Clara Nr. 40, Linker Aufbruch zu Gerechtigkeit

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"clara" ist das Magazin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag. In der vierzigsten Ausgabe beschäftigen wir uns im Schwerpunkt mit den Forderungen nach einer radikal sozialen Wende in der Gesellschaftspolitik.

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Damit Wohnen bezahlbar bleibt.Ein Investitionsprogramm für den sozialen und gemeinnützigen

Wohnungsbau, Förderung gemeinnütziger Träger und öffentlicher

Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften, Belegungs-

bindung von Sozialwohnungen für Menschen mit niedrigem

Einkommen

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die herrschende neoliberale Politik hat die Kluft zwischen Arm und Reich weltweit verschärft. Noch nie gab es eine so starke Konzentration des Reichtums: 62 Menschen besitzen nach Angaben der Nichtregierungsorganisa-tion Oxfam so viel wie 3,5 Milliarden Menschen zusammen. Dieser Reichtum bedingt die extreme Armut von einer Milliarde Menschen, die von Hunger betroffen sind. Deshalb ist eigentlich nicht Armut, sondern Reichtum eine der größten Fluchtursachen. Die Vereinten Nationen haben der weltweiten sozialen Ungleichheit den Kampf angesagt mit ihrer Agenda 2030.

Dies gilt auch für Deutschland. In einem der reichsten Länder der Erde ist jedes siebte Kind von Armut betroffen. Das kam durch Anfragen der Fraktion DIE LINKE an die Öffentlichkeit. Das geht zu Lasten der Gesundheit und der Entwicklungschancen. Auch am anderen Ende der Alters pyramide sieht es nicht besser aus: Schon jetzt liegt die durch-schnittliche Rente unterhalb des Grundsicherungsniveaus, jeder zweite Rentner bekommt weniger als 750 Euro.

DIE LINKE fordert deshalb einen sozialen Aufbruch: weg mit dem Armutsgesetz Hartz IV, eine sanktionsfreie Grund-sicherung, ein soziales Wohnungsbau-programm, eine existenzsichernde Rente und genug Personal in Pflege und Gesundheit, finanziert durch konsequente Umverteilung. Die Kommunen brauchen endlich eine gute finanzielle Ausstattung, um allen Menschen, egal ob Rentnerin, Student, Geflüchtete, Alleinerziehende eine gute soziale Infrastruktur anzubieten. Wie DIE LINKE diese sozialen Fragen beantwortet, erläutert der Schwerpunkt dieser Ausgabe von clara.

Die Bundesregierung will viel Geld ausgeben, aber vor allem für die Aufrüs-tung der Bundeswehr: 130 Milliarden Euro sollen dafür in den kommenden Jahren zur Verfügung stehen, sie fehlen für die soziale Entwicklung. Diese Rückkehr zur Kalten-Krieg-Logik und neuen Aufrüstungsspirale will DIE LINKE stoppen. Hierzu schreibt der Publizist, Grimme-Preisträger und pazifistischer Friedensaktivist Jürgen Grässlin die Gastkolumne.

DIE LINKE steht gegen die anderen Parteien im Bundestag unbeirrt für eine konsequente Friedenspolitik, keines der 17 Bundeswehrmandate wurde von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE unterstützt. Aus gutem Grund: Die Interventionspolitik des Westens hat viele Länder destabilisiert und zerstört, so zum Beispiel Afghanistan. Millionen Menschen müssen vor Krieg und Gewalt fliehen. Deshalb gilt für uns: Frieden statt NATO!

An Frieden ist auch in der Türkei nicht zu denken. Während sich die beiden Journalisten Can Dündar und Erdem Gül vor Gericht verantworten mussten, verpflichtete Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Despoten am Bosporus als Türsteher der Europäischen Union bei der Abwehr von Flüchtlingen. Auch darüber berichtet die aktuelle Ausgabe.

Die Demokratiefrage warf DIE LINKE am 6. Juni im Zuge ihrer Konferenz »Demokratie für alle« auf. Des Weiteren präsentieren Bundestags abgeordnete einige Volksbegehren und Bürgerbefra-gungen aus ihren jeweiligen Bundeslän-dern.

Welche Einschränkungen per Gesetz müssen Menschen mit Behinderungen ertragen? Und wie sieht das Leben von Alleinerziehenden aus? Auch diesen Fragen geht clara nach.

Und last but not least: Die Kult-Ost-Band Karussell spricht über bunte Kultur in einer bunten Gesellschaft.

Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche und kurzweilige Lektüre.

Heike Hänsel ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

Nr. 40 / Seite 3clara.

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Inhalt

EditorialAuf ein Wort mit der Herausgeberin Editorial von Heike Hänsel 3

Foto des MonatsErinnerung und Entschuldigung Der Überfall auf die Sowjetunion vor 75 Jahren 6

SchwerpunktEinen Aufbruch braucht das Land Ein Essay von Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch 8

Das Mietengeschäft Die Mieten steigen trotz Mietpreisbremse 10

Abgeordnete für Mieter Kommentar von Caren Lay 11

Bildung braucht den Bund Ein linkes Investitionsprogramm für Bildung 11

Willkommen am Arbeitsplatz� Thüringen praktiziert Integration 12

Steueroasen der Superreichen Panama Papers bringen Multi-Milliardäre und Konzerne in Erklärungsnot 14

Wie gründe ich eine Briefkastenfirma?� Europaparlamentarier Fabio De Masi macht den Test 14

Arm im Alter Trotz Vollzeitjob reicht die Rente nicht 16

Gesetz�liche Rente stärken Kommentar von Matthias W. Birkwald 17

Rückwärtsgewandt und rassistisch Die AfD und ihr Bundesprogramm 18

Nichts gelernt, alles vergessen?� Kommentar von Petra Pau 19

Warum direkte Demokratie?� Essay von Halina Wawzyniak 20

Mehr Macht für Menschen Chancen einer »Demokratie für alle« 21

Der Bürger hat’s entschieden Eine Landkarte der Demokratie 22

Grüne: Mit jedem?� Essay von Jan Korte 24

Anwalt mit Humor Gregor Gysi über Berlins linken Spitzenkandidaten Klaus Lederer 24

Leidenschaft und kühler Kopf Dietmar Bartsch über den linken Spitzenmann Helmut Holter 25

Alleingelassen im Alleinerz�iehen Einelternfamilien sind in Deutschland Familien zweiter Klasse 26

»Familie ist, wenn man Familie lebt«� Kommentar von Cornelia Möhring 27

Abkommen mit dem Boss vom Bosporus Merkels Deal mit Erdoğan 28

Mut z�ur Wahrheit Sevim Dağdelen trifft Can Dündar 29

Ein Leben im Untergrund Heike Hänsel interviewt Malalai Joya 30

Soz�ial und gerechtDie Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch über die Missstände im Land und Lösungsangebote von links.

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Inhalt

16Maximal 700 Euro RenteEine gute Ausbildung und ein Vollzeitjob reichen nicht, um im Alter nicht arm zu sein. Die Geschichte von Sabine Heurs.

14Steuerhinterz�iehung à la superreichOb kolumbianischer Drogenboss, syrischer Kriegsverbrecher oder deutscher Milliardär – sie alle nutzen dubiose Brief-kastenfirmen in Steueroasen.

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Like Bernie Sanders Essay von Stefan Liebich 31

Anti-TTIP-Proteste in Hannover Tausende demonstrieren gegen geplante Handelsabkommen 32

Teilhaben geht anders Alte, neue Barrikaden für Behinderte 34

Bundesteilhabegesetz�: ein Spargesetz� Kommentar von Katrin Werner 35

Bunte Musik für bunte Gesellschaft Interview mit Wolf-Rüdiger Raschke von der Ost-Kult-Band Karussell 36

Auf den Zahn gefühltAusgegrenz�t: Hartz�-IV-Kinder und Flüchtlinge aus dem Maghreb DIE LINKE bringt mit Kleinen Anfragen Erstaunliches ans Licht 37

EinblickeAbgeordnete unterwegs 38

ServiceIhr gutes Recht Juristischer Rat von Halina Wawzyniak 40Mit links gelesen Buchtipps 41

GastkolumneJustiz�skandal im Doppelpack Gastkolumne von Jürgen Grässlin, Sprecher der »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« 42

Impressum Herausgeberin: Fraktion DIE LINKE. im Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon: 030/22 75 11 70 Fax: 030/22 75 61 28 [email protected] V. i. S. d. P.: Heike Hänsel, Jan Korte (Anschrift wie Herausgeberin)Leitung: Hendrik ThalheimRedaktion: Sophie Freikamp, Timo Kühn, Ruben Lehnert Frank Schwarz, Gisela ZimmerSatz: DiG/Plus GmbHDruck: MediaService GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 BerlinRedaktionsschluss: 10. Juni 2016Erscheinungsweise: 4-mal im Jahr

Dieses Material darf nicht zu Wahl kampf-zwecken verwendet werden.

Die Zeitschrift clara wird mit modernen und effizienten Druck verfahren bei Frank- Druck produziert. Die unvermeid-baren Treibhaus-gas emissionen, die durch das Printprodukt dennoch ent stehen, werden durch Investitionen in ein Klimaschutzprojekt in Brasilien kompensiert. Inhalt gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

ID 2016-701692

Inhalt

22Volksbegehren, Volksentscheid!DIE LINKE wirbt im öffentlichen Gespräch für mehr direkte Demokratie.

34Behinderte und TeilhabeDas geplante Bundesteilhabegesetz schließt Menschen mit Behinderungen mehr aus als ein.

42Deutsche Mordwaffenund Justiz�skandaleBuchautor Jürgen Grässlin hat Manager des Waffen-hersteller Heckler & Koch angezeigt. Nun droht ihm selbst eine Klage.

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Foto des Monats

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Erinnern. Entschädigen. Entschuldigen.Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Es wurde ein beispielloser Vernichtungskrieg. 27 Millionen Menschen starben: auf dem Schlachtfeld, sie verhungerten, wurden erschossen, verbrannt, erhängt oder in deutschen Konzentrationslagern ermordet. Bis heute gibt es für diese unzähligen Opfer keine offizielle Entschuldigung und es gibt in Deutschland auch keinen von den Deutschen selbst initiierten zentralen Gedenkort. Die Bundestags-fraktion DIE LINKE möchte zum 75. Jahrestag des Überfalls ein Zeichen für Versöhnung und Völkerverständigung setzen. Nachdem im letzten Jahr der einstimmige Beschluss für eine – wenn auch symbolische Entschädigung – der wenigen überlebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen gefallen war, sollte der Bundestag die Überlebenden und Angehörigen der Millionen Opfer sowohl für das erlittene Unrecht als auch dafür, dass Deutschland so lange brauchte, das Unrecht beim Namen zu nennen, um Verzeihung bitten. DIE LINKE beantragte die »Anerkennung der sowjetischen Kriegsgefangenen als NS-Opfer«, und am 22. Juni dieses Jahres fand im Bundestag eine Debatte zum Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion statt.

Am 2. Mai 1945 hisst ein sowjetischer Soldat die russische

Flagge auf dem Reichs tags­gebäude. Das Bild des Kriegs­

berichterstatters Jewgeni Chaldei geht in die Geschichte ein und symbolisiert das Ende des 2. Weltkrieges in Europa.

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Jahrzehntelang haben die meisten Menschen optimistisch in die Zukunft geschaut. Wie selbstverständlich gingen sie davon aus, dass die nachfolgende Generation in größerem Wohlstand würde leben können als sie selbst. Das ist lange vorbei. Unsere Gesellschaft wird vom Neoliberalismus zerfressen, Zuversicht und das Vertrauen in die Zukunft schwinden rapide, an ihre Stelle treten immer mehr Zukunftsängste. Dies bildet einen gefährlichen Nährboden für ein Erstarken der Rechtspopulisten. Dieser bedrohliche Trend muss umgekehrt werden. Es geht darum, endlich wieder mehr soziale Sicherheit politisch durchzusetzen. DIE LINKE steht in der Verantwortung, alles dafür zu tun, damit eine soziale Wende Realität wird.

Schon heute gehört es zum Stadtbild, dass alte Menschen nach Pfandflaschen suchen, um sich ihre kümmerliche Rente aufzubes-sern. Doch das ist wohl leider erst der An-fang. Berechnungen zeigen, dass im Jahr 2030 bereits jeder zweite Rentner in Armut leben wird. Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer realisieren, dass auch sie davon betroffen sein werden, wenn sich nicht bald etwas ändert. Wenn die Politik so weitermacht wie bisher, bedeutet das, dass der gesellschaftliche Fortschritt an den Menschen vorbeigeht. Trotz Wirt-schaftswachstum ist der Durchschnittslohn seit der Jahrtausendwende nicht gewach-sen. Immer mehr Menschen werden in den Niedriglohnsektor gedrängt, in dem die Löhne in den vergangenen Jahren sogar gesunken sind. Der Mindestlohn ist gegen-

wärtig viel zu niedrig und verhindert selbst nach 40 Arbeitsjahren keine Altersarmut. Immer mehr Menschen befinden sich in niedrig bezahlten und prekären Beschäfti-gungsverhältnissen, geprägt durch Dauer-befristungen, Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge. Für sie ist Arbeitslosigkeit eine allgegenwärtige Bedrohung. Früher gab es durch die Arbeitslosenversicherung noch eine gewisse Absicherung gegen den materiellen Absturz. Die Arbeitslosenhilfe war vom letzten Einkommen abhängig und wurde unbefristet gezahlt. Dann kam unter der damaligen rot-grünen Bundesregierung die Agenda-2010-Politik, die bis heute auch unter Kanzlerin Angela Merkel und Finanz-minister Schäuble (beide CDU) gilt. Heute bekommt nur noch ein Drittel der Arbeits-losen Geld aus der Arbeitslosenversiche-

Soziale Offensive für eine sichere Zukunft

Schwer- punkt

Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch sind Vorsitzende der

Fraktion DIE LINKE

Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch plädieren auf ein Bündnis für Frieden und soziale Sicherheit und unterbreiten fünf Vorschläge

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rung. Die meisten fallen direkt in das Hartz-IV-Sanktionssystem. Das kann für die betroffenen Personen existentielle Folgen haben. Arbeitslose oder prekär beschäf-tigte Menschen werden häufiger krank und sterben früher. Immer mehr Kinder sind durch die Armut ihrer Eltern betroffen. In-zwischen ist rund jedes siebte Kind von Hartz-IV-Leistungen abhängig.

Unsicherheit in der MittelschichtWeil der Sozialstaat seinen Namen nicht mehr verdient, hat sich die Unsicherheit weit in die Mittelschicht hineingefressen. Ein solches Klima der Angst ist schlecht für gewerkschaftliche Arbeitskämpfe und dringend notwendige Lohnerhöhungen – die Angst vor dem vorprogrammierten Absturz bei Arbeitsplatzverlust schwächt die Position der Arbeitnehmer. Stattdessen macht es die Starken noch stärker, fördert Lohndrückerei und erhöht die Profite der Konzerne sowie die Dividendeneinnahmen der Superreichen.

Das hat Folgen. Inzwischen besitzt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung so viel Vermögen wie die restlichen 99 Prozent zusammen. Es ist für die Demokra-tie eine Katastrophe, wenn neoliberale Parteienkartelle gegen die Interessen der weit überwiegenden Mehrheit ihre Politik unaufhörlich durchsetzen können. Vor vier Jahren haben sich fast 80 Prozent unserer Bevölkerung für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer ausgesprochen. Trotz-dem traut sich – außer DIE LINKE – keine andere Partei im Bundestag, diese Forde-rung zu erheben und sich mit den Reichen anzulegen. Eine parlamentarische Mehrheit für eine soziale Alternative ist daher bis heute nicht absehbar. Das trägt nicht dazu bei, dass Menschen Demokratie für etwas wirklich Verteidigungswertes halten.

Für einen sozialen Neustart in diesem LandDIE LINKE hat der SPD immer angeboten, dass wir mit ihr zusammen im Interesse der Bevölkerung den Sozialstaat wieder her-stellen. Bisher sind die Sozialdemokraten aber auf dieses Angebot nicht glaubwürdig eingegangen. Jüngstes Beispiel ist die Ver-mögenssteuer: Ohne eine angemessene Reichenbesteuerung lässt sich eine Erneu-erung des Sozialstaats nicht umsetzen und nachhaltig solide finanzieren. Noch vor kurzem hat Sigmar Gabriel die Vermögens-steuer für tot erklärt. Nun verkündet er, dass er sich damit anfreunden könne, wenn

die Betriebsvermögen davon ausgenom-men werden würden. Das Problem ist nur, dass die Superreichen ihr gigantisches Vermögen insbesondere in Unternehmen angelegt haben. Daher ist auch Gabriels lautes Nachdenken über eine kastrierte Vermögenssteuer kein glaubwürdiges Sig-nal der SPD für die Unterstützung einer sozialen Wende in diesem Land.

Es gibt positive VeränderungIn anderen Ländern hingegen gibt es Ent-wicklungen, die Hoffnung machen, dass vielleicht sogar ein Wandel der SPD mög-lich ist. Da ist zum Beispiel der bemer-kenswerte Achtungserfolg von Bernie Sanders bei den Vorwahlen in den USA. Er spricht von einer »politischen Revolu-tion«, die nötig sei, um die Dinge im Sinne der »99 Prozent zu verändern« und erntet dafür sehr viel Zuspruch von den Demo-kraten – und das im Mutterland des Kapi-talismus. Wenn auch ein SPD-Parteivor-sitzender diesen Satz wieder sagen und mit einer glaubhaften Programmatik un-terlegen würde, dann könnte in Deutsch-land sozialer Fortschritt tatsächlich wieder ein erhebliches Stück näher rücken.

Auch in England gab es eine positive Ver-änderung. Dort konnte sich mit Jeremy Corbyn ein Marxist an der Spitze der La-bour Party durchsetzen. Solche Entwick-lungen zeigen: Es ist möglich, dass die Sozialdemokratie den neoliberalen Irrweg wieder verlässt. Aber die Zeit drängt. Die Menschen brauchen dringend wieder so-ziale Sicherheit und einen optimistischen Blick in die Zukunft. Wer das nicht bald ernst nimmt, der rollt auch der AfD den roten Teppich aus.

Ein »Bündnis für Frieden und soziale Si-cherheit« muss klar verständliche Vor-schläge in einer wirklichen Reformagenda machen, von der die Menschen glaubhaft eine Verbesserung ihrer Situation erwarten können:

Diese Fünf-Punkte-Deklaration kann aus unserer Sicht die Basis für eine dringend notwendige und grundsätzlich andere In-nen- und Außenpolitik sein. Für eine Politik, die nicht mehr spaltet, trennt und Men-schen gegeneinander aufhetzt, sondern die allen in diesem Land und in Europa eine Perspektive bietet. Wir laden jede und je-den dazu ein, mit uns auf dieser Grundlage für einen sozialen Neustart in diesem Land zu kämpfen – im und außerhalb des Parla-ments. Dieser Neustart, ohne Angela Mer-kel (CDU) und Horst Seehofer (CSU); würde endlich auch die Perspektive für ein sozia-les Europa eröffnen. Je stärker DIE LINKE, desto eher können wir das schaffen.

