Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

270

description

cool

Transcript of Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

Page 1: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 1/270

Page 2: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 2/270

Agatha Christie 

Mord im

Orientexpreß

Scherz

Bern – München – Wien

Page 3: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 3/270

überarbeitete Fassung der einzig berechtigten Übertragungaus dem Englischen von Elisabeth van BebberTitel des Originals: »Murder on the Orient-Express«(Deutscher Titel der bisher nur in gekürzter Fassungerschienenen Ausgabe: »Der rote Kimono«)

1. Auflage 1993Copyright © 1933 by Agatha Christie

Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag Bern und MünchenGesamtherstellung: Ebner Ulm

Page 4: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 4/270

1

Es war fünf Uhr morgens. Im Bahnhof von Aleppo stand abfahrbereit der Zug, den die Kursbücher großspurig den Taurus-Express nennen und der sich aus einem Speisewagen, einemSchlafwagen und zwei einheimischen Waggons für den syrischen Lokalverkehr zusammensetzt.

Neben den Stufen, die zum Schlafwagen hinaufführten, unterhielt sich ein junger französischer Leutnant in prächtiger

Uniform mit einem vermummten kleinen Mann, von demnichts zu sehen war als eine rotgefrorene Nase und die zweiSpitzen eines aufgezwirbelten Schnurrbarts.

Die grimmige Kälte machte die Aufgabe, einem Fremden vonRang das Abschiedsgeleit zu geben, nicht beneidenswert, dochLeutnant Dubosc führte sie mannhaft aus. Seine Lippen drechselten elegante Sätze in wohlklingendem Französisch. Nicht,daß er genau wußte, um was es sich eigentlich handelte. Gewiß,es hatte Gerüchte gegeben, wie es in derartigen Fällen unaus

 bleiblich ist. Die Laune des Generals – seines Generals – hattesich von Tag zu Tag verschlechtert. Und dann tauchte dieserBelgier auf, offenbar aus England kommend. Hierauf eine Woche voll neugieriger Spannung. Und dann gerieten die Dinge inBewegung. Ein sehr begabter Offizier beging Selbstmord, einanderer nahm seinen Abschied, ängstliche Gesichter verlorenden Ausdruck der Angst, gewisse militärische Vorsichtsmaßregeln wurden gelockert. Und der General – Leutnant Duboscshöchsteigener General – sah plötzlich zehn Jahre jünger aus.

Zufällig hatte Dubosc eine Unterhaltung zwischen dem General und dem Fremden teilweise erlauscht. »Sie haben uns gerettet, mon cher« , beteuerte der General bewegt, wobei sein weißer

Page 5: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 5/270

Schnurrbart zitterte. »Sie haben die Ehre der französischen Armee gerettet – haben viel Blutvergießen verhindert. Wie kannich Ihnen danken, daß Sie unbekümmert um die Strapazen der

weiten Reise meiner Bitte nachkamen?«Der Fremde – sein Name lautete Hercule Poirot – hatte etwas

Passendes erwidert und hinzugefügt: »Meinen Sie, mon général,

ich hätte vergessen, daß Sie mir einst das Leben retteten?« Höflich leugnete der hohe Offizier jeden in der Vergangenheit erwiesenen Dienst ab. Es folgten noch ein paar gegenseitige Bemerkungen über Frankreichs und Belgiens Ruhm, Ehre undandere Vorzüge, dann war das Gespräch beendet.

Wie gesagt – um was es eigentlich ging, wußte Leutnant Du bosc nicht. Er bekam jedoch den Auftrag, M. Poirot um fünfUhr früh zum Taurus-Express zu begleiten, und er führte diesen Auftrag mit dem Eifer aus, der sich für einen jungen, vielversprechenden Offizier schickt.

»Heute ist Sonntag«, sagte Leutnant Dubosc. »Morgen abendsind Sie in Istanbul.«

Nicht zum erstenmal ließ er diese Bemerkung fallen, Unterhaltungen auf dem Bahnsteig, vor Abfahrt des Zuges, sind selten frei von Wiederholungen.

»Ganz recht«, entgegnete Monsieur Poirot.

»Und dort wollen Sie ein paar Tage bleiben?«

» Mais oui, in Istanbul war ich noch nie. Es wäre doch ein Jammer, wenn ich nur durchfahren würde – so.« Bei diesem»So« schnippte er mit den Fingern. »Nichts drängt mich, unddaher werde ich mich als schlichter Vergnügungsreisender einpaar Tage dort umschauen.«

»Die Hagia Sophia ist sehr schön«, erklärte der junge Franzo

se, obwohl er das Bauwerk nie gesehen hatte.

Page 6: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 6/270

Ein eisiger Wind pfiff über den Bahnsteig. Die beiden Männerfröstelten. Dem Leutnant glückte es, einen verstohlenen Blickauf seine Uhr zu werfen. Fünf Minuten vor fünf – also nur noch

fünf Minuten! Aber da er glaubte, daß der kleine Belgier denBlick bemerkt hatte, sprudelte er einen neuen Satz hervor.

»Um diese Jahreszeit reisen nur wenige Menschen.« 

Dabei betrachtete er die Fenster des Schlafwagens.

»So ist es.« 

»Hoffen wir, daß Sie im Taurus nicht einschneien!«

»Kommt das vor?«»Bisweilen. Dieses Jahr allerdings noch nicht.« 

»Hoffen wir also das Beste.« Poirot lächelte. »Die Wetterberichte aus Europa sind freilich schlecht.«

»Schlecht. Besonders vom Balkan wird Schneefall gemeldet.«

»Aus Deutschland auch, habe ich gehört.«

»Eh bien« , sagte Leutnant Dubosc hastig, als eine neue Pausezu drohen schien. »Morgen abend um sieben Uhr fünfzig sindSie in Istanbul.«

»Ja«, bestätigte Hercule Poirot und fuhr verzweifelt fort: »La

Sainte Sophie – man schwärmt allgemein von ihr.«

»Ja, sie ist prächtig!«

Über ihren Köpfen wurde der Vorhang eines Schlafwagenfensters zur Seite gezogen, und eine junge Dame spähte heraus.

Mary Debenham hatte seit ihrer am Donnerstag erfolgten Abreise aus Bagdad wenig geschlafen. Weder im Zug nach Kirkuknoch während der Übernachtung in Mosul oder der letztenNacht in der Eisenbahn. Da sie es satt hatte, in der heißenSchwüle ihres überhitzten Abteils wach an die Decke zu star

ren, stand sie auf und schaute aus dem Fenster.

Page 7: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 7/270

Das mußte Aleppo sein. Natürlich sah man nichts. Nur einenlangen, kärglich beleuchteten Bahnsteig, auf dem irgendwo einwütender, lauter arabischer Wortwechsel stattfand. Unter ih

rem Fenster unterhielten sich zwei Herren auf französisch, einfranzösischer Offizier und ein kleiner Zivilist mit gewaltigemSchnurrbart. Mary lächelte malt. Noch nie hatte sie einen sofestvermummten Menschen gesehen! Vermutlich war esschneidend kalt draußen, deshalb heizte man den Zug auch soübermäßig. Sie versuchte, das Fenster einen Spalt herunterzulassen, aber es klemmte.

 Jetzt trat der Schlafwagenkondukteur zu den beiden Herren.Der Zug führe gleich ab, und Monsieur täte gut daran einzusteigen, mahnte er. Der Kleine lüftete den Hut. Was für einendrolligen, eiförmigen Kopf er hatte! Überhaupt ein komischerkleiner Mann, den sicher niemand ernst nahm. Mary Debenham mußte unwillkürlich lächeln, obwohl ihr eigentlich nichtdanach zumute war.

Leutnant Dubosc schickte sich an, die Abschiedsworte vomStapel zu lassen, die er sich lange vorher zurechtgelegt hatte.Eine sehr schöne, schwungvolle Rede.

Um nicht zurückzustehen, erwiderte Monsieur Poirot in dergleichen Form.

»En voiture, Monsieur!« drängte der Schlafwagenbeamte.

Mit der Miene offensichtlichen Widerstrebens erkletterte derBelgier die Stufen. Der Schaffner folgte ihm. M. Poirot winktemit der Hand, Leutnant Dubosc legte salutierend die Rechte andie Mütze. Mit einem schrecklichen Ruck setzte sich der Zuglangsam in Bewegung.

»Enfin!« murmelte Hercule Poirot.

»Brrrrr«, stieß Leutnant Dubosc hervor, der plötzlich merkte,wie eisig kalt es war.

Page 8: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 8/270

»Voilà, Monsieur.« Mit einer dramatischen Geste machte derSchaffner Poirot darauf aufmerksam, mit welchen Bequemlichkeiten sein Schlafwagenabteil ausgestattet und wie ordentlich

das Gepäck gestapelt war. »Die kleine Tasche von Monsieurhabe ich dort untergebracht.«

Seine ausgestreckte Hand war nicht mißzuverstehen, so daßder neue Reisende ihr auf jeden Fall eine gefaltete Banknoteanvertraute.

» Merci, Monsieur!« Jetzt wurde der Mann kurz und sachlich.

»Die Fahrkarten habe ich bereits, wenn ich auch noch um denPaß bitten dürfte? Monsieur unterbricht, wie ich hörte, seineReise in Istanbul?«

Hercule Poirot bejahte und fügte hinzu: »Ziemlich leer derZug, wie?«

»Ja. Ich habe nur zwei Passagiere – beides Engländer. Ein O berst aus Indien und eine junge Dame aus Bagdad. Wünscht

Monsieur irgend etwas?«Monsieur wünschte eine Flasche Perrier.

Fünf Uhr morgens ist für den Antritt einer Reise eine sehr unangenehme Zeit. Zwei Stunden noch, ehe sich die erste Ahnungder Morgendämmerung bemerkbar machen würde. Und mitdem Gedanken an eine unzulängliche Nachtruhe und einenerfolgreich durchgeführten heiklen Auftrag lehnte sich Poirot in

eine Ecke und schlief ein.Als er aufwachte, war es halb zehn, und er machte sich auf

den Weg zum Speisewagen, um Kaffee zu trinken.

Dort saß im Moment nur eine einzige Person, offenbar die junge Engländerin, die der Schaffner erwähnt hatte. Groß,schlank und dunkel war sie und etwa achtundzwanzig Jahre

alt. Eine gewisse kühle Ungezwungenheit in ihrer ganzen Art –

Page 9: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 9/270

zum Beispiel als sie den Kellner bat, ihr noch Kaffee zu bringen,verriet, daß sie weltgewandt und des Reisens nicht ungewohntwar. Sie trug ein dunkles Kleid aus einem dünnen Gewebe,, der

heißen Temperatur des Zuges angemessen.Poirot, der nichts Besseres zu tun hatte, vergnügte sich damit,

sie zu studieren, ohne daß es auffiel.

Sie war, so urteilte er, eine junge Frau, die sich – wo immer sieauch sein mochte – mit großer Selbstsicherheit allein zurechtfand. Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit gehörten fraglos zu ihren

Tugenden. Poirot gefiel die strenge Regelmäßigkeit ihrer Zügeund das zarte Weiß ihres Teints; ihm gefielen auch das glänzende, leichtgewellte schwarze Haar und die Augen, kühl, unpersönlich und grau. Aber für Poirots Geschmack wirkte sie einwenig zu tüchtig, um eine jolie femme zu sein.

 Jetzt betrat ein anderer Reisender den Speisewagen. Ein großer Mann zwischen vierzig und fünfzig, mit hagerem Gesicht,

 brauner Haut und dichtem Haar, das an den Schläfen zu ergrauen begann.

Der Oberst aus Indien, sagte Hercule Poirot zu sich selbst.

»Guten Morgen, Miss Debenham«, grüßte der neue Gast undverbeugte sich leicht vor der jungen Dame.

»Guten Morgen, Oberst Arbuthnot.«

Er legte die Hand auf den Stuhl ihr gegenüber.

»Sie gestatten?«

»Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Nun ja, manche Leute frühstücken lieber allein, weil sie umdiese Zeit noch nicht besonders gesprächig sind.«

»Das bin ich auch nicht. Aber ich verspreche, nicht zu beißen.«

Page 10: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 10/270

»Kellner!« rief der Oberst in befehlsgewohntem Ton, währender sich niederließ. Er bestellte Eier und Kaffee.

Für eine Sekunde ruhte sein Blick auf Hercule Poirot undschweifte dann sofort gleichgültig weiter. Poirot, der in derenglischen Seele zu lesen verstand, wußte, daß das Urteil hieß:»Nur irgendein verdammter Ausländer!«

Ihrem Nationalcharakter getreu, waren die Briten nicht gesprächig. Sie wechselten ein paar kurze Bemerkungen, aber

 bald erhob sich das junge Mädchen und ging zu seinem Abteil

zurück. Zum Lunch saßen die beiden wieder am selben Tisch,und wieder schenkten sie dem dritten Reisenden keinerlei Beachtung. Sie unterhielten sich lebhafter als beim Frühstück. O

 berst Arbuthnot erzählte vom Pandschab und stellte Miss De benham hin und wieder eine Frage über Bagdad, wo sie Erzieherin gewesen war. Im Laufe des Gesprächs entdeckten sie einige gemeinsame Freunde, was sofort bewirkte, daß sie sich

weniger steif und zurückhaltend gaben. Ziemlich ausführlich beschäftigten sie sich mit einem gewissen Tommy Smith undeinem Jerry Miller. Hierauf erkundigte sich der Oberst, ob sie

 bis England durchfahre oder die Fahrt in Istanbul unterbreche.

»Nein, ich fahre direkt.«

»Ist das nicht schade?«

»Ich habe vor zwei Jahren dieselbe Reise gemacht und Istan

 bul damals drei Tage gewidmet.«»Ah, das ist freilich etwas anderes. Im übrigen freut es mich,

daß Sie ohne Unterbrechung Weiterreisen, weil ich es ebenfallstue.« Er verbeugte sich ein wenig linkisch und wurde rot.

Schau, schau! dachte Hercule Poirot vergnügt. Er ist für weibliche Reize empfänglich, unser Oberst. Eine Zugfahrt birgt dieselben Gefahren wie eine Seereise.

Page 11: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 11/270

Miss Debenham erwiderte, das sei sehr nett, doch es klangetwas bedrückt.

Als sie mit dem Essen fertig waren, begleitete der Oberst siezu ihrem Abteil zurück. Nicht viel später glitt vor den Fensterndie ungeheuer eindrucksvolle Szenerie des Taurus vorüber,und die beiden standen Seite an Seite im Gang.

»Es ist so wunderschön!« hörte Poirot, der gleichfalls dieLandschaft bewunderte, Mary Debenham leise sagen. »Ichwollte – ich wollte…«

»Ja?«»Ich wollte, ich könnte es genießen!«

Arbuthnot antwortete nicht sofort. Die viereckige Linie seinesKiefers schien noch ein wenig grimmiger und härter zu werden. »Bei Gott, ich wünschte, Sie wären aus allem heraus!«

»Pst! Pst!«

»Oh, schon gut!« Er warf einen leicht verärgerten Blick in Poirots Richtung. »Mich wurmt der Gedanke, daß Sie sich als Erzieherin plagen müssen und den Launen tyrannischer Mütterund ihrer unangenehmen Bälger ausgeliefert sind.«

Sie lachte auf. Es klang eine Spur unbeherrscht.

»Unsinn! Das Märchen von der mit Füßen getretenen Gouvernante hat sich längst überlebt. Ich kann Ihnen versichern,

daß die Eltern meiner Zöglinge eher fürchten, von mir tyrannisiert zu werden.«

Sie schwiegen. Vielleicht schämte sich Arbuthnot seines Aus bruchs.

Poirot, der unfreiwillige Lauscher, sagte nachdenklich zu sich:Das ist ja eine sonderbare kleine Komödie, die ich da beobachte.Später sollte er sich dieses Gedankens erinnern…

Page 12: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 12/270

Gegen halb zwölf Uhr nachts kamen sie in Konya an. Die beiden Engländer spazierten, um sich ein wenig die Beine zu vertreten, auf dem verschneiten Bahnsteig auf und ab. Hercule

Poirot begnügte sich zunächst damit, das Gewimmel auf derStation durch die Fensterscheibe zu beobachten. Nach zehnMinuten entschied er jedoch, daß ein Atemzug frischer Luftnichts schaden könne. Er traf hierzu sorgfältige Vorbereitungen, hüllte sich in mehrere Mäntel und Wollschals, zwängteseine blitzblanken Schuhe in Galoschen und kletterte derartausstaffiert bedächtig ins Freie. Langsam ging er den Bahnsteig

entlang, noch über die Lokomotive hinaus.Es waren ihre Stimmen, die ihm sagten, wer die beiden un

deutlichen Gestalten waren, die im Schatten eines Güterwagensstanden.

»Mary«, bat Oberst Arbuthnot.

Aber das Mädchen unterbrach ihn. »Nein, nicht jetzt. Nicht

 jetzt. Wenn alles vorbei ist. Wenn es hinter uns liegt, dann…«Diskret machte Poirot kehrt, aufs höchste erstaunt. Er hatte

Miss Debenhams kühle, beherrschte Stimme kaum wiedererkannt. »Seltsam«, murmelte er.

Am nächsten Tag fragte er sich, ob sich die beiden vielleichtgestritten hatten. Sie sprachen wenig miteinander, und Maryhatte dunkle Ringe unter den Augen.

Nachmittags um halb drei hielt der Zug plötzlich an. Aus allen Fenstern wurden Köpfe rausgestreckt. Neben dem Schienenstrang sammelten sich ein paar Männer, die auf irgend etwas unter dem Speisewagen wiesen.

Poirot lehnte sich hinaus und wechselte ein paar Worte mitdem Schlafwagenschaffner, der gerade vorübereilte. Als Poirotden Kopf zurückzog und sich umwandte, prallte er beinahegegen Miss Debenham.

Page 13: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 13/270

»Was gibt’s?« fragte sie ziemlich atemlos auf französisch.

»Nichts Gefährliches, Mademoiselle. Irgend etwas unter demSpeisewagen hat Feuer gefangen. Man hat es bereits gelöschtund repariert den Schaden. Es besteht keinerlei Gefahr mehr.«

Sie fuhr ungeduldig mit der Hand durch die Luft, als schiebesie den Gedanken an Gefahr als gänzlich nebensächlich beiseite.»Ja, ja, ich verstehe. Aber die Zeit!«

»Die Zeit?«

»Wir werden uns verspäten.«

»Das ist allerdings möglich«, gab Poirot zu.»Aber wir können uns keine Verspätung erlauben. Dieser Zug

trifft fahrplanmäßig abends um 6.55 Uhr ein, und man muß denBosporus überqueren und um neun Uhr den Simplon-Orient-Expreß nehmen. Wenn wir eine Stunde oder zwei hier vertrödeln, verpassen wir den Anschluß.«

»Das ist möglich«, wiederholte er und musterte sie neugierig.Ihre Hand, die das Fensterkreuz umklammerte, bewegte sichunruhig, und ihre Lippen zitterten.

»Ist es denn für Sie so wichtig, Mademoiselle?« fragte er.

»Ja. Ungemein. Ich muß jenen Zug erreichen.« Sie ließ Poirotstehen und ging zu Oberst Arbuthnot.

Ihre Angst war jedoch überflüssig. Zehn Minuten später ging

die Fahrt weiter. Mit nur fünf Minuten Verspätung lief der Zugin Haydapassar ein, nachdem er die übrige Zeit im Laufe desNachmittags wieder eingeholt hatte.

Im Bosporus war rauhe See, so daß Monsieur Poirot sich während der Überfahrt höchst unbehaglich fühlte. Von seinen Reisegefährten wurde er auf dem Dampfer getrennt und bekam sienicht wieder zu Gesicht. Und als die Fähre an der Galatabrücke

Page 14: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 14/270

anlegte, fuhr der kleine Belgier schnurstracks zum »TokatlianHotel«.

Page 15: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 15/270

2

Er verlangte ein Zimmer mit Bad und erkundigte sich, ob Postfür ihn eingetroffen sei.

»Ja, drei Briefe. Und außerdem ein Telegramm.«

Poirots Augenbrauen zogen sich ein wenig in die Höhe – einTelegramm hatte er nicht erwartet. Trotzdem öffnete er es inder ihm eigenen gemessenen Art.

»Entwicklung, die Sie im Fall Kassner voraussagten, unerwartet schnell eingetreten. Bitte sofort zurückkehren.«

» Ah, c’est embêtant!« murmelte Hercule Poirot verdrießlich. Er blickte auf die Uhr und wandte sich an den Portier: »Ich mußnoch heute Weiterreisen. Um wieviel Uhr fährt der Simplonab?«

»Um neun, Monsieur.«

»Können Sie mir einen Schlafwagenplatz besorgen?«»Sicher, Monsieur. Um diese Jahreszeit ist das nicht schwer.

Der Zug ist fast leer. Erste oder zweite Klasse?«

»Erste.«

» Très bien, Monsieur. Wie weit?«

»Nach London.«

»Dann werde ich Ihnen eine Fahrkarte bis London besorgenund ein Abteil in dem Istanbul-Calais-Waggon reservieren lassen.« Wieder befragte Poirot seine Uhr. Zehn Minuten vor acht.

»Habe ich noch Zeit zu Abend zu essen?«

»Aber gewiss, Monsieur.«

Page 16: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 16/270

Der kleine Belgier nickte, widerrief seine Zimmerbestellungund ging in den Speisesaal. Während er mit dem Kellnersprach, legte sich eine Hand auf seine Schulter.

»Ah, mon vieux, das nenne ich ein unerwartetes Vergnügen!«sagte eine Stimme hinter ihm. Der Sprecher war ein älterer, untersetzter Herr, der das Haar bürstenartig geschnitten trug. Poirot sprang auf.

»Monsieur Bouc!«

»Ja, ja, ich bin’s, Monsieur Poirot.«

M. Bouc war Belgier und einer der Direktoren der Internationalen Schlafwagengesellschaft. Poirot, den ehemaligen Star der

 belgischen Kriminalpolizei, kannte er schon seit Jahren.

»Sie sind ja ziemlich weit weg von daheim, mon cher.« M.Bouc lächelte seinen Landsmann an.

»Eine kleine Angelegenheit in Syrien.«

»Ah! Und jetzt sind Sie auf der Rückreise?«»Ja. Heute abend fahre ich.«

»Famos! Ich ebenfalls. Das heißt, ich fahre bis Lausanne, woich zu tun habe. Vermutlich benutzen Sie den Simplon-Expreß?«

»Ja, ich habe den Portier eben gebeten, mir ein Schlafwagenabteil reservieren zu lassen. Eigentlich war es meine Absicht,

hier ein paar Tage herumzubummeln, doch ich erhielt aus England ein Telegramm, das meine sofortige Weiterreise erforderlich macht.«

»Ah, les affaires – les affaires!« M. Bouc seufzte. »Aber Sie haben ja inzwischen den Gipfel der Berühmtheit erklommen, mon

vieux.«

Page 17: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 17/270

»Nun, ein paar kleine Erfolge hatte ich zu verzeichnen.« Hercule Poirot gab sich alle Mühe, bescheiden auszusehen, wasihm gründlich mißlang.

Bouc lachte.

»Wir sehen uns später wieder«, sagte er und ging. Der kleineDetektiv widmete sich nun der Aufgabe, seinen Schnurrbartnicht allzuoft im Suppenteller zu baden. Nachdem diesesschwierige Werk vollbracht war, hielt er, auf den nächstenGang wartend, im Speisesaal Ausschau. Es saß nur etwa ein

halbes Dutzend Gäste an den Tischen, und von diesem halbenDutzend interessierten Hercule lediglich zwei Herren.

Sie saßen nicht weit von ihm entfernt. Doch nicht der jüngere,ein sympathischer Dreißigjähriger, offenbar ein Amerikaner,hatte Poirots Aufmerksamkeit erregt, sondern sein Gefährte, einMann zwischen sechzig und siebzig. Von weitem gesehen glicher einem abgeklärten Philanthropen. Der schon ein wenig kahle

Kopf, die gewölbte Stirn, der Mund, der beim Lächeln ein sehrweißes falsches Gebiß entblößte, schienen auf eine liebenswürdige Persönlichkeit schließen zu lassen. Nur die Augen straftendiesen Eindruck Lügen, kleine, tiefliegende, listige Augen. Undnicht nur das. Als sich der Fremde nach einer an seinen jungenBegleiter gerichteten Bemerkung im Speisesaal umsah, bliebenseine Augen sekundenlang an Poirot haften, und während die

ser einen Sekunde glitzerte eine sonderbare Bösartigkeit, eineunnatürliche Spannung in ihnen. Gleich darauf erhob er sich.

»Begleichen Sie die Rechnung, Hector«, sagte er.

Seine Stimme klang leicht heiser, war gleichzeitig jedoch voneiner merkwürdigen, gefährlichen Sanftheit.

Als Poirot mit seinem belgischen Freund in der Halle wiederzusammentraf, verließ das ungleiche Paar gerade das Hotel. Ihr

Page 18: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 18/270

Gepäck wurde unter Aufsicht des Jüngeren nach draußen geschafft. Kurz darauf öffnete er die Glastür und verkündete:

»Alles fertig, Mr. Ratchett.«

Der Ältere knurrte etwas und stelzte hinaus.

»Eh bien« , meinte Poirot, »was halten Sie von den beiden?«

»Es sind Amerikaner.«

»Fraglos sind es Amerikaner. Ich wollte wissen, was Sie vonihnen als Menschen halten.«

»Der junge Mann gefiel mir ganz gut.«

»Und der andere?«

»Offen gestanden – er war mir nicht besonders sympathisch.Geht es Ihnen ebenso?«

Hercule Poirot zögerte mit der Antwort.

»Als er im Restaurant an mir vorbeiging«, erwiderte er endlich, »hatte ich einen merkwürdigen Eindruck. Es war. als sei

ein wildes Tier, ein wildes, grausames Tier, an mir vorübergegangen.«

»Und dennoch sieht er durchaus redlich und achtbar aus.«

»Ganz gewiß! Der Körper, die Hülle – ich möchte sagen: derKäfig – wirkt absolut achtbar, aber durch die Stäbe sieht einendas wilde Tier an.«

»Sie haben Phantasie, mon vieux« , sagte M. Bouc.»Vielleicht. Doch ich konnte mich des Eindrucks nicht erweh

ren, daß das Böse dicht an mir vorbeistrich.«

»In Gestalt dieses respektablen Amerikaners?«

»In Gestalt dieses respektablen Amerikaners.«

»Nun, mag schon sein, es gibt ja allerhand Böses in der Welt«,meinte M. Bouc fröhlich.

Page 19: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 19/270

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Portierkam auf die beiden Belgier zu – ziemlich verlegen und betreten.

»Es ist kaum zu glauben, Monsieur«, wandte er sich an Poirot,»aber es sind sämtliche Schlafwagenabteile erster Klasse im Zug

 besetzt.«

»Comment?« rief M. Bouc dazwischen. »Um diese Jahreszeit?Ah, da reist sicher eine Gruppe von Journalisten oder Politikern…«

»Keine Ahnung, Sir«, versicherte der Portier. »Ich kann Ihnen

nur die bedauerliche Tatsache melden.«»Schon gut.« M. Bouc klopfte Poirot auf die Schulter. »Lassen

Sie den Kopf nicht hängen, alter Freund. Ich weiß schon einenAusweg. Es gibt immer ein Abteil – Nr. 10 –, das der Schaffnerfrei hält!« Er lächelte vielsagend und fuhr nach einem Blick aufdie Uhr fort: »Kommen Sie, es ist Zeit, daß wir aufbrechen.«

Auf dem Bahnhof wurde M. Bouc mit dienstwilligem Eifer

von dem braununiformierten Schlafwagenschaffner begrüßt.»Sie haben Abteil Nr. 1, Monsieur.« Er winkte den Trägern, diedas Gepäck auf zweirädrigen Karren zur Waggontür schoben.Eine Metalltafel an der Außenwand des Waggons nannte diedrei wichtigsten Zielbahnhöfe des Zuges:

ISTANBUL TRIEST CALAIS

»Ich höre, Sie sind voll besetzt?«

»Es ist unglaublich, Monsieur. Heute abend scheint die ganzeWelt vom Reisefieber gepackt.«

»Einerlei – Sie müssen für meinen Freund hier Platz schaffen.Geben Sie ihm Abteil Nr. 16.«

»Es ist bereits belegt, Monsieur.«

Page 20: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 20/270

»Was? Die Nr. 16?«

Der Direktor und sein Untergebener tauschten einen verständnisvollen Blick, und der Schaffner, ein großer, blasserMann mittleren Alters, lächelte.

»Ja, auch die Nr. 16«, beteuerte er. »Wie gesagt, wir sind voll besetzt, bis in den letzten Winkel.«

»Aber was ist denn los?« fragte Bouc verärgert. »Findet irgendwo eine Konferenz statt? Oder handelt es sich um einegeschlossene Gesellschaft?«

»Nein, Monsieur. Es ist reiner Zufall. Es hat sich einfach soergeben, daß alle Leute ausgerechnet heute nacht reisen wollen.«

M. Bouc ließ ein ärgerliches Schnalzen hören.

»In Belgrad stößt ja der Schlafwagen von Athen zu uns undnachher auch der Wagen Bukarest-Paris, doch wir erreichenBelgrad erst morgen gegen Abend. Was machen wir also heutenacht? Haben Sie denn ein Abteil in der zweiten Klasse frei?«

»Ja, Monsieur. Das heißt, kein ganzes Abteil, sondern nurnoch ein Bett. Im anderen schläft eine Frau – die Zofe einer mitreisenden Dame.«

»Verfluchtes Pech!« machte M. Bouc seinem Ärger Luft.

 Jetzt mischte Poirot sich beschwichtigend ein.

»Regen Sie sich nicht auf, mon ami. Ich werde dann eben in einem gewöhnlichen Wagen die Nacht verbringen.«

»Nein, nein, davon kann keine Rede sein.« Wiederum wandteer sich an den Kondukteur. »Haben sich schon alle Reisendeneingefunden?«

»Einer fehlt noch, Bett Nr. 7 zweiter Klasse. Der Inhaber istein Engländer, Mr. Harris.«

Page 21: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 21/270

»Bringen Sie Monsieur Poirots Gepäck in Nr. 7 unter«, entschied M. Bouc. »Wenn dieser Mr. Harris erscheint, werden wirihm sagen, daß er zu spät kommt, daß die Betten nicht bis zur

allerletzten Minute reserviert werden können – oder irgendetwas Ähnliches. Was kümmert mich schließlich irgendein beliebiger Mr. Harris?«

»Wie Monsieur wünscht«, erwiderte der Schaffner. Er drehtesich um und sagte Poirots Träger, wohin er das Gepäck bringensollte. Dann trat er beiseite, damit der kleine Belgier einsteigenkonnte. »Tout à fait, au bout, Monsieur« , rief er. »Es ist das vorletzte Abteil.«

Hercule Poirot schob sich durch den schmalen Gang, wasnicht einfach war, da die meisten Reisenden vor ihren Abteilenstanden. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks murmelte erein höfliches »Pardon« und gelangte endlich ans Ziel, wo er dengroßen jungen Amerikaner aus dem »Tokatlian Hotel« antraf.

Der runzelte die Stirn, als Poirot eintrat.»Verzeihung«, meinte er. »Ich glaube, Sie irren sich.« Dann

setzte er in unbeholfenem Französisch hinzu: » Je crois, que vous

avez un erreur.«

Der kleine Detektiv entgegnete auf englisch:

»Sind Sie Mr. Harris?«

»Nein. Mein Name ist MacQueen. Ich…«

Doch da sagte der Schlafwagenkondukteur über PoirotsSchulter hinweg mit um Entschuldigung bittender, ziemlichatemloser Stimme:

»Es ist kein anderes Bett im Zug mehr frei, Monsieur. DerHerr muß hier untergebracht werden.«

Er schloß das Gangfenster, während er sprach, und schleppte

dann Poirots Gepäck herein.

Page 22: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 22/270

Poirot hörte diese Entschuldigung mit stillem Vergnügen.Zweifellos war dem Mann ein gutes Trinkgeld versprochenworden, wenn er das Abteil ausschließlich dem anderen Rei

senden zur Verfügung stellte. Doch selbst die freigebigstenTrinkgelder verlieren ihre Wirkung, wenn ein Direktor derSchlafwagengesellschaft im Zug mitreist und »Wünsche« äußert.

»Voilà, Monsieur, jetzt ist alles untergebracht«, sagte derSchaffner, während er den letzten Handkoffer mit einemSchwung im Netz verstaute. »Ihnen gehört das obere Bett, Nr.7. In einer Minute fahren wir ab.«

Und schon war er auf und davon.

»Ein Schlafwagenkondukteur, der sich herbeiläßt, eigenhändig die Gepäckstücke an Ort und Stelle zu legen – bei Gott, dasist ein Phänomen!« sagte Hercule Poirot schmunzelnd.

Sein Reisegefährte lächelte. Offenbar hatte er seinen Ärger

überwunden und eingesehen, daß es das beste war, sich mitphilosophischer Ruhe in das Unabwendbare zu schicken. »DerZug ist ungewöhnlich voll«, fügte er hinzu.

Ein Pfiff, dann ein langer, melancholischer Schrei der Lokomotive. Beide Herren traten in den Gang hinaus.

»En voiture!« rief draußen eine Stimme.

»Wir fahren ab«, sagte MacQueen.

Aber sie fuhren noch nicht ab. Zum zweitenmal schrillte diePfeife.

»Wenn Sie lieber das untere Bett haben wollen, Sir«, begannder junge Amerikaner plötzlich, »ich stelle es Ihnen gern zurVerfügung.«

Poirot streifte den Sprecher mit einem wohlwollenden Blick.

Ein sympathischer junger Mann.

Page 23: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 23/270

»Nein, nein, ich möchte Sie keinesfalls berauben«, wehrte erab. »Nicht der Rede wert…«

»Sie sind zu liebenswürdig…«

Weitere höfliche Proteste auf beiden Seiten.

»Es handelt sich ja nur um eine Nacht«, erläuterte HerculePoirot. »In Belgrad…«

»Ah, ich verstehe! Sie steigen schon in Belgrad aus.«

»Das freilich nicht. Indes…«

Es gab einen heftigen Ruck. Beide, der hochgewachsene Amerikaner und der kleine Belgier steckten den Kopf zum Fensterhinaus und sahen den langen, hellerleuchteten Bahnsteig ansich vorübergleiten. Der Orientexpreß hatte seine dreitägigeFahrt durch Europa begonnen.

Page 24: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 24/270

3

Erst ziemlich spät fand sich Hercule Poirot am nächsten Tagzum Lunch im Speisewagen ein. Er war früh aufgestanden,hatte beinahe allein gefrühstückt und dann die Vormittagsstunden damit zugebracht, die Notizen über den Fall durchzugehen, der ihn nach London zurückrief. Seinen Reisegefährtenhatte er kaum gesehen.

M. Bouc begrüßte seinen Landsmann mit lebhaftem Winken

und deutete auf den leeren Platz an seinem Tischchen, das, wiePoirot bald merkte, vom Kellner zuerst und mit besondererZuvorkommenheit versorgt wurde. Das Essen war erstaunlichgut.

Erst als sie einen delikaten Sahnekäse aßen, schenkte M. Boucseine Aufmerksamkeit etwas anderem als der Mahlzeit. Aberein zufriedener Magen macht eben mitteilsam.

»Ah, wenn ich doch die Feder eines Balzac hätte!« sagte erseufzend. »Wie sollte ich diese Szene beschreiben! Sehen Sie,mon ami, um uns herum sitzen Leute aller Klassen, aller Nationen. Leute jeden Alters. Für drei Tage sind diese einander völlig Fremden zusammengepfercht. Sie schlafen und essen unterdemselben Dach, sie können einander nicht ausweichen. Nach

Ablauf dieser drei Tage jedoch trennen sie sich, zerstreuen sichin alle Winde, gehen ihren verschiedenen Geschäften nach undsehen sich nie wieder.«

»Und dennoch – nehmen wir an, es geschähe ein Unglück«, begann Poirot.

»Gewiß, es wäre bedauerlich. Aber trotzdem wollen wir eseinmal annehmen. Dann sind alle diese Menschen zusammen

gekettet durch den Tod.«

Page 25: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 25/270

»Noch etwas Wein«, lenkte M. Bouc ab. »Das sind ja krankhafte Einfälle, mein Lieber. Macht Ihnen vielleicht die Verdauung zu schaffen?«

»Kann sein, daß die Ernährung in Syrien meinem Magennicht ganz behagte«, gab Poirot zu. Langsam nippte er an seinem Glas, und seine klugen Augen betrachteten interessiert dieübrigen Gäste des Speisewagens. Dreizehn Personen waren es,und, wie M. Bouc sehr richtig geäußert hatte, waren alle Klassen und Nationen vertreten.

Am Tisch gegenüber saßen drei Männer. Einzelreisende. DerSpeisewagenkellner mochte sie mit sicherem und unfehlbaremUrteil abgeschätzt und dann zu dieser Runde vereinigt haben.Ein dicker dunkler Italiener stocherte mit wahrer Wollust inseinen Zähnen. Der magere, saubere Engländer, ihm gegenüber, hatte das ausdruckslose Gesicht des wohlerzogenen Dieners, und neben ihm redete laut und ausdauernd ein stämmiger

Amerikaner – möglicherweise ein Handelsreisender.»Man muß es nur gründlich besorgen«, trompetete er mit tiefer, nasaler Stimme.

Der Italiener fuchtelte mit seinem Zahnstocher in der Luftherum.

»Sicherlich«, stimmte er zu. »Das habe ich ja die ganze Zeitgesagt.«

Der Engländer schaute zum Fenster hinaus und hüstelte. Poirots Blicke wanderten weiter.

Kerzengerade saß an einem kleinen Tisch eine der häßlichstenalten Damen, die er je gesehen hatte. Allerdings war es eineHäßlichkeit, die sich mit Vornehmheit paarte. Sie war nichtabstoßend, sondern eher faszinierend. Die Dame trug ein Kollier aus unglaublich großen Perlen, die – was noch unglaublicher schien – tatsächlich echt waren. Die Ringe an ihren Fingern

Page 26: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 26/270

stellten ein Vermögen dar. Ein kostbarer Zobelmantel lag, mitdem Seidenfutter nach außen, ausgebreitet über der Stuhllehnehinter ihr, so daß sie ihn nur um die Schultern zu raffen brauch

te, wenn sie aufstand. Der sehr kleine, kostspielige schwarzeHut, den sie trug, stand ihr überhaupt nicht, denn er mildertenicht die Häßlichkeit ihres gelben Froschgesichts, sondern betonte sie noch.

 Jetzt gab sie in klarem, höflichem, doch durchaus autokratischem Ton dem Kellner einige Anweisungen.

»Sie werden bitte so freundlich sein, mir eine Flasche Mineralwasser und ein großes Glas Orangensaft in mein Abteil zustellen und ferner dafür zu sorgen, daß ich heute abend jungesHühnchen ohne Sauce bekomme, außerdem etwas gekochtenFisch.«

Der Kellner versicherte ehrerbietig, daß er ihren WünschenRechnung tragen werde, woraufhin sie leicht nickte und sich

erhob. Ihr Blick traf Hercule Poirot und glitt mit der Gleichgültigkeit der uninteressierten Aristokratin über ihn hinweg.

»Das ist Prinzessin Dragomiroff«, sagte M. Bouc gedämpft.»Eine Russin. Ihr Gatte verkaufte vor der Revolution seinengesamten Besitz und investierte das Geld im Ausland. Madameist häßlich wie die Sünde, aber ungeheuer reich. Eine Kosmopolitin.«

Poirot nickte – er hörte von der Prinzessin nicht zum erstenmal.

»Eine starke Persönlichkeit«, führte Bouc hinzu. »Hab ichnicht recht?«

Poirot konnte ihm nur beipflichten.

An einem anderen der großen Tische aß Mary Debenham mit

zwei anderen Frauen. Eine von ihnen war ein ältliches Wesen in

Page 27: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 27/270

karierter Bluse und Tweedrock. Sie trug das dichte, farblos blonde Haar straff zurückgekämmt und in einem großen Knoten zusammengedreht und hatte ein langes, sanftes Gesicht, das

an ein Schaf erinnerte.Geduldig hörte sie der dritten Frau zu, deren Redefluß ohne

Atempause dahinplätscherte.

»… und daher sagte meine Tochter: ›Mama, du kannst in diesem Land keine amerikanischen Methoden anwenden. Die Leute sind von Natur aus träge. Sie haben keinen Schwung.‹ Ja. so

sagte sie. Desungeachtet würden Sie staunen, was unsere Schule dort vollbracht hat. Wirklich, sie verfügt über einen vortrefflichen Lehrerstab. Meiner Ansicht nach ist Bildung das Wichtigste im Leben. Wir müssen unseren westlichen Idealen treu

 bleiben und den Osten lehren, sie anzuerkennen.

Meine Tochter sagt…«

Der Zug tauchte in einen Tunnel ein, und die ruhige, mono

tone Stimme ging im hallenden Dröhnen unter.Am wesentlich kleineren Nebentisch saß Oberst Arbuthnot –

allein. Sein Blick ruhte auf Mary Debenhams Hinterkopf. Warum saßen die beiden nicht zusammen? Es hätte sich mit Leichtigkeit einrichten lassen. Warum also?

Vielleicht, dachte Poirot, hatte Mary Einwendungen gemacht.Eine Erzieherin lernt es, auf der Hut zu sein, alles Verfängliche

zu meiden. Auch Äußerlichkeiten sind für ein Mädchen, dassich sein Brot selbst verdienen muß, von Wichtigkeit.

Hercules Blick wanderte zur anderen Seite des Wagens hinüber. Dort saß ganz am äußeren Ende eine Frau mittleren Altersim schlichten schwarzen Kleid. Deutsche oder Skandinavierin,urteilte Poirot. Wahrscheinlich die Zofe der deutschen Dame.

Page 28: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 28/270

Dann kam ein Paar, das sich angeregt unterhielt. Der Herrtrug einen bequemen englischen Tweedanzug, doch Engländerwar er nicht. Obwohl Poirot ihn nur von hinten sehen konnte,

verrieten ihm das Kopfform und Schulterhaltung. Plötzlichdrehte er den Kopf, so daß sein Profil sichtbar wurde.

Ein sehr gut aussehender Mann von etwa dreißig Jahren, mit blondem Schnurrbart.

Die Frau ihm gegenüber hätte auch ein Mädchen sein können– knapp zwanzig Jahre schätzungsweise. Der schwarze Mantel

und Rock, die weiße Satinbluse, die kleine schwarze Kappe –alles verriet letzten Chic. Sie hatte ein schönes, fremdartigesGesicht, eine schneeweiße Haut, große braune Augen und jettschwarzes Haar. Sie rauchte eine Zigarette, die in einer langenSpitze steckte. Tiefrot waren die Nägel ihrer manikürten Händelackiert, und die Linke zierte ein großer, platingefaßter Smaragd. Blick und Stimme waren ein wenig kokett.

»Elle est jolie – et chic« , sagte Poirot. »Ein Ehepaar, eh?« M.Bouc nickte.

»Ungarische Diplomaten, glaube ich«, erklärte er. »Ein hübsches Paar.«

Außerdem gab es noch zwei Gäste – Poirots AbteilgefährtenMacQueen und dessen Arbeitgeber Mr. Ratchett, der das Gesicht dem kleinen Belgier zuwandte. Wieder betrachtete Poirot

forschend die wenig einnehmenden Züge und stutzte über dietrügerische Güte der Stirn und die kleinen, grausamen Augen.Fraglos fiel M. Bouc der Wechsel im Ausdruck seines Freundesauf. »Sind Sie auf Ihr wildes Tier gestoßen?« erkundigte er sich.Hercule Poirot nickte.

Nach dem letzten Schluck Kaffee erhob sich M. Bouc. Da ermit dem Essen früher begonnen hatte als Poirot, war er auch

früher fertig.

Page 29: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 29/270

»Ich gehe in mein Abteil zurück, mon ami. Kommen Sie mirnach, damit wir ein bißchen ungestört plaudern können.«

»Mit Vergnügen.«

Poirot trank langsam seinen Kaffee und bestellte noch einenLikör. Schon ging der Zahlkellner von Tisch zu Tisch, um zukassieren. Schrill und jammernd erhob sich die Stimme der älteren, redseligen Amerikanerin:

»Meine Tochter hat gesagt: ›Nimm ein Heftchen mit Abonnementskarten für das Essen, dann hast du keine Schwierigkei

ten‹ – überhaupt keine, und jetzt soll ich noch zehn ProzentTrinkgeld zahlen? Und dann diese Flasche Mineralwasser! Wasfür ein scheußliches Wasser überdies! Warum führen Sie keinVichy?«

»Weil sie einheimisches Wasser servieren müssen«, mischtesich die schafsgesichtige Dame ein.

»So? Ich finde das sehr merkwürdig.« Verächtlich musterte

die Empörte das Häufchen Wechselgeld auf dem Tischtuch.»Sehen Sie nur, was er mir da für Dinger gegeben hat. Dinareoder wie das Zeug heißt. Auf den Kehricht möchte man es werfen! Meine Tochter sagte…«

Mary Debenham stieß ihren Stuhl zurück und verließ die beiden mit einem flüchtigen Nicken. Oberst Arbuthnot erhob sichebenfalls und folgte ihr. Das geschmähte Geld zusammenraf

fend, brach auch die Amerikanerin auf, begleitet von derSchafsgesichtigen. Das ungarische Ehepaar hatte sich bereitsentfernt, so daß nur noch Poirot, MacQueen und Ratchett imSpeisewagen verblieben.

Ratchett sagte etwas zu seinem jungen Begleiter, worauf dieser aufstand und ebenfalls hinausging. Dann stand auch er auf,aber anstatt MacQueen zu folgen, ließ er sich unerwartet aufdem leeren Stuhl an Poirots Tisch nieder. »Können Sie mir mit

Page 30: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 30/270

einem Streichholz aushelfen?« fragte er. »Mein Name ist Ratchett.«

Poirot begnügte sich mit der Andeutung einer Verbeugung.Er holte aus der Rocktasche eine Streichholzschachtel hervorund reichte sie dem Fremden, der sie nahm, aber keine Mienemachte, ein Hölzchen zu benutzen.

»Ich glaube, ich habe das Vergnügen, mit Monsieur HerculePoirot zu sprechen«, sagte er. »Bin ich da richtig informiert?«Wieder eine kaum merkliche Verbeugung von Seiten Poirots.

»Sie sind es, Monsieur.«Die merkwürdigen intelligenten Augen schätzten den Detektiv sehr genau ab, und Ratchett sprach erst nach einer längerenPause weiter.

»In meinem Land pflegt man keine Umschweife zu machen,M. Poirot. Ich möchte, daß Sie einen Auftrag für mich übernehmen.«

Hercule Poirots Augen zogen sich ein wenig in die Höhe.»Meine Klientel ist heutzutage beschränkt, Monsieur. Ich übernehme nur noch ganz wenige Fälle.«

»Das verstehe ich sehr gut. Aber hier geht es um eine staatliche Summe, M. Poirot.« Und mit seiner weichen, eindringlichenStimme wiederholte er: »Eine stattliche Summe.« Hercule Poirot betrachtete ein paar Minuten lang das Muster des weißen

Tischtuches.»Und was soll ich für Sie tun? M. – Ratchett?«

»Ich bin ein reicher Mann, Monsieur Poirot, ein sehr reicherMann. Und solche Menschen haben Feinde. Ich habe einenFeind.«

»Nur einen?«

Page 31: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 31/270

»Was meinen Sie mit dieser Frage?« kam es scharf zurück.»Monsieur, solche Menschen – um Ihre Worte zu gebrauchen –haben in der Regel nicht nur einen Feind, sondern mehrere.«

Bei dieser Antwort schien Mr. Ratchett erleichtert aufzuatmen.Und schnell erwiderte er:

»Nun, das mag stimmen. Aber ob einen Feind oder mehrere,darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist meine Sicherheit.«

»Sicherheit?«

»Mein Leben ist bedroht worden, Monsieur Poirot. Freilich« –er lachte grimmig auf – »verstehe ich mich auch ganz gut selbstzu schützen.« Er schob die Hand in die Tasche und ließ flüchtigeinen kleinen Browning sehen. »Ich bin wahrlich nicht derMann, den man im Schlaf überrumpelt. Doch ich denke, Siekennen das Sprichwort: Doppelt genäht hält besser. Deshalbkomme ich zu Ihnen, Monsieur Poirot. Und Sie können viel,

viel Geld dabei verdienen.«Der kleine Belgier sah sein Gegenüber grübelnd an, doch was

er dachte, verrieten seine Züge nicht, so sehr der andere es auchzu ergründen trachtete.

»Ich bedaure, Monsieur«, sagte Poirot endlich. »Leider kannich Ihnen nicht gefällig sein.«

»Nennen Sie nur Ihre Forderungen«, drängte der Amerikaner.

Poirot schüttelte den Kopf.»Sie verstehen mich falsch, Monsieur. Ich bin in meinem Be

ruf ungemein vom Glück begünstigt gewesen und habe genugverdient, um meine Bedürfnisse und meine Launen zu befriedigen. Jetzt befasse ich mich nur noch mit Fällen, die mich interessieren.«

»Reizen Sie auch zwanzigtausend Dollar nicht?«

Page 32: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 32/270

»Nein.«

»Wenn Sie etwa auf mehr spekulieren, so werden Sie eineEnttäuschung erleben, ich weiß den Wert einer Sache abzuschätzen.«

»Ich ebenfalls – Mr. Ratchett.«

»Was gefällt Ihnen denn nicht an meinem Vorschlag?«

Hercule Poirot erhob sich.

»Wenn Sie meinen Freimut entschuldigen, Mr. Ratchett – IhrGesicht gefällt mir nicht.«

Und damit verließ Poirot den Speisewagen.

Page 33: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 33/270

4

Der Simplon-Expreß lief abends um Viertel vor neun in Belgradein, und da er eine halbe Stunde Aufenthalt hatte, stieg Poirotaus. Er blieb jedoch nicht lange im Freien, denn es herrschteschneidende Kälte. Den Bahnsteig selbst schützte zwar einGlasdach, doch draußen schneite es noch immer stark. Als derkleine Belgier sich anschickte, wieder in die Wärme des Waggons zurückzuflüchten, wandte sich der Kondukteur an ihn,

der auf dem Bahnsteig mit den Füßen stampfte und die Arme bewegte, um sich warm zu halten.

»Ihre Koffer sind in das Abteil Nr. 1 hinübergeschafft worden,Monsieur«, sagte er höflich. »Das Abteil, das bislang M. Boucinnehatte.«

»Aber wo ist denn M. Bouc geblieben?«

»Er ist in den eben angehängten Wagen umgestiegen, Monsieur.« Hercule machte sich auf die Suche nach seinem Freund,der aber nichts von Dank wissen wollte.

» Mon ami, so ist das sehr zweckdienlich und bequem geregelt.Sie, der Sie nach England reisen, sind besser im durchgehendenWaggon nach Calais aufgehoben. Ich aber habe es herrlich hier.Also kein Wort des Dankes! Überzeugen Sie sich doch selbst,

wie friedlich und still es hier ist. Der ganze Waggon ist leer;außer mir ist nur noch ein kleiner griechischer Arzt da. Ah, mon

ami, was für eine Nacht. Man behauptet, es sei seit Jahrzehntennicht mehr so viel Schnee gefallen wie in diesem Winter. Hoffenwir, daß wir nicht steckenbleiben. Das würde mir sehr wenigpassen, kann ich Ihnen versichern!«

Pünktlich um neun Uhr fünfzehn fauchte der Zug zum Bahn

hof hinaus, und bald darauf wünschte Hercule Poirot seinem

Page 34: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 34/270

Landsmann gute Nacht und wanderte in seinen eigenen Waggon hinter dem Speisewagen zurück.

Während des zweiten gemeinsamen Reisetages waren dieSchranken zwischen den einzelnen Reisenden gefallen. OberstArbuthnot lehnte an der Tür seines Abteils und plaudertefreundschaftlich mit MacQueen. Als der junge Amerikaner Poirot gewahrte, brach er vor Staunen mitten im Satz ab.

»Nanu?« rief er. »Ich dachte, Sie hätten uns verlassen? SagtenSie das nicht bei der Abfahrt?«

»Ah, richtig! Aber Sie haben mich mißverstanden. Wir sprachen gerade davon, als der Zug sich in Istanbul in Bewegungsetzte.« Poirot lächelte. »Ich wurde dadurch abgelenkt, Ihnenmeine Bemerkung, es sei nur für eine Nacht, genauer zu erklären.«

»Aber Mann, Ihr ganzes Gepäck ist ja fort!«

»Man hat es nur in ein anderes Abteil gebracht – das ist alles.«

»Oh, ich verstehe.« Und MacQueen setzte seine Unterhaltungmit dem Offizier fort, während Poirot weiterging.

Zwei Türen von seinem neuen Abteil entfernt stand die ältereAmerikanerin, Mrs. Hubbard, mit der schafsgesichtigen Dame,die Schwedin war. Mrs. Hubbard drängte der anderen geradeein Magazin auf.

»Nein, nehmen Sie es, meine Liebe. Ich habe genügend Lesestoff in meinem Gepäck… Huh, ist es nicht gräßlich kalt?« Sienickte Hercule Poirot liebenswürdig zu.

»Sie sind wirklich reizend«, sagte die Schwedin.

»Durchaus nicht. Ich hoffe, Sie können diese Nacht gut schlafen und wachen morgen ohne Kopfschmerzen auf.«

»Es ist vielleicht nur die Kälte. Eine Tasse heißer Tee wird

schon helfen.«

Page 35: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 35/270

»Haben Sie auch Aspirin? Bestimmt? Sonst kann ich Ihnendamit aushelfen. Ich habe mich reichlich mit den verschiedensten Medikamenten versorgt. Also dann gute Nacht, meine Lie

 be.«Als die Schwedin verschwunden war, zog Mrs. Hubbard Poi

rot ins Gespräch. »Ein bedauernswertes Wesen. Offensichtlicheine Art Missionarin, soweit ich ihrem schlechten Englisch entnehmen konnte. Was ich ihr über meine Tochter erzählte, hatsie sehr interessiert.«

Auch Poirot wußte über Mrs. Hubbards Tochter schon hinlänglich Bescheid, und mit ihm jedermann im Zug, der einigermaßen der englischen Sprache mächtig war. Daß sie und ihrGatte zum Lehrerkollegium einer großen amerikanischen Schule in Smyrna gehörten, daß das Mrs. Hubbards erster Aufenthalt im Orient gewesen war und was sie von den Türken inihrer schlampigen Art hielt und von dem entsetzlichen Zustand

ihrer Straßen.Nun öffnete sich die ihnen nächstgelegene Tür, und der hagere, blasse Diener kam heraus. Poirot erhaschte einen flüchtigenBlick auf Mr. Ratchett, der drinnen aufrecht im Bett saß. Aucher sah Poirot, und zornige Röte schoß ihm ins Gesicht.

Mrs. Hubbard zog den kleinen Belgier etwas zur Seite.

»Wissen Sie, mir graut vor diesem Mann. Oh, nicht den

Kammerdiener meine ich – den anderen, seinen Herrn. Einschöner Herr ist das! Irgend etwas stimmt nicht mit diesemMann. Meine Tochter sagt immer, ich hätte ein unglaublichesEinfühlungsvermögen. ›Wenn Mami der Schreck in die Knochen fährt‹, sagt sie, ›ist etwas nicht geheuer.‹ Und mir ist einSchreck in die Knochen gefahren. Er schläft Tür an Tür mit mir,dieser unheimliche Geselle, und vergangene Nacht habe ich

meine Tür mit meinem Gepäck verbarrikadiert, weil ich den

Page 36: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 36/270

Eindruck hatte, daß er sich an der Klinke zu schaffen machte.Mich würde es überhaupt nicht wundern, wenn der Mann sichals Mörder entpuppt oder als einer jener Eisenbahnbanditen,

über die man so viel liest. Lachen Sie mich nicht aus; mir läuft bei seinem Anblick eine Gänsehaut über den Rücken! MeineTochter sagte, ich würde eine angenehme, bequeme Reise ha

 ben, aber ich habe das Gefühl, daß das nicht stimmt, daß sichim Gegenteil unterwegs irgendwas ereignen wird. Mein Gott,wie kann dieser nette, sympathische junge Mann sich dazu hergeben, Sekretär bei ihm zu spielen…«

Oberst Arbuthnot kam mit MacQueen den Korridor entlanggeschlendert.

