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Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller(Hrsg.) Moderne begreifen

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Moderne begreifen

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Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus-Michael Bogdal (Universitat Bielefeld), Erhard Schiitz (Humboldt-Universitat zu Berlin), Jochen Vogt (Universitat Essen)

In den Banden dieser Reihe werden - ohne dogmatische Fixierung -neuere methodische Entwicklungen der Literaturwissenschaft, insbe-sondere ihre kulturwissenschaftliche Neuakzentuierung reflektiert. Zentraler Gegenstandsbereich ist die deutschsprachige Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher, diskursanalytischer und narratologischer sowie kulturtheoretischer Perspektive. Ausblicke auf das Wirkungspotenzial publizistischer Formen, auf die Genres der ,Paraliteratur' und den Problemkreis ,Literatur in der Medienkon-kurrenz' erweitern das thematische und methodische Spektrum.

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Christine Magerski, Robert Savage, Christiane Weller (Hrsg.)

Moderne begreifen

Zur Paradoxie eines sozio-asthetlschen Deutungsmusters

Deutscher Universitats-Verlag

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

LAuflage Juli2007

Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag I GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007

Lektorat: Frauke Schindler/ Dr. Tatjana Rollnik-Manke

Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de

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Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, ScheBlitz Gedrucktauf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany

ISBN 978-3-8350-6071-5

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Inhalt

Christine Magerski Vorwort

Peter Beilharz David Roberts and the 'Eleventh Thesis'

I. Beobachtungskonzepte

Dirk Baecker Zu Funktion und Form der Kunst 13

Agnes Heller What is 'Postmodern' - a Quarter of a Century after? 37

Bemd Htippauf Clare et distincte - Vergangenheit und Gegenwart einer Maxime 51

Siegfi ied J. Schmidt Modeme(n) und Postmodeme(n): Satyrspiele des Beobachters 81

II. Beobachtungsorte

Johann P. Amason Imaginary Significations and Historical Civilisations 93

Andrew Benjamin Porosity at the Edge: Working through Walter Benjamin's "Naples" 107

Gerhard Fischer Hans Magnus Enzensberger und die „deutsche Frage" vor und nach 1989 121

Brian Nelson Dandies, Dandyism, and the Uses of Style 135

Kate Rigby (K)ein Klang der aufgeregten Zeit: Romanticism, Ecology and Modernity in Theodor Storm's "Abseits" 145

Christiane Weller Trauma und Melancholia 15 7

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VI Inhalt

III. Blickwechsel/Begegnungen

Silke Beinssen-Hesse Zu Nation, Nationalismus und Adoleszenz aus biographischer Perspektive 171 Gemot Bohme Sprache als Quelle des Selbst 183

Paul Michael Lutzeler Die Europa-Asien-Diskussion in Thomas Manns Zauberberg 193

Peter Morgan "Die Heimat meiner Seele": The Significance of Pfitzner's Palestrina for Thomas Mann' s Doktor Faustus 205

Robert Savage Die Mitteilung der Rede: Anmerkungen zu einem Satz im Doktor Faustus 221

Ritchie Robertson Hofmannsthal as Sociologist: "Die Briefe des Zuriickgekehrten" 231

IV. Ent- und Re-ontologisierungen

Roland Boer Politics without Theology? The Case of Georg Lukacs 243

Alexander Garcia Dtittmann Ohne Erde: Bine Denkfigur Adomos 255

Axel Fliethmann Der Zufall der Modeme 263

Helmut Heinze Probleme mit der Modeme? Zur Ding-Semantik in der angewandten Digitaltechnik 277

Alison Lewis Das Paradox der freien Partnerwahl in der Liebe: Zum Aufstieg und Fall einer sozialistischen Liebessemantik in Christa Wolfs Der geteilte Himmel und Volker Brauns Unvollendete Geschichte 289

Tim Mehigan "Die kunftige Schule Europens": Reflections on K. L. Reinhold's Theorie des menschlichen Vorstellungsvermogens (1789) 311

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Inhalt VII

V. Asthetische Metamorphosen

Rita Felski Tragic Women 327

Bemhard Greiner Aqedah (,Fesselung') des Theaters: Die Theater-Modeme als Feld der Begegnung griechischer und jiidischer Theatralitat (am Beispiel Arthur Schnitzlers und Franz Kafkas) 337

Gyorgy Markus Walter Benjamin and the German "Reproduction Debate" 351

Peter Murphy Imitation and Creation 365

Bianca Theisen Metamorphosen der Literatur: Christoph Ransmayrs Die letzte Welt 381

Philip Thomson Satire and the Joke: Towards a New Theory of the Satiric 389

VI. Disziplinierungsversuche

Christine Magerski Zum Verhaltnis von Kunst und Wissenschaft bei Niklas Luhmann 403

Andrew Milner Comparative Literature, World-Systems Theory and Science Fiction 417

RolfG. Renner Postmodernism - Revisited 429

John Rundell Modernity, Contingency, Dissonance: Luhmann contra Adomo, Adomo contra Luhmann 443

Walter Veit New Rhetoric - Newest Rhetoric: Ernst-Robert Curtius, Chaim Perelman, Ernesto Grassi, Michel Meyer and What Now? 453

Autorenverzeichnis 469

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Vorwort

Christine Magerski

Literaturwissenschaft, wie David Roberts sie versteht, ist eine unbescheidene Disziplin. Sie sucht im Medium der Literatur, in ihrer Geschichte und ihrer Theorie nach einem Ver-standnis der modemen Gesellschaft und ihrer Kunst; sie verfolgt ihre Fragestellung durch die angrenzenden Disziplinen hindurch und bedarf des wissenschaftlichen Austausches. Wie uberaus fruchtbar ein derartiges disziplinares Selbstverstandnis ist, zeigen die zahlreichen Publikationen, welche David Roberts in mehr als vierzig Jahren zum Roman, zur Asthetik und zur Literatur- und Gesellschaftstheorie vorgelegt hat. - Die in dieser Festschrift versam-melten Aufsatze markieren und wiirdigen die Reichweite dieser auBerordentlichen wissen­schaftlichen Leistung, indem sie deren leitende Fragestellung aus einer Vielzahl geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven aufiiehmen. Wie also lasst sich die kunstlerische und gesellschaftliche Modeme begreifen?

Peter Beilharz beantwortet die Frage in seinem der Festschrift als Einleitung vorangestel-Iten Beitrag mit der Geschichte eines Theorieprojekts, an dessen Gelingen David Roberts als Mitherausgeber unmittelbar beteiligt war und ist: Die Rede ist von Thesis Eleven, einer der fiihrenden englischsprachigen Zeitschriften fur Kritische Theorie. Ihre Entwicklung beschreibt ein spannendes, durch den Import und Export von Ideen gekennzeichnetes Kapitel der australischen Geistesgeschichte; eine Geschichte, die der Germanist Roberts mit Bei-tragen u. a. zu Simmel, Adomo, Heidegger, Canetti und vor allem Luhmann maBgeblich bereichert.

Dem von Beilharz aufgerissenen Interessenspektrum ft)lgt das erste Kapitel der Fest­schrift mit der Vorstellung divergierender Beobachtungskonzepte der Modeme. Dabei knupft Dirk Baecker unmittelbar an einen Forschungsschwerpunkt von Roberts an, wenn er unter systemtheoretischer Zuhilfenahme des Konzepts der Form den Zusammenhang zwischen Strukturdeterminiertheit und Anschlussspielraumen am Fall der Kunst untersucht. Gefi-agt wird hier nach der gesellschaftlichen Funktion der Kunst und der sie stiitzenden sozialen Form. Einer dieser Formen widmet sich Agnes Heller, indem sie den Widerstand der Museen gegen die totale Preisgabe der ,gro6en Erzahlungen' kritisch hinterfi*agt. Handelt es sich beim Festhalten an totalisierenden Konzepten um die Macht der Gewohnheit oder ist hier die „sense-rendering ftanction of art itself am Werke? In jedem Fall, so Heller, lasst sich die

Seine bisherigen Antworten auf diese Frage hat David Roberts in Biichem wie Artistic Consciousness and Political Conscience: The Novels ofHeinrich Mann 1900-19S8 (1971), Kopfund Welt: Elias Canettis Ro­man ,Die Blendung' (1975), Tendenzwenden: Aspekte des Kulturwandels der siebziger Jahre (1984), Art and Enlightenment: Aesthetic Theory after Adorno (1990), Seizing the Century by the Throat: Elias Canetti and the Crisis of European Civilization (2003, mit J. Amason) und Dialectic of Romanticism: A Critique of Modernism (2004, mit P. Murphy) gegeben.

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2 Christine Magerski

Postmodeme als eine Enttotalisierung tiberkommener Konzepte wie Kunst, Geschichte oder Wahrheit verstehen, wobei zu fragen ware, ob man es bei der postmodemen Perspektive selbst nicht womoglich mit der letzten universalistischen Debatte iiberhaupt zu tun habe. Auf die Beobachtungskonzepte Modeme und Postmodeme konzentriert sich auch der Beitrag von Siegfried J. Schmidt. Verstanden werden diese als Sammelbezeichnungen fur Netzwerke von Tendenzen, wobei Schmidt die besondere Bedeutung der Medien fiir den sich zwischen Mo­deme und Postmodeme voUziehenden radikalen Wandel der Beobachterverhaltnisse betont und das Verhaltnis beider auf die Formel „Modemisiemng + reflexives Mediensystem = Postmodeme" bringt. Als Beispiel hierftir lieBe sich der Beitrag von Bemd Hiippauf lesen. Er widmet sich mit dem Begriffspaar der Scharfe und Unscharfe einem bislang wenig beachteten Aspekt der Modeme und stellt diesen in den Kontext der wachsenden Bedeutung des Visuel-len. Insbesondere ftir die Spatphase der Modeme, so kann Hiippauf zeigen, ist das Konzept der Scharfe konstitutiv, und dies gilt fur ihre Wissenschaft ebenso wie fiir ihren Begriff von Wirklichkeit und ihre kiinstlerische Praxis.