1. Vom Lohn der Arbeit muss man leben können, und ein

Arbeitsplatzverlust darf nicht zu sozialem Absturz führen. Daher sind eine deutliche Anhebung des Mindestlohns, die Wiederherstellung der Arbeitslosenversicherung und effektive Maßnahmen zur Beseitigung von Dauerbefristungen, Leiharbeit und Werkverträgen nötig.

2. Die gesetzlichen Rentenan-sprüche aus einer normalen

Erwerbsbio graphie müssen den Lebensstandard im Alter sichern und insbesondere Altersarmut verhindern. Deshalb muss die öffentliche Förde-rung der Riester-Rente beendet und stattdessen das gesetzliche Renten-niveau angehoben werden.

4. Deutschland muss zu einer friedlichen Außenpolitik

zurückkehren und endlich Flucht-ursachen wirklich bekämpfen. Das bedeutet: deutsche Waffenexporte verbieten, Beendigung aller Kriegs-einsätze der Bundeswehr und das sofortige Ende der Unterstützung von Interventions kriegen.

3. Der vorhandene gesellschaft-liche Reichtum, der sich in

wenigen Händen konzentriert, muss für alle nutzbar gemacht werden. Als Instrument dafür ist die Einführung einer Vermögenssteuer für Millionäre alternativlos, um mit diesen Milliar-deneinnahmen eine Stärkung des Sozialstaats und dringend notwendige Investitionen in die Zukunft zu finanzieren.

5. Die Europäische Union braucht einen demokratischen

Neustart. Statt Konzern lobbykratie, Bankenrettungen und diktierten Kürz ungen von Löhnen und Renten muss der soziale Fortschritt in Europa wieder in den Mittelpunkt gestellt werden.

Nr. 40 / Seite 9clara. Schwerpunktclara.

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Es war am 21. Oktober 2015, als eine Mie-terin in der Muskauer Straße 11 in Berlin-Kreuzberg unerwartet Post erhielt. Absen-der war die Hausverwaltung Core im Auftrag des Vermieters Phoenix III Mixed O. Angekündigt wird eine drastische Miet-steigerung aufgrund energetischer Sanie-rung.

Elf Prozent der Gesamtkosten der geplan-ten Sanierung sollen auf die Mieterinnen und Mieter umgelegt werden. Für sie stei-gen dadurch die Mieten um 40 bis 80 Prozent. Und da die Miete auch dann nicht wieder gesenkt wird, wenn ir-gendwann die Kosten der Sanierung abge-zahlt sind, machen die Vermieter einen dauerhaften Rei-bach.

»Als ich Post be-kam, wollte ich gleich mal meine Nachbarn fragen, ob sie auch so einen Brief erhalten hat-ten«, sagt Barbara Sieg.

Tag für Tag erfahren immer mehr Mieter via Post von der geplanten energetischen Sanierung an ihrem Haus. Die Mieten sol-len um 40 bis 80 Prozent steigen. In dem Haus wohnt auch eine 80-jährige Dame. Sie wohnt hier schon seit über 50 Jahren. Auch sie ist betroffen. Die Angst vor Miet-steigerungen und dem möglichen Verlust der Wohnung lässt niemand mehr ruhig schlafen. Anwohner Giles Schumm be-schwert sich: »Hier werden nur die Kosten des Vermieters berücksichtigt, meine Fol-gekosten nicht.« Damit meint er nicht nur

die finanziellen Kosten des Umzugs, seine Toch-ter müsste zudem ihre

Schule wechseln. »Ist das nichts wert?«,

fragt er.

Die Mieterinnen und Mieter aus Kreuzberg ste-hen mit dem Problem nicht allein. Vergleich-bares passiert

gerade in vielen deutschen Bal-

lungsgebieten, in

Großstädten ebenso wie in Universitäts-orten. Das Kalkül der Vermieter ist dabei immer gleich: Erst erhöhen sie die Mieten durch Luxussanierung, dann werden die Mieter vertrieben, die sich die gestiege-nen Mieten nicht mehr leisten können. Anschließend werden die Wohnungen auch innen saniert und zum Schluss als teure Luxusappartements vermietet oder als Eigentumswohnungen meistbietend verkauft.

Mieter wehren sichEigentlich soll die sogenannte Mietpreis-bremse der Regierung extreme Mietstei-gerungen verhindern. Justizminister Heiko Maas (SPD) sagte vergangenes Jahr: »Es profitieren vor allem die Normalverdiener, die nicht an den Stadtrand rausgedrängt werden wollen.« Zu dieser Personen-gruppe zählten sich auch die Bewohner des Hauses. Doch die Mietpreisbremse hilft ihnen nicht. Jüngste Erhebungen verschiedener Institute kamen zu dem Urteil, dass die Mietpreisbremse nicht wirkt. Laut dem Forschungsinstitut Regi-okontext liegen allein in Berlin die Mieten momentan um 31 Prozent höher als er-laubt.

Die Mieten explodieren trotz MietpreisbremseViele Vermieter tricksen mit energetischer Sanierung und Luxusmodernisierung, um langjährige Mieterinnen und Mieter aus ihren Wohnungen zu vertreiben.

 In den nächsten 10 Jahren sollen 5 Milliarden

Euro in den sozialen und gemein­nützigen Wohnungsbau investiert

werden. Gefördert werden sollen vor allem

gemeinnützige Träger, etwa öffentliche Wohnungsgesellschaften oder Genossen­

schaften. Die geschaffenen Wohnungen sollen

dauerhaft als Sozialwohnungen (Belegungsbindung) für Menschen

mit niedrigem Einkommen zur Verfügung stehen.

Dafür kämpfen wir:

Kreuzberger Mieterinnen und Mieter stellen klare Forderungen an die Politik

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Modernisierungs-wahn stoppen und Mieter schütz�enWenn Mieterinnen und Mieter aus ihren Wohnungen saniert werden, nimmt DIE LINKE das nicht hin.

In Berlin und anderen großen Städten gehören sie inzwischen zum Stadtbild: die Gerüste an den Häuserfassaden. Doch selten geht es hier um einen neuen Anstrich – fast immer bekommen diese Häuser eine energetische Sanierung.

Das klingt zunächst gut nach gesparter Energie, ist aber leider meist ein Instru-ment zur »Entmietung« der Häuser.

Dies ist ein Vorwand, um angestammte Mieterinnen und Mieter durch drastische Mieterhöhungen aus ihren Wohnungen zu vertreiben und teuer weiterzuvermie-ten oder gleich verkaufen zu können. Ob und wie viel Energie dabei wirklich ein-gespart wird, ist nebensächlich. Und das ganz legal.

Vermieter dürfen bis zu elf Prozent der Kosten für Modernisierung jährlich auf die Mieterinnen und Mieter umlegen, auch nachdem die Investition längst ab-gezahlt ist. Im Zuge dessen kommt es häufig zu einer Verdoppelung oder Ver-dreifachung der Miete. Wo sonst gibt es heute noch so hohe Renditen? Diese Rechtslage ist geradezu eine Einladung zur Luxusmodernisierung.

Wir LINKEN wollen die Modernisierungs-umlage deutlich reduzieren und pers-pektivisch abschaffen. Die Miete darf nur so weit erhöht werden, wie Heizkos-ten durch die Sanierung eingespart werden!

Caren Lay ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE

Bildung braucht ZukunftWeil viele Kitas und Schulen baufällig sind und pädagogisches Personal fehlt, fordert DIE LINKE ein Investitionsprogramm für Bildung.

Bröckelnder Putz, Risse in den Wänden, gesperrte Turnhallen, undichte Fenster, verstopfte Toiletten – bundesweit ähneln sich die Schäden an und in vielen Schulen. Selbst in dem wohlhabenden Berliner Be-

zirk Steglitz-Zehlendorf weist jede einzelne Schule Mängel auf. Um dort die insgesamt 62 Schulgebäude wieder auf Vordermann zu bringen, müssten umgehend 410 Milli-onen Euro in die Hand genommen werden.

Aus Protest gegen diese Zustände sind in Berlin – und in vielen anderen Bundeslän-dern – Schülerinnen und Schüler wieder-holt auf die Straße gegangen.

Dabei ist der bauliche Verfall nur die eine Seite. Es fehlt auch pädagogisches Perso-nal. Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer sind ausgebrannt, ähnlich geht es Schul-sozialpädagogen. Die Initiative zur Unter-richtsgarantie in Berlin listet auf, dass in jedem Schuljahr in der Hauptstadt zwei Millionen Unterrichtsstunden nicht plan-mäßig erteilt werden. Das entspricht etwa

Also organisieren sich die Mietparteien, schließen sich zu einer Gruppe zusammen und wenden sich an die Stadt. Doch alle Gespräche blieben bisher quasi ergebnis-los. Die Mieter sind verunsichert. Sie laden die wohnungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Caren Lay, ein, die ihnen Unterstützung verspricht. Und sie treffen sich mit Gregor Gysi, der umgehend ein Schreiben an den Regierenden Bürgermeis-ter von Berlin, Michael Müller, verfasst.

Zudem machen sie öffentlich auf ihre Si-tuation aufmerksam. Die Mietergemein-

schaft installiert Banner an ihren Balko-nen, so dass Passantinnen und Passanten erfahren, was hier passiert. Doch was darf gesagt oder kritisiert werden, ohne gleich eine fristlose Kündigung zu riskieren? »Wir wollen einfach darauf aufmerksam ma-chen, dass man mit langjährigen Mietern so nicht umgehen darf«, sagt Giles Schumm. Bei einer im Haus ansässigen Kneipe kamen bei einer Soli-Veranstaltung im Mai knapp 500 Euro zusammen. Doch tags drauf die nächste Verunsicherung unter den Mietern. An der Straße vor dem Haus stehen urplötzlich Parkverbotsschil-

der. Parkverbot wegen Baumaßnahmen bis 31. Dezember 2016. Es handele sich um Instandhaltungsmaßnahmen, erfahren sie auf Nachfrage aus dem Rathaus.

Mittlerweile kann zumindest die 80-jäh-rige Mieterin wieder besser schlafen. Dank einer Härtefallregelung dürfen die Kosten der energetischen Sanierung nicht auf ihre Wohnung umgelegt werden. Bar-bara Sieg und Giles Schumm und die an-deren Mietparteien werden weiterkämp-fen. Timo Kühn

Es fehlen bundesweit … Quelle: GEW-Gutachten 2016, Bundesfinanzie-

rung der öffentlichen Hand – Stand und

HerausforderungenAusgaben für Pädagogen

für Schulsozialpädagogen

für Inklusion

2,3 Milliarden Euro

2,4 Milliarden Euro

4,2 Milliarden Euro

Nr. 40 / Seite 11clara. Schwerpunkt

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Willkommen am ArbeitsplatzDank Förderprogrammen des Landes gelingt es in Thüringen, Flüchtlinge mittels Ausbildung und Arbeit zu integrieren, wie das Beispiel Ammar Wanlys zeigt.

Das Labor der Zahntechnik Kipp GbR im thüringischen Apolda ist lichtdurchflutet. Ammar Wanly streicht mit einem Metall-spachtel weiches Wachs auf ein Gipsmo-dell. Am Arbeitsplatz nebenan surrt eine winzige Schleifmaschine. Der junge Mann lässt sich nicht stören und steckt einen künstlichen Zahn in die rosafarbene Masse. Konzentriert verändert er dessen Ausrich-tung. Präzision ist gefragt. Hier entsteht eine Zahnprothese.

»Er passt gut in unser Team«, lobt Matthias Kipp, Inhaber des Zahntechniklabors, sei-

nen neuen Mitarbeiter. Ammar Wanly stammt aus Syrien. Der 25-Jährige hat in Damaskus Zahntechnik studiert. Berufs-praxis hat er in Syrien und Dubai gesam-melt. Doch sein Plan, ein eigenes Labor aufzumachen, wurde vom Krieg durch-kreuzt. Um der Einberufung in die Armee oder der Zwangsrekrutierung durch Rebel-len zu entgehen, flüchtete Ammar.

Den Tag, als er Deutschland erreichte, kann er sofort nennen: am 28. Mai 2014. Über Dortmund und Eisenberg landete er in Erfurt, wo er heute noch wohnt. Das

Haus seiner Familie in Damaskus ist inzwi-schen zerstört. Eine Aufenthaltsgenehmi-gung hat er bis 2017.

Im vergangenen Jahr wurden laut der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl rund 1,1 Millionen Menschen in Deutsch-land als Asylsuchende registriert. Weil viele von ihnen doppelt oder dreifach re-gistriert wurden und etliche in andere Länder, insbesondere nach Skandinavien, weitergereist sind, lag die Zahl der in Deutschland Schutzsuchenden im vergan-genen Jahr bei rund 800 000. Im ersten

Schwerpunkt

zehn Prozent des gesamten Unterrichts. Übertragen auf zehn Jahre Schulbesuch wird somit ein ganzes Schulunterrichtsjahr nicht regulär erteilt.

Das deutsche Bildungssystem ist chro-nisch unterfinanziert. Das wird der Bun-desrepublik als einem der reichsten Länder auch Jahr für Jahr im OECD-Bil-dungsbericht »Bildung auf einen Blick« bescheinigt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht in ihrer aktuellen Studie vom Februar dieses Jah-res von mindestens 55 Milliarden Euro, die in ein zukunftsfähiges Bildungssystem mit einem fairen Zugang für alle investiert werden müssten. Geld, das sofort für die Sanierung der Gebäude, den Ausbau der

Ganztagsbetreuung, in Hörsäle, in Aus-stattung und Personal gesteckt werden müsse.

Auch wenn Bildung laut föderalem Prinzip Ländersache ist, bleibt sie doch eine ge-meinsame Aufgabe, die nur zu stemmen ist durch eine dauerhafte Mitfinanzierung des Bundes. DIE LINKE schlägt deshalb ein Bund-Länder-Programm vor. Die öffentli-che Hand könnte damit direkt in das Bil-dungswesen investieren, und zwar von der Kita bis zur Weiterbildung. Auch lässt sich auf diese Weise das unsinnige Kooperati-onsverbot zwischen Bund und Ländern aufheben. Wer Bildung groß schreibt, muss auch dafür sorgen, dass sie untersetzt wird – finanziell, materiell und personell. Maß-stäbe, um den Investitionsrückstau an Schulen aufzulösen, setzt die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen. Zu ihren Schwer-

punktprojekten gehört die Schul-bauförderung. Insgesamt fließen 230 Mil-lionen Euro in die Sanierung, den Umbau, die Erweiterung oder den Neubau von Schulen und Sporthallen. Mit diesen För-dergeldern können in der Legislaturperiode 40 bis 60 Schulen grundlegend hergerich-tet werden. Und zwar dort, wo auch in 15 Jahren die Auslastung sicher sein wird, und so, dass barrierefreies, inklusives Lernen möglich wird.

Das Recht auf Bildung ist ein soziales Menschenrecht. Das hat die UN-Kinder-rechtskonvention festgeschrieben. Ein Recht, das auch für alle Kinder gilt – un-abhängig vom Einkommen der Eltern, von ihrer Herkunft oder ihrem Aufenthaltssta-tus. Die Bundesrepublik könnte und sollte sich das leisten. Gisela Zimmer

 Der Bund soll die

Länder unterstützen bei der Schaffung moderner

Gemeinschaftsschulen und der Umsetzung der Lernmittelfreiheit. Das Recht auf Ausbildung soll

im Grundgesetz festgehalten werden. Betriebe, die nicht ausbilden, sollen eine

Ausbildungsplatzabgabe zahlen. An den Hochschulen sollen

zusätzliche Studienplätze eingerichtet und ausreichend Wohnheimplätze geschaffen

werden.

Dafür kämpfen wir:

Streik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

(GEW) in Berlin.

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Quartal dieses Jahres haben in Deutsch-land laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 175 000 Men-schen einen Erstantrag auf Asyl gestellt, fast 90 000 von ihnen stammen aus Sy-rien, weitere 45 000 aus Irak und Afgha-nistan.

Der Ministerpräsident Thüringens, Bodo Ramelow (DIE LINKE), hat frühzeitig in den Flüchtlingen eine Chance für sein Bundes-land gesehen. Aus Thüringen sind in der Vergangenheit mehr als 400 000 Menschen abgewandert. »Alle, die willens sind, sich zu integrieren, werden in Thüringen eine Chance bekommen, um sich eine berufliche Perspektive zu erarbeiten«, sagte er in ei-ner Regierungserklärung im November des vergangenen Jahres. Er kündigte an, über ein Landesarbeitsprogramm Projekte zu finanzieren, die Langzeiterwerbslose und Flüchtlinge gleichermaßen Ausbildung und Arbeit bieten. Fünf Millionen Euro wolle das Land hierfür bereitstellen. In Thüringen gebe es zudem 20 000 leer stehende Woh-nungen und 5 000 freie Lehrstellen, erläu-terte Ramelow.

Erst Praktikum, dann ArbeitsplatzFür Heike Werner (DIE LINKE), Arbeits- und Sozialministerin in Thüringen, steht bei der Hilfe für Flüchtlinge der humanitäre Aspekt im Vordergrund. Integration bedeutet für sie, »die zu uns flüchtenden Menschen in unsere Gesellschaft einzubeziehen«. Auf ihre Initiative hin widmet sich das Ministe-rium der sozialen Integration von Flüchtlin-

gen: Es geht um die Vermittlung in Praktika, um Ausbildung und Beschäftigung.

Bestehende Förderprogramme wurden erweitert. Sie helfen bei der Anerkennung beruflicher Abschlüsse, bieten praktische Kompetenzchecks und sorgen für die Ver-mittlung berufsbezogener Sprachkennt-nisse. Bis Ende 2017 stehen dafür rund 6,6 Millionen Euro zur Verfügung. Zu den Part-nern vor Ort zählen regionale Akteure der Flüchtlingsarbeit – vor allem Anbieter von Integrations- und Sprachkursen – ebenso wie die örtlichen Wirtschaftszusammen-schlüsse.

Ammar Wanly absolvierte in Erfurt zu-nächst einen Sprachkurs. Das Institut für Berufsbildung und Sozialmanagement beriet ihn zur Anerkennung seines Berufs-abschlusses. Bei der Handwerkskammer konnte er einen Fachlehrgang belegen, dann vermittelte sie ihn im Rahmen eines geförderten Projekts an Matthias Kipps Firma. Im August 2015 begann Ammar Wanly dort ein Praktikum. Danach wurde seine Ausbildung anerkannt – und er selbst eingestellt – unbefristet. »Die Leistungen haben mich überzeugt«, hebt Zahn-technikmeister Kipp hervor. Ammar habe sich zudem die deutsche Spra-che »schnell auf gutem Niveau« an-geeignet.

Völlig problemfrei ist Ammar Wanlys neues Leben dennoch nicht. So galt sein syrischer Führerschein nur sechs Monate, nun ist er auf Bus und Bahn angewiesen. Und um in einer Moschee zu

beten, muss er nach Weimar oder Jena fahren. Alles in allem ist er aber mit seinem Leben in Thüringen sehr zufrieden.