»In meinem Abteil ist das Bett noch nicht gemacht«, sagte der junge Amerikaner. »Setzen wir uns dort hin. Was übrigens IhrePolitik in Indien betrifft…«

Die beiden Männer gingen vorüber und verschwanden in

Mac-Queens Abteil.Mrs. Hubbard unterdrückte ein leichtes Gähnen.

»Ich werde mich jetzt hinlegen und ein bißchen lesen«, sagtesie. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Madame.«

Auch Poirot suchte sein Abteil auf, das neben dem von Mr.Ratchett lag. Er zog sich aus, stieg ins Bett, las noch eine halbeStunde und drehte dann das Licht aus.

Ein paar Stunden später erwachte er oder fuhr vielmehr erschrocken in die Höhe. Er wußte, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte: ein lautes Ächzen, fast ein Schrei, irgendwo in nächster Nähe. Im selben Moment hörte er das schrille Klingeln einerGlocke.

Page 37: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 37/270

Der Detektiv knipste das Licht an. Gleichzeitig merkte er, daßder Zug stillstand. Wahrscheinlich auf einer Station.

Aber was bedeutete jener Schrei? Hercule Poirot erinnertesich, daß es Ratchett war, der das benachbarte Abteil bewohnte.Er sprang aus dem Bett und öffnete die Tür, gerade als derSchaffner den Gang entlangeilte und bei Ratchett klopfte. Poirotließ die Tür einen Spalt offen und spähte hinaus.

Der Kondukteur klopfte ein zweites Mal. Wieder klingelte es,und über einer anderen Abteiltür leuchtete eine Lampe auf. Im

selben Augenblick rief jemand in Ratchetts Abteil:»Ce n’est rien. Je me suis trompé.«

»Bien, Monsieur.« Beruhigt machte der Schaffner kehrt undlief zu der Tür, über der die Lampe blinkte. Auch Poirot warerleichtert und ging wieder ins Bett. Er warf einen Blick aufseine Uhr: Ihre Zeiger wiesen auf dreiundzwanzig Minuten voreins.

Page 38: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 38/270

5

Doch der Schlaf wollte sich nicht wieder einstellen. Vor allemvermißte Poirot die Bewegung des Zuges. Wenn sie wirklich imBahnhof hielten, war es merkwürdig still. Im Gegensatz dazuwirkten die Geräusche im Zug ungewöhnlich laut. Der kleineBelgier konnte Ratchett hören, der nebenan hantierte – einKlick, als er den Waschtisch öffnete, das Plätschern des rinnenden Wassers, ein Planschen, dann ein neuerliches Klick, als das

Becken wieder geschlossen wurde. Draußen im Gang tapptenSchritte vorüber, schlurfende Schritte in Pantoffeln.

Hercule Poirot lag wach und starrte zur Decke hinauf. Warumherrschte solche Stille auf der Station? Er räusperte sich, fühlteein trockenes Kitzeln im Hals. Er hatte vergessen, seine gewohnte Flasche Mineralwasser zu verlangen. Wieder sah er aufdie Uhr. Viertel nach eins. Seine Finger tasteten nach der Klin

gel, er wollte den Schaffner bitten, ihm Mineralwasser zu bringen. Doch blieb es vorderhand bei der Absicht, da jetzt eineandere Klingel anschlug. Der Mann konnte schließlich nichtgleichzeitig auf mehrere Glockenzeichen reagieren.

Ting… ting… ting…

Wieder klingelte es. Jemand begann, ungeduldig zu werden.

Wo war der Schaffner?Ting…

Der Finger des ungeduldigen Reisenden blieb hartnäckig aufdem Klingelknopf liegen. Plötzlich kam der Kondukteur her

 beigestürzt, laut hallten seine Schritte durch den Gang. Erklopfte an eine Tür in der Nähe von Poirots Abteil.

Page 39: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 39/270

Stimmen wurden laut – der Baß des Schlafwagenangestellten,ehrerbietig, entschuldigend, und ein helles Frauenorgan, wortreich und beharrlich.

Mrs. Hubbard.

Hercule schmunzelte.

Der Wortwechsel – sofern man von gewechselten Wortensprechen konnte – dauerte ziemlich lange, im Verhältnis vonneunzig zu zehn. Die neunzig Prozent kamen von Mrs. Hub

 bard, die zehn steuerte der Schaffner beschwichtigend bei.

Endlich schien die Angelegenheit bereinigt zu sein, denn Poirot hörte ein deutliches: »Bonne nuit, Madame«, und das Schließen einer Tür. Nunmehr preßte er den Finger auf die eigeneKlingel, und der Schaffner erschien prompt. Er sah erhitzt und

 bedrückt aus.

»De l’eau minérale, s’il vous plaît.«

»Bien, Monsieur.« Vielleicht verführte ihn ein vergnügtesZwinkern in Poirots Augen dazu, sein Herz zu erleichtern. »La

dame américaine…«

»Ja?«

Der Braununiformierte wischte sich die Schweißperlen vonder Stirn.

»Malen Sie sich selbst aus, Monsieur, was ich mit ihr auszu

stehen hatte! Sie behauptete steif und fest, in ihrem Abteil seiein Mann. In einem Raum dieser Größe, Monsieur!« Er fuhr mitder Hand durch die Luft. »Wo sollte er sich verstecken? Ichhabe auf Madame eingeredet, versucht, ihr klarzumachen, daß– daß sie das Opfer ihrer eigenen lebhaften Phantasie ist – vergeblich. Sie beharrt darauf: Sie sei aufgewacht und habe einenMann gesehen. Und wie, frage ich, hat er das Abteil verlassen

und von draußen den Innenriegel vorgeschoben? Doch Ver

Page 40: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 40/270

nunftsgründen ist sie nicht zugänglich. Als ob wir nicht schongerade genug Ärger hätten, Monsieur. Dieser Schnee…«

»Schnee?«

»Aber ja, Monsieur. Ist es Monsieur entgangen, daß der Zughält? Wir stecken in einer Schneewehe fest – der Himmel weißwie lange noch. Ich erinnere mich, daß wir einmal sieben Tagevon den Schneemauern gefangengehalten wurden.«

»Wo sind wir denn?«

»Zwischen Vincovci und Brod.«

»O la la« , sagte Hercule Poirot ärgerlich.Der Schaffner ging und erschien kurz darauf mit dem Wasser.

»Bon soir, Monsieur.«

Poirot trank ein ganzes Glas und streckte sich dann im Bettaus. Er war noch nicht völlig eingeschlafen, als er wieder unsanft gestört wurde. Diesmal war es, als sei etwas Schweres

dumpf gegen seine Tür gepoltert.Mit einem Sprung war er aus dem Bett, riß die Tür auf undschaute hinaus. Nichts! Nur zur Rechten ging eine Frau in einem scharlachroten Kimono den Gang entlang. Am anderenEnde saß der Schaffner in seinem engen Winkel und trug Zahlen in die Rubriken eines großen Bogens ein. Überall herrschteTotenstille.

»Meine Nerven spielen wirklich verrückt«, sagte Poirot lautvor sich hin und stieg wieder ins Bett. Diesmal schlief er durch

 bis zum nächsten Morgen.

Als er erwachte, stand der Zug noch immer. Poirot zog die Jalousie hoch und sah hinaus. Der Zug war von hohen Schneewällen eingeschlossen.

Poirot blickte auf seine Uhr. Es war schon nach neun. Viertel

vor zehn schlug Hercule Poirot, der kleine, weltberühmte De

Page 41: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 41/270

tektiv, geschniegelt und adrett wie immer, den Weg zum Speisewagen ein. Lebhaftes Stimmengewirr schlug ihm entgegen.Wenn doch noch irgendwelche Schranken zwischen einzelnen

Reisenden bestanden hatten, so waren sie jetzt endgültig gefallen. Alle fühlten sich geeint durch das gemeinsame Mißgeschick. Gelegentlich drang Mrs. Hubbards Stimme siegreich ausdem Chor der anderen hervor:

»Meine Tochter sagte, es sei die einfachste Sache von derWelt. Einfach im Zug sitzen bleiben bis Paris. Und jetzt? Tageund Tage können verstreichen, ehe der Schnee geräumt ist. Undübermorgen läuft mein Schiff aus. Wie soll ich es denn erreichen? Nicht einmal telegrafieren kann ich, um die Buchungrückgängig zu machen. Ich bin so wütend, daß es mir glatt dieSprache verschlägt.«

Der Italiener erklärte, daß ihn dringende Geschäfte in Mailand erwarteten, und der große Amerikaner bedauerte

»Ma’am« ausgiebig und drückte die Hoffnung aus, daß der Zugdie Verspätung durch doppelte Geschwindigkeit wieder einholen könne.

»Meine Schwester und ihre Kinder erwarten mich«, sagte dieSchwedin weinend. »Und ich kann sie nicht verständigen. Wassollen die nur denken? Sie werden sich das Schlimmste ausmalen.«

»Wie lange müssen wir wohl hierbleiben?« fragte Mary De benham. »Weiß das jemand?«

Ihre Stimme klang ungeduldig, doch Poirot vermißte in ihrdie beinahe fiebrige Ängstlichkeit, die sie während des kurzenAufenthalts des Taurus-Expresses an den Tag gelegt hatte.

Wieder ließ sich Mrs. Hubbard vernehmen.

»In diesem Zug weiß überhaupt niemand etwas. Und niemand bemüht sich, irgend etwas zu tun. Das hat man von dem

Page 42: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 42/270

faulen Ausländerpack! Ah, wenn diese Schneemassen drübenin Amerika einem Zug den Weg versperren, würde man wenigstens versuchen, etwas zu tun.«

Arbuthnot wandte sich an Poirot und sagte in sorgfältig gedrechseltem Französisch:

»Vous êtes un directeur de la ligne, je crois, Monsieur. Vous pouvez

nous dire…«

Lächelnd klärte Hercule Poirot diesen Irrtum auf.

»Nein, nein«, erwiderte er auf englisch. »Sie verwechseln

mich mit meinem Freund und Landsmann M. Bouc.«»O Pardon!«

»Der Irrtum ist durchaus erklärlich«, meinte Poirot. »Man hatmich jetzt in dem Abteil untergebracht, das er früher innehatte.«

M. Bouc war nicht anwesend, und Poirot ließ seinen Blick

schweifen, um festzustellen, wer sonst noch fehlte. Nun, zumBeispiel Prinzessin Dragomiroff und das ungarische Ehepaar.Desgleichen Ratchett, sein Diener und die deutsche Zofe.

Die Schwedin trocknete sich die verweinten Augen.

»Ich bin töricht«, sagte sie reuevoll. »Es ist schlecht von mirzu klagen. Diese Verzögerung wird wohl ihr Gutes haben, wie

 ja meistens alles zum Guten ausschlägt.«

Die anderen teilten diese christliche Denkart jedoch nicht.»Das klingt schön und gut«, sagte MacQueen unruhig. »Doch

wie, wenn wir tagelang hier festsitzen?«

»In welchem Land sind wir eigentlich?« erkundigte sich dieverzweifelte Mrs. Hubbard. Und als man ihr Jugoslawien nannte, brach es erbittert von ihren Lippen: »Ah, einer von diesenBalkanstaaten! Was kann man da anderes erwarten?«

Page 43: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 43/270

»Sie sind die einzige Geduldige, Mademoiselle«, wandte sichHercule Poirot an Miss Debenham.

Sie zuckte leicht mit den Schultern.

»Was hilft’s, sich aufzuregen?«

»Sehr philosophisch gedacht, Mademoiselle.«

»Es ist reine Selbstsucht, Monsieur, Selbsterhaltungstrieb. Ichhabe gelernt, mich vor sinnlosen Gefühlsregungen zu hüten,die einen nur zermürben und aufreiben.«

Sie sagte es mehr zu sich selbst als zu ihm. Ja, sie sah ihn nicht

einmal an. Ihr Blick glitt über seine kleine Gestalt hinweg ausdem Fenster, wo der Schnee sich immer höher aufzutürmenschien.

»Sie sind ein starker Charakter, Mademoiselle«, versichertePoirot liebenswürdig. »Meines Erachtens sogar der stärkste vonuns allen.«

»O nein. Ich kenne einen, der viel stärker ist als ich.«»Und das wäre…«

Plötzlich schien es ihr zum Bewußtsein zu kommen, daß siemit einem Fremden, noch dazu einem Ausländer sprach, mitdem sie bis zum heutigen Morgen knapp ein halbes DutzendSätze gewechselt hatte. Sie lachte höflich, aber voller Abwehr.

»Zum Beispiel die alte Dame«, lenkte sie ab. »Sie haben sie

wahrscheinlich bemerkt, Monsieur. Eine sehr häßliche alte Dame. Und trotzdem braucht sie nur den kleinen Finger zu hebenund etwas zu verlangen, und der ganze Zug läuft und rennt.«

»Er läuft und rennt auch für meinen Freund M. Bouc«, entgegnete Hercule Poirot. »Allerdings weil er Direktor der Internationalen Schlafwagengesellschaft ist, nicht etwa weil er einenherrischen, despotischen Charakter hat.«

Mary Debenham lächelte abermals.

Page 44: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 44/270

Page 45: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 45/270

»Ah, mein lieber Freund«, rief M. Bouc. »Schnell, treten Sienäher. Wir brauchen Sie.«

Der Dunkelhäutige unweit des Fensters rückte zur Seite, undPoirot nahm neben ihm Platz. Was fehlte seinem Landsmann?

Sein Gesichtsausdruck gab Poirot zu denken. Etwas Ungewöhnliches mußte sich ereignet haben.

»Was ist geschehen?« fragte Poirot.

»Oh, allerhand, mon cher. Erst dieser Schneesturm, dieser unfreiwillige Aufenthalt. Und jetzt…«

Er machte eine Pause, und aus dem Mund des Schlafwagen betreuers kam ein ersticktes Seufzen.

»Und jetzt, was?«

»Und jetzt liegt ein Passagier tot in seinem Bett – erstochen!«sagte M. Bouc mit der Ruhe der Verzweiflung.

»Ein Passagier? Welcher?«

»Dieser Amerikaner. Er heißt – er heißt…« Bouc zog einigevor ihm liegende Notizen zu Rate. »Ratchett. Nicht wahr, Ratchett?«

»Ja, Monsieur«, würgte der Schlafwagenschaffner hervor.Und Poirot merkte erst jetzt, daß der Mann weiß war wie eineWand. »Sagen Sie ihm, er soll sich setzen«, wandte sich der Detektiv mahnend an M. Bouc. »Er ist ja einer Ohnmacht nahe.«

Der Zugführer trat ein wenig zurück. Der Schlafwagenkondukteur sank erschöpft in die Ecke und vergrub das Gesicht inden Händen.

»Brr!« meinte Poirot. »Das ist ernst.«

»Gewiß ist es ernst, mon ami. Ein Mord an und für sich istschon eine Kalamität erster Ordnung. Doch hier erschweren

noch die Nebenumstände die Sache. Wir stecken fest. Vielleicht

Page 46: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 46/270

für Stunden, vielleicht für Tage. Und ferner haben wir, da wirmehrere Länder passieren, meist einen Polizeibeamten des jeweiligen Staates im Zug. In Jugoslawien jedoch nicht. Verstehen

Sie?«»Das ist eine verworrene Geschichte«, gab Poirot zu.

»Oh, es kommt noch schlimmer, mon cher. Dr. Constantine –Pardon, ich habe vergessen, Sie vorzustellen – Dr. Constantine,Monsieur Poirot.« Der dunkelhäutige Mann verbeugte sich,und Hercule Poirot tat das gleiche. »Dr. Constantine ist der

Meinung, daß der Tod gegen ein Uhr nachts eintrat.«»Einen genauen Zeitpunkt festzulegen ist ungemein schwierig«, ergriff der griechische Arzt das Wort. »Indes glaube ich,

 behaupten zu können, daß der Mann zwischen Mitternacht undzwei Uhr morgens starb.«

»Wann wurde Mr. Ratchett zuletzt lebendig gesehen?«

»Gesehen? Das weiß ich nicht«, erwiderte M. Bouc. »Aber un

gefähr zwanzig Minuten vor eins hat er noch mit dem Schlafwagenkondukteur gesprochen.«

»Richtig«, stimmte Poirot zu. »Das habe ich selbst gehört. Dasist das letzte, was man von ihm weiß.«

»Ja. Das Fenster von Mr. Ratchetts Abteil war weit geöffnet,so daß der Schluß nahelag, der Mörder sei auf diesem Weg entkommen. Meiner Meinung nach ist das aber eine Finte. Wäreder Mörder durch das Fenster geflohen, hätte er Spuren imSchnee hinterlassen müssen. Es gibt aber keine.«

»Wann wurde das Verbrechen entdeckt?«

»Michel!«

Der Schlafwagenschaffner fuhr in die Höhe, das Gesicht nochimmer blaß und verstört.

Page 47: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 47/270

»Berichten Sie dem Herrn ganz genau, was passiert ist«, befahl M. Bouc.

Michel berichtete unzusammenhängend und mit großen Pausen dazwischen.

»Der Kammerdiener dieses Mr. Ratchett – ja, er klopfte heutemorgen an die Tür. Erhielt keine Antwort. Dann kam vor einerStunde der Speisewagenkellner. Er wollte wissen, ob Monsieurzum Dejeuner erscheinen würde. Es war inzwischen elf Uhrgeworden. Ich öffnete ihm schließlich die Tür mit meinem

Schlüssel. Aber von innen war die Kette vorgelegt. Und kaltwar es drinnen – eisig kalt! Der Schnee wehte durch das offeneFenster herein. Ich dachte, daß den Herrn vielleicht ein Unwohlsein befallen habe, und holte den Zugführer. Wir sprengten die Kette und gingen hinein. Er lag dort… Ah! C’était ter

rible!«

Wieder barg er das Gesicht in den Händen.

»Die Tür war verschlossen und von innen durch die Kette gesichert?« wiederholte Poirot nachdenklich. »Selbstmord kann esnicht gewesen sein – eh?« Der kleine griechische Doktor lachtelaut auf.

»Tötet sich ein Selbstmörder mit zehn, zwölf, fünfzehn Messerstichen?« fragte er schneidend.

Hercule Poirot riß entsetzt die Augen auf.

»Das ist ja barbarisch!«

 Jetzt meldete sich der Zugführer zum erstenmal.

»Glauben Sie mir, das war eine Frau«, erklärte er. »Nur eineFrau kann derartig zustechen.«

Dr. Constantine rieb sich das dunkle Kinn. »Dann müßte sieüber beträchtliche Kraft verfügen. Nichts liegt mir ferner, als

mich hier in ›technischen‹ Einzelheiten zu ergehen – das wäre

Page 48: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 48/270

nur verwirrend. Aber ich versichere Ihnen, daß zwei oder dreiStiche mit einer solchen Wucht geführt wurden, als sollten siedurch einen harten Gürtel aus Knochen und Muskeln dringen.«

»Ein spitzfindiges, wissenschaftliches Verbrechen war es alsonicht«, urteilte Hercule Poirot.

»Nein. Sogar ein sehr unwissenschaftliches. Die Stiche scheinen aufs Geratewohl geführt worden zu sein. Es schien demTäter egal zu sein, wohin er traf. Ein paar Stiche sind auch abgeglitten, haben kaum Schaden angerichtet. Mir kommt es fast

so vor, als habe jemand die Augen geschlossen und in wilderRaserei blindlings drauflosgewütet.«

»C est une femme« , versicherte der Zugführer. »Wenn Frauenin Wut geraten, entwickeln sie erstaunliche Kräfte.« Er nicktedabei so weise, daß jedermann argwöhnte, sein Urteil beruheauf persönlicher Erfahrung.

»Ich kann vielleicht ein paar Lücken füllen«, sagte jetzt Poirot.

»Mr. Ratchett hat gestern mit mir gesprochen. Wenn ich ihnrecht verstanden habe, besagten seine Worte nichts anderes, alsdaß er sich in Lebensgefahr befand.«

»Dann war es keine Frau!« rief M. Bouc. »Sondern ein Professional aus der Verbrecherwelt. Ein Gangster, sagen die Amerikaner, nicht wahr?«

Den Zugführer schien es zu schmerzen, daß seine Theorie in

nichts zerrann.»Nun, dann war es aber ein recht stümperhafter Gangster.« In

Poirots Ton lag fachmännischer Tadel.

»Wir haben da einen Hünen von Amerikaner im Zug«, entsann sich M. Bouc, seine Idee weiterverfolgend. »Ein höchstordinär aussehender Mann mit gräßlicher Kleidung. Er kaut

Page 49: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 49/270

Gummi, was doch wohl in besseren Kreisen nicht üblich ist. Siewissen, wen ich meine?«

Der Schlafwagenkondukteur, dem diese Frage galt, nickte.

»Ja, Monsieur. Die Nr. 16. Doch er scheidet als Täter aus. Ichhätte es gesehen, wenn er das Abteil betreten und wieder verlassen hätte.«

»Vielleicht, Michel, vielleicht aber auch nicht. Doch lassen wirdas einstweilen dahingestellt. Die Frage lautet: Was sollen wirtun?« Vielsagend blickte er Poirot an, und Poirot hielt dem

Blick schweigend stand. » Mon cher, Sie verstehen mich sehrwohl. Warum also noch viele Worte verlieren? Nehmen Sie dieNachforschungen in die Hand. Nein, nein, keine Widerrede! Ichspreche jetzt für die Internationale Schlafwagengesellschaft.Wie einfach wäre alles, wenn wir der jugoslawischen Polizei beiihrem Erscheinen die Lösung des Falles präsentieren könnten.

Ansonsten Verzögerungen, Verdrießlichkeiten, eine Million

Weiterungen. Vielleicht sogar – wer weiß – ernstliche Belästigungen von gänzlich unschuldigen Personen. Statt dessen entschleiern Sie das Mysterium. Wir sagen kurzweg: Es ist einMord geschehen, und hier ist der Täter.«

»Und angenommen, ich entschleiere es nicht?«

»Ah, mon cher!« M. Boucs Stimme wurde weich und schmeichelnd. »Ich kenne Ihren Ruf. Ich weiß ein wenig über Ihre Me

thoden Bescheid. Hier wird Ihnen ein geradezu idealer Fall ge boten. Das Vorleben all dieser Reisenden zu durchleuchten,ihren Leumund zu prüfen – all das erfordert Zeit und bringtunzählige Unannehmlichkeiten mit sich. Haben Sie nicht oftgenug gesagt, um einen Fall zu lösen, brauche ein Mann sichnur in seinen Sessel zu setzen und nachzudenken? Tun Sie das,mon ami. Sprechen Sie mit den Reisenden, sehen Sie sich die

Leiche an, prüfen Sie die vorhandenen Hinweise, und dann –

Page 50: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 50/270

nun, ich baue auf Sie. Ich bin überzeugt, daß es nicht leere Prahlerei von Ihnen ist: Lehnen Sie sich zurück, und denken Sienach. Gebrauchen Sie – wie Sie immer sagen – die kleinen grau

en Zellen Ihres Gehirns – und Sie werden klarsehen.«»Ihr Vertrauen rührt mich, mein Freund«, sagte Poirot be

wegt. »Wie Sie sehr richtig bemerkten, kann das kein schwieriger Fall sein. Ich selbst habe vergangene Nacht – doch das gehört vorerst nicht hierher. Tatsächlich, die Sache reizt mich, mon

vieux. Noch vor einer Stunde habe ich überlegt, wie ich mir ü ber die Langeweile unseres erzwungenen Aufenthalts hinweghelfen könnte, und schon wird mir ein interessantes Problem

 beschert.«

»Sie nehmen also an?« fragte M. Bouc voll Eifer.

»C’ est entendu. Legen Sie die Sache vertrauensvoll in meineHände.«

»Wunderbar! Und wir alle stehen Ihnen zur Verfügung.«

»Für den Anfang brauche ich einen genauen Plan vomSchlafwagen Istanbul-Calais und genaue Angaben über dieeinzelnen Reisenden, und ferner würde ich gern ihre Pässe undihre Fahrkarten sehen.«

»Michel, die haben doch Sie in Verwahrung. Holen Sie sie.«

Der Kondukteur verließ den kleinen Konferenzraum.

»Was ist mit den anderen Passagieren?« setzte Poirot seineErmittlungen fort.

»In diesem Wagen sind Dr. Constantine und ich die einzigen.Im von Bukarest kommenden Wagen reist ein alter, demSchlafwagenbediensteten wohlbekannter Herr mit einem lahmen Bein. Die übrigen Waggons kommen für uns nicht in Betracht, da nach dem Diner gestern abend die Verbindungstür

zum Schlafwagen abgeschlossen wurde. Und vor dem nach

Page 51: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 51/270

Calais bestimmten Wagen läuft lediglich noch der Speisewagen.«

»Dann müssen wir, wie mir scheint, unseren Mörder in demWagen Istanbul-Calais suchen«, sagte Hercule Poirot gedehnt.Und zu dem Arzt gewandt fügte er hinzu: »Das wollten dochauch Sie andeuten, nicht wahr?«

Der Grieche nickte.

»Eine halbe Stunde nach Mitternacht bohrte sich unsere Lokomotive in die Schneemauer, und seither sitzen wir rettungs

los fest. Es kann also niemand den Zug verlassen haben.«»Der Mörder ist unter uns«, sagte M. Bouc sehr ernst. »Er be

findet sich im Zug.«

Page 52: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 52/270

6

»Vor allem scheint es mir ratsam, dem jungen MacQueen ein bißchen auf den Zahn zu fühlen«, meinte Hercule Poirot. »Es istdurchaus möglich, daß wir wertvolle Hinweise von ihm erhalten.«

»Gewiß«, pflichtete M. Bouc bei. »Bitte holen Sie Mr. Mac-Queen hierher«, befahl er dann dem Zugführer, der das Abteilsofort verließ. Der Schlafwagenkondukteur kehrte mit einem

Stapel von Pässen und Fahrkarten zurück. »Danke, Michel. Jetzthalte ich es für das beste, wenn Sie auf Ihren Posten zurückgehen. Ihre offizielle Aussage werden wir später aufnehmen.«

»Sehr wohl, Monsieur.« Und Michel ging wieder.

»Nachdem wir den jungen MacQueen gehört haben, ist vielleicht Monsieur le docteur so liebenswürdig, mich zu dem To-

ten zu begleiten«, sagte Poirot.»Gewiß.«

»Und wenn wir dort fertig sind…«

Doch da traten schon der Zuführer und der junge Amerikanerüber die Schwelle.

M. Bouc erhob sich.

»Wir sind ein bißchen arg beengt hier«, sagte er zuvorkommend. »Nehmen Sie meinen Platz. Mr. MacQueen. Dann sitzenSie M. Poirot gerade gegenüber. So – ausgezeichnet.«

MacQueen ließ sich auf die Polster fallen, während M. Boucdem Zuführer weitere Anweisungen erteilte: »Sorgen Sie dafür,daß der Speisewagen geräumt wird und M. Poirot zur Verfügung steht. Sie können Ihre Vernehmungen dann dort durch

führen. Ist Ihnen das recht, mon cher!«

Page 53: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 53/270

Page 54: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 54/270

»Ich muß klarsehen«, erklärte er dann. »Wer sind Sie eigentlich? Und was haben Sie mit der Sache zu tun?«

»Ich handle im Auftrag der Internationalen Schlafwagengesellschaft.« Nach einer kurzen Pause ergänzte Poirot: »Ich binDetektiv. Mein Name ist Hercule Poirot.«

Doch die Wirkung, die er erwartet hatte, blieb aus. MacQueen beschränkte sich auf ein gleichgültiges »Ach so!« und wartetedarauf, daß er weitersprach.

»Sie kennen den Namen vielleicht.«

»Ja, irgendwie kommt er mir bekannt vor – allerdings hielt ichihn für den Namen eines Pariser Modeschöpfers.«

Der kleine Belgier warf MacQueen einen giftigen Blick zu.

»Es ist unglaublich«, stieß er erbost hervor.

»Was ist unglaublich?«

»Nichts. Machen wir weiter. Ich möchte, daß Sie mir alles er

zählen, was Sie über Mr. Ratchett wissen, Mr. MacQueen. SindSie mit ihm verwandt?«

»Nein ich bin – war – sein Sekretär.«

»Wie lange waren Sie bei Mr. Ratchett angestellt?«

»Etwas über ein Jahr.«

»Bitte geben Sie mir alle Informationen, über die Sie verfügen.«

»Ich habe Mr. Ratchett vor einem Jahr in Persien kennengelernt.«

»Was haben Sie dort gemacht?« unterbrach ihn Poirot.

»Ich war wegen einer Erdölkonzession von New York herü bergekommen, glaube aber nicht, daß die Einzelheiten von Interesse für Sie sind. Jedenfalls gerieten meine Freunde und ich

dann ziemlich in die Patsche. Mr. Ratchett war im selben Hotel

Page 55: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 55/270

abgestiegen: da er sich mit seinem Sekretär überworfen hatte, bot er mir die Stellung an, und ich griff zu. Ich war ohne Arbeit,und die Sache kam mir wie gerufen.«

»Und seither?«

»Sind wir herumgereist. Mr. Ratchett wollte die Welt kennenlernen, doch haperte es bei ihm mit den Fremdsprachen. Eigentlich war ich mehr Reisemarschall als Sekretär und führteein ganz angenehmes Leben.«

»Und jetzt erzählen Sie mir mal soviel wie möglich über die

Person Ihres Arbeitgebers.«Der junge Mann zuckte mit den Schultern, auf seinem Gesicht

spiegelte sich leichte Verwirrung. »Das ist leichter gesagt alsgetan«, meinte er.

»Wie hieß er mit vollem Namen?«

»Samuel Edward Ratchett.«

»Amerikanischer Staatsbürger?«»Ja.«

»Aus welchem Teil Amerikas gebürtig?«

»Das weiß ich nicht.«

»Schön, dann erzählen Sie mir, was Sie wissen.«

»Kurz und bündig, Mr. Poirot: Ich weiß überhaupt nichts. Mr.Ratchett hat nie über sich selbst oder sein Leben in den Vereinigten Staaten gesprochen.«

»Weshalb wohl nicht?«

»Keine Ahnung. Möglicherweise schämte er sich für seineHerkunft, seine Anfänge. Manche Männer tun das.«

»Halten Sie das für eine befriedigende Erklärung?«

»Ehrlich gestanden, nein.«

»Hatte er Verwandte?«

Page 56: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 56/270

»Wenn ja, hat er sie nie erwähnt.«

Aber Poirot ließ noch nicht locker. »Sie müssen sich doch eineMeinung gebildet haben, Mr. MacQueen«, drängte er.

»Das freilich. Ich glaube, er hieß gar nicht Ratchett. Und ferner glaube ich, daß er Amerika verließ, weil er vor irgend etwasoder irgendwem flüchtete. Diese Flucht scheint ihm bis vor wenigen Wochen geglückt zu sein.«

»Und dann?«

»Dann bekam er öfter Briefe – Drohbriefe.«

»Haben Sie sie selbst gelesen?«»Ja. Es gehörte zu meinen Pflichten, seine Korrespondenz zu

erledigen. Der erste Brief erreichte ihn vor vierzehn Tagen.«

»Sind diese Briefe vernichtet worden?«

»Nein. Einige müssen noch in meiner Aktentasche stecken.Einen hat Ratchett allerdings in einem Wutanfall zerrissen. Soll

ich sie holen?«»Wenn ich bitten darf.«

MacQueen verließ das Abteil und war bald mit zwei ziemlichschmutzigen Briefbogen wieder zurück. Der erste Brief lautete:

»Sie dachten wohl, Sie könnten uns betrügen und kämen damit davon? Vergebliches Bemühen! Wir sind Ihnen auf denFersen, und wir werden Sie zur Strecke bringen, Ratchett.«

Eine Unterschrift war nicht vorhanden.

Mit einem kaum merklichen Emporziehen der Augenbrauenlas Poirot den zweiten Brief:

»Bald geht die Jagd auf Sie los, Ratchett. Wir werden Sie kriegen, das sehen Sie doch ein?«

»Der Stil ist monoton«, sagte Poirot und legte den Brief aus

der Hand. »Die Schrift weniger.«

Page 57: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 57/270

MacQueen starrte ihn an.

»Ihnen fällt das nicht auf«, meinte der kleine Belgier vergnügt. »Aber ein geschultes Auge erkennt ohne weiteres, daßdie Schrift nicht von einer einzigen Person stammt. Zwei oderauch mehrere sind daran beteiligt – jeder hat in jedem Wortabwechselnd je einen Buchstaben geschrieben. Außerdem sinddie Buchstaben in Druckschrift zu Papier gebracht, was dasErkennen der Handschrift erschwert. Wissen Sie übrigens, daßMr. Ratchett mich um Hilfe gebeten hat?«

»Sie?« Das Staunen des jungen Mannes war echt, für Poirotein Beweis, daß er nichts davon gewußt hatte.

»Jawohl, mich. Er fürchtete für sein Leben. Schildern Sie mir bitte, wie er sich beim Empfang des ersten Schreibens verhielt.«

MacQueen zögerte.

»Er – er legte es mit dem ihm eigenen lautlosen Lachen beiseite. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, daß es ihn mächtig

mitgenommen hat.«Poirot nickte und stellte dann eine völlig unerwartete Frage:

»Mr. MacQueen, sagen Sie mir bitte ganz ehrlich, ob Ihnen IhrArbeitgeber sympathisch war.«

Wieder antwortete MacQueen nicht sofort. Aber endlich gestand er: »Nein, ich habe ihn nicht gemocht.«

»Und warum nicht?«»Gründe anzuführen fiele mir schwer. Mr. Ratchett hat mich

immer gut behandelt.« Ein abermaliges Zögern. »Ich will Ihnendie Wahrheit sagen, Mr. Poirot: Ich hegte einen Widerwillengegen ihn, und ich mißtraute ihm. Er war – dessen bin ich sicher – ein grausamer und gefährlicher Mensch, muß jedochzugeben, daß ich für meine Meinung keine stichhaltigen Grün

de ins Treffen führen kann.«

Page 58: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 58/270

»Danke, Mr. MacQueen. Nun noch eine weitere Frage – wannhaben Sie Mr. Ratchett zuletzt lebend gesehen?«

»Gestern abend gegen – nun, etwa gegen zehn Uhr. Ich gingin sein Abteil, weil er mir ein paar Briefe diktieren wollte.«

»Um was ging es dabei?«

»Um Fliesen und antike Töpferwaren, die er in Persien gekauft hatte. Man hatte ihm nicht die von ihm ausgewähltenStücke geliefert. Und darüber führte er einen langen, zornigenBriefwechsel.«

»Und da wurde Mr. Ratchett zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Das nehme ich an.«

»Wissen Sie, wann Mr. Ratchett den letzten Drohbrief bekam?«

»Am Morgen unserer Abreise aus Istanbul.«

»Jetzt noch eine einzige Frage, Mr. MacQueen: Haben Sie sichmit Ihrem Arbeitgeber gut verstanden?«

MacQueen blinzelte plötzlich vergnügt.

»Das ist wohl der Augenblick, in dem ich Gänsehaut kriegenmüßte, wie? Doch mit den Worten eines Bestsellers ausgedrückt: ›Sie können mir nichts anhängen.‹ Ratchett und ichstanden sehr gut miteinander.«

»Nun möchte ich noch Ihren vollständigen Namen sowie IhreAdresse in Amerika wissen.«

»Hector Willard MacQueen«, gab der junge Mann bereitwilligAuskunft und nannte dann noch seine Adresse.

»Das ist im Moment alles.« Hercule Poirot lehnte sich in dieSamtpolsterung zurück. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn

Page 59: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 59/270

Sie über Ratchetts Tod noch ein Weilchen Stillschweigen bewahren würden.«

»Gewiß. Doch muß sein Kammerdiener, Masterman, bald davon erfahren.«

»Er weiß wahrscheinlich schon jetzt Bescheid«, gab Poirot zurück. »In diesem Fall versuchen Sie Ihr Bestes, damit er denMund hält.«

»Das dürfte nicht schwierig sein. Er ist Brite und ›hält sich fürsich‹, wie er es nennt. Er hat eine geringe Meinung von den

Amerikanern und eine noch geringere von allen anderen Nationalitäten. Infolgedessen würdigt er kaum jemanden einesWortes.«

»Danke, Mr. MacQueen.«

Der Amerikaner verbeugte sich und ging.

»Nun?« forschte M. Bouc. »Glauben Sie ihm, mon ami?«

»Er macht einen rechtschaffenen Eindruck. Wäre er in dasVerbrechen verwickelt, hätte er sich nicht so offen zu seinerAbneigung gegen Ratchett bekannt. Gewiß, Mr. Ratchett hatihm verschwiegen, daß er versuchte, mich mit seinem Schutzzu beauftragen, aber ich denke nicht, daß man dies als verdächtigen Umstand deuten muß. Wenn meine Menschenkenntnismich nicht täuscht, war Ratchett ein Mann, der seine Absichtenfür sich behielt, wenn es irgendwie möglich war.«

»Ah, dann erklären Sie wenigstens eine Person schon jetzt fürunschuldig!« M. Bouc seufzte erleichtert auf.

»Ich?« Poirot warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. » Mon

ami, ich mißtraue jedem bis zur letzten Minute. Dennoch mußich gestehen, daß ich mir nicht vorzustellen vermag, wie diesernüchterne Langschädel MacQueen die Fassung verliert und auf

Page 60: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 60/270

sein Opfer zwölf- bis fünfzehnmal einsticht. Es paßt nicht zuseinem Charakter – nein, es paßt ganz und gar nicht.«

»Richtig. Das ist die Tat eines Mannes, den sein brennenderHaß fast um den Verstand bringt, und deutet mehr auf ein südländisches Temperament hin. Oder auch, wie unser Freund, derZugführer, behauptet, auf eine Frau.«

Page 61: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 61/270

7

Gefolgt von Dr. Constantine, begab sich Poirot in den anderenWagen, wo ihnen der Kondukteur das Abteil des Ermordetenaufschloß.

»Was ist hier drinnen verändert worden?« wandte sich Poirotfragend an seinen Begleiter, als sie den kleinen Raum betraten.

»Nichts«, versicherte der Arzt. »Bei meiner Untersuchung ha be ich mich gehütet, den Toten zu bewegen.«

Poirot sah sich um. Das erste, was ihm auffiel, war dieschneidende Kälte. Das Fenster war so weit wie möglich geöffnet und die Jalousie hochgezogen.

»Brrr!« Poirot schüttelte sich vor Kälte.

Dr. Constantine lächelte verständnisvoll. »Ich habe gedacht,es sei besser, es nicht zu schließen«, sagte er.

»Völlig richtig, Doktor. Im übrigen stimme ich mit Ihnen auchdarin überein, daß das Fenster nur zum Schein geöffnet wurde,um eine Flucht des Mörders vorzutäuschen. Doch der Schneevereitelte diese Täuschung.« Poirot untersuchte sorgfältig denFensterrahmen, nahm dann ein kleines Schächtelchen aus seiner Tasche und bließ ein bißchen Pulver über das Holz.

»Nicht ein einziger Fingerabdruck, das heißt also, man hatden Rahmen abgewischt. Doch auch etwaige Fingerabdrückewären kaum aufschlußreich gewesen. Sie hätten doch nur Ratchett oder seinem Kammerdiener oder dem Schlafwagenschaffner gehört. Derartige Fehler unterlaufen Verbrechernheutzutage nicht mehr. Und in Anbetracht dieser Tatsache dürfen wir mit gutem Gewissen das Fenster nunmehr schließen«,fügte er fröhlich hinzu. »Bei Gott, in einem Eiskeller kann es

nicht viel kälter sein als hier!«

Page 62: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 62/270

Er ließ die Tat unverzüglich dem Wort folgen und richteteerst jetzt seine Aufmerksamkeit auf die regungslose Gestalt imBett.

Ratchett lag auf dem Rücken. Seine Pyjamajacke, mit rostfar benen Flecken übersät, war aufgeknöpft und zurückgeschlagen.

»Ich mußte die einzelnen Stichwunden genau untersuchen«,erklärte der Arzt.

»Selbstverständlich.« Poirot beugte sich über die Leiche. Alser sich wieder aufrichtete, schnitt er eine kleine Grimasse. »Puh,

das ist alles andere als hübsch! Wie viele Wunden sind es genau?«

»Zwölf habe ich einwandfrei festgestellt. Eine oder zwei sindallerdings so leicht, daß man sie höchstens als Kratzer bezeichnen kann. Andererseits sind mindestens drei so schwer, daß

 jede von ihnen schon genügt hätte, um den Tod herbeizuführen.«

Irgend etwas in Dr. Constantines Ton machte Poirot stutzig,und er warf ihm einen scharfen Blick zu. Der Arzt musterte denToten mit unverkennbarer Verblüffung.

»Schenken Sie mir reinen Wein ein, mein Freund«, bat erfreundlich. »Da ist doch etwas, das Sie merkwürdig berührt?«

»Sie haben recht«, gab Dr. Constantine zu.

»Und – was ist es?«»Ja. Sehen Sie diese beiden Stiche – hier und hier. Sie sind tief,

 jeder hat fraglos wichtige Blutgefäße verletzt, und dennochklaffen die Ränder nicht auseinander. Die Wunden haben nichtso stark geblutet, wie man es erwartet hätte.«

»Was bedeutet?«

»Daß der Mann schon tot war – ganz kurze Zeit freilich –, als

sie ihm beigebracht wurden. Und das ist doch wohl absurd.«

Page 63: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 63/270

»Gewiß«, meinte Poirot grübelnd, »sofern sich der Mördernicht selbst eingeredet hat, er habe nicht ganze Arbeit geleistet,und noch einmal zurückkam, um ganz sicherzugehen. Doch

das widerspricht jeder Erfahrung. Sonst noch etwas?«»Ja. Bitte betrachten Sie sich diese Wunde unter dem rechten

Arm, unweit der rechten Schulter. Und nun nehmen Sie malmeinen Bleistift, weil wir kein Messer zur Hand haben. WärenSie imstande, einen solchen Stich anzubringen?«

Poirot machte eine entsprechende Bewegung.

»Ah, ich begreife, Doktor. Mit der rechten Hand ist es außerordentlich schwer, um nicht zu sagen unmöglich. Man müßtedann – wie der Tennisspieler sagt – mit der Rückhand zustechen. Wenn indes der Stich mit der Linken…«

»Richtig, Monsieur Poirot«, fiel der Arzt ein. »Ich möchte wetten, daß eine linke Hand das Messer führte.«

»Mithin wäre unser Mörder ein Linkshänder? Nein, es ist

wohl noch verzwickter, nicht wahr?«»Viel verzwickter. Denn, sehen Sie, ein paar dieser Wunden

rühren unbedingt von einer rechten Hand her.«

»Also zwei Personen«, sagte der Detektiv. »So weit waren wirschon einmal.« Und ganz unvermittelt fragte er: »Hat das elektrische Licht gebrannt?«

»Das weiß ich nicht, da es der Kondukteur morgens gegenzehn Uhr abschaltet.«

»Die Schalter werden es uns verraten«, sagte Poirot.

Die Untersuchung ergab, daß der Schalter der Deckenbeleuchtung abgedreht war und die Leselampe am Kopfende desBettes auch nicht gebrannt haben konnte.

»Eh bien, da haben wir die Hypothese des ersten und des

zweiten Mörders, wie der große Shakespeare es ausdrücken

Page 64: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 64/270

würde. Der erste Mörder erstach sein Opfer und verließ dasAbteil, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte. Der zweiteschlich sich im Dunkeln herein, ohne zu ahnen, daß ein anderer

ihm zuvorgekommen war, und stach wenigstens zweimal aufeine Leiche ein. Que pensez-vous de ca?«

»Wunderbar!« rief der kleine Arzt begeistert.

»Ist das Ihre ehrliche Meinung?« Poirot zwinkerte mit denAugen. »Dann freut es mich. Mir selbst kam es ein bißchen unsinnig vor.«

»Kann es denn eine andere Erklärung geben?«»Das frage ich mich auch. Haben wir es hier mit einem zufäl

ligen Zusammentreffen zu tun? Stehen wir noch anderen Widersprüchen, anderen Ungereimtheiten gegenüber, die sich nurdurch die Beteiligung zweier Personen erklären ließen…«

»Letzteres möchte ich bejahen, Monsieur Poirot. Einige dieserWunden deuten auf Schwäche – einen Mangel an Kraft oder

einen Mangel an Entschlossenheit hin. Es sind kraftlose, oberflächliche Stiche. Wohingegen der hier – und dieser hier desgleichen – brutale Gewalt voraussetzen. Überzeugen Sie sich,daß sie die Muskeln glatt durchschnitten haben.«

»Da hat also, Ihrer Meinung nach, ein Mann das Messer geführt?«

»Ganz bestimmt.«

»Kann es nicht auch eine Frau gewesen sein?«

»Eine junge, athletische Frau wäre dazu imstande, besonderswenn sie durch eine heftige Gemütsbewegung aufgepeitschtwird. Und dennoch erscheint es mir unwahrscheinlich.«

Poirot blickte finster vor sich hin, und Constantine fragte besorgt: »Verstehen Sie meinen Gesichtspunkt nicht?«

Page 65: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 65/270

»Doch, doch, ganz und gar. Überhaupt beginnt sich das Dunkel erstaunlich zu lichten!« Sarkastisch lachte er auf. »Der Mörder war ein sehr kräftiger Mann – er war schwach, es war eine

Frau, er war linkshändig, er war rechtshändig… Ah, c’ est ridicu

le, tout ca! Und das Opfer? Wie benimmt es sich bei alledem?Schrie es? Kämpfte es? Verteidigte es sich?« Bei seiner letztenFrage schob er die Hand unter das Kissen und zog den Browning hervor, den Ratchett ihm tags zuvor gezeigt hatte.

»Voll geladen – sehen Sie.«

An den Messinghaken der Wand hing Ratchetts Tageskleidung, und auf dem kleinen Tisch, den der Deckel des Waschbeckens bildete, standen ein Glas mit Ratchetts falschen Zähnen,noch ein zweites, leeres Glas, eine Flasche Mineralwasser, einegroße Phiole und ein Aschenbecher, der einen Zigarettenstummel, ein verkohltes Stück Papier und ferner zwei angebrannteStreichhölzer enthielt.

Der Doktor nahm das Glas und schnupperte daran. »Hier ha ben wir die Erklärung dafür, daß Ratchett sich nicht wehrte.«

»Betäubungsmittel?«

»Ja.«

Poirot nickte. Er hob die beiden Streichhölzer auf und prüftesie eingehend.

»Die Streichhölzer sind nicht vom selben Fabrikat«, antwortete Poirot. »Eins ist flacher als das andere. Sehen Sie?«

»Die flachen kann man im Zug kaufen«, sagte der Doktor. »InStreichholzheftchen.«

»Ja? Das wußte ich nicht.« Schon durchstöberte Hercule Poirot eifrig die Taschen von Ratchetts Anzug und förderte eineStreichholzschachtel zutage, deren Inhalt er sorgfältig mit den

 beiden Hölzchen im Aschenbecher verglich. »Das runde

Page 66: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 66/270

Streichholz stammt aus Mr. Ratchetts Schachtel«, sagte er. »Malsehen, ob er auch flache Streichhölzer besaß.«

Doch so eifrig er auch suchte, es waren keine anderen vorhanden.

Poirots Blicke flogen im Abteil hin und her. Sie waren hellund scharf wie die eines Raubvogels, und man hatte das Gefühl, daß ihnen nichts entgehen konnte. Plötzlich bückte er sichmit einem Ausruf und hob etwas vom Boden auf.

Ein zierliches Quadrat aus Batist, das in der einen Ecke den

gestickten Buchstaben H trug.»Ein Taschentuch«, sagte der Arzt. »Schau, schau, da hatte

der Zugführer, der die Sache einer Frau in die Schuhe schiebenwollte, also doch recht. Es ist eine Frau im Spiel.«

»Die uns zur Freude am Tatort ihr Taschentuch verliert«, sagte Poirot. »Genau wie im Roman oder im Film. Und um uns dieDinge zu erleichtern, ist es mit einem Monogramm gekenn

zeichnet.«»Wirklich ein unglaubliches Glück für uns, Mr. Poirot!«

»Und ob!« sagte Poirot.

Etwas in seinem Ton überraschte den Arzt, doch noch bevorer um eine Erklärung bitten konnte, hatte Poirot sich zum zweitenmal gebückt.

Diesmal lag. als er sich aufrichtete, auf seiner flachen Handein – Pfeifenreiniger.

»Vielleicht gehört er dem Toten«, meinte der Arzt.

»Obwohl in seinen Taschen weder eine Pfeife noch ein Ta baksbeutel stecken?«

»Dann ist er ein unschätzbarer Hinweis.«

Page 67: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 67/270

»Oh, unbedingt, und eigens zu unserer Unterstützung zurückgelassen!« kam es spöttisch von Poirots Lippen. »Einer, derzur Abwechslung auf einen Mann schließen läßt. Wahrlich,

über einen Mangel an Hinweisen kann man sich in diesem Fallnicht beklagen – es gibt sie in Hülle und Fülle. Wo haben Sieübrigens die Tatwaffe gelassen?«

»Der Mörder muß sie mitgenommen haben. Ich habe keineWaffe gesehen.«

»Ich frage mich, warum er sie mitgenommen hat«, sagte Poi

rot nachdenklich.»Ah!« rief der Doktor plötzlich, der sich an der Schlafanzugjacke des Toten zu schaffen gemacht hatte und nun eine goldeneTaschenuhr aus der Brusttasche zog. »Die ist mir vorhin entgangen.«

Die mörderische Klinge hatte das Uhrgehäuse stark verschrammt und verbeult, und die Zeiger wiesen auf ein Viertel

nach eins.»Nun wissen wir die genaue Tatzeit, die sich mit meinen Be

rechnungen deckt. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr lautetemein Urteil. Eh bien, da haben wir die Bestätigung. Ein Viertelnach eins. Das ist die Stunde, in der das Verbrechen begangenwurde.«

»Es ist möglich, ja. Es ist zweifellos möglich.«

Der Arzt sah Poirot neugierig an. »Verzeihung, Monsieur Poirot, ich verstehe Sie nicht ganz.«

»Ich verstehe mich selbst nicht«, antwortete Hercule Poirot.»Ich verstehe überhaupt nichts, und wie Sie sehen, ärgert michdas.« Er seufzte und neigte sich über den kleinen Tisch, um dasverkohlte Papier zu begutachten. »Eine altmodische Damen

Page 68: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 68/270

hutschachtel – ja, das ist es, was ich in diesem Moment dringend brauche«, sagte er vor sich hin.

Dr. Constantine wußte sich diese sonderbare Bemerkungnicht zu deuten. Doch Poirot ließ ihm keine Zeit, eine entsprechende Frage zu stellen. Er öffnete die Tür zum Gang und riefden Kondukteur, der dienstwillig herbeigelaufen kam.

»Wie viele Damen reisen in diesem Wagen?«

Michel zählte an den Fingern ab.

»Eins, zwei, drei – sechs, Monsieur. Die alte amerikanische

Dame, eine Schwedin, die junge Engländerin, die GräfinAndrenyi, Madame la Princesse Dragomiroff und ihre deutscheZofe.«

Poirot überlegte. »Haben sie alle Hutschachteln bei sich?«

»Ja, Monsieur.«

»Dann bringen Sie mir – halt, eine Sekunde! Ja, bringen Sie

mir die Schachtel der Schwedin und der Zofe. Auf diesen beiden ruht meine ganze Hoffnung. Erfinden Sie irgendein Märchen, weshalb Sie die Schachteln brauchen, schwindeln Sie dasBlaue vom Himmel herunter.«

»Das ist nicht nötig, Monsieur, da die beiden Damen sich imMoment nicht in ihren Abteilen aufhalten.«

»Dann beeilen Sie sich.«

Michel entfernte sich rasch und kam nach wenigen Minutenmit dem Verlangten zurück. Poirot riß zuerst die der Zofe gehörende Schachtel auf und stieß sie als ungeeignet beiseite.Doch als er den Deckel der anderen aufklappte, frohlockte er:

»Voilà! Vor fünfzehn Jahren haben alle Hutschachteln innenso ausgesehen wie diese. Kommen Sie, junger Freund, erweitern Sie Ihre Kenntnisse.« Vorsichtig entfernte er die Hüte und

legte runde Klumpen aus Drahtgeflecht frei. »Seinerzeit hat

Page 69: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 69/270

man die Damenhüte mit einer langen Hutnadel an solchenDrahtgebilden festgespießt.«

Während er sprach, löste er zwei dieser Drahtgebilde geschickt aus der Schachtel, packte die Hüte wieder ein und beauftragte Michel, beide Schachteln zurückzutragen.

»Sehen Sie, lieber Doktor, ich gebe im allgemeinen nicht vielauf kriminalistische Techniken wie Fingerabdrücke«, sagte Poirot, als die Tür hinter Michel zuschnappte. »Ich werte die Psychologie höher. In diesem Fall jedoch würde ich eine kleine

wissenschaftliche Unterstützung willkommen heißen. Dies Abteil hier strotzt förmlich von Hinweisen. Wer aber bürgt mirdafür, daß sie wirklich das sind, was sie zu sein scheinen?«

»Pardon, Monsieur Poirot, ich sehe nicht ganz klar…«

»Schön, dann werde ich mich durch ein Beispiel verständlicher machen. Wir finden ein Frauentaschentuch. Ließ es eineFrau fallen? Oder ein Mann, der sich bei Ausführung des

Verbrechens sagte: ›Es soll so aussehen, als sei es die Tat einerFrau, und daher werde ich meinem Feind eine unnötige Anzahlvon Stichen beibringen, darunter mehrere schwache und unwirksame, und hinterher ein Taschentuch an einer Stelle fallenlassen, wo niemand es übersehen kann.‹ Das ist eine Möglichkeit. Und nun die andere. Beging eine Frau den Mord und ließabsichtlich einen Pfeifenreiniger zurück, um den Verdacht auf

einen Mann zu lenken? Oder dürfen wir ernstlich annehmen,daß ein Mann und eine Frau unabhängig voneinander an derTat beteiligt waren und beide so unachtsam waren, einen Hinweis auf ihre Identität zurückzulassen? Das scheint mir denndoch ein bißchen zuviel des Zufalls zu sein.«

»Aber was hat die Hutschachtel damit zu tun?« fragte derArzt verblüfft.

Page 70: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 70/270

Page 71: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 71/270

»… innern an die kleine Daisy Armstrong…«

»Ah!« stieß Hercule Poirot hervor.

»Sagt es Ihnen etwas?«»Ja.« Poirots Augen funkelten, als er vorsichtig die Brennsche

re niederlegte. »Jetzt weiß ich den richtigen Namen des Toten,und ich weiß auch, warum er Amerika verlassen mußte.«

»Nennen Sie mir den Namen.«

»Cassetti.«

»Cassetti«, wiederholte Constantine mit nachdenklich gerunzelten Brauen. »Da meldet sich irgendeine dunkle Erinnerung.Gab es nicht vor etlichen Jahren einen Kriminalfall in Amerika…«

»Jawohl, einen Kriminalfall in Amerika.« Doch zu einer näheren Erklärung war Poirot nicht geneigt. »Das werden Sie späternoch alles genau erfahren. Lassen Sie uns vorerst einmal hier

erledigen, was zu erledigen ist«, fügte er hinzu.Schnell und gründlich durchsuchte er noch einmal RatchettsTaschen, fand jedoch nichts Interessantes. Dann versuchte er,die Verbindungstür zum Nebenabteil zu öffnen, aber sie warvon drüben abgeriegelt.

