«, erklärte er schließlich, ohne einen Grund an­zugeben.

Schnell zeichnete er mit der Fingerspitze, die eine glit­zernde Spur auf dem Fußboden hinterließ, eine Karte des Weges, der Anand zu der Höhle bringen würde. Dann ließ er ihn vorsichtig das Passwort aussprechen, das er benutzen musste, um ins Tal zurückzugelangen, denn dessen Grenzen waren stets magisch gegen Eindringlinge versiegelt. Schließ­lich fuhr er fort, Anand die komplizierten Verhaltensvor­schriften zu erläutern, die beim Besuch eines Eremiten einzuhalten waren. Wie man sich vor ihm verbeugte, wie man ihn anredete, wie man ihm die Geschenke überreichte und welche Fragen man ihm unter gar keinen Umständen stellen durfte. Am Ende hatte Anand keine Gelegenheit mehr, seinen Lehrmeister nach den Gefahren zu fragen, die in den Bergen lauerten. Doch als er eilig zu seiner nächsten Unterrichtsstunde aufbrach, dachte er, dass das vielleicht auch besser war.

An diesem Abend sorgte Anand dafür, dass er beim Essen neben Nisha saß. Als er ihr leise von seiner bevorstehen­den Aufgabe erzählte, seufzte sie wehmütig und strich sich

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die widerspenstige Haarmähne zurück, die ihr Gesicht ein­rahmte.

»Da würde ich ja zu gern mitkommen! Aber Mutter Amita würde glatt der Schlag treffen, wenn ich sie fragen würde.«

Nisha übertrieb immer gern ein wenig. Doch in diesem Fall, dachte Anand, hatte sie wahrscheinlich sogar recht. Die Kräuterfrau, bei der Nisha in die Lehre ging und mit der sie in einer Hütte am Rand des Silbertals wohnte, war zunehmend strenger geworden, als Nisha älter wurde. Das ganze letzte Jahr über hatte Amita sie ständig im Auge behalten – vielleicht, weil Nisha das einzige Mädchen in der Bruderschaft war –, und sie durfte nur beim Unter­richt und beim Essen mit den anderen zusammen sein. Und kürzlich hatte sie sogar darauf bestanden, dass Nisha statt der Hosen mit Kittel, die alle Jungen trugen, einen unförmi­gen langen Rock anzog, mit einem Schal, der die Haare be­deckte. Anand wusste, dass es seiner freisinnigen Freundin nicht leicht fiel, sich solchen Einschränkungen zu beugen, aber sie fand sich damit ab, denn sie war froh, der Bruder­schaft anzugehören, der einzigen Familie, die sie je gehabt hatte.

»Na ja«, sagte sie jetzt, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Vielleicht macht Mutter Amita ja bald einen Ausflug in die Kräuterschlucht – wir haben kaum noch Brahmi­Wurzeln – und nimmt mich mit. Ich bin zu gern dort. Die Bäume haben ganz seltsame Formen, so dass sie aussehen wie alte Leute. Und die Vögel, die da nisten, haben keine Angst vor Men­schen. Sie kommen herabgeflogen und setzen sich auf deine Hand, wenn du sie rufst.« Plötzlich schien ihr eine Idee zu kommen, und sie sagte mit funkelnden Augen: »Vielleicht

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kann ich sie ja dazu bringen, dass sie mich allein gehen lässt! Das wäre doch spannend!«

Anand nickte, obwohl er bezweifelte, dass die argwöh­nische Kräuterfrau Nisha irgendwo allein hingehen lassen würde.

Nishas Augen verengten sich, als hätte sie seine Gedan­ken erraten. Das wunderte Anand nicht. Die beiden kann­ten sich so gut, dass sie häufig wussten, was der andere dachte. »Aber ich habe ja eine Geheimwaffe. Erinnerst du dich an den Kurs von Meister Somdatta vor einem Monat, in dem wir gelernt haben, unseren Willen auf andere zu über­tragen? Ich habe seitdem jeden Tag geübt.«

»Du willst das doch nicht etwa bei unseren Lehrern aus­probieren?«, sagte Anand erschrocken. Somdatta hatte extra betont, dass man diese vielschichtige Fertigkeit, bei der man seine Stimme auf eine ganz bestimmte Weise einsetzte, wäh­rend man sich auf die Herzregion des anderen konzentrierte, nur anwenden durfte, wenn man in Gefahr war.

»Immerhin«, sagte Nisha, die erneut seine Gedanken er­riet, »bin ich in Gefahr, vor Langeweile verrückt zu werden. Zählt das nicht auch?« Sie schmunzelte über seine miss­billigende Miene und tätschelte seine Hand. »Keine Bange! Ich versuch’s bloß einmal. Wenn es nicht funktioniert, be­gnüge ich mich eben damit, hinter Mutter Amita herzu­dackeln.«

Anand lächelte in Erinnerung daran, wie ungeduldig und eigenwillig Nisha gewesen war, als sie sich kennengelernt hatten. Und was für ein aufbrausendes Temperament sie ge­habt hatte! Es waren noch Überreste dieser Charaktereigen­schaften vorhanden, aber insgesamt war sie in den Jahren ihrer Zugehörigkeit zur Bruderschaft ziemlich erwachsen

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geworden. Er hoffte nur, dass man von ihm dasselbe be­haupten konnte, doch insgeheim war er skeptisch. Vielleicht fehlte ihm noch immer das Selbstvertrauen, so wie damals, als er noch Tellerwäscher in einem Teekiosk in den Straßen von Kolkata gewesen war und sich von seinem Brötchen­geber hatte herumschubsen und ohrfeigen lassen. Warum hätte ihn sonst beim Gedanken an seine Reise und an das Zögern des Oberheilers solche Beklommenheit befallen sol­len? Warum befürchtete er, dass er irgendwie einen schreck­lichen Fehler machen könnte?

