Claudia Lillge, ˜orsten Unger, Björn Weyand (Hg.) · dem Gebiet der Baumwollindustrie, dann auch...

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Claudia Lillge, �orsten Unger, Björn Weyand (Hg.)

ARBEIT UND MÜSSIGGANGIN DER ROMANTIK

vita activa

Herausgegeben von

Claudia Lillge und �orsten Unger

Wissenschaftlicher Beirat

Franz-Josef DeitersBernd Stiegler

Isabella von Treskow

Claudia Lillge, Thorsten Unger, Björn Weyand (Hg.)

in Verbindung mit Franz-Josef Deiters, Lydia Mühlbach und Hanneliese Palm

ARBEIT UND MÜSSIGGANG

IN DER ROMANTIK

Wilhelm Fink

Diese Publikation wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

in Ingelheim am Rhein, des Bereichs Germanistik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg sowie der Universität Paderborn

Umschlagabbildung:Matthias Kaiser, Julia Kohler

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

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Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig.

© 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;

Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5938-1

INHALT

Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

CLAUDIA LILLGE, THORSTEN UNGER, BJÖRN WEYAND

Arbeit und Müßiggang in der Romantik Eine Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

KONZEPTE DER ARBEIT UM 1800

FRANZ-JOSEF DEITERS

Arbeit und Müßiggang und das Sprechen über Literatur um 1800 . . . . . . . 39

SABINE DOERING

„Wechselnd in Müh’ und Ruh’“ Konzepte der Arbeit in Friedrich Hölderlins Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 57

CHRISTIANE WELLER

‚Lustvolle Plagen‘Arbeit und Kindheit in Adelbert von Chamissos Reise um die Welt . . . . . . . 71

DALE ADAMS

Von Maschinen und MenschenZur romantischen Rezeption des physikalischen Arbeitsbegriffs im Kontext der wachsenden Bedeutung von Wärmekraftmaschinen . . . . . . . . 85

ELKE BRÜNS

Das Dispositiv ArbeitGeorg Büchners Woyzeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

SELBSTTECHNIKEN DER MUSSE

HEIDE VOLKENING

Über europäische Arbeit und die orientalische Kunst der PassivitätFriedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

MARIO BOSINCU

Einsamkeit, Imagination und RevolteMuße als Selbsttechnik in Bonaventuras Nachtwachen: Begriffsgeschichtliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

6 INHALT

LEONHARD FUEST

Friedrich Hölderlins PalliativeMuße und Medikation im Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

BORIS ROMAN GIBHARDT

Pandoras GabenKonsum, Luxus und die neue Muße im Umfeld der klassischen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

ROBERT KRAUSE

„dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewähren“Figurationen des Müßiggangs in Heinrich Heines Briefen aus Berlin und Lutezia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

REFLEXIONEN DER KÜNSTE

MICHAEL BIES

Bilder ‚altdeutscher‘ ZeitenKunst und Handwerk in Johann Wolfgang von Goethes Erklärung eines alten Holzschnittes und E.T.A. Hoffmanns Meister Martin der Küfner und seine Gesellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

TOMASZ WASZAK

Zum Verhältnis von Arbeit und Kunst in Bonaventuras Nachtwachen . . . . 201

MONIKA SCHMITZ-EMANS

Arbeit, Muße und Schreiben bei Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

JAMES HODKINSON

Müßiggang, Zurückhaltung und die (Zusammen-)Arbeit der Poesie in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

CLAUDIA HILLEBRANDT, TOM KINDT

„Verachtet mir die Meister nicht“Zum Verhältnis von Arbeit und Kunst in Richard Wagners Ring des Nibelungen und Die Meistersinger von Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

ÄSTHETISCHE EIGENZEITEN UND TOPOGRAFIEN

KLAUS VIEWEG

„To trifle upon the road“Die Muße als „Sonntag des Lebens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

INHALT 7

CLAUDIA LILLGE

Über die MittagsruheAlltagspolitik und ästhetische Eigenzeit bei William Wordsworth, Joseph von Eichendorff und Gustave Courbet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

FRED LÖNKER

„Ihm wird die Zeit schon zu lang“Zeiterleben bei Joseph von Eichendorff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

UWE HENTSCHEL

Die Romantik und der städtische Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