»Etwas verstehe ich wirklich nicht«, sagte Dr. Constantine.»Wenn der Mörder nicht durch das Fenster flüchten konnte, die

Verbindungstür auf der anderen Seite verriegelt ist und die Türzum Korridor von drinnen nicht nur abgeschlossen, sondernauch noch durch eine Kette gesichert war – wie hat der Mörderdas Abteil verlassen?«

»Genau dasselbe fragt sich bei einer Zaubervorstellung dasPublikum, wenn eine an Händen und Füßen gefesselte Personin einen Schrank eingeschlossen wird – und verschwindet.«

»Sie meinen…«

Page 72: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 72/270

»Ich meine«, sagte Poirot lächelnd, »daß ein Mörder, der unsweismachen will, er sei durch das Fenster entflohen, selbstverständlich den Anschein erweckt, als sei ein Entkommen durch

die beiden anderen Ausgänge ganz unmöglich. Genau wie diePerson im Zauberkabinett, die sich in Luft aufzulösen scheint.Es steckt ein Trick dahinter, mon cher docteur, und an uns liegt esherauszufinden, wie man den Trick ausführt.« Bei diesen Worten schloß er die Verbindungstür auch von dieser Seite ab underklärte schmunzelnd: »Damit es sich die vortreffliche Mrs.Hubbard nicht einfallen lassen kann, für die Briefe an ihre noch

vortrefflichere Tochter auf eigene Faust Einzelheiten über dasVerbrechen zu sammeln. Und nun gibt es meines Erachtens füruns hier nichts mehr zu tun. Kehren wir zu M. Bouc zurück.«

Page 73: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 73/270

8

M. Bouc aß gerade den letzten Bissen eines Omeletts. »Mirschien es am zweckmäßigsten, umgehend den Lunch für dieanderen servieren zu lassen«, sagte er. »Hinterher soll der Speisewagen geräumt werden. Inzwischen habe ich für uns dreieinen Imbiß hierher in mein Abteil bestellt.«

»Eine ausgezeichnete Idee«, lobte Poirot.

 Jedoch fehlte es allen dreien am rechten Appetit. Sie aßenschweigend und rasch, doch erst als sie beim Kaffee waren,kam M. Bouc auf das Thema zu sprechen, das sie alle beschäftigte.

»Eh bien?«

»Eh bien« , gab Hercule Poirot zurück, »ich tappe hinsichtlichder Person des Ermordeten nicht mehr im dunkeln. Und ich

weiß, warum er gezwungen war, Amerika zu verlassen.«»Wer war er?«

»Entsinnen Sie sich der Zeitungsmeldungen über das Verschwinden der kleinen Daisy Armstrong? Der Tote in unseremZug ist der Mann, der das Kind ermordete – Cassetti.«

»Natürlich erinnere ich mich. Eine schreckliche Sache. DieEinzelheiten sind mir allerdings entfallen.«

»Oberst Armstrong war englischer Vizekonsul. Seine Mutter,eine Millionenerbin, stammte aus den Vereinigten Staaten,Armstrong selbst heiratete die Tochter von Linda Arden, der

 berühmten amerikanischen Tragödin, und lebte mit seiner Gattin in Amerika. Der Ehe entsprang ein Kind – ein kleines Mädchen, der Abgott seiner Eltern. Als die Kleine drei Jahre zählte,wurde sie entführt und eine phantastisch hohe Summe als Lö

Page 74: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 74/270

segeld verlangt. Mit den Verwicklungen, die nun folgten, willich Sie nicht ermüden. Es genügt, wenn ich Ihnen mitteile, daßdie verzweifelten Eltern schließlich zweihunderttausend Dollar

 bezahlten und man kurz darauf die Leiche des Kindes entdeckte, in einem Zustand, der unzweideutig bewies, daß der Todschon mindestens vor vierzehn Tagen eingetreten war. Dochnoch weitere Schicksalsschläge trafen die Armstrongs. Mrs.Armstrong war in anderen Umständen und erlitt infolge derAufregungen eine Fehlgeburt, an der sie starb, worauf sich derso schwer geprüfte Gatte aus Gram und Kummer erschoß.«

» Mon dieu, was für eine Tragödie! Aber wenn ich mich rechterinnere, wurde noch ein Menschenleben vernichtet, nichtwahr?«

»Ja – ein unglückliches französisches oder schweizerischesKindermädchen. Die Polizei vertrat den Standpunkt, es habevon dem Verbrechen gewußt, und weigerte sich, dem hysteri

schen Leugnen der jungen Frau Glauben zu schenken, bis sichdie Ärmste in einem Anfall von Verzweiflung aus dem Fensterstürzte. Nach ihrem Tod stellte sich heraus, daß sie völlig unschuldig war.«

»Es ist nicht sehr angenehm, daran zu denken«, sagte M.Bouc.

»Ungefähr sechs Monate später verhaftete die Polizei Cassetti

als Haupt jener Bande, die das Kind entführt und ähnliche Methoden auch schon früher angewendet hatte. Sobald die Polizeiihnen auf die Spur kam, ermordeten die Gangster ihre jeweiligeGeisel, erpreßten die Angehörigen aber so lange um horrendeSummen, bis der Mord entdeckt wurde.

Und jetzt hören Sie mir gut zu, mein Freund. Cassetti war derMann. Aber mit Hilfe seines zusammengeraubten, enormen

Reichtums und geheimer Druckmittel, die er gegen mehrere

Page 75: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 75/270

Personen in der Hand hatte, gelang es ihm, aufgrund eines geringfügigen Verfahrensfehlers seine Freilassung zu erreichen.Dennoch hätte ihn die empörte Bevölkerung gelyncht, wenn sie

seiner habhaft geworden wäre. Jetzt weiß ich auch, wie es mitihm weiterging. Er legte sich einen anderen Namen zu, verließAmerika, wo ihm der Boden zu heiß geworden war, und reiste

 beschaulich in der Welt umher – als ein begüterter Gentleman,der von den Zinsen seines Vermögens lebt.«

» Ah, quel animal!« rief M. Bouc voll tiefstem Abscheu. »Ichvermag ihn wegen seines gewaltsamen Todes nicht zu bedauern. Er hat ihn verdient.«

»Da kann ich Ihnen nur zustimmen.«

»Tout de même, es war nicht nötig, daß er im Orientexpreß getötet wurde. Es gibt genug andere Orte.«

Poirot lächelte flüchtig, da er sich vergegenwärtigte, daß M.Bouc in dieser Hinsicht voreingenommen sein mußte.

»Die Frage, die wir uns vorzulegen haben, lautet: Ist dieserMord die Tat einer Verbrecherbande, die Cassetti vielleicht früher mal übers Ohr gehauen hat? Oder ist er ein Akt privaterRache? Wenn mich meine Vermutung nicht trügt, verbrannteder Mörder den Brief, von dem ich die verkohlten Überbleibselfand. Warum verbrannte er ihn? Weil das Wort Armstrong darin vorkam, was ein wichtiger Fingerzeig war.«

Auf einen fragenden Blick von M. Bouc, der ja nicht Bescheidwußte, erklärte ihm Poirot, was es mit dem Brief auf sich hatte.

»Existieren noch lebende Mitglieder der Familie Armstrong?«fragte M. Bouc.

»Darüber bin ich leider nicht unterrichtet, mon ami. Dunkelschwebt mir allerdings vor, als ob ich von einer jüngeren

Schwester Mrs. Armstrongs gelesen hätte.« Und nach dieser

Page 76: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 76/270

Auskunft begann Poirot, von den verschiedenen höchst verwirrenden Hinweisen zu berichten, die Dr. Constantine und erentdeckt hatten. Als er die zerbrochene Uhr erwähnte, hellte

sich M. Boucs Gesicht zusehends auf.»Prachtvoll! Damit wissen wir die genaue Zeit des Verbre

chens«, sagte er triumphierend. »Viertel vor eins. Zwanzig Minuten vor eins haben Sie Ratchett ja mit dem Kondukteur sprechen hören – da lebte er also noch.«

»Dreiundzwanzig Minuten vor eins«, verbesserte Poirot.

»Meinetwegen auch das. Ah, da schält sich aus dem Dunkel bereits eine unumstößliche Gewißheit heraus.«

Poirot erwiderte nichts. Er saß in die Polster zurückgelehntund blickte gedankenvoll vor sich hin.

»Der Speisewagen ist jetzt frei, Monsieur«, meldete Michel,worauf sich M. Bouc sofort erhob.

»Dann wollen wir übersiedeln.«

»Darf ich Sie begleiten?« fragte Dr. Constantine.

»Gewiß, lieber Doktor. Sofern Monsieur Poirot nichts dagegeneinzuwenden hat.«

»Keineswegs«, beeilte sich Poirot zu versichern. »Keineswegs.«

Nachdem sich die drei Herren an der Abteiltür noch gegen

seitig an Höflichkeit überboten hatten: »Nach Ihnen« – »Aberdurchaus nicht, nach Ihnen, Monsieur«, machten sie sich aufden Weg in den Speisewagen.

Page 77: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 77/270

9

Im Speisewagen war alles vorbereitet.Poirot und M. Bouc nahmen nebeneinander an einem der

großen Tische Platz, während der Arzt sich an der Schmalseiteniederließ.

Vor Poirot lag ein Plan des Schlafwagens Istanbul-Calais, aufdem in roter Tinte die Namen der Passagiere eingetragen waren, und daneben ein kleiner Stapel Pässe und Fahrkarten.Auch Schreibpapier, Tinte, Federhalter und Bleistifte fehltennicht.

»Bravo, mon cher« , sagte Poirot. »Wir können umgehend mitdem Verhör beginnen. Als ersten möchte ich den Schlafwagenschaffner vernehmen. Wahrscheinlich können Sie mir schonvorab etwas über ihn sagen. Was hat er für einen Charakter? Ist

er ein Mann, dessen Worten man trauen darf?«»Nach meiner Meinung unbedingt. Pierre Michel, seit überfünfzehn Jahren bei unserer Gesellschaft beschäftigt, ist Franzose und in der Nähe von Calais ansässig. Es mag intelligentereLeute geben als ihn, doch ehrlichere und anständigere schwerlich.«

»Gut«, nickte Poirot. »Lassen Sie ihn also holen.«

Michel, obwohl ein wenig gefaßter als am Vormittag, machteimmer noch einen äußerst nervösen Eindruck.

»Schrecklich, dieser Mord«, sagte er. »Ich hoffe nur. Monsieurist nicht der Meinung, ich hätte mir eine Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen«, meinte er besorgt, und sein ängstlicher Blick wandte sich von Poirot ab und seinem Vorgesetztenzu. M. Bouc beschwichtigte ihn, so gut er konnte.

Page 78: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 78/270

Dann stellte Poirot die ersten Fragen: Namen, Adresse, dieZahl seiner Dienstjahre und die Zeit, die er auf der östlichenRoute zugebracht hatte – alles Dinge, die Poirot bereits wußte.

Aber diese schematische Fragestellung diente dazu, den aufgeregten Mann zu beruhigen.

»Und nun wollen wir uns den Ereignissen der letzten Nachtzuwenden«, fuhr Poirot fort. »Um wieviel Uhr ist Mr. Ratchett

zu Bett gegangen?«

Page 79: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 79/270

»Fast unmittelbar nach dem Dinner, Monsieur. Noch bevorwir von Belgrad abfuhren. In der Nacht vorher ging er zur sel

 ben Zeit schlafen. Er hatte mich angewiesen, sein Bett zu rich

ten, während er bei Tisch war. Und das habe ich getan.«»War nach Ihnen noch jemand in seinem Abteil?«

»Sein Kammerdiener, Monsieur, und der junge Amerikaner,sein Sekretär.«

»Sonst niemand?«

»Nicht, daß ich wüßte, Monsieur.«

»Schön. Und später haben Sie ihn nicht mehr gesehen? Nichtsmehr von ihm gehört?«

»Doch, Monsieur, Sie vergessen, daß er gegen zwanzig voreins klingelte – kurz nachdem wir im Schnee steckengebliebenwaren.«

»Wie spielte sich das genau ab?«

»Ich klopfte an seine Tür, aber er öffnete nicht und rief nur, erhabe sich geirrt, er brauche mich nicht.«

»Auf englisch oder französisch?«

»Auf französisch!«

»Wiederholen Sie mir bitte den genauen Wortlaut.«

»Ce n’ est rien. Je me suis trompé.«

»Das stimmt«, erklärte Hercule Poirot. »Das habe ich auchgehört. Und daraufhin haben Sie sich wieder entfernt?«

»Ja, Monsieur.«

»Gingen Sie zu Ihrem Platz zurück?«

»Nein, Monsieur. Ich ging noch zu einem anderen Passagier,der eben geklingelt hatte.«

»Michel, jetzt kommt eine sehr wichtige Frage: Wo waren Sieum ein Uhr fünfzehn?«

Page 80: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 80/270

»Ich, Monsieur? Ich saß in meiner Ecke am Ende des Ganges.« 

»Sind Sie sicher?« 

» Mais oui – wenigstens…« 

»Ja?«

»Ich war kurz im nächsten Wagen – dem Athener Wagen –,  um ein paar Worte mit meinem Kollegen zu wechseln. Wirsprachen über den Schnee. Das ist kurz nach eins gewesen. Aufdie Minute genau vermag ich es nicht anzugeben.«

»Und wann kehrten Sie in unseren Wagen zurück?«

»Als es abermals klingelte – doch das habe ich Monsieurschon heute nacht erzählt. Es war die amerikanische Dame, undsie drückte ein paarmal schnell hintereinander auf die Klingel.Aufgeregt, Sie verstehen?«

»Ich erinnere mich daran«, sagte Poirot. »Und weiter?«

»Nachher, Monsieur? Nun, da haben Sie doch selbst geklin

gelt und ich brachte Ihnen das Mineralwasser. Eine halbe Stunde später machte ich dann das Bett im Abteil von Mr. Mac-Queen zurecht.«

»War Mr. MacQueen allein?«

»Nein, der englische Oberst von Nr. 15 leistete ihm Gesellschaft.«

»Und wohin ging der Oberst, nachdem er sich von Mr. Mac-

Queen getrennt hatte?«»Zu seinem eigenen Abteil.«

»Nr. 15 – sagten Sie? Ist das nicht nahe bei Ihrem Platz?«

»Ja, Monsieur. Es ist das zweite Abteil vom Ende des Gangesaus gerechnet.«

»Sein Bett war bereits für die Nacht vorbereitet?«

Page 81: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 81/270

»Ja, Monsieur. Ich habe es auch gemacht, als er beim Essenwar.«

»Wissen Sie, um wieviel Uhr sich die beiden Herren trennten?«

»Nicht genau, Monsieur. Doch möchte ich behaupten, daß esnicht später als zwei gewesen ist.«

»Und danach?«

»Danach saß ich bis zum Morgen auf meinem Platz.«

»Ein zweites Mal gingen Sie nicht in den Athener Wagen hin

über?«»Nein, Monsieur.«

»Vielleicht haben Sie geschlafen?«

»Das glaube ich nicht. Daß der Zug stand, war für mich soungewohnt, daß ich nicht wie sonst einschlafen konnte.«

»Haben Sie irgendeinen von den Reisenden den Korridor hin

auf- oder hinuntergehen sehen?«Pierre Michel überlegte ein Weilchen.

»Eine der Damen ging zu der am anderen Wagenende gelegenen Toilette.«

»Welche Dame?«

»Das weiß ich nicht, Monsieur. Die Entfernung zwischen ihr

und mir war ziemlich groß, und die Dame kehrte mir den Rücken zu. Ich erinnere mich jedoch, daß sie einen scharlachroten,drachenbestickten Kimono trug.«

Poirot nickte.

»Und weiter?«

»Nichts, Monsieur. Bis zum Morgen ereignete sich nichts.«

»Irren Sie sich auch nicht, Michel?«

Page 82: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 82/270

»Ah, Pardon – Sie selbst, Monsieur, öffnete Ihre Tür undschauten eine Sekunde heraus.«

»Gut, mein Freund«, sagte Hercule Poirot. »Ich wollte nurwissen, ob Ihnen das aufgefallen war. Übrigens wurde ichdurch ein Geräusch wach, das so klang, als sei etwas gegenmeine Tür gepoltert. Haben Sie eine Ahnung, was das gewesensein könnte?«

Der Mann starrte ihn an. »Ich bin sicher, Monsieur, daß nichtsdergleichen passiert ist«, beteuerte er endlich.

»Nein? Nun, dann hatte ich eben einen Alptraum«, erwidertePoirot gleichmütig.

»Sofern das Geräusch nicht aus dem Nebenabteil kam«,mischte sich M. Bouc ein.

Doch Hercule Poirot beachtete diesen Einwurf nicht – vielleicht veranlaßte ihn die Anwesenheit des Kondukteurs dazu.

»Dann möchte ich noch einen anderen Punkt mit Ihnen erörtern, Michel«, ergriff er von neuem das Wort. »Nehmen wireinmal an, der Mörder sei gestern abend erst zugestiegen. Ist esganz sicher, daß er den Zug nicht wieder verlassen haben kann,nachdem er die Tat begangen hatte?«

»Ganz sicher, Monsieur.«

»Oder daß er sich irgendwo im Zug versteckt hält?«

»Man hat alles gründlich abgesucht, mon ami« , sagte M. Bouc.»Diese Idee können Sie ruhig fallenlassen.«

Und Michel ergänzte: »Außerdem hätte ich jeden gesehen,der den Schlafwagen betreten hätte.«

»Wo hatten wir den letzten Aufenthalt?«

»In Vincovci.«

»Um wieviel Uhr?«

Page 83: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 83/270

»Fahrplanmäßig sollten wir um 11.58 Uhr weiterfahren. Dochdurch die Schneeverwehungen hatten wir zwanzig MinutenVerspätung.«

»Vielleicht hat sich jemand aus dem anderen Teil des Zugeseingeschlichen?«

»Nein, Monsieur. Nach Beendigung des Dinners wird dieVerbindungstür zwischen den anderen Wagen und demSchlafwagen abgesperrt.«

»Sind Sie in Vincovci für kurze Zeit ausgestiegen?«

»Ja, Monsieur. Ich blieb, wie gewöhnlich, auf dem Bahnsteigdicht bei den Stufen des Schlafwagens stehen. Die anderenKondukteure taten dasselbe.«

»Und die vordere Tür? Ich meine die beim Speisewagen.«

»Die ist immer von innen abgeriegelt.«

»Aber jetzt ist sie doch offen.«

Michel stutzte, doch dann hellte sich sein verblüfftes Gesichtauf. »Bestimmt hat einer der Reisenden sie geöffnet, um einenBlick auf die Schneemauern zu werfen.«

»Wahrscheinlich«, sagte Poirot.

In Gedanken versunken klopfte er minutenlang mit dem Bleistift auf die Tischplatte.

»Ah, da fällt mir noch etwas ein!« rief er, plötzlich aufbli

ckend. »Sie erwähnten vorhin, daß noch ein Passagier geklingelt hat, als Sie vor Mr. Ratchetts Tür standen. Tatsächlich habeauch ich es gehört. Wer war das?«

»Madame la Princesse Dragomiroff. Sie hat mich gebeten, ihreZofe zu ihr zu schicken.«

»Und das haben Sie getan?«

»Gewiß, Monsieur.«

Page 84: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 84/270

Minutenlang widmete sich Hercule Poirot dem Studium desvor ihm liegenden Plans. Dann nickte er. »Das ist vorläufig alles, Michel. Ich brauche Sie nicht mehr.«

»Sehr wohl, Monsieur.« An der Tür drehte er sich verlegenum, den Blick auf M. Bouc geheftet.

»Nur keine Sorge, Michel«, tröstete ihn Bouc. »Pech, daß derMord ausgerechnet in dem Ihrer Obhut anvertrauten Wagengeschah. Eine Pflichtverletzung haben Sie sich nicht zuschuldenkommen lassen.«

Zufrieden verließ Pierre Michel das Abteil.

Page 85: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 85/270

10

Poirot saß ein paar Minuten gedankenverloren da.»Ich glaube«, sagte er endlich, »daß wir uns, nach allem, waswir inzwischen erfahren haben, noch einmal mit Mr. MacQueenunterhalten sollten.«

Der junge Amerikaner erschien sofort.

»Nun«, sagte er, »wie stehen die Dinge?«

»Nicht übel. Ich konnte inzwischen in Erfahrung bringen, werMr. Ratchett wirklich war.«

»Ja?« Interessiert beugte sich MacQueen vor.

»Ratchett war, wie Sie vermuteten, ein falscher Name. Ratchett war Cassetti, der berüchtigte Kidnapper, der unter anderem die kleine Daisy Armstrong geraubt und getötet hat.«

Auf Hector MacQueens Gesicht erschien ein Ausdruck fassungslosen Erstaunens. Dann wurde er feuerrot.

»Dieses verdammte Stinktier!« fluchte er.

»Sie hatten keine Ahnung?«

»Nein, Sir«, antwortete der junge Amerikaner. »Hätte ich esgeahnt, hätte ich mir eher die rechte Hand abgehackt, als fürdiesen Halunken zu arbeiten.«

»Die Sache geht Ihnen anscheinend nahe, Mr. MacQueen.«»Nicht ohne Grund. Mein Vater, Monsieur Poirot, war der

Bezirksstaatsanwalt, der den Fall bearbeitete. Ich habe Mrs.Armstrong mehr als einmal gesehen. Eine reizende Frau, abervöllig gebrochen. Wenn je ein Mensch sein Schicksal verdiente«, grollte er, »so ist es Ratchett oder Cassetti. Mich freut seinEnde. Eine solche Bestie verdient nicht zu leben!«

Page 86: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 86/270

»Sie reden beinahe so, als wären Sie durchaus bereit gewesen,die gute Tat selbst zu vollbringen.«

»Möglich. Ich…« Hector MacQueen unterbrach sich und fügtefast schuldbewußt hinzu: »Mir scheint, ich bin auf dem bestenWeg, mich verdächtig zu machen.«

»In meinen Augen würden Sie sich verdächtiger machen,wenn Sie unmäßigen Kummer wegen Mr. Ratchetts Tod heuchelten«, erwiderte Poirot.

»Das würde ich nicht einmal tun, um mich vor dem elektri

schen Stuhl zu retten«, stieß MacQueen grimmig hervor. Undnach einer Weile setzte er hinzu: »Legen Sie es bitte nicht alszudringliche Neugier aus, wenn ich Sie frage, wie Sie hinterCassettis Identität gekommen sind?«

»Durch das Bruchstück eines Briefes, das ich in seinem Abteilgefunden habe.«

»Aber das war doch – war doch eine sträfliche Nachlässigkeit

von dem Alten.«»Das«, sagte Poirot, »hängt wohl von dem jeweiligen Stand

punkt ab.«

Der junge Mann schien diese Bemerkung verwirrend zu finden, denn er sah Poirot an, als erhoffe er von ihm einen Hinweis.

»Meine Aufgabe besteht zunächst darin, mich über das Tunund Lassen der einzelnen Passagiere zu informieren. Damit willich niemanden beleidigen, verstehen Sie? Ich handle nur entsprechend der in unserem Beruf üblichen Routine.«

»Nur zu, Monsieur Poirot, prüfen Sie mich auf Herz und Nieren. Ich nehme es Ihnen gewiß nicht übel.«

Ȇber die Nummer Ihres Abteils brauche ich Sie nicht zu be

fragen«, sagte Poirot lächelnd, »weil ich es eine Nacht mit Ihnen

Page 87: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 87/270

teilte. Es ist das Abteil zweiter Klasse Nr. 6 und 7, das Ihnen,nachdem ich ging, wieder allein gehörte.«

»Ganz recht.«

»Jetzt schildern Sie mir genau, was Sie gestern abend nachdem Essen getan haben.«

»Nichts einfacher als das. Ich ging in mein Abteil zurück, lasein bißchen, stieg in Belgrad aus, ging ein paarmal auf demBahnsteig auf und ab, fand, daß es grausig kalt sei, und kletterte in die Wärme zurück. Eine Weile unterhielt ich mich mit der

 jungen Engländerin, meiner Nachbarin. Dann begann ich mitOberst Arbuthnot ein interessantes Gespräch – ah, Sie sind ja anuns vorübergekommen, Monsieur Poirot, und haben uns zusammen gesehen. Dann suchte ich Mr. Ratchett auf. Es handeltesich, wie gesagt, um die Korrespondenz wegen der Antiquitäten. Nachdem ich ihm gute Nacht gewünscht hatte und wiederin den Gang hinaustrat, stieß ich dort abermals auf Oberst Ar

 buthnot. Sein Bett war schon für die Nacht gerichtet worden, sodaß ich ihm vorschlug, mich in mein Abteil zu begleiten. Wirrauchten und tranken und erörterten dabei die Weltpolitik, dieMaßnahmen der indischen Regierung, unsere eigene finanzielleLage und die Krise in Wall Street. Im allgemeinen meide ichden Umgang mit Briten – sie sind eine halsstarrige Gesellschaft–, aber dieser Mann gefällt mir.«

»Wissen Sie, um wieviel Uhr er Sie verließ?«»Reichlich spät. Zwei wird es wohl gewesen sein.«

»Haben Sie bemerkt, daß der Zug hielt?«

»Natürlich. Wir wunderten uns ein wenig. Schauten auchhinaus und sahen die weißen Schneewälle. Wir dachten allerdings nicht, daß die Lage so ernst sein könnte.«

Page 88: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 88/270

»Was geschah, als Oberst Arbuthnot schließlich gute Nachtsagte?«

»Er ging in sein Abteil, und ich rief den Kondukteur, damit ermein Bett machte.«

»Wo hielten Sie sich auf, während er Ihr Bett machte?«

»Ich stand rauchend im Gang, direkt vor meiner Tür.«

»Und dann?«

»Legte ich mich hin und schlief bis zum Morgen.«

»Sind Sie, außer in Belgrad, noch einmal aus dem Zug gestiegen?«

»Arbuthnot und ich dachten, es wäre gut, wenn wir uns inVin… Wie heißt doch das Nest? Vin – Von – ah Vincovci – alsowenn wir uns in Vincovci ein bißchen Bewegung machten.Doch der wütende Schneesturm trieb uns bald wieder hinein.«

»Durch welche Tür sind Sie ausgestiegen?«

»Durch die, die unserem Abteil am nächsten lag.«»Also die beim Speisewagen?«

»Ja.«

»Erinnern Sie sich, ob sie abgeriegelt war, Mr. MacQueen?«Der junge Amerikaner überlegte.

»Ja, ja, jetzt fällt es mir ein«, sagte er endlich. »Es war eine Art

Stange vorgelegt, die über die Klinke griff. Meinen Sie das?«»Ja. Legten Sie bei Ihrer Rückkehr die Stange wieder vor?«

»N – nein, ich glaube nicht. Ich stieg zwar als letzter ein, dochich kann mich nicht erinnern, daß ich die Tür wieder gesicherthätte.« Und plötzlich fügte er hinzu: »Ist das so wichtig?«

»Vielleicht. Nun vermute ich, Monsieur, daß die Tür Ihres Abteils offenstand, als Sie sich mit Oberst Arbuthnot unterhiel

ten.«

Page 89: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 89/270

Hector MacQueen nickte.

»Sagen Sie mir bitte, ob nach der Abfahrt von Vincovci bis zudem Augenblick, in dem Sie und Oberst Arbuthnot sich trennten, jemand durch den Gang kam.«

»Mir scheint, der Kondukteur ging einmal vorüber, und zwaraus der Richtung des Speisewagens«, erwiderte MacQueen.»Und dann auch eine Frau, die jedoch ging in die entgegengesetzte Richtung.«

»Wer war die Frau?«

»Ich habe nicht aufgepaßt, nur irgend etwas Rotes, Seidigesvorübergleiten sehen. Auch wenn ich weniger eifrig mit Ar

 buthnot diskutiert hätte, hätte ich die Betreffende nicht erkannt,da mir eine in diese Richtung gehende Person sofort den Rücken zukehrt, nachdem sie meine Tür passiert hat.«

»Vermutlich ging sie auf die Toilette, wie?« meinte HerculePoirot.

»Vermutlich.«

»Haben Sie sie zurückkommen sehen?«

»Donnerwetter, jetzt, da Sie es erwähnen, fällt es mir ein –nein, ich habe sie nicht mehr gesehen. Doch zurückgekommenist sie natürlich auf jeden Fall.«

»Nun werde ich Sie nicht mehr lange belästigen, Mr. Mac-

Queen. Nur eine Frage noch: Rauchen Sie Pfeife?«»Nein, Sir.«

»Hm…« Poirot überlegte. »Ich denke, das war vorläufig alles.Schicken Sie mir jetzt bitte den Kammerdiener von Ratchettherein. Sind Sie beide eigentlich immer zweiter Klasse gereist?«

»Er ja, ich nicht. Ich hatte meist das Abteil neben dem vonRatchett. Er pflegte dann den größten Teil seines Gepäcks beimir unterzubringen. Aber bei dieser Reise waren mit Ausnah

Page 90: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 90/270

me des einen Abteils, das er für sich belegte, alle Plätze ersterKlasse schon vergeben.«

»Ich verstehe. Besten Dank, Mr. MacQueen.«

Page 91: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 91/270

11

Der Amerikaner wurde von dem blassen Engländer mit demausdruckslosen Gesicht abgelöst, den Poirot schon tags zuvorgesehen hatte. In korrekter Haltung stand er abwartend da, bisder Detektiv ihn durch eine Handbewegung zum Sitzen aufforderte.

»Wenn man mich recht unterrichtet hat, sind Sie der Kammerdiener von Mr. Ratchett?«

»Ja, Sir.«

»Wie heißen Sie?«

»Edward Henry Masterman.«

»Ihr Alter?«

»Neununddreißig.«

»Ihre ständige Adresse?«

»21 Friar Street, Cherkenwell.«

»Sie haben gehört, daß Ihr Herr ermordet wurde?«

»Ja, Sir. Es ist furchtbar.«

»Wollen Sie mir bitte sagen, um welche Zeit Sie Mr. Ratchettdas letzte Mal gesehen haben?«

»Das muß gestern abend gegen neun gewesen sein«, erwiderte der Diener nach kurzem Überlegen. »Vielleicht auch etwasspäter. Ich ging wie üblich zu ihm hinein, um meinen Pflichtennachzukommen.«

»Worin bestanden diese?«

»Seine Kleidungsstücke zusammenzufalten oder aufzuhängen, Sir. Das Gebiß in das Mundwasserglas zu legen und dar

Page 92: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 92/270

auf zu achten, daß alles vorhanden war, was er für die Nacht benötigte.«

»Ist Ihnen gestern etwas an ihm aufgefallen? War er wiesonst?«

»Ich glaube, er war erregt.«

»Woran haben Sie das gemerkt? Und warum war er erregt?«

»Wegen eines Briefes, den er gelesen hatte. Er fragte mich, obich das Schreiben in sein Abteil gelegt hätte, was ich natürlichverneinte. Doch er beschimpfte mich und fand an allem, was

ich tat, etwas auszusetzen.«»Nörgelte er sonst nie?«

»Oh, häufig. Er geriet sehr leicht in Wut.«

»Hat Mr. Ratchett ab und zu ein Schlafmittel genommen?«

»Wenn wir nachts reisten. Er behauptete, er könne sonst beidem Geräusch der Räder nicht schlafen.«

»Wissen Sie, welches Mittel er für gewöhnlich nahm?« Jetzt beugte sich Dr. Constantine etwas vor, diese Antwort in

teressierte ihn besonders.

»Das weiß ich nicht, Sir. Der Name des Mittels steht nicht aufdem Flaschenetikett – nur: ›Vor dem Schlafengehen einzunehmen‹.«

»Hat er das Mittel auch gestern abend genommen?«

»Ja, Sir. Ich goß es in ein Glas, das ich ihm in Reichweite hinstellte.«

»Aber Sie haben nicht mit eigenen Augen gesehen, wie er estrank?«

»Nein, Sir. Ich fragte dann, ob er heute morgen geweckt zuwerden wünsche, worauf er erwiderte, ich solle ihn nicht stö

ren, er werde klingeln.«

Page 93: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 93/270

»War das ungewöhnlich?«

»Durchaus nicht, Sir. Er pflegte dem Schaffner zu klingeln, der mich dann holen mußte.«

»War er ein Frühaufsteher?«

»Das hing ganz von seiner Laune ab, manchmal stand er zumFrühstück auf, manchmal erst kurz vor dem Lunch.«

»So daß Sie heute nicht beunruhigt waren, als es immer späterwurde und er sich nicht meldete?«

»Genau, Sir.«

»Ist Ihnen bekannt, daß Ihr Herr Feinde hatte?«

»Ja, Sir«, gab der Mann unumwunden zu.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hörte zufällig, wie er mit Mr. MacQueen über gewisseBriefe sprach.«

»Haben Sie Ihren Arbeitgeber gemocht, Masterman?«

Das Gesicht des Dieners wurde, wenn möglich, noch ausdrucksloser als zuvor.

»Die Frage ist mir peinlich, Sir. Denn Mr. Ratchett war eingroßzügiger Chef.«

»Aber Sie mochten ihn trotzdem nicht, wie?«

»Ich hege für Amerikaner im allgemeinen keine großen Sym

pathien.«»Sind Sie in Amerika gewesen?«

»Nein, Sir.«

»Wissen Sie noch, ob Sie vor Jahren Zeitungsberichte über dieEntführung der kleinen Daisy Armstrong gelesen haben?«

Page 94: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 94/270

»Ja, Sir.« Jetzt stieg ein wenig Farbe in die blassen Wangen.»Eine derart gräßliche Geschichte vergißt man nicht so leicht.Das Kind war noch sehr klein, nicht wahr?«

»War Ihnen bekannt, daß Ihr Arbeitgeber, Mr. Ratchett, derHauptschuldige an diesem Verbrechen war?«

»Nein, wahrhaftig nicht, Sir«, versicherte der Mann, und zumerstenmal verriet seine Stimme ein wenig Wärme und Gefühl.»Das kann ich kaum glauben, Sir.«

»Und dennoch war es so. Nun schildern Sie mir – der Ord

nung halber – den weiteren Verlauf des Abends. Was taten Sie,nachdem Sie Mr. Ratchett allein ließen?«

»Ich teilte Mr. MacQueen mit, daß Mr. Ratchett ihn sehenwolle, ging dann in mein eigenes Abteil und las.«

»Ihr Abteil ist…«

»Das letzte in der zweiten Klasse. Direkt neben dem Speisewagen.«

Poirot verglich die Angabe mit seinem Plan. »Richtig. Undwelches ist Ihr Bett?«

»Das untere, Nr. 4.«

»Und wer schläft in dem oberen?«

»Ein dicker Italiener, Sir.«

»Spricht er Englisch?«

»Nun, so eine Art Englisch.« Das klang verächtlich. »DerMann war in Amerika, in Chicago, soviel ich weiß.«

»Unterhalten Sie sich viel mit ihm?«

»Nein, Sir. Ich ziehe ein Buch der Unterhaltung vor.«

Nur mit Mühe unterdrückte Poirot ein Lächeln. Er glaubte dieSzene vor sich zu sehen: den großen, dicken, gesprächigen Ita

Page 95: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 95/270

liener, und den Gentleman-Diener, der ihn von oben herab behandelte und praktisch schnitt.

»Und was lesen Sie gerade, wenn ich fragen darf?«

»Fesseln der Liebe von Arabelle Richardson.«

»Ein schönes Buch?«

»Ich finde es sehr spannend.«

»Schön. Sie kehrten also in Ihr Abteil zurück und ließen sichvon den Fesseln der Liebe fesseln. Bis wann?«

»Gegen zehn Uhr dreißig wollte dieser Italiener schlafen gehen, worauf der Schaffner erschien und die Betten zurechtmachte.«

»Und Sie gingen auch ins Bett und schliefen?«

»Ich legte mich hin – ja, Sir. Aber ich habe nicht geschlafen.« 

»Warum nicht?«

»Ich bekam plötzlich Zahnschmerzen.« 

»Oh – das tut mir leid.« 

»Es waren sehr starke Schmerzen, Sir.«

»Haben Sie etwas dagegen eingenommen?«

»Ich rieb das Zahnfleisch mit Nelkenöl ein, was den Schmerzzwar ein bißchen linderte, aber an Schlaf war trotzdem nicht zudenken. Ich knipste deshalb die Leselampe an und begann wie

der zu lesen, um mich abzulenken.«»Stellte sich der Schlaf denn überhaupt nicht ein?« 

»Doch, Sir. Gegen vier Uhr morgens.«

»Und Ihr Gefährte?« 

»Dieser Italiener? Oh, der schnarchte nicht schlecht!« 

»Er hat das Abteil nachts nicht verlassen?«

»Nein, Sir.«

Page 96: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 96/270

»Und Sie?«

»Ich auch nicht.« 

»Haben Sie im Laufe der Nacht irgend etwas gehört?« 

»Nichts Ungewöhnliches, Sir. Ich meine, da der Zug stand, 

war es sehr still.«

Poirot überlegte einen Augenblick. »Tja, da gibt es wohl nichtmehr viel zu sagen. Zu der Tragödie können Sie keinerlei Angaben machen?«

»Leider nein.«

»Wissen Sie zufällig, ob Mr. Ratchett und Mr. MacQueen jemals Streit miteinander hatten?«

»O nein, Sir. MacQueen ist ein sehr angenehmer Gentleman.«

»Wo waren Sie in Stellung, bevor Mr. Ratchett Sie engagierte?«

»Bei Sir Henry Tomlinson, Sir. Auf dem Grosvenor Square.«

»Warum haben Sie die Stellung aufgegeben?«»Sir Henry ging nach Ostafrika und benötigte meine Dienste

nicht mehr. Doch er würde bestimmt für mich bürgen. Ich warmehrere Jahre bei ihm.«

»Und wie lange waren Sie bei Mr. Ratchett?«

»Etwas mehr als neun Monate, Sir.«

»Ich danke Ihnen, Masterman. Sind Sie übrigens Pfeifenraucher?«

»Nein, Sir. Ich rauche nur Zigaretten.«

»Danke. Das genügt.«

Der Kammerdiener zögerte.

»Verzeihung, Sir – aber die ältere Amerikanerin ist schreck

lich aufgeregt. Sie behauptet, den Mörder genau zu kennen.«

Page 97: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 97/270

»So?« Hercule Poirot lächelte. »Dann wollen wir von ihremWissen profitieren.«

»Soll ich sie herschicken, Sir? Sie verlangt unentwegt, mit jemandem von der Polizei zu sprechen. Der Schaffner bemühtsich vergeblich, sie zu beruhigen.«

»Schicken Sie sie nur zu uns, mein Freund. Wir werden unsihre Geschichte mit Vergnügen anhören.«

Page 98: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 98/270

12

Vor Aufregung ganz außer Atem, fegte Mrs. Hubbard in denSpeisewagen. Sie war kaum imstande, deutlich zu sprechen.

»Schnell – schnell, sagen Sie mir… wer vertritt hier die Behörde? Ich verfüge über sehr, sehr wichtige Informationen undwünsche, sie dem behördlichen Vertreter so rasch wie möglichmitzuteilen. Wenn Sie, meine Herren…« Ihr flackernder Blickzuckte zwischen den drei Männern hin und her. Poirot beugte

sich vor.»Berichten Sie mir, Madame«, sagte er. »Aber zuerst machen

Sie es sich bitte hier bequem.«

Mrs. Hubbard plumpste schwer auf den Stuhl, der Poirot gegenüberstand.

»Was ich Ihnen zu sagen habe, ist folgendes: Heute nacht

wurde im Zug ein Mord verübt, und der Mörder war in meinem Abteil!« Sie legte eine Pause ein, damit ihre Worte auchwirkten.

»Madame, vielleicht irren Sie sich.«

»Irren? Pah! Ich weiß, was ich sage. Und ich will Ihnen auchdie näheren Einzelheiten nicht verschweigen. Ich hatte bereitsgeschlafen und wachte plötzlich wieder auf. Im Abteil war es

dunkel und trotzdem wußte ich, daß ein Mann da war. Ich warvor Schreck und Angst wie gelähmt und konnte weder rufennoch schreien. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Stocksteif lag ich da und dachte: Gnade und Barmherzigkeit, manwill mich ermorden. Ach, die Ängste, die ich ausstand, kann ichIhnen gar nicht beschreiben! Und mir fielen alle Geschichtenvon Eisenbahnüberfällen wieder ein, die ich je gelesen hatte.

Dann dachte ich wiederum: Nun, meinen Schmuck wird er je

Page 99: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 99/270

denfalls nicht finden. Denn sehen Sie, meine Herren, den hatteich in einen Strumpf gesteckt und unter mein Kopfkissen gelegt. Sehr bequem war das zwar nicht, der harte Höcker drückte

ganz schön… Doch das gehört nicht zur Sache. Ja, wo war ichdoch stehengeblieben?«

»Ihnen war klargeworden, Madame, daß sich in Ihrem Abteilein Mann befand.«

»Ja, richtig. Mit geschlossenen Augen lag ich da und dachte:Dem Himmel sei Dank, daß meine Tochter nichts von der Ge

fahr weiß, in der ich mich befinde! Und dann konnte ich plötzlich wieder klar denken. Vorsichtig tastete ich mit der Handnach der Klingel und fand sie auch. Aber der Kondukteur kamnicht, so fest ich auch drückte und drückte. Ach, Monsieur, ichkann Ihnen versichern, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen.Gnade und Barmherzigkeit, sagte ich mir, vielleicht sind dieübrigen Insassen des Zuges schon allesamt ermordet worden.

Er stand ohnehin, und es herrschte eine wahrhaft gräßliche Stille. Aber ich klingelte weiter, immer weiter, und, o welche Erleichterung, als ich im Gang Schritte hörte und es gleich darauf

 bei mir klopfte. ›Kommen Sie herein!‹ schrie ich und knipstegleichzeitig das Licht an. Und ob Sie es glauben oder nicht,Monsieur – da war keine Menschenseele!«

Das schien für Mrs. Hubbard keine Antiklimax, sondern der

dramatische Höhepunkt ihrer Geschichte zu sein.»Und was passierte dann, Madame?«

»Ich berichtete dem Kondukteur mein Erlebnis, doch erglaubte mir offensichtlich nicht. Er bildete sich wohl ein, ichhätte geträumt. Doch ich blieb hartnäckig. Ich zwang ihn, unterdem Bett nachzusehen, obwohl er mir versicherte, dort sei es soeng, daß sich höchstens ein Hund oder eine Katze verstecken

könnten. Tatsächlich erwies sich, daß der Eindringling nicht

Page 100: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 100/270

mehr da war. Aber daß er dagewesen war, steht für mich fest,und als der Schaffner versuchte, mir das Ganze auszuredenund mich zu beschwichtigen, wurde ich so wütend wie noch

nie. Was denkt sich dieser Einfaltspinsel eigentlich? Ich bin keinhysterisches Frauenzimmer, das Gespenster sieht, Mr. – Pardon, wie lautet Ihr Name?«

»Poirot, Madame. Und dies ist M. Bouc, ein Direktor derSchlafwagengesellschaft, und dies Dr. Constantine.«

»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, murmelte Mrs.

Hubbard ziemlich geistesabwesend und stürzte sich dann vonneuem in ihren Bericht.

»Und dann habe ich mich dummerweise ziemlich vergaloppiert. Mir kam nämlich die Idee, es könne nur der Mann vonnebenan gewesen sein – der arme Teufel, der ermordet wordenist. Daher befahl ich dem Kondukteur, nachzusehen, ob dieVerbindungstür verriegelt war, und natürlich war sie offen. Auf

mein Geheiß hin riegelte er sie dann ab, und nachdem er gegangen war, verbarrikadierte ich sie noch mit einem Koffer.«

»Um welche Zeit passierte das alles, Mrs. Hubbard?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe nicht auf die Uhrgesehen. Dazu war ich zu aufgeregt.«

»Und was für eine Theorie haben Sie jetzt?«

»Eine wirklich überflüssige Frage, Monsieur Poirot! Das liegtdoch auf der Hand. Der Mann, der in mein Abteil eindrang,war der Mörder. Wer sonst?«

»Und Sie glauben, er habe sich ins Nebenabteil zurückgeschlichen?«

»Weiß ich, was er tat? Ich hatte doch die Augen geschlossen.«

»Er könnte auch durch Ihre Abteiltür auf den Gang geflüchtet

sein.«

Page 101: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 101/270

»Ich kann mich dazu nicht äußern. Wie gesagt, hatte ich dieAugen fest geschlossen, Monsieur Poirot.« Mrs. Hubbard seufzte. »Herrgott, war ich erschrocken! Wenn meine Tochter…«

»Und Sie sind nicht der Meinung, Madame, daß die Geräusche, die Sie hörten, aus dem Abteil des Ermordeten kamen,daß sich dort jemand bewegte?«

»Nein, nein, dieser Meinung bin ich nicht, Mr. – wie war dochgleich der Name? – Mr. Poirot. Der Mann war im selben Abteilwie ich, nicht nebenan. Ich habe ja einen Beweis dafür.«

Triumphierend begann sie in ihrer riesigen Handtasche zuwühlen. Sie entnahm ihr zwei große, saubere Taschentücher,eine Hornbrille, ein Röhrchen Aspirin, ein Paket Glaubersalz,eine Zelluloidtube mit grasgrünen Pfefferminzplätzchen, einenSchlüsselbund, eine Schere, ein Heft mit American-Express-Schecks, einen Schnappschuß von einem ungewöhnlich reizlosen Kind, mehrere Briefe, eine fünfreihige Kette falscher Ori

entperlen und einen kleinen metallenen Gegenstand – einenKnopf.

»Sehen Sie diesen Knopf hier? Nun, mir gehört er nicht. Er istvon keinem meiner Kleider abgerissen, und dennoch fand ichihn heute morgen in meinem Abteil.«

Als sie ihren Fund auf den Tisch legte, beugte sich M. Boucvor und stieß einen Ruf des Erstaunens aus.

»Das ist ein Knopf von der Uniformjacke eines Schlafwagenschaffners.«

»Dafür kann es eine ganz natürliche Erklärung geben«, sagtePoirot. Freundlich wandte er sich an die aufgeregte Dame:»Den Knopf kann sich der Kondukteur abgerissen haben, Madame, entweder als er in Ihrem Abteil den Eindringling suchte,oder als er abends Ihr Bett zurechtmachte.«

Page 102: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 102/270

Seine Worte erregten heftigen Unwillen.

»Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von Ihnen allen haltensoll!« entrüstete sich Mrs. Hubbard. »Nichts als Einwände bekomme ich zu hören. Aber passen Sie einmal auf! Vor dem Einschlafen habe ich eine Zeitschrift gelesen, die ich, bevor ich dasLicht ausdrehte, auf ein kleines Kästchen legte, das beim Fenster auf dem Boden stand. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Einmütig versicherten die drei, daß sie verstanden hätten.

»Gut, dann hören Sie weiter! Der Kondukteur schaute von der

Tür aus unter das Bett und trat hierauf an die Verbindungstür,um abzuriegeln. Dem Fenster näherte er sich nicht. Trotzdemlag dieser Knopf heute früh genau auf meiner Zeitschrift. Jetztmöchte ich gern wissen, wie Sie das nennen?«

»Das nenne ich einen Beweis«, erwiderte Poirot und besänftigte damit die empörte Dame.

»Ich werde wild wie eine Hornisse, wenn jemand mir nicht

glaubt«, erklärte sie.»Madame, wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Was

Sie uns mitgeteilt haben, ist ebenso interessant wie wertvoll«,sagte Poirot beschwichtigend. »Darf ich Ihnen jetzt noch einpaar Fragen stellen?«

»Aber selbstverständlich.«

»Wieso haben Sie eigentlich die Tür nicht schon früher abgeriegelt; da Ihnen dieser Ratchett doch so mißfiel?«

»Aber das hatte ich ja«, antwortete Mrs. Hubbard prompt.

»Ach! Tatsächlich?«

»Um ganz genau zu sein, muß ich allerdings gestehen, daß ichdie sympathische Schwedin gebeten hatte nachzusehen, ob abgeriegelt sei, was sie bejahte.«

»Warum haben Sie sich nicht selbst überzeugt, Madame?«

Page 103: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 103/270

»Weil ich bereits im Bett lag und mein Schwammbeutel an derTürklinke hing, so daß ich nicht sehen konnte, ob der Riegelvorgeschoben war oder nicht.«

»Wie spät war es, als Sie die schwedische Dame baten, nachzusehen?«

»Warten Sie – lassen Sie mich überlegen. Gegen halb elf oderein Viertel vor elf, denke ich. Sie kam wegen eines Aspirins, dieÄrmste, und nachdem ich ihr gesagt hatte, wo ich es aufbewahre, holte sie es sich selbst aus meiner Tasche.«

»Sie selbst blieben im Bett?«»Ja.« Plötzlich lachte Mrs. Hubbard. »Die gute Seele war ganz

verdattert. Sie hatte zuerst versehentlich die Tür des Nebenabteils geöffnet.«

»Mr. Ratchetts Abteil?«

»Ja. Sie wissen ja wohl aus eigener Erfahrung, wie schwieriges ist, sich zu orientieren, wenn man im Zug den Gang entlanggeht und alle Türen geschlossen sind. Wie gesagt, öffnete sieirrtümlicherweise die von Ratchett. Sie war ganz außer sich,weil ihr das passiert war. Und er hat anscheinend gelacht undihr eine sehr geschmacklose Bemerkung zugerufen. Gott, wiedas arme Geschöpf aufgeregt war! ›Ich mache Irrtum undschäme mich schlimm über Irrtum‹, stieß sie in ihrem schlechten Englisch hervor. ›Er ist kein netter Mann, sagt zu mir: Sie,

Madame, zu alt!‹«Dr. Constantine kicherte, was Mrs. Hubbard unverzüglich

rügte. »Über eine so freche Antwort lacht man nicht, mein Herr.So etwas sagt kein wohlerzogener Mann zu einer Dame.«

Dr. Constantine entschuldigte sich hastig.

»Haben Sie später – irgendwann – aus Mr. Ratchetts Abteil

noch ein Geräusch gehört?« fragte Poirot.

Page 104: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 104/270

»Eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht? Was heißt das?«

»Nun – er schnarchte. Sogar fürchterlich. In der Nacht vorherkonnte ich deshalb kein Auge schließen.«

»Aber nachdem Sie über den Eindringling erschrocken waren,hörten Sie ihn wohl nicht mehr schnarchen?«

»Aber mein verehrter Monsieur Poirot! Wie konnte er schnarchen, wenn er bereits tot war?«

»Ah, richtig«, sagte Poirot. Er schien verwirrt zu sein. »Erin

nern Sie sich an die Entführung der kleinen Daisy Armstrong,die später ermordet aufgefunden wurde, Mrs. Hubbard?«

»Ja, natürlich. Und auch, daß der Verbrecher ohne Strafe davonkam. Na, wenn der mir in die Hände geraten wäre!«

»Er ist der Vergeltung nicht entkommen, Mrs. Hubbard. Er isttot – in der vergangenen Nacht gestorben.«

»Was? Sie meinen doch nicht etwa…« Vor Erregung schoßMrs. Hubbard halb von ihrem Sitz in die Höhe.

»O doch, ich meine, Ratchett war der Mann.«

»Also das muß ich sofort meiner Tochter schreiben! Habe ichIhnen nicht schon gestern abend gesagt, daß der Mann ein böses Gesicht hat? Ich hatte recht, wie Sie sehen. Meine Tochtersagt immer wieder: ›Wenn Mama eine Vorahnung hat, dann

kann man seinen letzten Dollar darauf setzen, daß sie stimmt.‹«Doch Poirot gestattete ihr kein Abschweifen.

»Waren Sie mit irgendeinem Mitglied der Familie Armstrong bekannt, Mrs. Hubbard?« unterbrach er sie.

»Nein. Die Armstrongs gehörten einem sehr exklusiven Kreisan. Doch ich habe immer gehört, Mrs. Armstrong sei eine rei

zende Frau, und ihr Mann betete sie an.«

Page 105: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 105/270

»Ich möchte Ihnen noch einmal versichern, daß wir Ihnen fürIhre Hilfe ungemein dankbar sind. Vielleicht haben Sie die Güte, mir Ihren vollen Namen zu sagen?«

»Warum nicht? Caroline Martha Hubbard.«

»Und schreiben Sie mir bitte Ihre Adresse auf.«

Mrs. Hubbard schrieb, redete dabei aber ununterbrochen weiter.

»Gott, o Gott – darüber komme ich noch nicht hinweg! Cassetti – in diesem Zug! Ich habe ihm von Anfang an mißtraut,

wissen Sie noch, Monsieur Poirot?«»Wie sollte ich nicht, Madame? Besitzen Sie übrigens einen

seidenen, scharlachroten Morgenmantel?«

»Meine Güte, was für eine drollige Frage! Selbstverständlichnicht. Ich habe zwei Morgenröcke bei mir, einen aus schönem,warmem Flanell, für eine Schiffsreise so richtig gemütlich. Unddann noch einen türkischen, den mir meine Tochter geschenkthat. Doch was in aller Welt kümmern Sie meine Morgenröcke?«

»Irgend jemand in einem scharlachroten Kimono hat vergangene Nacht entweder Ihr oder Mr. Ratchetts Abteil betreten.

Wie Sie vorhin sehr richtig bemerkten, ist es bei durchweg geschlossenen Türen nicht leicht, die Abteile genau auseinanderzuhalten.«

»Bei mir war niemand im scharlachroten Kimono.«»Dann muß die Betreffende zu Mr. Ratchett gegangen sein.«

Mrs. Hubbard preßte die Lippen zusammen und sagte grimmig: »Das sollte mich wahrscheinlich nicht wundern!«

»Dann haben Sie also eine Frauenstimme im Nebenabteil gehört?« fragte Hercule Poirot lebhaft.

Page 106: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 106/270

»Wie Sie das aus meinen Worten schließen konnten, versteheich nicht! Doch ich will es nicht leugnen – ja, ich habe sie gehört.«

»Aber Madame! Als ich Sie kurz zuvor nach etwaigen Geräuschen in Mr. Ratchetts Abteil gefragt habe, sagten Sie, er habenur geschnarcht.«

»Und ich habe nicht gelogen. Er hat auch eine Zeitlang geschnarcht. Aber dann…« Mrs. Hubbard schoß das Blut in dieWangen. »Monsieur, es ist nicht sehr angenehm, darüber zu

sprechen.«»Um wieviel Uhr haben Sie die Frauenstimme gehört?«

»Das weiß ich nicht. Ich war nur ein paar Minuten wach, undda hörte ich sie sprechen. Das sieht dem unsympathischenMenschen ähnlich, dachte ich und drehte mich auf die andereSeite, um weiterzuschlafen. Nie und nimmer hätte ich so etwasfreiwillig vor drei fremden Gentlemen erwähnt, Monsieur Poi

rot. Doch Sie haben es aus mir herausgequetscht.«»War das vor oder nach Ihrem Schreck über den Mann in Ih

rem Abteil?«

»Monsieur Poirot, schon wieder stellen Sie eine so unsinnigeFrage! Kann ein Toter sich noch mit einer Frau unterhalten?«

»Pardon. Sie müssen mich wirklich für sehr dumm halten,Madame.«

»Ich denke, Sie sind nur manchmal etwas zerstreut. Doch daßdieses Ungeheuer Cassetti hier im Zug war! Da steht einem jafast der Verstand still. Wenn ich das meiner Tochter schrei

 be…«

Poirot brachte es mit seiner taschenspielerischen Geschicklichkeit fertig, Mrs. Hubbard zu helfen, ihren ganzen Krims

Page 107: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 107/270

krams wieder in ihrer Handtasche zu verstauen, dann brachteer die Dame zur Tür.

Im letzten Augenblick, bevor sie das Abteil verließ, sagte er:»Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen, Madame.«

Mrs. Hubbard betrachtete das feine Leinentüchlein, das er ihrhinhielt.