In der Wirtschaft stoßen die Projekte zur beruflichen Integration von Flüchtlingen auf positive Resonanz. Eine Umfrage der Industrie- und Handelskammer (IHK) Süd-thüringen im Oktober 2015 hat ergeben, dass drei von vier Unternehmen grund-sätzlich bereit sind, Flüchtlinge auszubil-den und zu beschäftigen. Bei IHK und Handwerkskammer Südthüringen sind bereits Migranten als Flüchtlingskoordina-toren tätig.

Die Erfolge haben sich herumgesprochen. Der Umgang mit Flüchtlingen sei in Thürin-gen gut organisiert und »beispielhaft für andere Bundesländer«, sagt Frank-Jürgen Weise, Leiter des BAMF.Stefan Wogawa

Schwerpunkt

 Im öffentlichen Dienst soll deutlich mehr Personal eingestellt

werden. 300 000 neue Arbeitsplätze

für Geflüchtete und Langzeiterwerbslose sollen öffentlich gefördert werden.  Ausnahmen beim Mindestlohn sollen abgeschafft und Hartz IV soll durch eine sanktionsfreie

Mindestsicherung ersetzt werden, die Menschen mit niedrigem Einkommen zur Verfügung

steht.

Dafür kämpfen wir:

Ammar Wanly aus Syrien an seinem Arbeitsplatz in Labor für Zahntechnik in Apolda.

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Im April enthüllte die Süddeutsche Zeitung das größte Datenleck der Geschichte: die sogenannten Panama Papers. Es handelt sich um 11,5 Millionen Dokumente (E-Mails, Briefe, Verträge, Urkunden, Bank-auszüge), die aus der Anwaltskanzlei Mossack Fonseca in Panama stammen. Die Kanzlei soll mehr als 14 000 Klienten bei der Gründung von rund 214 000 Brief-kastenfirmen in 21 Steueroasen in der ganzen Welt geholfen haben.

Auch die Crème de la Crème des deut-schen Kapitals taucht auf: die Familien Porsche und Piëch (Volkswagen), Quandt (BMW), Burda (Medien) und von Finck (Finanzen). Ihnen allen ist gemein, dass sie die zweifelhaften Vorteile von Briefkasten-firmen in Steueroasen nutzten oder sie bis heute nutzen.

Briefkastenfirmen bestehen oft lediglich aus einem Briefkasten und einem Anruf-

beantworter. Die Eigentümer bleiben an-onym, als Direktoren operieren Strohmän-ner. Als Steueroasen gelten Länder mit sehr niedrigen Steuern, geringen Auflagen für die Gründung von Firmen und Stiftun-gen und hoher Geheimhaltung. Die Briti-schen Jungferninseln, die Bahamas sowie die US-Bundesstaaten Nevada und Dela-ware sind Beispiele für Steueroasen in

Übersee. In Europa gelten etwa Luxem-burg, Liechtenstein, Monaco und die Schweiz als Steueroasen.

Zwar ist der Besitz einer Briefkastenfirma nicht illegal, solange Vermögen und Ge-winne versteuert werden. Doch in vielen Fällen werden die anonymen Briefkasten-firmen genutzt, um die Gesetze zu bre-

Die organisierte Kriminalität der SuperreichenMultimilliardäre und internationale Konzerne bunkern in dubiosen Briefkastenfirmen in Steueroasen laut Oxfam 7,6 Billionen US-Dollar.

Ein Anruf genügtUnter falschem Namen hat der Finanz�experte Fabio De Masi (DIE LINKE) bei der Kanz�lei Mossack Fonseca angerufen.

»Im Europäischen Parlament befasse ich mich mit den Steuertricks der Konzerne und Superreichen. Für den Enthüller der sogenannten Lux-Leaks, den früheren Wirtschaftsprüfer Antoine Deltour, habe ich als Zeuge

vor Gericht ausgesagt. Auch mit Rudolf Elmer, dem Whistleblower und früheren Manager der Schweizer Bank Julius Bär, bin ich befreundet. Durch mein Engagement bekam ich Kontakt zu weiteren Personen, die auspacken wollten. Darunter war auch ein Informant, der mich auf die Kanzlei Mossack Fonseca stieß.

Ich wollte wissen, wie einfach es ist, kriminelles Geld zu waschen und Steuern zu hinterziehen. Noch vor der Veröffentlichung der Panama Papers rief ich bei der Kanzlei in Panama an, gab mich als deutscher Geschäfts-mann aus und sagte, ich wolle 2,5 Millionen Euro kriminelles Geld in eine anonyme Stiftung stecken. Man versprach mir schnell und unkompli-ziert Hilfe.«

Fabio De Masi (DIE LINKE) ist Mitglied des Europäischen Parlaments

Firmenschild der Anwaltskanzlei Mossack & Fonseca mit Sitz in Panama

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chen: Man verschleiert Eigentumsverhält-nisse, verheimlicht Transaktionen und versteckt Vermögen oder Gewinne. Oft soll schlicht Kriminalität vertuscht wer-den: Briefkastenfirmen dienen dazu, Schwarzgeld zu waschen und Steuern zu hinterziehen.

Laut Oxfam werden gegenwärtig rund 7,6 Billionen US-Dollar in Steuerparadiesen gebunkert. Neun von zehn multinationalen Konzernen unterhalten Filialen in Steuer-oasen.

Deutschland bleibt SteuerparadiesDie Panama Papers weisen auch ins Herz des deutschen Kapitals. Mindestens 28 heimische Banken sollen mit der Rechts-anwaltskanzlei zusammengearbeitet ha-ben. Allein die Deutsche Bank soll bei der Kanzlei aus Panama 426 Tarnadressen für Firmeneintragungen bestellt haben. An-dere Großbanken, beispielsweise die Commerzbank und die HSH Nordbank, sollen Kunden dabei geholfen haben, Scheinfirmen in Steueroasen zu eröffnen. Der Verdacht liegt nahe, dass dabei Bei-hilfe zur Steuerhinterziehung geleistet wurde.

Die Folgen für den Staat sind dramatisch: Jedes Jahr wird er um Steuereinnahmen in Milliardenhöhe betrogen. Experten schätzen, dass Deutschland jedes Jahr bis zu 100 Milliarden Euro durch Steuertricks entgehen. Finanzexperte Fabio De Masi, für DIE LINKE Mitglied im Europäischen Parlamet, fordert seit Langem, dass Ban-ken, die wiederholt Beihilfe zur Geldwä-sche leisten, die Lizenzen entzogen wer-den.

Die Steuerausfälle sind auch deshalb so hoch, weil internationale Konzerne mit Steuertricks ihre Steuern oft auf unter ein Prozent der Gewinne drücken– auch in Europa. Google, Ikea, Apple & Co. tricksen mit künstlichen Patent- und Lizenz-gebühren, über die sie Gewinne nach Lu-xemburg, in die Niederlande oder nach Übersee verschieben. Hilfe erhält das Kartell der Steuervermeider von den EU-Finanzministern, die mit Gesetzen diesen Diebstahl legal machen.

So zahlte die Burger-Kette McDonald’s im Jahr 2013 nur 1,4 Prozent Steuern auf die nach Luxemburg verschobenen Gewinne. Und der Versandhändler Amazon, der den Großteil der in Europa gemachten Gewinne ebenfalls nach Luxemburg lenkte, soll dort jahrelang sogar weniger als 1 Prozent Steuern gezahlt haben. Ihren Aktionären können diese Konzerne deshalb hohe Ge-winne ausschütten, weil sie extrem wenig Steuern zahlen.

Deutschland belegt übrigens Platz 8 auf der Rangliste der wichtigsten Schattenfi-nanzplätze der Welt, zwar hinter der Schweiz und den USA, aber deutlich vor Panama. Das belegen Recherchen der Experten des Netzwerks Steuergerechtig-keit. So hat sich Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) gegen europäische Min-deststeuersätze gesperrt und Sanktionen gegen Steueroasen verhindert. Auch bei europäischen Verhandlungen über stren-gere Richtlinien zur Bekämpfung von Geldwäsche blockierte die deutsche Re-gierung und verweigerte mehr Transparenz

und schärfere Gesetze. Bis heute leidet in Deutschland die Steuerfahndung unter Personalmangel, eine Bundespolizei zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität existiert nicht.

Spätestens seit den Panama Papers ist offenkundig: Es ist an der Zeit, die organi-sierte Kriminalität der Superreichen durch strenge Gesetze und scharfe Kontrolle zu bekämpfen.Ruben Lehnert

Briefkastenfirmen bestehen oft lediglich aus einem Briefkasten und einem Anrufbeantworter. Die Eigentümer bleiben anonym, als Direktoren operieren Strohmänner.

Als Steueroasen gelten Länder mit sehr niedrigen Steuern, geringen Auflagen für die Gründung von Firmen und Stiftungen und hoher Geheimhaltung. Die Britischen Jungferninseln, die Bahamas sowie die US­Bundesstaaten Nevada und Delaware sind Beispiele für Steuer­oasen in Übersee. In Europa gelten etwa Luxemburg, Liechtenstein, Monaco und die Schweiz als Steueroasen.

Millionäre z�ur Kasse!Wer ein monatliches Einkommen von bis zu 6000 Euro hat, wird steuerlich entlastet. Auf hohe Vermögen, Spitzeneinkommen und große Erbschaften werden höhere Steuern fällig. Clara präsentiert Details des Steuer­konzepts der Fraktion DIE LINKE.

Millionärsteuer: Privates Nettovermögen bis zu einer Million Euro bleibt steuerfrei, was darüber liegt, soll mit 5 Prozent besteuert werden. Für das betriebli­che Vermögen von kleinen und mittleren Unternehmen sind zusätzli­che Freibeträge geplant. Jährliche Mehreinnahmen: 80 Milliarden EuroUnternehmensbesteuerung: Der Körperschaftsteuersatz für Kapitalgesellschaften muss von derzeit 15 wieder auf 25 Prozent erhöht werden. Jährliche Mehreinnahmen: 35 Milliarden Euro.Finanz�transaktionsteuer: Bei jedem Handel von Aktien, Devisen, Wertpapieren oder Derivaten soll ein Steuersatz von 0,1 Prozent fällig werden. Jährliche Mehreinnahmen: 30 Milliarden Euro.

Erbschaftsteuer: Große Erbschaften sollen stärker besteuert werden als bisher. Selbstgenutztes normales Wohn­eigentum bleibt von der Erbschaft­steuer verschont. Jährliche Mehreinnahmen: bis zu 10 Milliarden Euro.

Einkommensteuer: Kleine und mittlere Einkommen sollen entlastet, Spitzenein­ kommen höher besteuert werden. Wer weniger als 6.000 Euro Einkommen brutto im Monat bezieht, zahlt weniger Steuern; alle anderen zahlen mehr Steuern. Die Abgeltungsteuer wird abge­schafft. Stattdessen sollen Kapitalerträge wieder genauso hoch wie Löhne besteuert werden. Jährliche Mehreinnahmen: +/­ 0 Euro

Bekämpfung von Steuerflucht und -betrug: Um Steuerhinterziehung und steuermindernde Gewinnverlagerung zu vermeiden, sollen eine Quellsteuer auf Kapitaltransfers ins Ausland eingeführt, mehr Personal bei der Steuerfahndung eingestellt, eine Bundesfinanzpolizei neu aufgebaut und drastische Strafen gegen Banken, die Beihilfe zur Steuerhinterziehung leisten, verhängt werden. Jährliche Mehreinnahmen: mindestens 15 Milliarden Euro.

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Mehr als eine halbe Million Rentnerinnen und Rentner sind auf Sozialhilfe angewiesen. Von Armut im Alter sind zunehmend auch Menschen bedroht, die einen Vollzeitjob haben – so wie Sabine Heurs (45) aus Berlin.

Angst vor Altersarmut wächst

Gesund alt werden und im Ruhestand endlich das tun, was lange zu kurz kam: davon träumen Millionen Menschen. Doch für viele wird der Gedanke an das Alter zum Albtraum: Die Angst vor Altersarmut wächst. Bereits heute beziehen mehr als eine halbe Million Menschen im Rentenal-ter nur die Grundsicherung – Tendenz steigend. Knapp eine Million Menschen im Rentenalter rackern in Minijobs: Sie tragen Zeitungen aus oder füllen Regale in Super-märkten auf. Nicht wenige müssen Pfand-flaschen sammeln oder vor einer Tafel nach Lebensmitteln anstehen.

Besonders betroffen von Altersarmut sind Teilzeitbeschäftigte, Alleinerziehende, Leih arbeitskräfte, Soloselbstständige und Scheinselbstständige und Erwerbslose: Ihr Lohn ist zu niedrig, um ausreichend in die Rentenversicherung einzuzahlen. Und eine Betriebsrente erhalten sie oft gar nicht.

Hinzu kommt, dass sich die private Alters-vorsorge seit Jahren in der Krise befindet.

Die schlechte Lage an den Kapitalmärkten wirkt zurück auf Lebensversicherungen und Riester-Renten. Ab dem Jahr 2017 soll der Garantiezins von 1,25 Prozent auf 0,9 Prozent sinken. Dieser Zinssatz bestimmt, welche Renditen Lebensversicherer ihren Kunden maximal versprechen dürfen. Da-mit reagiert das Bundesfinanzministerium auf die »aktuellen Marktverhältnisse«, eine Umschreibung für die Krise der kapital-marktgedeckten Altersvorsorge.

Doch Armut im Alter droht mittlerweile auch gut ausgebildeten Menschen, die Vollzeit arbeiten. Eine von ihnen ist Sabine Heurs. Die 45-Jährige hat einen Hoch-schulabschluss, war im Ausland als Lehr-kraft tätig. Als Dozentin an der Volkshoch-schule im Stadtbezirk Reinickendorf gibt sie Deutschkurse für Menschen aus aller Welt. In ihrem aktuellen Rentenbescheid kann sie nachlesen, was sie mit 67 Jahren zu erwarten hat: »Wenn ich so weiter ein-zahle wie bisher, habe ich 477,40 Euro Rente«, berichtet sie.

Sabine Heurs ist kein Einzelfall. Sie ist eine von über 600 hochqualifizierten Vollzeit-Lehrkräften an Berliner Volkshochschulen. Doch sie sind nicht fest angestellt, son-dern hangeln sich von einem kurzfristigen Honorarvertrag zum nächsten. Anders als Lehrkräfte in staatlichen Schulen müssen sie aus eigener Tasche auch den Arbeitge-berbeitrag für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung abführen. Unterm Strich bleibt so ein Nettoeinkommen von bestenfalls 1.300 Euro im Monat – und voraussichtlich eine Altersrente zwischen 400 und 700 Euro.

Gute Löhne führen zu guten RentenÄhnliche Zukunftsängste plagen immer mehr Menschen, wenn sie ihre Rentenbe-scheide lesen. Wer heute für den gesetz-lichen Mindestlohn von 8,50 Euro arbeitet, kommt selbst nach 45 Jahren Vollzeit auf eine Rente unterhalb der Grundsicherung im Alter, also der Sozialhilfe für ältere

Sabine Heurs mit ihrem Rentenbescheid: Sie erhält später eine Altersrente von voraussichtlich maximal 700 Euro.

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Chronik einer DemontageWie CDU, CSU, SPD und Grüne die gesetz�liche Rente geschwächt haben

2001 und 2002: SPD und Grüne beschließen das Altersvermögenser-gänzungsgesetz und das Altersvermö-gensgesetz. Darin schreiben sie eine neue Rentenformel fest, mit der das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um 20 Prozent sinken soll. Rentnerinnen und Rentner erhalten für diese Kürzun-gen keinen Ausgleich. Zudem führen SPD und Grüne die Riester-Rente ein, eine private Altersvorsorge, die hoch subventioniert wird.

2004: SPD und Grüne verabschieden das Nachhaltigkeitsgesetz. Mit dem Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenfor-mel sollen Verschiebungen zwischen der Zahl der Rentnerinnen und Rentner und der Beitragszahlenden ausgegli-chen werden. Im Ergebnis sinkt das Rentenniveau auch über das Jahr 2030 hinaus. Ein Ausgleich für diese Renten-kürzungen ist erneut nicht geplant.

2005: CDU/CSU und SPD stimmen für das Alterseinkünftegesetz. Ab dem Jahr 2040 sollen Renten vollständig besteuert werden. Auf Renten, die zuvor gekürzt wurden, müssen dann höhere Steuern gezahlt werden.

2007: CDU/CSU und SPD beschließen das Altersgrenzenanpassungsgesetz. Das Renteneintrittsalter soll in den Jahren 2012 bis 2029 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben werden. Für die Mehrheit stellt das eine weitere Rentenkürzung dar.

Menschen. Es ist zu befürchten, dass zu-künftig Millionen Neurentnerinnen und -rentner in Armut leben müssen.

Verantwortlich hierfür ist die Politik, die verschiedene Bundesregierungen in den vergangenen 15 Jahren zu verantworten haben (siehe Chronik). Das Ziel von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP war stets das-selbe: Die Arbeitgeber sollten entlastet,

das Risiko der Altersarmut von den Be-schäftigten geschultert werden. Dazu wurde der Arbeitgeberanteil an den Bei-trägen zur Rentenversicherung niedrig gehalten, stattdessen sollten Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer privat für den Ruhestand vorsorgen.

Sabine Heurs will sich nicht mit Altersar-mut abfinden. Sie engagiert sich in der

Gewerkschaft ver.di. Als Mitglied der Berliner VHS-Dozenten/Dozentinnenver-tretung verlangt sie Festanstellungen zu Bedingungen wie angestellte Lehrkräfte an Schulen. »Erwachsenenbildung muss endlich genauso gut honoriert werden wie Arbeit an allgemeinbildenden Schulen«, sagt sie. Denn gute Löhne sorgen dafür, dass die Rente später zum Leben reicht.Hans-Gerd Öfinger

Die gesetz�liche Rente stärken

Wie DIE LINKE Altersarmut verhindern will, erklärt Matthias W. Birkwald.

»Die Riester-Rente ist gescheitert«, hat Bayerns Ministerpräsident Horst Seeho-fer (CSU) jüngst gesagt. Er hat Recht. Die Riester-Rente nutzt vor allem Banken und Versicherungskonzernen, die in Form von Provisionen viel Steuergeld abgreifen. Was Seehofer jedoch verschweigt, ist, dass CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP jahrelang die gesetzliche Rente demon-tiert haben. Und er bietet keine Alterna-tive an, die Altersarmut verhindert. Allein DIE LINKE hat ein tragfähiges Konzept für eine zukunftsfähige gesetzliche Rente.

Die Rentenkürzungen der vergangenen Jahre müssen zurückgenommen, das

Rentenniveau muss wieder auf lebens-standardsichernde 53 Prozent angeho-ben werden. Zudem müssen die Arbeit-geberinnen und Arbeitgeber wieder hälftig an der Finanzierung der Alterssi-cherung beteiligt werden. Außerdem müssen alle Erwerbstätigen – also auch Politiker, Beamtinnen und Selbststän-dige – in die Rentenkassen einzahlen. Die Rente erst ab 67 Jahren wird abge-schafft. Selbstverständlich müssen auch die Ostrenten endlich auf das Ni-veau der Westrenten angehoben wer-den.