ERHARD SCHÜTZ

Romantische Waldarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

MARTIN JÖRG SCHÄFER

Die bedrohliche Dimension des MüßiggehensRaumordnungen in Joseph von Eichendorffs Taugenichts . . . . . . . . . . . . . . 345

SIMON BUNKE

Gefährliche MußeZur Heterotopie der Kahnfahrt in der Romantik bei Friedrich de la Motte Fouqué, Clemens Brentano und Heinrich Heine . . . . . . . . . . . 359

LITERARISCHE FIGUREN UND SOZIALE FIGURATIONEN

URSULA REGENER

Soll und Haben in Eichendorffs WeltZum Zusammenhang der romantischen Wilhelm-Meister- und Philisterkritik mit Adam Müllers Staatstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

PATRICIA CZEZIOR

Arbeit als ObsessionDie Figur des Goldschmieds Cardillac in E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

LYDIA MÜHLBACH

Weiblichkeit zwischen Hausarbeit und InitiationDas Grimm’sche S(ch)neewittchen und ausgewählte Adaptionen . . . . . . . . . 409

VOLKER MERGENTHALER

„Bist du brav und bieder“Zur bürgerlichen Konditionierung in Wilhelm Hauffs Das kalte Herz . . . . 435

8 INHALT

ANKE DETKEN

Novellistisches Erzählen und politische BotschaftenDie „doppelte Buchhaltung“ in Heinrich Heines Florentinische Nächte . . . . 447

AUSBLICK

BJÖRN WEYAND

Wiederkehr der Romantik? Arbeit und Müßiggang in gegenwärtigen Arbeitswelten und in Carmen Losmanns Dokumentarfilm WORK HARD PLAY HARD. . . . 469

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

VORWORT UND DANKSAGUNG

Der vorliegende Band Arbeit und Müßiggang in der Romantik geht zurück auf ein internationales Symposium, das unter gleichem Titel vom 20. bis 22. Juni 2013 an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg stattfand. Die Durchführung die-ses Symposiums wurde durch einen Zuschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ermöglicht, der dafür großer Dank gebührt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz danken wir dafür, dass sie ihre Beiträge für die Publi-kation überarbeitet und uns für den Band zur Verfügung gestellt haben.

Bei der redaktionellen Einrichtung der Beiträge haben Bianca Fechtner, Juliane Patz, Maria Rosenbaum und Julia Wolf geholfen. Matthias Kaiser und Julia Kohler hatten die Idee für die Umschlaggrafik und haben die Bildmontage technisch vor-bereitet. Der Wilhelm Fink Verlag hat den Band in bewährter Weise verlegerisch betreut. Ihnen allen sei ebenfalls herzlich gedankt.

Die Finanzierung des Bandes wurde durch großzügige Zuschüsse zu den Druck-kosten ermöglicht. Hierfür danken wir an erster Stelle der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und sodann dem Bereich Germanis-tik der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg sowie der Universität Pader-born.

Würzburg, Magdeburg und Bochum im Frühling 2017Claudia Lillge, �orsten Unger, Björn Weyand

CLAUDIA LILLGE, THORSTEN UNGER, BJÖRN WEYAND

ARBEIT UND MÜSSIGGANG IN DER ROMANTIK

Eine Einführung

1. Annäherung über die Malerei

In der romantischen Malerei ist das �ema ‚Arbeit‘ äußerst rar, jedenfalls wenn man nach Repräsentationen von ‚Arbeit im Vollzug‘ Ausschau hält.1 Bei der Suche nach allseits bekannten Gemälden aus dem frühen 19. Jahrhundert, die Aspekte der Arbeitswelt gestalten, musste die studentische Arbeitsgruppe, die sich der Pla-kat- und Flyergestaltung für die Magdeburger Konferenz „Arbeit und Müßiggang in der Romantik“ angenommen hatte, daher schnell passen. Die Wahl fiel ersatz-weise auf das vortreffliche Gemälde Die Wolgatreidler des russischen Realisten Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930), gemalt in den Jahren 1870 bis 1873.2 Das groß-formatige, durch Beobachtungen und Gespräche bei den Wolgatreidlern vor Ort thematisch recherchierte und durch Skizzen, Zeichnungen und Ölstudien vorbe-reitete Bild fängt die schwere Fronarbeit der Treidler als einer sozialen Berufsgrup-pe ein, bringt dabei aber durchaus individuelle Charakterzüge zum Ausdruck.3 Mit diesem Gemälde befinden wir uns indessen im russischen Realismus,4 in einem engeren Epochensinn also mehr als ein halbes Jahrhundert nach der deutschen Ro-mantik.

