Chrom, Koks und feine Leute

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Kriminalroman von Monika detering und Horst-Dieter Radke - Leseprobe

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Chrom, Koks und feine Leute

Monika DeteringHorst-Dieter Radke

edition oberkassel 2016

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Alle Rechte vorbehalten. Verlag: edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 DüsseldorfHerstellung: Books & Catalogues Ltd., Rotherham Umschlaggestaltung: unter Verwendung eines Fotos des Medienkompetenzzentrums der Stadt Mülheim an der Ruhr Lektorat: Klaus Söhnelgesetzt mit Adobe InDesign

© Monika Detering, Horst-Dieter Radke© edition oberkassel, 2016

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Das Werk inklusive aller Abbildungen ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheber-rechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und der Auto-ren unzulässig und strafbar.

1. Auflage 2016Printed in Europe

ISBN(Print): 978-3-95813-0609ISBN(Ebook): 978-3-95813-0616

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da-ten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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1.

Ein Zarettchen hat er wahrscheinlich auch nicht für mich. Wo mir doch danach ist. Der Kommissar, der Herr Poggel, ist zu

nix mehr zu gebrauchen, der sitzt da immer vor seinem Schreib-tisch wie ein Häufken Unglück. Oder läuft wie ein Dittken durchs Zimmer. Ich sehe gerade, seine Tür steht offen. Isser verliebt? Hat er andern Kummer? Er kann mich um Rat fragen. Ich kenn mich mitten Leben aus. Ich kenn mich mit den Männern aus. Und mit den Frauen. Ich weiß, wie die ticken. Und wenn er nur rumgeistert, löst er seine Fälle, wie er dat immer hochtrabend nennt, auch nicht. Ich muss mal mit Anna Puff sprechen. Der Poggel soll sein Büro nun freimachen, nach Feierabend regiere ich in diesem Haus.

Hermine Böcker, verheiratet, geschieden, verheiratet, ge-schieden und neuerdings verlobt, knallte den Papierkorb gegen den Drehstuhl. Kriegt man die Pimpernelle bei. Können Polizisten nicht lesen? Mach ich ihnen bald jede Woche neue Zettelkes und schreib ihnen auf, was nicht in die Papierkörbe gehört. Zum Beispiel Kotelettknochen. Deshalb heißt es auch Papierkorb und nicht Mülleimer. Letztens hatte der Heiner-mann seine Möffsocken und ein gammeliges Butterbrot darin entsorgt. Und gutes Butterbrotpapier dazu. So dicke brauchen auch Staatsanwälte nicht damit umgehen. Und – kann er dat alles nicht zu Haus erledigen?

Sie linste durch die Tür. Sitzt der Poggel da wie festgeklebt. Und die Stühle hat er auch nicht hochgestellt. Alles muss man selber machen.

Sie schleppte Eimer, Wischlappen, Kernseife, Besen und Kehrblech heran. Das Staubtuch guckte aus ihrer Kitteltasche. Hermine klopfte. »Herr Poggel, ich muss feudeln.«

Erst kam gar nichts. Sie klopfte erneut. »Herr Poggel?« Dann hörte sie: »Stehn Sie bitte nicht rum wie ein Schlossgespenst. Sie sehen, ich habe zu tun. Ich kann nicht einfach nach Hause gehen. Davon löst sich kein Fall.«

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Jedes Wort des Kommissars klang brummig mit einem sehr gereizten Unterton.

Hermine stellte ihre Devotionalien in seinem Büro ab. »’n Abend auch.«

Alfred gab Unverständliches von sich, sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch, legte die Stirn in düstere Falten und setzte sich wieder. Sein Stuhl ächzte. Er ärgerte sich selbst über seine miese Stimmung, aus der er seit Stunden nicht wie-der herauskam.

Ein Eimer schepperte. Hermine knallte mit dem Fuß die Tür zu. Alfred zuckte zusammen. »Geht’s auch leiser?«

Breitbeinig, auf ihren Schrubber gestützt, stand sie schon vor seinem Schreibtisch. »Ich beobachte Sie schon lange, seit mehr als einem Jahr machen Sie so ein Gesicht. Weiß schon, warum. Weil Sie nun einmal einen Mörder nicht finden kön-nen. Hab ich gehört, wie Sie mit Ihren Kollegen darüber ge-sprochen haben. Passiert jedem mal, dat wat nicht läuft, wie es laufen soll. Sonst haben Sie wohl nix zu tun, oder? Und nun hopp, ich will noch heute fertig werden. Nehmen Sie Ihren Stuhl, stellen Sie den oben auf Ihren Tisch, und setzen sich drauf. Ich reich Ihnen alle Akten, die hier rumfleddern. Dann kann ich vernünftig fegen und wischen.«

Alfred sprang auf, stützte sich mit den Fäusten auf dem Tisch ab.

»Frau Böcker! Sie haben eine ziemlich kesse Lippe, aber das geht nun wirklich zu weit. Was meinen Sie, wer Sie sind? Putz-frauen sind immer zu ersetzen. Auch, wenn Sie inzwischen schon einige Jahre im Polizeipräsidium tätig sind.«

»Regen Sie sich ab, Herr Kommissar. Ersetzen? Mich? Ver-gessen Sie nicht, dat keine so gut wie ich den Mund halten kann über alles, wat Sie hier hören tut. Achten Se genauer auf dat Fräulein Stankowski. Ich will nix gesacht haben. Herr Pog-gel, nun hopp auf den Schreibtisch!«

»Sie können mich mal!« Alfred zeigte einen Vogel.Hermine griff nach ihrem Besen, drehte ihn um, stocherte

damit durch die Luft und gefährlich nahe vor Alfreds Gesicht. »Herr Poggel, jetzt ist Schluss mit den Fisimatenten. Ein Poli-zist ist nur so sauber, wie sein Dienstzimmer sauber ist. Wen-

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ne gez nicht deinen Arsch mit Stuhl nach oben wuchtest, dann nehm ich dich aber mitten Besen auf Schlittenfahrt …«

Alfred guckte verdutzt und plötzlich stieg ein lange einge-sperrtes Lachen in ihm hoch. Er lachte, kicherte, schluchzte, dröhnte. »Wenn Sie schon jemanden auf Ihrem Besen mitneh-men wollen, dann nehmen Sie den Staatsanwalt.«

»Ne«, erwiderte Hermine. »Der ist schon auffen anderen Besen gestiegen. Da bleibt für mich nur der Oberkommissar.« Sie setzte ihr ›Hermine-Lachen‹ ein, das tief aus dem Bauch kommende Glucksen.

»Frau Böcker!«Nach dem Lachanfall packte er seine Aktentasche, ver-

schloss die Akten ›T. Schmitt‹ in einer Schublade. »Auf Wie-dersehen!«

Und zum ersten Mal seit vielen Monaten nahm er die Stra-ßen und Häuser wieder richtig wahr und genoss die leichte, angenehme Luft. Dann drängte sich Staatsanwalt Heinermann in seine Gedanken, auch der Polizeirat. Beide hatten ihm ge-raten, den ungeklärten Mordfall in Sachen Thekla Schmitt zu den Akten zu legen. Das mache ich nicht, und wenn ich in mei-ner Freizeit weitersuche. Das bin ich meiner Thekla mehr als schuldig. Aber den Kopf muss ich wieder freikriegen, sonst wird das nichts. Womöglich lande ich dann wirklich auf dem Besen der Putzfrau.

Noch einmal sah er sich vor dem Haus seiner Geliebten ste-hen, zusammen mit den Kollegen hineingehen, vor ihrer Lei-che stehen, fühlte noch einmal die Verzweiflung und die ange-staute Wut, weil er bis heute den Täter nicht dingfest machen konnte. Dann wischte er diese Erinnerungen mit einer weiten Handbewegung weg. Wird schon. Ich krieg ihn!

Vor der Schillerstraße 18, dem Haus, in dem er wohnte, sah er eine leere Konservendose und kickte sie vor sich her, dribbelte, bekam sie um die Ecke und schoss. Die Dose knallte nicht ins Tor, da war keins, aber gegen den schönen runden Busen seiner Zimmerwirtin, der Anna Puff, die gerade dabei war, den Hof zu fegen. Das reizte Alfred ungemein zum La-chen, und zum zweiten Mal an diesem Tag lachte er von Kopf bis Fuß, bis sich sein ganzer Körper schüttelte.