Und statt Versicherungskonzerne mit Milliarden Euro Steuergeld zu subventi-onieren, sollen die Rentenansprüche von Geringverdienenden und Familien aufgebessert werden. Dazu muss die Förderung der Riester-Rente eingestellt werden. Wer will, darf seine Riester-Ansprüche in eine höhere gesetzliche Rente umwandeln. Schlussendlich soll

eine einkommens- und vermögensge-prüfte Solidarische Mindestrente si-cherstellen, dass niemand im Alter von weniger als 1.050 Euro netto leben muss.

Mit diesem Konzept kann Altersarmut verhindert, der erarbeitete Lebensstan-dard gesichert und allen Menschen ein würdevolles Leben im Alter ermöglicht werden.

Matthias W. Birkwald ist rentenpoliti-scher Sprecher der Fraktion DIE LINKE

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Neoliberal und rassistisch

Die AfD hat auf ihrem Parteitag in Stuttgart im Mai erstmals ein Programm beschlos-sen und damit inhaltliche Weichen gestellt. Jörg Meuthen, einer der beiden Vorsitzen-den der Partei, positionierte die AfD in Opposition zum »links-rot-grün versifften 68er-Deutschland«. Die Partei sehnt sich offenbar nach der Rückkehr zur verstaub-ten, hierarchischen und patriarchalen Gesellschaft der 1950er Jahre.

Im Programm bilden Nation und nationale Politik jenseits europäischer und interna-tionaler Einbindung den Leitfaden der Politik. »Deutschland zuerst« – nach dieser Maßgabe strebt die Partei eine grundle-gende Neuorientierung deutscher Außen- und Militärpolitik an. Die Nation begreift sie als völkisch definierten Schutzraum vor den Gefahren der Globalisierung. Sozial-politisch stellt sich die AfD als Vertreterin der angeblichen Leistungsträger der Ge-sellschaft dar.

Gegen den Gedanken der europäischen Integration stellt die Partei ihr Konzept für »ein Europa der Vaterländer«: Die Europä-

ische Union (EU) soll wieder zu einer Freihandelszone abgewickelt werden. Die Euro zone will die AfD in jedem Fall verlas-sen. Die deutsche Außenpolitik soll stärker national geprägt werden, womit sie auch die Forderung nach massiver Aufrüstung und Militarisierung der Außenpolitik be-gründet.

Neoliberales Bekenntnis zum schlanken Staat»Nur ein schlanker Staat kann daher ein guter Staat sein« – mit dem neoliberalen Bekenntnis zum Rückzug des Staates aus seiner Rolle als sozialer Anker für schwa-che Gruppen der Gesellschaft bekräftigt die AfD ihre ideologische Herkunft aus den bürgerlichen Eliten. Im Sinne marktradika-ler Ideologen soll sich der Staat auf ver-meintliche Kernaufgaben zurückziehen, zu denen gerade nicht die soziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger gehört.

Obwohl sich der Staat seit mehr als zwan-zig Jahren aus seiner sozialen Verantwor-tung zurückzieht und einen Teil der öffent-

lichen Daseinsvorsorge privatisiert hat, spricht die AfD von einer »Expansion der Staatsaufgaben«. Dahinter liegt die Ver-weigerung des wohlhabenden Kleinbürger-tums, sich als Steuerzahlerinnen und -zahler an der rudimentären Versorgung derer zu beteiligen, die in schlecht entlohn-ten, prekären oder gar keinen Arbeitsver-hältnissen stehen. Folgerichtig tritt sie für die weitere Privatisierung öffentlicher Auf-gaben ein: »Wir wollen prüfen, inwieweit vorhandene staatliche Einrichtungen durch private oder andere Organisationsformen ersetzt werden können.«

»Grundlegende Reformen« sollen »auch die Sozialversicherungen« betreffen, heißt es weiter. So sagte die Vorsitzende der Partei, Frauke Petry, »an einer weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt kein Weg vorbei«. Auch müsse man ver-mutlich über eine weitere Kürzung der Renten reden.

Dass die Partei nicht die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vertritt, zeigt sich bei ihren steuerpolitischen Forderun-

Mit ihrem Grundsatzprogramm hat die Alternative für Deutschland (AfD) ihre politische Richtung festgelegt. Noch aufschlussreicher sind einige inhaltliche Aussagen ihrer wichtigsten Repräsentanten.

Beatrix von Storch auf dem AfD­Bundesparteitag

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gen: Die Abschaffung der Vermögens-steuer, die »ersatzlose« Streichung der Erbschaftssteuer und die »Überprüfung der Gewerbesteuer« nutzen vor allem Unternehmen und Vermögenden. So er-klärt sich auch die Sorge der AfD um das Steuer- und Bankgeheimnis, das es zu wahren gelte.

Die Themen Flucht, Migration und Integra-tion werden im Programm mit einem Be-drohungsszenario unterlegt: Bedrohung deutscher Kultur, Bedrohung deutscher Frauen, Bedrohung des wirtschaftlichen Erfolgs und immer wieder Bedrohung durch Kriminalität, die von der AfD durch-weg mit Migrantinnen und Migranten im Zusammenhang gebracht wird. Ausländer-behörden bezeichnet der Entwurf durch-gehend als »Sicherheitsbehörden«, womit er zugewanderte Menschen automatisch zu Sicherheitsrisiken erklärt.

Gegen Flüchtlinge und den IslamHauptgegner der AfD ist der Islam, über den es heißt, er gehöre nicht zu Deutsch-land. Betroffen sind auch die hierzulande lebenden Muslima und Muslime, deren Religionsausübung eingeschränkt und streng reglementiert werden soll. Doch die Politik der AfD richtet sich nicht nur gegen Flüchtlinge und Menschen muslimischen Glaubens. Der Vize-Vorsitzende der AfD,

Alexander Gauland, thematisierte auch die Hautfarbe des deutschen Fußballprofis Jérôme Boateng und skandierte öffentlich eine alte Parole der NPD: »Heute tolerant, morgen fremd im eigenen Land«.

Neben dem Islam geht für die AfD pro-grammatisch die größte Bedrohung von der »Gender-Ideologie« und alldem aus, was damit herbeiphantasiert wird. Ziel der AfD ist der stärkere Rückbezug auf tradi-tionelle Geschlechterrollen, verbunden mit der Rückbesinnung der Frauen auf die Mutterrolle. Einigen in der AfD gehen diese Punkte noch nicht weit genug, sie fordern eine deutliche Verschärfung des Abtrei-bungsrechts.

Der Rechtsruck der AfD ist in Stuttgart in programmatische Form gegossen worden. Während ein Teil um den Co-Vorsitzenden Meuthen die AfD als konservative Volks-partei rechts der Union etablieren will, sucht ein anderer Teil der Partei ganz offen den Anschluss an die extreme Rechte und will zum Beispiel mit dem Front National in Frankreich kooperieren. Den Menschen, die in der AfD eine mögliche Adressatin für die oft berechtigte Wut auf die herrschen-den Verhältnisse sehen, sei gesagt: Das Programm und die Aussagen einiger ihrer wichtigsten Repräsentanten belegen, dass die AfD vor allem die herrschenden unge-rechten Verhältnisse stabilisieren will.Gerd Wiegel

Petra Pau ist Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestags und für die Fraktion DIE LINKE Obfrau des NSU-Untersu-chungsaus-schusses

Nichts daz�u gelernt?�Petra Pau warnt vor grassieren-der Gewalt gegen Flüchtlinge.

Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Hoyerswerda, Mölln, all diese und mehr Städtenamen erinnern an Pogrome gegen Migranten und Geflüchtete Anfang der 1990er Jahre. Die wenigsten Täter wurden damals belangt. Die Politik kam ihnen vielmehr entgegen und kastrierte das geltende Asylrecht.

In jener Zeit sozialisierten sich übrigens Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Sie wurden militante Neonazis und später als NSU-Trio bekannt. Zehn Morde und zwei Sprengstoffanschläge gehen auf ihr Konto.

2015 explodierte die Zahl der Anschläge auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte erneut. Wobei der Tod von Menschen häufig billigend in Kauf genommen wird. Hass und Gewalt grassieren. Anhaltend, wie die Statistik 2016 zeigt. Viele Täter waren bis dato nicht als Nazis aufgefallen. Sie gelten als nette Nachbarn, weiter-hin. Wieder scheint die »Gefahr«, angeklagt zu werden, gering. Und wie gehabt wird das verbliebene Asylrecht in Frage gestellt. Men-schen in Not werden als Kriminelle abgestempelt und Obergrenzen für humanitäre Hilfe gefordert.

Also nichts dazu gelernt? Nicht ganz! Die Zahl derer, die Geflüchte-ten uneigennützig helfen, wird hierzulande aktuell auf sieben bis neun Millionen Bürgerinnen und Bürger geschätzt. Sie sind die gute Nachricht und verdienen viel mehr Beachtung, ja Dank, als bisher.

Demonstranten ziehen am 30. April 2016 in Stuttgart während einer Protestkundgebung

gegen die AfD durch die Stadt.

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Mehr Mitbestimmung, mehr politischen Einfluss wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung. Trotzdem gibt es bis heute keine Volksentscheide auf Bundesebene. Halina Wawzyniak will das ändern.

Mehr direkte Demokratie 

Wer sich im Fernsehen eine Sitzung des Deutschen Bundestages anschaut, sieht: Die Rituale sind erstarrt, Schaufensterde-batten bestimmen das Prozedere, man ahnt, wie am Ende abgestimmt wird. Bun-destagsausschüsse tagen hinter verschlos-senen Türen, Lobbyisten gehen im Hohen Haus aus und ein, schreiben mit an Geset-zestexten, sind »Einflüsterer« und finanz-starke Interessenvertreter – ohne dass die Öffentlichkeit darüber informiert wird. »Macht Euer Kreuz und lasst uns ansons-ten in Ruhe« – dieses Signal wird damit ausgesendet. Aber damit geben sich im-mer mehr Menschen immer weniger zu-frieden. 87 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sind laut einer Emnid-Umfrage für Volksentscheide. Das ist eine kluge und mehr als qualifizierte Mehrheit. Sie wird jedoch von den Regie-renden ignoriert, im Übrigen von bisher allen Regierenden.

Demokratie in der Bundesrepublik Deutsch-land ist somit vor allem indirekte Demokra-tie: ausgeübt durch gewählte Vertreterinnen und Vertreter, in Gesetzen und Verordnun-gen festgeschrieben und versehen mit ei-nem gewaltigen bürokratischen Überbau. Zwischen den Wahlen sind Einwohnerinnen und Einwohner davon ausgeschlossen, demokratische Rechte in Anspruch nehmen zu können. Sie werden nicht gefragt, wenn neue Gesetze beschlossen werden, die ihr Leben maßgeblich verändern. Und schon gar nicht werden sie aufgefordert, über wichtige, ihren Alltag betreffende Dinge mitzuentscheiden. Zum Beispiel über Stra-tegien gegen ständig steigende Mieten in-folge von Privatisierungen und mangelnder staatlicher Wohnungsbauförderung. Wären sie gefragt worden, hätten sie möglicher-

weise kundgetan, dass die Mietpreisbremse, wie sie vom Bundestag beschlossen wurde, nichts bringen wird. Jedenfalls nichts für sie als Mieterinnen und Mieter.

Deutschland ist in Fragen direkter Demo-kratie ein Entwicklungsland. Wir verfügen zwar über die technische Möglichkeit für eine direkte politische Teilhabe, aber es wurden keine politischen Instrumente dafür geschaffen. Seit Jahren will DIE LINKE und wollen auch viele Abgeordnete von Grünen und SPD, dass Volksentscheide auch auf Bundesebene ermöglicht werden. Demokratie ohne eine solche Mitbestim-mungs- und Mitgestaltungsmöglichkeit ist defizitär.

Einzig die Union aus CDU/CSU ist der Meinung, es genüge, wenn gewählt wer-

den darf, der Rest sollte dann den Politi-kerinnen und Politikern überlassen wer-den. Eine arrogante, längst nicht mehr zeitgemäße Haltung. DIE LINKE hat vor der parlamentarischen Sommerpause einen Gesetzentwurf zur »Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung« vorge-legt. Es geht um Grundrechte für jeder-mann, um Volksbegehren, -entscheide und -initiativen auch bei bundespoliti-schen Angelegenheiten, um ein Wahlrecht unabhängig von der Staatsbürgerschaft und um Transparenz. Das Grundgesetz lässt Abstimmungen zu, es ist an der Zeit, den Bürgerinnen und Bürgern auch das Recht dafür zu geben.

Halina Wawzyniak ist rechtspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Grundrechte für alle: Einige Grundrechte im Grundgesetz gelten ausschließlich als deutsche Grund-rechte. DIE LINKE fordert, die Formu-lierung »Alle Deutschen« durch »Alle Menschen« im Grundgesetz zu ersetzen.

Einführung der dreistufigen Volksgesetz�gebung: Es bleibt die Aufgabe von Politik, Wählerinnen und Wähler zu Beteiligten zu machen. Erfahrungen mit Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden in den Bundesländern zeigen, dass sie interessiert sind, politische Entschei-dungsprozesse direkt zu beeinflussen.Ausländerwahlrecht: In Deutschland leben über 9 Millionen Menschen

nichtdeutscher Staatsangehörig-keit, zwei Drittel von ihnen seit mehr als zehn Jahren. Von Wahlen auf Bundes- und Landes-ebene sind sie ausgeschlossen. DIE LINKE beantragt eine Grundgesetz-änderung: Nach fünfjährigem Aufent-halt in Deutschland sollen sie das Wahlrecht auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene erhalten.

Verpflichtendes Lobbyistenregis-ter: Lobbyisten nehmen auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss. DIE LINKE fordert ihre Registrierung in einer öffentlich zugänglichen Daten-bank einschließlich der finanziellen Aufwendungen ihrer Aktivitäten.

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Mitreden, Mitentscheiden, Transparenz und Möglichkeiten für eine direkte Betei-ligung der Bevölkerung an wichtigen bundespolitischen Vorhaben sei eigent-lich ein »alter Hut«, meinte Halina Waw-zyniak, die Initiatorin der Konferenz. Ge-setzentwürfe dafür hätte es bereits in den vorangegangenen Legislaturen, die sie miterlebt hat, gegeben. Immer stand DIE LINKE dafür. Und eigentlich war und ist das Mitspracherecht von Bürgerinnen und Bürgern im Parlament auch mehr-heitsfähig – nur durchgesetzt wurde es nie. Allein die Union misstraut bis heute dem Sachverstand der eigenen Bevölke-rung. Die wiederum misstraut – zuneh-mend und auf vielen Ebenen – der aus-schließlich repräsentativen Demokratie. Der eindeutige Beweis: die niedrige Wahl-beteiligung.

Eine »erweiterte Demokratie, ergänzt durch eine Volksgesetzgebung« sei über-fällig, so Gregor Gysi bei der Konferenzer-öffnung. Die Wahlverweigerung sei nur der eine Grund. Der andere bedrohe die zivile Gesellschaft: das Erstarken von rechts in Europa und Deutschland. Das schafft Raum für Demagogen und Rechtspopulis-ten. Zur Debatte waren auch Wissen-schaftler, Journalisten, Vertreter außer-parlamentarischer Initiativen eingeladen. Michael Efler, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V., wies beispiels-weise nach, dass Wählerinnen und Wähler bei Volksabstimmungen »nicht schlechter oder besser entscheiden« als die Abge-ordneten in Parlamenten. Außerdem

würden Volksabstimmungen »das Ge-spräch fördern und nicht das Geschrei«. Bislang gab es jedoch noch keinen einzi-gen Volksentscheid auf Bundesebene. Über neun Millionen Menschen haben gar keine Chance, an Wahlen teilzunehmen, obwohl sie dauerhaft in Deutschland le-ben, jedoch nicht die deutsche Staatsbür-gerschaft besitzen.

Offiziell mit Hausausweis dürfen mehr als eintausend Lobbyisten hinter den Kulissen im Bundestag mitreden und in Ministerien an Gesetzen mitschreiben, 23 Ausschüsse tagen und beraten – kein einziger davon in der Regel öffentlich. Das muss sich ändern, sagt DIE LINKE und beantragte deshalb, dass es Grundrechte für jedermann gibt, nicht nur für Deutsche. Das Wahlrecht erhält, wer fünf Jahre in Deutschland lebt, gefordert wird, dass Ausschüsse öffentlich

tagen, bundesweite Volksentscheide ein-geführt werden und Transparenz durch ein Lobbyistenregister geschaffen wird. Mit-getragen, mitgefordert, miteingeklagt werden diese Rechte von vielen außerpar-lamentarischen Initiativen und Organisati-onen. Michael Efler von Mehr Demokratie e. V. sprach davon, dass den Befürwortern sehr wohl bewusst sei, »dass direkte De-mokratie nicht nur Entscheidungen bringen wird, die allen gefallen«. Doch die Chancen würden überwiegen: »Erst wenn Menschen selbst echte Möglichkeiten haben, Politik zu korrigieren oder eigene Themen zu besetzen, von denen Politik nichts wissen will, hört das Schwarze-Peter-Spiel auf, den Frust gegenüber Zuständen allein der Politik anzulasten.« Dann nämlich läge es auch an jedem selbst, wie es um die Ge-sellschaft bestellt ist. Gisela Zimmer

Menschen sollen mitentscheiden können. Auch auf Bundesebene. DIE LINKE brachte das Thema »Demokratie für alle« ins Parlament ein und diskutierte Wege und Chancen direkter Demokratie auf einer öffentlichen Konferenz in Berlin.

Das Volk ist der Souverän 

Halina Wawzyniak und Gregor Gysi mit einem

Plädoyer für mehr direkte Beteiligung von Frauen und Männern zwischen

den Wahlen.

Juni 2016 auf Einladung der Fraktion DIE LINKE: Gesprächsrunden und Gedankenaustausch zur Konferenz »Demokratie für alle«.

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Anwalt mit Humor

»Arm, aber sexy« sah Klaus Wowereit die Hauptstadt. Sein Vornamensvetter Klaus Lederer wollte sich schon zu Wowis Amts-zeiten nicht damit abfinden, Armut in Berlin quasi zu akzeptieren. Die Frage der sozialen

Gerechtigkeit, die Frage der Chancen-gleichheit für alle Kinder in der Bildung liegen ihm besonders am Herzen. Er will die prekäre Beschäftigung in Berlin zurückfah-ren und dann überwinden. Die immer weiter steigenden Mieten treiben Klaus Lederer auf die Barrikade. Deshalb streitet er für sozialen Wohnungsbau, damit jede Berlinerin und jeder Berliner würdig woh-nen kann.

In Berlin geht das Leben schneller, lauter, direkter als anderswo. Da muss man fix sein, ideenreich und vernehmbar, wenn man Gehör finden und die Dinge ändern will. Klaus Lederer passt wunderbar in diese Stadt. Er kann zuhören, streiten, analysieren, Lösungen aufzeigen – und den Mächtigen wie bei den Wasserverträgen im Abgeordnetenhaus auch gehörig auf die

Nerven gehen. Er ist ein guter Anwalt für die Gerechtigkeit in dieser Stadt, was nicht nur, aber auch mit seinem und übrigens auch meinem Beruf zu tun hat.