Das zweite, „Beobachtungsorte" iiberschriebene Kapitel setzt mit einem Beitrag von Jo-hann Amason zum Zivilisationsdiskurs ein. Die Rede vom „Clash of Civilizations" kritisch zum Ausgangspunkt nehmend, votiert Amason ftir eine begriffliche Gmndlegung der Zivili-sationstheorie unter Zuhilfenahme der von Comelius Castoriadis erarbeiteten Konzepte. Mit der Stadt wendet sich Andrew Benjamin einem weiteren Beobachtungsort zu. Anhand der Schriften Walter Benjamins geht der Beitrag den Fragen nach, was die Identitat einer Stadt ausmacht und ob sich dieses Gefiihl ftir Identitat iiber die Beziehung zwischen Raum und Zeit generalisieren lasst. Um das Problem der Identitat geht es auch bei Gerhard Fischer. In seinem Beitrag wird durch den vergleichenden Blick auf die von Hans Magnus Enzensberger vor und nach 1989 verfassten Texte illustriert, wie sich das Interesse an bestimmten Orten und Verhaltnissen in Korrelation mit politischen und personlichen Entwicklungen wandelt. Einem Wandel unterworfen zeigen sich aber nicht nur die Orte, die Beobachter und das jeweilige Verhaltnis beider, sondem auch, wie Brian Nelson am Beispiel des Dandys ausfuhrt, kom-plexe Figuren oder Typen. Die Genese der Figur des Dandys vom aristokratischen Ethos eines Bmmmel, Barby und Baudelaire bis hin zum ambivalenten Madonna-Phanomen wird hier ebenso untersucht, wie deren Charakteristik und Paradoxic. Im Kontrast dazu sucht Kate Rigby die Modeme jenseits der aufgeregten Stadte und lenkt ihren Blick mit Theodor Storm aufs Land. Storms Lyrik wird hier zum Ort der Begegnung zwischen Romantik, Okologie und Modeme und damit gleichsam zur kritischen Antwort auf jene Interpretation der Modeme, welche die Romantik unter Verkennung ihrer anhaltenden Impulse als einen spezifischen his-torischen Moment in die Vergangenheit verabschieden will. Noch einen Schritt weiter in den vermeintlich handlungsarmen Raum geht Christiane Weller, indem sie sich in die sym-bolische Landschaft der Vergangenheitsbewaltigung und ihrer diskursiven Strategien begibt. Innerhalb dieser sind es die Konzepte des Traumas und der Melancholic, deren Relation hin-sichtlich ihrer Rolle im fortlaufenden Prozess des Arrangierens und Umarrangierens der Ver­gangenheit untersucht wird.

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Vorwort 3

Das dritte Kapitel „Blickwechsel/Begegnungen" eroffnet Silke Beinssen-Hesse mit einem Beitrag zu Nation und Adoleszenz aus biographischer Perspektive. In ihm verfolgt Beinssen-Hesse anhand von Briefen, wie Nation und Nationalismus vom Einzelnen in konkreten Situa-tionen erlebt werden. Diese Untersuchung lielie sich in einen weiteren Rahmen stellen mit den sich anschlieBenden Ausfiihrungen von Gemot Bohme. Bohme lokalisiert die „Quellen des Selbst" jenseits der herrschenden Theorien des Selbstbewusstseins in der „Erfahrung betroffener Selbstgegebenheit" wie Schmerzerfahrung, Fakten der eigenen Biographie und Sprache. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt dabei auf dem Verhaltnis von Subjektkonstitu-tion und Sprache, d. h. dem Prozess der Verwandlung des Lebens in Biographie und der Ver-dichtung der Erinnerung in Schlusselworte. Bei Paul Michael Ltitzeler geht es um die Begeg-nung zwischen Gegenwart und Literatur in der Form des Zeitromans. Am Beispiel von Tho­mas Manns Zauberherg wird verdeutlicht, wie der Zeitroman Phanomene und Tendenzen der jeweils jiingsten Vergangenheit, hier die Todesverfallenheit, als Signum der Epoche erfasst. Auch Peter Morgans Beitrag beschaftigt sich mit Thomas Mann. Dabei begegnen sich Kunst und Politik, wenn Morgan den Einfluss Pfitzners auf den Roman Doktor Faustus verfolgt. Hans Pfitzner und seine Oper Palestrina, so die These, fungieren als verstecktes Symbol fiir Manns ambivalente Haltung gegenuber der Kreativitat seines Protagonisten, alter ego und counter-ego Adrian Leverkuhn. Auch Robert Savage steigt tief in den Roman, indem er den Leser an jenen Punkt fuhrt, an dem dieser auf das Beobachtungsschema des beobachtenden Beobachters angewiesen ist. Der Satz „Hier ist es, ich teile es mit" wird von Savage system-theoretisch als Schritt der Offnung hin zur Kommunikation und damit gleichsam als Blick-wechsel zweier literarischer Beobachter interpretiert. Ebenfalls um eine Geschichte der Be-gegnung handelt es sich bei dem Beitrag von Ritchie Robertson. Robertson wendet sich mit Hugo von Hofmannsthals Die Briefe des Zuriickgekehrten dem Zusammentreffen von Litera­tur und Soziologie um 1900 zu. In einer Zeit beschleunigten sozialen Wandels setzten sich Literatur und Soziologie das gleiche Ziel: den neuen Zustand einer Gesellschaft zu verstehen, die nun Modeme genannt wurde. Was Hofmannsthals Briefe dabei so ungewohnlich macht, ist nach Robertson die globale Perspektive eines fiktiven Schreibers, dessen Beobachtungen als gewichtige, parallel zu den kultursoziologischen Schriften der Zeit zu lesende Analyse der deutschen und europaischen Gesellschaft zu verstehen sind.

Der von David Roberts immer wieder fokussierten Ambivalenz der Modeme und ihrer Kunst widmet sich das vierte Kapitel der Festschrift. In ihm gehen die Beitragenden den Ent-wie auch Re-ontologisiemngen nach, wie sie die Paradoxic des Deutungsmusters der Mo­deme ausmachen. So weist Roland Boer die De-Theologisiemng des Politischen ausgerechnet am Beispiel Georg Lukacs' nach, indem er ausgewahlte Vorworte mit autobiographischen Beziigen untersucht, in denen die Frage der Religion von Lukacs explizit thematisiert wird. Von De-Ontologisiemng lieBe sich auch bei der von Alexander Garcia Dtittmann vorgelegten Deutung des Adomoschen Kritikverstandnisses sprechen. Untersucht wird dieses an der Ver-wendung des Wortes Erde, mit dem Ergebnis, dass Adomos Schriften die Idee einer Kritik zugmnde liegt, die mit der Formel von der „Sprache ohne Erde" benannt werden kann. Nicht weniger auf eine neue Lesart zielt auch der Beitrag von Axel Fliethmann. Er pladiert mit der

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kritischen Frage, wie viel Geschichte bzw. Geschichtsschreibung die Modeme iiberhaupt brauche, ftir eine starkere Beriicksichtigung des Zufalls und mithin fiir eine Ent-Ontologisierung der Geschichtsschreibung. Da die Konzepte nicht nur der Modeme sondem auch ihrer Geschichtswissenschaft zwischen theoretischem und historischem Wissen pendel-ten, empfiehlt Fliethmann eine vom Zufall der Entscheidungen ausgehende Theo-riegeschichte. Einen Ausschnitt aus der Theoriegeschichte der Philosophic zeigt uns Tim Me-higan. Sie basiert weniger auf dem Zufall als vielmehr auf dem kritischen Dialog zweier Den-ker: Kant und K. L. Reinhold. Reinholds Theorie des menschlichen Vorstellungsvermogens (1789) wird von Mehigan insofem als zukunftweisendes und gewissermaBen de-ontologi-sierendes Korrektiv zu Kants Kritik der reinen Vernunft verstanden, als Reinhold jede Theorie einer direkten Korrespondenz zwischen dem Ich und der AuBenwelt ablehnt und an ihre Stelle die Theorie der Representation treten lasst. Ganz anders Helmut Heinze: Sein Beitrag spiirt die Tendenz zur Ontologisierung in den industriell eingesetzten Programmiersprachen und Modellierungstechniken auf. Mittels einer genauen Beschreibung der jiingsten Entwicklungen in der Geschichte des Programmierens kann hier gezeigt werden, wie technische Problemstel-lungen und Problemlosungen in Denkschemata von Ding und Begriff angegangen werden. Eine gleichfalls tiberraschende Aufdeckung leistet Alison Lewis mit ihrer Geschichte vom Aufstieg und Fall der Liebessemantik in der DDR-Literatur. Anhand zweier Schliisselromane (Christa Wolfs Der geteilte Himmel und Volker Brauns Unvollendete Geschichte) werden die Wasserscheiden der Evolution einer sozialistischen Liebeskonzeption nachgezeichnet und gleichsam ein bislang von der Rezeption vemachlassigter Aspekt der DDR-Literatur beleuchtet.

Das funfte Kapitel kniipft mit der Beobachtung asthetischer Metamorphosen an die bereits aufgezeigten semantischen Verschiebungen der Modeme an. In ihm untersucht zunachst Rita Felski den Wandel im Nexus Frau, Tragodie und Modeme. Dabei geht es Felski vor allem um eine neue Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Feminismus und Tragodie, der, so wird gezeigt, eine ganzlich neue Lesart der Geschichten tragischer Frauen eroffnet. Als ein Versuch der korrigierenden Umdeutung ist auch der Beitrag von Bemhard Greiner zu verstehen. Greiner widmet sich mit dem Neuen einer der prominentesten Denkfi-guren der Modeme, wenn er am Beispiel des Theaters um 1900 nachweist, dass dessen Metamorphose nicht als Bmch oder Entfesselung, sondem vielmehr als ,neue' Bindung und zwar zwischen „griechisch-europaische[r] Theatertradition mit einer judischen Theatralitat" zu verstehen ist. Wie paradox die Wege der Rezeption verlaufen konnen, illustriert auch der Beitrag von Gyorgy Markus. In ihm wird der historische Hintergmnd des Kunstwerk-Aufsatzes von Walter Benjamin rekonstmiert, einem der prominentesten Texte der geistes-wissenschaftlichen Rezeption des 20. Jahrhunderts, und dies, obwohl sich die zentralen Prog-nosen Benjamins als unzutreffend erwiesen haben. Die Aktualitat, so Markus, liegt in der Fragestellung Benjamins, in welchem MaBe namlich die technische Reproduzierbarkeit die Entwicklung der zeitgenossischen Kunst beeinflusst und auf welcher theoretischen Gmndlage sich Antworten auf diese Frage fmden lassen. Peter Murphy greift diese Fragen auf. Sich auf Roberts Art and Enlightenment (1991) beziehend, setzt er die modeme Kunst kritisch zur

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Vorwort 5

postmodemen ins Verhaltnis und entfaltet am Fall der Musik die These, dass die Kunst der Modeme ihre Wirkung der Form verdanke, wahrend die postmodeme Kunst sich wesentlich auf die Institutionen stiitzt. Um die Metamorphosen der Kunst, hier allerdings der Literatur, geht es auch bei Bianca Theisen. Ihr Beitrag verfolgt die Verwandlungsgeschichten der Lite­ratur bis bin zur Thematisierung des Werden und Vergehen von Literatur selbst, wie sie sich in Christoph Ransmayrs Romans Die letzte Welt (1988) als diskursive Auflosung der Literatur ins weiBe Rauschen medialer Stimmenvielfalt beobachten lasst. Philip Thomson richtet das Augenmerk auf die anhaltende Diskussion um die Satire und deren Natur, Funktion und Le­gitimation. Dabei wird die mangelnde Kenntnis uber das Funktionieren der Satire vor allem darauf zuruckgefuhrt, dass Rezeptionstheorien den psychologischen Aspekt zu wenig beach-ten; ein Desiderat, das Thomson durch Zuhilfenahme der Freudschen Uberlegungen zum Witz und seine Beziehung zum Unbewussten ausraumt.