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Ohne Begrüßung nahm Anna den harten Straßenbesen hoch und kam damit drohend auf Alfred zu. An ihrem Ge-sichtsausdruck sah er, dass sie richtig sauer war und es ganz sicher heute Abend nichts Leckeres bei ihr geben würde. Muss ich mir Bütterkes schmieren. Oder ich gehe auswärts essen. Er drehte sich um und ging einfach wieder. Zweimal bin ich heute in den Gefahrenbereich eines Besens gekommen. Ich bin nicht abergläubisch, aber das bedeutet was.

*

Rosemarie Stankowski hatte noch vor ihrem Chef Poggel das gemeinsam genutzte Büro verlassen. Die Zusammenarbeit mit ihm war anstrengend geworden. Aber heute gab es einen Grund zur Vorfreude.

Staatsanwalt Heinrich Heinermann hatte ihr gesagt: »Ich bin heute Abend im ›Waldschlösschen‹, kannst vorbeikom-men und so tun, als träfen wir uns da zufällig. Weißt du, mehr ist in dieser Woche nicht drin … obwohl ich es gerne anders hätte. Wirklich, Röschen.«

Nicht mehr drin? Das wollen wir doch mal sehen. In ihrer Le-derkluft und mit der Ledermütze sah sie anders aus als die meisten Frauen in Mülheim. Und ein Motorrad hatte auch kaum eine. Nur die Männer. Sie blickte auf ihre hochgeschlos-sene Motorradjacke. Leder- und Fliegerjacken waren mo-dern. Dazu gehörten Zigaretten, lässig zwischen die Lippen gequetscht. Rosemarie hatte in dieser Kluft etliche Jugendli-che gesehen, am Wochenende vor dem Bergmann in Styrum, wenn sie daran vorbeifuhr.

Ihre Horex schaffte 130 km/h, und manchmal, wenn die Straßen leer waren, fuhr sie die aus. Jetzt sparte sie auf einen Seitenwagen. Aber bis es so weit war, würde es dauern. Sie bretterte in Richtung Saarn, zur Großenbaumer Straße. Dreh-te auf dem Parkplatz und stellte die Maschine ab. Zog die Le-dermütze runter und wuschelte ihr Haar locker. Wie immer, wenn sie mit ›ihrem‹ Staatsanwalt verabredet war, bekam sie ein Ziehen im Magen, das Freude verhieß und gleichzeitig eine große Anspannung verursachte. Da sitzt er ja. Im selben Mo-

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ment stellte Rosemarie fest, dass er nicht alleine war. Er hatte sie schon entdeckt und winkte ihr zu.

Langsam kam sie näher. Am liebsten wäre sie gerannt, aber nein, das musste er nicht sehen.

Er stand auf. »Schön, dass Sie auch hierherkommen. Hüb-sches Lokal, nicht wahr, Fräulein Stankowski?«

Rosemarie zuckte zusammen. Ihre Blicke gingen von ihrem heimlichen Geliebten zu der Frau, die neben ihm mit einem kleinen schwarzen, recht eleganten Hütchen saß. »Helene«, begann er, »darf ich dir eine Kollegin, die Kriminalhauptmeis-terin Stankowski vorstellen? Die Herren Poggel und Schnitt-ger stelle ich dir demnächst auch noch vor.«

Frau Heinermann reichte Rosemarie die Hand. Ein schneller Händedruck.

»Wollen Sie sich nicht einen Moment zu uns setzen?« Hei-nermann rückte zur anderen Seite einen Stuhl vor.

Rosemarie wäre am liebsten rasend schnell geflohen. Und das Kribbeln im Bauch verflog. Ein Ober mit dünnem Oberlip-penbärtchen fragte nach ihren Wünschen.

»Apfelsaft, bitte.« Was mach ich jetzt? Frau Heinermann fragte nach ihrer Arbeit und warum sie

zur Polizei gegangen sei.Rosemarie antwortete zurückhaltend, nippte an ihrem Saft

und vermied es, den Staatsanwalt, den Heinrich, anzusehen.Dieser erzählte von ihren zwei Jungen, und seine Frau frag-

te: »Sie haben wohl keine? Na, bei solch einem Beruf …«Rosemarie würgte an Gedanken. Die hat zwei Kinder und im-

mer noch eine klasse Figur. Überhaupt sieht sie fein aus, ganz anders als ich.

»Erwarten Sie Ihren Freund?«, fragte Helene Heinermann. »Ich musste raus. Immer nur das muffige Büro oder meine

Wohnung sehen, da krieg ich die Pimpernellen. Aber Sie se-hen, meine Arbeit verfolgt mich, zumindest, was das Treffen von Vorgesetzten anbelangt.« Rosemarie versuchte zu lachen. Frau Heinermann lachte mit. Es war ein herzliches, offenes Lachen. Da lockerte sich Rosemarie und ging sehr überlegt auf Helene ein, erzählte, fragte, und schon waren beide Frau-en ins Gespräch vertieft. Der Staatsanwalt fühlte sich isoliert

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und immer unwohler. Er überlegte, aufzustehen und sich um-zuschauen, als würde der Parkplatz ihn besonders interessie-ren. Aber schon erhob sich Helene und entschuldigte sich, sie müsse mal wohin, und schlenderte ins Lokal.

»Was soll das Gesäusel mit meiner Frau?«, flüsterte er. »Spinnst du? Geh lieber, bevor Helene aufmerksam wird. Sie hat für manches den sechsten Sinn …«

Rosemarie setzte ihr Eiswassergesicht auf.»Und - wie kommst du dazu, sie mitzunehmen? Davon war

nicht die Rede. Außerdem hast du mich angelogen. Deine Frau ist eine Nette. Ich könnte mich glatt mit ihr anfreunden.«

»Das wirst du nicht …« Heinermann hustete, es klang eher verlegen, Helene kam zurück.

»Schatz, lass uns heimfahren. Hier gehe ich auf keine Toilet-te. Da hole ich mir sonst was.«

Er stand auf und wirkte erleichtert.»Ich geh zahlen.«»Besuchen Sie uns in den nächsten Tagen, Fräulein Stan-

kowski. Sie sind wunderbar selbstbewusst. Mit Ihnen unter-halte ich mich gerne. Das ist was anderes als diese blassen Hausfrauen mit ihren Problemchen. Und ich möchte wissen, wie berufstätige Frauen leben.«

Der Staatsanwalt hob drohend seinen Zeigefinger hinter Helenes Rücken.

»Gerne, Frau Heinermann. Wir telefonieren. Es klappt be-stimmt einmal. Ich will auch zahlen und mache noch eine Runde mit meinem Motorrad. Wer weiß, wie das Wetter mor-gen ist.«

»Ach, da würde ich auch gerne einmal mitfahren. Heinrich … du zahlst bitte für Fräulein Stankowski mit?!«

»Danke«, sagte Rosemarie. »Auf Wiedersehen.« Sie musste grinsen, als sie zu ihrer Horex ging. Dort angekommen war ihr jedoch wieder zum Heulen. »Meine Regina«, flüsterte sie und streichelte den glänzenden Tank. Regina hieß das Modell, aber Rosemarie meinte eigentlich Heinermann, an den sie nur mit ››Heinrich‹ dachte. Diesen Mann konnte sie nicht ››Heini‹ nennen – dazu hatte er eine zu große Präsenz. Außerdem war er neben seiner Funktion als Liebhaber auch ihr Vorgesetz-

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ter – neben Alfred Poggel. Das miteinander zu kombinieren, schien ihr nicht immer einfach. Und dazu seine Frau, seine Fa-milie. Nichts ist einfach. Warum sollte es gerade bei mir sein?

Rosemarie strich sanft über den breiten ledernen Fahrersitz und den Rücksitz – auf dem er schon zwei Mal gesessen und die Ausfahrt gen Kettwig sehr genossen hatte.

Sie setzte ihre Lederkappe auf, zog den Reißverschluss der Bikerjacke hoch, kontrollierte, ob die Hosenbeine richtig in den Stiefeln steckten, und streifte rote Lederhandschuhe über – rot mussten sie sein, schließlich hatte ihr Gefährt rote Strei-fen am Tank und am Innenreifen.

Rosemarie drehte sich nicht um. Sie wollte nicht sehen, wie Heinrich mit seiner Helene und seinem 300 SL durch Mül-heim fuhr. Todschicker Wagen. Heinrich muss eine Menge ver-dienen. Geht mich nichts an. Mitfahren ist für mich leider nicht drin. Den Wagen kennt man hier und wenn ich nun daneben sitzen würde – die Mülheimer würden sich das Maul zerreißen. Und Poggel wüsste es dann auch.