Wichtig ist, dass er Haltung zeigt und sich auch von Gegenwind nicht beirren lässt. Das gilt für seinen Kampf gegen rechts ebenso wie für seinen Einsatz für Geflüch-tete, wo er nicht müde wird, das Versagen der Berliner Behörden anzuprangern und mit der Berliner Linken, deren Landesvor-sitzender er seit 2005 ist, direkt Hilfe für die betroffenen Menschen zu organisieren. Er streitet für eine wirkliche Integration von Flüchtlingen und weiß, dass die Zahlen sich nur durch eine wirksame und schnelle Bekämpfung der Fluchtursachen dauerhaft verringern lassen. Deshalb ist er gegen deutsche Kriegsbeteiligungen und deut-sche Rüstungsexporte.

Klaus Lederer weiß, dass Berlin eine Met-ropole geworden ist, ein Anziehungspunkt für zahlreiche Gäste. Das will er erhalten und zugleich dafür sorgen, dass niemand verdrängt wird und sich auch die Berline-rinnen und Berliner in ihrer Stadt immer wohler fühlen. Er weiß, dass Hochkultur und Alternativkultur zusammengehören, dass der Sport an Breite gewinnen muss und einen festen Platz in der Stadt braucht.

Um all das zusammen zu denken und zu fühlen, braucht man auf jeden Fall noch etwas, was in der Politik nicht so häufig anzutreffen ist: Humor, eine zwingende Voraussetzung, wenn man in Berlin wirk-sam Politik betreiben will. Klaus Lederer besitzt ihn. Berlin darf sich freuen.

In Berlin sind im Septem-ber Wahlen. DIE LINKE schickt Klaus Lederer ins Rennen. Was Gregor Gysi über ihn denkt.

Mit jedem?�Einstmals als linke, ökologische Alternative gestartet, drängt es die Grünen immer weiter in die sogenannte Mitte. Ein Essay von Jan Korte.

In Baden-Württemberg koalieren die Grü-nen mit der CDU. Mit einer CDU übrigens, die in ihrer Geschichte maßgeblich von Rechtsaußen wie Filbinger geprägt wurde. In Niedersachsen regieren die Grünen mit der SPD. In Sachsen-Anhalt sind sie Teil einer schwarz-rot-grünen Koalition mit CDU und der SPD. In Rheinland-Pfalz sind SPD und FDP (!) Regierungspartner. In Thüringen wiederum koalieren die Grünen mit der Linken und der SPD. Fällt etwas

auf? Die Grünen koalieren offenbar mit jedem. Da stellt sich die Frage, wohin die Reise geht?

So tobt nun auch ein Streit innerhalb der Partei, ob man im Bund ebenfalls voll und ganz auf eine Koalition mit der Union set-zen sollte. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass sich diese Linie durchset-zen wird, womit der CDU praktisch eine Regie-rungsgarantie gege-ben würde. Denn mit den Grünen kämpfen bekanntermaßen auch SPD und FDP darum, als Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen zu dienen.

Wenn diejenigen Grünen, die voll auf Schwarz-Grün setzen, von einer vermeint-lich modernisierten CDU ausgehen, ist das nicht nur inhaltlich falsch. Sondern sie übersehen auch geflissentlich, dass es die CDU nur im Paket mit der CSU gibt. Sie würden Partner einer Partei, deren Anführer Horst Seehofer und Markus Söder heißen

und sich einen Wettkampf um die plattesten Parolen

mit der AfD leisten. Eine soziale, demokratische und weltoffene Politik ist mit diesen Kräften schlicht unmöglich.

Flankiert werden die schwarz-grünen Pläne davon, dass sich relevante

Klaus Lederer bei der Eröffnung des Berliner Wahl­quartiers am 3. Juni 2016

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Helmut Holter kenne ich seit 25 Jahren. Gemeinsam waren wir mittlerweile wohl in jedem Winkel unseres Heimatlandes Mecklenburg-Vorpommern. Mir imponiert, wie Helmut stets mit großer Sachkunde

auftritt, immer gut vorbereitet ist, den Leuten zuhört, sie ernst nimmt und keine leichtfertigen Versprechungen macht. Für mich ist er ein Inbegriff von Zuverlässig-keit.

In unserem Landstrich trägt man das Herz nicht auf der Zunge. Helmut zeigt nichts-destotrotz, wie Leidenschaft und kühler Kopf sehr wohl zusammengehen, wenn es um Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder gegen Hass und Intoleranz geht. Er verbin-det soziales Engagement immer mit wirt-schafts- und finanzpolitischer Kompetenz und gewinnt so Respekt bei Gewerkschaf-tern ebenso wie bei Unternehmerinnen und Unternehmern.

Als langjähriger Landesvorsitzender hat Helmut unsere Partei erstmalig in Regie-rungsverantwortung geführt und war von 1998 bis 2006 Minister für Arbeit, Bau und Landesentwicklung. Seit 2009 führt er unsere Schweriner Landtagsfraktion, ak-tuell leitet er zudem die Fraktionsvorsit-zendenkonferenz der LINKEN.

Der gebürtige Ludwigsluster ging schon als Achtzehnjähriger nach Moskau und studierte Bau stoff technologie. Bei einem zweiten Studium an der Moskwa lernte er die Armenierin Karina kennen, mit der er seither verheiratet ist und zwei Töchter hat.

Weltläufig und bodenständig – so einer passt gut an die Spitze der Landesliste der LINKEN. Ich werde Helmut im Wahlkampf nicht nur die Daumen drücken, sondern ihn und meine Partei nach Kräften unterstüt-zen. Für die Wählerinnen und Wähler ist er eine sichere Bank, denn er lebt vor, was wir im Norden so ausdrücken: »Der liebe Gott hat den Menschen den Kopf nicht dazu ge-geben, dass sie ihn hängen lassen, und die Arme nicht, dass sie am Leibe dalsacken.«

Leidenschaft und kühler KopfBei der kommenden Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern ist Helmut Holter Spitzenkandidat für DIE LINKE. Dietmar Bartsch über den Ludwigsluster.

Teile der Grünen von einer solchen Zielset-zung ohnehin verabschieden wollen: Ehe-mals fortschrittliche Positionen in der Flüchtlingspolitik werden durch die baden-württembergische Realpolitik untergraben. Ohne die Zustimmung des grünen Regie-rungschefs (!) Kretschmann hätte es weder die Gesetzverschärfungen des Asylpakets I noch eine Ausweitung von »sicheren Her-kunftsstaaten« gegeben. Und auch das Ziel, den unendlichen Reichtum der Wenigen gerecht via Steuern umzuverteilen, ist mittlerweile umstritten.

Das ist schade – denn gleichwohl gibt es zwischen Linken und Grünen durchaus Schnittmengen, wenn es um Bürgerrechte und Demokratie geht. Die Ablehnung des Überwachungsstaates eint uns durchaus.

Die Zusammenarbeit etwa in großen Teilen der Innenpolitik klappt gut. Allerdings ist unklar, wie die Grünen Fragen von Daten-schutz und einer Bändigung der Geheim-dienste ausgerechnet mit der Union durchsetzen wollen. Die CDU/CSU war und ist die treibende Kraft beim Abbau der Grund- und Freiheitsrechte, meistens flankiert von einer hinterhertrottenden Sozialdemokratie.

Und so wie bei der Frage der Umverteilung müssen sich die Grünen auch auf diesem Politikfeld entscheiden: Stillstand, weitere Aufgabe der eigenen Programmatik und Mehrheitsbeschaffer für die Konservativen wie die SPD – oder eine klare Positionie-rung für eine gerechte und freiheitliche Politik und eine klare Option auf Mitte-

Links: Für einen sozialen und demokrati-schen Aufbruch, der dem Rechtstrend eine wirkliche Alternative entgegensetzt, die Attraktivität gewinnen kann und dieses Land grundlegend sozial modernisiert. Langsam aber sicher kommt auch bei den Grünen der Zeitpunkt, wo sie Farbe beken-nen müssen.

Helmut Holter spricht am 4. September 2015 in

Rostock beim Auftakt für den Landtagswahlkampf

Jan Korte ist stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE

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Allein gelassen im Alleinerziehen

Es gibt Tage, da redet Alina Steinert nur ungern über das Alleinerziehen. Heute ist so ein Tag. Sie weint, ist traurig, vor allem erschöpft. Laut Papier ist sie seit fünf Jahren von ihrem Mann getrennt, die Er-ziehung aber – so die freiwillige Abma-chung – sollte bei beiden Eltern bleiben. Im Alltag läuft es anders. Absprachen werden nicht eingehalten, feste Termine kurzfristig abgesagt, Unterhalt unregelmä-ßig bis gar nicht gezahlt. »Ich fühle mich als alleinige Vertragsnehmerin«, sagt Alina, »immer im Stress«. Sie fragt sich, »was hat sich eigentlich geändert seit ihrer Muttergeneration«? Und – allein erziehen sei doch »keine private Angelegenheit«.

Einelternfamilien sind längst eine gesell-schaftliche Größe geworden. Im Jahr 2014 zählte das Statistische Bundesamt über 2 300 000 alleinerziehende Mütter und

etwas mehr als 400 000 alleinerziehende Väter. Sie sind – neben kinderreichen Familien – am stärksten von Armut be-droht. Ein »Skandal«, findet Birgit Uhlworm, Geschäftsführerin von SHIA – Selbsthilfe-gruppen Alleinerziehender im Land Bran-denburg. Die »Stärkung, Gleichstellung und Chancengleichheit« dieser Familien-form hatte sich der Verein bereits 1991 bei der Gründung in die Satzung geschrie-ben. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, scheitert das Vorhaben nicht etwa wegen »fehlender Erkenntnis«, sagt sie, sondern »an der Umsetzung«.

Alleinerziehend – ein ewiges Rechnen Seit vielen Jahren ist klar, was geändert werden müsste, damit die Situation für al-leinerziehende Mütter und Väter und deren

Kinder sich wirklich bessert: Verlängerung und Erhöhung des Unterhaltsvorschusses, kein Abzug des gesamten Kindergeldes oder zur Hälfte, weg mit Regelbedarfen, die nicht existenzsichernd sind, ein Kinderzu-schlag, von dem Alleinerziehende wirklich profitieren und der nicht gegen den Unter-halt aufgerechnet wird (siehe auch Kasten). Die neueste Benachteiligung kam aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter der SPD-Frau Andrea Nahles. Sie wollte alleinerziehenden Hartz-IV-Empfän-gerinnen und -empfängern das dem Kind zustehende Sozialgeld um die Tage kürzen, die es beim anderen Elternteil verbringt. Das wären pro Tag neun Euro, und das in Familien, wo ohnehin jeder Cent dreimal umgedreht werden muss. Matthias W. Birkwald, rentenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE, prangerte diese erheb-liche Verschlechterung für Alleinerziehende

Fast jede fünfte Familie in Deutschland ist eine Einelternfamilie. Darin leben über zwei Millionen minderjährige Kinder, zu 90 Prozent bei den Müttern. Eine Gleichstellung mit der tradierten Vater-Mutter-Kind-Familie ist nicht in Sicht.

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bereits in der Parlamentsdebatte an, Fami-lienverbände liefen Sturm dagegen, und so musste diese Regelung gekippt werden. Weg ist sie damit nicht, man »arbeite an einer neuen Lösung«, heißt es aus dem Nahles-Ministerium.

Wo bleibt der Respekt? Was fehle, sei die »Wertschätzung«, sagt Birgit Uhlworm. »Es wird nicht wahrge-nommen, dass Menschen tagtäglich für ihre Kinder da sind, sie betreuen, erziehen. Von Montag bis Sonntag allein die Verant-wortung tragen, und danach geht die Woche wieder von vorne los«. Alleinerzie-hende seien »keine homogene Gruppe«. Viele sind hochqualifiziert, in Lohn und Brot, haben ein soziales Netz von Freun-

den und Eltern, die im Alltag unterstützend da sind. Andere arbeiten, können davon jedoch nicht leben, sind auf zusätzliche Leistungen angewiesen. Im Land Branden-burg beziehen 40 Prozent der Alleinerzie-henden Hartz IV. Alina Steinert hatte Glück, arbeitet Vollzeit. Das nimmt die finanzielle Existenzangst. Was bleibt, ist der tägliche Kraftakt bei der Vereinbarkeit von Familie, Haushalt, Beruf, Pubertäts- und Schulsorgen der Kinder. Was ihr hilft, sind Gespräche mit anderen Frauen. »Zu sehen, wie andere leben, sich gegenseitig stützen.« Sie will ihre Tochter und den Sohn »gut ins Leben begleiten«, ist auch stolz auf ihre Entscheidung, das »eigene Leben« in die Hände genommen zu haben. »Der Preis«, sagt sie, sei zwar hoch,

und im Moment kämen auch »immer erst die Kinder und dann sie«, aber allein zu dritt leben sie ein gutes Familienleben.Gisela Zimmer

Wofür steht DIE LINKE im Bundestag?�n Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf! Mehr Zeitsouveränität, individuelles Recht auf Teilzeit, Rückkehrrecht auf Vollzeit. Umverteilung der vorhandenen Arbeit durch kollek­tive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.n Kündigungsschutz für Allein­erziehende bis zum siebten Ge­burtstag des Kindes.n Ausbau der sozialen Infrastruktur für Familie, Kinder und Jugendliche! Eine gebührenfreie bedarfs­ und altersgerechte Ganztagsbetreuung, auch außerhalb regulärer Öffnungs­zeiten. Kürzungsrücknahme in der Kinder­ und Jugendhilfe.n Gesundheitsförderung und Primärprävention für Alleinerzie­hende. Ausbau von Eltern­Kind­Kuren und Rehabilitation für Alleinerziehende.n Entfristung des Unterhaltsvor­schusses, muss bis zur Volljährig­keit des Kindes gezahlt werden. 24 Monate Elterngeld für Alleiner­ziehende. Keine Anrechnung des Elterngeldes auf Transferleistun­gen. Verfassungskonforme Berech­nung und Anhebung der Hartz­IV­Sätze für Kinder und Jugendliche.

Familie ist, wenn man Familie lebtCornelia Möhring will die Gleichstellung von Eineltern- familien

Alleine erziehen in Einelternfamilien ist eine Form unter vielen, in der Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Die Gründe, allein für Kinder zuständig zu sein, sind viel-fältig. Fakt ist: Einelternfamilien sind real, für immerhin 2,7 Millionen Eltern, 90 Prozent davon sind Frauen.

Die Politik der Bundesregierung kennt – aller rhetorischen Modernisierungen

zum Trotz – vor allem eine Konstella-tion: Vater-Mutter-Kind(er). Es hilft Alleinerziehenden wenig, wenn die Familienministerin die Vielfalt der Familienformen betont, die Bundesre-gierung, der sie nun einmal angehört, bei der Unterstützung dieser Familien-form jedoch versagt oder Familie nur dann weit fasst, wenn es darum geht, gesellschaftliche Verantwortung für Sorge und Pflege in den privaten Bereich zu schieben.

Finanzielle Entlastung für Eineltern-familien zu schaffen, wäre mit dem entsprechenden politischen Willen möglich. Mit einer Reihe kurz- fristiger Maßnahmen – Entfristung

des Unterhaltsvorschusses, 24-mona-tiger Elterngeldanspruch für Allein-erziehende, Elterngeld unabhängig von Transferleistungen – ließe sich der Lebensalltag vieler alleinerziehen-der Mütter und Väter schnell verbes-sern.

Cornelia Möhring ist frauenpoliti-sche Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Birgit Uhlworm (M.) bei der diesjähri­gen Frauenwoche im Land Branden­

burg, u. a. mit einer Debatte zu »Lebenslagen junger Frauen«

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Anfang des Jahres steht Merkel unter Druck: Teile der CDU meutern gegen ihre Politik. Die Kanzlerin will den Zuzug von Flüchtlingen stoppen – um fast jeden Preis. In ihrer Not drängt sie die Europäische Union (EU), ein Abkommen mit der Türkei zu verhandeln.

In dem Pakt, der Ende März in Kraft trat, verpflichtet sich die Türkei, Menschen auf der Flucht nach Europa zu stoppen. Ge-flüchtete, die es trotzdem von der Türkei aus bis zu den griechischen Inseln schaf-fen, werden zurückgeschickt. Im Gegenzug soll die EU für jede in die Türkei abgescho-bene Person einen bereits dort lebenden syrischen Flüchtling aufnehmen – bis zu

einer Obergrenze von 72 000 Menschen.Die Folgen dieses Deals sind verheerend. Zehntausenden Geflüchteten wird in Grie-chenland eine faire Asylprüfung faktisch verwehrt. Sie werden in Lager interniert und dann unter Zwang in ihre Herkunfts-länder oder in die Türkei gebracht. Dort erhalten die meisten Flüchtlinge nur ein vorübergehendes Bleiberecht. Illegale Abschiebungen ins Bürgerkriegsland Sy-rien stehen auf der Tagesordnung.

Für seinen Job als Frontmann der europä-ischen Abschottung streicht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sechs Milliarden Euro ein. Auch die Beschleuni-gung der Beitrittsverhandlungen zur EU

sowie Visafreiheit für türkische Staatsbür-ger vergolden ihm den Deal.

Doch es gibt auch einen ungeschriebenen Teil des Paktes: Auffällig laut schweigt die Bundesregierung zu den schweren Men-schenrechtsverletzungen in der Türkei. Auffällig demonstrativ stellt sich die Kanz-lerin an die Seite des türkischen Regenten: Auf Wunsch Erdoğans ermächtigte sie die Staatsanwaltschaft, gegen den Satiriker Jan Böhmermann zu ermitteln. Und Innen-minister Thomas de Maizière (CDU) erklärt offen, Deutschland solle die Türkei nicht weiter kritisieren, es gäbe schließlich bei-derseitige Interessen zu wahren.Nick Brauns

Der Pakt mit dem DespotenAuf Drängen von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) haben die Europäische Union (EU) und die Türkei einen dreckigen Deal vereinbart: Für sechs Milliarden Euro riegelt die Türkei die Grenzen ab. Und Merkel hofiert seitdem Erdoğan, den Boss vom Bosporus.

Kampf gegen OppositionErdoğan will die Demokratische Par-tei der Völker (HDP) als legale politi-sche Vertretung der Kurden aus-schalten. Denn diese Partei steht als linke Opposition seinen Diktaturplä-nen im Wege. Dutzende ihrer Bürger-meister sind bereits in Haft. Im Mai beschloss das Parlament die Aufhe-bung der Immunität seiner Mitglie-der. Jetzt drohen fast allen 59 Abge-ordneten der HDP Verhaftungen und Anklagen nach dem Antiterrorge-setz.

Kriegstreiber gegen SyrienErdoğan heizt den Bürgerkrieg in Syrien an. Die Türkei hält die Grenze für Terroristen des sogenannten Is-lamischen Staats (IS) und von al-Qaida offen. Unterstützung erhalten sie auch durch Waffenlieferungen und den Ankauf von geschmuggel-tem Öl. Offen droht Erdoğan mit ei-nem Einmarsch in das Nachbarland, um eine kurdische Autonomieregion zu verhindern.

Krieg gegen die KurdenSeit Erdoğan im vergangenen Som-mer die Friedensgespräche mit der kurdischen PKK abgebrochen hat, wurden über 500 Zivilisten von Ar-mee und Polizei getötet. Über Städte im Südosten der Türkei werden mo-natelange Ausgangssperren ver-hängt. Tausende Wohnhäuser wur-den durch den Beschuss von Panzern zerstört. Mittlerweile sind eine halbe Million Kurdinnen und Kurden auf der Flucht.