»Das gehört nicht mir, Monsieur Poirot.«

»O Pardon. Der eingestickte Buchstabe H…«

»Trotzdem gehört es mir nicht. Meine Wäsche ist mit C. M. H.

gezeichnet. Außerdem habe ich vernünftige, haltbare Taschentücher und nicht so teuren Pariser Flitterkram. Taugt ein solches Läppchen für einen richtigen Schnupfen?«

Keiner der drei Männer wagte diese Frage zu bejahen, und sosegelte Caroline Martha Hubbard als Siegerin davon.

Page 108: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 108/270

13

Kopfschüttelnd drehte M. Bouc den von Mrs. Hubbard zurückgelassenen Knopf zwischen den Fingern.

»Was bedeutet dieser Knopf?« fragte er. »Sollte Pierre Micheldoch in das Verbrechen verwickelt sein?« Er blickte seinenLandsmann antwortheischend an, doch da Poirot dieser stummen Aufforderung nicht nachkam, drängte er: »Warum haltenSie mit Ihrer Meinung hinterm Berg?«

»Weil der Knopf allzu viele Möglichkeiten zuläßt, mon ami.

Ich meine, es wäre besser, erst die schwedische Dame zu vernehmen, ehe wir irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen.« Ausdem Häuflein von Pässen suchte er den schwedischen heraus.»Da haben wir sie. Greta Ohlsson, Alter neunundvierzig.«

M. Bouc gab dem Speisewagenkellner entsprechende Anwei

sungen, und kurz darauf betrat die Dame mit dem gelblichgrauen Haarknoten und dem langen, milden Schafsgesicht dasAbteil. Ihre kurzsichtigen Augen musterten Poirot durch dieBrillengläser, doch eine besondere Erregung war ihr nicht anzumerken. Es stellte sich heraus, daß sie Französisch verstandund sprach, so daß die Unterhaltung in dieser Sprache geführtwerden konnte. Poirot begann mit den Fragen, auf die er bereits

die Antwort kannte: Name, Alter und Adresse. Und anschließend erkundigte er sich nach Greta Ohlssons Beruf.

Sie sei Oberin einer Missionsschule in der Nähe von Istanbul,erwiderte sie, und gelernte Krankenpflegerin.

»Es ist Ihnen natürlich zu Ohren gekommen, Mademoiselle,was letzte Nacht hier im Zug geschah?«

»Ja. Es ist fürchterlich. Und die Amerikanerin erzählte mir,

der Mörder habe sich in ihr Abteil eingeschlichen.«

Page 109: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 109/270

»Man berichtete mir. Mademoiselle, daß Sie als letzte Mr. Ratchett lebend gesehen hätten.«

»Das mag stimmen. Durch einen peinlichen Irrtum öffnete ichdie Tür seines Abteils. Mr. Ratchett las ein Buch. Ich stammelteschnell eine Entschuldigung und zog mich zurück.«

»Hat er etwas gesagt?«

Eine schamhafte Röte färbte das Gesicht der ehrenwertenDame. »Er lachte und sagte ein paar Worte, die – die ich nichtganz verstand.«

»Und was haben Sie dann getan, Mademoiselle?« forschtePoirot und ließ die heikle Angelegenheit taktvoll fallen.

»Ich bat Mrs. Hubbard, die Amerikanerin, um ein paar Aspirin, die sie mir bereitwillig gab.«

»Fragte sie, ob die Verbindungstür zum Nebenabteil abgeriegelt sei?«

»Ja.«»War sie abgeriegelt?«

»Ja.«

»Und später?«

»Nahm ich in meinem Abteil das Aspirin und legte mich hin.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Als ich zu Bett ging, war es fünf Minuten vor elf, wie ich beim Aufziehen meiner Uhr bemerkte.«

»Saß der Zug schon fest, ehe Sie einschliefen?«

»Ich glaube nicht. Als ich anfing, schläfrig zu werden, hieltenwir wohl auf einer Station.«

»Das kann nur Vincovci gewesen sein. Ihr Abteil ist dieseshier, nicht wahr, Mademoiselle?« Poirot tippte auf eine Stelle

seines Planes. »Schlafen Sie im unteren oder im oberen Bett?«

Page 110: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 110/270

»Im unteren. Nr. 10.«

»Und wer schläft in dem anderen?«

»Eine junge Engländerin, sehr nett, sehr freundlich. Siekommt aus Bagdad.«

»Hat sie nach dem Aufenthalt in Vincovci das Abteil verlassen?«

»Sicherlich nicht.«

»Wieso können Sie das mit solcher Bestimmtheit sagen?«

»Weil ich einen sehr leichten Schlaf habe. Wenn sie von obenheruntergeturnt wäre, wäre ich bestimmt aufgewacht.«

»Haben Sie selbst das Abteil verlassen?«

»Nicht vor dem Morgen.«

»Haben Sie einen scharlachroten Seidenkimono, Mademoiselle?«

»Solch einen Luxusgegenstand besitze ich nicht. Ich habe ei

nen bequemen, molligen Morgenrock aus Trikotstoff.«»Und die andere Dame? Miss Debenham?«

»Ein malvenfarbenes orientalisches Gewand, wie man es imOsten überall kaufen kann.«

Poirot nickte. Dann fragte er freundlich:

»Was ist für Sie der Anlaß zu dieser Reise? Machen Sie Ur

laub?«»Ja. Aber ehe ich nach Schweden fahre, will ich eine Woche

 bei meiner Schwester in Lausanne verbringen.«

»Wären Sie wohl so liebenswürdig, mir Namen und AdresseIhrer Schwester zu notieren, Mademoiselle.«

»Gern.« Sie nahm den Bleistift aus seiner Hand entgegen undschrieb, ohne zu zaudern, das Gewünschte nieder.

Page 111: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 111/270

»Sind Sie in Amerika gewesen?«

»Nein. Beinahe wäre ich einmal hingekommen. Ich sollte einekranke Dame begleiten, doch im letzten Augenblick zerschluges sich – zu meinem großen Bedauern. Sie sind anständig undgut, die Amerikaner, und spenden viel Geld für Schulen undKrankenhäuser. Und sie sind sehr praktisch.«

»Haben Sie je von einem Fall Armstrong gehört?«

»Nein. Um was handelt es sich dabei?«

Poirot gab die nötigen Erklärungen. Greta Ohlsson war so

entrüstet, daß ihr gelber Haarknoten zu zittern begann.»Was gibt es doch für böse Menschen auf dieser Welt! Man

könnte an der Menschheit fast verzweifeln. Die arme Mutter!Kein Wunder, daß ihr das Herz brach.«

Die blonde Tochter Skandinaviens ging in ihr Abteil zurück,das sanfte Gesicht von zorniger Röte übergossen, die Augenvon Tränen getrübt.

»Was notieren Sie da, mon cher?« forschte M. Bouc, als Hercule Poirot eifrig Zeile um Zeile auf ein Blatt Papier schrieb.

»Es ist mir zur zweiten Natur geworden, stets systematischund ordentlich vorzugehen. Ich notiere mir nur den chronologischen Ablauf der Ereignisse.« Nach dem letzten Federstrichreichte er M. Bouc das Papier.

»9.15: Zug fährt von Belgrad ab.Gegen 9.40: Kammerdiener verläßt Ratchett und läßt Schlaf

trunk bzw. Glas mit Schlafmittel in Reichweite stehen.

Gegen 10: MacQueen verläßt Ratchett.

Gegen 10.40: Greta Ohlsson sieht Ratchett (zum letzten Malwird er lebend gesehen). Er liest ein Buch.

0.10: Der Zug fährt von Vincovci ab (verspätet).

Page 112: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 112/270

0.30: Der Zug bleibt in der Schneewehe stecken.

0.37: Ratchetts Glocke läutet. Der Kondukteur folgt dem Klingelzeichen. Ratchett ruft ihm durch die Tür zu: ›Ce n’est rien. Je

me suis trompé.‹

Gegen 1.17: Mrs. Hubbard bildet sich ein, es sei ein Mann inihrem Abteil. Klingelt nach dem Schaffner.«

M. Bouc nickte beifällig.

»Das ist bewunderungswürdig klar.« 

»Fällt Ihnen nichts Merkwürdiges daran auf?«

»Nein. Mir scheint alles sehr übersichtlich und klar. Und aus 

allem scheint hervorzugehen, daß das Verbrechen um 1.15 Uhrverübt wurde. Die beschädigte Uhr zeigt es uns, und Mrs.Hubbards Geschichte paßt auch dazu. Und wenn Sie meineMeinung hören wollen, mon ami, so sage ich Ihnen, der Mörderist der dicke Italiener. Er kommt aus Amerika – aus Chicago.Bedenken Sie auch, daß die Lieblingswaffe der Italiener dasMesser ist. Mit ihr sticht er nicht einmal, sondern mehrmalsund sinnlos zu, weil sein südländisches Temperament nichtMaß noch Ziel kennt.«

»Das klingt recht glaubhaft.«

»Zweifellos ist das die Lösung des Rätsels«, versicherte M.Bouc. »Zweifellos steckten die beiden – Ratchett und er – bei

der Entführungsaffäre unter einer Decke. Cassetti ist ein italienischer Name. Und dann hat Ratchett seinen Komplizen irgendwie betrogen. Der Italiener spürt ihn schließlich auf,schickt ihm die Drohbriefe und rächt sich am Ende auf brutaleWeise. Es ist ganz einfach.«

Poirot schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Das ist es leider nicht, wie ich fürchte.«

Page 113: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 113/270

»Pah, ich bin überzeugt, daß es den Nagel auf den Kopftrifft«, sagte M. Bouc, sich mehr und mehr für seine Theorieerwärmend. »Und der Kammerdiener mit den Zahnschmerzen,

der hoch und heilig schwört, der dicke Italiener habe das Abteilkeine Minute verlassen – wo bringen Sie ihn und seine Aussageunter?«

»Er kompliziert die Sache natürlich.«

Poirot zwinkerte amüsiert. »Nicht wahr, das ist Pech für IhreTheorie, mein Bester, und ein unsagbares Glück für unseren

Italiener, daß Ratchetts Kammerdiener von Zahnschmerzengeplagt wurde!«

»Ach was – diese kleine Unstimmigkeit wird sich von selbstregeln«, meinte M. Bouc selbstsicher und geradezu herablassend überlegen.

Aber Poirot schüttelte abermals den Kopf.

»Nein, so einfach ist die Lösung kaum«, murmelte er vor sich

hin.

Page 114: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 114/270

14

»Hören wir uns einmal an, was Pierre Michel zu diesem Knopfzu sagen hat.«

Und zum zweitenmal mußte der Schlafwagenschaffner vordem »Tribunal« erscheinen. Er sah sie fragend an.

M. Bouc räusperte sich.

»Michel«, begann er dann, »hier haben wir einen Knopf von

Ihrer Uniformjacke. Er wurde im Abteil von Mrs. Hubbard gefunden. Wie ist er Ihrer Meinung nach dorthin gekommen?«

Automatisch tastete Michels Hand die Knopfreihe ab.

»Ich habe keinen Knopf verloren, Monsieur. Das muß ein Irrtum sein.«

»Merkwürdig!«

»Ich kann es mir auch nicht erklären, Monsieur.«

Der Mann machte einen erstaunten, aber durchaus keinenschuldbewußten oder bestürzten Eindruck.

»Mit Rücksicht auf die Umstände, unter denen er gefundenwurde«, fuhr M. Bouc nachdrücklich fort, »ist es ziemlich sicher, daß der Mann, der sich nachts in Mrs. Hubbards Abteileingeschlichen hatte, den Knopf verloren hat.«

»Aber Monsieur, in Mrs. Hubbards Abteil war kein Mann.Das hat sie sich nur eingebildet.«

»Sie hat es sich nicht eingebildet, Michel. Der Mörder von Mr.Ratchett wählte diesen Weg, um zu seinem Opfer zu gelangen –und der Mörder hat diesen Knopf verloren.«

Als Michel den ganzen Umfang von M. Boucs Worten zu begreifen begann, geriet er in eine unbeschreibliche Erregung.

Page 115: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 115/270

»Das ist nicht wahr, Monsieur! Das ist nicht wahr!« schrie er.»Mich beschuldigen Sie? Ausgerechnet mich? Ich bin unschuldig. Absolut unschuldig. Warum hätte ich einen Mann töten

sollen, den ich nie zuvor gesehen hatte?«»Wo waren Sie, als Mrs. Hubbard klingelte?«

»Ich sagte es bereits, Monsieur – ich unterhielt mich im anderen Waggon mit meinem Kollegen.«

»Wir werden ihn holen lassen.«

»Tun Sie das, Monsieur. Ich bitte darum.«

Der Kondukteur des Athener Wagens wurde geholt und bestätigte Pierre Michels Behauptung. Auch der Kollege des Bukarester Wagens sei bei ihnen gewesen, und zu dritt hätten sie diedurch den Schnee verursachte Lage erörtert. Vielleicht zehnMinuten später glaubte Michel eine Klingel aus seinem Wagenzu hören. Man habe daraufhin die Verbindungstür geöffnet,und da sei das Klingeln deutlich zu hören gewesen, so daß Mi

chel Hals über Kopf davonstürzte.»Sehen Sie, Monsieur, ich bin unschuldig«, sagte Michel noch

immer ängstlich.

»Und wie erklären Sie diesen Knopf, der zweifellos von derUniform eines Schlafwagenschaffners stammt?«

»Er ist mir ein Rätsel, Monsieur. Meine Knöpfe sitzen tadellos

fest.«Und auch die beiden anderen Schaffner beteuerten, keinen

Knopf verloren zu haben. Außerdem hätten sie Mrs. HubbardsAbteil überhaupt nicht betreten.

»Beruhigen Sie sich, Michel, und versuchen Sie sich zu erinnern, ob Ihnen etwas aufgefallen ist, als Sie zu Mrs. HubbardsAbteil liefen? Sind Sie im Gang jemandem begegnet?«

»Nein, Monsieur.«

Page 116: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 116/270

»Ging jemand in derselben Richtung wie Sie den Gang entlang? Vor Ihnen oder hinter Ihnen?«

»Niemand, Monsieur.«

»Sonderbar!«

»Nicht so sehr«, griff Hercule Poirot jetzt ein. »Es ist nur eineZeitfrage. Mrs. Hubbard wacht auf und spürt die Anwesenheiteines Fremden in ihrem Abteil. Eine oder zwei Minuten langliegt sie wie gelähmt, mit festgeschlossenen Augen. Und in dieser kurzen Zeitspanne schlüpft der Verbrecher in den Gang

hinaus. Dann rafft sich die erschrockene Dame endlich auf zuklingeln. Aber der Schaffner kommt nicht sofort, hört erst dasdritte oder vierte Klingeln. Meiner Meinung nach hatte derMörder ausreichend Zeit…«

»Wofür? Wofür, mon cher? Erinnern Sie sich, daß der Zug eingekeilt zwischen hohen Schneewällen steckt.«

»Zwei Schlupfwinkel stehen dem geheimnisvollen Mörder of

fen«, erwiderte Poirot bedächtig. »Er kann in eine Toiletteflüchten oder in einem Abteil verschwinden.«

»Aber die waren alle belegt.«

»Ja.«

»Ah, Sie meinen, er sei einfach in sein eigenes Abteil gegangen?« Poirot nickte stumm.

»Das stimmt, das stimmt«, flüsterte M. Bouc, »in den zehnMinuten, die Michel mit seinen Kollegen im anderen Waggonverbringt, kommt der Mörder aus seinem Abteil, geht zu Mr.Ratchett, tötet ihn, sichert die Tür von innen durch Schloß undKette, entfernt sich durch das Abteil von Mrs. Hubbard, und alsder Kondukteur auf das Klingeln hin herbeiläuft, ist unserMörder längst wieder in seinem eigenen Abteil.«

Doch abermals erhob Hercule Poirot Einwände.

Page 117: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 117/270

»Daß es nicht ganz so einfach ablief, wird Ihnen unser verehrter Doktor auseinandersetzen, mon ami.«

Mit einer leicht ungeduldigen Geste winkte M. Bouc die dreiSchaffner hinaus, und Poirot fuhr fort:

»Es fehlen noch die Aussagen von acht Reisenden. Fünf ausder ersten Klasse: Prinzessin Dragomiroff, Graf und GräfinAndrenyi, Oberst Arbuthnot und Mr. Hardman. Drei aus derzweiten Klasse: Miss Debenham, Antonio Foscarelli und dieZofe Fräulein Schmidt.«

»Wen wünschen Sie zuerst zu sehen? Den Italiener?«»Wie hartnäckig Sie auf Ihrem Italiener bestehen. Nein, wir

werden mit der Spitze des Baumes beginnen. Vielleicht wirdMadame la Princesse die Gewogenheit haben, uns ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken. Michel, bitten Sie die Dame hierher«, rief er dem Kondukteur nach, der gerade hinausging.

»Oui, Monsieur.«

»Sagen Sie ihr, daß wir sie auch in ihrem Abteil sprechenkönnen, falls sie die Mühe scheut, hierherzukommen«, ergänzteM. Bouc. Doch Prinzessin Dragomiroff geruhte, sich dieser Mühe zu unterziehen. Sie erschien im Speisewagen, nickte herablassend und nahm Poirot gegenüber Platz.

Ihr kleines, froschähnliches Gesicht sah noch gelber aus alstags zuvor. Sie war wirklich häßlich, hatte aber, wie eine Kröte,Augen wie Edelsteine, dunkel, herrisch und eine geheime Energie und eine Geistesstärke verratend, für die sie sofort einenBeweis erbrachte.

Sie hatte eine tiefe, deutliche und ein wenig heiser klingendeStimme, mit der sie M. Bouc, der eine blumige Entschuldigungsfloskel vorbrachte, sofort unterbrach.

Page 118: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 118/270

»Das dürfen Sie sich ersparen, Messieurs. Ich begreife selbstverständlich, daß Sie alle Reisenden verhören müssen. Schließlich ist ein Mord geschehen. Ich werde Sie unterstützen, so gut

ich kann.«»Sie sind sehr liebenswürdig, Madame«, sagte Poirot.

»Ich tue nur meine Pflicht – mehr nicht. Was wünschen Sievon mir zu erfahren?«

»Ihren Vornamen und Ihre Adresse, Madame. Vielleicht ziehen Sie vor, sie eigenhändig niederzuschreiben?« Poirot bot ihr

ein Blatt Papier und einen Bleistift, doch sie schob beides zurSeite.

»Sie können es sich genausogut selbst notieren, Monsieur. Es bestehen keine orthographischen Schwierigkeiten irgendwelcher Art – Natalia Dragomiroff, 17 Avenue Kleber, Paris.«

»Sie reisen von Istanbul heim, Madame?«

»Ja. Ich war Gast der Österreichischen Botschaft. Mein Mädchen begleitet mich.«

»Würden Sie uns bitte schildern, was Sie gestern nach demDinner getan haben?«

»Gern. Ich beauftragte den Schlafwagenkondukteur, währenddes Abendessens mein Bett für die Nacht vorzubereiten, undlegte mich nach Tisch sofort hin. Bis gegen elf Uhr las ich und

drehte dann das Licht aus. Ich konnte jedoch nicht einschlafen,weil mich mein altes Rheuma plagte. Gegen Viertel vor einsklingelte ich meiner Zofe, die mich massierte und mir vorlas,

 bis ich schläfrig wurde. Um wieviel Uhr sie mich verließ, vermag ich nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Es kann eine halbe,aber auch eine ganze Stunde später gewesen sein.«

»Hatte der Zug schon angehalten?«

»Ja, er hielt bereits.«

Page 119: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 119/270

»Und während der ganzen Zeit vernahmen Sie kein ungewöhnliches Geräusch, Madame?«

»Nein.«

»Wie heißt Ihre Zofe?«

»Hildegarde Schmidt.«

»Ist sie vertrauenswürdig?«

»Durchaus. Sie steht seit fünfzehn Jahren in meinen Dienstenund stammt aus einem in Deutschland gelegenen Gut meinesverstorbenen Mannes.«

»Ich vermute, Sie waren auch in Amerika, Madame?« Bei demunvermittelten Themenwechsel hob die alte Dame die Brauen.

»Sehr oft sogar.«

»Waren Sie mit einer Familie namens Armstrong bekannt –einer Familie, die ein tragisches Geschick erlitt.«

Mit bewegter Stimme entgegnete die alte Dame: »Sie sprechen

von Freunden von mir, Monsieur.«»Ah, Sie kannten Oberst Armstrong also gut?«

»Ihn kannte ich nur oberflächlich. Doch seine Frau, SonjaArmstrong, war mein Patenkind. Mit ihrer Mutter, der Schauspielerin Linda Arden, verband mich eine innige Freundschaft.Linda Arden war ein Genie, eine der größten Tragödinnen derWelt. Als Lady Macbeth, als Magda bleibt sie unerreichbar.

Doch ich habe sie nicht nur wegen ihrer Kunst bewundert. Wirwaren eng befreundet.«

»Ist sie tot?«

»Nein, nein, sie lebt. Jedoch in größter Zurückgezogenheit.Wegen ihrer angegriffenen Gesundheit muß sie fast immer liegen.«

»Hatte sie nicht noch eine Tochter?«

Page 120: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 120/270

»Ja. Bedeutend jünger als Mrs. Armstrong.«

»Auch die lebt noch?« 

»Gewiß.« 

»Wo hält sie sich auf?«

Die alte Dame musterte Poirot mit stechendem Blick. 

»Ich bitte, mir den Grund dieser Fragen zu nennen. Was ha ben sie mit der vorliegenden Sache – dem Mord in diesem Zug– zu tun?«

»Es besteht eine Verbindung, Madame. Der Ermordete warder Mann, der die kleine Daisy Armstrong entführte und späterermordete.«

»Ah…«

Prinzessin Dragomiroff richtete sich stocksteif auf, und ihreAugenbrauen wurden zu einem einzigen waagrechten Strich.

»Dann ist dieser Mord eine gute Tat!« rief sie. »Ich hoffe, Sie

werden meinen etwas subjektiven Standpunkt verzeihen.«»Madame, ich kann ihn durchaus verstehen«, versicherte

Hercule Poirot. »Und jetzt muß ich auf die Frage zurückkommen, die Sie noch nicht beantwortet haben: Wo hält sich die

 jüngere Tochter von Linda Arden, die Schwester von Mrs.Armstrong, auf?«

»Darüber kann ich Ihnen, offen gestanden, keine Auskunft

geben, Monsieur. Mit der jüngeren Generation habe ich dieFühlung verloren. Ich glaube, sie heiratete vor einigen Jahreneinen Engländer und ging nach England, aber an den Namenihres Gatten kann ich mich nicht erinnern.«

Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Haben Sie nochFragen, Gentlemen?«

Page 121: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 121/270

»Nur eine noch, Madame. Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt ineinen sehr privaten Bereich eindringen muß. Welche Farbe hatIhr Kimono?«

»Wenn ich nicht voraussetzte, daß zwingende Gründe fürdiese Frage vorliegen, würde ich sie nicht beantworten, Monsieur. Er ist aus schwarzem Crêpe Satin.«

»Verbindlichsten Dank für Ihre Bereitwilligkeit, mir so ausführlich zu antworten, Madame. Ich habe keine weiteren Fragen.«

Sie machte eine abwehrende Geste mit ihrer schwerberingtenHand. Sie stand auf und die drei Herren mit ihr. Als sie sich zurTür wenden wollte, hielt sie jedoch plötzlich inne und sah Poirot an.

»Pardon, Monsieur, darf ich mich nach Ihrem Namen erkundigen? Irgendwie kommt mir Ihr Gesicht bekannt vor.«

»Poirot, Madame – Hercule Poirot.«

Sie schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Hercule Poirot. Ja, jetzt erinnere ich mich. Das ist Schicksal.« Und dannging sie, sehr aufrecht, ein wenig steif in ihren Bewegungen.

»Voilà une grande dame« , sagte M. Bouc. »Was halten Sie vonihr, mon vieux?«

Doch Hercule Poirot schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte

wissen, was sie mit ›Schicksal‹ meinte…«

Page 122: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 122/270

15

Als nächste wurden Graf und Gräfin Andrenyi gerufen. Dochder Graf betrat den Speisewagen allein. Kein Zweifel – er wareine bestechende Erscheinung. Mindestens eins achtzig groß,

 breit in den Schultern und schmal in den Hüften. Er trug einenhervorragend geschnittenen englischen Tweedanzug, und manhätte ihn für einen Engländer halten können, hätte er mit demlangen Schnurrbart und den hochangesetzten Wangenknochen

nicht doch eher fremdländisch gewirkt.»Messieurs, womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sie werden es begreiflich finden, daß die Ereignisse der vergangenen Nacht mich zwingen, allen Reisenden gewisse Fragenvorzulegen.«

»Durchaus, durchaus. Ich verstehe Ihre Frage völlig und

fürchte nur, daß weder meine Frau noch ich Ihnen irgendwiehelfen können. Wir haben geschlafen und überhaupt nichtsgehört.«

»Sie wissen, Monsieur, wer der Getötete ist?« lautete HerculePoirots nächste Frage.

»Der ältere Amerikaner – ein Mann übrigens mit sehr abstoßendem Gesicht. Er hat seine Mahlzeiten an jenem Tisch dort

eingenommen.«Graf Andrenyi deutete mit einer Kopfbewegung zu dem

Tisch, an dem Ratchett mit seinem Sekretär gesessen hatte.

»Ja, ja, Monsieur. Das ist alles richtig. Ich meinte aber, ob Ihnen der Name des Mannes bekannt ist.«

Page 123: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 123/270

»Nein.« Der Graf sah Poirot verwundert an. »Wenn Sie denNamen wissen wollen, brauchen Sie doch nur in seinem Paßnachzusehen«, sagte er.

»Der Paß lautet auf den Namen Ratchett, doch das ist ein falscher Name. In Wirklichkeit hieß der Mann Cassetti und warder Urheber einer spektakulären Kindesentführung in Amerika.«

Poirot betrachtete den Grafen unter halb gesenkten Lidernhervor sehr genau, aber die Mitteilung schien ihn ziemlich

gleichgültig zu lassen. Nur seine Augen weiteten sich ein wenig.

»Ah, dieses Amerika ist doch ein unglaubliches Land!« sagteer. »Kennen Sie es aus eigener Anschauung, Monsieur le Comte?«

»Ich war ein Jahr in Washington.«

»Dann kennen Sie vielleicht auch die Armstrongs?«

»Armstrong – Armstrong – es ist schwer, alle Namen zu behalten. Man lernt als Diplomat zu viele Menschen kennen.«Andrenyi lächelte entschuldigend. »Aber zur Sache, Gentlemen. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Wann haben Sie sich gestern abend zurückgezogen, Monsieur le Comte?« Verstohlen betrachtete Poirot seinen Plan. Dasungarische Ehepaar hatte Abteil 12 und 13 belegt.

»Während wir bei Tisch saßen, ließen wir das eine Abteil fürdie Nacht vorbereiten und setzten uns, als wir zurückkamen,noch ein Weilchen in das andere.«

»In welches?«

»In Nr. 13. Wir spielten eine Partie Piquet. Gegen elf Uhr begab sich meine Frau zur Ruhe, und der Kondukteur machte

Page 124: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 124/270

dann auch mein Bett. Ich schlief bis zum Morgen fest wie einMurmeltier.«

»Daß der Zug anhielt, ist Ihnen nicht aufgefallen?«

»Nein. Von unserem unfreiwilligen Aufenthalt merkte ich erstheute morgen etwas.«

»Und Ihre Gattin?«

»Meine Frau nimmt in der Eisenbahn stets ein Schlafmittel. Soauch gestern. Trional heißt es, glaube ich.« Und nach einer Pause setzte der Graf bedauernd hinzu: »Tut mir leid, daß ich Ih

nen nicht helfen kann.«Hercule Poirot schob ihm einen Bogen und einen Federhalter

hin.

»Eine Formsache, Monsieur le Comte – würden Sie bitte Namen und Adresse notieren?«

Langsam und sorgfältig kam der Ungar dieser Bitte nach.

»Ist es deutlich genug?« fragte er liebenswürdig. »DieSchreibweise meines Gutes bereitet in der Regel dem mit unserer Sprache nicht Vertrauten ziemliche Schwierigkeiten… übrigens erübrigt es sich, meine Frau kommen zu lassen, sie kannIhnen nicht mehr sagen als ich.«

Ein kleiner Funke sprühte in Poirots Augen auf.

»Zweifellos, zweifellos. Trotzdem wäre mir eine kurze Unter

haltung mit Madame erwünscht.«»Ich versichere es Ihnen, es ist unnötig«, wiederholte Andre

nyi schroff.

Poirot blinzelte ihn freundlich an.

»Es ist eine reine Formalität«, sagte er. »Doch leider unumgänglich, weil ich keinen unvollständigen Bericht abliefern

kann. Das verstehen Sie doch, Graf?«

Page 125: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 125/270

»Wie Sie wollen.« Grollend gab der Graf nach, machte einekurze, kühle Verbeugung und ging hinaus.

Der kleine Belgier griff nach Andrenyis Paß. Unter Namenund Titel des Grafen stand: begleitet von seiner Ehefrau; Taufname: Elena Maria; Mädchenname: Goldenberg; Alter: zwanzig. Irgendwann hatte ein nachlässiger Beamter das Dokumentmit einem Fettfleck beschmutzt.

»Ein Diplomatenpaß«, mahnte M. Bouc. »Wir müssen vorsichtig sein und uns davor hüten, gegen irgendein Gesetz zu

verstoßen. Diese Menschen können mit dem Mord nichts zutun haben. Denken Sie an die diplomatische Immunität.«

»Keine Sorge, mon ami, ich werde den nötigen Takt waltenlassen. Eine reine Formsache…« Er unterbrach sich, als GräfinAndrenyi den Speisewagen betrat – schüchtern und bezau

 bernd.

»Sie wünschen mich zu sprechen, Messieurs?«

»Eine reine Formsache, Madame la Comtesse«, wiederholteHercule Poirot, indem er sich galant erhob. »Ich möchte Sie nurfragen, ob Sie in der Nacht irgend etwas hörten oder beobachten konnten, das geeignet wäre, Licht in diese mysteriöse Angelegenheit zu bringen?«

»Ich habe nichts gehört, Monsieur, denn ich hatte ein Schlafmittel genommen.«

»Ah, ich verstehe. Dann ist Ihnen selbstverständlich auch dasHin und Her im Nebenabteil entgangen. Die amerikanischeDame, die darin reist, bekam einen hysterischen Anfall undklingelte wie wild nach dem Kondukteur. Nun, dann braucheich Sie nicht länger zu bemühen, Madame.« Und als sie sichvon ihrem Sitz erhob, fügte er schnell hinzu: »Ihre Personalien –Mädchenname, Alter und dergleichen – sind doch hier richtigeingetragen?«

Page 126: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 126/270

»Absolut richtig, Monsieur.«

»Vielleicht bestätigen Sie mir das durch Ihre Unterschrift.«

Mit schnellen Zügen setzte sie schräg ihren Namenszug unterPoirots Notizen: Elena Andrenyi.

»Haben Sie Ihren Gatten seinerzeit nach Amerika begleitet,Madame?«

»Nein, Monsieur.« Sie lächelte, errötete ein wenig. »Damalswaren wir noch nicht verheiratet; unsere Hochzeit fand erst voreinem Jahr statt.«

»Ah, dann freilich… Raucht Ihr Gatte übrigens, Madame?«Schon im Gehen begriffen, sah sie Poirot erstaunt an.

»Ja.«

»Pfeife?«

»Nein, Zigaretten und Zigarren.«

»Danke, Madame.«

Sie zögerte, musterte Poirot mit unverkennbarer Neugier. IhreAugen waren sehr schön, dunkel, mandelförmig, mit langenschwarzen Wimpern, die die marmorblassen Wangen streiften.Ihre Lippen, leuchtend rot geschminkt, wie es gerade Modewar, waren leicht geöffnet. Die junge Frau sah exotisch aus und

 bildschön.

»Warum fragen Sie danach, Monsieur?«

»Madame« – Poirot schnippte leicht mit den Fingern –, »Detektive stellen oft die absonderlichsten Fragen. Zum Beispielinteressiert mich sogar die Farbe Ihres Morgengewandes.«

»Es ist weizengelb«, gab sie lachend zurück. »Haben Sie dennnichts Wichtigeres zu fragen?«

»Mir scheint es wichtig genug, Madame.«

»Sind Sie wirklich Detektiv?« forschte sie plötzlich.

Page 127: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 127/270

»Zu Befehl, Madame.«

»Ich dachte, während der Durchfahrt durch Jugoslawien befänden sich keine Polizeibeamten im Zug. Erst wieder in Italien.«

»Ich bin kein jugoslawischer, sondern ein internationaler Detektiv.«

»Gehören Sie der League of Nations an?«

»Ich gehöre der Welt an, Madame«, versetzte Hercule Poirotmit Pathos. »In der Hauptsache arbeite ich in London. Sprechen

Sie Englisch?« fügte er in dieser Sprache hinzu.»Ein bißchen spreche ich es.« Ihr Akzent war reizend.

Poirot verneigte sich.

»Wir wollen Sie nicht länger aufhalten, Madame.«

Lächelnd wandte sie sich dem Ausgang zu.

»Quelle femme!« begeisterte sich M. Bouc. »Ravissante! Aber

geholfen hat sie uns nicht.«»Nein. Ein Ehepaar, das nichts sah und nichts hörte.«

»Wollen wir uns jetzt den Italiener vornehmen?«

Hercule Poirot ließ eine beträchtliche Weile verstreichen, eheer antwortete. Er betrachtete interessiert den Fettfleck im ungarischen Diplomatenpaß.

Page 128: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 128/270

16

Schließlich schien er sich fast gewaltsam davon losreißen zumüssen. Als er aufsah, begegnete er dem drängenden Blick vonM. Bouc und zwinkerte vergnügt.

»Ah, mein lieber, teurer Freund, ich bin auf meine alten Tageein Snob geworden. Meiner Meinung nach sollte man die ersteKlasse vor der zweiten erledigen. Nein, jetzt möchte ich mitdem schneidigen Oberst Arbuthnot sprechen.«

Da er das Französisch des englischen Offiziers ziemlich kläglich fand, führte Poirot das Verhör in englischer Sprache. Undnachdem Name, Alter, heimatliche Adresse und genauer militärischer Rang ermittelt worden waren, hieß die nächste Frage:

»Sie kommen auf Urlaub von Indien – wie wir es nennen, en

 permission?«

Oberst Arbuthnot, den es nicht im mindesten interessierte,wie ein hergelaufener Ausländer irgend etwas nannte, erwiderte mit echt britischer Kürze: »Ja.«

»Aber Sie reisen nicht wie die anderen Offiziere aus Indienmit einem Dampfer der ›Peninsular and Oriental NavigationCompany‹ nach England?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich habe den Landweg aus Gründen gewählt, die nur michetwas angehen.« Und das mag dir genügen, du unverschämterkleiner Naseweis, besagten Arbuthnots Haltung und Gebärde.Doch der Naseweis ließ nicht locker.

»Sind Sie von Indien direkt durchgefahren?«

Page 129: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 129/270

»Ich habe die Reise einen Tag unterbrochen, um Ur in Chaldäa zu sehen, und gönnte mir einen dreitägigen Aufenthalt inBagdad.«

»Ach, in Bagdad. Soviel ich weiß, kommt auch die junge MissDebenham aus Bagdad. Haben Sie sie vielleicht schon dortkennengelernt?«

»Nein. Ich lernte Miss Debenham erst im Zug von Kirkuknach Nissibin kennen. Wir saßen im selben Waggon.«

Poirot beugte sich vor. Er versuchte es nun mit einschmei

chelnder Überredungskunst und wurde mehr Ausländer alsnötig.

»Monsieur, ich flehe Sie an! Sie und Miss Debenham sind die beiden einzigen britischen Reisenden im Zug. Ich kann nichtumhin, ich muß jeden von Ihnen fragen, was für ein Urteil ersich über den anderen gebildet hat.«

»Das ist höchst regelwidrig«, entgegnete Arbuthnot kalt.

»Nein, nein. Sehen Sie, diesen Mord hat aller Wahrscheinlichkeit nach eine Frau begangen. Der Tote weist zwölf Stichwunden auf. Sogar der Zugführer sagte sofort: ›Es ist eine Frau gewesen.‹ Worin besteht also meine erste Aufgabe? Mir übersämtliche weiblichen Passagiere ein Bild zu machen. Dochnichts ist schwerer, als eine Engländerin zu beurteilen. Sie sindsehr reserviert, die englischen Damen. Und deshalb flehe ich

Sie an, Monsieur – im Namen der Justiz. Was für ein Mensch istdiese Miss Debenham? Was wissen Sie von ihr?«

»Miss Debenham ist eine Lady«, versicherte Oberst Ar buthnot warm.

»Ah…!« seufzte Poirot mit allen Anzeichen tiefster Dankbarkeit. »Sie meinen also, sie sei nicht in das Verbrechen verwi

ckelt?«

Page 130: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 130/270

»Unsinn! Der Mann war ihr völlig fremd – sie hatte ihn niezuvor gesehen.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Ja. Als sie eine Bemerkung über seine nicht sehr angenehmeErscheinung fallenließ. Wenn eine Frau ihre Hand im Spiel hat,wie Sie glauben, so kann ich Ihnen versichern, daß Miss De

 benham diese Frau nicht ist.«

»Wie warm Sie sich für sie einsetzen«, meinte Poirot mit einem Lächeln.

Oberst Arbuthnot maß ihn mit eisigen Blicken. »Ich verstehenicht, was Sie meinen.«

Poirot schien verlegen. Er senkte den Kopf und begann, diePapiere zu ordnen, die vor ihm lagen.

»Das war nur eine beiläufige Bemerkung«, sagte er. »Sprechen wir lieber über Tatsachen. Wir dürfen mit Recht annehmen, daß das Verbrechen um ein Viertel nach eins verübt wurde, und die üblichen Untersuchungsmethoden erfordern, daßman jede Person fragt, was sie um diese Zeit getan hat.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Meines Wissens unterhielt ich mich zur fraglichen Stunde mit dem jungen Amerikaner, dem Sekretär des Toten.«

»War er in Ihrem Abteil? Oder waren Sie in seinem?«

»Ich war bei ihm.«»Ist er ein Freund oder alter Bekannter von Ihnen?«

»Ganz und gar nicht. Rein zufällig entwickelte sich zwischenuns beiden eine Unterhaltung. Im allgemeinen mag ich die Amerikaner nicht – weiß nichts mit ihnen anzufangen…«

Mit geheimem Vergnügen erinnerte sich Poirot an Mac-Queens Urteil über die Briten. »Aber dieser junge Mann gefälltmir«, fuhr der Oberst fort. »Irgendwer hat ihm alberne, idioti

Page 131: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 131/270

sche Ideen über die Lage in Indien in den Kopf gesetzt – das istdas Schlimmste bei den Amerikanern. Sie sind so sentimentalund idealistisch. Nun, was ich ihm dank meiner beinahe drei

ßigjährigen Kenntnis des Landes erzählte, fesselte ihn sehr. AlsGegenleistung berichtete er mir über die finanziellen Verhältnisse Amerikas. Dann berührten wir die Weltpolitik im allgemeinen, so daß ich schließlich ganz überrascht war, als meineUhr plötzlich Viertel vor zwei anzeigte.«

»Um diese Zeit brachen Sie die Unterhaltung ab?«

»Ja.«»Was haben Sie dann getan?«

»Ich ging in mein Abteil.«

»Ihr Bett war schon aufgeschlagen?«

»Ja. der Schaffner war inzwischen dagewesen.«

»Das ist nach meinem Plan Abteil Nr. 15, das vorletzte, vom

Speisewagen aus gerechnet.«»Ja.«

»Wo war der Kondukteur, als Sie durch den Korridor gingen?«

»Er saß ganz am Ende des. Ganges an seinem winzigen Tisch.Das heilst, MacQueen rief ihn dann, damit er ihm das Bettmachte.«

»Nun bitte ich Sie, genau zu überlegen, Oberst Arbuthnot: Ist,während Sie sich mit MacQueen unterhielten, jemand an seinem Abteil vorübergegangen?«

»Vermutlich eine ganze Menge Leute. Ich achtete nicht darauf.«

»Mir kommt es nur auf die letzten anderthalb Stunden Ihres

Gesprächs an. Sie sind in Vincovci ausgestiegen, nicht wahr?«

Page 132: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 132/270

»Ja. Doch nur ganz kurz. Sie haben keine Ahnung, wie derSchneesturm wütete. Die Kälte war unerträglich. Man war froh,wenn man wieder unter Dach und Fach war, obwohl ich es

skandalös finde, wie überheizt diese Züge sind.«M. Bouc seufzte.

»Es ist schwer, es aller Welt recht zu machen«, klagte er. »Dasind die Engländer, die alle Fenster aufreißen, und wiederumdie anderen, die alles hermetisch verschlossen haben wollen.«

Weder Poirot noch Oberst Arbuthnot achteten auf ihn.

»Also, es war bitter kalt draußen«, sagte Poirot aufmunternd.»Und nun sind Sie wieder im Zug. Sie setzen sich gemütlich hin– rauchen – vielleicht eine Zigarette, vielleicht ein Pfeifchen…«Er unterbrach sich für den Bruchteil einer Sekunde, und schonfiel der andere ein:

»Eine Pfeife für mich. MacQueen rauchte Zigaretten.«

»Dann fährt der Zug weiter. Sie rauchen Ihre Pfeife, Sie erörtern dabei die klägliche Lage Europas, die Weltlage. Unterdesist es spät geworden. Die anderen Reisenden liegen schon imBett. Ging nun irgendwer an der Tür vorüber – denken Sie bittenach!«

Arbuthnot furchte grübelnd die Stirn.

»Verdammt schwierig! Verstehen Sie doch, ich hab einfach

nicht darauf geachtet.«»Aber Sie haben den geschulten Blick des Soldaten für Ein

zelheiten. Sie beobachten sozusagen, ohne zu beobachten.«

Wieder überlegte der Oberst angestrengt und schüttelte dannden Kopf.

»Ich erinnere mich wirklich nicht, daß außer dem Kondukteur jemand vorüberging. Oder… Halt! War da nicht eine Frau?«

»Haben Sie sie gesehen? Ja? War sie alt – jung?«

Page 133: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 133/270

»Gesehen hab ich sie nicht. Ich muß gerade zum Fenster geschaut haben. Aber da war ein Rascheln von Frauenkleidernund Parfümgeruch…«

»Parfüm? Gutes Parfüm?«

»Ein obstartiges, möchte ich sagen, obgleich ich nicht weiß, obdas Wort dem Begriff ganz gerecht wird. Ich meine, Sie hättenes schon auf hundert Meter Entfernung gerochen. Doch weißder Kuckuck«, setzte der Oberst hastig hinzu, »möglicherweiseist das schon viel früher am Abend gewesen. Sehen Sie – da

haben Sie Ihre Beobachtungen, ohne zu beobachten… Irgend-wann im Laufe des Abends sagte ich zu mir: eine Frau… Parfüm… Ziemlich aufdringlich. Aber wann? Wann? Doch es mußunbedingt noch Vincovci gewesen sein, fällt mir jetzt ein.«

»Warum?«

»Weil ich mich jetzt dunkel erinnere, daß wir über das Fiaskosprachen, zu dem sich der Stalinsche Fünfjahresplan entwickelt.

Der Gedanke ›Frau‹ brachte mich auf das Thema ›Stellung derrussischen Frau‹. Und ich weiß, daß wir bei Rußland erst soziemlich am Ende unserer Unterhaltung anlangten.«

»Eine genauere Zeitangabe können Sie nicht machen?«

»N-nein. Es muß irgendwann in der letzten halben Stundegewesen sein.«

»Stand der Zug bereits?«

»Ja. Das glaube ich mit Bestimmtheit sagen zu können.«

»Das muß genügen. Waren Sie je in Amerika, Oberst Ar buthnot?«

»Nie. Es lockt mich auch nicht.«

»Haben Sie einen Oberst Armstrong gekannt?«

Page 134: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 134/270

»Armstrong? Ich habe zwei oder drei Armstrongs gekannt.Tommy Armstrong vom 60. Regiment – meinen Sie den? UndSelby Armstrong – er ist an der Somme gefallen.«

»Ich meine den Oberst Armstrong, der eine Amerikanerinheiratete und dessen Kind entführt und getötet wurde.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Eine schockierende Angelegenheit.Nein, dieser Armstrong ist mir nie über den Weg gelaufen,wenngleich ich ihn vom Hörensagen kannte. Toby Armstrong.

Prächtiger Mensch, behauptete man allgemein. Sehr beliebt.

Hatte eine glänzende Karriere gemacht. Hatte das Victoria-Kreuz.«

»Der Mann, der vergangene Nacht hier im Zug getötet wurde,hatte Oberst Armstrongs Kind auf dem Gewissen.«

»Dann ist ihm heute nacht recht geschehen«, sagte Oberst Ar buthnot. »Obwohl ich vorgezogen hätte, ihn am Galgen oder –das ist in Amerika wohl gebräuchlicher – auf dem elektrischen

Stuhl enden zu sehen.«»Demnach ziehen Sie Gesetz und Ordnung der privaten Ra

che vor?«

»Nun, man kann doch nicht Blutrache üben und sich gegenseitig erstechen wie die Korsen oder die Mafia. Sie mögen sagen, was Sie wollen – die Verurteilung durch ein Gericht ist eingesundes System.«

Nachdenklich musterte Hercule Poirot das kantige, energische Gesicht des Briten.

»Ja, Oberst Arbuthnot, einen anderen Standpunkt hätte ichvon Ihnen auch nicht erwartet. Ich glaube, ich habe keine Fragen mehr an Sie. Oder fällt Ihnen noch irgend etwas ein, dasIhnen vergangene Nacht verdächtig vorkam oder nachträglich

verdächtig vorkommt?«

Page 135: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 135/270

Arbuthnot dachte ein paar Minuten nach.

»Nein. Das heißt, wenn nicht…« Er zögerte.

»Bitte sprechen Sie weiter«, drängte Poirot.»Oh, ich denke, es hat keinerlei Bedeutung. Als ich in mein

Abteil zurückkehrte, bemerkte ich, daß die Tür des allerletztenAbteils nicht ganz geschlossen war und der Insasse scheu undverstohlen heraussah. Und dann drückte er schleunigst die Türwieder zu. Gewiß, es ist nichts dabei, wenn man den Kopf zurTür hinausstreckt, doch diese verstohlene Art berührte mich

sonderbar.«»Wenn Sie das ›allerletzte‹ Abteil sagen, meinen Sie wohl Nr.

16?«

Oberst Arbuthnot nickte. »Ich hab Ihnen ja gesagt, es ist nichtsWeltbewegendes«, meinte er, fast als wolle er sich entschuldigen. »Aber Sie wissen ja, wie das ist – zwei Uhr morgens, allestotenstill. Irgendwie wirkte die Sache unheimlich. Wie in einem

Kriminalroman. Aber das ist natürlich Unsinn.«Er stand auf. »Wenn Sie mich jetzt nicht mehr brauchen…«

»Danke, Oberst Arbuthnot. Es ist alles erledigt.«

Trotzdem zögerte der Offizier. Seine erste, natürliche Abneigung, sich von »Ausländern« aushorchen zu lassen, hatte sichverflüchtigt.

»Hinsichtlich Miss Debenham«, begann er linkisch und brachab, um einen neuen Satz zu bilden. »Ich bürge für ihre Lauterkeit. Sie ist eine pukka sahib.«

Arbuthnot errötete leicht und wandte sich hastig zur Tür.

»Was ist das – eine pukka sahib?« fragte Constantine.

»Es bedeutet, daß Miss Debenhams Vater und Brüder ebensovornehme Schulen besucht haben wie Arbuthnot.«

Page 136: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 136/270

»Weiter nichts?« meinte der Arzt enttäuscht. »Mit demVerbrechen hat es nichts zu tun?«

»Nichts«, antwortete Poirot und versank in tiefe Nachdenklichkeit. Ungeduldig trommelte er dazu mit den Fingern auf dieTischplatte. Plötzlich blickte er auf. »Oberst Arbuthnot rauchtPfeife, und Mr. Ratchett rauchte nur Zigarren. Dennoch wurdein seinem Abteil ein Pfeifenreiniger gefunden.«

»Wie? Sie meinen…«

»Daß Arbuthnot vorläufig der einzige Reisende ist, der sich

dazu bekannt hat, Pfeife zu rauchen. Und er hatte von OberstArmstrong gehört – vielleicht hat er ihn, obwohl er es abstreitet,sogar persönlich gekannt.«

»Sie denken also, es sei möglich…«

Heftig wehrte Hercule Poirot mit beiden Händen ab. »Nein,alles in mir sträubt sich dagegen – nein, es ist unmöglich, ganzunmöglich, daß ein ehrenhafter, leicht beschränkter, aufrechter

Engländer auf einen Feind zwölfmal mit dem Messer einsticht.Spüren Sie nicht selbst, meine Freunde, wie unmöglich das ist?«

»Jetzt reiten Sie wieder Ihr Steckenpferd – die Psychologie«,sagte M. Bouc lächelnd.

»Die Psychologie, mon ami, muß man respektieren. DiesesVerbrechen trägt einen Stempel und ganz gewiß nicht den vonOberst Arbuthnot. Doch nun zum nächsten Verhör!«

Diesmal schlug M. Bouc nicht den Italiener vor, obwohl sichseine Gedanken nach wie vor mit ihm beschäftigten.

Page 137: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 137/270

17

Der einzige Reisende erster Klasse, der noch übrigblieb, warMr. Hardman, der vierschrötige Amerikaner, der im Speisewagen Tischgenosse des Italieners und des Kammerdieners gewesen war. Er trug, als er sich Poirot selbstsicher präsentierte, einen etwas aufdringlich karierten Anzug, ein rotes Hemd, eine

 blitzende Krawattennadel und kaute ununterbrochen auf etwasherum. Er hatte ein großes, fleischiges Gesicht mit derben Zü

gen, sah aber sehr gutmütig aus.»Morgen, Gentlemen«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sie haben von dem Mord gehört, Mr. Hardman?«

»Versteht sich!« Rasch wanderte der Kaugummi von der linken in die rechte Wange.

»Zu unserem Bedauern sehen wir uns genötigt, sämtliche Rei

sende einem Verhör zu unterziehen.«»Das finde ich höchst vernünftig. Anders kann man eine

Morduntersuchung wohl kaum durchführen. Vor allem dannnicht, wenn man Erfolg haben will.«

Poirot zog den vor ihm liegenden Paß zu Rate.

»Sie sind Cyrus Bethman Hardman, amerikanischer Staats bürger, einundvierzig Jahre alt und Vertreter für Schreibmaschinen-Farbbänder.«

»Stimmt.«

»Sie reisen von Istanbul nach Paris.«

»Ja.«

»Zweck der Reise?«

»Geschäfte.«

Page 138: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 138/270

»Reisen Sie stets erster Klasse, Mr. Hardman?«

»Ja, Sir. Die Firma trägt die Reisekosten.« Er zwinkerte Poirotzu. »Nun zu den Vorkommnissen der vergangenen Nacht.Können Sie uns etwas darüber sagen?«

»Rein gar nichts.«

»O wie schade. Vielleicht berichten Sie uns, Mr. Hardman,womit Sie sich nach dem Dinner beschäftigten?«

Zum erstenmal schien der Amerikaner keine Antwort paratzu haben. Er stellte vielmehr eine Gegenfrage:

»Verzeihung, Gentlemen, wer sind Sie eigentlich? Lassen Siemich mal in Ihre Karten gucken.«

»Das ist M. Bouc, ein Direktor der Schlafwagengesellschaft,und das der Arzt, der die Leiche untersucht hat.«

»Und Sie selbst?«

»Ich bin Hercule Poirot. Die Gesellschaft hat mich mit der

Aufklärung des Falles beauftragt.«»Monsieur Hercule Poirot – soso. Ich habe schon von Ihnen

gehört.« Hardman überlegte noch ein paar Sekunden. Dannsagte er: »Es ist wohl am besten, wenn ich auspacke.«

»Dazu möchten wie Ihnen auch raten«, erwiderte Poirot trocken.

»Über das Verbrechen selbst weiß ich leider nichts. Rein gar

nichts, wie ich vorhin schon bemerkte. Aber ich müßte etwaswissen, und das nagt an mir. Ich müßte etwas wissen!«

»Wollen Sie sich nicht lieber etwas klarer ausdrücken, Mr.Hardman?«

Der Amerikaner seufzte, wälzte seinen Kaugummi und wühlte in seiner Tasche. Gleichzeitig ging mit der ganzen Persön

lichkeit eine Veränderung vor sich. Er legte das gekünstelte

Page 139: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 139/270

Gehabe ab und gab sich natürlicher. Seine Stimme verlor den breiten Akzent des Mittelwestens. »Der Paß ist nicht ganz echt«,sagte er. »Hier, sehen Sie, wer ich wirklich bin.«

Hercule Poirot nahm die weiße Visitenkarte auf, die auf dieTischplatte geflattert war, und M. Bouc sah ihm über die Schulter.

Mr. Cyrus B. Hardman, 

McNeils Detektiv Agentur

New York 

Es war die bekannteste Detektivagentur von New York, und siehatte, das wußte Poirot, einen ausgezeichneten Ruf.

»Nun, Mr. Hardman«, sagte Poirot, »lassen Sie hören, was dieMaskerade zu bedeuten hat.«

»Ich hatte ein paar Gauner, die nichts mit diesem Mord zu tunhaben, über den Ozean verfolgt und schließlich in Istanbul zurStrecke gebracht. Nachdem ich dem Chef meinen Erfolg geka

 belt hatte, packte ich meine Koffer zur Heimreise nach NewYork, als ich das hier bekam.«

Er schob einen Brief über den Tisch. Der Bogen trug den Kopfdes »Tokatlian Hotels«.

Geehrter Herr, 

man hat mir gesagt, Sie seien ein Angestellter der McNeils Detektiv Agentur. Bitte suchen Sie mich um vier Uhr heute nachmittag in meiner Hotel-Suite auf. 

Hochachtungsvoll S. E. Ratchett

Page 140: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 140/270

»Eh bien?«

»Ich ging natürlich hin, und Mr. Ratchett weihte mich unterVorlage einiger Briefe in die Sache ein.«

»War er sehr beunruhigt?«

»Er spielte den Gleichmütigen, aber in Wirklichkeit nahm esihn ziemlich mit. Und dann machte er mir einen Vorschlag. Ichsollte bis Paris denselben Zug benutzen wie er und ihn bewachen. Nun, Gentlemen, ich benutze denselben Zug, aber meineWachsamkeit nützte nichts: Sie haben ihn doch erwischt. Ich

habe kläglich versagt.«»Hat er Ihre Aufgabe näher umrissen? Hatte er bestimmte

Vorstellungen, wie Sie ihn schützen sollten?«

»Gewiß. Ich sollte vor allem das Nebenabteil belegen. Dochschon hier wurde ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht.Mit Mühe und Not bekam ich überhaupt noch ein Bett. Nr. 16.Der Schaffner scheint es immer bis zur letzten Minute freizuhal

ten – für unvorhergesehene Fälle. Es ist zwar von Mr. RatchettsAbteil ziemlich weit entfernt, dennoch gefiel es mir vom strategischen Gesichtspunkt aus nicht schlecht. Vor uns lief nur derSpeisewagen, dessen Verbindungstür zu den anderen Wagennachts abgesperrt wird. Mithin konnte Gefahr nur von hintendrohen, und jeder Eindringling mußte an mir vorüber.«

»Vermutlich tappten Sie über die Persönlichkeit des mögli

chen Angreifers im dunkeln, nicht?«»Nicht ganz. Mr. Ratchett beschrieb ihn mir.«

»Was? Was? Was?«

Die drei Männer waren wie elektrisiert. M. Bouc war sogaraufgesprungen.

»Ein kleiner Mann, dunkel, mit einer femininen Stimme – so

drückte sich der alte Herr aus. Außerdem fügte er hinzu, er

Page 141: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 141/270

glaube nicht, daß man gleich in der ersten Nacht versuchenwürde, ihn zu töten. Eher in der zweiten oder dritten.«

»Aha, er wußte also Genaueres«, meinte M. Bouc.