Sie fuhr die Großenbaumer Straße in Richtung Südwesten, irgendwann über die Ruhr, genoss das Gleiten, die Geschmei-digkeit der Horex, kam an Witthausbusch vorbei – hier war sie letzte Woche mit Heinrich spazieren gegangen – und fuhr weiter zur Königsberger Straße, in der sie wohnte.

Neubau mit kleiner Einliegerwohnung. Das Haus gehörte der Familie Schröter. Seit einem halben Jahr wohnte Rosema-rie nun hier. Schröters Tochter hatte geheiratet, und Schröters Eltern, die sie inzwischen Gerda und Wilhelm nennen durfte, hatten noch nicht einmal etwas gegen ihr Motorrad.

Sie war glücklich mit den Räumen. Kochnische, mit einem Vorhang abgeteilt, Schlafraum, kleines Wohnzimmer. Das Bes-te von allem war das Badezimmer, denn in ihren vorherigen Wohnungen hatte es keins gegeben. Ich werde Heinrich einla-den. Nur Gerda Schröter, die sah und die hörte alles. Ich könnte sagen, wir haben eine Arbeitsbesprechung. Heinrich, so nah und so fern …

Angefangen hatte die Geschichte im letzten Herbst, als sie gleichzeitig mit Heinermann das Dienstgebäude verließ. Sie hatten länger gearbeitet, kamen ins Gespräch, und er lud sie

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ein, weil er auswärts essen musste. Seine Frau war auf einer Fortbildung. Da erzählte er zum ersten Mal, wie schwer er es bei seiner Frau hatte, die ihn nicht verstand und die keine Rücksicht auf seine schwere Verantwortung nahm. Gerade in Zeiten, in denen eine immense Arbeitslast auf ihm lag – seit dieser Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Braunschweig, im Remer-Prozess die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 rehabilitiert und den NS-Staat als einen Unrechtsstaat be-zeichnet hatte – wurden auch hier Stimmen laut, die Strafen für die Täter aus der Zeit vor fünfundvierzig forderten. So sehr er diesen Bauer auch bewunderte, war er doch nicht glücklich über die Aufgaben, die dadurch auf ihm lasteten. Und seine Frau unterstützte ihn gar nicht. Es sei durchaus in Ordnung und auch zu fördern, dass sie eine Aufgabe suchte und neuer-dings wieder als Krankenschwester in der Frauenklinik tätig sein wollte. Er sagte, dass er sich dann aber auch Sorgen um die Kinder machen müsse. Heinermanns Söhne sollen keine Schlüsselkinder werden. Heinrich hatte eine Frau, die ihn nicht verstand, das begriff Rosemarie. Sie hörte zu. Und das tat ihm gut. Er brauchte jemanden, der einen Mann wie ihn verstehen konnte. Rosemarie vermutete, dass seine Frau ihm keine Leidenschaft mehr entgegenbrachte. Das passierte mit Kindern und viel Arbeit. Da bleibt wenig übrig. Das wusste sie von anderen Frauen.

Im Witthausbusch küsste Heinrich sie zum ersten Mal. Ent-fachte in Rosemarie Begehren, Träume, eine noch latente Lei-denschaft. Immer wieder versuchten sie, einfach nur spazie-ren zu gehen – schließlich konnten Bekannte sie sehen. Und aus Furcht davor trafen sie sich abends, wenn die Parks an der Ruhr zumindest nicht von den üblichen Spaziergängern be-lebt waren. Liebespaare kümmerten sich nur um sich selbst. Sie spürten, dass ihre Küsse nicht mehr ausreichten. Aber – sich im Park, im Gras lieben? Als sie darüber sprachen, hat-te Heinrich die Vorstellung entschieden verneint. Nein. Bloß nicht. »Zum einen habe ich nachher Grasflecken auf der Hose. Zum anderen kommt so ein Köter, womöglich noch ein Sabber-mops, und leckt mich am Hintern. Rosie, das geht nicht. Fehlte dann nur noch, dass Nachbarn uns aufspüren, ich in meine Sa-

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chen springen muss. Nein. Das ist unter meiner – nein, unter unserer Würde. Ich spreche mal mit einem Freund.«

Glücklicher Zufall. Dieser Freund verreiste und hatte Hein-rich den Schlüssel zu seinem Haus geliehen. Haus war nicht die richtige Bezeichnung. Es war eine Villa in Styrum. Und Ro-semarie hatte noch gedacht, da kennt mich niemand, falls ich Leuten aus der Nachbarschaft begegne.

Erst war Heinrich reingegangen. Natürlich hatte er seinen auffälligen Mercedes zwei Straßen weiter geparkt. Später, so hatten sie es verabredet, war Rosemarie dazugekommen. Mit rasendem Herzklopfen war sie die Straße entlanggegangen, hatte das Gefühl gehabt, dass ihr jeder ihr Vorhaben ansehen würde. Es kam ihr niemand entgegen. Zumindest das erste Mal. Diese ersten Male! Verlegen hatten sie voreinander ge-standen. Heinrich hatte verstohlen auf seine Uhr geblickt. Das hatte Rosemarie nervös gemacht. Aber dann konnten sie sich umarmen, ausziehen, betrachteten erst verlegen ihre nackten Körper. Heinrich nahm ihr die Verlegenheit, indem er sie strei-chelte, ihren muskulösen schlanken Körper bewunderte, ihr Rotwerden aufregend fand, er ließ ihr Zeit, ihn anzuschauen. Er wusste, er brauchte sich nicht zu verstecken. Keinen Bauch, dezent behaarte Brust … Und dann begann Heinrich sich in Rosemaries Glühen, in ihren vollen runden Busen, ihren hüb-schen Popo zu verlieben und ebenso in ihre wohlgeformten Ohren, die Zähne, in ihr Lächeln. Dann war ihnen alles egal.

Später ging Rosemarie zu Fuß nach Hause, mit einem Glanz in den Augen, den sie mit niemandem teilen wollte.

Und heute, am Waldschlösschen, hatte sie gehofft, sie wür-den wieder zu jener Villa fahren. Das Haus war großartig, überwältigend, und sie dachte: Tausendundeine Nacht und ich bin die Prinzessin Scheherazade.

Und – was war? Jetzt kannte sie seine Frau, und Helene war weder ein Hausdrachen noch eine lieblose Schnepfe. Die Frau hatte Klasse. Warum machte Heinrich das?

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2.

Anna saß vor ihrem Küchentisch und grübelte, blickte sehnsüchtig auf die Flasche Verpoorten, die sie vom Kon-

sum mitgebracht hatte. Ich sollte für die Verstorbenen ein Op-fer bringen. Dem schon lange Verstorbenen. Für den Hugo, der einst mein Mann gewesen war. Für den Heinz und für jeden ein Schlücksen zum Gedenken. Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch, seufzte zum Gotterbarmen und schob die Flasche ein Stückchen weg. Ein oder zwei, gar drei Schlucke … Sie musste mit dem Eierlikör sparsam umgehen, wenn sie sich den künf-tig überhaupt noch leisten konnte.

Sie zog die Schublade unter dem Tisch auf, kramte, schob Gummiringe, Einkaufszettel, Staubflusen zur Seite und nahm sich den kleinen Schreibblock, grabbelte nach einem Bleistift, eher einem Stümmelken, und begann zu rechnen. Sie leckte an der Bleistiftspitze, kritzelte, strich durch, addierte, subtra-hierte und kam zu keinem befriedigenden Ergebnis.

»So geht dat nicht«, sagte sie laut und erschrak vor ihrer ei-genen Stimme.

»Dat bissken Geld, dat reicht hinten und vorne nicht.« Jetzt flüsterte sie. »Alles wird teurer. Weil die Löhne steigen. Aber meine Rente nicht, und mehr Geld kann ich von meinen Un-termietern auch nicht valangen. Höchstens von meinem Kom-missar. Poggel könnte schon ein bissken mehr zahlen. Aber wat mach ich, wenna dann geht? Son Untermieta gibbet nicht noch einmal. Nä. Ohne den Poggel im Haus wär wie eine Sup-pe ohne Salz.«

Sie schüttelte den Kopf.»Ich brauche dringend einen neuen Mantel. Einen mitten

modernen großen Kragen. Inner Stadt hab ich im Schaufens-ter einen Silberfuchs gesehen, so als Kragen auf dem alten Mantel, aber, zu teuer, viel zu teuer. Jedenfalls ist mein altes Schätzken hin, wirklich, verschlissen an den Kanten, und die Wolle ist abgeschabt. Den nächsten Winter übersteht der

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nicht mehr. Ich kann doch nicht wie inne Schwarzmarktzei-ten rumlaufen. Ich muss ans Sparbuch. Vasteh nicht, wie die Gablonski sich einen Goliath leisten kann. Klar, jetzt weiß ich auch, warum ich die selten sehe. Jückelt mitten Auto durch Mülheim. Und ich? Ich kann wie immer zu Fuß, mitten Rad oder mitter Straßenbahn.« Anna sah zur Decke und verkniff sich eine Träne.