1 Freilich kennt auch die romantische Malerei Motive, in denen sich Arbeit implizit über Stätten der Arbeit oder Arbeitsgeräte darstellt: Mühle im Liebethaler Grund (1823) des Nor-wegers Johan Christian Clausen Dahl (1788-1857) oder Caspar David Friedrichs Blick auf einen Hafen (1815-1816), das beispielsweise Fischerboote zeigt. Auf Friedrichs Gemälden Abend an der Ostsee (ca. 1831) und Greifswalder Hafen (ca. 1818-1820) sind im vorderen Bildteil aufgespannte Fischernetze in der Abendstimmung zu sehen.

2 Ilja Repin: Die Wolgatreidler (1870-1873). Öl auf Leinwand, 131,5 x 281 cm. Russisches Museum, St. Petersburg.

3 Vgl. Maria Karpenko / Jelena Kirillina: Ilja Repin. Malerei, Graphik. Leningrad 1984, S. 250, hier: aus dem Jahr 1870 eine Skizze und zwei Zeichnungen als Vorstudien sowie das Gesamtgemälde nebst Detailausschnitten auf Tafeln Nr. 13-20; vgl. auch die Abbildungen vollendeter Studien und des Gemäldes mit verwandtem Sujet Treidler, eine Furt durchschrei-tend (1872) in: Ilja Repin und seine Malerfreunde. Russland vor der Revolution. Eine Aus-stellung des Von der Heydt-Museums Wuppertal vom 9. Oktober 2005 bis 29. Januar 2006. Hg. v. Sabine Fehlemann. Bielefeld 2005, S. 61-65. Für eine kunsthistorische Einschätzung der Wolgatreidler vgl. Galina Tschurak: Ilja Repin – ein Künstlerleben. „Die Kunst liebe ich mehr noch als die Tugend …“, Ilja Repin. In: Ebd., S. 11-21, hier: S. 13f.

4 Auch Fjodor Dostojewski soll sich höchst anerkennend über das Gemälde geäußert haben. Vgl. Karpenko / Kirillina: Ilja Repin, S. 9.

12 CLAUDIA LILLGE, THORSTEN UNGER, BJÖRN WEYAND

Im Hinblick auf ‚Muße‘ und ‚Müßiggang‘ war hingegen rasch ein romantisches Gemälde gefunden, das sich mit den Wolgatreidlern zu der Bildmontage verbinden ließ, die den Umschlag des vorliegenden Bandes ziert: Caspar David Friedrichs (1774-1840) berühmtes Ölgemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer, entstanden etwa 1818.5 Friedrich gestaltete nach Skizzen, die er vor der Natur anzufertigen pflegte, eine felsige Ideallandschaft und setzte – wie auch in einigen anderen Ge-mälden – die Rückenansicht eines kontemplativen Betrachters, des Wanderers, in den Vordergrund.6 Die Montage lässt nun den Eindruck entstehen, als seien auch die schwer schuftenden Wolgatreidler Gegenstände der Betrachtung jenes Wande-rers. Arbeit und Müßiggang werden auf diese Weise unmittelbar miteinander kon-frontiert.7 Die Kombination der zwei Gemälde muss sozialhistorisch übrigens nicht als völlig anachronistisch angesehen werden, denn dass Menschen oder Zug-tiere, meist Pferde, später auch Treidelloks, Schiffe vom Ufer aus gegen den Strom zogen, war nicht nur an der Wolga, sondern auch an Rhein, Elbe und vielen ande-ren Flüssen und Kanälen Europas üblich. Etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Treidler (auch ‚Bomätscher‘ genannt) nach und nach durch Dampf-schleppschiffe und die Kettenschifffahrt sowie später durch mit einem eigenen Mo-tor betriebene Lastschiffe abgelöst, was auch soziale Auseinandersetzungen mit sich brachte.8

In den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts aber, in der Kernzeit der Ro-mantik, war in den meisten deutschen Ländern von industriellen Produktionswei-sen noch wenig zu sehen.9 Vorreiter der Industrieentwicklung im kapitalistischen Geist mit ihren weitreichenden Folgen für die Arbeitsumstände der Bevölkerung, etwa der Trennung von Fabrikarbeitsplatz und Privathaushalt und der Pauperisie-rung breiter Bevölkerungsschichten, war Großbritannien, und zwar zunächst auf dem Gebiet der Baumwollindustrie, dann auch bald auf dem Gebiet der Produkti-

5 Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818). Öl auf Leinwand, 98,4 x 74,8 cm. Hamburger Kunsthalle.