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Nicht zum Schweigen gebrachtIn der Türkei wurden jüngst die kritischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch die beiden Männer kämpfen weiter, berichtet Sevim Dağdelen.

Der Mut zur Wahrheit hat in der Türkei einen hohen Preis. Fünf Jahre und zehn Monate soll Can Dündar, Chef der regierungskriti-schen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis, fünf Jahre sein Kollege Erdem Gül, der das Hauptstadtbüro des Blattes leitet. Der Voll-zug der Haftstrafe ist ausgesetzt, bis das Berufungsgericht das Urteil überprüft hat.

Die Journalisten haben im vergangenen Jahr über illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an islamis-tische Terrorgruppen in Syrien berichtet, haben Fotos und Videoaufnahmen veröf-fentlicht und damit die Staatsführung um Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Be-drängnis gebracht. Die ertappten Waffen-dealer reagierten mit Lüge und Repression: Die gestoppten Lastwagen hätten keine Waffen, sondern Hilfslieferungen transpor-tiert, tönte es dreist aus Ankara. Tatsäch-lich war das Kriegsgerät für den Regime Change im Nachbarland unter Babynah-rung versteckt. Die Behörden verhängten eine Nachrich-tensperre über den Fall. Erdoğan zeigte die Journalisten persönlich an. An Dündar und Gül will der türkische Präsident ein Exem-pel statuieren. Er forderte nicht nur zwei-mal lebenslänglich für das Duo, er setzte auch durch, im Verfahren als Nebenkläger zugelassen zu werden. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit vom Prozess ausge-schlossen.

Bevor die Richter am 6. Mai ihr Urteil ver-kündeten, versuchte sich ein Anhänger Erdoğans in Selbstjustiz. In einer Prozess-pause feuerte ein polizeibekannter 40-jäh-riger Mann vor dem Gerichtsgebäude vor laufenden Kameras mehrere Schüsse auf Can Dündar ab. Seine Frau Dilek Dündar, die bei ihrem Besuch der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag im April schon bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, packte den Attentäter und verhinderte Schlimmeres. »Ich hörte, wie der Attentä-ter rief: ›Vaterlandsverräter‹ und habe zugepackt. Es war ein Reflex«, erzählte sie später. Ein Reflex, der ihrem Mann vermut-lich das Leben gerettet hat. Ein Reporter des Fernsehsenders NTV wurde durch einen Querschläger leicht verletzt, der Schütze festgenommen.

»Zwei Attentate innerhalb von zwei Stunden«

Nach dem Urteilsspruch stellte Can Dün-dar klar: »Innerhalb von zwei Stunden haben wir zwei Attentate erlebt.« Das eine sei ein juristisches. Das andere das zuvor erlebte. Für beides sei niemand anderes als Präsident Erdoğan verantwortlich. Der Staatschef sei »wie ein Staatsanwalt« aufgetreten und habe ihn zur »Zielscheibe« erklärt. Das Ziel sei klar: Unliebsame Kri-tiker sollen mundtot gemacht werden, so oder so. Can Dündar und Erdem Gül stell-

ten aber auch klar: Unterkriegen lassen sie sich nicht. »Wir werden weiterhin un-sere Arbeit als Journalisten erledigen«, versprach der Cumhuriyet-Chef. Daran könnten »alle Versuche, uns zum Schwei-gen zu bringen«, nichts ändern. Sein Ver-teidiger kündigte Berufung an.

Enttäuscht und entsetzt ist Can Dündar von der Haltung der Bundesregierung. Während er und sein Kollege sich vor Gericht verantworten mussten, verpflich-tete Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Despoten am Bosporus als Türsteher der Europäischen Union bei der Abwehr von Flüchtlingen. »In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Auto-kraten«, schrieb Dündar in einem offenen Brief an Merkel. »In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.« Vergeblich rief er sie vor ihrer Reise in die Türkei im Mai auf: »Treffen Sie sich auch mit uns!« Die Hälfte der Menschen denke anders als Erdoğan, »aber Sie hören bei Ihren Besuchen nie diesen Teil der Gesellschaft. Dabei sind wir diejenigen, die für die europäischen Werte, für Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Säkularismus in der Türkei ein-stehen.«

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE, war als Prozessbeobachterin in Istanbul und ist mit Can Dündar befreundet.

Sevim Dağdelen zu Besuch bei Can Dündar in dessen Büro wenige Tage vor Prozessbeginn.

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Die afghanische Politikerin und Frauenrechtlerin Malalai Joya im Gespräch mit Heike Hänsel über die aktuelle Situation in Afghanistan und ihr Leben im Untergrund.

Heike Hänsel: Die Medien in Deutschland interessieren sich kaum noch für Afghanistan. Wie ist derzeitig dort die Lage? Malalai Joya: Leider ist die Sicherheitslage in Afghanistan sehr schlecht. Die Taliban, der sogenannte Islamische Staat (IS), die Warlords und die NATO-Besatzungstruppen sind dafür verantwortlich. In meiner Provinz Farah ist nur die Stadt unter der Kontrolle der Regierung, der Rest wird von den Taliban regiert. Selbst in der Hauptstadt Kabul finden Selbstmordattentate statt. Allein im Jahr 2015 wurden mehr als 5 500 afghanische Soldaten getötet. Die meisten von ihnen treten der Armee aufgrund von Arbeitslosigkeit und Armut bei.

Hänsel: Dazu kommt die Gewaltherr-schaft der Warlords, die die Roh-stoffe plündern, und das Erstarken der Drogenmafia … Joya: … und die Besatzung hält an. US-Drohnenangriffe töten viele Zivilisten. Ein unsicheres Afghanistan ist für die geostra-tegische Agenda der USA von Vorteil, um die ökonomischen Projekte Russlands und Chinas in der Region zu torpedieren.

Hänsel: Welche Rolle spielt der IS in Afghanistan?Joya: Ehemalige Taliban-Führer haben die Flagge des IS in einigen Teilen des Landes gehisst. Auch islamistische Kämpfer aus Tschetschenien, Usbekistan schließen sich dem IS an. Die USA benutzen ihn, um Instabilität nach Russland, den Iran und China zu exportieren. Vordergründig bekämpfen die US-Truppen den IS, lassen ihn aber an der Grenze zu den zentralasiati-schen Republiken gewähren. Dort können Kämpfer ungehindert die Grenze über-schreiten. Die große Armut bietet den islamistischen Gruppen günstige Vorausset-zungen für die Anwerbung von Kämpfern. Der IS zahlt bis zu 600 US-Dollar pro Monat.

Hänsel: Viele junge Menschen fliehen aus Afghanistan nach Europa. Doch die meisten von ihnen werden abgeschoben.Joya: Ich verurteile die EU-Flüchtlingspoli-tik und die Abschiebung von Flüchtlingen. Die Menschen kommen aufgrund der

Sicherheitslage. Das ist ihr gutes Recht, denn die westlichen Länder, einschließlich Deutschland, sind für die schlimme Lage in Afghanistan, aber auch in Irak, Syrien, Libyen, verantwortlich, die der Grund für die Flüchtlingsbewegung ist.

Hänsel: Sind aus deiner Sicht die westlichen Militärinterventionen Ursache für den Terror in diesen Ländern? Joya: Ja, die westlichen Regierungen destabilisieren diese Länder und unterstüt-zen die brutalsten terroristischen Gruppen. Auch der Deal mit dem repressiven Regime in der Türkei ist widerwärtig. Jeder weiß, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan islamistische Milizen in Syrien und Irak unterstützt und die progressiven kurdischen Kräfte brutal unterdrückt, die in der Region die einzige Kraft gegen den IS sind. Genauso sendet der Iran afghanische Flüchtlinge nach Syrien, damit sie dort für das Regime von Baschar al-Assad kämpfen.

Hänsel: Was ist von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten im Norden Syriens zu halten? Joya: Mich beeindrucken sie, insbesondere die tapferen Frauen, die gegen den IS

kämpfen. Der Kampf gegen den islamisti-schen Terror in Kobane ist Teil des Kampfes des afghanischen Volkes. Ich hoffe, dass ich sie eines Tages treffen werde, da mich ihr Widerstand in hohem Maße beflügelt.

Hänsel: Was können Linke tun? Joya: Wir brauchen die internationale Solidarität aller progressiven Kräfte in der Welt. DIE LINKE in Deutschland muss Druck auf ihre Regierung ausüben, damit sie nicht länger diese reaktionären und korrupten Kräfte in Afghanistan unter-stützt. Wir haben progressive Organisatio-nen wie die Solidaritätspartei Afghanistans oder zivilgesellschaftliche Organisationen wie RAWA, die Proteste gegen die Regie-rung und Besatzung organisieren. Doch darüber berichten die westlichen Medien leider nicht.

Hänsel: Wie ist deine persönliche Situation? Joya: Ich erhalte Todesdrohungen und lebe nach wie vor weitgehend im Untergrund. Ich kann nicht einmal mit meiner Familie zusammenleben. Die Solidarität hat mir immer Mut gegeben. Ich brauche heute dringender denn je politische und finanzielle Unterstützung für diesen gerechten Kampf.

»Ich erhalte Todesdrohungen«

Malalai Joya (l.) beim Gespräch mit Heike Hänsel, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag in Berlin

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Im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf offenbart sich ein stark verunsichertes Land, meint Stefan Liebich

Es ist knapp ein Jahr her, da traf ich im Fahrstuhl des Axel-Springer-Hochhauses in Berlin den ehemaligen US-Außenminis-ter James Baker. Da wir auf dem Weg zur selben Veranstaltung waren, stellte ich mich vor. Auf die Nachfrage zu meiner Parteizugehörigkeit antwortete ich: »The Left.« Das kommentierte er prompt mit dem Ausruf: »Ah, Social Democrat!« Ich erläuterte, dass unsere Partei im politi-schen Spektrum links von der SPD einzu-ordnen sei und fügte hinzu: »I’m a demo-cratic socialist. Like Bernie Sanders from Vermont.« Betretenes Schweigen. Keiner von uns ahnte, dass im Ringen um die Wahl

des 45. US-Präsidenten jener Senator Sanders eine so herausragende Rolle spielen würde.

Denn zu Beginn dieses Jahres schien noch alles ganz einfach: Der Vorwahlkampf von Demokraten und Republikanern hatte noch nicht begonnen und trotzdem war eigent-lich klar, dass die Kandidatin der Demokra-ten niemand anderes als Hillary Clinton sein würde. Bei den Republikanern schien das Feld zwar deutlich unübersichtlicher, doch einer, da waren sich alle sicher, würde es nicht werden: der Immobilientycoon Donald Trump. Zu polternd, zu selbstver-liebt, einfach unpräsidial. Das republikani-sche Establishment nahm ihn nicht son-derlich ernst, wohl auch wegen seiner unzähligen verbalen Ausfälle. Nur er ver-stünde, wie der Islamische Staat tickt, eine Mauer wolle er zu Mexiko bauen, den ge-samten Nahen Osten zerbomben und keine Muslime mehr ins Land lassen. Jetzt, fünf Monate später, hat er nicht nur das ge-samte Bewerberfeld der Republikaner in die Wüste geschickt, sondern auch die notwendigen Delegiertenstimmen für die Nominierung beisammen. Trump wird der nächste Kandidat der Republikaner.

Es ist nicht egal, wer Präsident wirdBei den Demokraten ist es der 74-jährige Bernie Sanders, der die Partei in Aufruhr versetzte. Er sagt von sich selbst, er sei »demokratischer Sozialist«, und begeistert vor allem die Jugend. In einer einzigartigen Spendenkampagne forderte er seine Un-

terstützerinnen und Unterstützer auf, je-weils 27 US-Dollar zu spenden, und sam-melte so mehrere Millionen Dollar ein. Mit seinen Forderungen und seinen Erfolgen in über 20 Bundesstaaten hat er auch die Positionen von Clinton nach links verscho-ben. Sie unterstützt plötzlich einen höhe-ren Mindestlohn, lehnt das Handelsab-kommen TTIP ab und fordert mehr Einkommensgerechtigkeit. Das ist wohl auch der Grund, warum Sanders nicht aus dem Rennen ausgestiegen ist. Er weiß: Je länger seine Positionen öffentlich debat-tiert werden, desto mehr muss sich Clinton bewegen. Und in Umfragen werden ihm, und nicht Clinton, die besten Chancen eingeräumt, um bei der Wahl im November Trump zu schlagen.

Noch ist völlig offen, wer die Präsident-schaftswahl gewinnt. Viele Wählerinnen und Wähler treffen ihre Entscheidung erst in den letzten Tagen oder gar Stunden. Aus europäischer Sicht steht zumindest fest: Auch wenn kein einziger Kandidat mehr im Rennen ist, der das umstrittene Freihan-delsabkommen TTIP noch unterstützt, ist es für uns nicht egal, wer Präsident der Vereinigten Staaten wird.

Like Bernie Sanders

Die Präsidentschaftswahl in den USA findet am 8. November 2016 statt. Formal bestimmen die rund 200 Millionen Wahlberechtigten an diesem Tag lediglich Wahlmänner und –frauen. Dieses Wahlkollegium tritt am 18. Dezember zusammen und wählt den Präsidenten.Für die Republikanische Partei kandidiert der Immobilientycoon Donald Trump. Bei den Demokra-ten haben sich Bernie Sanders, ein Senator des Bundesstaats Vermont, und die ehemalige Außenministerin Hillary Clinton lange Zeit ein Kopf­an­ Kopf­Rennen geliefert. Es ist wahr­ scheinlich, dass Clinton von der Demokratischen Partei als Präsident­ schaftskandidatin nominiert wird. Andere Parteien und unabhängige Kandidaten spielen bei US­amerika­nischen Präsidentschaftswahlen zumeist keine Rolle.

Stefan Liebich ist für die Fraktion DIE LINKE Obmann im Auswärtigen Ausschuss

Bernie Sanders bei einer Wahlkampfveranstaltung

am 25. April 2016 in Connecticut.

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»Stopp TTIP! Stopp CETA!«, schallt es laut über den Opernplatz in Hannover an die-sem sonnigen Samstag Ende April. Die Menschen – 90 000 werden es an diesem Tag noch – stehen dicht gedrängt, haben Fahnen, Transparente, Trommeln und fantasievolle Kostüme dabei. Sie sind in die niedersächsische Landeshauptstadt gekommen, um gegen die Freihandelsab-kommen TTIP, TISA und CETA zu protes-tieren, die die Europäische Union mit den USA und Kanada abschließen will. Für den nächsten Tag hat sich US-Präsident Ba-rack Obama angekündigt, um gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel die

Hannover-Messe zu eröffnen und dabei für TTIP zu werben.

Barack Obama hat es eilig. Im November wird in den USA ein neuer Präsident ge-wählt. Seine Nachfolger, ob auf Seiten der Demokraten oder Republikaner, sind bis-her erklärtermaßen keine Freunde des Abkommens. Will Obama TTIP noch mit auf seine Verdienstliste setzen, muss er seine europäischen Partner langsam drängen.

Und das tut er. Michael Froman, der Han-delsbeauftragte der USA, wird nicht müde, in Interviews zu wiederholen, wie wichtig

TTIP für eine gute transatlantische Zusam-menarbeit sei. Wie groß der Druck der US-Seite auf die EU-Verhandlungspartner ist, zeigen die TTIP-Dokumente, die Green-peace Anfang Mai veröffentlichte – ein wahrer Coup, weigerten sich doch EU und Bundesregierung bisher standhaft, Einbli-cke in die streng geheimen Verhandlungen zu gewähren.

Warum die US-amerikanische Seite auf Geheimhaltung pocht, erklärt Lori Wallach, die für die Verbraucherschutzorganisation »Public Citizen« als Handelsexpertin tätig ist, in ihrer Rede in Hannover. Schon 1993

Protest gegen TTIP in Hannover90 000 Demonstrantinnen und Demonstranten kamen am 23. April nach Hannover, um gegen die geplanten Abkommen TTIP und CETA zu demonstrieren

90 000 Demonstranten auf dem Opernplatz in Hannover gegen TTIP und CETA

Groß und Klein trommeln gegen die geplanten Abkommen

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habe sich das Geheimhaltungsprinzip bei den Verhandlungen zum Abkommen NAFTA etabliert. Handelsinteressen stün-den im Vordergrund, nicht Umwelt-, Ver-braucher- und Arbeitnehmerrechte. Diese Abkommen würden, öffentlich verhandelt, niemals durchs Parlament kommen.

Zentraler Punkt der Abkommen und Haupt-kritikpunkt der Demonstranten sind die sogenannten Investitionsschutzklauseln und privaten Schiedsgerichte, die Rechts-staat und Demokratie aushebeln. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Pa-ritätischen Gesamtverbands, bringt es auf den Punkt: »Es geht ganz grundsätzlich bei diesem TTIP – und deswegen sind wir heute hier – um die Frage: Wer soll hier eigentlich das Sagen haben in Deutschland und in Europa?« Es gehe um den Wider-stand gegen die Herrschaft von multinati-onalen Konzernen über unsere Rechte als Demokraten.

Das ist eine der stärksten Triebfedern, die Menschen aus sozialen Bewegungen, Ag-rarverbänden, Gewerkschaften und Par-teien gemeinsam auf die Straße bringt: So kommt Schneider zu dem Schluss: »Wir müssen uns stemmen – gemeinsam! – ge-gen die Ökonomisierung des Sozialen in Deutschland und in der Welt.« Sein Aufruf erntet donnernden Applaus.

DIE LINKE. im Bundestag ist mit einem eigenen Wagen Bestandteil des langen Demonstrationszugs, der sich durch Han-nover bewegt. Vom Wagen aus stellen die niedersächsischen Abgeordneten der LINKEN Herbert Behrens, Diether Dehm, Jutta Krellmann und Pia Zimmermann klar, wofür sie sich im Bundestag stark machen. DIE LINKE stehe klar an der Seite der Landwirte und der ökologischen Bewe-gung, sagt Herbert Behrens. Gewerk-schafterin Jutta Krellmann kämpft für Arbeitnehmerrechte, die sie wegen feh-

lender Standards in den USA in Gefahr sieht, und Pia Zimmermann zeigt die Ge-fahr auf, die Investitionsschutzklauseln für den Sozial- und Gesundheitsbereich dar-stellen.

Weithin sichtbar prangt an der Demonst-rationsroute das Plakat der Bundestags-fraktion mit dem sich küssenden Paar Obama-Merkel: Der Slogan »Solidarität, nicht TTIP & CETA, ist die Zärtlichkeit der Völker« trifft ins Schwarze.

Nicht einmal ein Fünftel der Menschen in Deutschland sprechen sich noch für TTIP aus. 90 000 Menschen sind in Hannover auf der Straße. »Und die werden die Stim-mung in diesem Land gegen dieses Frei-beuterabkommen weiter ändern«, ist sich Diether Dehm sicher: »Die Mehrheit wird immer größer werden, bis dieses TTIP gefallen ist.«Nicole-Babett Heroven

Auch viele Abgeordnete der Bundestags­fraktion nahmen an der Demonstration teil

Weithin sichtbar das Plakat der Bundestagsfraktion auf

der Demonstrationsroute

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»Nichts mehr über uns ohne uns«Mehr Rechte, mehr Teilhabe, mehr Selbstbestimmung – das sollte das Bundesteilhabegesetz behinderten Menschen garantieren. Jetzt gibt es einen Entwurf der Bundesregierung und sehr viel Ernüchterung.