»Dat wird nichts mitte eigene Pension oder eignen Hotel. Herr im Himmel - hilf!«

Da der Herr im Himmel sich nicht äußerte, nicht mal durch ein Räuspern, sah sie wieder auf ihren Zettel und addierte zum wiederholten Male zusammen: »Fünfundsiebzich Mark Witwenrente vonnen Hugo, dreiunddreißigfuffzich Untermie-te und Zimmer sauber halten, macht Hundertundachtfuffzich in Monat. Versicherungen, all dat. Wie gut, dass ich die Woh-nung geerbt habe, Miete zahlen ging schon gar nicht mehr. Dat Geld, wat mir Heinz hinterlassen hat, ist fast alle. Wat bleibt da noch?«

Sie lehnte sich zurück.»Ich muss mir Arbeit suchen«, stellte sie fest. »Oder ich

machs wie die Thekla vonnen Alfred!« Bei dem Gedanken kribbelte es ihr derart im Rücken, dass sie es gleich wieder ab-schüttelte. Trotzdem rasten Vorstellungen von einer Liebes-dienerin à la Anna Puff durch den Kopf. »Wäre ich von Adel, bekäme ich sicher eine Apanage, oder wie dat Dingn heißt. Bin aber nicht von Adel. Ich weiß genau, dat solche Madäm-ken auch innen Puff gearbeitet haben, wie hieß sie denn noch, ist auch egal, war sonne olle Erzherzogin. Luise? Dat allet hilft mir auch nicht weiter.« Anna stand auf und begann, ihren Ein-kauf wegzuräumen.

»Trotzdem. So eine Thekla-Tätigkeit bringt Geld. Da wäre immer wat übrig, wat ich sparen könnte. Tagsüber, wenn Herr Poggel bei seiner Polizei ist. Ärger will ich mit ihm nicht krie-gen, Gottchen nein. Und soon Lude, der mir dat sauer vadiente Geld wieder wegnimmt, brauch ich nicht. Aber wie mache ich das bekannt? Mit einem Schildchen, so aus Emaille? ››Stets zu Diensten. Aurelia, 1. Stock 14.00-18.00 Uhr.‹ Nee, besser nur bis fünf. Auf dem Speicher steht noch eine … oder, ich glaube,

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zwei Kammern leer. Klein, aber … Hm. Ein Bad bräuchte ich. Ich will nicht soon Kerl in meiner Privatwanne sitzen haben. Dat nu mal gar nicht. Aber Herr Poggel, der Alfred, würde fragen. Der würde mich löchern. Was sollte ich dem sagen? Nachher will er als Kunde … Um Himmels willen, nein. Und doll lügen liegt mir nicht. Und wenn ich mich als Aushilfsver-käuferin bei Schätzlein bewerbe? Ich hab keine Zeugnisse, nix hab ich. Ich sach denen, ich kann dat. Basta. Schaffnerin? Die brauchen immer welche. Dat wär auch wat. Da krieg ich so-gar ne Uniform. Die sind richtig schnieke. Inne Nachbarschaft wohnen zwei Krankenschwestern. Ob ich die mal frage? Aber dat kann ich nicht. Da bin ich zu alt für. Krankenpflege muss man richtich lernen. Und nur Pisspötte und Pfannen leeren – nä, ist auch nicht mein Dingens. Oder ich mache weiter auf selbstständig. Putzdienste, hier in der Schillerstraße, ich könnte auch in den Villen oben an der Ruhr fragen.

Oder – soll ich einen Mittagstisch anbieten? Dat kann ich bestimmt und grad so Männer in ihrer Mittagspause wollen wat Leckeres. Viele haben ihre Düppen dabei, ob die dat nicht mal leid sind? Jedenfalls, es muss wat passieren. Ein Zimmer könnt ich wieder vermieten – die liebe Diakonisse ist nun lei-der unter der Erde – oder Alfred mietet es. Trotzdem – reichen tut dat so nicht. Ich frag die Gablonski, die kennt welche, die putzen gehn. Oder die Hermine, die auffen Polizeipräsidium feudelt. Ist nicht schön, anderen den Dreck weg machen, und dann guckt sonne Gnädige mit allem Komfort zu und jagt mich durch ihre Räume.«

Mit diesen tausend Gedanken ging Anna ins Bad, schob ihre Wäsche, die auf einer Leine über der Wanne hing, zur Seite. »Dann hat Herr Poggel wieder Platz für seine Unterhosen.« Sie kämmte und schminkte sich, überlegte, zog die guten schwarzen Lederschuhe an und nahm den leichten Staubman-tel im Flur vom Haken. Wir haben Mittwoch. Heute Nachmittag ist Besuchstag. Folglich fahr ich nach Essen, ins Heim, die Ly-dia besuchen. Dat arme Kindchen. Wat für eine Geschichte aber auch! Letztens war Lydia so stickum, hatte blaue Flecken an den Oberarmen. Hab’s gesehen, als ich ihr das von mir gestrickte Pullöverken überzog. Da guckte sie schrecklich schamig, dass

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ich mich selbst schämte und nicht gefragt habe. Und immer dies Kreuzzeichenschlagen, dieses verdruckste Gucken – ist dat allet, wat die Nönnekes den Kindern beibringen?

*

Kurz vor der Kruppstraße stieg sie in die Straßenbahnlinie 18 und fuhr nach Essen-Haarzopf. Und wie jedes Mal graute es ihr vor diesen massigen Häusern, in denen Lydia unterge-bracht war und auch zur Schule ging. Vergitterte Fenster. Mäd-chen und Jungen spielten getrennt. Schliefen getrennt, lebten getrennt – Mädchen im Haus geradeaus, die Jungen im Haus ziemlich weit links. Dazwischen war ein Stück Land, auf dem Kartoffeln wuchsen.

Die wuchtige Schwere des Gebäudes senkte sich auf Annas Schultern. Wie immer meldete sie sich bei Schwester Gudrun an. Wie immer reichte die gedrungene Frau ihr die feuchte Hand, setzte ein Lächeln auf, das Anna nicht deuten konnte. Wie immer folgte ein »Gelobt sei Jesus Christus«.

Die Schwester ging mit Anna durch den kühlen, großen, blank gebohnerten Vorraum, trat zur Seite und öffnete ein Fenster: »Lydia Schmitt, herkommen! Dalli!«

Anna zuckte bei dem lauten und strengen Ruf zusammen.»Sie muss heute bei den Schweinen im Stall helfen. Ausmis-

ten. Aber gut« – Schwester Gudrun schaute auf ihre schlich-te schöne Armbanduhr. »Gehen Sie mit dem Mädchen ein Stündchen durch den Park. Und bitte nicht verwöhnen! Die Kinder sind bei uns nicht zum Verzärteln. Aus denen sollen mal anständige Menschen werden. Zucht und Ordnung haben noch keinem geschadet. Und wenn andere Kinder die Schoko-laden sehen, die Sie ihr immer mitbringen, gibt’s Ärger. Des-halb habe ich sie einkassiert.« Durch ihre Hände glitt flink der Rosenkranz aus braunen Holzperlen. »Momentan ist Lydias Bettnässerei etwas besser geworden. Aber eben nur etwas! So ein großes Mädchen, und dann das! Disziplin, Frau Puff, Disziplin ist alles.«

»Ich möchte sie endlich nächstes Wochenende zu mir nach Hause holen«, sagte Anna. »Darüber haben wir oft genug ge-

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sprochen. Dem Kind täte es mehr als gut, einmal rauszukom-men.«

»Wie meinen Sie das?«»Genau, wie ich es sage.«»Aber unser schönes ››Haus Morgensonne’ ist Lydias Zu-

hause.« Schwester Gudrun räusperte sich. »Bis sie richtig ar-beiten kann. Das wird nicht mehr allzu lange dauern. Aber wir halten die über Zehnjährigen auch hier schon an. Damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Und sehen Sie zu, dass Lydia, wenn Sie wieder fahren, nicht heult. Sonst müssen wir Ihre Besuche reduzieren. Wir haben uns verstanden?«

Anna zuckte es in den Füßen. Am liebsten hätte sie Schwes-ter Gudrun einen Tritt in den katholischen Hintern gegeben. Aber mit Schmackes. Doch sie musste sich zurückhalten, sonst würde man ihr weitere Besuche untersagen.