»Bestimmt wußte er mehr, als er seinem Sekretär verriet«, äußerte Poirot nachdenklich. »Hat er Ihnen auch anvertraut, warum man ihm nach dem Leben trachtete, Mr. Hardman?«

»Nein. In dieser Hinsicht war er sehr zugeknöpft. Er sagtenur, der Kerl habe es auf ihn abgesehen und werde alles tun,um sein Ziel zu erreichen.«

»Ein kleiner Mann, dunkel, mit femininer Stimme«, wiederholte Poirot nachdenklich. Dann warf er Hardman einen scharfen Blick zu. »Sie wußten natürlich, wer er wirklich war?«

»Wer?«

»Ratchett. Sie hatten ihn doch erkannt?«

»Ich verstehe Sie nicht, Mr. Poirot.«

»Ratchett war Cassetti, der Mörder im Fall Armstrong.«Hardman stieß einen langen, gellenden Pfiff aus.

»Hol mich der Teufel! Das nenne ich eine Überraschung!Nein, Sir, ich habe ihn nicht erkannt. Als der Fall verhandeltwurde, hatte ich gerade einen Auftrag im Westen der Staatenzu erledigen. Wahrscheinlich habe ich Bilder von ihm in denZeitungen gesehen. Aber auf einem Bild, das so ein Pfuscher

von Pressefotograf macht, erkennt man ja seine eigene Mutternicht. Aber daß es ein paar Leute gibt, die es auf Cassetti abgesehen hatten, wundert mich nicht.«

»Ist Ihnen irgend jemand aus dem Armstrong-Fall bekannt,auf den die Beschreibung klein, dunkel, mit femininer Stimmezutrifft?«

Hardman überlegte.

Page 142: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 142/270

»Eigentlich nein. Zudem sind ja beinahe alle Beteiligten tot.«

»Erinnern Sie sich, daß sich ein junges, fälschlich als Komplizin verdächtiges Kindermädchen aus dem Fenster stürzte?«

»Richtig – jetzt fällt’s mir wieder ein. Eine Ausländerin. Vielleicht hatte sie italienische Verwandte, die auf Blutrache auswaren. Was weiß man schon? Andererseits dürfen wir nichtvergessen, daß es neben dem Armstrong-Fall noch andere Fällegab. Cassetti hatte sein infames Entführungsgewerbe geraumeZeit betrieben, so daß sich der Kreis bedeutend erweitert.«

»Zugegeben, Mr. Hardman. Jedoch haben wir triftige Gründeanzunehmen, daß Cassettis Ermordung mit dem Fall Armstrong zusammenhängt.«

Der Amerikaner schielte, als wolle er um Aufklärung bitten,zu Poirot hinüber, der ihn aber nicht zu beachten schien.

»Nein, ich kann mich wirklich nicht erinnern, daß im FallArmstrong jemand eine Rolle spielte, der dieser Beschreibung

entspricht«, versicherte er dann abermals. »Freilich, ich hatte jaauch nichts damit zu tun und weiß daher nicht viel mehr als die

 breite Öffentlichkeit.«

»Gut. Fahren Sie mit Ihrem Bericht fort, Mr. Hardman.«

»Es bleibt nicht mehr viel zu berichten. Ich verschaffte mirtagsüber die nötigen Stunden Schlaf und lag nachts brav aufder Lauer. In der ersten Nacht ereignete sich nichts Auffälliges.Und in der vergangenen Nacht ebenfalls nicht, soweit es mich

 betrifft. Ich hatte meine Tür nur angelehnt und beobachtete denGang: Ein Fremder ist nicht vorbeigegangen.«

»Können Sie dafür bürgen, Mr. Hardman?«

»Ja. Niemand kam von draußen in den Wagen herein undniemand aus den rückwärtigen Wagen. Das kann ich beschwö

ren.«

Page 143: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 143/270

»Können Sie von Ihrem Beobachtungsposten aus den Schaffner sehen?«

»Natürlich. Er sitzt ja auf dem kleinen Notsitz fast vor meinerTür.«

»Hat er diesen Sitz nach Abfahrt von Vincovci verlassen?«

»Vincovci? Hieß so die letzte Station? Ja, es wurde ein paarmal stürmisch nach ihm geklingelt, und zwar meiner Meinungnach kurz nachdem wir endgültig im Schnee steckengebliebenwaren. Nachdem er alles erledigt hatte, ging er an mir vorbei in

den Athener Wagen, wo er etwa eine Viertelstunde blieb. Wasihn zurückrief, war eine Klingel, die wie besessen spektakelte.Ein bißchen nervös – denn schließlich hatte ich die Verantwortung für ein Menschenleben übernommen, ging ich auf denGang hinaus, aber es war nicht Ratchett, der so verrückt klingelte, sondern meine Landsmännin, Mrs. Hubbard. Sie warentsetzlich aufgeregt. Nachdem der Kondukteur sie beschwich

tigt hatte, ging er in ein anderes Abteil, kam zurück und holtefür den betreffenden Passagier eine Flasche Mineralwasser.Dann nahm er auf seinem Sitz Platz, bis er spät in der Nachtganz am anderen Ende des Wagens für jemanden noch das Bettmachen mußte. Danach hat er sich meines Erachtens bis fünfUhr morgens nicht mehr von seinem Platz fortgerührt.«

»Hat er geschlafen?«

»Das kann ich weder mit Nein noch mit Ja beantworten.«Poirot strich mechanisch die Papiere auf dem Tisch glatt und

nahm dann noch einmal Hardmans Visitenkarte in die Hand.

»Bitte bestätigen Sie mir mit Ihrer Unterschrift, daß Ihre Angaben der Wahrheit entsprechen«, sagte er.

Hardman unterschrieb rasch.

Page 144: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 144/270

»Es gibt wohl niemanden hier, der sich für Ihre Identität ver bürgen könnte, Mr. Hardman?«

»Hier im Zug? Nein, schwerlich. Es sei denn der junge Mac-Queen. Ich kenne ihn gut genug, habe ihn mehr als einmal imBüro seines Vaters in New York gesehen, aber daß er sich beiden vielen Angestellten, die dort ein und aus gingen, gerademein Gesicht gemerkt haben sollte, scheint mir unwahrscheinlich. Nein, Monsieur Poirot, Sie müssen sich schon geduldenund nach New York kabeln, wenn uns der Schnee je wiederfreigibt. Aber ich schwindle Ihnen nichts vor – es stimmt alles,was ich sage, bis auf den I-Punkt. Also auf Wiedersehen, Gentlemen. Freut mich, Sie persönlich kennengelernt zu haben,Monsieur Poirot.«

Hercule Poirot hielt ihm in kollegialer Liebenswürdigkeit seinZigarettenetui hin. »Aber vielleicht rauchen Sie lieber Pfeife?«

»Beileibe nicht!« wehrte Hardman ab, bediente sich und mar

schierte davon.Als er gegangen war, sahen sich die drei Männer an.

»Glauben Sie, daß er echt ist?« fragte Dr. Constantine.

»O ja«, versicherte der Detektiv. »Ich kenne diesen Typ. Ü berdies ließe sich seine Geschichte sehr leicht nachprüfen –schon vom nächsten Bahnhof aus. Er kann ja nicht damit rechnen, daß wir ewig hier festsitzen.«

»Jedenfalls war seine Aussage sehr aufschlußreich«, ließ sichM. Bouc vernehmen.

»Ja.«

»Ein kleiner Mann, dunkel, mit der hohen Stimme einerFrau…«

»Eine Beschreibung, die auf keinen unserer Reisenden paßt«,

sagte Hercule Poirot entschieden.

Page 145: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 145/270

18

»Und nun«, fuhr er fort und blinzelte ein bißchen übermütig,»wollen wir das Herz von M. Bouc erfreuen und uns den Italiener vornehmen.«

Mit katzenhafter Geschmeidigkeit betrat Antonio Foscarelliden Speisewagen. Er hatte ein typisch südländisches Gesicht,war von der Sonne tief gebräunt und schien immer gut gelauntzu sein.

»Ihr Name ist Antonio Foscarelli?«

»Oui, Monsieur.«

»Aber Sie sind amerikanischer Staatsbürger?«

»Oui, Monsieur.« Foscarelli lachte. »Es ist besser fürs Geschäft.«

»Sie sind Vertreter für Fordwagen?«

»Ja, Sie sehen, Monsieur…«

Es folgte ein langer Vortrag in fließendem Französisch. AlsFoscarelli schloß, durften Poirot und die beiden anderen alles,was sie über seine geschäftlichen Gepflogenheiten, seine Reisen, sein Einkommen, seine Ansichten über die VereinigtenStaaten und die meisten europäischen Länder noch nicht wuß

ten, als absolut nebensächlich abtun. Antonio Foscarelli warnicht der Mann, der nur widerwillig Rede und Antwort stand.Er war mitteilsam wie kein zweiter.

Und als er endlich mit einer beredten Geste innehielt und sichdie Stirn mit dem Taschentuch abwischte, glänzte sein gutmütiges Gesicht vor Befriedigung. Dann schöpfte er noch einmalAtem und setzte hinzu:

Page 146: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 146/270

»Sehen Sie, Messieurs, ich mache große Abschlüsse, bin bis indie Fingerspitzen ein moderner Kaufmann und verstehe meinGeschäft.«

»Sie haben sich also während der letzten zehn Jahre mit Unterbrechungen in den Vereinigten Staaten aufgehalten?«

»Ja, Monsieur. Ah, wie gut entsinne ich mich noch des Tags,an dem mein Fuß das Deck des Dampfers betrat, der mich zumerstenmal hinüberbringen sollte. Amerika! Ein Land, so weit,weit fort. Meine Mutter, meine kleine Schwester…«

Unerbittlich hemmte Hercule Poirot die Erinnerungsfluten.»Sind Sie Ratchett in den Vereinigten Staaten je begegnet?«

»Nie, nie! Aber ich kenne die Sorte. O ja!« Ausdrucksvollschnippte er mit den Fingern. »Unter dem ehrbaren Äußern,unter der makellosen Kleidung ist alles faul. Auf Grund meinerErfahrungen möchte ich sagen, daß er ein Gangster war, dersich nur mit Kapitalverbrechen abgab. Und auf meine Erfah

rung dürfen Sie bauen, Messieurs.«»Sie hat Sie nicht getrogen«, entgegnete Poirot. »Ratchett war

Cassetti, der Entführer und Erpresser.«

»Was habe ich gesagt? Ja, ja, ich habe gelernt, in Gesichtern zulesen. Nur in Amerika lernt man diese Kunst und richtet sichdann bei seinen Geschäften danach.«

»Erinnern Sie sich an den Fall Armstrong?«»Nur verschwommen. An den Namen – ja. War da nicht ein

kleines Mädchen, ein Baby, im Spiel?«

»Ja, eine sehr traurige Angelegenheit. Tragisch, sehr tragisch.«

Der Italiener war der erste, der diese Ansicht nicht zu teilenschien.

»Ah, derartige Dinge geschehen nun einmal«, meinte er weise. »In einer großen Zivilisation wie Amerika…«

Page 147: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 147/270

Abermals schnitt Poirot ihm das Wort ab.

»Hat Ihr Weg Sie jemals mit irgendeinem Mitglied der FamilieArmstrong zusammengeführt?«

»Meines Wissens nicht. Aber – unter den vielen Hunderten, jaTausenden… Damit Sie einen Begriff bekommen, will ich Ihnenein paar Zahlen nennen. Allein im letzten Jahr hatte ich einenUmsatz…«

»Monsieur, bitte bleiben Sie bei der Sache, und schweifen Sienicht ständig ab.«

Um Entschuldigung bittend, hob Foscarelli beide Hände.»Pardon! Tausendmal Pardon!«

»Schildern Sie mir bitte genau und ausführlich, was Sie in dervergangenen Nacht nach dem Dinner getan haben.«

»Mit Vergnügen. Ich blieb so lange wie möglich hier im Speisewagen – es ist unterhaltsamer – und führte ein anregendesGespräch mit dem Amerikaner, meinem Tischgenossen. Er verkauft Farbbänder für Schreibmaschinen. Dann ging ich in meinAbteil zurück. Keine Menschenseele war da. Dieser langweilige, steife Engländer, der es mit mir teilt, war bei seinem Herrn.Endlich kommt er zurück. Hochnäsig und unnahbar wie immer. Außer ja und nein hat der Kerl noch keine Silbe gesprochen. Eine elende Rasse, diese Engländer, aufgeblasen, unsympathisch. Stumm wie ein Fisch setzt er sich in seine Ecke und

steckt die Nase in ein Buch. Dann erscheint der Schaffner undmacht unsere Betten.«

»Nr. 4 und 5«, warf Hercule Poirot ein.

»Ganz recht. – Das am äußersten Ende des Wagens gelegeneAbteil. Oder auch das erste – wie man es rechnet. Jedenfalls istes dicht beim Speisewagen. Ich schlafe oben, klettere hinauf,

rauche und lese. Den Engländer plagen, glaube ich, Zahn

Page 148: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 148/270

schmerzen. Er kramt eine kleine Flasche mit irgendeinem starkriechenden Mittel heraus und liegt stöhnend und ächzend imunteren Bett. Schließlich schlafe ich ein, doch immer wenn ich

aufwache, höre ich ihn stöhnen.«»Wissen Sie, ob er in der Nacht das Abteil verließ?«

»Das glaube ich nicht. Da wäre ich sicher wach geworden.Unwillkürlich wacht man auf, sobald Licht vom Gang ins Abteil fällt, weil man eine Zollrevision oder Paßkontrolle vermutet.«

»Hat er je über seinen Arbeitgeber gesprochen? Sich vielleichtanmerken lassen, daß er ihn nicht mochte?«

»Monsieur, ich sage Ihnen doch, er ist stumm wie ein Fisch.Stumm und kalt wie ein Fisch. Ein unsympathischer Mensch.«

»Rauchen Sie, Monsieur Foscarelli? Pfeife, Zigaretten oder Zigarren?«

»Nur Zigaretten.«

»Dann darf ich Ihnen wohl eine anbieten?« Und während Poirot ihm das Etui hinhielt, fragte M. Bouc: »Sind Sie auch in Chicago gewesen?«

»O ja. Eine feine Stadt! Doch am besten kenne ich New York,Cleveland, Detroit. Waren Sie mal in den Staaten? Nein? Versäumen Sie es nicht. Es lohnt sich, denn, sehen Sie…«

Poirot, der Unbarmherzige, schob dem Redseligen ein BlattPapier zu.

»Notieren Sie mir bitte Ihre ständige Adresse, und dann können Sie Ihre Aussage unterzeichnen«, sagte er.

Der Italiener schrieb und malte zuletzt einen wilden Schnörkel. Dann erhob er sich – mit einem Lächeln, verbindlicher als

 je. »Das ist alles? Mehr wollen Sie nicht von mir? Auf Wieder

sehen dann, Messieurs. Ich wünschte, wir wären erst mal aus

Page 149: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 149/270

diesem verflixten Schnee heraus! Ein Termin, in Mailand…«Traurig schüttelte er den Kopf. »Das Geschäft wird mir durchdie Lappen gehen.«

Und er machte kehrt und verließ den Raum.

Als die Tür hinter ihm zuschnappte, sah Poirot seinen FreundBouc an.

»Er lebt schon lange in Amerika, mon ami« , sagte Bouc. »Ü berdies ist er Italiener. Die Italiener greifen leicht zum Messer.Und große Lügner sind sie obendrein. Schon aus diesen Grün

den mag ich sie nicht.«»Möglicherweise haben Sie recht«, erwiderte Poirot mit ver

gnügtem Lächeln. »Darf ich Sie aber daran erinnern, meinFreund, daß nicht das geringste gegen den Mann spricht.«

»So? Und wo bleibt die Psychologie? Sticht der Italiener nichteins, zwei, drei zu?«

»Sicherlich. Besonders in der Hitze eines Streits. Aber wir stehen einem andersgearteten Verbrechen gegenüber. Ich glaubeallmählich, es wurde sorgfältig geplant und in Szene gesetzt.

Es ist ein Verbrechen, das jemand auf lange Sicht vorbereitethat. Es ist kein – wie soll ich mich ausdrücken – romantischesVerbrechen, sondern eins, das von einem kühlen, findigen, bedächtigen Menschen ausgeklügelt wurde. Ich denke an einenangelsächsischen Menschen.«

Er nahm die beiden letzten Pässe auf.

»Hören wir uns nun an, was Miss Debenham zu sagen hat.«

Page 150: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 150/270

19

Als Mary Debenham den Speisewagen betrat, erkannte Poirot, 

daß er sie von Anfang an richtig eingeschätzt hatte. Sie trug ein 

schwarzes Kostüm und eine graue Crêpe-de-Chine-Bluse, und 

das dunkle Haar war hübsch frisiert. 

Sie nahm Poirot und M. Bouc gegenüber Platz und sah sie fragend an. Sie war ganz ruhig und gelassen.

»Ihr Name ist Mary Hermione Debenham«, begann Hercule 

Poirot, »und Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt?« 

»Ja.«

»Engländerin?«

»Ja.«

»Ich bitte, Mademoiselle, mir hier Ihre ständige Adresse aufzuschreiben.«

Sie tat es, mit klarer, leserlicher Schrift.

»Und nun, Mademoiselle, was können Sie uns über die Ereignisse der vergangenen Nacht berichten?«

»Leider gar nichts. Ich bin ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen.«

»Belastet es Sie sehr, Mademoiselle, daß in diesem Zug ein

Verbrechen begangen wurde?«Offensichtlich hatte Mary Debenham eine derartige Frage

nicht erwartet. Ihre grauen Augen weiteten sich ein wenig.

»Ich – ich verstehe nicht ganz.«

»Die Frage war doch ganz eindeutig, Mademoiselle. Ich wiederhole: Belastet es Sie sehr, daß in diesem Zug ein Verbrechen

 begangen wurde?«

Page 151: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 151/270

»Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich darüber wirklichnoch nicht nachgedacht. Aber nein, ich kann nicht sagen, daß esmich besonders belastet.«

»Dann ist ein Verbrechen für Sie etwas Alltägliches, wie?«

»Es ist natürlich eine höchst unerfreuliche Sache«, gab MaryDebenham ruhig zurück.

»Sie sind eine echte Angelsächsin, Mademoiselle. Vous

n’éprouvez pas d’ émotion.«

Sie lächelte.

»Ich kann leider keinen hysterischen Anfall bekommen, umIhnen zu beweisen, daß, ich nicht kalt und gefühllos bin. Dasliegt mir nicht. Schließlich sterben jeden Tag Menschen.«

»Sie sterben, ja, doch Mord ist etwas seltener.«

»Oh, sicherlich.«

»Waren Sie mit dem Toten nicht bekannt?«

»Ich habe ihn gestern beim Lunch zum erstenmal gesehen.«»Und was für einen Eindruck hatten Sie von ihm?«

»Ich habe ihn kaum bemerkt.«

»Sie fühlten sich von ihm also nicht abgestoßen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Wirklich, es wäre anmaßend, wenn ich ein Urteil abgeben

wollte.«Poirot sah sie streng an.

»Ich glaube, Mademoiselle, Sie betrachten die Art, wie ichmeine Untersuchung führe, ziemlich geringschätzig, nichtwahr?« sagte er. »Eine englische Untersuchung würde andersgeführt, denken Sie. Dabei ginge es nüchtern und sachlich zu,und niemand würde von Gefühlen und Eindrücken faseln. Man

würde sich streng an die Tatsachen halten. Doch ich, Mademoi

Page 152: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 152/270

selle, habe meine kleinen Eigenheiten. Ich sehe mir meine Zeugen erst einmal an, erforsche ihren Charakter und gestalte meine Fragen dementsprechend. Vor ein paar Minuten saß mir ein

Herr gegenüber, der mir über alles und jedes seine Ansichtennahebringen wollte. Ihm legte ich Zügel an, forderte ihn auf, beider Sache zu bleiben, zwang ihn mehr oder weniger, mir diesund das nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Und nun kommen Sie. Sofort fühle ich, daß Sie hübsch ordentlich und sachlich sein, sich auf die fragliche Angelegenheit beschränken wollen. Und da die menschliche Natur wider- und eigensinnig ist.

stelle ich Ihnen ganz verschiedene Fragen. Ich frage, was Siefühlen, was Sie dachten. Sie mißfällt Ihnen, diese Methode,n’est-ce pas?«

»Verzeihen Sie, wenn ich sie für Zeitvergeudung halte, Monsieur. Ob mir Mr. Ratchetts Gesicht zusagte oder nicht, hilftIhnen meiner Meinung nach überhaupt nicht dabei, den Mörder zu finden.«

»Wissen Sie, wer dieser sogenannte Ratchett wirklich war?«

»Mrs. Hubbard hat es längst herausposaunt. Man konnte esnicht überhören.«

»Und was halten Sie von dem Fall Armstrong?«

»Das war die verabscheuungswürdigste Tat, die man sichdenken kann«, antwortete sie heftig.

Poirot betrachtete sie nachdenklich. »Sie kommen, wenn ichnicht irre, von Bagdad, Miss Debenham?«

»Ja.«

»Und reisen nach London?«

»Ja.«

»Was haben Sie in Bagdad gemacht?«

»Ich war Erzieherin bei zwei Kindern.«

Page 153: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 153/270

»Werden Sie nach dem Urlaub auf Ihren Posten zurückkehren?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und wie kommt das?«

»Bagdad liegt ein bißchen außerhalb der Welt. Einer gleichwertigen Stellung in London würde ich den Vorzug geben.«

»Durchaus verständlich. Ich dachte schon, Sie wollten vielleicht heiraten.«

Darauf erwiderte Miss Debenham nichts. Sie schlug jedoch

die Augen auf und blickte Poirot voll ins Gesicht. Und ihr Blicksagte deutlich: »Sie sind impertinent.«

»Wie lautet Ihr Urteil über die Dame, mit der Sie das Abteilteilen?« fragte Hercule Poirot, an dem diese wortlose Rüge abprallte.

»Miss Ohlsson? Sie scheint ein schlichter, netter Mensch zu

sein.«»Welche Farbe hat ihr Morgenrock?«

Mary Debenham sah ihn verblüfft an. »Er ist bräunlich. Naturfarbene Wolle.«

»Ah! Ich darf wohl erwähnen – ohne Sie zu kränken, wie ichhoffe –, daß ich mich erinnere, Sie im Zug von Aleppo nachIstanbul zufällig im Morgenrock gesehen zu haben. Er ist zartli

la, nicht wahr?«»Ja, das stimmt.«

»Haben Sie noch einen anderen? Zum Beispiel einen scharlachroten Kimono?«

»Nein, der gehört nicht mir.«

Poirot schnellte nach vorn. Er glich einer über die Maus her

fallenden Katze.

Page 154: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 154/270

»Wem denn?«

»Das weiß ich nicht.« Mary wich erschrocken zurück. »Wasmeinen Sie eigentlich?«

»Mademoiselle, Sie sagten nicht: ›Ich habe keinen scharlachroten Kimono‹, sondern ›der gehört nicht mir‹, was nichts anderes bedeutet, als daß er jemand anders gehört.«

Sie nickte.

»Jemandem im Zug?«

»Ja.«

»Wem?«

»Ich erklärte bereits, daß ich es nicht weiß. Heute morgen gegen fünf wachte ich mit dem Gefühl auf, daß der Zug unnatürlich lange stillstand. Daraufhin öffnete ich die Tür und schauteauf den Gang hinaus, weil ich dachte, wir hielten auf einemBahnhof. Ich wollte wissen, wie die Station heißt und aus mei

nem Fenster sah ich nur Schnee und Finsternis. Nun ja, und daging jemand im scharlachroten Kimono den Gang entlang.«

»Und Sie wissen nicht, wer es gewesen ist? War sie blond oder dunkel oder ergraut?«

Mary Debenham zögerte ein wenig mit der Antwort. »Auchdas kann ich nicht sagen. Sie trug eine Frisierhaube, und überdies sah ich ja nur den Hinterkopf.«

»Und wie war die Gestalt?«»Groß und schlank, sollte ich meinen, obgleich ein Kimono

die Figur verbirgt. Übrigens war er mit Drachen bestickt.«

»Ja, ja. Das stimmt. Mit Drachen.«

Eine Weile brütete Hercule Poirot vor sich hin, nagte an seinerUnterlippe und murmelte: »Ich kann es nicht verstehen… nein,

ich kann es einfach nicht verstehen. Nichts davon ergibt einen

Page 155: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 155/270

Sinn.« Und dann, zu Miss Debenham gewandt: »Mademoiselle,ich brauche Sie nicht länger aufzuhalten.«

»Oh!« Ziemlich überrascht stand die junge Dame auf. Dochals sie an der Tür war, zögerte sie und kam noch einmal zurück.

»Die schwedische Dame – Miss Ohlsson, nicht wahr? –scheint ziemlich besorgt zu sein. Sie hat erzählt, Sie hätten ihrgesagt, sie sei die letzte, die diesen Mann lebend gesehen habe,und daraus schließt sie, Sie verdächtigten sie, die Tat begangenzu haben. Darf ich ihr von Ihnen ausrichten, daß sie sich irrt?

Glauben Sie mir, Miss Ohlsson ist ein so sanftes Geschöpf, dasnicht einmal einer Fliege ein Leid zufügen würde«, setzte MaryDebenham mit Nachdruck hinzu.

»Um wieviel Uhr hat sie sich das Aspirin von Mrs. Hubbardgeholt?«

»Kurz nach halb elf.«

»Blieb sie lange fort?«

»Etwa fünf Minuten.«

»Ging sie nachts vielleicht noch einmal hinaus?«

»Nein.«

Poirot drehte sich zur Seite, wo der griechische Arzt saß.

»Kann Ratchett schon so früh getötet worden sein?«

»Unmöglich.«

»Dann können Sie Ihre Freundin beruhigen, Mademoiselle.«

»Danke.« Jetzt lächelte sie Poirot plötzlich an. »Sie gleicht einem verlorenen Schäfchen. Zittert vor Angst und blökt!«

Und mit dem gewinnendsten Lächeln ging Mary Debenhamhinaus.

Page 156: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 156/270

20

M. Bouc sah seinen Landsmann neugierig an. »Ich begreife Sienicht ganz, mon vieux. Was haben Sie eigentlich damit bezweckt?«

»Ich habe nach einem Riß gesucht.«

»Einem Riß?«

»Ja – im Panzer der Selbstbeherrschung einer jungen Dame.

Ich wollte ihre Kaltblütigkeit erschüttern. Ob mir das gelungenist? Das weiß ich nicht. Hingegen weiß ich das eine: Sie hattenicht erwartet, daß ich die Sache so anpacken würde, wie ich esdann tat.«

»Haben Sie Mary Debenham im Verdacht… Warum, mon

ami? Auf mich macht sie den Eindruck einer charmanten jungen Dame – die allerletzte, die sich zu einem solchen Verbre

chen hinreißen ließe.«»Ich muß Ihnen beipflichten«, warf Dr. Constantine ein. »Sie

ist kalt, weiß ihre Gemütsbewegungen zu meistern. Sie würdeeinen Mann nicht erstechen, sondern ihn vor Gericht bringen.«

»Meine lieben Freunde, Sie müssen sich beide von der Vorstellung freimachen, daß das ein spontaner Mord war, eine Tatim Affekt«, sagte Poirot. »Ich habe zwei sehr konkrete Gründe,

Miss Debenham zu verdächtigen. Erstens habe ich zufälligBruchteile eines Gesprächs belauscht, von dem Sie nichts wissen…«

Er wiederholte die wenigen Sätze, die er zufällig aufgeschnappt hatte, als er im Zug von Aleppo nach Istanbul unweitvon Mary Debenham und Oberst Arbuthnot am Fenster stand,um die großartige Szenerie des Taurus zu bewundern.

Page 157: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 157/270

»Das ist freilich merkwürdig«, meinte M. Bouc, »und bedarfeiner Erklärung. Wenn es das bedeutet, was Sie vermuten, mon

ami, so haben die beiden – sie und der steife Engländer – ge

meinsame Sache gemacht.«»Ja. und dem widersprechen die Tatsachen«, erklärte Poirot.

»Überlegen Sie doch selbst: Wären Sie Komplizen, wäre es dasSelbstverständlichste, sich gegenseitig ein Alibi zu geben.Stimmt’s? Eh bien? Das ist aber nicht der Fall. Miss DebenhamsAlibi wird von Miss Ohlsson bestätigt, die sie nie zuvor gesehen hat. Und Oberst Arbuthnot bekommt sein Alibi von Mac-Queen, dem Sekretär des Toten. Nein, diese Lösung des Rätselsist zu leicht.«

»Und der zweite Grund für Ihren Verdacht?« erinnerte M.Bouc. »Oh, das hat schon wieder etwas mit Psychologie zutun.«

Hercule Poirot lächelte. »Ich frage mich, ob der ganze Plan

nicht von Miss Debenham stammt. Sie hat nämlich den scharfen, kühlen Verstand, der dazu nötig ist.«

M. Bouc schüttelte abwehrend den Kopf.

»Mein Lieber, ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg. Ich jedenfalls halte die junge Engländerin nicht für eine Verbrecherin.«

»Lassen wir es vorläufig dahingestellt«, erwiderte Poirot und

griff nach dem letzten Paß. »Hier haben wir HildegardeSchmidt, die Kammerzofe.«

Durch den Kellner herbeigeholt, blieb Fräulein Schmidt respektvoll stehen und setzte sich erst, als Poirot sie dazu aufforderte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und wartete gelassen, was man sie fragen würde. Sie schien überhaupt einruhiger Mensch zu sein – unglaublich ehrbar, wenn auch vielleicht nicht allzu intelligent.

Page 158: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 158/270

Bei ihr wandte Poirot eine völlig andere Methode an als beiMary Debenham.

Er gab sich freundlich und mild, so daß bei HildegardeSchmidt Schüchternheit erst gar nicht aufkommen konnte.Nachdem er sie gebeten hatte, ihm Namen und Adresse aufzuschreiben, begann er sehr vorsichtig mit der Vernehmung, dieauf deutsch geführt wurde.

»Wir möchten gern soviel wie möglich über die Ereignisse dervergangenen Nacht erfahren«, sagte er. »Daß Sie uns kaum

Auskünfte über das Verbrechen selbst geben können, wissenwir. Aber vielleicht haben Sie etwas gesehen oder gehört, dasIhnen unwesentlich erscheint, trotzdem jedoch wertvoll für unssein könnte. Sie verstehen, was ich meine?«

Es schien nicht der Fall zu sein. Ihr breites Gesicht behielt denAusdruck gelassener Stupidität bei, als sie erwiderte: »Ich weißnichts, Monsieur.«

»Nichts? Das dürfte nicht stimmen. Zum Beispiel wissen Sie,daß Ihre Herrin Sie gestern nacht rufen ließ.«

»Das ja.«

»Erinnern Sie sich an die Zeit?«

»Nein. Monsieur. Ich schlief, als der Kondukteur kam undmich benachrichtigte.«

»Eh bien. Sie standen auf. Zogen Sie einen Morgenrock an?«»Nein, ich schlüpfte schnell in ein Kleid. Es wäre unpassend,

in einem Schlafrock zu Ihrer Durchlaucht zu gehen.«

»Und dennoch ist es ein so hübscher Morgenrock – scharlachrot, nicht wahr?«

»Scharlachrot?« Sie blickte den Frager erstaunt an. »Nein. Esist ein dunkelblauer Flanellmorgenrock.«

Page 159: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 159/270

»Ah! Bitte, fahren Sie fort. Und verzeihen Sie mir den kleinenScherz. Was taten Sie bei Madame la Princesse?«

»Ich massierte sie und las ihr dann vor. Ich lese zwar nicht besonders gut, aber Ihre Exzellenz sagt, das sei um so besser, weiles einschläfernd wirkt. Als sie schläfrig wurde, schickte siemich in mein Abteil zurück.«

»Wissen Sie. um wieviel Uhr das gewesen ist?« 

»Nein, Monsieur.« 

»Wie lange hielten Sie sich bei Madame la Princesse auf?« 

»Gut eine halbe Stunde.« 

»Bien. Weiter.« 

»Zuerst holte ich für Ihre Durchlaucht noch eine Decke aus 

meinem Abteil, weil sie trotz der Heizung fror, breitete sie überihr Bett und wünschte gute Nacht. Dann drehte ich das Lichtaus und verließ sie.«

»Und dann?«»Das ist alles, Monsieur. Ich legte mich wieder schlafen.« 

»Ist Ihnen im Gang jemand begegnet?« 

»Nein, Monsieur.« 

»Eine Dame in einem scharlachroten Kimono haben Sie nichtzufällig gesehen?«

»Nein, Monsieur. Außer dem Kondukteur schliefen alle fest.«»Den Kondukteur haben Sie aber gesehen?«

»Ja, Monsieur.«

»Was machte er?«

»Er kam aus einem Abteil heraus.«

»Donnerwetter!« entfuhr es M. Bouc. »Aus welchem Abteil?«

Page 160: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 160/270

Hildegarde Schmidt zuckte ängstlich zusammen, und HerculePoirot maß seinen übereifrigen Freund mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Nichts natürlicher als das«, sagte er. »Wenn ein Passagierklingelt, muß der Schaffner laufen. Entsinnen Sie sich, aus welchem Abteil er kam, Fräulein Schmidt?«

»Es lag in der Mitte des Wagens. Zwei oder drei Türen vonIhrer Durchlaucht entfernt.«

»Ah. Das ist ganz interessant. Schildern Sie uns bitte genau,

was passierte.«»Er prallte beinahe mit mir zusammen, Monsieur, als ich mit

der Decke von meinem Abteil zu der gnädigen Frau ging.«

»Ah – er kam also aus einem Abteil und rannte fast in Sie hinein. Und in welche Richtung entfernte er sich?«

»In die, aus der ich kam – also nach dem Speisewagen zu. Erentschuldigte sich wegen des Zusammenpralls. Und dann klingelte jemand, doch ich bin der Meinung, daß er das nicht beachtete. Aber, Monsieur, ich verstehe nicht, was sollen all dieseFragen?«

»Es dreht sich um die Zeit, Fräulein Schmidt«, sagte Poirot beschwichtigend. »Fragen gehört zu unserem Handwerk. Undsehen Sie, der arme, geplagte Kondukteur wurde diese Nachtein bißchen arg hin und her gehetzt. Zuerst mußte er Sie wecken, und dann klingelten alle möglichen Leute.«

»Verzeihung, Monsieur – es war nicht derselbe Kondukteur,der mich geweckt hatte. Es war ein anderer.«

»Ein anderer? Hatten Sie ihn vorher schon mal gesehen?«

»Nein, Monsieur.«

»Aber Sie würden ihn wiedererkennen, Mademoiselle?«

»Ich glaube schon.«

Page 161: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 161/270

Hercule flüsterte M. Bouc etwas ins Ohr. Bouc stand auf, gingzur Tür und gab dort einen Befehl. Inzwischen setzte Poirot dasVerhör in leichtem Plauderton fort.

»Waren Sie eigentlich mal in Amerika, Fräulein Schmidt?«

»Nie, Monsieur. Es muß ein schönes Land sein.«

»Vermutlich haben Sie inzwischen gehört, welche Verbrechender Passagier, der hier ermordet wurde, dort begangen hat. Daßer schuld war am Tod eines kleinen Mädchens?«

»Ja, ich habe es gehört. Einfach unmenschlich. Wie kann Gott

nur so etwas zulassen? Bei uns in Deutschland sind die Menschen nicht so schlecht, Monsieur.«

Tränen traten ihr in die Augen – ihre mütterlichen Gefühlewaren aufs tiefste verletzt.

»Ja, es war ein furchtbares Verbrechen«, sagte Poirot. Er zogein kleines Tuch aus der Tasche und fragte: »Ist das Ihr Taschentuch, Fräulein Schmidt?«

Schweigen. Die Zofe betrachtete das feine Gewebe, und eineleichte Röte stieg ihr in die Wangen.

»Nein, Monsieur«, erklärte sie nach einer auffallend langenPause.

»Es ist mit einem H gezeichnet – daher dachte ich, es sei dasIhrige.«

»Monsieur, das ist das Taschentuch einer wohlhabenden Dame. Pariser Arbeit. Mit der Hand gestickt.«

»Wissen Sie auch nicht, wem es gehört?«

»Ich? O nein, Monsieur.«

Von den drei Zuhörern fiel lediglich Hercule Poirot das kaummerkliche Zögern auf.

Page 162: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 162/270

Bouc beugte sich zu dem wesentlich kleineren Poirot hinunterund flüsterte ihm etwas zu.

»Gleich kommen die drei Schlafwagenschaffner herein«,wandte sich Poirot wieder an die Frau, »und ich bitte Sie, mirden zu zeigen, mit dem Sie vergangene Nacht zusammenprallten.«

Die drei Männer traten ein. Zuerst Pierre Michel. Ihm folgtensein großer, blonder Kollege aus dem Athener Wagen und derstämmige, behäbige Betreuer des Bukarester Wagens. Hilde

garde sah sie an und schüttelte den Kopf.»Keiner davon ist der Mann, der vergangene Nacht im Gangin mich hineingerannt ist.«

»Aber Fräulein Schmidt, mehr Schaffner gibt es im Zug nicht.Sie müssen sich täuschen.«

»Ich bin meiner Sache durchaus sicher, Monsieur. Der Mann,den ich sah, war klein und dunkel und hatte ein Bärtchen. Seine

Stimme, als er Pardon sagte, klang hell wie die Stimme einerFrau.«

Page 163: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 163/270

21

»Ein kleiner, dunkler Mann mit femininer Stimme«, sagte M.Bouc fassungslos.

Die drei Kondukteure und Hildegarde Schmidt waren entlassen worden.

»Der Fall wird immer verworrener«, fuhr Bouc mit einer Geste fort, die seine ganze Hoffnungslosigkeit verriet. »Ich verstehenichts, nichts, nichts…! War der Feind, den Ratchett dem amerikanischen Detektiv beschrieb, also doch im Zug? Wo ist erdann aber jetzt? Trägt er eine Tarnkappe, die ihn unseren Blicken entzieht? Wie kann er sich in Luft aufgelöst haben?  Mon

vieux, in meinem Kopf dreht sich ein Mühlrad. Haben SieErbarmen, sagen Sie etwas! Ich flehe Sie an, Zeigen Sie mir, wiedas Unmögliche möglich ist.«

»Ah, das ist ein vortrefflicher Satz!« lobte Poirot. »Das Unmögliche kann sich nicht zugetragen haben, daher muß dasUnmögliche möglich sein, obwohl der äußere Anschein unsetwas anderes sagt.«

»Erklären Sie mir also bitte schnell, was vergangene Nacht imZug tatsächlich passiert ist.«

»Ich bin kein Zauberkünstler, mon cher, sondern genauso

verwirrt wie Sie. Der Fall entwickelt sich wirklich höchst sonderbar.«

»Er entwickelt sich überhaupt nicht, er bleibt, was er am Anfang war – ein unlösbares Rätsel.«

»Pardon, das stimmt nicht«, widersprach Poirot mit Nachdruck. »Wir haben Fortschritte zu verzeichnen. Wir haben bestimmte Fakten ermittelt und die Aussagen der Reisenden ge

hört.«

Page 164: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 164/270

»Und sind dadurch nicht klüger geworden.« 

»Das möchte ich nicht behaupten.«

»Na ja, vielleicht übertreibe ich. Zugegeben, Mr. Hardman 

und die Kammerzofe haben uns zu neuen Erkenntnissen verholfen. Das heißt, eigentlich ist durch ihre Aussagen der Fallnur verworrener geworden.«

»Nein, nein, nein!« erklärte Poirot sehr nachdrücklich.

M. Bouc schlug mit der Hand auf den Tisch. »Dann sprechenSie doch und lassen Sie uns an der Weisheit von Hercule Poirot

teilhaben.«»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich genauso verwirrt bin

wie Sie? Das hält mich jedoch nicht ab. mich dem Problem zustellen und mit Methode und Bedacht die uns bekannten Tatsachen zu ordnen.«

»O bitte, fahren Sie fort, Monsieur«, sagte Dr. Constantine.

Poirot räusperte sich und strich glättend über das Löschblatt.»Lassen Sie uns den Fall durchgehen, wie er sich jetzt unserenAugen darbietet. Erstens sind wir im Besitz mehrerer unbestreitbarer Tatsachen – das können Sie nicht leugnen, Sie trostloser Pessimist. Tatsache Nummer eins: Ratchett oder Cassettiwurde vergangene Nacht durch zwölf Messerstiche getötet.«

»Das kann ich bestätigen«, sagte M. Bouc mit beißender Iro

nie.Poirot ließ sich dadurch nicht beirren. Ruhig fuhr er fort: »Ich

will die unbestreitbar ungewöhnlichen Begleiterscheinungen,die Dr. Constantine und ich bereits erörtert haben, vorläufigübergehen. Die nächste Tatsache von Wichtigkeit ist meinesErachtens die Stunde des Verbrechens.«

Page 165: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 165/270

»Auch das gehört zu den wenigen Dingen, die uns bekanntsind, mon vieux. Der Mord geschah um Viertel nach eins. Allesweist darauf hin.«

»Nicht alles. Sie übertreiben schon wieder. Freilich gibt esmehrere Indizien, die diese Theorie stützen.«

»Freut mich, daß Sie wenigstens das zugeben!«

»Wir haben es mit drei Möglichkeiten zu tun. Die erste: DasVerbrechen wurde, wie Sie sagen, um Viertel nach eins begangen. Diese Theorie stützt sich auf die Uhr, die um diese Zeit

stehenblieb, auf die Aussage von Mrs. Hubbard und die derdeutschen Kammerzofe. Ferner paßt sie zu Dr. ConstantinesGutachten.

 Jetzt Möglichkeit Nummer zwei: Man verübte das Verbrechenzu einer späteren Stunde und fälschte das Beweismaterial, indem man die Uhrzeiger verstellte.

Möglichkeit Nummer drei: Man verübte das Verbrechen frü

her und führte uns durch gefälschte Hinweise in die Irre.Wenn uns nun die Möglichkeit Nummer eins als die wahr

scheinlichste und die durch die meisten Beweise untermauerteerscheint, müssen wir logischerweise auch gewisse Tatsachenmit in Kauf nehmen, die sich daraus ergeben. Um Ihnen nureine zu nennen: Wenn das Verbrechen um Viertel nach eins

 begangen wurde, kann der Mörder den Zug nicht verlassen

haben, und wir müssen uns fragen: Wo ist er? Und wer ist es?Fangen wir damit an, das Beweismaterial sehr sorgfältig zu

prüfen. Zum erstenmal hören wir von dem Vorhandensein dieses Menschen – des kleinen, dunklen mit der hellen Frauenstimme – von Mr. Hardman. Er sagt, Ratchett habe ihm erklärt,dieser Mann wolle ihn töten, und Hardman solle ihn beschützen. Hardmans Darstellung wird durch kein Beweismaterialerhärtet – wir müssen wohl oder übel glauben, was er sagt.

Page 166: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 166/270

Nun die nächste Frage: Ist Hardman der Mann, für den er sichausgibt? Angestellter einer New Yorker Detektei?

Was den Fall für mich so fesselnd macht, ist der Umstand,daß wir alle der Polizei zur Verfügung stehenden Hilfsmittelentbehren. Wir können die Glaubwürdigkeit der Reisendennicht überprüfen, sondern sind ganz auf Schlußfolgerungenangewiesen. Darin, meine Freunde, liegt für mich der Reiz derSache. Die übliche Routine nützt hier nichts. Nur der Intellekt,der Scharfsinn zählt. Ich lege mir die Frage vor: Können wirHardmans Bericht über sich selbst gelten lassen? Dann treffe ichmeine Entscheidung und sage: ›Ja.‹ Ja, ich bin der Meinung, daßwir Hardmans Selbstauskunft Glauben schenken dürfen.«

»Sie bauen auf die Intuition – oder, wie der Volksmund sagt,auf den guten Riecher?« meinte Dr. Constantine.

»Durchaus nicht. Ich erwäge die Möglichkeiten. Hardmanreist mit einem falschen Paß, was ihn von vornherein verdäch

tig macht. Wenn die Polizei den Fall übernimmt, wird sieHardman sofort festhalten und nach drüben kabeln, um festzustellen, ob seine Angaben stimmen. Bei einigen Reisenden dürfte es schwierig werden, Ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen,

 bei anderen wiederum wird man es gar nicht versuchen, da sieüber jeden Verdacht erhaben sind. Bei Hardman ist es kinderleicht. Und deshalb sage ich, daß er kaum die ungeheure

Dummheit begehen wird, uns falsche Angaben aufzutischen.«»Also sprechen Sie ihn von jedem Verdacht frei?«

»Aber durchaus nicht. Sie mißverstehen mich. Wie die Dingeliegen, könnte jeder beliebige amerikanische Detektiv unzähligeprivate Gründe gehabt haben. Ratchett zu töten. Nein, mon and,

ich sage lediglich, daß wir meiner Meinung nach HardmansAngaben zur Person glauben dürfen. Auch die Geschichte, daß

Ratchett ihn zu seinem Schutz engagiert hatte, entspricht mit an

Page 167: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 167/270

Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Wahrheit. Wennwir sie akzeptieren, müssen wir uns jedoch umsehen, ob sie unsnicht jemand bestätigen kann. Und wir finden die Bestätigung

an einer ganz unvermuteten Stelle – in der Aussage von Hildegarde Schmidt. Der Mann in der Uniform eines Schlafwagenschaffners, mit dem sie zusammenstieß, entspricht in allem jener Beschreibung, die Hardman uns von Ratchetts Feind gege

 ben hat. Eine weitere Bestätigung liefert uns der in Mrs. Hub bards Abteil gefundene Knopf. Und dann gibt es noch eine dritte, die Ihnen vielleicht entgangen ist.«

»Welche?«

»Die Tatsache, daß beide, Oberst Arbuthnot und Hector Mac-Queen, erwähnten, der Kondukteur sei an ihrem Abteil vorü

 bergegangen. Sie legten dem keine Bedeutung bei, aber, Messieurs, Pierre Michel hat erklärt, daß er seinen Sitz nicht verlassen hat, außer um bestimmte Aufträge zu erledigen. Am äu

ßersten Ende des Wagens hatte er jedoch nichts zu tun, so daßsein Weg ihn auch nicht an Mr. MacQueens Abteil vorüberführte.

Deshalb stützt sich diese Geschichte von einem kleinen, dunklen, in Schlafwagenuniform gekleideten Mann – direkt oderindirekt – auf die Aussage von vier Personen.«

»Gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung«, sagte der Arzt.

»Wie kommt es, wenn Hildegarde Schmidts Aussage aufWahrheit beruht, daß der echte Kondukteur sie nicht zu Gesicht

 bekam, als er zu Mrs. Hubbard ging?«

»Mein lieber Doktor, als Pierre Michel angestürzt kam, um zusehen, warum Mrs. Hubbard wie verrückt klingelte, war dieZofe bei der Prinzessin, und als Fräulein Schmidt in ihr eigenesAbteil zurückkehrte, war Pierre Michel bei Mrs. Hubbard.«

Page 168: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 168/270

M. Bouc wartete ungeduldig darauf, auch etwas sagen zukönnen. »Alles vortrefflich!« rief er hitzig. »Doch während ichIhre Vorsicht, Ihre Methode, nur schrittweise vorzugehen, auf

richtig bewundere, mon cher, kann ich nicht umhin, bedauerndfestzustellen, daß Sie den Kernpunkt nicht berühren. Wir allestimmen mit Ihnen darin überein, daß dieser Mann existiert.Wohin aber ist er gegangen?«

Hercule Poirot schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Sie irren sich, ich lasse keinen wichtigen Punkt außer acht.

Doch Sie neigen dazu, den Wagen vor das Pferd zu spannenund nicht das Pferd vor den Wagen. Bevor ich mich frage: Wohin ist dieser Mann verschwunden?‹, frage ich mich erst: ›Hatein solcher Mann wirklich existiert?‹ Wenn der Mann nämlicheine Erfindung, eine Fiktion wäre – wie leicht wäre es dann, ihnverschwinden zu lassen! Daher versuche ich vor allem festzustellen, daß er tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut ist.«

»Und nachdem das feststeht, wo – bitte schön –, wo ist er jetzt?«

»Darauf gibt es nur zwei Antworten. Entweder er ist noch imZug versteckt, und zwar an einem mit solcher Findigkeit ausgesuchten Platz, daß wir nicht darauf verfallen, oder aber es handelt sich – nicht um eine, sondern um zwei Personen. Das heißt:Er ist der Mann, den Ratchett fürchtete, und gleichzeitig ein so

vorzüglich gekleideter Reisender, daß Ratchett ihn nicht erkannte.«

»Das ist keine schlechte Idee«, sagte M. Bouc, und sein Gesicht hellte sich auf. Doch gleich darauf umwölkte es sich wieder. »Ein Widerspruch freilich…«

Hercule Poirot schnitt ihm das Wort ab.

»Der Wuchs des Mannes – nicht wahr, das wollen Sie sagen?Mit Ausnahme von Mr. Ratchetts Kammerdiener sind alle

Page 169: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 169/270

männlichen Reisenden hochgewachsen: der Italiener, OberstArbuthnot, Hector MacQueen, Graf Andrenyi. Bleibt demnachnur der Kammerdiener, was mir sehr unwahrscheinlich vor

kommt. Doch denken Sie bitte an die feminine Stimme. Das läßtuns die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Der Mann kannsich als Frau verkleidet unter uns bewegen, es kann aber auchtatsächlich eine Frau sein. Eine große Frau wirkt in Männerkleidung klein.«

»Das hätte Ratchett doch zweifellos gewußt!«

»Möglicherweise wußte er es. Vielleicht hatte die Frau, alsMann verkleidet, schon einmal versucht, Ratchett zu töten, under vermutete, daß sie beim zweitenmal dieselbe Verkleidungwählen würde. Er beauftragte Hardman daher, sein Augenmerk auf einen Mann zu richten, erwähnte jedoch ausdrücklichdie feminine Stimme.«

»Ganz von der Hand zu weisen ist das natürlich nicht«, mein

te M. Bouc. »Aber…«»Hören Sie mich an, mon ami. Es scheint mir an der Zeit, Sie

über einige Absonderlichkeiten zu unterrichten, die Dr. Constantine aufgefallen sind.«

Ausführlich legte er dann die Schlüsse dar, zu denen er gemeinsam mit dem Arzt gekommen war, nachdem Dr. Constantine ihn über die Beschaffenheit der Verletzungen aufgeklärt

hatte.M. Bouc stöhnte und hielt sich den Kopf.

 

»Ich weiß, Sie Ärmster, wie Ihnen zumute ist«, sagte Hercule 

Poirot mitleidig. »Ihnen brummt der Kopf, nicht wahr?«

»Das Ganze ist ja ein Alptraum!« rief M. Bouc.

Page 170: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 170/270

»Wie recht Sie haben. Es ist absurd – unwahrscheinlich, eskann nicht sein. Das habe ich mir auch gesagt. Und dennoch,mein Freund, es ist so. Tatsachen kann man nicht entrinnen.«

»Es ist Wahnsinn.«

»Nicht wahr? Es ist so verrückt, daß ich bisweilen von derVorstellung nicht loskomme, die Lösung müsse ganz einfachsein. Aber das ist nur eine meiner berühmten ›kleinen Ideen‹.«

»Zwei Mörder!« stieß M. Bouc hervor. »Und das im Orientexpreß.«

Bei dem Gedanken brach er fast in Tränen aus.Aber Poirots flüchtige Anwandlung von Mitleid schien ver

flogen. Mit fröhlichem Behagen führte er aus: »Und nun wollenwir das Phantastische noch phantastischer machen. In der vergangenen Nacht sind zwei geheimnisvolle Fremde im Zug. Erstens der Schlafwagenkondukteur, der jener Beschreibung entspricht, die uns Mr. Hardman von ihm gegeben hat, und den

Hildegarde Schmidt, Oberst Arbuthnot und Hector MacQueengesehen haben. Zweitens die Frau im roten Kimono – eine große, schlanke Frau –, gesehen von Pierre Michel, Miss Debenham, MacQueen und mir selbst… Und gerochen, möchte ichsagen, von Oberst Arbuthnot. Wer war sie? Keine von unserenDamen hat bisher zugegeben, einen scharlachroten Kimono zu

 besitzen. Auch diese Fremde ist spurlos verschwunden. War sie

identisch mit dem falschen Kondukteur? Und wo befinden sichdie Uniform und der scharlachrote Kimono jetzt?«

»Ah, da haben wir endlich etwas Greifbares.« M. Bouc sprangso hastig auf, daß sein Stuhl beinahe umkippte. »Wir müssensofort das gesamte Gepäck der Reisenden durchsuchen!«

Auch Poirot erhob sich. »Ich will Ihnen etwas prophezeien«,sagte er.

Page 171: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 171/270

»Wissen Sie etwa, wo die Sachen stecken?«

»Nun, ich habe eine kleine Idee.«

»Und – wo sind sie?«»Den roten Kimono werden Sie im Gepäck eines Herrn und

 

die Uniform des falschen Schlafwagenkondukteurs im Gepäckvon Hildegarde Schmidt finden.«

»Hildegarde Schmidt? Sie denken…«

»Nicht, was Sie denken. Ich will es folgendermaßen ausdrücken: Wenn Fräulein Schmidt schuldig ist, finden wir die Uni

form vielleicht  bei ihr. Ist sie hingegen unschuldig, steckt dieUniform bestimmt in ihrem Koffer.«

»Aber wie – «, begann M. Bouc und unterbrach sich sofortwieder. »Was ist das für ein Lärm? Es klingt ja wie eine fahrende Lokomotive.«

Der Lärm kam näher, jetzt deutlich als das schrille Gezeter ei

ner Frau zu unterscheiden, die, aufs äußerste erregt, ihre Empörung hinausschrie. Dann wurde die Tür des Speisewagens aufgerissen. Mrs. Hubbard stürzte herein.

»Oh, oh, das ist zu furchtbar!« kreischte sie. »Wirklich zufurchtbar! In meinem Schwammbeutel! Meinem eigenenSchwammbeutel – ein großes Messer, über und über mit Blut

 befleckt!«

Und plötzlich taumelte sie vornüber und fiel ohnmächtig gegen M. Boucs Schulter.

Page 172: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 172/270

22

Mit mehr Kraft als Ritterlichkeit brachte der Direktor die ohnmächtige Dame auf einem Stuhl unter und bettete ihren Kopfauf den harten Tisch. Dr. Constantine rief nach einem Kellner,der erschrocken herbeigelaufen kam.

»Halten Sie ihren Kopf so«, befahl der Arzt. »Und wenn siewieder zu sich kommt, flößen Sie ihr ein bißchen Cognac ein.Haben Sie verstanden?«

Dann lief er M. Bouc und Poirot hinterher, die inzwischen denSpeisewagen verlassen hatten. Sein Interesse galt einzig undallein dem Verbrechen – ohnmächtige Frauen mittleren Altersinteressierten ihn nicht im mindesten.

Man sollte es dahingestellt sein lassen, ob diese BehandlungMrs. Hubbard nicht schneller ins Leben zurückrief, als es zarte

Fürsorge getan hätte. Ein paar Minuten später saß sie schonaufrecht da und trank mit Genuß den Cognac, den ihr der Kellner gebracht hatte. Und auch ihr Mundwerk hatte keinen Schaden gelitten.

»Ich kann gar nicht schildern, wie entsetzlich das war! Hierim Zug kann sich bestimmt keine Menschenseele vorstellen,was ich empfunden habe. Schon als Kind war ich sehr, sehr

sensibel. Blut? Allein der Anblick von Blut – oh… Mir wirdschon übel, wenn ich nur daran denke.«

Der Kellner schenkte ihr noch einmal ein.

»Encore un peu , Madame.«

»Meinen Sie, es tut mir gut? Mein Gott, zeitlebens war ichAbstinenzlerin. Noch nie habe ich einen Schluck Wein oderSchnaps getrunken. Meine Verwandten sind strikte Alkohol

Page 173: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 173/270

gegner. Jedoch vielleicht unter den gegebenen Umständen – dieeinzige Medizin…«

Von neuem nippte sie.