„Disziplinierungsversuche" lautet das sechste und abschlieBende Kapitel. Im ersten Bei­trag geht Christine Magerski der von Roberts aufgeworfenen Frage nach, ob es sich bei der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme nicht um eine asthetische Theorie handelt. Uber eine historische Rekonstruktion des Konvergenzpunktes der Selbstbeschreibungsgeschichten von Wissenschaft und Kunst wird hier versucht, die Position Luhmanns mit Hilfe seiner eigenen Theorie zu placieren. Gleichfalls auf die disziplinaren Grenzen richtet sich der Beitrag An­drew Milners. Ausgelotet werden die Moglichkeiten einer Integration der Literaturwissen-schaft in die Cultural Studies, wobei Milner, sich auf Franco Moretti beziehend, am Beispiel des Subsystems der Science Fiction illustrieren kann, wie eine komparatistische, sich auf die Systemtheorie stiitzende Literaturwissenschaft zum integralen Bestandteil der Cultural Stud­ies werden konnte. Gegenwart und Zukunft der Literaturwissenschaft sind auch das Thema von Rolf G. Renner. Sein Beitrag umfasst eine Kritik der akademischen Diskussion iiber die Postmodeme in Deutschland; eine Diskussion, die nicht nur stereotypen Leitformeln folge und im Zuge der Rephilologisierung politische und asthetische Reflexe ausblende, sondem zudem durch die Konzentration auf Texte iibersehe, dass es infolge des Wechsels der subver-siv eingesetzten medialen Formen heute um die unhintergehbare Verschrankung von Simula­tion und Wirklichkeit geht. Weniger um die Definition der Disziplinen als vielmehr um die Deutungsmacht ihrer Ideengeber geht es John Rundell. In Korrespondenz zu dem von Roberts skizzierten temporalen wie raumlichen Horizont der Modeme liest sein Beitrag die Schriften Adomos zur Philosophic der Musik als eine Theorie der Kontingenz und Dissonanz und damit auf eine Weise, die man als „Adomo after Luhmann"-Lesart bezeichnen kann. Dass nicht nur jede Lesart sondem selbst komplexe Deutungsmuster wie das der Modeme ihre Uberzeugungskraft auch und nicht zuletzt der Rhetorik verdanken, mft der die Festschrift abschlieBende Beitrag von Walter Veit in Erinnemng. Aus ihm geht hervor, wie sich die Disziplin der Rhetorik heute selbst versteht und welchen Weg sie gerade durch das span-nungsreiche Verhaltnis zur Philosophic zuruckgelegt hat.

Zu den disziplinaren Verschiebungen innerhalb des modemen Wissenschaftssystems ware gewiss noch ebenso viel zu sagen wie zu den Konzepten, Beobachtungsorten, Begeg-nungen und Metamorphosen der Modeme. Ein Abschluss der Suche nach Antworten auf die

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6 Christine Magerski

transdisziplinare Fragestellung, wie sich die Modeme als soziales und asthetisches Phanomen begreifen lasst, ist nicht in Sicht. Auch erscheint demnachst ein weiteres Buch von David Roberts. - Seine Festschrift aber braucht ein Ende. Die Herausgeber setzen dies mit drei-fachem Dank. Der erste Dank gilt dem engagierten Wissenschaftler, Kollegen und Mentor David Roberts. Der zweite Dank richtet sich an die zahlreichen Beitragenden, mit denen zu kooperieren eine Freude war. Der dritte Dank geht an die School of Languages, Cultures and Linguistics der Monash University (Melboume/Australien) fur die finanzielle Unterstiitzung.

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David Roberts and the 'Eleventh Thesis'

Peter Beilharz

Thesis Eleven - the idea, and the name for a journal - was bequeathed to us by Athol Vitzdamm-Jones. There were three of us, Athol, Julian Triado and me, who were postgradu­ate students working with Alastair Davidson in Politics at Monash University in the seventies. Athol died of cancer, aged 36, in 1979. He was ten years our senior, and as we later came to joke, by way of excuse, Julian and I were both 26 when we started Thesis Eleven, the same age as Marx when he wrote the Theses on Feuerbach. The folly of youth may be many things, but it is also the elan vital. Julian and I decided, or felt compelled, or obliged, to do what Athol had imagined but was himself unable to bring to fruition, to start a socialist journal of theory called Thesis Eleven. I travelled to Paris in December 1979 to stay with Alastair, and to enlist his support for the project. It took us a year to gather materials and intelligence, to make contacts who knew about typesetting, printing, proofing and editing and publishing. The first issue of Thesis Eleven appeared twenty seven years ago, on the day John Lennon was killed, 8 December 1980. We squeezed a thousand copies of the first issue, all boxed up, into a Renault 16 jokingly referred to as the vanguard of the intellectual proletariat, drove across town to bookshops to put it out there, the rest ending up in Julian's parental garage. The early days were heady, ideologically intense, excessively given to self-criticism. Alastair quit the journal in 1984. Julian and I decided to add new editors, but not our peers, let alone a younger gen­eration. We asked David Roberts to join, and later Johann Amason.

David was already known to us through the culture of the German Department at Monash. This was a thick culture of commitment. Whenever we ran a public event, you could count on the German Department to be there. David had a conspicuous commitment to critical theory, though he was never a Marxist. For us, as postgraduates in Politics, the two were inseparable. Alastair was closer to Italian and French theory. The radical intellectual culture of Melbourne blossomed with all these influences, and more. In 1978 Agnes Heller and Ferenc Feher ar­rived in Melbourne. They immediately took us on, eingeladen, and reinforced our connections with others like David, as outsiders or newcomers can often best do. The Hungarians became our distanced but enthusiastic advocates and supporters; we asked them to join, as editors, but they knew too well that we had to make our own way, and our own mistakes.

David Roberts joined the editorial in 1984; his hand can already be seen in the blue dou­ble issue, 5/6, on Culture and Ideology in 1982. His contribution to the editing of the journal and to its public life has been essential; always critical, sharp-minded, weary of fools and yet always curious, supportive, distinct. He also acted as messenger, as translator, for example, together with Amason, of the very finest essay by Alain Touraine, "Is Sociology Still the Study of Society?" (23, 1989). His role in shaping the culture of the journal is undeniable. Even more apparent, however, is the work of his own pen. Across these twenty-some years, I

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8 Peter Beilharz

count seventeen major essays, fully enough to make a David RobQrts/Thesis Eleven anthol­ogy. To track them indicates something of his own path, as well as ours.

Critical theory meant, and often for us today still means those currents associated with Horkheimer and Adomo, the Frankfiirt School and those around them, from Benjamin to Habermas and Honneth. Roberts' first contribution to Thesis Eleven was a paper on Brecht, Epic Form and Realism (5/6, 1982). Roberts is ever interested in world literature, in the twen­tieth century, in totalitarianism, in creativity and experimentation. In short, he is always al­ready interested in modernism and modernity, but especially in its cultural forms. He uses the word sociology comfortably, expansively. As Roberts says of Brecht, he replaces the tragic with the comic. The scope of Roberts' own thinking ftises them. His mood is often dry and profound at the same time, reminding us for example of the saying of the Hungarians, who having left socialism had to cope with the youthftil enthusiasms of the new left who came later - "We are just leaving the circus you are arriving at." Satire and irony are the present, to which Utopia is the fiiture that never comes.

Together with Feher and Heller, Roberts pushed the pages of Thesis Eleven towards the postmodern, as the alter ego of modernity, via aesthetics. This impulse connects his revision of Hegel and Adomo to his critique of Bauman's Legislators and Interpreters (18/19, 1987; 24, 1989). Whatever his disagreements with Bauman, the shared concern is central - intel­lectuals themselves, the trouble they cause, the fascination they still hold. The sociology of intellectuals is irredeemably narcissistic; but we cannot avoid the mirror, for there will always be others fixing to gaze. Roberts always, necessarily, has something to say about the novel (20, 1988). The topic of his work is always larger, non-immediate, but it is also reactive, and critical, as in his response to the great Historikerstreit (30, 1991). Critical theory is German, after all, and Germany, half-baked leader of the German century, never leaves us. The phi­losophers interpret the world, which keeps changing.

Roberts is also a promoter. He promotes ideas and thinkers who race ahead of us -Canetti, Bohme, with nature, and he has been the great advocate through our pages of the work of Niklas Luhmann. Luhmann was the systems-theorist par excellence, but also left the smile of the Cheshire cat (36, 1983; 45, 1996; 51, 1997). Roberts is always comfortable with the broad horizons of sociology, and is always curious about big sociology. Simmel looms large; Roberts was an active participant in the Melbourne Chapter of the Georg Simmel Soci­ety, which met for years across this period and never got beyond the pages of The Philosophy of Money (44, 1996). He persists with the perennials, Adomo and Heidegger (58, 1999) but never leaves the political, retuming late to the student movement and social and cultural change in West Germany (63, 2000) then to Debord and the spectacle (73, 75, 2003).

Clearly this tells us much, all this; it tells us of the path of the essayist, creative perhaps especially when reactive - fimdamentally committed to the practice where ideas are begot of other ideas, cultures, problems mbbed up together like sparks in our dark, precise without be­ing forensic, detective and his fiction, writer and critic inseparable.