Die Tür öffnete sich. Lydia kam herein, angetan mit einem grauen faden Kleid, einer Schürze, einem Kopftuch und grü-nen Gummistiefeln. Ihr Haar war zu Zöpfen geflochten. Kurz blickte sie die Schwester an, bückte sich rasend schnell, zog die schmutzigen Stiefel aus, eilte hinaus und stellte sie vor die Tür. Mit der linken Hand hob sie eifrig kleine Schmutzbrocken vom Boden auf, steckte diese in die Schürzentasche und ging dann auf die Frauen zu.

Anna hätte beinahe losgeheult, als sie das beobachtete. Sie nahm das Kind in die Arme, zeigte ihr gutmütiges Strahlen und wandte sich an die Schwester: »Die Zeit vergeht so schnell. Komm, wir zwei gehen mal ein bissken durch den Park.«

Schwester Gudrun schlug ein Kreuzzeichen, raffte ihr langes Gewand hoch und ging schwerfällig die breite Treppe nach oben in den ersten Stock, wo die über zehnjährigen Mädchen schliefen.

Anna schaute ihr nachdenklich hinterher. Zu gern hätte sie den Schlafsaal gesehen. Gefragt hatte sie schon mal, aber ihr wurde gesagt: »Wenn nun jeder da rumtrampelt. Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen, die Kinder haben alles, was sie brauchen.«

Sie spazierten langsam durch das Gelände. Es gab einen rie-sigen Nutzgarten, Schweine und Hühner. Abseits davon stan-

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den Obstbäume und Eichen. Anna wusste, dass Lydia fast nie etwas sagte. Deshalb erzählte sie dem Kind von Mülheim, wie schon manches Mal, von ihrer Wohnung, von Alfred Poggel und auch von ihren Überlegungen, entweder Putzstellen an-zunehmen oder einen Mittagstisch anzubieten. Sie sahen drei andere Mädchen und zwei Jungen, die auch mit ihrem Besuch im Park spazierten.

Anna führte das Kind zu einer mächtigen Eiche, blieb ste-hen, sah sich um und zog aus ihrer riesigen Handtasche zwei Päckchen hervor, die sie in Butterbrotpapier gehüllt hatte. »Frischer Stuten mit Rosinen und selbst gemachter Marme-lade.« Lydia griff hastig danach, wickelte es aus, biss gierig in den hellen luftigen Kuchen, kaute und schluckte. »Nicht so schnell, sonst verschluckst du dich noch!« Was hat sie für ei-nen Hunger. Kriegen die nicht genug? »Arbeitest du öfter im Schweinestall?«

Lydia nickte. »Manchmal muss ich darin schlafen. Weil, weil …« Sie stockte.

»Wegen …?«Lydia nickte.»Das geht aber nicht. Ich kann’s nicht glauben. Nur wegen

dem Bettnässen? Lydia, hör mal, wenn du das schaffst, dass das nicht mehr passiert, dann kannste ein langes Wochenende zu mir. Und dann gehen wir zur Ruhr und fahren eine Runde mit dem Schiff. Ich hab’s mit Schwester Gudrun besprochen.« Anna sah auf ihre Uhr. »Schon wieder ist die Zeit um. Komm schnell, damit ich dich pünktlich abliefere. Nicht, dass du we-gen mir Ärger bekommst.«

Kurz bevor sie wieder am Haus waren, flüsterte Lydia: »Frau Puff, haben Sie ein Foto von meiner Mutter? Oder von meinem Vater?« Lydias Hand schloss sich fest um Annas.

*

Anna ging ein langes Stück zu Fuß. Sie schleppte das große Un-behagen, das sie jedes Mal im Haus ›Morgensonne‹‹ empfand, wieder einmal mit. Aber ich muss mich um Lydia kümmern. Sie ist ein Vermächtnis. Hätt ich nicht gedacht, dass ich mich der-

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art an ein Kind gewöhnen kann. Ich würd ihr gerne eine Hose kaufen. Hab’s mit der Schwester besprochen. Darf ich nicht. Alle Mädchen müssen dieselbe Kleidung tragen. Graues hässliches Kittelzeugs. Das Schätzken muss im Schweinestall schlafen? Ob das stimmt? Ich konnte noch nie mit den anderen Kindern spre-chen. Da passen die Nönnekes wie Schießhunde auf. Bloß keinen Kontakt herstellen. Wat sind sie zusammengezuckt, wat haben sie nachgefragt, als ich mich vorstellte. Nachgefragt sogar we-gen meines Nachnamens. Und wie sie mich in die Zange genom-men haben, warum ich nun ausgerechnet Lydia besuchen und unterstützen will. Bei dieser Schwester Oberin. Erst dachte ich, ganz gemütliches Frauchen mit einem breiten bäuerlichen Ge-sicht, aber nix da. Bei deren Gelulle bekam ich schon das Gefühl, dass die mich in ihrer Morgensonne einsperren wollten. Irngs-wie scheint mir das wie ein Gefängnis. Ich müsste nun ausgiebig mit meinem Kriminalen, dem Alfred, dem Poggel, über Lydia sprechen. Vielleicht, wenn das Kind hoffentlich nächstes oder übernächstes Wochenende zu mir kommt, kann er dat Püppken kennenlernen tun, dann fragt er bestimmt. Also werde ich ihm dat Ganze vorher verklickern. Lydias Geschichte. Da fällt er vom Sockel.

*

Alfred schob das Kissen weg. Ihm war das zu warm. Auf seiner nackten Brust wurde ein Aschenbecher abgestellt.

»Nimm den weg, Edith«, sagte er. »Ich mag das nicht.«»Schon gut. Heute tue ich alles für dich«, sagte Edith Müller

und nahm den Aschenbecher wieder fort, stellte ihn auf das Nachttischchen, zog noch einmal an der Zigarette und drückte sie dann im Glasschälchen aus.

»Du warst eben einmal richtig bei der Sache«, sagte sie an-erkennend. »Was ist los? Sonst bist du immer ziemlich passiv und …« Sie sprach nicht weiter, um ihn nicht zu verletzen. Es war schon vorgekommen, dass Alfred auf ihrer Brust gelegen und geheult hatte wie ein Kind. Von den Kolleginnen wurde sie schon beneidet, weil der Kommissar nur zu ihr kam. Wenn auch nur ab und zu. Aber er war eben auch pflegeleicht, kam

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nicht mit ekligen und gemeinen Wünschen wie manch ande-rer. Man munkelte schon, dass sie den Platz seiner alten Flam-me einnehmen würde, aber sie wusste zu gut, dass das nicht stimmte. Der kam, weil er Trost brauchte. Aber auch das setz-te Alfred Poggel über jeden anderen Freier.

»Ach, nichts ist los«, sagte Alfred. »Die Böcker, unsere Putz-frau in der Dienststelle, hat mich heute richtig zum Lachen gebracht. Das war nötig. Sonst wäre ich über kurz oder lang verrückt geworden.«

»Verstehe«, sagte Edith ein wenig enttäuscht. »Ich dachte schon, du hättest den …«

»Nein, leider nicht. Ist egal, wie lange es dauert, ich kriege den.«

»Und wenn es trotz allem dieser schmierige Sittenstrolch war?«

»Wer? Der Pfettenhauer? Nein, der hat ein Alibi. Ein todsi-cheres. Von der Polizei. Wir hatten den schon in Gewahrsam, als …«

Er mochte es nicht aussprechen. Alfred stand auf und griff nach seinen Sachen. Zuerst fingerte er das Portemonnaie aus der Hosentasche, öffnete es, zog einen Fünfzigmarkschein he-raus, beugte sich noch einmal zu Edith und legte den Fünfzi-ger zwischen ihre hübschen kleinen Brüste.