Inzwischen waren Poirot und M. Bouc mit Dr. Constantine imSchlepp zu Mrs. Hubbards Abteil geeilt.

Die übrigen Reisenden hatten sich vollzählig vor der Tür versammelt, und der arme Pierre Michel versuchte sein möglichstes, um sie zurückzuhalten, sonst hätten sie es in ihrer Aufregung gestürmt.

» Mais il n’y a rien à voir« , versicherte er und wiederholte denSatz immer wieder und in mehreren Sprachen.

»Lassen Sie mich bitte durch«, sagte M. Bouc und zwängtesich durch die nur widerstrebend zurückweichenden Passagiere. Poirot war dicht hinter ihm.

»Gut. daß Sie da sind, Monsieur«, sagte der Kondukteur erleichtert. »Allein wäre ich diesem Ansturm nicht mehr langegewachsen gewesen. Mein Gott, mein Gott, wie diese amerikanische Dame geschrien hat!  Ma foi, ich glaubte schon, auch siewerde ermordet. Als ich herbeistürzte, gebärdete sie sich wieeine Wahnsinnige, schluchzte, kreischte, raste durch den Gangund schrie in alle Abteile hinein, was ihr passiert war. Schließlich verlangte sie nach Ihnen und rannte kurzerhand davon.«Mit einer Geste des Abscheus setzte er hinzu: »Es ist dort drin,

Monsieur. Ich habe es nicht angefaßt.«An der Klinke der Verbindungstür zum Nebenabteil baumel

te ein großgeblümter Schwammbeutel, und genau unter ihmlag wie er Mrs. Hubbards Hand entfallen war – ein Dolch mitgerader Klinge. Ein billiger Schund, pseudoorientalisch mitverziertem Griff und spitz zulaufender Klinge. Und die Klingewar mit Flecken bedeckt, die wie Rost aussahen.

Page 174: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 174/270

Poirot hob den Dolch auf. 

»Ja«, sagte er, »da ist kein Irrtum möglich. Wir haben die fehlende Waffe gefunden – oder, Doktor?«

Der Arzt untersuchte den Dolch.

»Sie brauchen nicht so vorsichtig damit umzugehen«, sagteHercule Poirot. »Die einzigen Fingerabdrücke, die wir darauffinden werden, sind die von Mrs. Hubbard.«

Dr. Constantines Untersuchung dauerte nicht lange.

»Ja, es ist die Waffe«, bestätigte er, »sie kommt für jede der

zahlreichen Wunden in Betracht.«»Um Gottes willen, mon cher, sagen Sie das nicht! Ich flehe Sie

an!«

Der Arzt hob erstaunt den Blick.

»Schon sind wir überlastet mit zufälligen Zusammentreffen«,führte Poirot aus. »Zwei verschiedene Personen entschließen

sich, Mr. Ratchett in ein und derselben Nacht zu erstechen. Eswäre zuviel des Guten, wenn sie auch noch dieselbe Waffeverwendet hätten.«

»Ah, was das anbetrifft, so wäre der Zufall gar nicht so groß,wie es scheint«, gab der Doktor zurück. »Zu Tausenden werdendiese Imitationen orientalischer Dolche hergestellt und in denBazaren Istanbuls feilgeboten.«

»Sie trösten mich ein wenig, aber nur ein ganz klein wenig.«Nachdenklich betrachtete Poirot die Tür, nahm den

Schwammbeutel ab und drückte auf die Klinke. Doch die Türgab nicht nach. Etwa dreißig Zentimeter über der Klinke befandsich ein Riegel, den er nun zurückbog. Aber noch immer ließsich die Tür nicht öffnen.

»Wir haben sie von der anderen Seite abgeschlossen, erinnernSie sich?« sagte Dr. Constantine.

Page 175: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 175/270

»Stimmt«, erwiderte der kleine Belgier zerstreut. Er schienüber etwas ganz anderes nachzudenken und runzelte verwirrtdie Stirn.

»Es paßt alles zusammen, nicht wahr?« sagte M Bouc. »DerMann kommt durch dieses Abteil. Als er die Tür hinter sichzumacht, fühlt er den Schwammbeutel. Ein Gedanke durchzuckt ihn, und blitzschnell läßt er die blutbefleckte Waffe hineingleiten. Dann schlüpft er, nicht ahnend, daß er Mrs. Hub

 bard geweckt hat, durch die andere Tür in den Gang hinaus.«

»Ja, so muß es sich abgespielt haben«, sagte Poirot. Überzeugtklang es jedoch nicht. Und nach wie vor lag auf seinem Gesichtein Ausdruck von Verwirrung und Bestürzung.

»Was ist denn?« fragte M. Bouc. »Sie sind nicht zufrieden,nicht wahr? Da ist irgend etwas, das Sie stört.«

Poirot warf ihm einen raschen Blick zu.

»Fällt Ihnen denn nichts auf? Nein? Nun, es ist ja auch nur ei

ne Geringfügigkeit.«Der Kondukteur, der vor dem Abteil Wache hielt, schaute

herein. »Die amerikanische Dame kommt zurück«, meldete er.

Dr. Constantine blickte ziemlich schuldbewußt drein. Er hattedas Gefühl, Mrs. Hubbard nicht sehr fürsorglich behandelt zuhaben. Doch sie hatte kein Wort des Vorwurfs für ihn. Ihre Energie konzentrierte sich auf etwas anderes.

»Eins will ich Ihnen sofort sagen«, begann sie atemlos, sobaldsie auf der Schwelle stand. »Ich denke nicht daran, in diesemAbteil zu bleiben. Nein, und wenn man mir eine Million Dollar

 böte, würde ich nicht noch eine Nacht hier schlafen!«

»Aber, Madame…«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen. Doch sparen Sie sich die

Mühe. Lieber sitze ich die ganze Nacht draußen auf dem

Page 176: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 176/270

Gang.« Sie fing an, jämmerlich zu schluchzen. »Oh, wenn meine Tochter das nur ahnte – oder wenn sie mich jetzt sehenkönnte…«

»Madame«, unterbrach Poirot dieses Klagelied, »Ihr Wunschist durchaus gerechtfertigt. Ihr Gepäck soll unverzüglich in einanderes Abteil gebracht werden.« Das Taschentuch sank vonden geröteten Lidern herab.

»Wirklich? Oh, gleich fühle ich mich viel besser. Doch wohinmit mir? Es ist ja alles besetzt, es sei denn, einer der Herren…«

 Jetzt übernahm M. Bouc die Initiative.»Sie werden nicht nur in ein anderes Abteil, sondern in einen

anderen Wagen übersiedeln, Madame«, sagte er, »und zwar inden, der in Belgrad angehängt wurde und in dem ich selbstreise.«

»Wahrhaftig? Oh, das ist großartig! Sehen Sie, Messieurs, ich bin durchaus nicht zimperlich und nervös, indes Wand an

Wand mit einem Toten schlafen…« Sie schauderte. »Das würdemich um den Verstand bringen.«

»Michel!« rief M. Bouc. »Schaffen Sie das Gepäck in ein leeresAbteil des Athener Wagens.«

»Jawohl, Monsieur. In dasselbe Abteil wie hier? Auch in Nr.3?«

»Nein«, entschied Poirot, noch ehe sein Landsmann antworten konnte. »Ich halte es für besser, wenn Madame eine ganzandere Nummer bekommt. Nr. 12 zum Beispiel.«

»Bien, Monsieur.«

Während Pierre Michel sich des ersten Koffers bemächtigte,wandte sich Mrs. Hubbard dankbar an Hercule Poirot.

»Wie nett, wie zartfühlend von Ihnen! Ich weiß das zu würdi

gen – glauben Sie mir.«

Page 177: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 177/270

»Nicht der Rede wert, Madame. Wir werden Sie begleitenund uns überzeugen, daß alles erdenklich mögliche für IhreBequemlichkeit getan wird.«

Mit einer Eskorte von drei Männern begab sich Mrs. Hubbardin ihr neues Domizil, und glückstrahlend nahm sie es in Augenschein.

»Sehr hübsch«, sagte sie.

»Ja, gefällt es Ihnen, Madame? Es ist, wie Sie sehen, das gleiche Abteil, das Sie bisher innehatten.«

»Aber nicht dasselbe, und es geht auf die andere Seite hinaus.Aber das schadet nichts. Als ich abfuhr, sagte ich zu meinerTochter: ›Kind, ich möchte unbedingt in Fahrtrichtung sitzen.‹Doch meine Tochter meinte: ›Mami, damit ist dir nicht geholfen. Wenn du einschläfst, fährst du vorwärts, und wenn dumorgens aufwachst, fährst du vielleicht rückwärts.‹ Und siehatte recht, das gute Kind. Gestern abend in Belgrad dampfte

der Zug wieder in derselben Richtung, wie er gekommen war,zur Station hinaus, und ich fuhr dadurch verkehrt.«

»Jedenfalls sind Sie jetzt ganz zufrieden und glücklich, ja,Madame?«

»Ganz? Das wäre zuviel gesagt. Ganz zufrieden, wenn manim Schnee feststeckt und niemand sich darum kümmert, wiewir wieder loskommen? Bedenken Sie doch, daß mein Schiff

übermorgen ausläuft.«»Madame, wir sind alle in der gleichen Lage«, entgegnete M.

Bouc. »Das ist höhere Gewalt.«

»Ja, das ist freilich wahr. Doch niemand von Ihnen wurdedurch einen Mörder geweckt, der sich mitten in der Nachtdurchs Abteil geschlichen hat.«

Page 178: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 178/270

»Ich frage mich immer noch, Madame, wie der Mörder in IhrAbteil gelangen konnte, wenn die Verbindungstür, wie Sie angeben, abgeriegelt war. Sind Sie auch sicher, daß der Riegel

vorlag?«»Mein Gott, die schwedische Dame überzeugte sich doch vor

meinen eigenen Augen davon!«

»Wenn es Sie nicht langweilt, wollen wir die kleine Szeneeinmal rekonstruieren«, sagte Poirot. »Sie lagen schon im Bett,nicht wahr? Und deshalb konnten Sie selbst den Riegel nicht

sehen?«»Nein, wegen des Schwammbeutels. Oh, ich werde mir einenneuen anschaffen müssen! Mir dreht sich der Magen um, so

 bald mein Blick auf diesen Beutel fällt.«

Hercule Poirot nahm den armen, unschuldigen Gummibeutelund hängte ihn über die Klinke der Verbindungstür.

»Sicherlich! Der Beutel verdeckte den Riegel, so daß Sie tat

sächlich vom Bett aus nicht sehen konnten, ob abgeriegelt waroder nicht.«

»Aber das habe ich Ihnen doch schon längst gesagt.«

»Und die schwedische Dame, Miss Ohlsson, stand so, nichtwahr? Zwischen Ihnen und der Tür. Und sie behauptete, es seiabgeriegelt.«

»Ja.«»Dennoch kann sie sich geirrt haben. Sehen Sie bitte selbst,

was ich meine.« Es schien Poirot viel daran zu liegen, sich klarund verständlich auszudrücken. »Der Riegel ist ein beweglichesMetallstück, das, nach rechts gedreht, die Tür verschließt; stehtes gerade, so ist sie offen. Vielleicht beachtete die schwedischeDame die Stellung des Riegels gar nicht, sondern bewegte die

Klinke, und da die Tür auf der anderen Seite abgeschlossen war

Page 179: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 179/270

und sich daher nicht öffnen ließ, hat Miss Ohlsson vielleichtangenommen, sie sei von Ihrer Seite abgesperrt.«

»Nun, das wäre doch der Gipfel der Dummheit!«

»Madame, die liebenswürdigsten und gutherzigsten Menschen sind nicht immer die gescheitesten.«

»Da haben Sie allerdings recht.«

»Benutzten Sie übrigens auf Ihrer ganzen Reiseroute die Eisenbahn, Madame?«

»Nein. Ich fuhr mit dem Schiff nach Istanbul. Mr. Johnson, ein

Freund meiner Tochter – ein reizender Mensch übrigens, ichwünschte, Sie hätten ihn kennengelernt –, holte mich ab undzeigte mir ganz Istanbul. Selten hat mich eine Stadt so enttäuscht. Altes bröckeliges Gemäuer, winkelige Straßen – puh!Und erst die Moscheen, von denen man so viel Aufhebensmacht und die man erst betreten darf, wenn man monströseFilzungeheuer über die eigenen Schuhe gestreift hat… Doch ich

schweife wohl ab? Wovon habe ich eben gesprochen?«»Sie erzählten, daß Mr. Johnson Sie vom Schiff abgeholt hat.«

»Ja, richtig. Und er brachte mich auch an Bord des französischen Dampfers, den ich bis Smyrna benutzte. Dort auf demKai erwartete mich mein Schwiegersohn. Mein Gott was wirder sagen, wenn er das alles erfährt! Und vor allem meine Tochter! Immer wieder hat sie mir versichert, die Reise sei denkbareinfach. Du machst es dir in deinem Abteil schön bequem, Mami sagte sie, und fährst ohne Umsteigen durch bis Paris. Oh,wenn das gute Kind ahnte… Monsieur, wie soll ich nur meineKabinenbestellung rückgängig machen? Helfen Sie mir doch!Oh, oh, es ist entsetzlich…«

Page 180: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 180/270

Von neuem drohte Mrs. Hubbard in Tränen auszubrechen,und Poirot, der nervös zu werden begann, ergriff schnell diesich ihm bietende Gelegenheit.

»Sie haben einen Schock erlitten, Madame. Der Kellner wirdIhnen zu Ihrer Stärkung etwas Tee servieren.«

»Tee? Ich weiß nicht, ob ich Tee haben möchte«, erwiderteMrs. Hubbard mit tränenerstickter Stimme. »Das Teetrinken istmehr eine englische Gewohnheit.«

»Dann Kaffee, Madame. Sie brauchen ein Anregungsmittel.«

»Ja. Von dem Cognac vorhin wurde mir ein bißchen schwindlig. Kaffee – ja. ich glaube, der wird mir guttun.«

»Fraglos, Madame. Sie müssen Ihre Kräfte wiederbeleben.«

»Wie seltsam Sie sich ausdrücken, Monsieur Poirot!«

»Ich habe noch eine kleine Bitte, Madame. Es handelt sich umeine reine Routineangelegenheit. Gestatten Sie, daß ich Ihr Ge

päck durchsuche?«»Wozu?«

»Wir sind im Begriff, mit der Durchsuchung des gesamten imZug befindlichen Gepäcks zu beginnen. Ich möchte keine unliebsame Erinnerung wachrufen, Madame, jedoch IhrSchwammbeutel – Vor ähnlichen Überraschungen bleiben Siein Zukunft verschont, wenn wir uns das Gepäck jetzt genau

ansehen.«»Gerechter Gott, schweigen Sie davon! Ja, ja, sehen Sie nur al

les durch. Einen zweiten derartigen Schreck könnte ich nichtertragen.«

Die Durchsuchung war rasch erledigt. Mrs. Hubbard reistemit einem Minimum von Gepäck – einer Hutschachtel, einem

 billigen Vulkanfiberkoffer und einer fast überquellenden Reise

tasche. Der Inhalt sämtlicher drei Gepäckstücke war schlicht

Page 181: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 181/270

und anständig, und man hätte an ihn nur wenige Minuten zuverschwenden brauchen, wenn Mrs. Hubbard nicht darauf bestanden hätte, daß man den Fotografien von »meiner Tochter«

und zwei ziemlich häßlichen Kindern gebührende Beachtungzollte.

»Die Kinder meiner Tochter. Sind sie nicht goldig? Und soklug!«

Page 182: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 182/270

23

Nachdem Poirot Mrs. Hubbards großmütterliches Herz mit einpaar ebenso höflichen wie unaufrichtigen Floskeln erfreut undihr versprochen hatte, der Kellner werde sofort den Kaffee servieren, schaffte er es, mit seinen beiden Begleitern das Abteil zuverlassen.

»Der Anfang war eine Niete«, sagt M. Bouc draußen. »WessenGepäck kommt jetzt an die Reihe?«

»Am einfachsten wäre es, systematisch Abteil für Abteil vorzunehmen. Mit anderen Worten: Wir beginnen mit Nr. 16, demzuvorkommenden Mr. Hardman.«

Der Amerikaner, der eine Zigarre rauchte, begrüßte sie mit burschikoser Herzlichkeit.

»Immer nur hereinspaziert, Gentlemen – das heißt, wenn es

menschenmöglich ist. Mein Empfangssalon ist ein bißchen engfür so viele Gäste… Das Gepäck? Aber selbstverständlich. ImVertrauen gesagt, habe ich mich schon gewundert, daß Sie solange damit gezögert haben. Hier sind meine Schlüssel, Gentlemen, und wenn Sie auch meine Anzugtaschen durchsuchenwollen – ich habe nichts dagegen. Soll ich Ihnen die Koffer herunterholen?«

»Das kann der Kondukteur besorgen… Michel!«Der Inhalt von Mr. Hardmans zwei soliden Lederkoffern war

 bald gesichtet und für unbedenklich befunden. Sie enthielteneinen unziemlich reichen Vorrat an geistigen Getränken.

»Wenn man mit dem Kondukteur ein vernünftiges Wort redet, filzen sie einem an den Grenzen die Koffer nicht.« Hard-man lachte verschmitzt. »Ich habe gleich zu Beginn der Reise

Page 183: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 183/270

großzügig türkische Banknoten verteilt, und bisher hatte ichauch keine Schwierigkeiten.«

»Und in Paris?«

»Pah, in Paris!« Hardman zwinkerte wieder. »Bis wir dortsind, ist der Vorrat so zusammengeschmolzen, daß er in eineeinzige Flasche hineingeht, die ein Etikett mit der AufschriftHaarwasser erhält.«

»Ein Anhänger der Prohibition sind Sie also nicht, Mr. Hard-man«, stellte M. Bouc lächelnd fest.

»Die Prohibition war für mich noch nie ein Problem.«»Ja, ja, die Flüsterkneipen!« M. Bouc sprach das Wort förmlich

mit genießerischem Behagen aus. »Ihr Amerikaner prägt Ausdrücke, die wirklich den Nagel auf den Kopf treffen.«

»Ich würde mich sehr gern einmal in Amerika umsehen«, sagte Hercule Poirot.

»Sie würden drüben allerhand fortschrittliche Dinge kennenlernen, von denen Europa noch nichts weiß. Europa liebt dengemächlichen Trott, es mag nicht aufgerüttelt werden.«

»Wer wagte wohl zu bestreiten, daß Amerika das Land desFortschritts ist!« erwiderte Poirot. »Und es gibt mancherlei, wasich bei den Amerikanern bewundere. Jedoch – jetzt schelten Siemich sicher altmodisch! – finde ich die amerikanischen Frauen

weniger reizvoll als meine Landsmänninnen. Niemand kannden koketten, charmanten belgischen oder französischen Mädchen das Wasser reichen.«

Hardman wandte sich ab und betrachtete den Schnee vordem Fenster.

»Vielleicht haben Sie recht, Monsieur Poirot«, sagte er endlich. »Aber ich glaube, jede Nation stellt ihre eigenen Mädchen

am höchsten.«

Page 184: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 184/270

Er blinzelte, als blende ihn der Schnee.

»Ziemlich grell, nicht wahr?« sagte er. »Die Sache hier gehtmir allmählich auf die Nerven. Mord, Schneeverwehungen unddas Nichtstun. Man trödelt herum und weiß nicht, wie man dieZeit totschlagen soll. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ichhinter irgendwem oder irgendwas herjage.«

»Im unverfälschten westlichen Hetztempo, wie?« sagte Poirotlachend.

Pierre Michel verstaute die Koffer wieder an ihrem Platz, und

das Kleeblatt ging zum nächsten Abteil weiter. Dort saß OberstArbuthnot in einer Ecke, rauchte Pfeife und blätterte in einerillustrierten Zeitschrift.

Poirot erklärte den Grund ihres Kommens, und der Britemachte keinerlei Einwände.

»Zwei Koffer habe ich bei mir, mein übriges Gepäck geht aufdem Seeweg nach England.«

Wie die meisten Offiziere war Oberst Arbuthnot ein ordnungsliebender Mensch. Schuhe, Kragen, Wäsche, Krawatten –alles lag schön säuberlich in Reih und Glied, und die Anzügewaren sorgsam zusammengefaltet. Unter dem Kleinkram bemerkte Poirot ein Päckchen Pfeifenreiniger.

»Benutzen Sie immer dieselbe Sorte?« fragte er.

»Meistens. Sofern ich sie bekomme.«Die Pfeifenreiniger glichen genau jenem, der auf dem Fußbo

den von Ratchetts Abteil gelegen hatte. Als sie sich wiederdraußen im Gang befanden, machte Dr. Constantine eine entsprechende Bemerkung.

»Tout de même« ,  brummte Poirot. »Ich kann es nicht glauben.Es liegt nicht in seinem Charakter. Und damit ist alles gesagt.«

Page 185: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 185/270

Die Tür des nächsten Abteils war geschlossen. M. Bouc klopfte, worauf drinnen Prinzessin Dragomiroffs tiefe Stimme auffordernd rief: »Entrez!«

Hercule Poirot überließ es seinem Landsmann, den Wortführer zu spielen, und der Direktor trug ehrerbietig und höflich ihrAnliegen vor. Die Prinzessin hörte ihn ruhig an und verzogdabei keine Miene.

»Wenn es nötig ist, Messieurs – dann bitte«, erwiderte sie, alsM. Bouc schwieg. »Die Schlüssel hat meine Kammerzofe, die

Ihnen behilflich sein wird.«»Hat Fräulein Schmidt immer Ihre Schlüssel in Verwahrung,Madame?« erkundigte sich Poirot.

»Allerdings, Monsieur.«

»Und wenn nachts die Zollbeamten an irgendeiner Grenzeverlangen sollten, daß Sie die Koffer öffnen?«

Die alte Dame zuckte mit den Schultern.

»Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Aber gesetzt den Fall, eswäre so, dann würde der Kondukteur eben Fräulein Schmidtherbeiholen.«

»Trauen Sie ihr blindlings, Madame?«

»Das habe ich Ihnen doch schon einmal gesagt. Ich pflegekeine Leute einzustellen, denen ich nicht traue.«

»Tja, Vertrauen ist in unserer Zeit sehr selten, wohl dem, deres noch kennt«, sagte Hercule Poirot nachdenklich. »Eine reizlose, einfache Frau, der man trauen kann, wiegt sicher eine flottere Zofe auf – zum Beispiel eine schicke Pariserin.«

Die intelligenten Krötenaugen wandten sich ihm langsam zu.

»Was wollen Sie damit eigentlich andeuten, Monsieur Poirot?«

Page 186: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 186/270

»Andeuten? Ich? Rien, Madame, rien!«

»Keine Ausflüchte! Sie denken, daß ich eigentlich eine gewandte Französin für meine Toilette haben müßte.«

»Es wäre das Üblichere, Madame.«

Sie schüttelte den häßlichen Kopf.

»Hildegarde Schmidt ist treu und zuverlässig. Zwei Tugenden, die unbezahlbar sind.«

 Jetzt betrat die Kammerzofe mit den Schlüsseln das Abteil.Die Prinzessin befahl ihr, die Koffer zu öffnen und den Herren

zu helfen. Sie selbst stellte sich im Korridor ans Fenster und blickte in die winterliche Weiße hinaus.

»Nun, Monsieur, wünschen Sie nicht vom Inhalt meiner Koffer Kenntnis zu nehmen?« fragte sie, als Poirot an ihre Seite tratund M. Bouc die Durchsicht überließ.

Er schüttelte den Kopf.

»Sind Sie so sicher, daß es sich erübrigt, Monsieur?«»Ja.«

»Und dennoch kannte und liebte ich Sonja Armstrong. Wasdenken Sie denn? Daß ich meine Hände nicht mit dem Bluteiner solchen Kanaille wie Cassetti besudeln würde? Nun, vielleicht haben Sie recht.«

Sie schwieg ein paar Minuten und fuhr dann fort:

»Wissen Sie, was ich mit diesem Menschen gern getan hätte?Am allerliebsten hätte ich meinen Dienern den Befehl gegeben:Geißelt diesen Mann zu Tode und werft ihn hinterher auf denKehrichthaufen. So verfuhr man in meiner Jugend, Monsieur.«

Noch immer gab er keine Antwort, sondern hörte nur aufmerksam zu. Und mit jähem Unmut fragte sie schroff: »Warum

Page 187: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 187/270

sagen Sie nichts, Monsieur Poirot? Ich möchte wissen, was Siedenken.«

»Ich denke, Madame, daß Ihre Stärke in Ihrem Willen liegt,nicht in Ihrem Arm.«

Prinzessin Dragomiroff betrachtete nachdenklich ihre dünnen, schwarzbekleideten Arme und die klauenartigen, beringten Hände.

»Es ist wahr«, gab sie zu, »es mangelt ihnen an Kraft. Aber ichweiß nicht, ob mich das betrübt oder freut.«

Dann drehte sie sich plötzlich um und ging in ihr Abteil zurück, wo die Kammerzofe emsig mit den Koffern, Taschen undSchachteln hantierte. M. Boucs Entschuldigungen schnitt diePrinzessin kurz und bündig ab.

»Überflüssig, Monsieur!« sagte die tiefe Stimme. »Ein Mordist geschehen und zwingt zu verschiedenen Maßnahmen. Voi

là!«

» Vous êtes bien aimable, Madame.«

Die Türen der beiden nächsten Abteile waren geschlossen. M.Bouc blieb stehen und kratzte sich den Kopf.

»Diable!« fluchte er leise. »Sie wissen, mon ami, Diplomatengepäck darf nicht durchsucht werden.«

»Nicht von Zollbeamten. Aber in einem Mordfall sind derar

tige Regeln und Vorschriften automatisch außer Kraft gesetzt.«»Gewiß, gewiß. Trotzdem… Wir wollen doch keine Verwick

lungen – «

»Keine Bange, dazu kommt es nicht. Graf und Gräfin Andrenyi werden vernünftig sein. Sie haben doch eben erlebt, wie diePrinzessin Dragomiroff sich verhalten hat.«

»Ah, sie ist die wahre grande dame. Und wenn dieses Ehepaarauch derselben Gesellschaftsschicht angehört, so scheint mit

Page 188: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 188/270

dem Grafen doch nicht gut Kirschen essen zu sein. Ihm widerstrebte es sichtlich, als Sie darauf drangen, auch die Gräfin zuvernehmen. Und die Durchsuchung seines Gepäcks wird ihn

noch mehr erbosen. Wollen wir die beiden nicht übergehen,mon ami? Sie können doch gar nichts mit der Angelegenheit zuschaffen haben. Und warum soll ich mir selbst eine schlimmeSuppe einbrocken?«

»Ich bin überzeugt, daß Graf Andrenyi vernünftig sein wird«, beharrte der kleine Detektiv. »Auf jeden Fall wollen wir unserHeil versuchen.«

Ehe M. Bouc antworten konnte, pochte er laut an die Tür desAbteils Nr. 13.

»Entrez!«

Der Graf las eine ungarische Zeitung, und die Gräfin lehntezusammengekuschelt in der Fensterecke. Hinter ihrem Kopfsteckte ein Kissen, und sie schien geschlafen zu haben.

»Pardon, Monsieur le Comte«, begann Poirot. »Nehmen Sieuns bitte nicht übel, daß wir bei Ihnen eindringen. Wir untersuchen jedoch systematisch und der Reihe nach alle Koffer. In denmeisten Fällen eine reine Formalität, die jedoch erledigt werdenmuß. M. Bouc deutete an, daß Sie als Inhaber eines Diplomatenpasses mit Fug und Recht auf Befreiung von der Durchsuchung dringen könnten.«

Eine Minute überlegte der Graf.»Nein, mir liegt nichts daran, daß man eine Ausnahme mit

mir macht«, entschied er dann. »Mir ist es im Gegenteil sogarlieber, wenn mein Gepäck genau wie das der übrigen Reisenden behandelt wird.« Er wandte sich an seine Frau. »Oder hastdu etwas einzuwenden, Elena?«

»Keineswegs.«

Page 189: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 189/270

Es erfolgte eine rasche und etwas flüchtige Durchsuchung.Hercule bemühte sich offenbar, durch nichtige kleine Bemerkungen über das Peinliche hinwegzuhelfen. So sagte er gerade:

»Auf Ihrem Koffer hier, Madame, ist ein Etikett ganz feucht«,und zeigte dabei auf einen blauen Saffiankoffer, der mit Monogramm und einer Krone verziert war.

Die Gräfin erwiderte nichts. Das Ganze langweilte sie anscheinend. Sie blieb in ihrer Ecke, starrte zum Fenster hinausund rührte sich auch nicht, als die Herren in das zweite Abteilhinübergingen.

Poirot beendete seine Untersuchung, indem er das Wandschränkchen über dem Waschbecken öffnete und einen raschenBlick hineinwarf – Schwamm, Gesichtscreme, Puder und einkleines Fläschchen mit der Aufschrift »Trional«.

Nach ein paar höflichen Bemerkungen von beiden Seiten zogsich Poirot mit seinem »Suchtrupp« zurück.

Die nächsten Abteile – das von Mrs. Hubbard, Ratchett undPoirot – brauchten nicht durchsucht zu werden, und sie gingenin die zweite Klasse weiter.

Das erste Abteil, Nr. 10 und 11, teilten Mary Debenham, dieein Buch las, und Greta Ohlsson. Die Schwedin schlief fest, fuhr

 jedoch erschrocken in die Höhe, als die drei eintraten.

Poirot betete seine einleitenden Worte herunter. Mary Deben

ham hörte gleichmütig zu, die Schwedin hingegen wurde nervös. »Wenn Sie erlauben, Mademoiselle«, wandte Poirot sich ansie, »werden wir uns Ihr Gepäck zuerst vornehmen, und hinterher haben Sie vielleicht die Güte nachzusehen, wie es deramerikanischen Dame geht. Wir haben sie in einem Abteil desNachbarwagens untergebracht, aber die schreckliche Entdeckung, die sie in ihrem Schwammbeutel gemacht hat, wirkt

natürlich noch nach. Ich habe zwar Kaffee für sie bestellt, aber

Page 190: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 190/270

meiner Meinung nach wird die Möglichkeit, sich auszusprechen, viel heilsamer sein als alles andere. Vor allem für eineFrau wie Mrs. Hubbard.«

Sofort gewann das Mitleid bei der Schwedin die Oberhand. Jaja, sie gehe natürlich sofort. Die Koffer seien ja unverschlossen, man könne sie auch in ihrer Abwesenheit durchgehen. Diearme, arme Frau. Es müsse ein fürchterlicher Schock für siegewesen sein, nach den Strapazen der Reise und dem Trennungsschmerz von der geliebten Tochter nun auch noch das!Ah, vielleicht würde ihr das Riechfläschchen mit Ammoniakgute Dienste leisten…

Und schon eilte die hilfsbereite Samariterin davon. Ihre Habseligkeiten waren schnell durchgesehen. Auch die Hutschachtelkam an die Reihe – das Fehlen der beiden Drahthäufchen hattedie Eigentümerin wohl noch nicht bemerkt.

Mary Debenham hatte ihr Buch sinken lassen und beobachte

te Poirot bei seiner Beschäftigung. Als er sich ihrem Gepäckzuwenden wollte, reichte sie ihm lässig die Schlüssel.

»Warum haben Sie sie fortgeschickt, Monsieur?«

»Warum?« Er öffnete den Deckel des ersten Koffers. »Wiesowarum? Damit sie der amerikanischen Dame beisteht natürlich.«

»Ein vortrefflicher Vorwand – aber trotzdem ein Vorwand.«

»Ich verstehe nicht, Mademoiselle.«

Sie lächelte seltsam.

»Nicht wahr, Monsieur Poirot, Sie wollten mich ohne Zeugenüberführen.«

»Mademoiselle, Sie legen mir Worte in den Mund, die…«

»Und setze Ihnen Ideen in den Kopf? O nein, die Ideen haben

Sie selbst. Hab ich etwa nicht recht?«

Page 191: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 191/270

»Mademoiselle, wir haben ein Sprichwort…«

»Qui s’excuse, s’accuse. Meinen Sie das? Ein bißchen Beobachtungsgabe und gesunden Menschenverstand dürfen Sie mirschon zutrauen, Monsieur Poirot. Aus dem einen oder anderenGrund haben Sie es sich in den Kopf gesetzt, daß ich über diesedüstere Affäre Bescheid weiß – über den Mord an einem Mann,den ich nie zuvor gesehen habe.«

»Das bilden Sie sich ein, Mademoiselle.«

»Nichts bilde ich mir ein. Aber warum immer dieses Ver

steckspiel? Warum immer dies Auf-den-Busch-Klopfen? Warum rücken Sie nicht ehrlich mit der Sprache heraus? Warumdiese Umschweife und Zeitvergeudung?«

»Zeitvergeudung schätzen Sie nicht – das weiß ich bereits. Eh

bien, dann will ich die direkte Methode anwenden und Sie fragen, was die Worte zu bedeuten hatten, die Sie auf dem Bahnhof von Konya zu Oberst Arbuthnot sagten, und die ich zufällig

auffing, weil es so still war. Sie sagten zu ihm: ›Nicht jetzt.Nicht jetzt. Wenn alles vorbei ist. Wenn es hinter uns liegt…‹Was haben Sie damit gemeint?«

»Glauben Sie, ich meinte – Mord?«

»Ich bin es, der hier fragt, Mademoiselle.«

Sie seufzte, sah ein paar Sekunden gedankenverloren vor sichhin und erklärte dann:

»Natürlich hatten jene Worte eine Bedeutung, aber eine, dieich Ihnen nicht erklären kann. Doch kann ich Ihnen mein heiligstes Ehrenwort geben, daß ich diesen Ratchett zum erstenmalhier in unserem Zug sah.«

»Und Sie weigern sich, mir zu erzählen, was Sie meinten?«

»Ja. Ich weigere mich – wenn Sie es so auslegen. Die Sätze be

zogen sich auf eine Aufgabe, die ich übernommen habe.«

Page 192: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 192/270

»Die jetzt beendet ist?« 

»Wieso?«

»Ist sie beendet oder nicht?«»Interessiert Sie das so sehr?«

 

»Hören Sie, Mademoiselle. An dem Tag, an dem wir Istanbul erreichten, hatte unser syrischer Zug einen nicht fahrplanmäßigen Aufenthalt, worüber Sie sich ungeheuer aufregten. Sie, dieSie so ruhig, so beherrscht sind, verloren die Ruhe.«

»Gewiß. Ich wollte meinen Anschluß nicht verpassen.«

»So sagten Sie. Der Orientexpreß fährt aber an jedem Wochentag von Istanbul ab. Selbst wenn Sie den Anschluß versäumten,hätte es sich nur um eine Verspätung von vierundzwanzigStunden gehandelt.«

Zum erstenmal verlor Mary Debenham die Ruhe.

»Können Sie sich nicht vorstellen, daß man in London von

Freunden erwartet wird? Daß eine eintägige Verspätung Verabredungen über den Haufen wirft und eine Menge Mißhelligkeiten nach sich zieht?«

»Ah, das war es! Sie werden von Freunden erwartet? Sie wollten ihnen keine Ungelegenheiten bereiten?«

»Natürlich.«

»Und trotzdem – es ist sonderbar…«

»Was ist sonderbar?«

»Mit diesem Zug haben wir wiederum Verspätung. Diesmalsogar eine sehr beträchtliche. Und obwohl keine Möglichkeit

 besteht, Ihre Londoner Freunde telegrafisch oder telefonisch zu benachrichtigen, verraten Sie nicht die mindeste Ungeduld.Nein, Sie sind gleichmütig und warten mit philosophischer

Ruhe ab.«

Page 193: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 193/270

Mary Debenham errötete und nagte an ihrer Unterlippe.

»Sie antworten mir ja nicht, Mademoiselle.«

»Verzeihung. Ich wußte nicht, daß Sie eine Antwort erwarten.«

»Ich erwarte die Erklärung für Ihre veränderte Haltung, Mademoiselle.«

»Meinen Sie nicht, Monsieur Poirot, daß Sie aus einer Mückeeinen Elefanten machen? Was soll ich denn tun? Wie Sie schonselbst sagten, habe ich keine Möglichkeit, meine Freunde zu

verständigen. Und das ist mehr als ärgerlich. Noch ärgerlicheraber sind die Dinge, die Sie mir unterstellen.«

»Vielleicht ist das ein Fehler, in den wir Detektive leicht verfallen«, gab Poirot zerknirscht und mit einer um Entschuldigung bittenden Geste zu. »Wir erwarten, daß das Verhalten derLeute, mit denen wir es zu tun haben, immer gleichbleibt. Launen oder Stimmungen mögen wir nicht, sie sind uns von vorn

herein verdächtig.«Die junge Engländerin erwiderte nichts.

»Kennen Sie Oberst Arbuthnot gut, Mademoiselle?«

Bildete er es sich ein, oder fühlte sie sich durch den Themenwechsel erleichtert?

»Ich habe ihn erst auf dieser Reise kennengelernt.«

»Vermuten Sie, daß er Ratchett schon früher gekannt hat?« Jetzt schüttelte Mary Debenham entschieden den Kopf.

»Keinesfalls.«

»Wieso sind Sie da so sicher?«

»Ich schließe es einfach aus der Art, wie er über Ratchettsprach.«

Page 194: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 194/270

»Trotzdem haben wir vor dem Bett des Toten einen Pfeifenreiniger gefunden. Und Oberst Arbuthnot ist der einzige Reisende im Zug, der Pfeife raucht.«

Poirot beobachtete sie genau, aber ihr Gesicht verriet wederErstaunen noch Erregung.

»Unsinn! Das ist lächerlich. Oberst Arbuthnot ist der letzte aufder Welt, der etwas mit einem Verbrechen zu tun haben könnte– besonders mit einem so theatralischen wie diesem.«

Ihr Urteil stimmte so sehr mit Poirots eigenem überein, daß er

ihr beinahe laut beigepflichtet hätte. Aber er beherrschte sichnoch rechtzeitig und sagte statt dessen: »Ich muß Sie erinnern.Mademoiselle, daß Sie ihn doch nur flüchtig kennen.«

»Aber ich kenne den Typ gut genug.«

»Mademoiselle« – es klang väterlich gütig –, »weigern Sie sichnoch immer, mir zu sagen, was die Worte ›Wenn es hinter unsliegt…‹ zu bedeuten hatten?«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen«, fertigte sie den lästigen Frager kalt ab.

»Schön. Ich werde es auch ohne Ihre gütige Mithilfe erfahren.« Hercule Poirot verbeugte sich und verließ das Abteil.

»War das klug, mon vieux?« meinte M. Bouc besorgt. »Jetzt istsie auf der Hut, und durch sie wird auch der Oberst auf der

Hut sein.«»Wenn Sie ein Kaninchen fangen wollen, setzen Sie ein Frett

chen in den Bau, und wenn das Kaninchen drin ist, schießt esheraus. Diese Regel habe ich befolgt – mehr nicht.«

Hildegarde Schmidt stand in ihrem Abteil schon in Bereitschaft, respektvoll, aber gelassen. Poirot untersuchte rasch denInhalt des kleinen Koffers auf dem Sitz. Hierauf ließ er vom

Kondukteur den schweren Koffer herunterholen.

Page 195: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 195/270

»Die Schlüssel?« 

»Er ist nicht abgeschlossen, Monsieur.« 

Poirot klappte die Schließen und sodann den Deckel auf. 

»Aha, da haben wir sie ja«, sagte er leicht triumphierend. Und 

über die Schulter rief er M. Bouc zu: »Erinnern Sie sich meinerProphezeiung? Sehen Sie mal!«

Ganz obenauf lag eine zusammengerollte Schlafwagenuniform.

Nun geriet auch die schwerfällige Ruhe der Deutschen ins

Wanken.»So wahr ein Gott im Himmel lebt – diese Uniform gehört

nicht mir!« rief sie. »Und ich habe sie auch nicht hineingelegt.Seit wir Istanbul verließen, habe ich den Koffer nicht angefaßt.Wahrhaftig nicht! Wahrhaftig nicht!«

Flehend und hilfesuchend sah sie die drei Männer der Reihe

nach an.Poirot legte ihr die Hand auf den Arm und tröstete sie.

»Nein, nein, es ist ja alles gut. Wir glauben Ihnen doch. RegenSie sich bitte nicht auf. Ich bin sicher, daß Sie die Uniform nichtin Ihrem Koffer versteckt haben. Genauso sicher, wie ich glau

 be, daß Sie eine ganz vortreffliche Köchin sind. Oder sind Sieetwa keine vortreffliche Köchin?«

Hildegarde Schmidt lächelte verwirrt und eigentlich gegen ihren Willen. »Ich…« Sie hielt inne – erschrockener fast als vorhin.

»Was gibt es denn, Sie Hasenfuß?« scherzte Poirot. »Es istdoch alles in Ordnung. Ich werde Ihnen erzählen, wie es sichzugetragen hat. Dieser Mann, den Sie in der braunen Uniformsahen, tritt aus dem Abteil des Toten und prallt mit Ihnen zu

sammen. Das ist ein großes Pech für ihn. Er hat gehofft, es wer

Page 196: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 196/270

de ihn niemand sehen. Was also tun? Er muß sich so schnellwie möglich der Uniform entledigen, die nicht mehr Tarnung,sondern zur Gefahr geworden ist.«

Poirots Blick suchte M. Bouc und Dr. Constantine, die beideaufmerksam zuhörten.

»Und draußen liegt der Schnee. Der Schnee, der seine Plänevöllig durcheinanderbringt. Wo kann er die gefährliche Kleidung verstecken? Sämtliche Abteile sind besetzt. Nein, dakommt er an einem vorüber, dessen Tür offensteht und das sich

als leer erweist. Es muß der Frau gehören, mit der er soebenzusammenprallte. Rasch schlüpft er hinein, reißt sich die Uniform vom Leib und zwängt sie in den Koffer. Es wird bestimmteinige Zeit dauern, ehe sie dort entdeckt wird.«

»Und dann?« fragte M. Bouc.

»Darüber sprechen wir später«, entgegnete Poirot mit einemwarnenden Blick.

Er hob die braune Uniformjacke in die Höhe. Der dritte Knopfvon unten fehlte. Und in der Tasche steckte ein Hauptschlüsselzum Öffnen der Coupetüren.

»So, da haben wir die Erklärung dafür, wie unser Mann durchverschlossene Türen zu dringen vermochte«, sagte M. Bouc.»Ihre Fragen an Mrs. Hubbard waren völlig überflüssig, mon

cher. Verschlossen oder nicht verschlossen – der Mann konnte

mit Leichtigkeit durch die Verbindungstür gelangen. Wennschon eine Schlafwagenuniform, warum dann nicht auch einHautpschlüssel?«

»Tatsächlich, warum nicht?« wiederholte Poirot.

»Wir hätten uns das wirklich selbst sagen können. Wissen Sienoch, daß Michel steif und fest behauptete, die Tür von Mrs.

Page 197: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 197/270

Hubbards Abteil sei verschlossen gewesen, als er auf ihr Klingeln herbeistürzte?«

»Genauso war’s«, mischte sich der Schaffner ein. »Deshalbdachte ich ja, die Dame müsse geträumt haben.«

»Jetzt ist es freilich einfacher«, fuhr M. Bouc fort. »Zweifelloshatte er die Absicht, auch die Verbindungstür wieder abzuschließen, doch vielleicht hat Mrs. Hubbard sich bewegt, unddas erschreckte ihn.«

»Jetzt brauchen wir nur noch den scharlachroten Kimono auf

zustöbern.«»Richtig. Aber in den beiden letzten Abteilen reisen Männer.«

»Das schadet nichts. Wir werden sie trotzdem durchsuchen.«

»Oh, sicherlich. Ich erinnere mich überdies an Ihre Weissagung.« Hector MacQueen fügte sich bereitwillig.

»Ich habe Sie längst erwartet«, sagte er mit kläglichem Lä

cheln. »Meinen Sie, ich wüßte nicht, daß ich der Verdächtigsteim Zug bin? Sollte sich jetzt noch ein Testament finden, in demder Alte mir sein ganzes Hab und Gut vermacht hat, dann binich geliefert.«

M. Bouc maß ihn mit einem argwöhnischen Blick, so daß der junge Amerikaner schleunigst hinzufügte: »Ich scherze natürlich. In Wahrheit hätte mir Ratchett nicht einen Cent vermacht.

Nützlich war ich ihm – und damit basta. Sprachen und so weiter. Es ist ganz einfach Pech, wenn Sie keine andere Sprache alsgutes Amerikanisch sprechen.

Ich bin bei Gott kein Sprachgelehrter, doch ich kann genugFranzösisch, Deutsch und Italienisch, um mich in Hotels und inGeschäften verständlich machen zu können.«

Page 198: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 198/270

Seine Stimme klang ein wenig lauter als gewöhnlich, undauch Worte und Gebärden verrieten eine leichte Befangenheit.Hercule Poirot klappte den letzten Koffer zu.

»Nichts«, sagte er, »nicht mal ein belastendes Legat.«

»Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen«, meinte MacQueengutgelaunt.

Die Suche im Nebenabteil, bei dem dicken Italiener und demsteifen Briten, verlief gleichfalls ergebnislos.

Die drei standen am Ende des Wagens beieinander und sahen

sich gegenseitig an.»Was nun?« fragte M. Bouc kleinlaut.

»Wir gehen in den Speisewagen zurück«, entschied Poirot.»Mehr können wir nicht erfahren. Nachdem wir die Aussagender Reisenden gehört, ihr Gepäck durchsucht und selbst alles inAugenschein genommen haben, können wir auf weitere Hilfenicht hoffen. Jetzt heißt es, unser Hirn zu gebrauchen.«

Er holte sein Zigarettenetui aus der Tasche und sah, daß esleer war.

»Gehen Sie schon vor. Ich will mir aus meinem Koffer neuenZigarettenvorrat holen. Eine Zigarette hier und da kann nichtsschaden. Dieser Mord ist ein sehr schwieriger und sehr merkwürdiger Fall. Wer trug den roten Kimono? Wo ist er jetzt? Ah,

wenn ich das wüßte! Also entschuldigen Sie mich eine Sekunde!«

Flink eilte er den Gang entlang zu seinem eigenen Abteil,nahm einen der Koffer aus dem Netz herunter, ließ das Schloßaufschnappen…

Und dann starrte er und starrte…

Denn ordentlich zusammengefaltet lag auf seinen Sachen ein

scharlachroter Seidenkimono, mit Drachen bestickt.

Page 199: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 199/270

»So, so«, murmelte er vor sich hin. »Darauf läuft es hinaus:Eine Herausforderung! Schön, schön, Hercule Poirot nimmt siean…«

Page 200: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 200/270

24

M. Bouc und Dr. Constantine unterhielten sich, als Poirot in denSpeisewagen kam. Bouc schien ziemlich niedergeschlagen zusein.

»La voilà« , sagte er, sobald er Poirots ansichtig wurde, undfügte, als sein Freund sich setzte, hinzu: »Von dem Tag an, andem Sie diesen Fall aufklären, will ich an Wunder glauben.«

»Macht er Ihnen Sorgen, dieser Fall?«

»Natürlich macht er mir Sorgen. Ich werde einfach nicht klugdaraus.«

»Da kann ich Ihnen nur beipflichten«, sagte der Doktor. Ersah Poirot neugierig an. »Um ganz offen zu sein«, sagte er, »ichkann mir nicht vorstellen, was Sie als nächstes tun werden.«

»Wirklich nicht?« sagte Poirot nachdenklich. Er nahm sein Zi

garettenetui aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an.Seine Augen hatten einen verträumten Ausdruck.

»Für mich ist gerade das die interessante Besonderheit diesesFalles«, sagte er. »Wir können nicht nach dem üblichen Schemavorgehen. Haben die Leute, die wir vernommen haben, dieWahrheit gesagt oder gelogen? Wir haben keine Möglichkeit,das nachzuprüfen – nicht mit äußeren, technischen Mitteln,

sind ganz auf uns selbst angewiesen. Das ist ein gutes Gehirntraining.«

»Gut und schön«, warf M. Bouc ein. »Aber worauf könnenwir uns stützen?«

»Das habe ich Ihnen eben gesagt. Auf die Aussagen der Passagiere und auf das, was Sie mit eigenen Augen gesehen ha

 ben.«

Page 201: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 201/270

»Die Aussagen der Passagiere! Was sollte man denn darausschließen können? Die haben uns doch überhaupt nichts verraten.«

Poirot schüttelte den Kopf.

»Dieser Meinung bin ich allerdings nicht, mein Freund. DieAussagen der Passagiere waren zum Teil sehr interessant.«

»Tatsächlich?« M. Bouc war skeptisch. »Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Weil Sie nicht richtig zuhören.«

»Bitte, erleuchten Sie mich. Was habe ich überhört?«»Nehmen wir ein einziges Beispiel – die erste Aussage, die

wir hörten, die des jungen MacQueen. Er hat meiner Meinungnach etwas sehr Wichtiges gesagt.«

»Über die Briefe?«

»Nein, nicht über die Briefe. Soweit ich mich erinnere, laute

ten seine Worte: ›Wir sind viel gereist. Mr. Ratchett wollte dieWelt sehen, doch es haperte bei ihm mit den Fremdsprachen.Eigentlich war ich mehr Reisemarschall als Sekretär…‹«

Poirot sah zuerst den Doktor und dann seinen Freund Boucan. »Wie? Stolpern Sie noch nicht darüber? Das ist unentschuldbar. Und Sie hatten eben jetzt eine zweite Chance, als ersagte: ›Es ist ganz einfach Pech, wenn Sie keine andere Sprache

als gutes Amerikanisch sprechen.‹«»Das soll heißen?« M. Bouc machte noch immer ein verblüff

tes Gesicht.

»Will der Groschen nicht fallen? Muß ich’s Ihnen buchstabieren? Na schön: Ratchett sprach kein Französisch. Aber als derSchaffner gestern nacht vor seinem Abteil stand, nachdem Ratchett ihn herbeigeklingelt hatte, wurde er von jemandem, der

Französisch sprach, mit der Bemerkung weggeschickt, man

Page 202: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 202/270

 brauche ihn nicht und habe nur versehentlich auf den Knopfgedrückt. Und nicht etwa in einem stümperhaften Französisch,sondern in perfekter Umgangssprache: ›Ce n’est rien. Je me suis

trompé‹.«»Wahrhaftig!« rief Dr. Constantine aufgeregt. »Wie dumm

wir waren. Jetzt begreife ich auch, warum Sie der beschädigtenUhr nicht glaubten. Die Zeit war manipuliert, Monsieur Poirot.Dreiundzwanzig Minuten vor eins war Ratchett schon tot…«

»Und es war sein Mörder, der dem Kondukteur die Worte zu

rief«, schloß M. Bouc.»Halt, nicht zu voreilig!« wehrte Poirot ab. »Wir dürfen nichtmehr annehmen, als wir tatsächlich wissen. Daher lassen Sieuns sagen, daß sich um dreiundzwanzig Minuten vor eins irgendeine andere Person in Ratchetts Abteil aufhielt und daßdiese Person entweder Franzose ist oder die französische Sprache fließend und akzentfrei beherrscht.«

»Sie sind vorsichtig, mon vieux.«»Man soll immer schön einen Schritt nach dem anderen tun.

Und gegenwärtig fehlt uns noch der Beweis, daß Ratchett umdiese Zeit schon tot war.«

»Und der Schrei, von dem Sie aufwachten?«

»Ja, das ist freilich wahr.«

»Wenn man es genau überlegt, so ändern sich durch dieseEntdeckung die Dinge nicht sehr. Sie, mon ami, hörten, daß sichim Nebenabteil jemand bewegte. Das war bestimmt nicht Ratchett, sondern der andere. Vermutlich wusch er sich das Blutvon den Händen, machte Ordnung, verbrannte den belastenden Brief. Dann wartete er. bis alles ruhig war. und als er dieLuft rein wähnte, schloß er Ratchetts Korridortür von innen ab,

legte auch noch die Kette vor, öffnete die Verbindungstür zu

Page 203: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 203/270

Mrs. Hubbard und schlüpfte auf diesem Weg hinaus. Es verhältsich also tatsächlich so, wie wir dachten – mit dem einzigenUnterschied, daß Ratchett ungefähr eine halbe Stunde früher

getötet und die Uhr auf ein Viertel nach eins gestellt wurde.Auf diese Weise wollte sich der Mörder ein Alibi verschaffen.«

»Nun ja, mit dem Alibi war es nicht weit her«, sagte Poirot.»Die Uhrzeiger zeigten auf Viertel nach eins, und das ist genaudie Zeit, zu der unser Mörder Ratchetts Abteil verließ.«

»Stimmt«, sagte M. Bouc leicht verwirrt. »Was verrät Ihnen

die Uhr überhaupt?«»Falls die Zeiger verstellt wurden – wohlgemerkt, ich sage falls –, dann muß die Zeit, die sie anzeigen, irgendwie von Bedeutung sein. Die natürliche Reaktion wäre es, jeden zu verdächtigen, der für die betreffende Zeit – Viertel nach eins – keinhieb- und stichfestes Alibi hat.«

»Ja, ja«, sagte der Doktor, »das ist logisch gedacht.«

»Wir müssen unser Augenmerk also ein wenig auf die Zeitrichten, zu der unser Mann das Abteil betrat. Wann hatte erGelegenheit dazu? Da gab es nur eine einzige: den Aufenthaltin Vincovci. Nachdem der Zug aus Vincovci abfuhr, saß derSchaffner in seiner Ecke und konnte den ganzen Wagen über

 blicken. Und wenn die anderen Passagiere einem Schlafwagenschaffner auch kaum Aufmerksamkeit geschenkt hätten – der

echte Schaffner hätte den Eindringling natürlich sofort erkannt.Doch als der Zug in Vincovci hält, steht der Schaffner auf demBahnsteig. Der Weg für den Mörder ist frei.«

»Und nach allem, was wir bisher herausbekommen haben,kann es nur ein Passagier gewesen sein«, sagte M. Bouc. »Undwir stehen wieder dort, wo wir schon einmal waren. Wer wares?«

Poirot lächelte.

Page 204: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 204/270

»Ich habe eine Liste gemacht«, sagte er. »Wenn Sie sie sehenwollen – bitte. Vielleicht frischt sie Ihr Gedächtnis auf.«

Kopf an Kopf beugten sich der Arzt und M. Bouc über dasPapier, auf dem in deutlicher Schrift und streng methodisch diePassagiere in der Reihenfolge aufgeführt waren, in der Poirotsie verhört hatte.

Hector MacQueen: Amerikanischer Staatsbürger. Bett Nr. 6.Zweite Klasse.

 Motiv: Rührt möglicherweise von der persönlichen Beziehungzu Ratchett her.

 Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Von Mitternacht bis 1.30durch Oberst Arbuthnot verbürgt; von 1.15 bis 2 durch denKondukteur.)

Beweise gegen ihn: Keine.

Verdächtige Umstände: Keine.

Kondukteur Pierre Michel: Französischer Staatsbürger. 

 Motiv: Keins. 

 Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Wurde von H. Poirot zur sel ben Zeit im Gang gesehen, als Stimme um 12.37 aus Ratchetts Abteil sprach. Von 1 Uhr bis 1.16 verbürgt durch die

 beiden anderen Kondukteure.)Beweise gegen ihn: Keine.

Verdächtige Umstände: Die gefundene Schlafwagenuniform istein Punkt, der zu seinen Gunsten spricht, da man die Absicht gehabt zu haben scheint, Michel verdächtig erscheinen zu lassen.

Page 205: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 205/270

Edward Masterman: Englischer Staatsbürger. Bett Nr. 4. ZweiteKlasse.

 Motiv: Rührt möglicherweise von seiner Stellung bei Ratchetther, dessen Kammerdiener er war.

 Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Antonio Foscarelli.)

Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine. Ausgenommen, daß er der einzige Mann ist, dem die Schlafwagenuniform gepaßt haben könnte. Andererseits ist es unwahr

scheinlich, daß er gut Französisch spricht.