6 Vgl. z. B. Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (1819-1820), Mann und Frau den Mond betrachtend (1824) und Abendlandschaft mit zwei Männern (1830-1835). Für eine histori-sche Einordnung dieser Malweise mit politischen und religiösen Deutungsvorschlägen vgl. Norbert Wolf: Caspar David Friedrich 1774-1840. The Painter of Stillness. Köln 2012, S. 55-61. Vgl. generell auch Wieland Schmidt: Caspar David Friedrich. Köln 2002 [1992].

7 Wir danken Matthias Kaiser für die Idee und Julia Kohler für die technische Umsetzung dieser Bildmontage.

8 Bereits für 1848 werden erste gewaltsame Auseinandersetzungen von Treidlergruppen mit Dampfschleppern berichtet. Vgl. Rolf Schönknecht / Armin Gewiese: Auf Flüssen und Ka-nälen. Die Binnenschiffahrt der Welt. Berlin 1988, S. 49; Sylvio Süßenbach: Hafenstadt am ‚Blauen Band‘ – die Magdeburger Elbschiffahrt. Das Magdeburger Schiffahrtswesen von den Anfängen bis heute. Magdeburg 2003, bes. S. 25-27; Sigbert Zesewitz / Helmut Düntzsch / Theodor Grötschel: Kettenschiffahrt. Berlin 1987.

9 Die Entwicklung in den für die Montanindustrie relevanten deutschen Regionen Oberharz, Saargebiet, Raum Zwickau, Oberschlesien und Niederschlesien beleuchten Beiträge des Sammelbandes: Die Industrialisierung europäischer Montanregionen im 19. Jahrhundert. Hg. v. Toni Pierenkemper. Stuttgart 2002, hier: S. 19-221.

ARBEIT UND MÜSSIGGANG IN DER ROMANTIK 13

on von Eisen, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr hauptsächlich über Holzkohleöfen, sondern mehr und mehr mit Koks in Hochöfen gewonnen wur-de.10 Auf dem Kontinent waren tendenziell auch Belgien, Frankreich, Schweden und die Niederlande Deutschland technisch voraus.11 Deshalb muss es nicht über-raschen, wenn auch in der zeitgenössischen Malerei dieser Länder die neuen Ent-wicklungen in der Arbeitswelt früher zu einem �ema werden als in Deutschland, nämlich doch schon um die Wende zum 19. Jahrhundert. Klaus Türk stellt in sei-ner Anthologie zur Ikonografie der Arbeit beispielsweise die Gemälde Innenansicht eines Walz- und Schneidwerkes von Léonard Defrance (1735-1805) etwa aus dem Jahr 179012 und Édouard Pingrets (1788-1875) Visite de la duchesse de Berry à Saint-Gobain en 1824 (1824) vor.13 Beide Bilder nehmen hochstehende Zuschauer, die selbst nicht der Arbeitswelt entstammen, in das Gemälde hinein und führen ihnen wie auch dem Betrachter vor dem Gemälde die Verrichtungen im Inneren großer Werkstätten als „Spektakel“ vor, „als Schauspiel der Produktion: Rauch, Hitze, Feuer, schwitzende Körper und Maschinerie“.14 Auch in der Landschafts- malerei findet die beginnende Industrialisierung ihren Niederschlag. Philippe- Jacques de Loutherbourgh (1740-1812) malt 1801 das Gemälde Coalbrookdale by Night, das den nächtlichen Feuerschein des Hochofenwerkes in Coalbrookdale bei Shrewsbury zeigt, und zwar mit einer durchaus romantisch aufgefassten dunklen Szenerie im Vordergrund. Führen Loutherbourghs Glutschwaden eine „entfesselte

10 Vgl. Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert. Wien 2014, S. 136f. Speziell zu Großbritannien vgl. Robert C. Allen: The British Industrial Revolution in Global Perspective. Cambridge 2009.