»Du weißt, dass du das bei uns nicht brauchst«, sagte sie. »Bei keiner von uns.«

»Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich weiß es zu schät-zen, dass ich bei euch quasi freien Eintritt habe, ehrlich. Aber es geht nicht.«

Er zog sich an.»So – unter uns: Ihr könntet aber noch mal überlegen, ob es

nicht damals einen auffälligen Freier gab.«»Haben wir schon alles gemacht. Der einzige war der Staats-

anwalt, der Goeke.«»Das war der schlimmste. Aber wenn ihr den wegdenkt,

vielleicht gab es einen anderen mit Auffälligkeiten. Einer mit unterdrückter Wut, Eifersucht? Einer, der eher still war und nicht viel hermachte …«

Edith überlegte und schüttelte den Kopf. »Ne, wirklich nicht.

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Wir würden’s dir sagen, auffällige Freier haben wir nicht gern auffe Matratze. Und blasse Unscheinbare, die haben wir na-türlich, aber … Ich weiß nicht.«

»Na dann, bis bald einmal wieder.« Alfred warf ihr einen Handkuss zu und verließ das Zimmer. Edith seufzte.

»Ach Poggel, wat könntest du es bei mir gut haben«, und meinte damit, dass sie es bei ihm gut haben könnte. Wenn er nur wollte. Für heute kann ich nicht mehr. Das bloß kein Kun-de kommt. Aber, das Geld, das Geld, ich brauche das Geld. Nein, heute will ich keinen mehr bei mir haben. Nachher womöglich den fetten Ungarn. Weiß nicht mal, wie der heißt. Alle sagen nur ›der Ungar‹ zu ihm. Der hat einen Geruch an sich, nä, darf ich nicht dran denken. Dem würd ich fast die Tat an Poggels Schätz-ken zutrauen, weil er manchmal mit seinem albernen Messer rumspielt und solche Augen kriegt, wenn er so weit ist. Solche Augen, ganz schwarz und böse werden sie dann, und anschlie-ßend heult er. Ist dat normal? Aber ich ahne schon, ich werde Poggel verlieren. Dabei zahlt er immer großzügig. Wenn der seinen Mörder für seine Thekla gefunden hat, braucht er mich nicht mehr. Irgendwann hat der eine ganz normale feste Freun-din. Vielleicht heiratet er auch – obwohl … vorstellen kann ich es mir nicht. Aba wat soll so eine wie ich sich ein Familienleben vorstellen? Dat tu ich mir nicht an. Dat ist alles vorbei. Dat war nie bei mir drin. Schön bin ich nicht und die jüngste auch nicht mehr. Gefällig bin ich, zuhören kann ich auch. Wer will denn im richtigen Leben so eine haben? Auf der Flucht gestrandet in ei-nem Kaff an der Nordsee, musste mit drei anderen in einer Kam-mer hausen, dann weiter, und plötzlich Mülheim. Und dann die Soldaten. Englische. Deutsche. Belgische. Heimat gefunden im ›Blauen Traum‹, wenn man derartige Träume Heimat nennen kann. Und nun helfe ich quasi mit bei Poggels Suche? Watten Witz aber auch!

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3.

Chef …« Damit versuchte Rosemarie, Kriminalkommissar Poggel von der Akte ›Thekla Schmitt‹ abzulenken. Er saß

wieder einmal darüber und dachte nach.»Was gibt’s?«»Nichts Neues.«»Dann lassen Sie mich in Ruhe!«»Ich meine … in Sachen ›Schmitt‹ gibt es nichts Neues, und

wenn Sie noch so lange über den alten Akten brüten. Wir hät-ten Sie gerne zurück. Hier, in der Realität.«

Alfred sah seine Mitarbeiterin an.»Wir haben keinen neuen Fall. Es ist besser, sich mit unge-

lösten Fällen zu beschäftigen. Oder nicht?«Zum Knuddeln ist der heute nicht. Immer, wenn er mich siezt,

wird er fies.»Man muss aber auch mal loslassen können, und sei es nur

für eine Weile.«»Alte Fälle klären sich nicht von alleine. Und mein Nachden-

ken hat auch mit der Realität zu tun. Meine Mitarbeiter könn-ten das übrigens auch machen. Wenn schon nicht mit dem Fall Schmitt, dann mit anderen noch offenen Geschichten. Wie sieht es zum Beispiel mit der Sache ›Oppermann‹‹ aus? Ge-löst?«

»Das war nur ein Mordversuch, bei dem noch nicht einmal klar ist, ob es überhaupt einer war. Möglicherweise nur eine Ungeschicklichkeit des vermeintlichen Opfers.«

»Eben. Es ist noch nicht einmal klar. Klären Sie, Fräulein Stankowski. Und sehen Sie zu, dass Sie ausgeschlafen sind. Sie wirken, sagen wir mal, derangiert. Mir soll das egal sein, aber wenn sich dieser Zustand auf die Arbeit auswirkt, ist mir das nicht egal.«

»Ich arbeite doch. Und wir haben in dieser Angelegenheit alles abgeklopft und wissen nicht, wo überhaupt noch neu an-zusetzen ist.«

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»Dann klopfen Sie noch mal. Das versuche ich ja in der Mordsache ›Schmitt‹ auch. Sie meinen, ich sei in dieser Ange-legenheit verbissen? Schon wahr. Aber ich weiß, dass ich den Täter finde.«

Er zeigte auf die gerade zugeklappte Schmitt-Akte. »Der Mörder läuft noch in Mülheim rum. Das behaupte ich jetzt. Und da stellt sich die Frage, ob er nicht erneut zuschlägt. Ich kriege ihn - es ist nur noch nicht so weit. Und danken Sie unse-rer Frau Böcker, dass ich heute nicht an die Decke gehe. Wenn die mich nicht gestern zum Lachen gebracht hätte … Gerade versuche ich, erneut alle Punkte abzuklopfen, ob wir oder ich nicht eine Kleinigkeit übersehen haben. Man übersieht immer etwas, wenn man nicht aufmerksam genug ist.« Alfred wurde nachdenklich.

Rosemarie guckte erstaunt. So viel hatte ihr Chef schon lan-ge nicht mehr zu der alten Geschichte gesagt.

Die Tür wurde aufgerissen, Jürgen Schnittger stand atemlos im Türrahmen, eine Hand noch an der Klinke.

»Es gibt eine Leiche. Einen Toten.« »Leiche ist immer tot«, murmelte Alfred. »Wo?«, fragte Rosemarie schnell, froh, aus der anstrengen-

den Diskussion mit dem Chef heraus zu sein. Gott sei Dank, endlich passiert wieder was. Und ich muss nicht mehr mit den anderen Kollegen die Einbrüche in Mülheim bearbeiten.

»In Styrum, Burgstraße.«Alfred stand auf und riss sich seine Jacke vom Garderoben-

haken.

*

Rosemarie konnte es nicht glauben. Sie fuhren wohin? Ihr wurde schlecht, noch bevor sie den Toten gesehen hatte. Sie schaute entgeistert auf die großzügige Einfahrt. Während Al-fred und Schnittger schon ausstiegen, starrte sie auf die Villa mit den Türmchen und Erkern. Sie hörte Schnittger sagen: »Hier möchte ich auch wohnen, so nah an der Ruhr.«

Rosemarie saß immer noch hinten im Dienstwagen. »Was ist? Biste festgeklebt?«, fragte Schnittger.

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Während die Männer zügig auf den Eingang mit der brei-ten schweren Eichentür zugingen, trottete Rosemarie hinter-her wie ein lahmer Hund. Sie traute sich nicht hinein. Hier?, dachte sie entsetzt. Hier gibt es einen Toten? Heinrich …? War er hier, vielleicht eingeladen? Hier wohnt Heinrichs Freund, der Fölsch. Hoffentlich ist der es. Und wenn es Heinrich ist? Wäre ich bloß nie mit Heinrich nach Styrum gefahren. Jetzt hänge ich drin. Schrecklich. Furchtbar. Sie überlegte weiter, endlich funktionierte ihr Kopf wieder. Nur die Sprache ihres Körpers verriet zumindest eine heftige Erschütterung. Heinrichs Mer-cedes stand nicht in der Einfahrt. Da gab ihr Hoffnung. Zu Fuß würde er nicht hergekommen sein.