 Mrs. Hubbard: Amerikanische Staatsbürgerin. Bett Nr. 3. ErsteKlasse.

 Motiv: Keins.

 Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr – keins.

Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Geschichte von einem Mann in ihrem Abteil wird bestätigt durch Aussagevon Hardman und Hildegarde Schmidt.

Greta Ohlsson: Schwedische Staatsbürgerin. Bett Nr. 7. ZweiteKlasse.

 Motiv: Keins.

 Alibi: Von 24 bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Mary Debenham. ) An

merkung: war die letzte, die Ratchett lebend sah.

Prinzessin Dragomiroff: Naturalisierte französische Staatsbürgerin. Bett Nr. 14. Erste Klasse.

 Motiv: War gut bekannt mit der Familie Armstrong und Patin

von Sonja Armstrong.

Page 206: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 206/270

 Alibi: Von Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Kondukteurund Kammerzofe.)

Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Keine.

Graf Andrenyi: Ungarischer Staatsbürger. Diplomatenpaß. BettNr. 13. Erste Klasse. Motiv: Keins.

 Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Kondukteur, dies.deckt nicht die Zeit von 1 bis 1.15.)

Gräfin Andrenyi: Wie oben. Bett Nr. 12.

 Motiv: Keins.

 Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Nahm Veronal und schlief. (Bezeugt durch den Gatten. Trional-Fläschchen in ihremWandschrank.)

Oberst Arbuthnot: Englischer Staatsbürger. Bett Nr. 15. ErsteKlasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Unterhaltung mit MacQueen bis 1.30. Ging herauf in sein eigenesAbteil, das er nicht verließ. (Bestätigt durch MacQueen undKondukteur.)

Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Pfeifenreiniger.

Cyrus Hardman: Amerikanischer Staatsbürger. Bett Nr. 16. 

 Motiv: Keins. 

 Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. Verließ sein Abteil nicht. (Bestätigt 

durch MacQueen und Kondukteur.)

Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine.

Page 207: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 207/270

 Antonio Foscarelli: Amerikanischer Staatsbürger (italienischerAbstammung). Bett Nr. 5. Zweite Klasse.

 Motiv: Nichts bekannt.

 Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Edward Master-man.)

Beweise gegen ihn oder verdächtige Umstände: Keine. Ausgenommen, daß die Tatwaffe seinem Temperament entsprechenwürde. (Auffassung von M. Bouc.)

 Mary Debenham: Englische Staatsbürgerin. Bett Nr. 11. ZweiteKlasse.

 Motiv: Keins.

 Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgt durch Greta Ohlsson.)

Beweise gegen sie oder verdächtige Umstände: Unterhaltung, die H.Poirot zufällig hörte, und Weigerung zu erklären, wovon

die Rede gewesen war.

Hildegarde Schmidt: Deutsche Staatsbürgerin. Bett Nr. 8. ZweiteKlasse. Motiv: Keins. Alibi: Mitternacht bis 2 Uhr. (Verbürgtdurch Kondukteur und Prinzessin Dragomiroff. ) Ging zuBett. Wurde von Kondukteur geweckt, ungefähr um 12.38,und ging zur Prinzessin.

 Anmerkung: Die Aussagen der Reisenden werden bestätigtdurch Pierre Michels Erklärung, daß zwischen Mitternachtund 1 Uhr (als er zu seinem Kollegen in den nächsten Wagen ging) und zwischen 1.15 und 2 Uhr niemand RatchettsAbteil betrat oder verließ.

Page 208: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 208/270

»Diese Liste«, sagte Hercule Poirot, »soll uns nur helfen, dieÜbersicht nicht zu verlieren. Sie hält sich genau an das, was wirvon den Reisenden oder den Kondukteuren erfuhren.«

M. Bouc reichte Poirot das Blatt zurück und schnitt eine kleine Grimasse.

»Nun, sehr aufschlußreich ist sie nicht…!«

»Vielleicht entspricht das mehr Ihrem Geschmack«, entgegnete Poirot und gab ihm ein zweites Blatt.

Page 209: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 209/270

25

Auf diesem Blatt stand:

DINGE, DIE EINER ERKLÄRUNG BEDÜRFEN

1. 

Das mit dem Buchstaben H gekennzeichnete Taschentuch.Wem gehört es?

2. 

Der Pfeifenreiniger. Hat Oberst Arbuthnot ihn verloren?Oder jemand anders?

3. 

Wer trug den roten Kimono?

4.  Wer war der Mann oder die Frau, der oder die sich mit einer Schlafwagenuniform verkleidete?

5.  Warum weisen die Uhrzeiger auf 1.15 Uhr?

6. 

Wurde der Mord um diese Zeit begangen?7.

 

Früher?

8.  Später?

9. 

Können wir sicher sein, daß Ratchett von mehr als einerPerson erstochen wurde?

10. Wie lassen sich die Wunden sonst erklären?

»Schön, mon ami, da wollen wir unseren Verstand mal ein bißchen anstrengen«, meinte M. Bouc. »Beginnen wir mit dem Taschentuch. Aber ordentlich und methodisch – wie unser berühmter Lehrmeister hier es liebt.«

Poirot nickte befriedigt: »Richtig.«

Page 210: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 210/270

»Der Buchstabe H paßt auf drei Personen: Mrs. Hubbard,Miss Debenham, deren zweiter Vorname Hermione lautet, unddie Kammerfrau Hildegarde Schmidt.«

»Ah! Und wen von diesen dreien wählen Sie aus?«

»Schwierig zu sagen. Doch ich denke, Miss Debenham. Siekann gut und gern mit ihrem zweiten Namen gerufen werdenund hat sich ziemlich verdächtig gemacht. Die Unterhaltung,die Sie zufällig hörten, ist ja wirklich ein bißchen seltsam – e

 benso Miss Debenhams Weigerung, Ihnen zu erklären, was

gemeint war.«»Ich tippe auf die Amerikanerin«, sagte Dr. Constantine. »Esist ein sehr teures Taschentuch, und die Amerikanerinnen ha

 ben, wie alle Welt weiß, im Geldausgeben eine leichte Hand.«

»Die Deutsche kommt für Sie also nicht in Frage?«

»Nein. Sie hat doch selbst gesagt, das Taschentuch müsse einer vornehmen Dame gehören.«

»Und die zweite Frage: der Pfeifenreiniger. Hat ihn Ar buthnot oder jemand anders fallen lassen?«

»Das ist noch schwieriger. Die Waffe des Engländers ist nichtdas Messer. Da haben Sie recht. Ich vermute, daß jemand anders den Pfeifenreiniger fallen ließ, um den langbeinigen Britenzu belasten.«

»Wie Sie früher einmal sehr richtig bemerkten, Monsieur Poirot, wären zwei Hinweise eine zu große Nachlässigkeit«, mischte sich der Doktor ins Gespräch. »Ich stimme M. Bouc bei. DasTaschentuch wurde wirklich übersehen, da sich keine der Damen als Eigentümerin bekennen will. Der Pfeifenreiniger ist einfalsches Indiz. Dazu paßt auch, daß Oberst Arbuthnot nicht diegeringste Befangenheit zeigt und freimütig zugibt, daß er Pfeife

raucht und diese Art Reiniger benutzt.«

Page 211: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 211/270

»Nicht übel durchdacht«, sagte Poirot anerkennend.

»Frage Nummer 3: Wer trug den roten Kimono?« fuhr M.Bouc fort. »Ich muß gestehen, daß mir dazu überhaupt nichtseinfällt. Wie steht es mit Ihnen, Doktor? Können Sie uns etwasdazu sagen?«

»Nein. Kurz und bündig – nein.«

»Also bekennen wir uns in diesem Punkt als geschlagen. Beider nächsten Frage gibt es immerhin Möglichkeiten. Wer warder Mann oder die Frau, der oder die sich mit einer Schlafwa

genuniform verkleidete? Nun, eine ganze Reihe von Personenkann man von vornherein ausschließen. Hardman, Arbuthnot,Foscarelli, Graf Andrenyi und Hector MacQueen sind alle zugroß. Mrs. Hubbard, Hildegarde Schmidt und Greta Ohlssonsind zu breit. Bleiben mithin der Kammerdiener, Miss Debenham, Prinzessin Dragomiroff und Gräfin Andrenyi. Aber wennich mir vorstelle – nein, nein, es ist absolut unwahrscheinlich.

Grete Ohlsson und Antonio Foscarelli schwören außerdem, daßMiss Debenham und der Kammerdiener ihr Abteil nicht verließen. Hildegarde Schmidt beteuert, die Prinzessin habe in ihremBett gelegen, und der ungarische Diplomat hat uns gesagt, seine Frau habe ein Schlafmittel genommen. Infolgedessen scheintes unmöglich, daß es überhaupt jemand gewesen sein kann –was natürlich absurd ist!«

»Wie unser alter Freund Euklid schon sagte«, warf Poirot ein.M. Bouc griff die nächste Frage der Liste heraus.

»Es muß einer – beziehungsweise eine von diesen vieren gewesen sein«, sagte Dr. Constantine. »Es sei denn, es war jemand, der nicht mit diesem Zug reist und sich jetzt versteckthält. Aber das ist unmöglich, darüber waren wir uns einig.«

»Nummer 5: Warum weisen die Uhrzeiger auf 1.15 Uhr? Hier bieten sich meiner Meinung nach zwei Erklärungen an. Entwe

Page 212: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 212/270

der wollte sich der Mörder ein Alibi verschaffen und wurdedurch das Hin und Her und durch Geräusche im Gang darangehindert, Ratchetts Abteil zu verlassen, oder – warten Sie, ich

hab eine Idee!«Die beiden anderen warteten rücksichtsvoll, während M.

Bouc angestrengt nachdachte.

»Ich habe es«, sagte er schließlich. »Nicht der Mörder in derUniform eines Schlafwagenschaffners verstellte die Uhr. Nein,es war die Person, die wir den ›zweiten Mörder‹ genannt ha

 ben. Die Linkshändige. Mit anderen Worten: die Frau im rotenSeidenkimono. Sie kommt später und dreht die Zeiger zurück,weil sie ein Alibi braucht.«

»Bravo!« sagte Dr. Constantine. »Das ist wundervoll ausgetüftelt.«

Doch Hercule Poirot lachte spöttisch auf.

»Ach ja? Sie sticht im Dunkeln zu, ohne zu ahnen, daß er

schon tot ist, weiß jedoch dank hellseherischer Fähigkeiten, daßin seiner Pyjamatasche eine Uhr steckt, die sie herausnimmt.Und in rabenschwarzer Finsternis stellt sie die Uhr zurück undmacht sie kaputt, damit die Zeiger an der richtigen Stelle stehenbleiben.«

»Spotten ist leicht«, knurrte M. Bouc. »Haben Sie vielleicht eine bessere Erklärung?« Er warf Poirot einen eisigen Blick zu.

»Im Moment nicht«, gestand Poirot. »Trotzdem bin ich derAnsicht, daß keiner von Ihnen dahintergekommen ist, was diese Uhr so interessant macht.«

»Beschäftigt sich Frage Nummer 6 damit?« mutmaßte derArzt.

»Auf die Frage – wurde der Mord um 1.15 Uhr begangen? –

antworte ich mit einem klaren Nein.«

Page 213: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 213/270

»Ich desgleichen«, sagte M. Bouc. »›War es früher?‹ lautet dienächste Frage. Meine Antwort: Ja. Sind Sie derselben Meinung,Doktor?«

Dr. Constantine nickte, doch machte er gleich darauf eine Einschränkung.

»Jedoch kann die Frage ›War es später?‹ gleichfalls mit Ja beantwortet werden. Der erste Mörder kam früher als 1.15 Uhr,aber der zweite Mörder kam nach 1.15 Uhr. Und was dieLinkshändigkeit des einen Mörders betrifft, so meine ich, daß

wir versuchen müßten zu ermitteln, wer von den ReisendenLinkshänder ist.«

»Ich dachte, ich hätte mir in dieser Hinsicht keine allzugroßeFahrlässigkeit zuschulden kommen lassen.« sagte Hercule Poirot. »Warum hätte ich wohl sonst jeden eigenhändig seine Adresse aufschreiben lassen? Gewiß, das Verfahren ist nicht unbedingt hieb- und stichfest, da zum Beispiel manche Leute mit der

rechten Hand schreiben und mit der linken Golf spielen. Immerhin ist es ein kleiner Anhaltspunkt. Nun, außer MadameDragomiroff, die sich zu schreiben weigerte, hat jeder die Federin die rechte Hand genommen.«

»Prinzessin Dragomiroff – ausgeschlossen!« wehrte M. Boucentrüstet ab.

»Ich bezweifle, daß sie genug Kraft hat«, sagte Dr. Constanti

ne. »Hinter diesem sonderbaren, mit der linken Hand geführtenStich steckt nämlich eine beträchtliche Wucht.«

»So daß er nicht von einer Frau stammen kann?«

»Nein, das wäre zuviel behauptet. Meiner Meinung nach jedoch eine größere Wucht, als eine alte Frau aufbringen kann,und Prinzessin Dragomiroff ist besonders zart.«

Page 214: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 214/270

»Oft aber siegt der Geist über den Körper«, gab Poirot zu bedenken. »Um ihre Willenskraft könnte die Prinzessin mancherMann beneiden. Aber lassen wir das für den Augenblick und

machen wir weiter.«»Ja, mit Frage 9 und 10. ›Können wir sicher sein, daß Ratchett

von mehr als einer Person erstochen wurde?‹ Und: ›Wie lassensich die Wunden sonst erklären?‹ Wenn Sie meine medizinischeMeinung wissen wollen, so lautet sie: Es gibt keine andere Erklärung für diese Wunden. Anzunehmen, daß ein Mensch zuerst schwach und dann mit Gewalt zustößt, erst mit der Linkenund dann mit der Rechten, und daß er nach Ablauf einer halbenStunde einer Leiche neue Verletzungen zufügt – ah, das wäreunsinnig.«

»Ja, das wäre es wohl. Aber glauben Sie wirklich, die Zwei-Mörder-Theorie sei sinnvoller?«

»Wie Sie selbst schon sagten – was für eine andere Erklärung

könnte es geben?«Poirot blickte starr vor sich hin. »Das frage ich mich ununter

 brochen«, erklärte er.

Er lehnte sich in seinen Sessel zurück.

» Mes amis, von nun an spielt sich alles nur noch hier ab.« Ertippte sich auf die Stirn. »Wir sind alles durchgegangen. DieTatsachen haben wir, übersichtlich und methodisch geordnet,

schwarz auf weiß vor uns liegen. Die Reisenden mußten schönder Reihe nach hier antreten, um ihre Aussagen zu machen.Wir wissen alles, was es an äußeren Dingen zu erfahren gab.«

Er nickte M. Bouc freundschaftlich zu.

»Wir beide haben oft darüber gescherzt, daß ich mich hinsetzeund mir einfach Wahrheiten ausdenke, nicht wahr? Daß ich

meine ›kleinen grauen Zellen‹ strapaziere. Nun, ich werde hier

Page 215: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 215/270

vor Ihren Augen die Theorie in die Praxis umsetzen. Und Siesollen dasselbe tun! Lassen Sie uns alle drei die Augen schließen und denken… Einer oder mehrere Reisende töteten Rat

chett. Wer von ihnen war es?«

Page 216: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 216/270

26

Eine gute Viertelstunde verstrich, ehe jemand sprach.M. Bouc und Dr. Constantine hatten versucht, Poirots Auffor

derung nachzukommen. Sie hatten sich bemüht, durch einenNebel widerspruchsvoller Einzelheiten zu einer klaren, stichhaltigen Lösung zu gelangen.

Gradlinig muß ich denken, überlegte M. Bouc. Aber ich habedas bereits bisher reichlich getan… Poirot meint offenbar, die

 junge Engländerin sei in die Mordaffäre verwickelt. Ich kannmir nicht helfen – mir scheint es unwahrscheinlich. Die Engländer haben Fischblut in den Adern. Der Italiener, dem ich es ohne weiteres zutrauen würde, kann es nicht getan haben. Schadeeigentlich. Aber der englische Kammerdiener lügt bestimmtnicht, wenn er sagt, Foscarelli habe das Abteil nicht verlassen.Warum sollte er? Es ist nicht leicht, einen Engländer zu bestechen, sie sind so unzugänglich. Ach, das Ganze ist eine sehrunerquickliche Sache. Möchte wissen, was daraus noch wird.Möchte auch wissen, wann man uns endlich aus dieserSchneewehe herausholt. Irgend jemand muß es doch wenigstens versuchen. Wie langsam doch in diesen Ländern allesläuft! Stunden vergehen, ehe sich jemand entschließt, einenFinger zu rühren. Und die Polizei wird nicht anders sein. Geschwollen vor Wichtigkeit wird sie anrücken, sich aufblähen,überempfindlich reagieren, auf ihre Zuständigkeit pochen undviel Tamtam machen… Eine solche Chance bekommt sieschließlich nicht jeden Tag geboten… Und die Zeitungen! Wehe, wenn die Meute der Reporter erst über uns herfällt…! Undso gelangten M. Boucs Gedanken auf ein ausgefahrenes Gleis,dem sie schon hundertmal gefolgt waren.

Page 217: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 217/270

Dr. Constantines Gedanken schlugen zunächst eine andereRichtung ein. Ein schnurriges kleines Kerlchen, dachte er. EinGenie? Oder ein Narr? Wird er das Rätsel lösen? Unmöglich? Es

ist ja alles so verworren. Vielleicht lügt überhaupt jeder. Dochselbst das hilft uns nicht weiter. Ob sie insgesamt Lügner sindoder die Wahrheit sagen – es kommt auf dasselbe heraus. Dunkel, Dunkel, rabenschwarzes Dunkel, so oder so. Merkwürdigauch diese Stichwunden. Ich verstehe nichts. Nichts. Es wäreleichter zu begreifen, wenn er erschossen worden wäre. In Amerika hat doch jeder Schußwaffen. Und da glaubte sich dieser

Cassetti in Europa sicherer als in Amerika. Eigentlich möchteich Amerika mal kennenlernen. Es ist so unbekümmert, wirdnicht gehemmt durch Tradition und dergleichen. Wenn ichheimkomme, will ich mal Verbindung mit Demetrius Zagoneaufnehmen, er war ja drüben… Was Zia wohl in diesem Augenblick tut? Wenn meine Frau erfährt, daß ich…

Seine Gedanken schwenkten zu gänzlich privaten Dingen ü ber. Hercule Poirot aber saß unbeweglich da wie eine Wachsfigur.

Man hätte meinen können, er schlafe.

Und dann, nach einer Viertelstunde mumienhafter Starre zogen sich seine Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen.Er seufzte leise auf und begann, kaum hörbar vor sich hin zu

murmeln.»Aber schließlich, warum nicht? Und wenn – also wenn… ja,

das würde alles erklären.«

Er öffnete die Augen. Grün waren sie wie die Augen einerKatze.

»Eh bien. Ich habe nachgedacht. Und Sie, mes amis?«

Die beiden, deren Gedanken längst abgeschweift waren,zuckten heftig zusammen.

Page 218: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 218/270

»Ich habe auch nachgedacht«, erklärte M. Bouc mit einem Anflug von Schuldbewußtsein. »Aber zu einem Schluß bin ichnicht gekommen. Die Aufklärung von Verbrechen ist Ihr Me

tier, mon vieux, nicht das meine!«»Auch ich habe mit großem Eifer überlegt«, schwindelte der

Doktor schamlos, obwohl er seine Gedanken erst von einemheimlichen Liebesabenteuer losreißen mußte. »Ich habe michsogar mit mehreren Theorien beschäftigt, doch keine befriedigtmich ganz.«

Poirot nickte freundlich. Das Nicken schien zu besagen: ›Ganzrecht, etwas anderes habe ich von euch auch nicht erwartet.‹ Ersaß ungewöhnlich aufrecht da, warf sich in die Brust, strich sichüber das Bärtchen und sprach in der Art eines geübten Redners,der ein großes Publikum vor sich hat.

»Meine Freunde, ich habe im Geiste die Tatsachen und dieAussagen der Reisenden miteinander verglichen und habe eine

– freilich noch nicht klar umrissene – Erklärung gefunden, diesich mit den Tatsachen, wie sie uns bekanntgeworden sind,decken könnte. Es ist eine höchst absonderliche Erklärung, undnoch wage ich mich nicht für ihre Wahrheit zu verbürgen. Umetwas Endgültiges sagen zu können, muß ich noch ein paarExperimente durchführen.

Ich möchte zuerst ein paar Punkte erwähnen, die mir bedeu

tend erscheinen, und an eine Bemerkung von M. Bouc anknüpfen, die er während unseres ersten Lunchs im Zug machte. Erwies mich darauf hin, daß wir von Leuten aller Klassen, allerNationen und jeden Alters umgeben seien. Um diese Jahreszeitist das ein bißchen ungewöhnlich. Der Athener und BukaresterWagen sind beispielsweise fast leer. Vielleicht erinnern Sie sichauch, daß ein Reisender, der fest gebucht hatte, nicht kam. Das

ist wichtig. Ebenso wie ein paar andere Punkte, zum Beispiel

Page 219: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 219/270

der Platz, an dem Mrs. Hubbards Schwammbeutel hing, derName von Mrs. Armstrongs Mutter, Mr. Hardmans beruflicheMethoden, Mac-Queens Hinweise, daß Ratchett das verkohlte

Papier ja selbst vernichtet haben könnte, Prinzessin Dragomiroffs Taufname und ein großer Fettfleck auf einem ungarischenPaß.«

Die beiden anderen sahen ihn verblüfft an. Machte er sich ü ber sie lustig?

»Sagen Ihnen diese Punkte gar nichts?« fragte Hercule Poirot.

»Nicht ein bißchen«, gestand M. Bouc mit rühmenswerter Offenheit.

»Und Ihnen, cher docteur?«

»Für mich sprechen Sie in Rätseln!«

M. Bouc hielt sich an das einzig Greifbare, das sein Freunderwähnt hatte, und sah die Pässe durch. Mit einem Grunzennahm er den von Graf und Gräfin Andrenyi zur Hand undschlug ihn auf.

»Meinen Sie das hier? Diesen Schmutzfleck?«

»Ja. Es ist ein ziemlich frischer Fettfleck. Und wo befindet ersich?«

»Da, wo die Personalien der Gräfin Andrenyi stehen um genau zu sein, bei ihrem Taufnamen. Aber worauf Sie hinauswol

len, begreife ich immer noch nicht.«»Lassen Sie es mich Ihnen erklären, indem ich auf das am

Tatort gefundene Taschentuch zurückkomme. Auf dieses sehrteure, luxuriöse, handgestickte Pariser Tuch. Wem von unserenReisenden – mal abgesehen von dem Initial H – könnte ein solches Taschentuch wohl gehören? Nicht Mrs. Hubbard, einer

 biederen Frau, die keine Extravaganzen in Wäsche und Klei

dung kennt.

Page 220: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 220/270

Nicht Miss Debenham. Engländerinnen ihrer Gesellschaftsschicht benutzen hübsche aber solide Leinentaschentücher, keinen Hauch aus kostbaren Spitzen, der annähernd zweihundert

Francs kostet. Und ganz bestimmt nicht der Kammerzofe. Dochzwei Frauen sind im Zug, die ein solches Tüchlein wohl besitzen könnten. Untersuchen wir einmal, ob wir zwischen ihnenund dem Initial H eine Verbindung herstellen können. Ich nenne die Prinzessin Dragomiroff…«

»Deren Taufname Natalie lautet«, warf M. Bouc ironisch ein.

»… und die Gräfin Andrenyi«, knüpfte Poirot an seine letztenWorte an, ohne den Spötter zu beachten. »Und sofort fällt unsetwas auf…«

»Ihnen – uns nicht.«

»Also meinetwegen mir! Auf dem Taufnamen der Gräfinprangt im Paß ein großer Fettfleck. Ein Zufall, würde jeder sagen. Aber betrachten Sie bitte diesen Taufnamen. Elena. Wenn

es nun nicht Elena, sondern Helena hieße? Das große H kannleicht in ein großes E verwandelt werden, wobei man das kleinee mit verschwinden läßt. Und hinterher muß ein Fettfleck dazuherhalten, die Fälschung zu vertuschen.«

»Helena… Mon ami, das ist wieder eine Ihrer überraschendenkleinen Ideen. Aber sie ist nicht schlecht.«

»Und sie hat bereits eine Bestätigung erfahren. Als wir die

Koffer durchsuchten, war auf Gräfin Andrenyis Saffiankoffereiner der bunten Hotelzettel etwas feucht. Mit ihm hatte mandas Initial auf dem Kofferdeckel überklebt. Jener bunte Zettelhatte ursprünglich an einer anderen Stelle gesessen, war dortmit Hilfe von warmem Wasser entfernt und anderswo wiederaufgeklebt worden.«

»Wahrhaftig. Sie beginnen, mich zu überzeugen«, sagte M.Bouc. »Aber die Gräfin Andrenyi – also wirklich…«

Page 221: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 221/270

»Still jetzt, mon vieux, Sie müssen nunmehr eine Kehrtwendung machen und sich dem Fall von einer ganz anderen Richtung nähern. Welchen Anstrich wollte man diesem Mord ur

sprünglich geben…? Vergessen Sie nicht, daß der Schnee deneigentlichen Mordplan über den Haufen geworfen hat. MalenSie sich bitte ein paar Minuten lang aus, daß draußen keinSchnee liegt, daß der Zug ganz normal unterwegs ist. Was wäredann wohl geschehen? Aller Wahrscheinlichkeit nach hätteman das Verbrechen heute früh an der italienischen Grenzeentdeckt, und bei der Vernehmung der Reisenden hätte die

italienische Polizei ungefähr das gleiche erfahren wie wir. Mr.MacQueen würde Drohbriefe vorgelegt, Mr. Hardman seineGeschichte erzählt und Mrs. Hubbard mit ungeheurer Weitschweifigkeit geschildert haben, daß ein Mann durch ihr Abteilgeschlichen sei. Auch der abgerissene Knopf wäre erwähntworden. Zweierlei wäre nach meiner Meinung dann allerdingsanders verlaufen: Der Mann wäre schon kurz vor eins in Mrs.

Hubbards Abteil eingedrungen, und die Schlafwagenuniformhätte in einer Toilette gelegen.«

»Sie glauben…«

»Ich glaube, daß der Mord ursprünglich wie ein außerhalbdieses Kreises geplantes Verbrechen aussehen sollte. Man wollte den Anschein erwecken, daß der Mörder den Zug in Brodverlassen habe, wo er fahrplanmäßig null Uhr achtundfünfzigeintrifft. Und die an einem auffälligen Ort zurückgelasseneSchlafwagenuniform sollte ein Hinweis darauf sein, welcherTricks sich der Verbrecher bedient hatte. Keinerlei Verdachthätte sich dann gegen die Reisenden gerichtet. So, mes amis,

sollte die Affäre einem unbeteiligten Auge erscheinen.

Aber der Schnee macht unserem Mörder einen dicken Strich

durch die Rechnung. Zweifellos ist er nur deshalb so lange im

Page 222: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 222/270

Abteil seines Opfers geblieben. Er wartete, daß sich der Zugwieder in Bewegung setzte, doch er wartete vergeblich – esging nicht weiter. Der Mörder mußte sich schnell einen neuen

Plan einfallen lassen, denn man würde wissen, daß er noch imZug sein mußte.«

»Ja, ja«, sagte M. Bouc ungeduldig. »Das leuchtet mir alles ein.Doch wo bleibt das Taschentuch?«

»Keine Angst – ich komme schon auf Umwegen darauf zurück. Vorerst aber bitte ich Sie, sich zu vergegenwärtigen, daß

die Drohbriefe sozusagen nur dazu dienen sollten, der PolizeiSand in die Augen zu streuen. Sie hätten jedem beliebigen amerikanischen Kriminalroman entnommen sein können. Sie sindnicht ernst gemeint. Wir müssen uns jetzt folgendes fragen: HatRatchett sich von diesen Briefen täuschen lassen? Oberflächlichgesehen scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Die Anweisungen, die er Hardman gab, lassen den Schluß zu, daß es sich

um einen ganz persönlichen Feind handelte, den Ratchett nichtgenau kannte. – Einen Brief jedoch erhielt Ratchett der sich vonden anderen unterschied und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war – jenen, der sich auf die kleine Daisy Armstrong

 bezog und von dem wir ein Bruchstück im Abteil des Totenfanden. Wenn Ratchett-Cassetti es vorher noch nicht gewußthatte, sagte ihm dieses Schreiben unzweideutig, warum manihm nach dem Leben trachtete. Des Mörders erste Sorge galtder Vernichtung dieses Briefes. Und hier erlitten seine Pläne diezweite Schlappe. Die erste war der Schnee, die zweite daß wirdie Schriftzeichen auf dem verkohlten Stück Papier entdeckten.

Daß jener Brief so sorgfältig vernichtet wurde, kann nur eins bedeuten. Es muß jemand im Zug sein, dem die Familie Armstrong so nahesteht, daß er automatisch zum Hauptverdächti

gen geworden wäre, wenn man den Brief gefunden hätte.

Page 223: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 223/270

Und nun das Taschentuch! Das einfachste wäre ja anzunehmen, eine Person, auf die der Buchstabe H paßt hätte es unwissentlich verloren.«

»Genau«, sagte Dr. Constantine. »Sie entdeckt den Verlustund unternimmt sofort etwas, um ihren Taufnamen zu verbergen.«

»Sie stürmen aber vorwärts«, sagte Hercule Poirot. »Eins,zwei, drei haben Sie eine Schlußfolgerung fertig, die ich mir soschnell nicht erlauben würde.«

»Gibt’s denn überhaupt eine andere Lesart?«»Gewiß. Nehmen Sie einmal an. Sie hätten ein Verbrechen be

gangen und wollten den Verdacht auf jemand anders lenken.Nun, und dann ist in diesem Zug ein Mensch, eng mit der Familie Armstrong verwandt oder befreundet. Eine Frau. Nehmen Sie weiter an. Sie haben am Schauplatz des Verbrechensein Taschentuch fallen lassen, das dieser Frau gehört. Sie wird

vernommen werden, ihre Beziehungen zur Familie Armstrongkommen ans Tageslicht – et voilà! Motiv und ein Beweisstück,das sie schwer belastet.«

»Aber in diesem Fall würde die unschuldig Verdächtigte dochnicht schon vorher alles tun, um ihre Identität zu verschleiern«,widersprach der Arzt.

»Glauben Sie das wirklich? Dann sind Sie mit den Polizeige

richten einer Meinung. Ich aber, der ich die menschliche Naturkenne, denke anders. Und ich sage Ihnen, junger Freund, daßder allerunschuldigste Mensch den Kopf verliert und die ungereimtesten Dinge tut, wenn er sich plötzlich der Gefahr gegenübersieht, des Mordes angeklagt zu werden. Nein, nein, derFettfleck und der an eine andere Stelle geklebte Zettel sind keine Schuldbeweise, sie beweisen lediglich, daß die Gräfin

Page 224: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 224/270

Andrenyi aus irgendeinem Grund ängstlich darauf bedacht ist,ihre Identität zu verbergen.«

»Welche Beziehungen könnten denn zwischen ihr und denArmstrongs bestehen? Sie gibt doch an, sie sei nie in Amerikagewesen.«

»Richtig, und sie spricht gebrochen Englisch. Und sie hat einsehr fremdländisches Aussehen, das sie noch betont. Trotzdemist es nicht schwer zu erraten, wer sie ist. Ich erwähnte vorhinden Namen von Mrs. Armstrongs Mutter. Sie hieß Linda Arden

und war eine berühmte Darstellerin Shakespearescher Frauenrollen. Denken Sie an Was ihr wollt, an den Wald von Ardenund Rosalind – dann wissen Sie, woher ihr die Eingebung fürdie Wahl ihres Bühnennamens kam. Im gewöhnlichen Lebenhieß sie anders – möglicherweise Goldenberg. Vielleicht hattesie mitteleuropäisches Blut in ihren Adern, vielleicht einen jüdischen Vorfahren. In Amerika finden Sie Abkömmlinge aller

Nationen, Messieurs, ich wage die Vermutung, daß die jüngereSchwester von Mrs. Armstrong – die zur Zeit der Tragödie fastnoch ein Kind war – Helena Goldenberg war, die zweite Tochter von Linda Arden, und daß sie den Grafen Andrenyi heiratete, als er Attache in Washington war.«

»Haben Sie vergessen, Monsieur Poirot, daß Prinzessin Dragomiroff sagte, sie habe einen Engländer geheiratet?«

»Ja, einen Engländer, an dessen Namen sich die Prinzessinnicht erinnert! Ich frage Sie, meine Freunde – klingt das nichtsehr merkwürdig? Prinzessin Dragomiroff, eng mit Linda Ar-den befreundet, und Patin der ältesten Tochter, sollte so schnellden Namen des Mannes der zweiten verheirateten Tochter vergessen haben? Unsinn! Die Prinzessin lügt. Sie wußte, daß Helena mit diesem Zug reist, und da sie eine sehr kluge Frau ist,

war ihr sofort klar, daß man vor allem Helena der Tat verdäch

Page 225: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 225/270

tigen würde. Um das abzuwenden, lügt sie kurzerhand, antwortet ausweichend, kann sich nicht entsinnen, glaubt, Helenahabe einen Engländer geheiratet – eine Feststellung, die der

Wahrheit auch nicht im entferntesten entspricht.«Ein Kellner kam durch die Tür am Ende des Wagens und nä

herte sich M. Bouc.

»Darf ich das Essen servieren, Monsieur? Es ist bereits seit einer Weile fertig.«

Bouc sah Poirot an, und der kleine Detektiv nickte.

»Aber selbstverständlich müssen Sie servieren«, sagte er.Der Kellner verschwand durch die Tür am entgegengesetzten

Ende des Wagens. Man hörte seine helle Klingel und dazwischen immer wieder seine Stimme, die auffordernd rief: »Pre

mier service. Le dîner est servi! Premier dîner…«

Page 226: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 226/270

27

Poirot, M. Bouc und der Doktor aßen an dem für den Direktorder Gesellschaft reservierten Tisch. Die Reisenden, die sich imSpeisewagen eingefunden hatten, wirkten niedergeschlagen.Selbst die redewütige Mrs. Hubbard war unnatürlich still. Alssie sich setzte, murmelte sie: »Ich glaube nicht, daß ich auch nureinen Bissen hinunterwürgen kann.« Und dann legte sie sichvon jedem angebotenen Gericht reichlich auf, ermutigt von Gre

ta Ohlsson, die sich noch immer als ihre Pflegerin fühlte.Vor dem Essen hatte Poirot den Oberkellner am Ärmel fest

gehalten und ihm etwas zugeflüstert. Was das war, ahnte Dr.Constantine, sobald er bemerkte, daß Graf und Gräfin Andrenyi immer zuletzt bedient wurden und man gegen Ende derMahlzeit zögerte, ihnen die Rechnung vorzulegen. Daher hattesich der Wagen schon geleert, als das Ehepaar schließlich auf

stand und zur Tür ging.Plötzlich sprang Hercule Poirot auf und lief den beiden nach.

»Pardon, Madame, Sie haben Ihr Taschentuch fallen lassen«,sagte er.

Er hielt ihr das winzige, mit H gekennzeichnete Viereck hin,das sie nahm, flüchtig ansah und ihm zurückreichte.

»Sie irren sich, Monsieur, das ist nicht mein Taschentuch.«»Nein? Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher, Monsieur.«

»Aber der Anfangsbuchstabe Ihres Vornamens ist doch eingestickt – ein H.«

Page 227: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 227/270

Der Graf machte eine hastige Bewegung, die Poirot übersah.Seine Augen ruhten auf dem Gesicht der schönen jungen Frau.Sie hielt dem Blick stand und erwiderte:

»Ich verstehe nicht, Monsieur. E. A. sind die Anfangsbuchsta ben meines Namens.«

»Da bin ich anderer Meinung, Madame. Ihr Name lautet Helena, nicht Elena. Helena Goldenberg. Sie sind die jüngereTochter von Linda Arden. Helena Goldenberg, die Schwestervon Mrs. Armstrong.«

Tödliches Schweigen.Der Graf und die Gräfin waren leichenblaß geworden.

»Warum leugnen?« sagte Poirot, viel freundlicher. »Nichtwahr, so ist es doch?«

»Monsieur, ich möchte jetzt wissen, mit welchem Recht – «rief der Graf aufbrausend. Seine Frau unterbrach ihn, indem sieihm die Hand auf den Mund legte.

»Nein, Rudolph. Laß mich sprechen. Es ist sinnlos zu leugnen. Wir wollen uns lieber setzen und die Sache in Ruhe erörtern.«

Ihre Stimme klang verändert. Zwar hatte sie noch die südlicheTonfülle, aber sie war schärfer und schneidender geworden –zum erstenmal war es eine unverkennbar amerikanische Stim

me. Schweigend fügte sich der Graf der Geste ihrer Hand, und beide nahmen Poirot gegenüber Platz.

»Was Sie sagen, ist durchaus zutreffend«, begann die Gräfin.»Ich bin Helena Goldenberg, die jüngere Schwester von Mrs.Armstrong.«

»Heute morgen haben Sie mich über Ihre Person im unklarengelassen, Madame.«

»Ja.«

Page 228: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 228/270

»Und genaugenommen war alles, was Sie und Ihr Gatte mirerzählten, ein Lügengewebe.«

»Monsieur!« rief der Graf ärgerlich.

»Werde nicht zornig, Rudolph. Monsieur Poirot drückt esziemlich brutal aus, aber recht hat er.«

»Ich freue mich, daß Sie die Tatsache freimütig zugeben, Madame. Wollen Sie mir nun auch bitte sagen, was Sie dazu veranlaßte und weshalb Sie Ihren Taufnamen im Paß änderten?«

»Das war ich, nicht meine Frau«, fiel der Graf ein. Und Hele

na setzte ruhig hinzu: »Sollten Sie meine Gründe – unsereGründe – nicht schon erraten haben, Monsieur Poirot? Der Toteist der Mensch, der meine kleine Nichte ermordete, den Todmeiner Schwester verschuldete und meinem Schwager dasHerz brach. Drei Menschen, die ich unsagbar liebte, derenHeim mein Heim war – meine Welt!« Ihre Stimme bebte vorleidenschaftlicher Erregung. Helena Andrenyi war die echte

Tochter einer Mutter, die mit ihrer Kunst unzählige Menschenzu Tränen gerührt hatte. »Von allen Reisenden hatte bestimmtkeiner einen so schwerwiegenden Grund, diesen Mann zu töten, wie ich«, fuhr sie ruhiger fort.

»Aber Sie haben ihn nicht getötet, Madame?«

»Ich schwöre Ihnen, Monsieur Poirot, und mein Mann weiß esund wird es auch beschwören, daß ich nie die Hand gegen ihn

erhoben habe.«»Ich, Gentlemen, gebe ebenfalls mein Ehrenwort, daß sich

meine Frau vergangene Nacht nicht aus ihrem Abteil entfernthat. Sie nahm ein Schlafmittel, bevor sie zu Bett ging – was Sie

 bereits von mir wissen –, und ist absolut unschuldig.«

Poirot sah die beiden abwechselnd an. »Und trotzdem haben

Sie es auf sich genommen, ihren Namen im Paß zu ändern?«

Page 229: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 229/270

»Monsieur Poirot, bedenken Sie meine Lage. Sollte ich zulassen, daß meine Frau in einen schmutzigen Kriminalfall hineingezogen wurde? Sie war unschuldig. Ich wußte es. Aber gleich

zeitig erkannte ich, was ihr wegen der Verwandtschaft mit denArmstrongs drohte. Verhöre, vielleicht gar eine Verhaftung. Dawir durch einen bösen Zufall mit demselben Zug reisten wieRatchett-Cassetti, mußte ich der Gefahr vorbeugen. Ich gebe zu,Monsieur, daß ich Sie belog; doch in einem habe ich nicht gelogen. Meine Frau hat vergangene Nacht ihr Abteil tatsächlichnicht verlassen.«

Graf Andrenyi sprach mit einem Ernst, dem man sich nichtentziehen konnte.

»Ich sage nicht, daß ich an Ihren Worten zweifle, Monsieur«,entgegnete Poirot bedächtig. »Sie gehören einer alten, stolzenFamilie an. Es wäre in der Tat bitter für Sie, wenn Ihre Frauzum Mittelpunkt eines aufsehenerregenden Mordfalles würde.

Wie aber wollen Sie erklären, daß wir ein Taschentuch von Madame im Abteil des Toten fanden?«

»Das Taschentuch gehört mir nicht, Monsieur«, beteuerte dieGräfin.

»Trotz des Buchstabens H?«

»Trotz des Buchstabens H. Ich habe ähnliche Taschentücher,doch nicht dieselben. Ich kann nicht hoffen, daß Sie mir glau

 ben, Monsieur Poirot, aber es ist wirklich so: Das Taschentuchgehört mir nicht.«

»Glauben Sie, es wurde in das Abteil gelegt, weil jemand Sie belasten wollte?«

Sie lächelte leicht. »Sie versuchen, mich zu überrumpeln, damit ich unbedacht zugebe, daß es doch mir gehört. Aber das istwirklich nicht der Fall.«

Page 230: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 230/270

»Warum haben Sie dann den Namen im Paß geändert?«

 Jetzt griff der Graf wieder ein.

»Weil wir hörten, daß ein Taschentuch mit eingesticktem Hgefunden wurde. Ehe wir zum Verhör in den Speisewagen kamen, berieten wir uns, und ich machte meine Frau darauf aufmerksam, daß man sie viel schärfer ins Gebet nehmen würde,wenn ihr wahrer Name, Helena, bekannt wäre. Die Sache warganz einfach – ganz leicht ließ sich Helena in Elena verwandeln.«

»Sie gäben einen sehr geschickten Verbrecher ab, Monsieur leComte«, stellte Hercule Poirot trocken fest. »Sie sind von Naturaus findig und gerissen und offenbar auch skrupellos genug,die Justiz irrezuführen.«

»Oh, nein, nein, Monsieur Poirot.« Helena Andrenyi beugtesich weit vor. »Er erklärt Ihnen doch nur, wie alles kam. SehenSie, ich war so entsetzt, empfand es als qualvoll, daß die trostlo

sen Ereignisse wieder aufgerührt wurden. Dazu kam, daß manmich vielleicht verdächtigen und ins Gefängnis stecken würde.Mir graute vor all dem, Monsieur. Können Sie das denn nicht

 begreifen?«

»Madame« – Poirot sah sie ernst an –, »wenn ich Ihnen glau ben soll, müssen Sie mir helfen.«

»Ihnen helfen?«

»Ja. Die Beweggründe für den Mord liegen in der Vergangenheit – in jener Tragödie, die Ihnen Ihre Lieben entriß und IhrLeben verdüsterte. Sprechen Sie mit mir über die Vergangenheit, damit ich dort das fehlende Glied finde, das alles erklärt.«

»Was gibt es da noch zu reden? Sie sind ja alle tot«, flüstertesie, mit den Tränen kämpfend. »Robert, Sonja, die süße, süße

Daisy – alle tot, und Daisy war ein so bezauberndes Kind – so

Page 231: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 231/270

fröhlich – so glücklich. Und bildhübsch mit ihren blonden Locken. Wir waren alle ganz verrückt nach ihr.«

»Die drei waren nicht die einzigen Opfer, Madame. Es wurdenoch ein Menschenleben vernichtet – indirekt, sozusagen.«

»Die arme Suzanne? Ja, die hätte ich beinahe vergessen. DiePolizei nahm sie ins Kreuzverhör, wobei sich ergab daß sie miteinem Unbekannten geschwatzt und dabei viel über Daisy erzählt hatte, über ihren Tagesablauf, wenn sie mit ihr spazierenging und dergleichen. Sie tat es ganz arglos, ohne sich etwas

dabei zu denken, und geriet, als man sie der Beihilfe verdächtigte, in eine solche Verzweiflung, daß sie sich aus dem Fensterstürzte. Oh, wie furchtbar war das alles!«

»Und woher kam sie, Madame?«

»Sie war Französin.«

»Wie war ihr Nachname?«

»Mein Gott, wie hieß sie doch… Der Name ist mir tatsächlichentfallen. Wir nannten sie alle Suzanne. Ein fröhliches, hübsches Ding, immer guter Laune und ganz vernarrt in Daisy.«

»Nicht wahr, sie war zur Unterstützung der Kinderschwesterda?«

»Ja.«

»Und wer war die Kinderschwester?«

»Stengelberg hieß sie. Eine ausgebildete Krankenpflegerinund Kindergärtnerin. Auch sie liebte Daisy und meine Schwester sehr.«

»Nun, Madame, bitte ich Sie herzlich, sich Ihre nächste Antwort sorgfältig zu überlegen. Haben Sie, seit Sie hier im Zugsind, irgendwen gesehen, den Sie wiedererkannten?« Sie sahihn starr an. »Ich? Nein, nein.«

»Und Prinzessin Dragomiroff?«

Page 232: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 232/270

»Ja, die kenne ich natürlich. Ich dachte, Sie meinten irgend jemanden – irgendwen – aus jener traurigen Zeit.«

»Das meinte ich auch, Madame. Überlegen Sie bitte. Es sindseither Jahre vergangen. Die Person mag ihr Äußeres veränderthaben.«

Helena Andrenyi grübelte lange. 

»Nein, ich bin sicher – da ist niemand«, erklärte sie dann. 

»Madame, Sie selbst waren damals ein ganz junges Mädchen. 

Wer beaufsichtigte denn Ihre Hausaufgaben oder kümmerte

sich überhaupt um Sie?«»Ein Drache.« Die junge Gräfin lächelte. »Eine Engländerin

oder eigentlich Schottin, die gleichzeitig bei mir als Gouvernante und bei Sonja als Sekretärin beschäftigt war. Rothaarig, großund kräftig.«

»Wie hieß sie?«

»Miss Freebody.« 

»Jung oder alt?«

»Damals kam sie mir greisenhaft vor, obwohl sie in Wirklichkeit kaum älter als vierzig gewesen sein kann. Suzanne hattenatürlich meine Kleider und Wäsche in Ordnung zu halten.«

»Und sonstige Hausbewohner gab es nicht?«

»Nur Dienstboten.«

»Und Sie sind sicher, ganz sicher, Madame, daß Sie niemanden im Zug wiedererkannt haben?«

»Niemanden, Monsieur«, beteuerte sie, »wirklich niemanden.«

Page 233: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 233/270

28

Als das ungarische Ehepaar gegangen war, sah Poirot seine beiden »Mitarbeiter« triumphierend an.

»Sie sehen, wir machen Fortschritte!«

» Mon ami, Sie sind unvergleichlich«, sagte M. Bouc aufrichtig.»Nie hätte ich mir einfallen lassen, Graf und Gräfin Andrenyizu verdächtigen. Ich dachte, sie seien ganz hors de combat. Traurig, traurig – aber es unterliegt doch wohl keinem Zweifel, daßsie das Verbrechen begangen hat. Aber man wird sie wohl nichtguillotinieren. Es sind mildernde Umstände vorhanden. Einpaar Jahre Gefängnis – mehr bekommt sie wohl nicht.«

»Sie sind also von ihrer Schuld restlos überzeugt? Obwohl derGraf mit seinem Ehrenwort für die Schuldlosigkeit seiner Fraugebürgt hat.«

»Was hätte er sonst tun sollen, mon cher? Er betet seine Frauan, er will sie um jeden Preis retten. Und seine Lüge bringt ermit der Selbstverständlichkeit des Grandseigneurs vor – abereine Lüge bleibt es nichtsdestoweniger.«

»Ja? Denken Sie, ich hatte die widersinnige Idee, daß er dieWahrheit sagte.«

»Nein, nein. Denken Sie an das Taschentuch. Das Taschen

tuch erledigt die Sache.«»Ja?« erwiderte Hercule Poirot von neuem, wie ein Schüler,

der sich dem Urteil des Lehrers beugt. »Ich bin mir wegen desTaschentuchs gar nicht so sicher. Habe ich Ihnen nicht immergesagt, es gebe zwei Möglichkeiten?«

»Ganz gleichgültig…«

Page 234: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 234/270

M. Bouc brach ab, weil sich die Tür öffnete und PrinzessinDragomiroff den Speisewagen betrat. Sehr ruhig ging sie aufdie drei Herren zu, die sich sofort erhoben, aber sie wandte sich

ausschließlich an Poirot.»Ich glaube, Monsieur, Sie haben ein Taschentuch von mir.«

Er warf den beiden anderen einen triumphierenden Blick zu.

»Ist es das, Madame?« Langsam zog er das zarte Tüchlein ausder Tasche.

»Ja, das ist es. In der Ecke ist das Monogramm meines Vor

namens.«»Aber, Madame, wie kann es Ihnen gehören?« fragte M. Bouc.

»Es ist mit H gezeichnet, und Ihr Vorname lautet Natalia.«

Die funkelnden Krötenaugen maßen ihn mit einem kaltenBlick.

»Meine Taschentücher sind stets mit russischen Buchstaben

gezeichnet, Monsieur, H ist im Russischen N.«M. Boucs Gesicht drückte grenzenlose Überraschung undgleichzeitig Unbehagen aus. Diese unzähmbare alte Dameschüchterte ihn irgendwie ein. Poirot freilich blieb völlig gelassen.

»Bei dem Verhör heute morgen haben Sie nichts davon gesagt, daß dieses Taschentuch Ihnen gehört«, stellte er fest.

»Haben Sie mich etwa gefragt?« erwiderte die Prinzessin trocken.

»Bitte, nehmen Sie Platz, Madame.«

Sie folgte seiner Aufforderung – seufzend. »Nun ja, warumnicht?« sagte sie. »Sie brauchen keine große Sache daraus zumachen, Messieurs. Ich weiß, wie Ihre nächste Frage lautenwird, Monsieur, und will Sie Ihnen abnehmen: Wie kam mein

Page 235: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 235/270

Taschentuch neben die Leiche des ermordeten Mannes? Undmeine Antwort lautet: Ich habe keine Ahnung.«

»So. Keine Ahnung.«

»Nein, keine«, bekräftigte die Prinzessin.

»Verzeihung, Madame – aber dürfen wir Ihren Antwortendenn wirklich Glauben schenken?« fragte Poirot sehr leise.

»Ah, Sie meinen, weil ich Ihnen nicht erzählte, daß HelenaAndrenyi und Mrs. Armstrong Schwestern waren?«

»In diesem Punkt haben Sie uns eine wohlbedachte Lüge auf

getischt.«»Gewiß. Ich würde es auch wieder tun. Ihre Mutter war mei

ne Freundin, und man soll seinen Freunden, seiner Familie undseiner gesellschaftlichen Klasse Treue beweisen.«

»Sie sind also nicht der Meinung, daß man um jeden Preis derGerechtigkeit zum Sieg verhelfen muß?«

»In diesem Fall wurde, wie ich finde, eben das getan. Endlichhat die Gerechtigkeit gesiegt.«

Poirot beugte sich vor.

»Begreifen Sie mein Dilemma, Madame? Wie kann ich Ihnenim Hinblick auf das Taschentuch glauben? Vielleicht schützenSie nur die Tochter Ihrer Freundin?«

»Oh ich verstehe.« Sie verzog das Gesicht zu einem grimmi

gen Lächeln. »Schön, Monsieur, Sie können sich meine Aussagevon meinem Lieferanten in Paris bestätigen lassen. Ich gebeIhnen die Adresse des Ladens, in dem ich meine Taschentücherkaufe. Dann brauchen Sie nur das fragliche Taschentuch vorzulegen, und man wird Ihnen erklären, daß ich es vor etwa einem

 Jahr anfertigen ließ. Das Taschentuch gehört mir, Monsieur«,wiederholte sie. Sie stand auf. »Wünschen Sie sonst noch eine

Frage an mich zu richten?«

Page 236: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 236/270

»Glauben Sie, Madame, daß Ihre Kammerzofe das Taschentuch erkannt hat, als wir es ihr heute früh zeigten?«

»Fraglos. Hat sie geschwiegen? Nun, das beweist, daß auchsie weiß, was Treue ist.«

Nach dieser Feststellung nickte sie kaum merklich und ging.

»So, also das war es!« sagte Hercule Poirot. »Ich habe das Zögern bei Hildegarde Schmidt wohl bemerkt – sie war sich nichtschlüssig, ob sie leugnen oder zugeben sollte, daß das Taschentuch der Prinzessin gehört. Doch wie fügt sich das in das Bild,

das mir vorschwebt? Ah, doch, es geht.«»Puh!« entsetzte sich M. Bouc. »Die kann es ja mit zehn Män

nern aufnehmen.«

»Kann sie auch Ratchett ermordet haben?« wandte sich Poirot, M. Boucs Worte aufgreifend, an den Arzt. Doch Dr. Constantine schüttelte den Kopf.

»Ein paar von diesen Stichen haben die Muskeln glatt durchtrennt, mit so großer Kraft wurde der Dolch geführt. Nie undnimmer kann eine zierliche alle Frau sie dem Opfer beigebrachthaben. Mit den leichteren Stichen verhält es sich natürlich anders.«

»Wissen Sie. was für eine seltsame Bemerkung sie heute morgen machte, als ich, um ihr eine Falle zu stellen, sagte, ihreStärke liege mehr in ihrem Willen als in ihren Armen? Ich hoffte, sie werde dabei entweder auf ihren linken oder ihren rechten Arm sehen, doch sie betrachtete leider beide. Und dannmurmelte sie: ›Es ist wahr, es mangelt ihnen an Kraft. Aber ichweiß nicht, ob mich das betrübt oder freut.‹ Das ist doch einesonderbare Bemerkung. Aber sie bestätigt die Auffassung, dieich von dem Verbrechen habe.«

Page 237: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 237/270

»Sie beantwortet aber nicht die Frage nach unserem Linkshänder.«

»Nein. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß Graf Andrenyi seinTaschentuch in der rechten Brusttasche trägt?«

M. Bouc schüttelte den Kopf. Seine Gedanken drehten sichnoch um die erstaunlichen Enthüllungen der letzten halbenStunde. »Lügen und wieder Lügen!« knurrte er erbittert. »Es istunglaublich, was für einen Berg von Lügen man uns heutemorgen aufgetischt hat.«

»Oh, wir werden noch weitere entdecken!« sagte Hercule Poirot vergnügt.

»Meinen Sie das wirklich?«

»Wenn nicht, wäre ich sehr enttäuscht.«

»So? Nun, mir ist Doppelzüngigkeit zuwider, Ihnen allerdings, mon vieux, scheint sie zu behagen.«

»Sie hat ihre Vorteile«, gab der kleine Detektiv zurück. »WennSie jemanden, der gelogen hat, mit der Wahrheit konfrontieren,gibt er gewöhnlich die Lüge zu – oft aus reiner Überraschung.Um diese Wirkung zu erzielen, brauchen Sie nur richtig zu raten. Dieser Fall, mon cher, ist mit einer anderen Methode ja garnicht zu lösen. Sehen Sie, ich nehme mir einen Passagier nachdem anderen vor, betrachte seine Aussage und frage mich:Wenn der und der lügt – in bezug auf welchen Punkt lügt er,und was ist der Grund für seine Lüge? Und ich antworte: Wenner lügt – wohlgemerkt, wenn –, kann nur dieser oder jenerGrund vorliegen und die Lüge diesen oder jenen Punkt betreffen. So bin ich, mit Erfolg, bei den Andrenyis vorgegangen, und

 jetzt werden wir das gleiche Verfahren bei verschiedenen anderen Personen anwenden.«

Page 238: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 238/270

»Und angenommen, mein Freund, Ihre Vermutung istfalsch?«

»Dann wird zumindest eine Person von jedem Verdacht befreit.«

»Ah, Sie eliminieren also?«

»Genau.«

»Und wen haben Sie sich als nächsten hierzu ausersehen?«

»Unseren pukka sahib, Oberst Arbuthnot.«

Page 239: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 239/270

29

Oberst Arbuthnot war sichtlich verstimmt, daß man ihn zu einem zweiten Verhör in den Speisewagen rufen ließ. Mit grimmiger Miene setzte er sich Poirot gegenüber und sagte kurzangebunden: »Nun?«

»Ich entschuldige mich tausendmal, daß ich Sie noch einmal behelligen muß«, begann Poirot mit dem ihm eigenen Überschwang. »Doch ich glaube, daß Sie mir noch ein paar wichtige

Informationen geben können.«»Ich? Schwerlich.«

»Fangen wir mal mit diesem Pfeifenreiniger an – ist es einervon den Ihren?«

»Weiß ich nicht. Ich drücke Ihnen kein privates Erkennungszeichen auf.«

»Sind Sie sich bewußt, Oberst Arbuthnot, daß Sie im Schlafwagen Istanbul-Calais der einzige Passagier sind, der Pfeiferaucht?«

»Dann dürfte der Reiniger wohl von mir stammen.«

»Wissen Sie, wo ich ihn gefunden habe?«

»Keine Ahnung.«

»Er lag neben der Leiche des Ermordeten.«Oberst Arbuthnot zog die Brauen in die Höhe.