Changing the world, in this way, might refer also to the changing of world literature. For while Marx was impatient, a hothead in his youth, his commitment to world literature was

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David Roberts and the 'Eleventh Thesis' 9

also fundamental. For Roberts, though, Marx is perhaps more irritant than solvent. No-one w rites manifestoes or theses any more. If, as Bauman tells us, postmodemity is modernity w ithout illusions, then it is also postmarxist, stripped of the illusions of our own traditions.

What might it mean, after all these years, after the collapse of communism and the mar-ginalization of critical theory, to speak of the Eleventh Thesis? Thesis Eleven was Athol Vitz-damm-Jones' idea for a project, indicating an orientation. We inherited this from him, and we remain proud of it. In its standard English rendition, with communist or activist emphasis on the idea of intervention, it tells us - Marx, in 1845 - that "The philosophers have interpreted the world, hitherto; the point, however, is to change it". The German original is a little more nuanced: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verdndern.'" In the German, praxis follows theory, comes thereupon, rather than deny­ing or replacing, 'transcending' it. Needless to say, our own commitment was to theory, to theoretical activity. The Marxist intellectual culture which we inhabited in the late seventies still reflected the earlier hopes of the later sixties. We valued the idea of change, and we pre­sumed, quite mistakenly, that change was the proper prerogative of us, on the left. As neolib-eralism, neoconservatism and globalization then showed, change comes now from elsewhere, from the right or out of protean capitalism itself. Globalization, in fact, became the practical saviour of Thesis Eleven, as the transformation of the Australian Labor Party saw the dissolu­tion of the left, our local audience, which evacuated into the ALP as the ALP eva-cuated civil society into the state. At some moment, our global audience expanded, so that we became (as Mike Davis once put it to me) the leading English-language journal of critical theory in the world - out of Melbourne, via the antipodes. Across the years we argued about the idea, not so much of changing the world, but of changing the title of the journal, and we decided not to. Did we ever really harbour illusions about ourselves changing the world? No, for this was a theory project, even if, as we used then with Habermas to say, one with a practical intention. Plainly we have changed our own little world, the little public sphere we established and now inhabit. This has become our tradition, warts and all.

Thesis Eleven became a successful project, a business, a firm - a co-operative; a bureauc­racy, working first independently, from 1980 to 1990, then collaboratively, with MIT Press in Boston from 1990 to 1996, coming to rest finally with Sage Publications in London, Orange County and Delhi. The idea of changing the world shifted to its cultural sphere via that of politics. Thesis Eleven became an exercise in institution building, and then we built a univer­sity centre, at La Trobe, around it. We have become cultural entrepreneurs; this is, however, what we have always done, import, export work in ideas. It is what we began unwittingly to do in 1980, working on flows of cultural traffic from Australia.

What would David Roberts say about all this now? I suspect he would smile, raise an eyebrow, shrug a shoulder. For he came on board with us, on this project, without ever chas­tising us for the excesses of youth. If it was Marxism that primed the pump, then so be it. In all the many conversations I have had with David Roberts over the years, I do not remember ever actually speaking about Marx; Marxism, certainly. The irony in his temperament points elsewhere. We get on with business, for our commitment is to making culture, to identifying

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10 Peter Beilharz

and creating new ideas, which seem endlessly to keep coming. None of this would have been possible without him. David Roberts has always been fascinated by the idea of the avant-garde, not the vanguard. It is an old Thesis Eleven joke that we lead, from behind. David Rob­erts leads from the side.

Literature

Roberts, David. "Brecht: Epic Form and Realism a Reconsideration." Thesis Eleven 5/6 (1982): 32-58.

-. "The Postmodemity of Art: Beyond Hegel and Adomo." Thesis Eleven 18/19 (1987): 114-123.

-. "The Charismatic Novel." Thesis Eleven 20 (1988): 129-137. -. "Intellectuals and Modernity: A Post-Modem Perspective." Thesis Eleven 24 (1989): 142-

149. -. "The Historikerstreit: The Self-Understanding of the Federal Republic and the Self-

Understanding of a Generation: Jiirgen Habermas and Gunter Grass." Thesis Eleven 30 (1991): 33-55.

"Aura and Aesthetics of Nature." Thesis Eleven 36 (1993): 127-137. "Democracy and Culture: The Janus Face of the Postmodern in Ferenc Feher's 'Writings

on Aesthetics'." Thesis Eleven 42 (1995): 41-51. "Crowds and Power or the Natural History of Modernity: Horkheimer, Adomo, Canetti,

Arendt." Thesis Eleven 45 (1996): 39-68. "Georg Simmel's Philosophy of Money: Reflections on the Relation Between Philosophy

and History." Thesis Eleven 44 (1996): 12-27. "Paradox Preserved: From Ontology to Autology. Reflections on Niklas Luhmann's 'The

Art of Society'." Thesis Eleven 51 (1997): 53-74. "Politics and Economy: A Gloss." Thesis Eleven 53 (1998): 11-13. "Art and Myth: Adomo and Heidegger." Thesis Eleven 58 (1999): 19-34. "Between Home and World: Agnes Heller's 'The Concept of the Beautiful'." Thesis Eleven

59 (1999): 95-101. "Narratives of Modemization: The Student Movement and Social and Cultural Change in

West Germany." Thesis Eleven 63 (2000): 38-52. "Illusion Only Is Sacred: From the Culture Industry to the Aesthetic Economy." Thesis

Eleven 73 (2003): 83-95. "Towards a Genealogy and Typology of Spectacle: Some Comments on Debord." Thesis

Eleven 75 (2003): 54-68.

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I. Beobachtungskonzepte

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Zu Funktion und Form der Kunst

Dirk Baecker

I. Kommunikation

Wir starten unsere Uberlegungen mit einer einfachen These, die allerdings immer noch verwundert, well man ihren theoretischen Hintergrund nicht zu teilen gewohnt ist: Die Kunst ist ein soziales System, das in der Gesellschaft auf ausgezeichnete Art und Weise die Funk­tion wahmimmt, sich an die Wahmehmung psychischer Systeme (oder Bewusstseinssysteme) zu wenden (Luhmann 1995a; Baecker 1996, 2004). Den theoretischen Hintergrund ftir diese These liefem systemtheoretische und kognitionswissenschaftliche Uberlegungen, die mit der Vermutung arbeiten, dass soziale Systeme (Kommunikation) und psychische Systeme (Be-wusstsein) ahnlich wie Organismen und neuronale Systeme (Gehim, Nervensystem, Immun-system) als operational geschlossene Systeme zu verstehen sind (Maturana et al. 1980; Luhmann 1984; Varela 1990). Das heiBt, sie nehmen zwar Energie und Materie, aber keiner-lei Information aus ihrer Umwelt auf; und sie geben zwar Energie und Materie, aber keinerlei Information an ihre Umwelt ab (von Foerster 2003). Sie produzieren alle Information, die sie im Zuge der Aufrechterhaltung ihrer Autopoiesis benotigen, selbst. Der Begriff der Infor­mation wird hierbei zum Begriff eines Beobachters, der die gelingende (oder misslingende) Auseinandersetzung eines Systems mit seiner Umwelt darauf bezieht, dass es dem System immer wieder gelingt (oder misslingt), jene Form anzunehmen, die sich in der Auseinander­setzung mit der Umwelt (und mit sich selbst in dieser Auseinandersetzung mit der Umwelt) bewahrt (Maturana 1986). Der Begriff der Information beschreibt die fremdreferentielle Zurechnung selbstreferentiell produzierter Formen der Reproduktion eines Systems durch einen Beobachter, der auch das System selber sein kann.

Niklas Luhmann hat aus diesen Uberlegungen eine Konsequenz gezogen, die Bedeutung fur die Formulierung jeder Sozialtheorie hat. Wenn es sich bewahren sollte, soziale Systeme als operational geschlossene Systeme zu beschreiben (Luhmann 1984), und dariiber hinaus psychische Systeme nicht, wie in der alteuropaischen Tradition, als Teile der Gesellschaft, sondem als Systeme eigenen Typs zu verstehen sind, die auf der Grundlage von Bewusstsein operieren (Luhmann 1985), dann muss man annehmen, dass Bewusstseinssysteme etwas kon-nen, was soziale Systeme nicht konnen, namlich wahmehmen (Luhmann 1995b). Menschen konnen dank ihres Korpers, ihres Gehims und ihres Bewusstseins (in wechselseitiger Verschrankung dieser Systeme, die ein Thema fur sich ist; vgl. Varela et al. 1992) horen und sehen, riechen und schmecken, tasten und fuhlen. Soziale Systeme konnen dies nicht; sie konnen nur kommunizieren, und dabei allerdings auch uber Wahmehmung kommunizieren. Der gesamte Bereich der Wahmehmung gehort in das sich etwas vorstellende Denken eines Bewusstseinssystems, das, wie bereits John Locke festgestellt hat, in der Bmst des Menschen verschlossen ist (Locke 2, 8 ff.). Daraus bezog die Asthetik des 18. Jahrhunderts ihre

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wichtigsten Impulse, denn sie musste nun herausfinden, wie den idiosynkratischen Wahr-nehmungen eines Individuums jene Form von Geschmacksurteilen gegeben werden kann, die im geselligen Verkehr miteinander nicht anstoBig, sondem mitteilungsfahig sind (Baum-garten; Kant; vgl. Baeumler; Graubner). Anders als die Gesellschaftstheorie, die bis heute Schwierigkeiten hat, mit der Idee der operationalen Geschlossenheit zu arbeiten und die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft so emst zu nehmen, wie sie dann emst zu nehmen ist, hat die Gesellschaft rasch begriffen, dass es diese Differenz ist, uber die Sozia-lisation am verlasslichsten sicher zu stellen ist. Sozialisation, so konnte Pierre Bourdieu im Sinne alter Geschmackslehren (Gracian; Krauss) zeigen, lauft am besten auf der Ebene der Unterstellung und Unterscheidung von Geschmacksurteilen; nichts vermag sicherer und anschlussfahiger zu dokumentieren, wer dazu gehort und was deswegen von ihm oder ihr zu erwarten ist, und wer nicht (Bourdieu).