Sigrid Arnade ist richtig sauer. 369 vollge-schriebene Seiten und so gut wie nichts von dem, was Menschen mit Behinderung und andere Experten zuvor für das geplante Teilhabegesetz eingebracht hatten, sei eingeflossen. »Lieber kein Gesetz als die-ses schlechte«, sagt sie. Dabei war die Hoffnung groß. Sigrid Arnade – seit 1986 ist sie mit dem Rollstuhl unterwegs, pro-movierte Tierärztin und Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – saß mit am Runden Tisch. Sie war eine gleichberech-

tigte Stimme neben anderen wie Sozialver-bände, Städtetag, Renten- und Kranken-versicherung, Staatssekretäre, Vertreter aus dem Bundeskanzleramt. Was brauchen Menschen mit Behinderung? Wodurch werden sie in ihrem Alltag durch andere behindert? Wie zeitgemäß ist der alte Für-sorgegedanke überhaupt noch? Ein »auf-wendiges Verfahren«, seit dem Jahr 2014 über Monate hinweg, erzählt Sigrid Arnade, und jetzt: ein »Spargesetz«.

»Die Zeiten des Einlullens sind vorbei«, meint Raúl Krauthausen. Er ist der »Mann mit der Mütze«. Beruf: Aktivist. Mitbegrün-der des Vereins Sozialhelden. Unterneh-mer, Arbeitgeber. Einer, der das Bundes-verdienstkreuz verliehen bekam. Sigrid Arnade übrigens auch. Sogar gleich zwei-mal. Beide wurden vom Staat geadelt, im Alltag jedoch schreibt genau dieser ihnen vor, was sie dürfen und was nicht. Und das nur aufgrund ihrer Behinderung. In Deutschland leben mehr als zehn Millionen Menschen mit Behinderung. Bei einer Ein-wohnerzahl von 80 Millionen bedeutet das, einer von acht Menschen ist behindert, braucht Unterstützung, Begleitung, Betreu-ung im Alltag.

In der Öffentlichkeit weiß kaum jemand, dass Menschen, die auf staatlich finanzierte Assistenz angewiesen sind, vorgeschrieben bekommen, ob sie im Heim oder in den eigenen vier Wänden leben müssen oder dürfen. Der Kostenfaktor entscheidet. Sparen fürs Alter? Mehr als 2 600 Euro Rücklage sind nicht erlaubt, lebenslänglich. Behinderung und Zusammensein in einer Partnerschaft zieht nach sich, dass die oder der Liebste finanziell für den behin-derten Partner in Haftung genommen wird. Ein gerechter Lohn auf dem Arbeitsmarkt? Mehr als monatlich 798 Euro sind nicht gestattet. Jeder Euro darüber wird zu 40 bis 80 Prozent von Amts wegen einkassiert. Einen Bausparvertrag abschließen oder ein Erbe antreten? Fehlanzeige. Hinzu kommt so eine »Art Generalverdacht«, sagt Raúl Krauthausen. Ständig würde überprüft, ob der »Betreuungs- und Pflegebedarf noch korrekt« sei, Kontoauszüge müssen regel-mäßig eingeschickt werden, und zwar un-geschwärzt. »Dabei belegen Studien, dass der Aufwand fürs Kontrollieren mehr Kos-ten verursacht als einspart.«

Raúl Krauthausen hat es satt, den »Grüß-august« zu spielen. Seit seiner Geburt lebt

Demonstration und Kundgebung am 4. Mai 2016 in Berlin. Gut 5000 behinderte Menschen aus

ganz Deutschland waren zum Protest gegen das Bundesteilhabegesetz angereist.

Sigrid Arnade ruft zum Widerstand gegen das »Spargesetz« auf.

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er mit seinen »Glasknochen«, hörte irgend-wann auf, die vielen und schmerzhaften Knochenbrüche zu zählen. Schmunzelt, wenn kleine Kinder »Baby-Opa« zu ihm sagen. Diese Selbstverständlichkeit, Di-rektheit wünscht und will er auch in der Erwachsenenwelt. Allein das Wort »Heil-erziehungspflege« bringt ihn auf die Palme. »Ich will weder geheilt noch erzogen oder gepflegt werden«, sagt er. Darum geht er in Talkshows, zu Fachdiskussionen, macht Workshops in Sozialeinrichtungen. Um-denken ist das Zauberwort. Menschen mit Behinderungen sind keine »Ach-so-armen-Menschen«. Sie wollen arbeiten, nicht nur in geschützten Werkstätten, sie wollen ungehindert in Kinos und Kneipen, in The-ater und öffentliche Verkehrsmittel. Sie zahlen täglich Mehrwertsteuer wie andere auch. Sind sie in Lohn und Brot, geben sie Sozialabgaben ab wie jeder und jede an-dere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin auch und sie schaffen auf jeden Fall Ar-beitsplätze: für Fahrdienste, Krankengym-nastik, Pflegeassistenten, Förderschulen, barrierefreien Tourismus.

Anfang Mai, am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Be-hinderung, rollten Sigrid Arnade und Raúl Krauthausen vor das Brandenburger Tor. Sie sprachen vor etwa 5000 Menschen aus ganz Deutschland – vor Blinden, Ge-hörlosen, Frauen und Männern in Rollstüh-len. Die Demonstration war laut, bunt,

schrill, fröhlich und wütend. Wütend in der Ablehnung des geplanten Teilhabegeset-zes. Denn Wichtiges bleibt unerfüllt. Leben in den eigenen vier Wänden? Nur wenn es »kostengünstiger« ist. Sparen? Ja, ein biss-chen mehr. Ein Elternerbe antreten – wei-terhin unmöglich. Gleichstellung sieht anders aus.

Zur Kundgebung waren übrigens auch die jeweiligen behindertenpolitischen Spre-cher der Fraktionen im Bundestag einge-laden. Die CDU/CSU fehlte, schickte nicht einmal eine Vertretung. Die SPD wurde ausgepfiffen. Denn das geplante Bundes-teilhabegesetz kommt aus einem sozialde-mokratisch geführten Ministerium, aus dem Haus der Sozial- und Arbeitsministe-rin Andrea Nahles. Gisela Zimmer

Katrin Werner ist behinderten-politische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE

Das Gesetz� verdient den Namen nichtKatrin Werner mit einem Plädoyer für wirkliche Teilhabe, Gerechtigkeit und Respekt für Menschen mit Behinderungen.

Um es klar zu sagen: Sollte dieser Entwurf des Bundesteilhabege-setzes Wirklichkeit werden, dann wird es keine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behin-derungen am gesellschaftlichen Leben geben. Das ist, angesichts des jahrelangen Beteiligungsprozes-ses vieler Betroffener und ihrer Selbstvertretungsorganisationen ein Schlag ins Gesicht.

Wichtige Voraussetzungen zur Teilhabe werden nicht erfüllt. So sind Teilhabeleistungen weiterhin abhängig vom Einkommen und Vermögen der Menschen. Die Altersarmut von Menschen mit Behinderungen wird somit verfes-tigt. Ihr Wunsch- und Wahlrecht zum Lebensort und zur Lebens- form wird unter Kostenvorbehalte gestellt. Und der Kreis der Leis-tungsberechtigten wird durch eine höhere Anzahl Kriterien stark eingeschränkt.

Was jetzt vorliegt, ist ein Spar-gesetz. Betroffene sind zu Recht wütend und fordern die Rücknahme des Entwurfes. Dafür zeigen sie sich auf der Straße, demonstrieren, ketten sich im Berliner Regierungs-viertel an der Spreeabsperrung an. Ich hoffe, wir können den Druck zusammen mit vielen Betroffenen und Selbstvertretungsorganisatio-nen weiter erhöhen, um doch noch ein Teilhabegesetz zu bekommen, das seinen Namen verdient.

Teilhaben – aber unter welchen Bedingungen?�Gesetz�entwurf: Behinderungs­bedingte Hilfen müssen aus eigenen Einkommen und Vermögen gezahlt werden

Forderung DIE LINKE: Diese Hilfen müssen ohne Eigen­beteiligung erbracht werden.

Gesetz�: Um Hilfen zu erhalten, müssen in 5 von 9 Lebensbereichen die Fähigkeiten eingeschränkt sein.

Forderung: Der Leistungsbe­darf muss nach den tatsächli­chen Bedarfen und nicht nach bürokratischen Kriterien entschieden werden.

Gesetz�: Das Wunsch­ und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen

wird eingeschränkt und unter Kosten­vorbehalt gestellt.

Forderung: Keine Vorschrift für Lebensort und Lebensform

Gesetz�: Menschen mit Behinderungen sollen zukünftig etwas mehr sparen dürfen. Ab 2017 sollen sie 25.000 Euro inklusive Bausparverträge und Lebens­ versicherung einbehalten dürfen. Ein Guthaben, das lebenslänglich gilt. Was darüber liegt, erhält der Staat.

Forderung: Begrenzung aufheben.

Gesetz�: Zusammenleben mit Men­schen mit Behinderungen. Es müssen solange alle Hilfen für die Partnerin oder den Partner bezahlt werden, bis er oder sie selbst weniger als 25.000 Euro besitzen.

Forderung: Keine Zwangshaftung für Lebenspartnerinnen und ­partner.

Raúl Krauthausen spricht von einem Anti­Teilhabe gesetz.

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Bunte Kultur braucht ein buntes Deutschland

Musik von Karussell zeichnete sich durch musikalische und textliche Tiefgründigkeit aus. Hits wie Ehrlich will ich bleiben, Wie ein Fischlein unterm Eis, oder Als ich fortging sind gute Beispiele dafür. Im Jahr 1989 ging diese Ära zu Ende. Es wurde stiller um Karussell, fast 17 Jahre lang. Was war passiert?Wolf-Rüdiger Raschke: Wir glaubten an einen neuen Anfang. Aber es gab keinen Platz mehr für die DDR-Rockmusik. So mussten wir, wie viele Musiker, nach neuen Wegen suchen, um die Existenz zu sichern. Wir mussten eine lange Durst - strecke überstehen. Schließlich kamen junge Bandmitglieder hinzu und damit auch neue Klangfarben. Das verschmolz gut mit unseren Auffassungen von Melodien und Texten. Seit neun Jahren ist Karussell wieder zu Konzerten unterwegs.

Inwieweit hat Ihre Band die leisen, oft gefühlsbetonten Töne beibehal-ten? Welche Klangfarben dominie-ren das Programm heute?Viele alte Texte haben ja ihre Aktualität behalten, und auf bewährte Melodien wollen wir auch nicht verzichten. Mit dem Album Loslassen, das im Jahr 2011 in Berlin aufgenommen und in New York gemischt wurde, ist uns diese musikali-sche Kombination von Jung und Alt gut gelungen. Wir sind inzwischen so fest zusammengewachsen, als ob es nie anders gewesen wäre. So schließt sich der Kreis aus Vergangenheit und Zukunft, mit Freunden, Menschlichkeit und Musik.

Welche Ergebnisse der neueren Karussell-Zeit gibt es denn?Vor zwei Jahren haben wir das Album Karussell – Die größten Hits produziert. Es gestaltet sich als eine musikalische Zeitreise, weckt Erinnerungen und Emotionen, begeistert aber auch durch aktuelle Songs und vereint somit die Zuhörer über mehrere Generationen. Im Jahr 2015 hatte der Kinofilm Karussell – Vier Tage auf Hiddensee zum Schweriner Filmkunstfest Premiere. Zu unserem Band-Jubiläum wird in diesem Jahr die DVD Karussell – Ehrlich will ich bleiben: Die Geschichte der Band erscheinen. Unsere Heimatstadt Leipzig ehrt uns in

besonderer Weise: Die Leipziger Volks-zeitung veröffentlicht eine Briefmarke und einen Ersttagsbrief mit den Porträts der Musiker.

Wie politisch ist eine Rockband bei Auftritten in der heutigen Zeit?Wir waren immer politisch, sind für eine gute Integration der Flüchtlinge. Ohne ein buntes Deutschland gibt es auch keine bunte Kultur. Wir haben schon zu DDR-Zeiten Musik mit Chilenen und Algeriern gemacht und insofern mit Multikulti gute Erfahrungen gesammelt. Für uns ist eine abwechslungsreiche, vielfältige Kultur nur denkbar, wenn alle die Chance bekommen, sich daran zu beteiligen.

Im Osten ist die Band Karussell gut bekannt, im Westen weniger. Wann wird sich das ändern?Das ist ganz schwierig. Leider gibt es noch immer Sendeanstalten, die uns nicht im Südwesten oder Bayern spielen. Wir werden weiter daran arbeiten, den Sprung auf die gesamtdeutsche Musik-bühne zu schaffen. Derzeit konzentrieren wir uns auf unsere heimischen Wurzeln und geben die meisten Konzerte im Osten.

Das Interview führte Frank Schwarz

Wolf-Rüdiger Raschke, Keyboarder der Band Karussell, über musikalische Erfahrungen mit Multikulti und eine besondere Auszeichnung durch seine Heimatstadt Leipzig.

Eine Band der Generationen

In diesen Tagen feiert Karussell, eine der

Kultbands im Osten, ihr 40­jähriges

Bestehen. Mit acht Alben, Filmmusiken

und Videos tourte die Band durch Europa

und Südamerika.

Wolf­Rüdiger Raschke, Keyboarder der Band Karussell

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Page 37: Clara Nr. 40, Linker Aufbruch zu Gerechtigkeit

Woche für Woche fühlt die Fraktion DIE LINKE der Bundesregierung mit parlamentarischen Anfragen auf den Zahn. Was die Regierung gerne verheimlicht, kommt so ans Licht. Das ist wichtig für die Betroffenen und für die Öffentlichkeit. Nicht selten sind diese Anfragen auch für Journalistinnen und Journalisten der Stoff, aus dem sie ihre Artikel weben. So auch bei den folgenden drei Beispielen.

Ausgerechnet am 1. Juni, dem Internatio-nalen Kindertag, präsentierte die stellver-tretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Sabine Zimmer-mann, ihre brisante Datenauswertung: Etwa jedes siebte Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Eine Zahl, die in der Medienlandschaft für Fu-rore sorgte. Magazine wie Stern, Der Spie-gel und Focus, sämtliche Printzeitungen, Radiostationen und Fernsehsender berich-teten. Die Bundestagsabgeordnete nutzte für ihre Analyse die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur Grundsiche-rung für Arbeitsuchende, sie wertete die Zahlen der Agentur selbst aus.

Demnach war also im Durchschnitt des Jahres 2015 rund jedes siebte Kind (unter 15 Jahren) auf Hartz IV angewiesen. In ab-soluten Zahlen waren dies im Jahr 2015 1 542 310 der unter 15-Jährigen. Regional gäbe es erhebliche Unterschiede, so Zim-mermann: War in Bremen und Berlin Ende 2015 mit 31,5 Prozent fast jedes dritte Kind unter 15 Jahren von Hartz-IV-Leistungen abhängig, waren es in Bayern nur 6,5 Pro-zent. Auch war die Hilfequote in Ostdeutsch-land mit 20,3 Prozent wesentlich höher als in Westdeutschland mit 13 Prozent.

Sabine Zimmermann kommentierte ihre Erkenntnisse in meh-reren Printpublikatio-nen so: »Genauer betrachtet geht es beim Thema Kinderar-mut nicht unmittelbar um die Armut der Kin-der, sondern um die Armut ihrer Eltern und deren Auswirkung auf die Kinder. In der enormen Anzahl der Hartz-IV-Beziehen-den mit Kindern spiegelt sich die in vielen Regionen immer noch angespannte Ar-beitsmarktlage mit viel zu wenigen Ar-beitsplätzen und Niedriglöhnen wider.« Als zwei wesentliche Maßnahmen, um Arbeit wieder existenzsichernd zu ma-chen, fordert sie die Erhöhung des ge-setzlichen Mindestlohns auf 12 Euro die Stunde und die Abschaffung der syste-matischen Niedriglohnbeschäftigung in Form der Leiharbeit.

Asyl oder kein Asyl?Über »die Nordafrikaner« wurde in den letzten Monaten, besonders nach den Übergriffen auf Frauen in der Silvester-nacht in Köln, oft gesprochen. In den Kommentarspalten der großen Medienan-stalten wurde daraufhin wild spekuliert, wie viele Menschen aus Marokko, Algerien oder Tunesien nun wirklich in Deutschland Asyl bekommen haben. Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, hat einfach einmal nachgefragt. Die Antwort der Bundesregierung: Zwei Nord-afrikaner haben im Jahr 2015 Asyl in Deutschland erhalten.

Den Angaben der Bundesregierung zufolge kamen im Jahr 2015 etwa 26 000 Migran-ten aus den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien nach Deutschland. Der Bundestag hat die drei Länder kürzlich als sichere Herkunftsstaaten eingestuft.

Im Vorfeld dieser Entscheidung wollte Se-vim Dağdelen, Sprecherin der Fraktion DIE LINKE für internationale Beziehungen, wissen, wie die Bundesregierung Marokko trotz immer wieder berichteter Menschen-rechtsverletzungen zum sicheren Her-kunftsstaat erklären könne. Die Bundesre-gierung machte in ihrer Antwort klar, dass sie trotz des Wissens um willkürliche Fest-nahmen von Westsahara-Aktivisten und Folter in marokkanischen Gefängnissen an der Einstufung des Landes als sicherer Herkunftsstaat festhält. Dağdelen sagte dazu der Zeitung Die ZEIT: »Nach dem schmutzigen Deal mit der Türkei sollen nun die nächsten mit Ländern wie Marokko und Libyen folgen. Die Leidtragenden werden die Sahrauis sein, deren systematische Verfolgung in der völkerrechtswidrig be-setzten Westsahara schöngeredet wird.«

vom 19. Mai 2016

vom 19. April 2016

Auf den Zahn gefühltKinder in Hartz IV 

und Asylbewerber

vom 1. Juni 2016

Nr. 40 / Seite 37clara. Auf den Zahn gefühlt

Page 38: Clara Nr. 40, Linker Aufbruch zu Gerechtigkeit

Einblicke

Einblicke

Kaiserslautern. Abgeordneter Alexander Ulrich (M.) mit der streikenden Opel-Belegschaft vor ihrem Werk in Kaisers lautern am 3. Mai. Als 2. Bevollmächtigter der IG Metall Kaiserslautern war er Anfang bis Mitte Mai bei den Warnstreiks der Metall- und Elektroindustrie in Rheinland-Pfalz dabei.

Berlin. Gegen höhere Eintrittspreise für Hartz-IV- Beziehende, Kinder und behinderte Menschen protestierte

Gesine Lötzsch (6. v. l.) im März vor dem Tierpark Berlin. DIE LINKE fordert, dass der Senat und die Geschäftsführung des Tierparks zum alten Rabattsystem zurückkehren, damit

sich alle Bürgerinnen und Bürger einen Besuch leisten können.