Nach dem Abendessen ging Anand in den Saal der Visionen, um sich von der Muschel zu verabschieden. Als er eintrat, fiel das Licht der Sterne durch das transparente Geflecht der Kuppel und leuchtete ihm. In der Mitte des Saals ange­kommen, wo die Muschel in einem erlesenen lotusförmigen Schrein thronte, fühlte er sich schon bedeutend ruhiger, als er es den ganzen Tag über gewesen war.

Er hatte gehofft, dass der Saal leer wäre, aber wie immer hockten ein paar Leute hier und meditierten. Glücklicher­weise konnte er lautlos mit der Muschel reden und ihre Antworten hören – auch wenn das nicht ganz so befriedi­gend war. Er trat dicht an den Schrein und erzählte ihr von seiner bevorstehenden Reise, machte sich indessen nicht die Mühe, dabei ins Detail zu gehen, denn er wusste aus Er­fahrung, dass die Muschel ihre eigenen Möglichkeiten hatte, zu erfahren, was sie wissen wollte. Allerdings gestand er ihr – wenn auch etwas zögernd, denn sie konnte gelegentlich ziemlich sarkastisch sein – seine Bedenken.

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Diesmal antwortete sie ihm jedoch ungewöhnlich ernst­haft.

Es ist ganz normal, dass du Angst hast. Das würde selbst viel älteren Schülern so gehen bei der Vorstellung, drei Tage allein in den Bergen zu verbringen, denn sie sind ein uralter magischer Ort. Abhaydatta hat dich vor eine große He­rausforderung gestellt, aber das würde er nicht tun, wenn er es dir nicht zutrauen würde. Nun musst du es dir aber auch selbst zutrauen, denn dein Selbstvertrauen – und nicht der Zauber, den du hier lernst – ist die stärkste Waffe, die du be­sitzt.

Und wenn ich es nicht schaffe?, fragte Anand. Wenn der Eremit mich nicht mag oder nicht für wert hält, mit ihm zu reden?

Dann kann man eben nichts machen, nicht wahr? Aber das ist dann kein Versagen.

Nicht?Nein. Hör gut zu, denn schon bald wirst du das, was ich

dir jetzt sage, in die Tat umsetzen müssen. Wenn du den Mut verlierst vor dem, was auf dich zukommt, das ist Versagen. Wenn du es ernsthaft akzeptierst und tust, was nötig ist, das ist Erfolg. Und nun musst du dich ausruhen – aber bevor du gehst, darfst du mich noch einmal in die Hand nehmen, wenn du willst. Schließlich werden wir uns jetzt eine ganze Weile nicht sehen.

Anand war überrascht. Die Muschel äußerte nicht oft ihre Zuneigung. Dieses seltene Angebot würde er nicht aus­schlagen. Auch wenn er als ihr Hüter jeden Tag den Schrein saubermachen musste, fasste er die Muschel doch nur ein Mal im Jahr an, wenn sie ihr rituelles Bad erhielt. Dann öff­nete der Oberheiler vor einem ganzen Saal voller Leute den

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Schrein mit den erforderlichen Beschwörungsformeln. Das war eine feierliche Angelegenheit, aber keineswegs ein per­sönliches Erlebnis.

Er sah sich verstohlen um, ob ihn auch niemand be­obachtete, dann streckte er die Hand nach dem Schrein aus. Sobald seine Finger die gläserne Wand berührten, löste sie sich auf, um ihn hindurchzulassen. Vorsichtig nahm er die Muschel heraus und hielt sie sich an die Brust. Er spürte, wie sie an seinem Herzen pulsierte. Wie leicht und zerbrechlich sie wirkte! Wer hätte sich bei ihrem Anblick, der einer ganz gewöhnlichen Muschel glich, wie man sie an jedem Strand findet, etwas von ihrer Kraft träumen lassen? Auf einer Seite hatte sie einen Sprung. Als Anand mit dem Finger darü­berstrich, überkam ihn eine ungeheure Dankbarkeit – und Wehmut –, denn diese Wunde hatte sie davongetragen, als sie Anand vor dem Dschinn gerettet hatte.

Na, na, ließ sich die Muschel in ihrem üblichen spöt­tischen Tonfall vernehmen, nun werde mir bloß nicht rühr­selig.

Lächelnd legte er die Muschel an ihren Platz zurück. An der Tür aber fiel ihm noch etwas ein, und er blieb stehen und fragte: Was hast du eigentlich damit gemeint: Wir sehen uns eine ganze Weile nicht? Ich bin doch nur für drei Nächte fort.

Bildete er es sich nur ein, oder trat jetzt eine winzige Pause ein, bevor die Muschel ihm antwortete?

Willst du damit sagen, dass dir drei Nächte ohne mich nichts ausmachen? Jetzt bin ich aber beleidigt.