11 Vgl. zur Industrialisierung umfassend David S. Landes: Der entfesselte Prometheus. Tech-nologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegen-wart. München 1983, hier: zur Entwicklung in England S. 52-123 und zur Orientierung Kontinentaleuropas an Großbritannien S. 124-185. Längere historische Prozesse seit der Antike und für die letzten Jahrhunderte globale Vergleichsaspekte beleuchtet Felix But-schek: Industrialisierung. Ursachen, Verlauf, Konsequenzen. Wien 2006. Anregend neuer-dings auch: Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Lars Bluma / Karsten Uhl. Bielefeld 2012.

12 Vgl. Klaus Türk: Bilder der Arbeit. Eine ikonografische Anthologie. Wiesbaden 2000, S. 155, der dieses Gemälde allerdings unter dem Titel Interieur eines Hammerwerkes (um 1780) abbildet. Im Internet werden Kopien des bei Türk abgebildeten Gemäldes unter dem Titel Innenansicht eines Walz- und Schneidwerkes (1790) angeboten; vgl. URL: http://www.kunstkopie.de/a/defrance-leonard/innenansicht-eines-walz-u.html (Stand: 11.09.2016). Christine Hoffmeister erwähnt das Gemälde ebenfalls, und zwar unter dem Titel Walzwerk (um 1790); vgl. Christine Hoffmeister: Europäische Industriegemälde zwischen Rokoko und Romantik. In: Arbeit und Industrie in der bildenden Kunst. Beiträge eines interdiszip-linären Symposiums. Mit 79 Abbildungen. Hg. v. Klaus Türk. Stuttgart 1997, S. 27-39, hier: S. 33-35. Vermutlich liegt der Irrtum hinsichtlich Titel und Datierung bei Türk.

13 Vgl. Türk: Bilder der Arbeit, S. 157. Türks Band ist außerordentlich hilfreich, differenziert aber historisch zu wenig zwischen den Herkunftsgesellschaften der berücksichtigten Kunst-werke.

14 Ebd., S. 155.

14 CLAUDIA LILLGE, THORSTEN UNGER, BJÖRN WEYAND

Naturkraft als von Menschen kaum beherrschte Macht“ vor,15 so zeigt John Sell Cotmans (1782-1842) Gemälde Bedlam Furnace von 1802 vor einer in Nebel und Dunst gehüllten Hochofenlandschaft Versatzstücke einer zerstörten Natur, einen wenig einladenden See, Baumstümpfe, „verödetes Land“.16 Eine solche ökologisch sensible Präsentation greift weit vor; erste ökologiekritische Karikaturen begegnen uns sonst erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich.17

Aus der deutschen Malerei der Romantik lassen sich tatsächlich keinerlei Bei-spiele solcher oder ähnlicher Art nennen.18 Eine Münchner Ausstellung im Jahr 1985, die deutsche Gemälde aus der Zeit von 1800 bis 1850 nach ihren Bildthe-men vorstellte, gliederte sich in die �emenbereiche „Bildnis“, „Interieur und Stadtlandschaft“, „Naturstudie und bäuerliches Genre“, „Stimmungslandschaft und Symbollandschaft“ sowie „Literarische Bildthemen“.19 Sind in der Gruppe „Interieur und Stadtlandschaft“ Menschen dargestellt, so handelt es sich eher um Künstlerfiguren wie den Maler Caspar David Friedrich selbst in seinem von Georg Friedrich Kersting (1785-1847) festgehaltenen Atelier, lesende oder aus dem Fens-ter schauende Frauen wie in Georg Carl Urlaubs (1749-1811) Frau am Fenster (1802) oder Musizierende wie in Moritz von Schwinds (1804-1871) Geigenspieler am Fenster (um 1850). Selbst Franz Eybls (1806-1880) Wirt am Krottensee (1835) erscheint nicht als arbeitender Gastronom, sondern eher selbst als Biertrinker mit nicht ganz klarem Blick.20 Allenfalls finden sich Arbeitssituationen traditioneller bäuerlicher Tätigkeiten in der Gruppe „Naturstudie und bäuerliches Genre“ einge-

15 Ebd., S. 158 (hier: auch eine Abbildung des Gemäldes). 16 Ebd. (hier: auch eine Abbildung des Gemäldes). Für den schnellen Überblick hat Klaus