Bewusstseinssysteme konnen wahmehmen, soziale Systeme konnen dies nicht. Es ist fast unmoglich herauszuarbeiten, was dies bedeutet, weil wir zu diesen Bewusstseinssystemen immer nur in einem einzigen, unserem eigenen Fall Zugang haben und weil es diesen Bewusstseinssystemen insgesamt unbenommen ist, noch die Codierung ihrer Wahmehmung durch gesellschaftliche Standards, gesellige Orientierungen und soziale Erwartungen zum Gegenstand entsprechend raffmierter und subtiler Wahmehmung zu machen (Serres). Damit sind wir vertraut, seit das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der Asthetik und nicht zufallig auch der deren Schrecken bannenden Aufklarung, als Jahrhundert des Sentiments, der Emp-fmdsamkeit, in die Geschichte eingegangen ist. Wir wollen hier versuchen, einem anderen Aspekt des Themas nachzugehen, namlich der Frage, wie es der Kommunikation gelingen kann, ein Defizit der Wahmehmung zu kompensieren, das die soziale Ordnung moglicher-weise mehr gefahrdet als die idiosynkratische Individualitat der inkommunikablen Wahr-nehmung. Im Umgang mit Letzterer, das zeigt bereits die Begrifflichkeit, sind hinreichende Vorkehmngen der Ausblendung und Abwertung getroffen worden: Wahmehmungen konnen jederzeit als „idiosynkratisch", „individueH" und „inkommunikaber' beschrieben werden, um ihnen so den Zugang zur Kommunikation zu verwehren. Man versteht dann nicht, was ein Individuum meint, und sieht auch keine Moglichkeit, dariiber zu sprechen. Nein, proble-matischer als dies ist eine andere Eigenschaft der Wahmehmung, auf die man in der Literatur, insbesondere bei Niklas Luhmann, hin und wieder stoBt, ohne dass sie je systematisch geklart worden zu sein scheint: Wahmehmung kann im Gegensatz zur Kommunikation nicht negiert werden. Im Gegensatz zur Kommunikation, die sich hierfiir auf die Sprache stutzt, konnen an Wahmehmungen weder Information und Mitteilung unterschieden noch dementsprechend Ja/Nein-Codiemngen vorgenommen werden (Luhmann 1997: 307). Im Gegensatz zu Satzen iiber die Welt sind Wahmehmungen bereits die Welt, die in ihnen wahrgenommen wird. Und im Gegensatz zu Mitteilungen, bei denen man die Wahl hat, ob man ihren Inhalt (ihre Information) und ihre Absicht annimmt oder ablehnt, das heifit mit Ja oder Nein beantwortet, ist eine Wahmehmung, was sie ist, ohne dass man auf die Idee kommen wiirde, Ja oder Nein zu ihr zu sagen. Es mag einem gefallen oder missfallen, was man sieht oder hort, riecht oder schmeckt, ertastet oder erfahlt, aber man kann nicht in Abrede stellen, dass man es sieht oder

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Zu Funktion und Form der Kunst 15

hort, riecht oder schmeckt, ertastet oder erfiihlt. Wahmehmung, so kann man mit Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson formulieren, ist „analog", Kommunikation „digital" verfasst (Watzlawick et al. 61 ff. und 96 ff.; siehe auch Bateson 411 ff.): Die digitale Kommunikation kann im Anschluss an mehr oder minder raffmierte Formen der Negation (Varga von Kibed) logisch bearbeitet, das heiBt in ihrerseits nachvollziehbare Formen der modifizierten und konditionierten Annahme und Ablehnung gebracht werden, analoge Wahr-nehmung hingegen hat die Struktur eines Beziehungsappells, dem man sich nur hingeben oder entziehen kann, ohne ihn grammatisch oder semantisch interpretieren zu konnen.

Deswegen gibt es den Verdacht der Tauschung, der Illusion oder auch der Manipulation als eine Art Generalverdacht, der darauf hinauslauft, dass spezifische Wahmehmungen zwar nicht zu bestreiten sind, sich jedoch einer trickreichen Vorspiegelung verdanken und nicht durch die Welt gedeckt sind. So kann man pauschal ablehnen, ohne im Detail begriinden zu miissen. Mit diesem Generalverdacht sind wir so umfassend vertraut, dass wir nicht mehr auf die Idee kommen, Wahmehmung fur unnegierbar zu halten. Wir sind immer schon in der Lage, Wahmehmung so zu behandeln, wie wir es in und von der Kommunikation gewohnt sind, namlich im Rahmen der Moglichkeit, Ja oder Nein zu dem zu sagen, was uns geboten wird. Aber damit, so zumindest die These der folgenden Uberlegungen, tauschen wir uns. Wir machen uns kommunikativ blind fur den Umstand, dass wir gegeniiber Wahmehmungen wehrlos sind. Obwohl wir, das heiBt unser Bewusstsein, unser Gehim, unser Korper, diese Wahmehmungen selber vollziehen miissen, widerfahren sie uns, ohne dass wir eine andere Chance hatten, als sie fiir Wahmehmungen von der Welt zu halten, die wir genau deswegen, aber anschlieBend, kritisch iiberpriifen miissen, um uns iiberlegen zu konnen, auf welche von ihnen wir uns, auch im Rahmen von Kommunikation, einlassen und verlassen konnen und auf welche nicht. Der Gmnd fiir diese Tauschung ist ein systemischer. Unser Bewusstsein ist es gewohnt, seine Wahmehmungen der Welt und eben nicht sich selbst zuzurechnen. Man konnte sogar mit Luhmann vermuten, dass die Funktion des Bewusstseins, etwa gegenuber dem Korper und dem Gehim, auf die es sich stiitzt, darin besteht, die Wahmehmungen des Organismus auf die Welt zu extemalisieren und dabei unsichtbar zu machen, dass es selbst der Trager und Produzent der Wahmehmung ist und dass es selbst fiir diese Extemalisiemng verantwortlich ist (Luhmann 1995: 13 f., 1990a: 19 ff.). Einer der wichtigsten Ansatzpunkte fiir die Kognitionswissenschaften in der Erforschung von Bewusstsein und Kommunikation besteht daher darin, wie es Karl Marx bereits gegeniiber dem Kapitalismus praktizierte, die Prozesse wieder sichtbar zu machen, die in ihren Resultaten verschwinden. Einstweilen ist der Phanomenologie dieser Sachverhalt allerdings vertrauter als den Kognitionswissenschaften; und dies vor allem dann, wenn sie sich auf Phanomene der Kunst bezieht (Merleau-Ponty 1964a, 1964b, 1966).

Wie also, so konnen wir im Anschluss an diesen theoriegesteuerten Ausgangspunkt fra-gen, richtet sich die Kunst an die Wahmehmung? Oder besser, wozu tut sie dies? Die An­nahme, die wir hier priifen woUen, liegt auf der Hand: Konnte es sein, dass die Kunst innerhalb der Gesellschaft, das heifit auf der Ebene von Kommunikation, damit beschaftigt ist, Wahmehmungssachverhalte zu praparieren, an denen die an Kunst interessierten Bewusst-

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seinssysteme (aber unwillkurlich, das heiBt als Ergebnis ihrer Teilhabe an Gesellschaft, auch alle anderen) lemen, uben und iiberpnifen konnen, wann und wie methodisch ebenso wie inhaltlich Wahmehmungen nicht iiber den Weg zu trauen ist? 1st die Kunst als ein soziales System zu verstehen, dessen gesellschaftliche Funktion darin besteht, das Negationsdefizit von Wahmehmung kommunikativ zu kompensieren? Und wenn ja, wie macht sie das?

11. Wahrnehmung

Wir setzen mit einer etwas anders gelagerten Uberlegung noch einmal neu an. Die Gesell­schaft ist, worauf zu selten geachtet wird, nicht zuletzt auch ein Gegenstand der Wahr­nehmung. Familien und Organisationen, Politik und Wirtschaft, Sport und Erziehung, Wissenschaft und Religion, Stadt und Land prasentieren sich auf eine Art und Weise der Wahmehmung, die es den Individuen ermoglicht, sich zu orientieren, Verhaltenserwartungen zu iiberpriifen sowie eigene Erwartungen zu adressieren und zu profilieren. In der Insekten-forschung hat man zur Beschreibung dieses Phanomens das Konzept der Stigmergie ent-wickelt (Grasse; Bonabeau et al.), das einen Modus der Verhaltenskoordination defmiert, der iiber die Variation der Umwelt lauft. Die Individuen orientieren sich nicht aneinander, in einem wie immer miihsamen Prozess der Interpretation und Korrektur von Absichten und Moglichkeiten, sondem sie verandem durch ihr eigenes Verhalten ihre und ihrer Artgenossen Umwelt, so dass es fur anschlieBendes Verhalten ausreicht, sich an dieser veranderten Umwelt zu orientieren. Aktivitaten hinterlassen Spuren (offensichtlich am verlasslichsten: Duftstoffe), die zum Anschluss oder zur Unterlassung weiterer, ahnlicher, dazu passender Aktivitaten einladen.

Dazu passt, dass Niklas Luhmann vorgeschlagen hat, den Begriff des Designs so auszuarbeiten, dass er die Koordination von Individuen in sozialen Systemen iiber das Praparieren von Wahmehmungssachverhalten beschreibt. Design ist ein symbiotischer, Kom-munikation auf Korperlichkeit beziehender Mechanismus, der es den an sozialen Systemen beteiligten Individuen ermoglicht, herauszufmden, mit welchen Verhaltenserwartungen sie es zu tun haben, und dies schnell, sicher, unauffallig und, fur uns besonders interessant, ohne die Moglichkeit der Ruckfrage. Dies gilt fur Organisationen, die auf das Design von Buros, Maschinen, Kleidung, Gesten und Sprachfloskeln zuriickgreifen, um „dem System bei alien extravaganten Generalisierungen sozusagen Bodenhaftung [zu] garantieren" (Luhmann 2000: 148; vgl. Baecker 2003). Das gilt aber auch fur alle anderen sozialen Systeme inklusive der Gesellschaft, die in ihren verschiedenen Fassungen als modeme Gesellschaft, Arbeits-gesellschaft, Hochkultur, biirokratische Herrschaft, Konsumgesellschaft, Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, Wissensgesellschaft und so weiter nicht iiberzeugen und binden konnte, wenn sie nicht zu den jeweiligen Selbstbeschreibungen jeweils passende Wahmehmungssachverhalte fmden und pflegen wiirde: zwischen Ornament und Sachlichkeit oszillierende Architekturen ftir die modeme Gesellschaft, Arbeitskleidung und Freizeitkleidung ftir die Arbeitsgesellschaft, Opemhauser und Schauspielhauser ftir die Hochkultur, Verwaltungsbauten und Beamtenmentalitaten ftir die biirokratische Herrschaft, Werbung und Einkaufsflaniermeilen ftir die Konsumgesellschaft, Diskussionen iiber ver-

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schmutzte Luft, Boden und Gewasser fiir die Risikogesellschaft, Nachrichtensendungen und Computerterminals fur die Informationsgesellschaft, das freundliche Zuvorkommen der Dienstleister fiir die Dienstleistungsgesellschaft, Datenbanken fur die Wissensgesellschaft und so weiter.