»Können Sie uns erklären, wie er wohl dorthin gelangt seinmag?«

»Wenn Sie meinen, ich hätte ihn dort selber fallen lassen –nein!«

»Haben Sie irgendwann Mr. Ratchetts Abteil betreten?«

Page 240: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 240/270

»Ich habe nie ein Wort mit dem Mann gewechselt.«

»Und ihn auch nicht ermordet?«

Wieder zog der Oberst die Brauen in die Höhe.»Wenn ich ihn ermordet hätte, würde ich es Ihnen wohl kaum

auf die Nase binden. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben:Nein, ich habe diesen Menschen nicht ermordet.«

»Nun, es ist auch nicht wichtig«, sagte Poirot kaum verständlich vor sich hin.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, es sei nicht wichtig.«

»Wie bitte?« Arbuthnot schien bestürzt und sah Poirot vollerUnbehagen an.

»Denn, wissen Sie«, fuhr der kleine Detektiv fort, »der Pfeifenreiniger hat keine Bedeutung. Ich kann mir selbst ein Dutzend ausgezeichnete Erklärungen für sein Vorhandensein am

Tatort ausdenken. Was ich von Ihnen hauptsächlich wissenwollte, war, ob Miss Debenham Ihnen erzählt hat, daß ich aufdem Bahnhof Konya zufällig Bruchteile einer Unterhaltungzwischen Ihnen beiden hörte.«

Arbuthnot antwortete nicht.

»Miss Debenham sagte: ›… nicht jetzt. Wenn alles vorüber ist.Wenn es hinter uns liegt.‹ Worauf bezogen sich diese Worte?«

»Bedaure, Monsieur Poirot, aber die Antwort auf diese Fragemuß ich Ihnen leider verweigern.«

»Pourquoi?«

»Ich schlage Ihnen vor, Miss Debenham selbst zu fragen«, erwiderte der Oberst steif.

»Ist bereits geschehen. Sie weigert sich ebenfalls, eine Erklä

rung zu geben.«

Page 241: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 241/270

»Dann müßten Sie doch eigentlich einsehen, daß meine Lippen versiegelt sind.«

»Ah, Sie möchten das Geheimnis einer Dame nicht preisge ben?«

»Meinetwegen, nennen Sie es so.«

»Mir gegenüber behauptete sie, es handle sich um eine ganzprivate Angelegenheit, die nur Sie betreffe.«

»Und warum bezweifeln Sie das?«

»Weil Miss Debenham mir im höchsten Grad verdächtig ist,

Oberst.«»Unsinn!« rief Arbuthnot.

»Es ist kein Unsinn.«

»Sie haben nichts, was gegen sie spricht.«

»Spricht auch die Tatsache nicht gegen sie, daß sie Gesellschafterin und Gouvernante im Armstrongschen Haushalt war,

als die kleine Daisy entführt wurde?«Totenstille…

Und dann nickte Poirot freundlich.

»Sie sehen, wir wissen mehr, als Sie denken. Warum gibt MissDebenham nicht zu, daß sie bei den Armstrongs angestellt war,wenn sie unschuldig ist? Warum sagt sie mir, sie sei niemals inAmerika gewesen?«

Oberst Arbuthnot räusperte sich.

»Vielleicht – vielleicht irren Sie sich.«

»Ich irre mich nicht. Warum hat mich Miss Debenham belogen?« Oberst Arbuthnot zuckte mit den Schultern.

»Fragen Sie sie selbst. Ich denke noch immer, daß ein Mißverständnis vorliegt.«

Poirot rief einen Kellner herbei.

Page 242: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 242/270

»Gehen Sie zu der englischen Dame in Nr. 11 und bitten Siesie, zu mir zu kommen.«

»Bien, Monsieur.«

Der Mann verließ den Speisewagen. Poirot und die drei anderen schwiegen. Oberst Arbuthnots Gesicht wirkte wie aus Holzgeschnitzt, starr und gefühllos.

Der Kellner meldete sich zurück. 

»Die Dame kommt sofort.« 

»Besten Dank.« 

Nur ein paar Minuten später traf Mary Debenham ein. 

Page 243: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 243/270

30

Sie trug keinen Hut und hatte den Kopf herausfordernd zurückgeworfen. Mit dem aus der Stirn zurückgekämmten Haarund der klaren Linie ihres Profils erinnerte sie an die Galionsfigur eines Schiffes, das mutig der rauhen See trotzt. In diesemAugenblick war sie schön.

Für den Bruchteil einer Sekunde – wirklich nicht länger – ruhte ihr Blick auf Arbuthnot. Dann fragte sie, sich an Poirot wen

dend:»Sie wollen mich sprechen?«

»Ich möchte Sie fragen, warum Sie mich heute vormittag belogen haben?«

»Ich – Sie belogen? Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie verheimlichen, daß Sie zur Zeit der Tragödie bei den

Armstrongs gearbeitet haben. Ja, Sie sagten ausdrücklich, Sieseien nie in Amerika gewesen.«

Sie zuckte leicht zusammen, hatte sich aber gleich daraufwieder in der Gewalt.

»Ja«, sagte sie. »Das ist wahr.«

»Nein, Mademoiselle, es ist falsch.«

»Sie haben mich mißverstanden, Monsieur Poirot. Ich meine,es ist wahr, daß ich Sie belogen habe.«

»Ah, Sie geben es also zu?«

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Gewiß, nachdem Sie dahintergekommen sind.«

»Also, offen sind Sie, das muß man Ihnen lassen. Darf ich Sie jetzt bitten, mir die Gründe für diese – Umgehung der Wahrheit

zu nennen?«

Page 244: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 244/270

»Liegen die Gründe nicht klar auf der Hand?«

»Ich sehe sie nicht, Mademoiselle.«

Sie sagte ruhig, aber mit einer Spur von Härte in der Stimme:»Monsieur, ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen.«

»Sie meinen…«

»Was wissen Sie, Monsieur Poirot, von dem Kampf, eine guteStellung zu bekommen und sie auch zu behalten? Glauben Siewirklich, daß irgendeine nette, durchschnittliche Engländerinder Mittelklasse ihre Töchter einer Erzieherin anvertrauen

würde, die unter Mordverdacht festgenommen und verhörtwurde und deren Bild womöglich in der gesamten englischenPresse erschienen ist?«

»Warum nicht – sofern sie keine Schuld trifft?«

»Oh, Schuld! Nicht auf Schuld oder Nichtschuld kommt es an,sondern auf das Aufsehen, das man erregt hat. Ich habe michim Leben erfolgreich durchgesetzt, Monsieur. Ich habe gutbezahlte, angenehme Stellungen gehabt. Sollte ich das alles aufsSpiel setzen – sinnlos? Denn was hätte es Ihnen gebracht?«

»Die Entscheidung, ob es sinnlos gewesen wäre, hätten Sieruhig mir überlassen können, Mademoiselle.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Sie hätten mir zum Beispiel bei der Identifizierung behilflich

sein können, Mademoiselle.«»Ich verstehe nicht…«

»Ist es möglich, daß Sie in der Gräfin Andrenyi nicht Mrs.Armstrongs jüngere Schwester wiedererkannt haben?«

»Gräfin Andrenyi? Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Daskommt Ihnen vielleicht merkwürdig vor – aber ich habe sienicht erkannt. Sie war damals ja noch nicht erwachsen. Es istlänger als drei Jahre her. Gewiß, die Gräfin erinnerte mich an

Page 245: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 245/270

 jemanden, aber ich bin nicht dahintergekommen, an wen. Siesieht so fremdländisch aus. Nie hätte ich sie mit dem kleinenamerikanischen Schulmädel in Verbindung gebracht. Und au

ßerdem habe ich nur einmal beim Betreten des Speisewagensflüchtig zu ihr hingeschaut, aber mehr auf ihre Kleidung als aufihr Gesicht geachtet.« Mary Debenham lächelte schwach. »Sosind Frauen nun einmal. Und dann – nun ja – ich hatte meineeigenen Probleme.«

»Wollen Sie mir Ihr Geheimnis nicht verraten, Mademoiselle?« Poirots Stimme klang sehr sanft, fast beschwörend.

»Ich kann nicht«, sagte sie leise. »Ich kann doch nicht…«

Und plötzlich brach sie zusammen, ließ den Kopf auf die ausgestreckten Arme sinken und weinte herzzerreißend.

Oberst Arbuthnot sprang auf und blieb verlegen neben ihrstehen.

»Ich – hören Sie…«

Er brach ab, drehte sich um und sah Poirot finster an. »Amliebsten würde ich Ihnen jeden Knochen einzeln brechen. Sielächerlicher Zwerg, Sie unausstehlicher kleiner Schnüffler!«

»Aber, Monsieur!« rief M. Bouc protestierend.

Arbuthnot wandte sich wieder an die junge Frau. »Mary – umHimmels willen…«

Sie stand hastig auf.»Es ist nichts – ich fühle mich schon wieder besser. Nicht

wahr, Sie brauchen mich nicht mehr, Monsieur Poirot? Sonstmuß ich Sie bitten, in mein Abteil zu kommen. Ich benehmemich wirklich wie eine komplette Idiotin!«

Und sie lief hinaus, ehe Poirot etwas sagen konnte.

Bevor Arbuthnot ihr folgte, maß er Poirot mit einem vernichtenden Blick.

Page 246: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 246/270

»Miss Debenham hat nichts mit dem verdammten Mord zuschaffen – merken Sie sich das gefälligst! Und wenn Sie sie nochlänger quälen und belästigen, dann – dann sollen Sie mich ein

mal kennenlernen!«Nach dieser Drohung ging auch er mit langen Schritten da

von.

»Kann es etwas Köstlicheres geben als einen zornigen Engländer?« meinte Poirot vergnügt. »Sie sind wirklich amüsant. Jezorniger sie werden, um so ungehobelter wird ihre Sprache.«

M. Bouc interessierten die gefühlsmäßigen Reaktionen derEngländer nicht. » Mon cher, vous êtes épatant!« rief er. »Wie Siedas wieder erraten haben, grenzt an ein Wunder.«

Und Dr. Constantine blies in dasselbe Horn.

»Es ist unglaublich, wie Sie auf dergleichen Dinge verfallen, Monsieur.«

Hercule Poirot rieb sich lachend die Hände.

»Oh, diesmal kann ich wirklich keinen Anspruch auf Lob erheben, mes amis. Es war keine Vermutung von mir. Die GräfinAndrenyi hat es mir ja praktisch gesagt.«

»Comment? Comment? Aber wann denn?«

»Erinnern Sie sich nicht, daß ich sie nach ihrer Erzieherinfragte? Eins war mir nämlich klar: Wenn Mary Debenham in

die Angelegenheit verwickelt war, mußte sie damals im Hausder Armstrongs irgendeine Stellung bekleidet haben.«

»Aber Gräfin Andrenyi hat doch eine völlig abweichende Personenbeschreibung gegeben.«

»Sehr richtig. Eine rothaarige Frau in vorgerücktem Alter –tatsächlich in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von MissMary Debenham. Aber als sie dann schnell einen Namen erfin

Page 247: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 247/270

den mußte, da wurde ihr eine unbewußte Gedankenassoziationzum Verhängnis. Sie sagte Miss Freebody, entsinnen Sie sich?«

»Ja.«

»Eh bien. Vielleicht wissen Sie nicht, daß bis vor kurzem inLondon ein berühmter Modesalon Debenham and Freebodyexistierte. Natürlich begriff ich sofort.«

»Das ist ja noch eine Lüge! Warum, warum?«

»Vielleicht hat Helena Andrenyi aus Loyalität – aus Treue gelogen, wie Prinzessin Dragomiroff sagte.«

» Ma foi«, brach M. Bouc ungestüm los. »Kann denn in diesemZug kein Mensch die Wahrheit sagen?«

»Das werden wir bald sehen, mon cher. Nur ein wenig Geduld!«

Page 248: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 248/270

31

»Jetzt würde mich nichts mehr überraschen«, erklärte M. Boucerschüttert. »Nichts! Selbst wenn sich herausstellte, daß jederunserer Passagiere irgendwie mit den Armstrongs zu tun hatte.«

»Das ist eine ungemein tiefsinnige Bemerkung«, erwiderteHercule Poirot. »Wie steht’s, mon cher! Haben Sie Lust zu hören,was Ihr ganz besonderer Freund, der Italiener, über seine Per

son auszusagen hat?«»Wollen Sie uns abermals ein Beispiel Ihrer berühmten Ge

dankenarbeit geben?«

»Genau das!«

»Das ist wirklich ein höchst ungewöhnlicher Fall«, sagteConstantine.

»Aber durchaus nicht, er ist ganz durchschnittlich.«M. Bouc warf in komischer Verzweiflung die Arme in die

Luft. »Wenn Sie das durchschnittlich nennen, mon ami!«

Ihm fehlten die Worte.

Poirot hatte den Speisewagenkellner inzwischen beauftragt,Antonio Foscarelli zu rufen.

Der Blick des Italieners verriet höchste Wachsamkeit.»Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich habe Ihnen nichts zu

sagen – nichts, verstanden? Per dio…« Schwer sauste seineHand auf die Tischplatte.

»Doch, die Wahrheit!« entgegnete Poirot.

»Die Wahrheit?« Foscarelli warf ihm einen überlegenen Blickzu.

Page 249: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 249/270

» Mais oui. Vielleicht ist sie mir bereits bekannt. Allerdings wäre es für Sie von Vorteil, wenn Sie aus eigenem Antrieb redeten.«

»Sie sprechen genauso wie die amerikanische Polizei.« DerDicke lachte spöttisch auf. »›Heraus mit der Sprache‹, sagen dieimmer. ›Dann wirst du dich gleich viel besser fühlen.‹«

»Ah, dann verfügen Sie also über Erfahrungen mit der NewYorker Polizei?«

»Nein, nein, durchaus nicht. Sie konnten mir nichts beweisen,

sosehr sie sich auch anstrengten.«»Das war damals im Fall Armstrong, nicht wahr?« sagte Poi

rot ruhig. »Sie waren Fahrer, ist es so?«

Er zwang den Italiener, seinem Blick standzuhalten, und Foscarelli schien plötzlich in sich zusammenzusinken. Ein Luftballon, aus dem die Luft raus war.

»Warum fragen Sie mich, wenn Sie es schon wissen?«

»Heute morgen haben Sie gelogen.«

»Aus geschäftlichen Gründen. Überdies traue ich der jugoslawischen Polizei nicht. Die Jugoslawen hassen uns Italiener.Von ihnen hätte ich keine Gerechtigkeit zu erwarten.«

»Im Gegenteil, vielleicht gerade die Gerechtigkeit, die Ihnengebührt.«

»Nein, nein. Mit dem Mord von gestern nacht habe ich nichtszu schaffen. Ich habe mein Abteil nicht verlassen. Fragen Siedoch den langweiligen Engländer. Ich habe das Schwein Ratchett nicht umgebracht. Sie können mir nichts beweisen.«

Hercule Poirot schrieb langsam etwas auf ein Blatt Papier. Jetzt blickte er auf und sagte gelassen:

»Sehr gut. Sie können gehen.«

Page 250: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 250/270

Foscarelli zögerte.

»Sie sind sich doch klar darüber, daß nicht ich es war? Daßich nichts damit zu tun gehabt haben kann? Es ist eine Verschwörung… Sie wollen mich reinlegen? Alles wegen einesSchweinehundes, der auf den elektrischen Stuhl gehört hätte?Wenn ich es gewesen wäre… Wenn man mich verhaftet hätte…«

»Aber Sie waren es nicht. Sie hatten mit der Entführung desKindes nichts zu tun.«

»Was fällt Ihnen ein, so etwas auch nur zu denken! Mein Gott,der kleine Spatz! Sie war das Entzücken des ganzen Hauses!Tonio, rief sie mich. Und wenn sie im Wagen saß, tat sie so, alshalte sie das Steuer. Wir haben sie alle geliebt.«

Seine Stimme wurde weich, und Tränen glänzten in seinenAugen. Dann machte er brüst kehrt und lief hinaus.

Hercule Poirot rief wieder den Kellner: »Die schwedische

Dame – Nr. 10!«»Bien, Monsieur.«

»Noch eine?« stieß M. Bouc hervor. »Ah, nein – das ist nichtmöglich. Wirklich nicht möglich!«

» Mon  cher – wir müssen alles wissen, was mit dem Fall zusammenhängt. Auch wenn es sich am Ende herausstellen sollte,

daß jeder in diesem Zug ein Motiv gehabt hat, Catchest zu töten. Sobald wir alles wissen, können wir ein für allemal dieSchuldfrage klären.«

»Mir dreht sich der Kopf«, klagte M. Bouc.

Greta Ohlsson kam, vom Kellner fürsorglich gestützt, herein.Sie weinte bitterlich. Sie ließ sich Poirot gegenüber auf einenStuhl fallen und schluchzte in ein großes Taschentuch hinein.

Page 251: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 251/270

»Keine Angst, Mademoiselle. Nur keine Angst.« Poirot klopfte ihr auf die Schulter. »Nur ein paar kleine Aussagen, die derWahrheit entsprechen. Sie waren die Kinderschwester der klei

nen Daisy, nicht wahr?«»Ja, ja, es ist wahr«, antwortete Greta Ohlsson, noch immer

weinend. »Ah, sie war ein Engel, ein süßer, vertrauensvollerEngel! Nur Liebe und Güte hatte sie kennengelernt. Und dannwurde sie von diesem Verbrecher geraubt… grausam behandelt… Und die arme Mutter! Das Baby, das nie leben durfte! Siekönnen das nicht verstehen! Wären Sie dabeigewesen wie ich –hätten die entsetzliche Tragödie miterlebt… Ich hätte Ihnenschon heute morgen die Wahrheit über mich sagen sollen. Aberich hatte Angst. Einfach Angst. Und ich war glücklich, daß derVerbrecher tot war, daß er kein Kind mehr quälen und tötenkonnte. Ich kann nichts mehr sagen – meine Stimme gehorchtmir nicht…«

Sie schluchzte noch heftiger als vorher.Poirot klopfte ihr noch immer begütigend auf die Schulter.

»Na, na, na, wer wird denn weinen. Ich verstehe ja, verstehealles. Alles, sage ich Ihnen. Sehen Sie, ich will Sie auch nicht mitweiteren Fragen belästigen. Es genügt völlig, daß Sie eingestanden haben, was ich schon vorher wußte.«

 Jetzt tatsächlich keines Wortes mehr fähig, stand Greta Ohls

son auf und tastete sich, blind vor Tränen, bis zur Tür. Dortstieß sie mit einem Mann zusammen, dessen Ziel der Speisewagen war.

Masterman – Ratchetts Kammerdiener.

Er ging direkt auf Hercule Poirot zu und so ruhig und leidenschaftslos wie er immer sprach: »Ich möchte nicht aufdringlicherscheinen, Sir, aber ich dachte, es sei das beste, mit nichts mehrhinter dem Berg zu halten. Während des Krieges war ich Oberst

Page 252: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 252/270

Armstrongs Bursche und später in New York sein Kammerdiener. Ich habe das heute vormittag leider verschwiegen. Es warunrecht, Sir. Jedenfalls hoffe ich, daß Sie Tonio nicht irgendwie

verdächtigen. Der gute Dicke, Sir, könnte keiner Fliege etwaszuleide tun. Ich kann beschwören, daß er vergangene Nachtsein Abteil nicht verließ. Mithin kann er es gar nicht getan ha

 ben, Sir. Tonio ist zwar Ausländer, Sir, aber ein sehr gutmütigerMensch. Anders als die widerlichen, mordgierigen Italiener,von denen man in Büchern liest.«

Er hielt inne.

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte Poirot und sahihn forschend an.

»Das ist alles, Sir.«

Masterman schwieg, und als auch Poirot nichts sagte, ver beugte der Engländer sich leicht, als wolle er für etwas um Entschuldigung bitten, und verließ nach kurzem Zögern den Wa

gen.»Das ist ja unwahrscheinlicher als jeder Roman, den ich gele

sen habe«, sagte der Doktor verblüfft.

»Ganz meine Meinung«, ließ sich M. Bouc vernehmen. »Vonden zwölf im Istanbuler Wagen reisenden Passagieren habenneun zugegeben, zu den Armstrongs in engerer Beziehung gestanden zu haben. Was jetzt? Oder besser, wer jetzt?«

»Die Antwort erfolgt umgehend«, lächelte Poirot. »Da nahtunser amerikanischer Spürhund, Mr. Hardman.«

»Kommt er, um seine Beichte abzulegen?«

Poirot hatte keine Zeit mehr zu antworten, der Amerikanerstand bereits an ihrem Tisch. Er ließ seine flinken Augen zwischen den dreien hin und her wandern und sagte, während er

es sich auf einem Stuhl bequem machte, gedehnt:

Page 253: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 253/270

»In diesem Zug geht’s ja zu wie in einem Narrenhaus.«

Poirot blinzelte ihm zu.

»Sind Sie ganz sicher, Mr. Hardman, daß Sie nicht als Gärtnerim Armstrongschen Haushalt beschäftigt waren?«

»Armstrongs hatten keinen Garten«, belehrte ihn der Amerikaner.

»Dann als Butler?«

»Liegt mir nicht, der Beruf. Nein, es haben nie die geringstenBeziehungen zwischen mir und den Armstrongs bestanden –

aber beinahe fange ich an zu glauben, daß ich als einziger Reisender im Zug das behaupten kann. Wollen Sie wetten, daß esstimmt?«

»Wetten, nein. Immerhin ist es mal eine kleine, erfreulicheAbwechslung. Haben Sie sich inzwischen irgendeine Meinungüber das Verbrechen gebildet?«

»Nein, Sir. Ich gebe mich geschlagen. Unmöglich können alledarin verwickelt sein. Doch wer ist der Schuldige? Wie habenSie es übrigens zuwege gebracht, einen so tiefen Einblick zu

 bekommen?«

»Ich verlegte mich aufs Raten.«

»Alle Achtung, dann sind Sie ein ganz verdammter Pfiffikus!«Hardman rekelte sich auf dem Stuhl und sah Poirot bewun

dernd an. »Und wenn man Sie so sieht, sollte man das gar nichtglauben. Hut ab vor Ihnen, Verehrtester. Hut ab!«

»Sehr liebenswürdig, Mr. Hardman. Vorläufig verdiene ichdas Lob noch nicht. Noch ist die Sache nicht restlos geklärt.Oder können wir vielleicht mit Recht sagen, wir wüßten, werRatchett tötete?«

»Also ich bestimmt nicht«, antwortete Hardman. »Ich sage

überhaupt nichts dazu. Ich bin nur voller Bewunderung. Was

Page 254: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 254/270

ist mit den beiden anderen, mit denen Sie sich noch nicht beschäftigt haben? Der älteren Amerikanerin und der Kammerzofe? Ich vermute, wir können voraussetzen, daß sie im Zug die

einzigen Unschuldigen sind.«»Es sei denn«, sagte Poirot lächelnd, »wir finden für sie noch

ein Plätzchen in unserer Sammlung als – nun ja – als Haushälterin und Köchin bei den Armstrongs.«

»Also mich überrascht auf dieser Welt nichts mehr«, sagteHardman resigniert. »Dieser Fall ist irre – einfach irre.«

»Ah mon cher, das hieße den Zufall denn doch ein bißchen argstrapazieren«, warf Bouc ein. »Sie können nicht alle mit drinstecken.«

Poirot sah ihn an. »Sie verstehen nicht«, sagte er. »Sagen Siemir, wissen Sie, wer Ratchett getötet hat?«

»Wissen Sie es denn?« konterte M. Bouc.

»Oh, um ehrlich zu sein: Ich weiß es schon seit einiger Zeit. Esist so klar, daß ich über Ihre Blindheit nur staunen kann.« Erdrehte sich zu Hardman um. »Und Sie?«

»Bin genauso blind. Wer von ihnen war der Täter?«

Poirot betrachtete eine Minute seine blitzblanken Schuhe.Dann hob er den Blick.

»Darf ich Sie bitten, alle Passagiere des Schlafwagens hierher

zu holen. Es gibt zwei mögliche Lösungen, und beide möchteich im Beisein aller darlegen.«

Page 255: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 255/270

32

Langsam füllte sich der Wagen, und die Passagiere nahmenihre Plätze ein wie bei den Mahlzeiten. Auf allen Gesichtern lagderselbe Ausdruck: Erwartung, mit Furcht gemischt.

Greta Ohlsson weinte noch immer, und Mrs. Hubbard tröstete sie: »Na, na, meine Liebe, Sie müssen sich ein bißchen zusammenreißen. Es wird schon alles gut werden. Wenn es unteruns einen Mörder gibt, wissen wir doch, daß Sie es nicht sind.

Nehmen Sie schön hier Platz, dann setze ich mich zu Ihnen.Und machen Sie sich keine Sorgen.« Sie verstummte, als Poirotaufstand.

»Erlauben Sie, daß ich dableibe, Monsieur?« fragte Pierre Michel.

»Gewiß, Pierre.«

Poirot räusperte sich.» Messieurs et Mesdames, ich werde englisch sprechen, weil ich

annehme, daß Sie alle diese Sprache leidlich beherrschen. Wirsind hier zusammengekommen, um den Mord an Samuel Edward Ratchett – alias Cassetti – zu untersuchen. Es gibt in diesem Fall zwei mögliche Lösungen, und ich will Ihnen beidedarlegen. Anschließend sollen M. Bouc und Dr. Constantine

 beurteilen, welche die richtige ist.Sie alle kennen die Tatsachen des Falles. Ratchett wurde heute

morgen erstochen aufgefunden. Siebenunddreißig Minutennach Mitternacht hatte er noch durch die Tür mit dem Kondukteur gesprochen. Eine stark beschädigte Taschenuhr, die in derBrusttasche seines Schlafanzuges gefunden wurde, war umViertel nach eins stehengeblieben. Dr. Constantine, der die Lei

che untersuchte, vertritt die Ansicht, der Tot sei zwischen Mit

Page 256: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 256/270

ternacht und zwei Uhr morgens eingetreten. Eine halbe Stundenach Mitternacht saß der Zug im Schnee fest und steckt, wie Siewissen, noch immer drin. Mithin kann seither niemand ausge

stiegen sein. Er wäre sofort im Schnee versunken.Die Aussage von Mr. Hardman – Detektiv einer bekannten

New Yorker Agentur – erhellt eindeutig, daß niemand an seinem Abteil (Nr. 16, am äußersten Ende des Wagens gelegen)vorüber konnte, ohne von ihm gesehen zu werden. Daher sindwir zu der Schlußfolgerung gelangt, daß wir den Mörder unterden Insassen eines besonderen Wagens zu suchen haben – desSchlafwagens Istanbul-Calais. Das,  Messieurs et Mesdames, warunsere Theorie.«

»Comment?« stieß M. Bouc verblüfft hervor.

»Und nun die andere, die sehr einfach ist. Ratchett hatte einenFeind, den er fürchtete und von dem er Mr. Hardman eine sehrgenaue Beschreibung gab. Er fügte hinzu, daß mit einem

Mordversuch – wenn überhaupt – erst in der zweiten Nachtnach der Abreise von Istanbul zu rechnen sei.

Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, Ladies and Gentlemen, daßRatchett viel mehr wußte, als er Mr. Hardman anvertraute. DerFeind, den er erwartete, bestieg den Zug in Belgrad, möglicherweise auch in Vincovci, durch die Tür, die Oberst Ar

 buthnot und Mr. MacQueen offengelassen hatten. Sie waren

kurz ausgestiegen, um sich die Beine zu vertreten. Als Schlafwagenschaffner verkleidet und mit einem Hauptschlüssel ausgerüstet, der es ihm ermöglichte, trotz der verschlossenen Türin Ratchetts Abteil einzudringen, erstach der Unbekannte denSchlafenden, der sich nicht wehrte, weil er ein Schlafmittel eingenommen hatte. Der Mann erstach ihn und verließ das Abteildurch die Verbindungstür zu Mrs. Hubbards Abteil…«

»Ganz recht«, bestätigte Mrs. Hubbard.

Page 257: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 257/270

»Im Vorbeigehen steckte er die Mordwaffe in Mrs. HubbardsSchwammbeutel und verlor, ohne es zu merken, einen Knopfseiner Uniform. Dann schlüpfte er hinaus in den Korridor,

stopfte die hastig abgestreifte Uniform in einem Abteil in einenKoffer, und ein paar Minuten später verließ er, kurz vor derAbfahrt den Zug – in Straßenkleidung, die er unter der Uniform getragen hatte.«

»Aber die Uhr?« warf Hardman ein.

»Auch dafür habe ich die Erklärung. Ratchett hatte versäumt,

in Tzaribrod seine Uhr eine Stunde zurückzustellen, wie er hätte tun müssen. Seine Uhr zeigte noch die osteuropäische Zeitan, die von der mitteleuropäischen um eine Stunde abweicht.Es war ein Viertel nach zwölf, als Ratchett erstochen wurde –nicht ein Viertel nach eins.«

» Mon cher, diese Erklärung ist absurd!« rief M. Bouc. »DenkenSie doch an die Stimme, die um dreiundzwanzig Minuten vor

eins aus Ratchetts Abteil sprach. Entweder war es RatchettsStimme oder die seines Mörders.«

»Nicht unbedingt. Es kann auch eine dritte Person gewesensein. Jemand, der Ratchett besuchen wollte, ihn tot vorfand unddeshalb nach dem Kondukteur läutete. Dann aber bekam er dasFracksausen – wie Sie es auszudrücken pflegen. Wie, wennman ihn verdächtigte? Und so tat er, als spreche Ratchett, und

schickte den Kondukteur wieder fort.«»C’est possible« , gab M. Bouc widerwillig zu.

Hercule Poirot sah Mrs. Hubbard an.

»Ja, Madame – bitte, was wollten Sie sagen?«

»Ich – ich weiß nicht mehr. Aber glauben Sie, ich hätte ebenfalls vergessen, meine Uhr zurückzustellen?«

Page 258: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 258/270

»Nein. Sie hörten den Mann durchgehen – aber unbewußt.Später quälte Sie dann ein Alpdruck, ein Traum von einemMann, der sich in Ihr Abteil geschlichen hatte, so daß Sie mit

einem Ruck aufwachten und dem Schaffner klingelten.«»Freilich, das könnte so sein.«

Prinzessin Dragomiroff sah Poirot sehr direkt an.

»Und wie erklären Sie die Aussage meiner Kammerzofe?«

»Sehr einfach, Madame, Fräulein Schmidt erkannte das Taschentuch, das ich ihr zeigte, als Ihr Eigentum und unternahm

den etwas unbeholfenen Versuch, Sie zu schützen. Gewiß, sie begegnete dem Mann, aber früher, während der Zug im Bahnhof Vincovci hielt. Sie behauptete jedoch, sie habe ihn spätergesehen, weil sie die verworrene Idee hatte, Ihnen ein wasserdichtes Alibi zu verschaffen.«

Die Russin senkte den Kopf.

»Sie haben an alles gedacht, Monsieur«, murmelte sie. »Ich…ich bewundere Sie.«

Dann blieb es still. Plötzlich zuckten alle heftig zusammen,weil Dr. Constantine mit der Faust auf den Tisch schlug.

»Nein, nein und noch einmal nein«, sagte er. »Das ist eineganz windige, fadenscheinige Erklärung. Sie ist mangelhaft, hatein Dutzend schwache Punkte. So wurde das Verbrechen nicht

 begangen, das weiß M. Poirot selbst am besten.«Der kleine Detektiv musterte ihn neugierig.

»Sie wollen mich also zwingen, Ihnen auch noch meine zweiteLösung zu verraten, mon cher? Aber weisen Sie diese hier nichtallzuschnell von der Hand. Sie wird Ihnen später vielleichtdoch als die passendere erscheinen.

Zu der anderen Lösung gelangte ich auf folgende Weise:

Nachdem ich sämtliche Aussagen gesammelt hatte, lehnte ich

Page 259: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 259/270

mich mit geschlossenen Augen zurück und begann zu denken.Dabei geholfen hat mir eine Bemerkung von M. Bouc, die sichauf die bunt zusammengewürfelte, alle Klassen und Nationali

täten umfassende Reisegesellschaft bezog. Und als ich michdieser Bemerkung wieder entsann, versuchte ich, mir vorzustellen, ob sich ein derart buntes Gemisch wohl auch unter anderenBedingungen zusammenfinden könnte. Und die Antwort, dieich mir gab, lautete: nur in Amerika. In Amerika konnte sich einHaushalt aus so verschiedenen Nationalitäten zusammensetzen– einem italienischen Chauffeur, einer englischen Gouvernante,

einer schwedischen Kinderschwester, einer deutschen Zofe undso weiter. Das führte mich zu meiner Methode des ›Ratens‹ –das heißt, ich teilte jeder Person eine gewisse Rolle in demArmstrong-Drama zu, und ich kam zu einem sehr interessantenund befriedigenden Ergebnis.

Dann ging ich im Geiste die einzelnen Personen und ihr Verhalten beim Verhör durch. Mit Mr. MacQueen begann ich. Meinerstes Gespräch mit ihm stellte mich vollauf zufrieden. Während der zweiten Unterredung jedoch machte er eine Bemerkung, über die ich stutzte. Ich hatte ihm erzählt, daß ich einPapier gefunden hatte, auf dem der Name Armstrong erwähntwurde, und er sagte: ›Aber das war doch…‹ Dann machte ereine Pause und fuhr fort: ›… war doch eine sträfliche Nachlässigkeit von dem Alten!‹

Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß er ursprünglich etwas ganz anderes hatte sagen wollen.

Angenommen, er wollte sagen: ›Aber der Brief wurde dochverbrannt.‹ Das hätte bedeutet, daß MacQueen von dem Briefwußte und auch wußte, daß er vernichtet worden war. Mit anderen Worten, er war entweder der Mörder oder ein Komplize

des Mörders. Sehr gut.

Page 260: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 260/270

Dann der Kammerdiener. Er sagte, sein Herr habe die Gewohnheit gehabt, auf einer nächtlichen Eisenbahnfahrt stets einSchlafmittel zu nehmen. Das mochte im allgemeinen stimmen.

Aber hatte Ratchett in der vergangenen Nacht wirklich einSchlafmittel genommen? Der Browning unter seinem Kopfkissen strafte jene Aussage Lügen. Ratchett hatte im Gegenteilmunter bleiben wollen. Was für ein Betäubungsmittel er auchgeschluckt hatte – es war ihm ohne sein Wissen verabreichtworden. Von wem? Offenbar von MacQueen oder dem Diener.

Nun kommen wir zu der Aussage von Mr. Hardman. Ichglaubte alles, was er mir über seine Person und seinen Beruferzählte, doch als er mir erklärte, was er zu Ratchetts Schutzunternommen hatte, grenzte sein Bericht ans Lächerliche. UmRatchett wirklich wirkungsvoll zu schützen, hätte er sich indessen Abteil selbst an einem Platz aufhalten müssen, von demaus er die Abteiltür beobachten konnte.

Vermutlich wissen Sie schon alle, daß ich zufällig ein paarSätze einer Unterhaltung zwischen Miss Debenham und OberstArbuthnot aufgefangen hatte. ›Mary‹ nannte der Oberst die

 junge Dame. Auf so vertrautem Fuß stand er mit ihr. Doch angeblich hatte er sie erst wenige Tage vorher kennengelernt. Ichkenne aber genug Engländer von Oberst Arbuthnots Schlag.Selbst wenn er sich auf den ersten Blick in Miss Debenham verliebt hätte, wäre er langsam und zurückhaltend vorgegangenund hätte sich nicht unbekümmert über alle gesellschaftlichenSchranken hinweggesetzt. Eine zweite, sehr geringfügige Kleinigkeit bewies mir außerdem, daß Miss Debenham, obwohl siees leugnete, in den Vereinigten Staaten gewesen sein mußte. Siegebrauchte nämlich im Laufe unseres Gesprächs ein paar typisch amerikanische Redewendungen, die nur jemand in seinenSprachschatz aufgenommen haben kann, der selbst in Amerikagelebt hat.

Page 261: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 261/270

Nun zu einer anderen Zeugin. Mrs. Hubbard hatte uns erzählt daß sie vom Bett aus nicht sehen konnte, ob die Verbindungstür abgeriegelt sei oder nicht. Deshalb habe sie Miss

Ohlsson gebeten, nachzuschauen. Nun, diese Aussage hättegestimmt, wenn Mrs. Hubbard Abteil 2, 4, 12 oder irgendeineandere gerade Zahl innegehabt hätte, wo sich der Riegel unterhalb der Türklinke befindet; in den Abteilen mit ungeradenZahlen – also auch in ihrem Abteil Nr. 3 – ist der Riegel aber eingutes Stück oberhalb der Klinke angebracht, so daß derSchwammbeutel ihn gar nicht verdeckt haben kann. Ich war

daher gezwungen anzunehmen, daß die Sache mit dem Riegeleine reine Erfindung von Mrs. Hubbard war.

Und jetzt erlauben Sie mir, ein paar Worte über Zeit undStunde zu sagen. Ich stolperte – wenn ich den Ausdruckgebrauchen darf – sofort über den Umstand, daß die beschädigte Uhr im Schlafanzug steckte. Eine Schlafanzugtasche ist wirklich ein sehr unbequemer und unwahrscheinlicher Aufbewahrungsort für eine Uhr, zumal sich am Kopfende des Bettes einUhrhaken befindet. Daher hab ich nie bezweifelt, daß die Uhrabsichtlich zur Irreführung in die Tasche gesteckt worden war.Das Verbrechen wurde also keineswegs um Viertel nach einsverübt.

Früher also? Oder, um genau zu sein, um dreiundzwanzigMinuten vor eins? Mein Freund Bouc führte zur Unterstützungdieser Theorie den lauten Schrei an, der mich aus dem Schlafriß. Doch wenn Ratchett in schwerer Betäubung dalag, konnteer nicht aufgeschrien haben. War er fähig zu schreien, so war erauch fähig, sich irgendwie zur Wehr zu setzen.

Ich erinnere mich, wie MacQueen nicht einmal, sondernzweimal (und das zweite Mal fast übereifrig) betont hatte, daß

Ratchett nicht Französisch sprach, und gewann allmählich die

Page 262: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 262/270

Überzeugung, daß der ganze Rummel um dreiundzwanzigMinuten vor eins eine eigens für mich inszenierte Komödiewar. Der Trick mit der Uhr – nun, in jedem dritten oder vierten

Detektivroman wird damit gearbeitet. Man vermutete nicht zuUnrecht, daß ich den Schwindel durchschauen und michselbstgefällig in meiner Schlauheit sonnend, fernerhin vermuten würde, die Stimme, die ich dreiundzwanzig Minuten voreins gehört hatte, könne – da Ratchett nicht Französisch sprach– nicht die seine gewesen sein. Daraus sollte ich natürlichschließen, Ratchett sei um diese Zeit nicht mehr am Leben ge

wesen. Ich bin aber überzeugt, daß er um diese Stunde noch intiefer Betäubung schlief.

Immerhin ist der Trick gelungen. Ich habe meine Tür geöffnet,hinausgeschaut und wirklich den französischen Satz vernommen. Wenn ich aber wider Erwarten so unglaublich dämlichsein sollte, daß ich die Bedeutung dieses Satzes nicht begriff –nun, dann mußte man mich eben mit der Nase darauf stoßen!Dann konnte immer noch MacQueen kommen und zu mir sagen: ›Entschuldigen Sie, Monsieur Poirot, der Sprecher kannnicht Mr. Ratchett gewesen sein. Er konnte kein Französisch.‹

Und nun zur Tatzeit. Wann wurde das Verbrechen wirklich begangen. Und wer hat Ratchett getötet?

Meiner Meinung nach wurde Ratchett kurz vor zwei Uhr ge

tötet, knapp vor Ablauf der von Dr. Constantine als möglichangegebenen Zeitspanne.

Was aber die Frage nach dem Täter selbst betrifft…« HerculePoirot machte eine Pause und musterte sein Publikum. Übermangelnde Aufmerksamkeit konnte er nicht klagen. »Mir fiel«,fuhr er fort, »natürlich sofort auf, wie schwierig es war, auchnur gegen einen einzigen unserer Passagiere einen Beweis zu

Page 263: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 263/270

finden, und daß jedes Alibi ausgerechnet von einer Person erhärtet wurde, die ich die ›unwahrscheinlichste‹ nennen möchte.

So versorgten sich MacQueen und Oberst Arbuthnot gegenseitig mit Alibis – zwei Männer, zwischen denen es gewiß keinegroßen Gemeinsamkeiten gab. Das gleiche traf auf den englischen Kammerdiener und den Italiener zu, ebenso auf dieschwedische Dame und die junge Engländerin.

Und dann, Messieurs, sah ich Licht! Sie steckten alle unter einer Decke. Daß so viele Leute, die irgendwie mit dem Fall Arm

strong zu tun gehabt hatten, zufällig denselben Zug benützensollten, war nicht nur unwahrscheinlich, nein, es war unmöglich. Das konnte kein Zufall, das mußte Absicht sein. Ich entsann mich einer Bemerkung, die Oberst Arbuthnot über dieAburteilung durch Geschworene gemacht hatte. Aus zwölf Geschworenen setzt sich das Gericht zusammen – und zwölf Passagiere fuhren im Zug. Und zwölfmal war Ratchett erstochen

worden. Nun hatte ich auch die Erklärung dafür, daß derSchlafwagen nach Calais voll besetzt war – was für diese Jahreszeit höchst ungewöhnlich ist. Ich hatte mir darüber schonGedanken gemacht.

In Amerika hatte Ratchett es verstanden, sich der Justiz zuentziehen, obwohl nicht der mindeste Zweifel an seiner Schuld

 bestand. Vor meinem inneren Auge aber erschien eine selbster

nannte Geschworenenbank mit zwölf Personen, die ihn zumTode verurteilten und durch die eigenartigen Umstände desFalles gezwungen wurden, auch die Vollstrecker zu sein.

Ich sah ein vollendetes Mosaik vor mir, in dem jede Persondie ihr zugeteilte Rolle spielte. Es war so verabredet, daß jederVerdacht, der sich gegen eine bestimmte Person richtete, sofortdurch die Aussage eines oder mehrerer anderer Mitwirkender

zerstreut werden sollte. Hardmans Aussage war nötig, falls ein

Page 264: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 264/270

Außenseiter in Verdacht geraten sollte, der kein Alibi hatte. DieReisenden im Istanbuler Wagen liefen keine Gefahr. Die kleinste Einzelheit ihrer Aussage war vorher ausgearbeitet worden.

Das Ganze war ein gut vorbereitetes Puzzle – so geplant, daßalles, was ans Licht kam. die Lösung nur noch schwierigermachte. Wie mein Freund M. Bouc einmal feststellte, war derFall auf phantastische Weise unmöglich. Und genau diesenEindruck sollte ich gewinnen. Deckte diese Erklärung den Fallin seiner ganzen Breite ab? Ja! Die Art der Wunden – jede durcheine andere Person dem Toten beigebracht. Die falschen Droh

 briefe – falsch deshalb, weil sie nur geschrieben wurden, um alsBeweismaterial zu dienen. Zweifellos hat es auch echte Briefegegeben, die Ratchett sagten, welches Schicksal ihm bevorstand. Sie wurden jedoch von MacQueen vernichtet und durchandere ersetzt. Denn Hardmans Aussage, daß Ratchett ihn beauftragt habe, ihn zu schützen – ein Lügengespinst natürlich,von Anfang bis zum Ende! Die Beschreibung des geheimnisvol

len kleinen, dunklen Mannes mit der femininen Stimme – einesehr zweckdienliche Beschreibung, da sie auf keinen derSchlafwagenschaffner zutraf und auf Mann und Frau paßte.

Ein Einfall, das Urteil durch Erstechen zu vollstrecken, magim ersten Augenblick sonderbar erscheinen, doch bei nähererÜberlegung nicht. Ein Dolch ist eine Waffe, mit der jeder, derStarke wie der Schwache, umzugehen vermag, und er ist leise.

Ich bin der Meinung, daß alle Verschwörer der Reihe nachdurch Mrs. Hubbards Abteil in Ratchetts verdunkeltes Abteileindrangen – und zustachen. Und keiner von ihnen würde wissen, welcher Stich der eigentlich tödliche war. Der letzte Brief,den Ratchett wahrscheinlich auf seinem Kopfkissen gefundenhatte, wurde sorgfältig verbrannt, und ohne einen Hinweis aufden Fall Armstrong lag keinerlei Grund vor, irgendeinen von

den Reisenden zu verdächtigen. Man würde die Tat einem Un

Page 265: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 265/270

 bekannten zuschreiben, der von ›draußen‹ gekommen war,denn eine oder mehrere Personen im Zug sollten aussagen, siehätten gesehen, daß der ›kleine, dunkle Mann mit der femini

nen Stimme‹ in Brod ausgestiegen sei.Ich weiß nicht genau, was passierte, als die Verschwörer

merkten, daß dieser Teil ihres Plans wegen des Schnees nichtmehr durchführbar war. Vermutlich fand eine hastige Beratungstatt, und man beschloß, ungeachtet dieser Komplikationen, dasBegonnene zu Ende zu führen. Es war klar, daß jetzt alle Passagiere in Verdacht geraten mußten, doch für diese Möglichkeithatte man vorgesorgt. Man brauchte den Fall nur noch mehr zuverwirren. Zwei sogenannte Indizien wurden mir untergescho

 ben – eins, das Oberst Arbuthnot belastete, der über das stärkste Alibi verfügte und dessen Verbindung zu den Armstrongsam schwersten zu beweisen war. Das zweite war das Taschentuch, das Prinzessin Dragomiroff belastete, die sich aber dankihrer gesellschaftlichen Stellung, ihrer zarten Konstitution unddes durch ihre Kammerzofe und den Kondukteur bestätigtenAlibis in einer unangreifbaren Stellung befand.

Um die Angelegenheit noch mehr zu verdunkeln, wurde diemysteriöse Frau im roten Kimono ins Spiel gebracht, und wieder sollte ich bezeugen, daß es sie tatsächlich gab. Ein dumpfesPoltern gegen meine Tür. Ich springe aus dem Bett, schaue inden Gang hinaus – und sehe den roten Kimono gerade nochverschwinden. Außer mir sehen ihn noch ein paar sorgfältigausgewählte Leute: der Kondukteur, Miss Debenham undMacQueen. Die eigentliche Besitzerin des roten Seidengewandes dürfte wohl die Gräfin Andrenyi sein, da ihr Gepäck nurein Chiffonneglige enthält, das seinem ganzen Charakter nacheher ein Kaminkleid als ein Morgenrock ist.

Page 266: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 266/270

Als MacQueen von mir erfuhr, daß ein Teil des sorgsam ver brannten Briefes der Vernichtung entgangen war. wird er dieübrigen davon in Kenntnis gesetzt haben. In dieser Sekunde

wurde die Lage der Gräfin Andrenyi heikel, und unverzüglichänderte ihr Gatte im Paß ihren Vornamen. Das war die zweitePanne, die passierte.

Sie hatten sich geeinigt, jede – aber auch jede Verbindung mitder Familie Armstrong abzustreiten. Sie wußten, ich hatte anOrt und Stelle keine Möglichkeit, die Wahrheit zu ermitteln,und sie glaubten nicht, daß ich mich näher mit der Sache befassen würde, wenn ich keinen bestimmten Verdacht hatte.

 Jetzt gab es noch einen anderen Punkt, der mich nachdenklichmachte. Wenn meine Theorie des Verbrechens richtig war –und ich glaube, daß sie richtig sein muß –, dann gehörte offen

 bar auch der Schlafwagenkondukteur zu den Verschwörern.Aber dann waren es dreizehn – nicht zwölf.

Oh, wie habe ich gegrübelt, bis ich endlich zu dem Schlußkam, daß diejenige sich nicht an dem Verbrechen beteiligt hatte,von der man eher das Gegenteil annehmen sollte. Ich meine dieGräfin Andrenyi. In meinem Ohr klang noch der feierlicheErnst, mit dem der Graf beschwor, seine Gattin habe ihr Abteilnicht verlassen.

Aber Pierre Michel? Wie ließ sich seine Mittäterschaft erklä

ren? Er war ein rechtschaffener Mann, der jahrelang im Dienstder Schlafwagengesellschaft stand – kein fragwürdiger Charakter, der sich durch Bestechung kaufen ließ. Mithin mußte auchPierre Michel irgendeine Verbindung zum Fall Armstrong ha

 ben. Aber welche? Da erinnerte ich mich des toten Kindermädchens. War sie nicht Französin gewesen? War sie vielleicht Pierre Michels Tochter? Das konnte die Erklärung für alles sein –

sogar für den ungewöhnlichen Schauplatz des Verbrechens.

Page 267: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 267/270

Gab es noch jemanden, dessen Rolle in dem Drama noch nichtklar umrissen war? Oberst Arbuthnot war meiner Meinungnach mit den Armstrongs eng befreundet gewesen. Ein Kriegs

kamerad von Oberst Armstrong vermutlich. Die Zofe Hildegarde Schmidt? Ihre Stellung im Haushalt der unglücklichenFamilie war unschwer zu erraten. Ich bin möglicherweise allzusehr auf erstklassiges Essen versessen, aber ich erkenne einegute Köchin instinktiv. Ich stellte Fräulein Schmidt eine Falle –sie tappte hinein. Ich sagte, ich sei überzeugt, sie sei eine ausgezeichnete Köchin, und sie antwortete: ›Ja, das bin ich, das haben

mir alle meine Damen gesagt.‹Und Hardman? Er schien tatsächlich nicht zum Armstrong

schen Haushalt gehört zu haben. Doch ich konnte mir gut vorstellen, daß er mit dem französischen Mädchen verlobt gewesen war. Ich sprach mit ihm über den Charme der Ausländerinnen – und wieder erzielte ich die Wirkung, die ich wollte.Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen. Natürlich behaupteteer, der Schnee blende ihn so stark.

Bleibt noch Mrs. Hubbard. Sie spielte die wichtigste Rolle indem Drama. Da sie das Abteil neben Ratchett belegt hatte, warsie verdächtiger als alle anderen. Wie die Dinge lagen, hatte sieauch kein Alibi, auf das sie sich stützen konnte. Um ihre Rollezu spielen – die der ein wenig lächerlich wirkenden, zärtlichenamerikanischen Mutter –, dazu bedurfte es einer Künstlerin.Doch im Armstrong-Kreis war ja auch die vorhanden: Mrs.Armstrongs Mutter – Linda Arden, die Schauspielerin…«

Er schwieg.

Und mit einer weichen Stimme von seltenem Wohlklang, diein nichts mehr der Stimme glich, die man auf der ganzen Reisevon ihr gehört hatte, sagte Mrs. Hubbard:

»Ich habe schon immer gern komische Rollen übernommen.«

Page 268: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 268/270

Leise fuhr sie fort:

»Der Fehler mit dem Schwammbeutel war unverzeihlich. Er beweist, daß man immer alles aufs gründlichste bedenken muß.Wir hatten die Szene auf der Hinfahrt geprobt, und da war ichin einem Abteil mit gerader Zahl. Ich hätte nie gedacht, daß dieRiegel verschieden angebracht sein könnten.«

Dann wechselte sie ihre Stellung ein wenig und sah Poirotfreimütig an.

»Sie wissen alles, Monsieur Poirot, bis in die kleinsten Einzel

heiten. Sie sind ein erstaunlicher Mann! Doch selbst Sie könnensich diesen – diesen furchtbaren Tag in New York nicht vorstellen. Ich war dem Wahnsinn nahe vor Schmerz. Die Dienstbotenebenfalls, und Oberst Arbuthnot litt mit uns. Er war John Armstrongs bester Freund.«

»John hat mir im Krieg das Leben gerettet«, warf der Oberstein.

»Damals schon haben wir beschlossen – vielleicht tatsächlichirre vor Herzeleid –, daß das Todesurteil, dem Cassetti entronnen war, vollstreckt werden sollte. Wir waren zwölf – nein,eigentlich elf, da Suzannes Vater natürlich in Frankreich war.Ursprünglich dachten wir daran, den Vollstrecker durch dasLos zu bestimmen. Doch dann entschieden wir uns für diesenPlan, den sich Antonio, der Chauffeur, ausgedacht hat. Mary

arbeitete später mit Hector MacQueen die Einzelheiten aus. Erhatte meine Tochter Sonja stets verehrt, und er war es, der unsgenau erklärte, wie Cassetti es mit Hilfe seines Geldes geschaffthatte, seinen Kopf zu retten.

Es dauerte lange, bis unser Plan ausgereift und perfekt war.Zuerst galt es, Ratchett aufzuspüren, was Hardman gelang.Dann mußten wir versuchen, Masterman und Hector eine Stel

lung bei dem Verbrecher zu verschaffen – oder zumindest ei

Page 269: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 269/270

nem von ihnen. Auch das klappte. Anschließend hielten wirRücksprache mit Suzannes Vater. Oberst Arbuthnot bestanddarauf, daß wir zwölf sein müßten – das schien ihm mehr nach

Recht und Gesetz. Ihm war auch die Waffe nicht sympathisch,die wir gewählt hatten, doch er fügte sich, weil es sonst nochmehr Schwierigkeiten gegeben hätte. Nun, Suzannes Vater war

 bereit. Suzanne war sein einziges Kind gewesen. Von Hectorerfuhren wir, daß Ratchett früher oder später mit dem Orientexpreß aus dem Osten heimkehren werde. Da Pierre Michel indiesem Zug arbeitete, war die Chance zu gut, als daß wir sie

hätten versäumen dürfen. Außerdem würden auf diese Weisekeine Außenstehenden in die Sache hineingezogen.

Den Mann meiner zweiten Tochter mußte ich selbstverständlich einweihen, und er beharrte darauf, mit Helena auch diesenZug zu nehmen. Hector wiederum wußte es so einzufädeln,daß Ratchett die Reise an dem Tag antrat, an dem Pierre MichelDienst hatte. Wir beabsichtigten, jedes Abteil des SchlafwagensIstanbul-Calais zu belegen, doch unglücklicherweise war einAbteil schon lange vorher für einen Direktor der Gesellschaftreserviert worden. ›Mr. Harris‹, der Reisende, der nicht erschien, war selbstverständlich eine Fabelfigur. Doch es wärestörend gewesen, wenn ein Fremder in Hectors Abteil einquartiert worden wäre. Und dann, in allerletzter Minute, kamenSie…«

Sie holte tief Atem.

»Nun«, sagte sie, »jetzt wissen Sie alles, Monsieur Poirot. Washaben Sie mit uns vor? Können Sie – wenn das Ganze ans Lichtder Öffentlichkeit kommen muß – die Schuld dann nicht wenigstens auf mich laden, auf mich allein? Ich hätte dem Verbrecher gern zwölfmal den Dolch in die Brust gestoßen. Es ging ja

nicht nur darum, daß er den Tod meiner Tochter, ihres Kindes

Page 270: Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

7/18/2019 Christie, Agatha - Mord Im Orientexpress

http://slidepdf.com/reader/full/christie-agatha-mord-im-orientexpress 270/270

und des noch ungeborenen Kindes verschuldet hatte, das jetztmunter und glücklich sein könnte ~ nein, es ging uns um mehrals das Vor Daisy hatte Ratchett andere Kinder entführt Soll