Türk im Internet ein virtuelles Museum „Bilder der Arbeit“ eingerichtet, das versucht, die Ikonografie der Arbeit in der Bildenden Kunst von den Anfängen um 800 bis zur Gegen-wart einzufangen. Vgl. Klaus Türk: Bilder der Arbeit. URL: http://www.bilder-der-arbeit.de/ (Stand: 07.09.2016). Eine zusammenfassende Darstellung bietet auch der Aufsatz Klaus Türk: Arbeit in der bildenden Kunst. Ikonische Diskursformationen in der Geschichte der Moderne. In: Anthropologie der Arbeit. Hg. v. Ulrich Bröckling / Eva Horn. Tübingen 2002, S. 35-77.

17 Vgl. Türk: Bilder der Arbeit, S. 158f. 18 Christine Hoffmeister erwähnt als singulären Fall eines ‚Industriegemäldes‘ aus der deut-

schen Malerei das Gruppenbildnis Familie Remy (1776) von Januarius Zick (1730-1797). Vgl. Hoffmeister: Europäische Industriegemälde, hier: S. 35-38. Das Gemälde fängt aller-dings kein Arbeitsleben ein, sondern zeigt den Eisenhüttenbesitzer Johannes Remy im Krei-se seiner musizierenden und lesenden Familienmitglieder. Es ist also eher dem repräsentati-ven Kunstmodell verpflichtet, zeigt darin als Repräsentanten aber doch einen bürgerlichen Industriellen.

19 Vgl. den Ausstellungskatalog: Deutsche Romantiker. Bildthemen der Zeit von 1800 bis 1850. 14. Juni bis 1. September 1985, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München. Hg. v. Christoph Heilmann. München 1985. Insbesondere landschaftliche Sujets werden immer wieder als Ausstellungsthema für die bildende Kunst der Romantik geschätzt. Vgl.: Lass Dich von der Natur anwehen. Landschaftszeichnung der Romantik und Gegenwart: Kunst-halle Bremen. Hg. v. Anne Buschhoff. Bielefeld [u. a.] 2013.

20 Vgl. Heilmann: Deutsche Romantiker, S. 82f.

ARBEIT UND MÜSSIGGANG IN DER ROMANTIK 15

fangen. Bei Gemälden wie Wilhelm von Kobells (1766-1853) Bauernwagen vor Schlondorf (1815), Max von Wagenbauers (1775-1829) Heuernte (1824) oder Alb-recht Adams (1786-1862) Gebirgslandschaft mit p�ügendem Bauer (1825) kommt es dabei aber hauptsächlich darauf an, dass sich diese Szenen aus dem bäuerlichen Arbeitsleben harmonisch in die Landschaftsdarstellung einfügen und wie ein Teil der belebten Natur wirken. Das gilt selbst noch für das 1865 entstandene Gemälde Kalkofen bei Großhesselohe von Heinrich Bürkel (1802-1869),21 aber damit sind wir bereits wieder bei einem Maler des Biedermeier angelangt.

Es lässt sich also festhalten, dass in der Malerei der deutschen Romantik Arbeit im Sinne handwerklicher, landwirtschaftlicher oder industrieller Produktion nur verhalten ein �ema ist,22 anders dagegen Müßiggang. Vornehmlich in der Bedeu-tung des Mußevollen und Müßiggängerischen sind die Bilder Caspar David Fried-richs zum Inbegriff der Romantik geworden und stehen, mit Roland Barthes ge-sprochen, für ‚das Romantische‘ schlechthin: Indem ihnen ein zweites semiologisches System anhaftet, das wie ‚natürlich‘ neben allen anderen Bedeutungen immer die Romantik mitbedeutet, auf sie verweist und sie zum dominierenden Sinn über-haupt erheben kann, bilden sie ein alltagsmythologisches Zeichen der Romantik.23 In dieser Funktion machen sich beispielsweise das Cover der Zeitschrift Geo Epoche Edition: Die Kunst der Romantik und das Buchcover des Reclam-Bandes zur �eorie der Romantik Friedrichs Wanderer zunutze.24 Zudem eignen sich gleich zwei CD-Cover jüngeren Datums die Ikonografie von Friedrichs Gemälde an: Jonas Kauf-manns Album Sehnsucht (2009) montiert den Sänger in Friedrichs Landschaft (Abb. 1). Übers Meer (2010) zeigt Max Raabe ähnlich wie Friedrichs Wanderer in einer Rückansicht vor einer Küstenlandschaft.25 Eine andere Wendung, die über die Semantik von Muße und Müßiggang hinausführt, erhält Friedrichs Bildwelt in einer Aneignung seines Gemäldes Die Lebensstufen (1834) auf dem Cover der For-schung & Lehre-Ausgabe vom Juni 2014, dem Magazin des Deutschen Hochschulver-bandes. Das Heft widmet sich dem Schwerpunkt ‚Alter‘ und rückt den Müßiggang damit vor den Hintergrund eines vollendeten Erwerbslebens – eine Assoziation, die sich durch den Titel von Friedrichs Bild durchaus als gerechtfertigt erweist.26