Tangermünde. Seit drei Jahren ist Katrin Kunert Laufpatin für das Stendaler Hospiz. Am 17. April legte sie beim Elbdeich-Marathon eine Distanz von zehn Kilometern zurück. Mit ihrem Sponsor hatte sie vereinbart, dass sie für jeden gelaufenen Kilometer zehn Euro erhält. Fazit: weitere 100 Euro für das Hospiz.

Diyarbakır. Sabine Leidig besuchte am 21. März die Newroz-Feier, das kurdische Neujahrsfest, in Diyarbakir, um damit die demokratische Selbstbestim-mung der Menschen in Kurdistan zu unterstützen.

Wolfsburg. Pia Zimmermann (l.) verteilte anlässlich

des Weltpflege-tages am 12. Mai

Rosen an Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter sowie

Pflegekräfte des Wolfsburger

Klinikums.

Seite 38 / Nr. 40 clara.

Page 39: Clara Nr. 40, Linker Aufbruch zu Gerechtigkeit

Freiburg im Breisgau. Dem Verein Schwere(s)los! e. V. überreichte Karin Binder (l.) im April einen Scheck in Höhe von 500 Euro des Vereins der Bundestagsfraktion. Mit dem Geld wird unter anderem ein Mal projekt geför-dert, das sich an Geflüchtete richtet.

Einblicke

Hannover. Gemeinsam mit Genossinnen und Genossen aus dem Kreis Steinfurt mischte sich Kathrin Vogler (3. v. l.) unter die 90 000 Teilneh-merinnen und Teilnehmer der Demonstration gegen TTIP in Hannover am 23. April. Gemeinsam setzten sie ein Zeichen für einen gerechten Welthandel.

Wien. Anette Groth (vorne r.) besuchte Ende Mai eine Konferenz des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog in Wien. Dort kamen Palästinenserinnen aus Israel, dem Gazastreifen, dem Westjordanland, aus palästinensischen Flüchtlingsgemein-schaften in den Nachbarländern und Westeuropa zusammen. Unter anderem diskutierten die Frauen über Formen des zivilen Widerstandes gegen die zunehmende Siedlungspolitik Israels.

Berlin. Am 10. Mai, 83 Jahre nach der Bücherverbrennung durch die Nazis, lud die Fraktion DIE LINKE zur traditionsrei-

chen Veranstaltung »Lesen gegen das Vergessen« auf den Berliner Bebelplatz ein. Künstlerisch beteiligten sich unter

anderem Hermann Simon, langjähriger Direktor des Centrum Judaicum in Berlin, und die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck.

Cottbus. Harald Petzold, Kirsten Tackmann und Birgit Wöllert (v.l.n.r.) bei der Fraktion vor Ort Veranstaltung »Kohleausstieg einleiten – Strukturwandel

sozial absichern« am 3. Mai in Cottbus. DIE LINKE setzt sich dafür ein, dass die Bundes regierung ihrer finanziellen Verantwortung für die Lausitz nach-

kommt – beginnend mit dem neuen Bergbausanierungsabkommen.

Berlin. Vor dem Jobcenter in Tempelhof-Schöneberg kam Azize Tank (r.) am 3. Mai mit Bürgerinnen und Bürgern aus

ihrem Wahlkreis ins Gespräch. »Der direkte Austausch über die Sorgen und Probleme der Menschen ist wesentlicher Bestandteil meiner politischen Arbeit. Ohne den direkten

Bezug verliert die Politik an Bodenhaftung«, sagte Azize Tank.

Nr. 40 / Seite 39clara.

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Ihr gutes RechtHalina Wawzyniak, Rechtsanwältin und Mitglied der Fraktion DIE LINKE, kommentiert für clara aktuelle Urteile.

Service

Service

Jahressonderz�ahlung ist pfändbar Dies hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in seinem Urteil vom 18. Mai 2016 (10 AZR 233/15) entschieden. Nach Ansicht des BAG ist die Jahressonderzahlung nach TVÖD/VKA kein nach § 850a Nr. 4 ZPO (teilweise) unpfändbarer Betrag. In dem Verfahren ging es um Sonderzahlun-gen nach dem TVÖD/VKA. Unpfändbar seien grundsätzlich »Weihnachtsvergü-tungen« bis zum Betrag der Hälfte des monatlichen Arbeitseinkommens, höchs-tens aber bis 500 Euro. Als Weihnachts-vergütung in diesem Sinne sind auch Sondervergütungen anzusehen, die aus Anlass des Weihnachtsfestes gezahlt werden. Nur diese wiederum unterliegen dem teilweisen Pfändungsschutz. Die Jahressonderzahlung nach TVÖD/VKA jedoch sei keine »Weihnachtsvergütung« in diesem Sinne.

Staffelung von Urlaubstagen nach Lebensalter ist Diskriminierung Ein Tarifvertrag, mit dem die Dauer des der/dem Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer zustehenden Urlaubs an das Le-bensalter gekoppelt wird, ist nicht ge-rechtfertigt und verstößt gegen das AGG. So jedenfalls hat es das Bundesarbeitsge-richt (BAG) im Urteil vom 12. April 2016 (9 AZR 659/14) entschieden. Das BAG hat es als nicht ausreichend angesehen, dass hinsichtlich der Staffelung von Urlaubsta-gen pauschal auf ein »mit zunehmendem Alter gesteigertes Erholungsbedürfnis« abgestellt wurde.

Vorgeschobene Eigenbedarfskündigung In einem Beschluss vom 10. Mai 2016 (VIII ZR 214/15) hatte sich der Bundesgerichts-hof (BGH) mit einer Eigenbedarfskündigung von Wohnraum zu beschäftigen. Der BGH findet, dass eine Kündigung wegen Eigen-bedarfs auch dann vorgeschoben sein kann, »wenn ein Vermieter seit längerem Verkaufsabsichten hegt und der von ihm benannten Eigenbedarfsperson den Wohn-raum in der – dieser möglicherweise nicht offenbarten – Erwartung zur Miete über-lässt, diese im Falle eines doch noch ge-lingenden gewinnbringenden Verkaufs ohne Schwierigkeiten zum Auszug bewe-gen zu können«. Im vom BGH zu entschei-denden Fall hatte der Vermieter unter Bezugnahme auf einen Eigenbedarf seines Neffen dem Mieter im November 2010

gekündigt. Im Rahmen eines Räumungs-vergleiches wurde vereinbart, dass die Mieter bis Dezember 2012 ausziehen soll-ten, tatsächlich zogen sie im Juli 2012 aus. Das Haus wurde im April 2013 verkauft. Die Mieter klagten auf Schadensersatz wegen vorgetäuschten Eigenbedarfs.

Bundesverfassungsgericht entscheidet nicht über Verfassungs-widrigkeit von Sanktionen In einem seltsamen Beschluss vom 6. Mai 2016 (1 BvL 7/15) hat das Bundesverfas-sungsgericht (BVerfG) entschieden, sich mit der Frage, ob die Sanktionsparagrafen im SGB II mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 1 GG) vereinbar sind, nicht zu beschäftigen. Das Sozialgericht Gotha hatte diese Frage im Rahmen eines sogenannten Vorlagebeschlusses zur Ent-scheidung vorgelegt. Es war der Überzeu-gung, die Sanktionsregelungen seien ver-fassungswidrig. Das BVerfG erkennt an, dass der Vorlagebeschluss »durchaus ge-wichtige verfassungsrechtliche Fragen« aufwirft. Allerdings seien diese nicht ent-scheidungserheblich im Ausgangsverfah-ren, da nicht geklärt sei, ob die Rechtsfol-genbelehrungen der Sanktionsbescheide den gesetzlichen Anforderungen entspro-chen haben. Es würde nämlich bei mangel-hafter Rechtsfolgenbelehrung auf die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsnor-men nicht ankommen. Allerdings standen die Rechtsfolgenbelehrungen zwischen den Beteiligten überhaupt nicht in Streit.

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Service

Paul Mason: Postkapitalismus - Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Suhrkamp 430 Seiten 26,95 Euro

Patrick Kingsley: Die neue Odyssee – Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise. C.H.Beck 332 Seiten 21,95 Euro

Wenn es nach Paul Mason geht, ist die Be-seitigung des Neoliberalismus nicht so schwer: »Wir müssen die Hochfinanz unter-drücken, die Sparpolitik rückgängig ma-chen, in grüne Energien investieren und gut bezahlte Arbeit fördern. Aber was kommt danach?« Der britische Journalist erwartet ein Aufblühen der Sharing Economy, ange-trieben von dezentralen Märkten, Digitali-sierung und Netzwerken. Um seine Theorie zu begründen, streift er durch die Ge-schichte der Wirtschaftswissenschaften. Wenn stets technischer Fortschritt wie Ei-senbahnbau und automatisierte Massen-güterproduktion die Entwicklung beschleu-nigte, kommt sie nun ins Stottern, weil bestimmte wirtschaftliche Prinzipien nicht mehr passen. Der Kapitalismus erweist sich als zu unflexibel, sein Ende naht als Reform und nicht als Revolution. Ein span-nendes, gewaltiges und lehrreiches Buch.

Was genau machen Menschen durch, die auf der Flucht sind? Was treibt sie an, mo-bilisiert sie? Kann jemand, der in Sicherheit und Frieden aufwuchs, das nachempfinden und beschreiben? Der junge britische Guar-dian-Reporter Patrick Kingsley kann es. Er recherchierte in 17 Ländern auf drei Konti-nenten und begleitete Flüchtende auf ihrem gefährlichen Weg über das Mittelmeer oder den Balkan nach Europa. Sein Bericht be-rührt sehr und wirft viele Fragen an die Re-gierenden in der EU auf. Denn: »Mit jedem ihrer verzweifelten Pläne ignorierten die Po-litiker die Realität der Situation – nämlich dass die Menschen einfach kommen, ob wir es wollen oder nicht.« Wer die Probleme lö-sen will, sollte dieses Buch lesen.Steffen Twardowski

»Am frühen Morgen des 22. Juni 1941, in den ersten Stunden nach Mitternacht, ließ kaum etwas die Hölle ahnen, die sehr bald losbrechen würde.« So beginnt Joachim Käppner das Kapitel über den Überfall Hit-lerdeutschlands auf die Sowjetunion. Er markierte den Beginn eines Vernichtungs-krieges ungeahnten Ausmaßes. Holocaust und »Generalplan Ost« zur Schaffung von Lebensraum im Osten folgten. Käppner schildert die Ereignisse des Kriegsjahres 1941 von der Planung des Völkermordes im Frühjahr bis zum Scheitern der Wehr-macht vor Moskau und dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember. Es ist ein sehr lesenswertes Buch, um sich an das zu erinnern, was vor erst 75 Jahren ge-schah. Joachim Käppner fordert Antwor-ten: Wie wurde das möglich? Weshalb folg-ten so viele in Deutschland Irrsinn und Hetze? Vor allem: Was lernen wir heute da-raus? n Es wäre so einfach gewesen, diesen Mann, der am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen ermordete, als das personifizierte Böse darzustellen. Doch genau das vermeidet Åsne Seierstad und das zeichnet ihr Buch aus. Sie verurteilt Anders Breivik nicht, sie setzt sich mit ihm auseinander. Dazu recherchierte sie prä-zise seinen Lebensweg, sichtete Ermitt-lungsakten, sprach mit Familien der Opfer und seinen Angehörigen. Schließlich ana-lysiert sie seine »Unabhängigkeitserklä-rung« und beschreibt den schrecklichen Tathergang. Ausführlich schildert sie die Gerichtsverhandlung. Breivik, mehrfach ge-scheitert im realen Leben, radikalisierte sich im Internet und sah sich als modernen Tempelritter, der als »Retter des Christen-tums« kämpfen musste. Dieses Buch mag oft eine schwere Lektüre sein, umso wich-tiger ist es.

»Das Vermögen vieler Deutscher ist erheb-lich niedriger als das ihrer Nachbarn. Es zählt zu den niedrigsten in ganz Europa und ist weniger als halb so groß wie das anderer Europäer.« Das schreibt der Ökonom Marcel Fratzscher. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, gewiss keine linke Denkfabrik. Fratzscher stört die wachsende Ungleichheit, also erklärt er ausführlich ihre Ursachen und wie sie ver-schleiert werden. Denn hohe Pro-Kopf-Ein-kommen führen nicht automatisch zu einem hohen Vermögen. Zudem bestimmt die so-ziale Herkunft immer stärker, ob jemand aufsteigt oder nicht: »In kaum einem ande-ren Land bleibt Arm so oft Arm und Reich so oft Reich – über Generationen hinweg.« Vor allem verliert die Mittelschicht. Marcel Fratzscher liefert Zusammenhänge und hin-terfragt gewohnte Erklärungsmuster. Man muss seine Schlussfolgerungen nicht im-mer teilen, doch es lohnt, sie zu kennen. n

Was die Wirtschaft aus den Krisen lernen muss – so der Untertitel seines Buches – fasst James K. Galbraith bereits im Vorwort in einem Satz zusammen: »Das erste öko-nomische Ziel unserer Zeit sollte nicht das Wachstum sein, sondern die Solidarität in unserem Streben nach einem guten Le-ben.« Wenn die Wirtschaft nur langsam wächst, sollte die Gesellschaft ein würde-volles Leben und Arbeiten, soziale Sicher-heit, Gerechtigkeit und Teilhabe garantie-ren. Dazu kommt der Klimaschutz. Galbraith überprüft dazu die Wirkungen der gängigen Konzepte, also von Konjunkturprogrammen und von Sparpolitik. Letztere schneidet deutlich schlechter ab. Auch wenn sich die Analyse zuerst an das amerikanische Pub-likum wendet, lassen sich auch für die Dis-kussion in Europa wichtige Schlussfolge-rungen ziehen. Gerade hier lassen sich die sinnlosen, krisenverschärfenden Folgen der Austeritätspolitik gut studieren.

James K. Galbraith: Wachstum neu denken. Rotpunkt 304 Seiten 32 Euro

Marcel Fratzscher: Verteilungs-kampf. Hanser 264 Seiten 19,90 Euro

Åsne Seierstad: Einer von uns. Kein & Aber 544 Seiten 26 Euro

Joachim Käppner: 1941. Rowohlt Berlin 320 Seiten 19,95 Euro

Mit links gelesen

Nr. 40 / Seite 41clara.

Page 42: Clara Nr. 40, Linker Aufbruch zu Gerechtigkeit

Jürgen Grässlin hat Strafanzeige gegen Rüstungsmanager wegen widerrechtlichen Waffenhandels mit Mexiko gestellt. Nun droht ihm selbst eine Anklage.

Doppelter Justizskandal

»Kleinwaffen« – so harmlos die Bezeich-nung klingt, so tödlich ist deren Wirkung: Mit Pistolen, Maschinenpistolen, Sturm-, Scharfschützen- und Maschinengewehren werden rund drei Viertel der Opfer in Kri-sen- und Kriegsgebieten getötet. Deutsch-land ist, so die topaktuelle Analyse des Small Arms Surveys in Genf für das Jahr 2013, nach den USA und Italien der dritt-größte Kleinwaffenexporteur weltweit.

Erfreulich ist die Tatsache, dass sich in den vergangenen Jahren wiederholt Whist-leblower der drei führenden deutschen Kleinwaffenexporteure Heckler & Koch (H&K), Carl Walther und Sig Sauer bei mir meldeten und über deren offenbar illegale Waffentransfers in höchst problematische Staaten Lateinamerikas auspackten. In der Folge konnten wir mehrere Strafanzei-gen stellen.

So erstattete ich nach intensiver Prüfung zahlreicher Dokumente eines Insiders von H&K im April 2010 die erste von mehreren Strafanzeigen gegen namentlich genannte Mitarbeiter des Oberndorfer Gewehrher-stellers Heckler & Koch. Der Verdacht hatte sich massiv erhärtet, dass das – ge-messen an den Opferzahlen – tödlichste Unternehmen Deutschlands widerrechtlich Kriegswaffen in Unruheprovinzen Mexikos geliefert hatte.

Trotz klarer Dokumentenlage und umfäng-lichen Aussagen von Exportbeteiligten benötigte die zuständige Staatsanwalt-schaft Stuttgart sage und schreibe fünfein-halb Jahre, um nach meiner ersten Straf-anzeige gegen H&K endlich Anklage zu erheben. In ihrer Anklageschrift vom 13. Oktober 2015 wirft sie den beiden ehema-ligen H&K-Geschäftsführern Joachim Meurer und Peter Beyerle und vier vorma-ligen H&K-Mitarbeitern vor, Kriegswaffen »vorsätzlich« ausgeführt zu haben. In fünf

der Fälle sollen die Firmenvertreter als »Mitglied einer Bande« agiert haben. Diese habe sich »zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden«. Spätestens Anfang 2017 ist mit dem Prozessauftakt in der Schwabenmetropole zu rechnen.

Deutsche Waffen morden in MexikoSoweit der positive Teil der Entwicklung, der negative ist folgenschwer. Denn in Mexiko wird mit deutschen G36-Gewehren geschossen und gemordet, die Schuldigen sind noch immer auf freiem Fuß. Standhaft weigert sich die Stuttgarter Staatsanwalt-schaft gegen die in den Exportskandal in-volvierten Beamten der Rüstungsexport-behörden vorzugehen. Uns liegen Hunderte von Schriftstücken, Filmsequenzen und Fotos mehrerer Whistleblower vor, die die enge Kooperation von H&K-Mitarbeitern mit führenden Beamten des Bundesaus-fuhramtes (BAFA) und des Bundeswirt-schaftsministeriums (BMWI) beim Mexiko-G36-Deal in einer Triade des Todes beleuchten.

Doch dieser Justizskandal wird tatsächlich noch gedoppelt. Statt gegen die involvier-ten Vertreter der Rüstungsexportbehörden ermittelt die Staatsanwaltschaft München (nach Vorermittlungen der Staatsanwalt-schaft Stuttgart) jetzt gegen uns drei Au-toren des Buches »Netzwerk des Todes« wegen des Verdachts verbotener Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen gemäß § 353d Strafgesetzbuch. Wir hät-ten, so der Vorwurf, wissentlich aus den Gerichtsakten zitiert – dabei kennen wir diese gar nicht.

De facto ist es genau umgekehrt: Daniel Harrich hatte der Staatsan-waltschaft in unserem Namen

zahlreiche Dokumente über die Machen-schaften von H&K, BAFA und BMWi zur Verfügung gestellt. Doch statt eines Dan-keschöns wird nunmehr seitens der Staats-anwaltschaft München gegen uns drei Autoren ermittelt.

Gast-kolumne

Gastkolumne

Jürgen Grässlin, Jahrgang 1957, ist unter anderem Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffen-handel!« und der Deutschen Friedens-gesellschaft – Vereinigte Kriegsdienst-gegnerInnen (DFG-VK). Er wurde bislang mit acht Preisen für Frieden und Zivil-courage ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er zusammen mit dem Filme macher Daniel Harrich und Rechtsanwalt Holger Rothbauer für den Film »Meister des Todes« den »Grimme-Preis« (2016).

Am 10. Dezember 2016 erhält Grässlin den »Stutt-garter Friedenspreis«.

Buchtipp: Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg: Netzwerk des Todes. Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden, Heyne Verlag, München 2015

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