»Was ist mit dir?«, fragte ihr Kollege. »Verträgst du schon die Ankündigung einer Leiche nicht mehr? Du bist blass.«

»Geht schon. Für einen Augenblick war mir übel. Möglicher-weise hatte die Leberwurst einen Stich, die ich auf dem Brot hatte. Vielleicht sollte ich Vegetarierin werden.«

»Essen die nicht nur Salat und Baumrinde? Als Polizistin kannst du dir das nicht erlauben. Du musst in Form bleiben. Besuch uns am Wochenende, meine Frau hat einen Sauerbra-ten eingelegt. Oder ich hole uns nachher Kuchen aus der Bä-ckerei Monning, aus der Oberhausener …«

»Kenne ich nicht«, sagte Rosemarie.»Natürlich, dies große graue Eckhaus. Du bist ja heute ko-

misch. Und nun komm, Poggel ist schon in der Villa.«Sie folgte ihm und bemühte sich, ruhig zu atmen.Er ist es nicht!, dachte sie erleichtert. Der Tote hing hinter

seinem Schreibtisch im Stuhl, aus dem Sitz schon halb heraus-gerutscht. Erbrochenes klebte auf seinem Hemd. Bis gerade eben hatte sie den Mann noch nie gesehen. Wie auch, denn immer, wenn sie mit Heinrich in dieser Villa ihre Liebesstünd-chen hatte, waren sie allein.

Poggel beugte sich über den Schreibtisch.»Vermutlich Kokain«, sagte er, als die beiden neben ihm

standen, und deutete auf das weiße Pulver, das in teilweise verwischten Linien auf dem Schreibtisch lag. »Mit Puderzu-cker wird er sich wohl nicht vergnügt haben.«

Schnittger feuchtete die Zeigefingerspitze an, nahm ein

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wenig des Pulvers auf und wollte es sich auf sein Zahnfleisch reiben. Er war vor seiner Zeit in Mülheim in Essen auch mit Rauschmitteldelikten betraut gewesen und bildete sich viel auf sein ›Fachwissen‹ ein. Rosemarie Stankowski hielt seinen Arm fest.

»Nicht! Nachher ist das was ganz anderes. Du spinnst wohl!«»Keine Angst«, lachte Jürgen. »Davon wird man nicht süch-

tig. Ist nur ein Test. Haben wir damals in Essen …«»Hier machst du das aber nicht. Du siehst, dass der Kokser

nicht mehr lebt. Wer weiß, warum.«»Warum? Eben – wegen dem Üblichen«, vermutete Jürgen

und wischte sich den Finger an der Hose ab. »Zu viel genom-men, vielleicht zu viel dazu gesoffen, und dann hat das Herz nicht mehr mitgespielt. Passiert öfters.«

Alfred hob den Hörer ab und wählte die Telefonnummer der Dienststelle. Die Spurensicherung musste her. Der Fundort musste abgesperrt werden.

»Wer machte eigentlich die Meldung?«, fragte Rosemarie.

*

»Frau Böcker?! Sie?«Alfred schaute überrascht auf die Frau, die steif im Wohn-

zimmer auf dem riesigen Ledersofa saß.»Herr Poggel, wat für eine Überraschung!« Sie zupfte an ih-

rem Kittel.»Was tun Sie hier?«»Putzen.« Die Frau sah ihn herausfordernd an. »Nicht, dass

Sie denken, ich pussier mit dem Herrn Fölsch …« »Das könnten Sie jetzt auch nicht mehr. Reicht Ihnen eigent-

lich die Arbeit bei uns auf dem Revier nicht?«Hermine Böcker stand auf und sah den Kriminalkommissar

streng an.»Von nix kommt nix. Wat denken Sie sich eigentlich, Herr

Kommissar? Das die paar Kröten für dreimal Putzen inne Wo-che auffen Revier fürs Leben genug is?«

»Was verdienen Sie denn bei uns?«»Reicht jedenfalls hinten und vorne nicht. Deshalb putze ich

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auch bei Familie Fölsch noch einmal inne Woche und drüben in Heißen bei einem Junggesellen am Wochenende. Dann geht et einigermaßen zusammen mitten Zuschuss von meinem Verlobten. Nur – wie lange wird er das machen? Wenn wir uns wieder entloben? Jedenfalls - große Sprünge kann ich nicht machen.«

»Und heute ist Ihr Putztag bei Fölschs?«Hermine nickte.»Sonst wär ich nicht hier. Als ich heute kam, hat ersma kei-

ner auf mein Klingeln geöffnet. Ich wollt gerad wieder gehn und hab nur aus Ärger anne Tür geklopft. Da geht die Tür auf. Ich rein, und weil ich nix gehört hab, sag ich laut Tach. Ich bins. Aba da wa immer noch nix zu hören. Na gut, denk ich, machse sauber. Vielleicht schlafen die Herrschaften noch. Hast nix zu verlieren, nur zu verdienen. Bestellt biste ja. Wie ich dann in dat Zimma von Herrn Fölsch komme, da sitzt der da in sain Stuhl wie en Häufken Elend. Und erst, als er sich gar nicht rührte, hab ich laut gerufen: ›Herr Fölsch?‹, sah auf der Schreibtischplatte dieses Zeugs, dachte noch, wat fürn Fickel, streut er Zucker rum, aber da wurde mir klar, datta abgedrip-pelt is. Ich zum Telefon un hab angerufen.«

»Sie waren das!«, stellte Alfred fest. Hoffentlich hat sie nicht an ihm oder drumherum gewischt.

»Ich war dat. Hab fast einen Schlag gekriegt.«»Und sonst ist niemand im Haus?«»Ich wüsste nicht – oder haben Sie wat gehört?«»Wer wohnt noch hier?«»Na, die Annelore, seine Holde, und die beiden Blagen. Hin-

ten in Garten is noch ne hübsche Kabache, da wohnt Kuni, die Schwester von der Annelore.«

»Personal?«»Wohnt nicht hier. Ich wohne wie das Kindermädchen, die

Köchin und der Gärtner auch zu Hause.«»Und wo sind die jetzt?«»Meinen Sie die Familie Fölsch? Meine Herrschaften bitten

nicht ihre Putze um Erlaubnis, wech zu fahren. Manchmal fährt die Frau, die Annelore mitte Kinder zu Omma un Oppa, und weil es bis unten anne Lorelei, wo die wohnen, noch’n

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gutes Stückchen ist, bleiben die auch mal länger da. An sol-chen Tagen muss dann dat Kindermädchen nicht da sein. Die Köchin kommt häufig, aber ab und zu ist Herr Fölsch auf Ge-schäftsessen, da sachta ihr Bescheid und dann bleibt sie zu Hause. Nur für sich und die Kinners kocht Frau Fölsch. Und der Gärtner kommt einmal die Woche.«

»Sie sind gut informiert«, sagte Alfred anerkennend.»Wat soll dat wieder heißen?«» … dass ich mich freue, weil Sie gut Bescheid wissen, und

ich nicht weiter fragen muss.«Hermine Böcker strahlte. Stolz sah sie aus.»Wenn Sie dat so meinen, Herr Kriminaloberhauptmann,

dann haben Sie natürlich Recht. Weiße, dat ist nämlich …«»Gut. Jetzt müssen wir weiterarbeiten. Die Spurensicherung

ist unterwegs, wir versuchen, die Verwandten zu erreichen. Aber Sie dürfen hier nicht mehr rumlaufen. Haben Sie die Lei-che angefasst?«

»Igitt, nein. Ich geh denn inne Küche, da gibt’s auch was zu tun. Einsperren wolln Sie mich nicht?«

Alfred lächelte. »Nein, noch nicht. Aber wir müssen Sie noch genauer befragen. Das gehört zum Prozedere. Und genau ge-nommen können wir sie gar nicht verhaften. Wer soll dann unsere Diensträume sauber machen?«

»Weiße, ne, dat hätte ich nicht von Ihnen gedacht, dat Sie mich so am ausnutzen tun sind. Denken nur annet saubere Büro, und wenn ich dann ma wat sach wegen de Papierkörbe, dann werd ich wieder angeschnauzt.« Frau Böcker holte ein Taschentuch hervor und tupfte an den Augen herum. Alfred ignorierte das.

»Sie kommen morgen eine halbe Stunde früher aufs Re-vier. Wir müssen Ihr Alibi überprüfen, Fräulein Stankowski schreibt das Protokoll, und schlussendlich setzen Sie Ihren Wilhelm darunter …«

»Wat setz ich?«»… Sie unterschreiben das Protokoll, und fertig.«»Un gez brauchen Sie mich nicht mehr?«»Nein.«»Dann kann ich ja mitten Putzen weitermachen.«

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»Wehe! Das geht nicht. Die Spurensicherung kann geputzte Räume nicht leiden. Unsere Beamten würden Ihnen den A…, den Dingens versohlen!«

*

»Scheint ziemlich offensichtlich zu sein, Chef. Dieser Fölsch hat sich ein bisschen zu viel in die Nase gezogen und wupps – ist es dann passiert.«

»Unfall?«, fragte Alfred.»Unfall«, bestätigte Schnittger. »Vielleicht ein Suizid?«»Oder Mord?«, fragte Rosemarie. »Bei Rauschmitteln ist al-

les möglich. Wenn auch eher in Amsterdam …«»Nicht nur dort«, fiel Schnittger ihr ins Wort. »Letztes Jahr

haben sie in Bayern eine Bande aufgetan, die mit dem Zeug gehandelt hat.«

»Wir sind in Mülheim und ich entdecke momentan keinen Anhaltspunkt für einen gewaltsamen Tod des Herrn Fölsch«, sagte Alfred mit Entschiedenheit.