Wir sind es gewohnt, die Selbstbeschreibung der Gesellschaft, einer Organisation, einer Schule, eines Theaters ebenso schnell wie unbemerkt an ihrem Design zu uberpriifen und entsprechend zu korrigieren, wenn uns andere Wahmehmungssachverhalte auffallen, die mit dieser Selbstbeschreibung nicht iibereinstimmen. So manch eine Revolution einer Organisa-tionskultur nahm ihren Ausgangspunkt davon, dass ein Abteilungsleiter seine Biirotiir offen liefi, sich andere Cartoons an die Wand hangte und andere Witze erzahlte (siehe ftir ein Beispiel Martin et al.). Mein Lieblingsbeispiel ist der Bereichsleiter eines groBen deutschen Untemehmens, der sich dessen Untemehmensleitlinien durchgerissen, aber golden gerahmt iiber den Schreibtisch hing: Was seine Mitarbeiter wahmahmen, wenn sie dies sahen, ist nahezu nicht in Worte zu fassen. (Tatsachlich scheiterte der Versuch einer Gruppe von Stu-denten unter meiner Leitung, dem Untemehmen zu erklaren, dass seine Untemehmenskultur nur wirkt, weil sie nicht wirkt, das heiBt, weil es im Untemehmen selbstverstandlich wird, an Absichten gemessen zu werden, die viel zu oft nicht eingelost werden. Der symbiotische Mechanismus Design wirkt eben nicht kausal, sondem kommunikativ, das heiBt iiber den Einbau und die Konditionierung von Freiheitsgraden.)

Allerorten staffiert sich die Gesellschaft mit Wahmehmungssachverhalten aus. Sie macht es hell und dunkel, laut und leise, feierlich und alltaglich, iiberraschend und beruhigend und bindet so die Individuen an die jeweiligen Kontexte, bevor diese auch nur begonnen haben, zu glauben, sie wurden sich an Kommunikation beteiligen. Sie zieht Grenzen, markiert Schwel-len, errichtet Totems und Tabus, um anzulocken und abzuschrecken (mit viel Material: Agnew). Die Gesellschaft kommuniziert, was Individuen wahmehmen, doch die Individuen schlieBen nicht auf Kommunikation, sondem halten sich an die Wahmehmung. Nur so ist es verstandlich zu machen, dass die Gesellschaft umgekehrt auch kommunizieren kann, welche Wahmehmungen nicht wahrzunehmen sind, so dass die Individuen etwas erleben und er-fahren, was anschlieBend nicht als Wahmehmungssachverhalt thematisiert wird und keinerlei kommunikativen Anschluss fmdet (siehe fur ein Beispiel Sebald). Das Design einer Gesell­schaft ermutigt bestimmte Wahmehmungen und entmutigt andere; und setzt damit Zeichen, woniber mit Aussicht auf Verstandnis und Erfolg (inklusive der damit einhergehenden Selbst-darstellung) kommuniziert werden kann und woruber nicht.

Fur unsere Uberlegungen ist jetzt wichtig, dass wir im laufenden Prozess der Gesellschaft diese Kommunikation von Wahmehmung, das Binden der Individuen uber optische und akus-tische, olfaktorische und haptische Eindriicke, die ihnen klar machen, womit sie es jeweils zu tun haben, normalerweise nicht wahmehmen. Statt dessen sind wir es gewohnt, uns an die Wahmehmung zu halten, um uns einer Wirklichkeit zu vergewissem, die in den Kommuni-kationen der Gesellschaft allzu oft nur allzu verzerrt gesehen, akzeptiert und gewiirdigt wird. Genau hier springt die Kunst ein. Die Kunst kommuniziert die Kommunikation von Wahr-nehmungen so, dass man lemt, Wahmehmungen auf Kommunikation zuruckzubuchstabieren,

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und damit fahig wird, auch zu Wahmehmungen, und dies unter Bezug auf ihre Kommuni-kation, Ja und Nein zu sagen.

Um diese These diskutieren und iiberpriifen zu konnen, ist jedoch zunachst darauf ein-zugehen, dass die Kunst, als ein soziales System der Gesellschaft wie andere auch, zunachst einmal dasselbe macht wie die Gesellschaft. Bevor sie die Kommunikation von Wahr-nehmungen kommuniziert, kommuniziert sie Wahmehmungen. Auch sie staffiert die Welt und ihre Gesellschaft mit Wahmehmungssachverhalten aus, die nur die eine Aufgabe haben, klar zu machen, dass man es mit Kunst zu tun hat. Auch sie entwirft ein Design, das als ein symbiotischer Mechanismus wirkt, der es Individuen erleichtert, und dies ebenso unwill-kiirlich (also verdachtig) wie das Design anderer Systeme auch, an die Kunst kommuni-kativen Anschluss zu finden, sich mit ihren sozialen Moglichkeiten vertraut zu machen und Orientierungen einzuiiben, die in der Kunst und im Umgang mit der Kunst als angemessen gelten. Ateliers und Galerien, Museen und Konzerthauser, kiinstlerische Gesten und die Inszenierung idiosynkratischer (also attraktiver, ebenso kopierbarer wie ablehnbarer) Indivi-dualitat, schweigendes Betrachten und modifizierbare Beifallskundgebungen sind nicht nur allesamt Formen der Kommunikation von Kunst, sondem gehoren auch zum Design von Kunst, das etwas als Kunst wahmehmbar macht, bevor auch nur das erste Kunstwerk wahr-genommen wird (dessen Wahmehmung dann allerdings zum wahrgenommenen Kontext passen muss). Harrison C. White hat die Vermutung aufgestellt, dass manche Kunst im 19. Jahrhundert, aber das gilt sicherlich bis heute, gesellschaftlich nicht zuletzt wegen der mit ihr einhergehenden Inszenierungen von Ktinstlerpersonlichkeiten ftinktionierte und akzeptiert wurde; denn die Gesellschaft ist immer wieder auf der Suche nach neuen Individualitats-mustem und konzediert der Kunst, einem sozial ebenso auffallenden wie relativ leicht zu isolierenden Bereich der Gesellschaft, das Ausprobieren interessanter Moglichkeiten (White).

Mit anderen Worten, wenn es um die Kommunikation von Wahmehmung geht, ist die Kunst zunachst einmal selbst gemeint, gleichsam als ein Omament der Gesellschaft, das seine eigene stigmergetische Orientiemngskraft hat. Das gilt auf der Ebene ihres eigenen Designs mithilfe ihrer Kontexte, der Architektur ihrer Institutionen und des Habitus' ihrer Vertreter; das gilt jedoch auch fiir ihre Werke, das heiBt fiir Musik und Literatur, Theater und Tanz, Malerei und Plastik. Sie machen die Gesellschaft horbar und lesbar, sichtbar und sptirbar; und dazu gehort ebenso viel Kunst wie Kunsthandwerk, ebenso viel Schones wie Erhabenes, ebenso viel Kitsch wie camp, ebenso viel Populares wie Elitares. Es gibt ein Handwerk der Kunst, und es gibt ein Ausschmucken der Welt mit Kunstwerken, die sich beide auf die Kunst nur beziehen, weil sie relativ leicht zuganglich jene Wahmehmungssachverhalte liefert, die in der Gesellschaft jenen omamentalen Wert gewinnen konnen, der allerdings iiber sonstiges Design immerhin insoweit hinausfiihrt, als er eine Absicht erkennen lasst. Ein Kunstwerk kommuniziert immer mindestens eine Absicht der Kommunikation. Man kann es nicht hinstellen, aufhangen, abspielen oder sonst wie geschehen lassen, ohne damit unbestreitbar zu machen, dass kommuniziert worden ist, inklusive der Dokumentation einer Mitteilungsabsicht und eines Informationsgehalts.

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Die Kunst wandelt damit gesellschaftlich auf einem schmalen Grat. Zum einen spielt sie das Spiel der Gesellschaft mit, indem sie iiber ihr eigenes Design, aber auch tiber ihre Kunst-werke den symbiotischen Mechanismus bedient, auf den die Gesellschaft zur Bindung von Korper und Bewusstsein der Individuen angewiesen ist, mit all jenen Nuancierungen und „feinen Unterschieden", die es der Gesellschaft insgesamt und ihren Teilbereichen ermog-lichen, Inklusionen und Exklusionen zu praktizieren. Zum anderen ist sie aber auch zu diesem einverstandenen Spiel in der Gesellschaft nur in der Lage, wenn sie sich andererseits als Kunst versteht und das heiBt mindestens, die Kommunikation von Wahmehmung mit Absicht zu betreiben.

Aber selbstverstandlich gentigt das nicht, denn die Absicht der Kommunikation von Wahmehmung gibt es auch auBerhalb der Kunst. Schildem aller Art, die auf Verkehrsregeln, Einkaufsmoglichkeiten, Reiseziele und sonstige Orientierungen im Raum verweisen, ist die Absicht der Kommunikation von Wahmehmung nicht nur nicht zu bestreiten, sondem sie wirken nur, wenn diese Absicht mitgelesen wird. Auch Hauserfassaden, Kleidung, Make-up und manchen, dann geme als „affektiert" bezeichneten Gesten steht die Absicht der Kommu­nikation von Wahmehmung auf die Stim geschrieben, ohne dass man deswegen dazu neigen wurde, sie mit Kunst zu verwechseln. Und nicht zuletzt die rasche Kommunikation der Not-wendigkeit von Aufmerksamkeit bei Gefahren oder auch bei Attraktionen greift auf Gesten und Laute zuriick, die die jeweilige Kommunikation durch Wahmehmungspraparate (auf-fallige Gesten, lautstarke Wammfe) unterstiitzen, die ebenfalls Absicht sind, ohne deswegen Kunst zu sein.

Die Absicht der Kunst kann also nicht nur auf die Kommunikation von Wahmehmung zielen, sondem muss daruber hinaus die Kommunikation der Kommunikation von Wahr-nehmung betreffen. Was ist damnter zu verstehen? Luhmann hatte festgestellt, dass Kunst im Medium der durchschauten Tauschung stattfmdet (Luhmann 1995a: 177 f.). Man bewundert die tauschend echt aussehenden Apfelsinen auf einem Gemalde, die gelungene Geste eines Schauspielers, die Schildemng einer nachempfmdbaren Empfmdung in einem Roman oder die Auslosung eines eigensinnigen Bewusstseinszustands durch eine Symphonic und beob-achtet zugleich, mehr oder minder genau und treffend, wie die jeweiligen Eindrucke hervor-gemfen werden. Kunst ist, so bereits der klassische Topos, nur Kunst, wenn sie gut gemacht ist, dies aber im Kunstwerk vergessen lasst, um dann erst, mit Kant, schon oder erhaben zu sein.

Um dieses Phanomen geht es uns. Kunst muss, um Kunst zu sein, kommunizieren, wie es zu bestimmten Wahmehmungseindriicken kommt. Jedes Kunstwerk oszilliert daher kommu-nikativ zwischen Kommunikation und Wahmehmung; und die entscheidende Frage fiir unsere Uberlegungen lautet, mit welcher gesellschaftlichen Funktion sie dies tut und auf welche soziale Form sie sich dabei stiitzt.

III. Asthetik

Die Funktion der Kunst besteht darin, Wahmehmung kommunikativ mit Negations-potential auszustatten. Wer ein Bild sieht, eine Sonate hort, die Inszeniemng eines Theater-

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stticks erlebt oder einen Roman liest, kann nicht nur zum Bild, zur Sonate, zum Theaterstiick Oder zum Roman Nein sagen, sondem auch zu dem, was jeweils als Wahmehmungsinhalt vermittelt wird, und dies, obwohl und weil die Wahmehmung selber bereits geschehen ist und nicht mehr bestritten werden kann. Die Formen, in denen die Kunst diese Funktion erfiillt, orientieren sich an der Beobachtung der Verteilung gesellschaftlich allzu wahrscheinlicher Jas und allzu unwahrscheinlicher Neins. Wo das Ja zur Wahmehmung zu wahrscheinlich wird, engagiert sich die Kunst.

Zunachst einmal ist diese Aussage jedoch denkbar kontraintuitiv. Geht es der Kunst nicht gerade im Gegenteil darum, Schones und Erhabenes auf eine Art und Weise vorzustellen und darzustellen, dass dem kommunikativ immer allzu nahe liegenden Nein Einhalt geboten wird und affirmative Bewunderung an seine Stelle treten kann? Will Kunst nicht gerade das Vollkommene und Gelungene, das nicht mehr Bezweifelbare an die Stelle des Unvoll-kommenen und Misslungenen, des immer Bezweifelbaren setzen? Ja natiirlich, aber wie gelingt ihr das? Worauf ich den Blick lenken mochte, ist das Phanomen, dass schon sehr viel passiert sein muss und dass das, was da passiert ist, vielleicht das gesellschaftlich Ent-scheidende ist, wenn ein Kunstwerk fur gelungen und vollkommen gehalten wird.

Wenn man sich anschaut, worum es der Asthetik von Aristoteles' Poetik uber Schillers Briefe und Heideggers Ursprung des Kunstwerks bis zu Adomos kritischer Theorie und Derridas Philosophic der Malerei geht, gewinnt man aus dem hier gewahlten Blickwinkel den Eindruck, dass die asthetische Urteilskraft des Werkes ebenso wie des Betrachters nicht in der Fahigkeit gesucht wird, zuzustimmen, zu loben und zu preisen, sondem darin, qualifiziert zu unterscheiden, selektiv abzulehnen und zuzustimmen und sich dafiir in einem individuell immer neu auszuhandelnden und sozial abzustimmenden Verfahren sowohl auf Vemunft und Verstand als auch auf Intuition und Imagination verlassen zu konnen (Roberts 1991). Im Zentmm des Interesses dieser Asthetiken stehen Begriffe wie Knoten (Aristoteles), Erziehung (Schiller), Riss (Heidegger), das Nichtidentische (Adomo) und le sans (Derrida), die jeweils, so will mir scheinen, auf das Setzen einer Differenz hinauswollen, von der Aristoteles noch wusste, dass sie ohne die Auflosung eines Knotens und eine neue Verwicklung nicht zu haben ist.

In keinem Fall geht es um das Praparieren eines wahmehmenden Gemiits zum interesse-losen Wohlgefallen, wie Kants Beschreibung der Moglichkeitsbedingung eines Geschmacks-urteils zuweilen fehlinterpretiert wird. Kant hatte vom uninteressierten, jedoch in Gesellschaft interessanten Wohlgefallen ebenso wie Missfallen gesprochen (Kant: A7, A16), um den Blick vom Objekt und von dem, was Neigung und Begehren von diesem halten mag, abzulenken und stattdessen auf das Subjekt und dessen Fahigkeit zum Geschmacksurteil hinzulenken. Von einer „Kritik der Urteilskraft" konnte schlechterdings gar nicht die Rede sein, wenn es nicht damm ginge, auch dem Geschmacksurteil die Fahigkeit zur Differenziemng, zur An-nahme im Kontext der Ablehnung und zur Ablehnung im Kontext der Annahme, nahe zu legen. Daran andert auch der Umstand nichts, dass dieses Bemiihen der Asthetik Kants ver-mutlich weniger in einer Theorie der Kunst als vielmehr darin seine Begrundung fand, dass es damm ging, dem Subjekt jenen Gemeinsinn nahe zu bringen, der es ihm erlaubt, allzu subjek-

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tive und damit idiosynkratische, wenn nicht sogar peinliche Geschmacksurteile doch noch in eine Form zu bringen, die sich mitteilen lasst (Graubner). Im Gegenteil, genau damit wird einer der wichtigsten Griinde, mit Blick auf Kunstwerke die Affirmation und Negation von Wahmehmung asthetisch zu schulen, iiberhaupt erst auf den Punkt gebracht. Es kann ja nicht angehen, so hat Jean Paul in seiner „Vorschule der Asthetik" beobachtet, dem Individuum, nur weil ihm niemand in seine Wahmehmung reinreden kann, auch deren Kommunikation frei nach Lust und Laune anheim zu stellen. Seither sind Witz, Scharfsinn und Tiefsinn (Jean Paul 171 ff.) erforderlich, um es dem Individuum ebenso wie der Kommunikation zu er-lauben, zu moderieren, wie Geschmacks- und bald auch andere Urteile sowohl individuell wie gesellschaftlich zugerechnet werden konnen, ohne das eine mit dem anderen unzulassig zu vermengen.

Vielleicht gilt die Regel der zunachst schweigenden Betrachtung von Kunstwerken auch deswegen, namlich um dem hinschauenden, dem erlebenden, dem hinhorenden Subjekt zwischen Sprachlichem und Nicht-Sprachlichem eine „sprachliche Schichtung" (Theisen 187) zu ermoglichen, die immer zweierlei erschlieBt, die Beobachtung der von Kommunikation immer schon gebannten Wahmehmung und das Auseinanderdividieren und Variieren von Kommunikation und Wahmehmung. Wenn sich diese Vermutung bestatigen lasst, konnte man die Funktion der Kunst als eine asthetische Funktion im Wortsinn beschreiben, namlich als eine Funktion, die darauf zielt, die Differenz der Wahmehmung (griech. aisthesis; vgl. Barck et al.) so zu scharfen, dass sie kommunikativ bearbeitet werden kann, ohne deswegen der Kommunikation unterworfen werden zu miissen. Das miisste Schillers Interesse an asthe-tischer Erziehung zu einem „Spieltrieb", der zwischen „Formtrieb" und „sinnlichem Trieb" zu unterscheiden und beide aufeinander zu beziehen weifi (Schiller 233 f.), ebenso entgegen-kommen wie Heideggers Interesse an der Beobachtung eines Streits zwischen „offnender Welt" und „verschlieBender Erde" (Heidegger 1935/36: 33 ff) und Adomos Interesse an der „Kommunikation des Unkommunizierbaren" (Adomo 292).

Mit anderen Worten, zumindest die Asthetik geht mit uns davon aus, dass Kunst ohne die Fahigkeit zur differenzierten und differenzierenden Wahmehmung, zum abwagenden Um-gang mit Affirmation und Negation, keine Kunst ware. Das gilt fur die Betrachtung des einzelnen Kunstwerks wie ftir den Vergleich der Kunstwerke untereinander (Malraux). Und es gilt so weit, dass schlieBlich Affirmation und Negation selbst zum Gegenstand differen-zierter und differenzierender Wahmehmung werden, mit entsprechenden Ambiguitats-gewinnen hinsichtlich einer zu bejahenden Negation und zu vemeinenden Affirmation, wie Watzlawick, Beavin und Jackson an den ersten Zeilen der ersten Duineser Elegie von Rainer Maria Rilke deutlich machen (Watzlawick et al. 100):

Wer, wenn ich schriee, horte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nahme einer mich plotzlich ans Herz: ich verginge vor seinem starkeren Dasein. Denn das Schone ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen, und wir bewundem es so, weil es gelassen verschmaht, uns zu zerstoren, (Rilke 441)

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Dem entspricht die Definition des Schonen bei Paul Valery: „il est ce qui desespere" (Valery 637), denn auch hier oszilliert die Verzweiflung zwischen Affirmation und Negation, zwischen Wohlgefallen und Missfallen, zwischen Lust und Unlust, inklusive der prazise angelegten Schwierigkeit, wenn nicht Unmoglichkeit, zwischen dem, was hier kommuniziert wird, und dem, was hier wahrgenommen wird, zu unterscheiden, und der so gesetzten Auf-forderung, zur Beobachtung dieser Ununterscheidbarkeit die entsprechende Unterscheidung zu setzen.