»Sag ich doch.« Jürgen blickte seinen Chef an. »Auch in Mülheim macht Kokain euphorisch.« Wieder blick-

te Rosemarie zu dem Pulver und zu dem Toten. »Jemand, der das Zeug schnupft, bringt sich nicht um. Der bekommt höchs-tens depressive Phasen, wenn er nichts hat.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, erwiderte Alfred. Die nimmt sich mal wieder was raus! »Haben Sie das Zeug schon mal genommen?«

»Es liegt genügend da. Fölsch konnte sich das Zeug genüss-lich reinziehen. Wollte er sich umbringen, hätte er die ganze Ladung gekokst. Sehen Sie, größere Mengen kann der sich nicht reingezogen haben. Vielleicht handelt es sich nicht nur um Kokain. Denn es ist schon seltsam, es gibt nicht viele in Mülheim, die solche Rauschmittel nehmen. Nun gut. Außer-dem können wir eine Fremdeinwirkung nicht ausschließen, jedenfalls so lange nicht, bis der Pathologe ihn gründlich un-tersucht hat.«

»Fräulein Stankowski, wollen Sie damit andeuten, dass wir diesen Aufwand nur auf einen vagen Verdacht hin betreiben, also, auf die Theorie eines Mordes hin?«

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»Wir müssen genauer hinschauen, überprüfen, warten, was bei der Feststellung der Todesursache und der Leichen-schau rauskommt. Wir wissen nicht, wie lange Fölsch schon Rauschmittel genommen hat. Aber Pathologen sehen bei der Obduktion auch, inwieweit die Leber und das Herz dadurch angegriffen sind. Sie schauen so skeptisch, aber wir müssen Fremdeinwirkung ausschließen können, bevor wir den Toten als Unfall abtun.«

Alfred ärgerte sich über seine Kollegin, wollte sich aber kei-ne Blöße geben und ließ dies Thema ruhen.

»Ich höre gerade, dass die Beamten von der Spurensiche-rung kommen, wenn ich die Geräusche vorm Haus richtig deute. Wir sehen uns morgen früh. Vielleicht gibt es bis da-hin schon weitere Informationen. Als erste Zeugin kommt Frau Böcker. Sie beiden können auch Schluss machen, wenn Sie den Kollegen alles übergeben haben. Vorher aber sehen Sie sich im Garten das Häuschen an. Angeblich soll darin die Schwester von Frau Fölsch wohnen. Vielleicht hat diese was Ungewöhnliches gehört oder gesehen – falls sie da ist.«

Alfred drehte sich um und ging. Dass er momentan unzu-frieden war, zeigte er nicht.

*

»Häuschen? Das gefiele mir auch.« Schnittger stieß Rosemarie an.

»Ein Pavillon vom Feinsten mit vielen Fenstern. Ich meine, aus denen könnte man sehr vieles beobachten.«

»Könnte man.«»Wenn jemand neugierig ist.« Schnittger ging schneller.»Warte. Lass uns erst hier gucken.«»Gras. Blumen. Zwei Putten. Willst du die etwa eintüten?«»Werd nicht albern.« Rosemarie blickte ihren Kollegen stra-

fend an. Sie ließ ihn stehen, betrachtete ausgiebig die Fenster, durch die sie wegen der weißen schlichten Gardinen nicht in die dahinter liegenden Zimmer gucken konnte.

»Komm jetzt!« Er betrachtete das Klingelschild aus polier-tem Messing. ›K.‹ Mehr stand nicht darauf. »Sehr erhellend!«

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Rosemarie stellte sich neben ihn. »Wer auch immer hier wohnt – die Person weiß noch nichts von dem Toten.«

Sie hob den Klopfer – einen Schlangenkopf – an, da wurde von innen geöffnet. Im Türrahmen stand eine schmale Frau in einem weißen, bodenlangen Satin-Morgenmantel, in der Taille lässig gegürtet, am Busen klaffte der Mantel auf elegante Wei-se auseinander. Im Bruchteil einer Sekunde wanderte Jürgens Blick nach oben, hastig überging er den Brustansatz, verweilte einen Augenblick zu lang auf der glatten, leicht schimmernden Haut, bis er sich an das Gesicht wagte. Er wollte etwas sagen und konnte es nicht. Ihr Mund leuchtete in einem perfekten Rot, rot wie Klatschmohn, rot wie Verführung. Er sah hoch-stehende Wangenknochen, ein blasses Gesicht, umrahmt von einem gerade geschnittenen Pony, Haare in Schwarzbraun bis zur Mitte der Ohrläppchen. Türkisblaue Augen blickten ihn prüfend, aber auch ironisch und überlegen an.

»Die neuen Gärtner? Hat sich erledigt, auf Wiedersehen.«Blitzschnell trat Rosemarie vor und setzte einen Fuß zwi-

schen die Tür, stellte Schnittger und sich vor.»Ach. Ist drüben eingebrochen worden? Mein Schwager ist

manchmal recht nachlässig mit dem Abschließen.«»Wir müssen mit Ihnen reden«, begann Rosemarie wieder.»Das tun Sie bereits. Und nehmen Sie Ihren schmutzigen

Schuh aus der Tür.«Schnittger räusperte sich und blickte an der Frau vorbei:

»Sie sind Frau …?«»Kunigunde Strasser.«»Dürfen wir für einen Moment hereinkommen?«»Ziehen Sie erst die Schuhe aus.«Sofort bückte er sich und zerrte an den Schnürsenkeln. Ro-

semarie blieb stehen.Schnittger trat auf Socken herein.»Sie warten draußen?«, fragte Kunigunde Rosemarie. »Natürlich nicht.« Rosemarie machte Anstalten, erneut das

Haus zu betreten. Kunigunde stoppte sie mit ausgestrecktem Arm.

»Sie ziehen bitte die Schuhe aus. Bei mir liegen cremefarbe-ne Teppiche – ich möchte nicht, dass irgendwelche Leute mit

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ihrer Straßenscheiße in mein Haus kommen. Können Sie das respektieren?«

Rosemarie presste die Lippen zusammen. Jetzt erst recht nicht.

Schon wurde die Tür geschlossen.Drinnen ließ sich Schnittger das Verwandtschaftsverhält-

nis zu dem Verstorbenen noch einmal genau erklären, ehe er berichtete, dass ihr Schwager Eugen tot aufgefunden worden war. »Sehen Sie nach draußen. Da, rundum die Polizeiabsper-rung. Jetzt kommt gerade unser Polizeiarzt heraus. Der Herr da vorne, …«

»Der dünne Lange?«»Ja.«»Sie wollen mir sagen, der Eugen ist tot?«Jürgen beobachtete, wie Kunigundes Hände sich auf der üp-

pig runden Sessellehne verkrampften. Er schaffte es, ihr in die Augen zu blicken. Sein Adamsapfel

hüpfte. »Bitte«, begann er mit heiserer Stimme, »brauchen Sie einen Arzt? Ich meine, der Schock …?«

Sie schüttelte den Kopf. Das dunkle Haar wippte. »Hat Eu-gen zu viel geschnupft? Manchmal ist er übermütig … war es.«

Jürgen legte ihr vorsichtig seine Visitenkarte auf den Tisch, so vorsichtig, als könne die gleich explodieren. »Wir benöti-gen Ihre Aussage bei uns im Präsidium, Von-Bock-Straße 50, Zimmer 113. Morgen Nachmittag fünfzehn Uhr?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.« Kunigunde Strasser stand auf.

Jürgen auch. Er wollte sagen, dass sie kommen müsse; er wollte ihr die Hand reichen, aber die ihren steckten in den Ta-schen dieses glänzenden Morgenmantels. Er blickte noch kurz auf ihre Füße – sie war barfuß und die Nägel leuchteten in rotem Lack.

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