David Roberts hat die Bedingung der Oszillation im Kunstwerk auf den Begriff einer mit dem Rahmen {frame) des Kunstwerks gesetzten Form {form) des Kunstwerks gebracht (Roberts 1993) und damit den meines Erachtens entscheidenden Punkt betont: Man kommt bei der Wahmehmung eines Kunstwerks nicht darum herum, den Umstand mit wahrzu-nehmen, dass es kommuniziert wird: Es hangt dort an der Wand, es wird da und da aufgefuhrt oder da und da abgedruckt; es fangt an und hort auch wieder auf, zeitlich wie raumlich; es hat diesen oder jenen Maler, Regisseur, Autor, Schauspieler und Komponisten und nicht zugleich auch andere, so sehr dies durch Gesten des „Prozesses" oder des „automatischen Schreibens" auch ins Diffuse gezogen werden kann; es wird so von mir, vor meinem biographischen Hintergrund wahrgenommen und muss ahnlich nicht auch von anderen wahrgenommen werden; und es hat diesen Preis und nicht einen anderen. Und natiirlich kann der Rahmen, das kommunikative setting eines Kunstwerks, seinerseits wahrgenommen werden, bis es nahezu unmoglich und genau deswegen notwendig wird, die Infektion des Kunstwerks durch seinen Rahmen und des Rahmens durch sein Kunstwerk als eigentlichen Ort einer Pragmatik und Strategic zu beobachten, die, je genauer sie gelingen, umso schwieriger auf bestimmte Adressen festzuschreiben sind (Genette; vgl. Stanitzek et al.). Erst daraus ergeben sich die Fragen danach, wie ein Kunstwerk von seiner Betrachtung und der Betrachter vom Kiinstler zu unterscheiden sind, wenn diese einen „hermeneutischen Zirkel" definieren, in dem die Rollen aller Beteiligten klar genug unterschieden sind, gerade weil sie nicht voneinander zu trennen sind (Heidegger 1 f; Gadamer 270 ff).

IV. Der Betrieb

Der hermeneutische Zirkel lasst sich je nach Bedarf, das heiBt abhangig von Kontext-bedingungen unterschiedlicher Art, als Tautologie oder als Paradoxic auslegen. Die tauto-logische Engfiihrung lauft auf den bekannten Satz hinaus, dass Kunst ist, was Kiinstler machen, und gibt damit eine willkommene Handhabe, all das, was die Kunst an Zumutungs-gehalt far Kommunikation und Wahmehmung enthalt, still zu stellen und weitgehend unschadlich zu machen. Dann ist es eben Kunst, was Ktinstler machen, und man weiB, wenn man das weil3, etwas mehr iiber eine Welt, in der offensichtlich auch die Kunst zu den vor-kommenden Sachverhalten gehort. Das ist nicht nichts, was man dann weiB. Auch die Tauto­logie lasst Kommunikation und Wahmehmung nicht unbeeindmckt. Aber es ist weit entfemt von all dem, was sich aus der Funktion der Kunst fur die Einfahmng eines Negations-potentials in die Wahmehmung nutzen lasst. Vielleicht kann man sagen, dass die Tautologie

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den Blick von der Kunst wieder zuruck auf die Gesellschaft lenkt, tiber die man dann weiB, dass auch die Kunst zu einer ihrer Moglichkeiten gehort.

Ganz anders die Auslegung des hermeneutischen Zirkels als Paradoxic. Hier lassen sich je nach Bedarf aus der Feststellung Funken schlagen, dass ein Kunstwerk ist, was es nicht ist, da es ohne seinen Betrachter oder ohne seinen Kiinstler nicht ware, was es ist, obwohl es evi-denterweisc nur ist, was es ist, wcil es ein Kunstwerk ist. Das sctzt den hermeneutischen Zirkel in Gang und lasst ihn kreisen, ohne dass erkennbar ware, welche Asymmetric wclchen Typs aus dem Dilemma, nicht wissen zu konnen, was was ist, auch wieder herausfuhrt. Verschiedene Versuche, Kunst zunachst auf die Mimesis der Natur, dann auf die Allegoric des Menschlichen und die Einfallskraft des Genies und schlicBlich auf ein Engagement flir die Gesellschaft zu verpflichten, mussten allesamt erleben, dass sic in den Zirkel wieder hinein-gczogen und mit Blick entweder auf die entstehenden Kunstwerke, die beteiligten Kiinstler Oder die interessant interesselosen Betrachter als Momente der Kunst und eben nicht der Natur, des Menschlichen, des Genies oder der Gesellschaft aufgedeckt wurden. Der Zirkel kennt nur fallweise Asymmetrien und auf Dauer nur sich selbst.

Am besten kommen Auftraggeber mit dieser Struktur des Zirkels zurande. Sic wissen, dass er sich nur dreht, wenn Kunstwerke entstehen, die einem Kiinstler zugerechnet werden konnen, der iiber den Auftraggeber hinaus sein Publikum sucht. Schon der Moment der Ent-stehung eines Kunstwerks ist ein Moment des Zirkels beziehungsweise der „Autopoiesis" der Kunst (Luhmann 1995a). Aber dass es zu diesem Moment kommt, ist fiir einen Moment ein-gebettet in cine Kausalstruktur der Umwelt, die die Kunst zwar nicht instruieren, wohl aber inhibieren kann, und aus dieser Moglichkeit der Inhibition auf einen Impuls der Desinhibition schliefit, der so weit geht, dass er sich eine Verantwortung fiir die daraufhin entstehende Kunst zuschreibt. Wir miissen das so verklausuliert formulieren, well wir anders nicht dem komplizierten, weil orthogonalen, das heifit wechselseitig unbestimmten Spiel von Kausalitat und Zirkularitat auf die Spur kommen. Man weil3 aus der Struktur der Autopoiesis eines sozialen Systems wie in unserem Fall der Kunst, dass diese sozialen Systeme wie einst Kants Subjekte kausale Durchgriffe der Umwelt auf die eigene Reproduktion abblocken und eigene, selbst gesetzte Ursachen an deren Stelle setzen. Der einzige kausale Durchgriff, der nach wie vor moglich ist, ist derjenige einer Zerstorung der Autopoiesis. Dieser jedoch, das ist hier unser Argument, kann im Umkehrschluss immerhin daraufhin ausgelegt werden, dass, wer zerstoren kann, dem Verzicht auf die Zerstorung auch eine positive, zwar nicht instruierende, aber ermoglichende RoUe zuschreiben kann. Das ist zwar falsch, da die Autopoiesis nur durch sich selbst ermoglicht werden kann und kein Auftraggeber wusste, was er tun sollte, um Kunst zu ermoglichen, wenn es die Kunst nicht schon gabe, auf die er sich beziehen muss, um wissen zu konnen, was er weiB. Aber die Illusion hilft, um fiir einen Moment den Zirkel zu asymmetrisieren und mit dem Blick auf den Auftraggeber einen Impuls zuzulassen, dem die Struktur eines Anfangs gegeben werden kann.

Wir formulieren das hier deswegen so umstandlich, weil wir dem Auftraggeber eine Rolle der Moderation des Zirkels zuschreiben wollen, die weder marginal noch zentral ist, sondem als Komplement der Funktion der Kunst beschrieben werden kann. Der Auftraggeber bezie-

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hungsweise, etwas allgemeiner, der Kunstbetrieb antworten mit eigenen Moglichkeiten der Affirmation und Negation auf die von der Kunst offerierten Verschrankungen von Affirma­tion und Negation in Kommunikation und Wahmehmung. Der Kunstbetrieb hangt, in den Worten Wolfgang Ullrichs, die Kunst laufend tiefer, weil er aus dieser Position heraus die Moglichkeit gewinnt, jenes subtile Spiel der Wechselwirkung zwischen asthetischen, poli-tischen, okonomischen, moralischen, religiosen und anderen Werten zu starten und auszu-nutzen, welches die Kunst mit dem Rest der Gesellschaft vemetzt und gleichsam die Grund-lage fur ihre gesellschaftliche Auswertung ist (Anna et al.).

Auf die mit dieser gesellschaftlichen Auswertung der Kunst zusammenhangende Zah-mung der Kunst zur Kultur kommen wir weiter unten zuruck. Wichtig ist uns hier die Beob-achtung, dass die Funktion der Kunst in der Gesellschaft von der Gesellschaft nicht un-moderiert hingenommen wird. Wir beobachten die Kunst im Netzwerk der Gesellschaft, um Schnittstellen identifizieren zu konnen, an denen der Zirkel des hermeneutischen Verstehens der Kunst, der zugleich ein Zirkel der autopoietischen Reproduktion der Kunst ist, wenn als deren basales Element die Kommunikation der Kunstwerke gilt (Luhmann 1995a), sowohl gebremst als auch in Schwung gesetzt werden kann. Der Betrieb ist eine Kategorie, die es erlaubt, zu beschreiben, dass an der Kunst nichts und alles Zufall ist. Denn der Betrieb liefert jene Strukturen, in die die Autopoiesis der Kunst eingebettet ist und dank derer sie jeweils ihre spezifische Realitat gewinnt. So wie Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela mit dem Blick auf autopoietische Systeme zwischen deren basaler Zirkularitat auf der einen Seite und den Strukturen, in denen der Zirkel jeweils Realitat gewinnt, auf der anderen Seite unterscheiden (Maturana et al. 1980), kann man auch fur die Kunst zwischen der basalen Zirkularitat der Kunstwerke auf der einen Seite und dem Kunstbetrieb als einer wichtigen Dimension der Strukturen, in denen die Kunst Realitat gewinnt, auf der anderen Seite unter­scheiden. Andere strukturelle Dimensionen betreffen die Einbettung der Kunstbetrachtung in andere, dazu komplementare oder auch substitutive Aktivitaten der Kunstbetrachter, die Ein­bettung der Kunstwerke in das Material, die Technik und die Themen, die in spezifischen Gesellschaften jeweils dem Zugriff der Kunst zur Verfiigung stehen, und nicht zuletzt die Ein­bettung der Kiinstler in Personlichkeitsstrukturen, iiber deren Attraktivitat es der Gesellschaft gelingt, Individuen fur die Austibung von Kunst zu rekrutieren und zugleich sicherzustellen, dass moderiert werden kann, was anschlieBend passiert.

Ich konzentriere mich hier auf den Betrieb. Man stellt sich diesen Betrieb am besten als eine aufierst sensible Schnittstelle zwischen der Kunst und der Gesellschaft vor, Uber die lau­fend darauf Einfluss genommen werden kann, was sich die Kunst von der Gesellschaft und diese von der Kunst bieten lasst. Und noch einmal, dieser Einfluss instruiert nicht, sondem er moderiert, was an genau den Stellen, auf die es ankommt, zu endlosen, also Informationen unterschiedlicher Art generierenden Debatten darUber fiihrt, was unter welchen Bedingungen einen nicht nur asthetischen, sondem auch politischen, okonomischen, religiosen, mora­lischen, padagogischen, wissenschaftlichen und so weiter Wert hat und was nicht und wie auf die Konstitution unterschiedlicher Werte Einfluss genommen werden kann und wie nicht. Kausalitaten konnen hier zwischen unterschiedlichen Auftraggebem, Kaufem, Galeristen,