Während es also zunächst den Anschein hat, als widme sich die Malerei der deutschen Romantik ausschließlich der Muße und dem Müßiggang, so wird an-hand dieser letztgenannten Aneignung deutlich, dass hierbei auch Aspekte von Ar-

21 Vgl. zu den genannten Gemälden die Abbildungen und Erläuterungen ebd., S. 130-139. 22 Locher nennt als ‚drei große Themen der Romantik‘: „die Freundschaft verwandter Seelen,

die Einheit von Kunst und Religion und die Verbindung von Italien und Deutschland“. Hubert Locher: Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2005, S. 21.

23 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Berlin 2010 [1957], bes. S. 249-316. 24 Vgl. Geo Epoche Edition: Die Kunst der Romantik 10 (2014); Theorie der Romantik. Hg.

v. Herbert Uerlings. Stuttgart 2000. 25 Vgl. Max Raabe: Übers Meer. CD: Decca 2010; Jonas Kaufmann: Sehnsucht. CD: Decca

2009. 26 Zu einer weiteren aktuellen Aneignung von Friedrichs Bildwelt siehe den Beitrag von Björn

Weyand in diesem Band.

16 CLAUDIA LILLGE, THORSTEN UNGER, BJÖRN WEYAND

beit als zumindest implizite Bedeutungen mit zu bedenken sind. Das Gleiche gilt für die Literatur dieser Zeit: Auch hier scheinen auf den ersten Blick eher Formen von Muße und Müßiggang vorgeführt zu werden; doch werden die Beiträge dieses Bandes darlegen, dass romantische Texte in gleicher Weise einen ebenso breiten wie differenzierten Zugang zu historischen Semantiken von Arbeit eröffnen.

2. Arbeit und Müßiggang: Zur Begriffsverwendung in der Zeit der Romantik

Aber ist Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer und ist überhaupt die in der ro-mantischen Literatur häufig auftretende Figur des Wanderers denn eigentlich ein Müßiggänger,27 wie Friedrich Schlegel (1772-1829) ihn in der Lucinde (1799) zu propagieren scheint und Joseph von Eichendorff (1788-1857) ihn im Taugenichts (1826) gestaltet? Oder ist der Wanderer vielmehr jemand, der sich der Muße hin-gibt, möglicherweise sogar auf den Kuss der Muse wartet? Speziell für Friedrichs Gemälde ist das kaum zu entscheiden. In der vom Bild eingefangenen Situation wäre er als ein ‚Stehender mit Wanderstock‘ oder als ein ‚Schauender‘ zu bezeich-nen, der allenfalls seinen Blick und vielleicht seine Gedanken über das Nebelmeer wandern lässt. Nehmen wir ihn als Wanderer, so hätte er jedenfalls gerade einen Punkt in der Landschaft erreicht, der ihm ein Innehalten bei dieser Aussicht er-laubt.

27 Für einen ersten Systematisierungsversuch des Wandermotivs in der Literatur vgl. Edith Glatz: ‚Wandern‘ in poetischen Texten. Würzburg 2011.

Abb. 1: CD-Cover zu Jonas Kaufmanns: Sehnsucht

ARBEIT UND MÜSSIGGANG IN DER ROMANTIK 17

Wichtiger ist in unserem Zusammenhang indes, dass Muße und Müßiggang schon Anfang des 19. Jahrhunderts keine Synonyme waren. Adelungs Wörterbuch defi-niert Muße als „die von ordentlichen Beschäftigungen, von Berufsgeschäften übri-ge oder freye Zeit, Befreyung von ordentlichen Geschäften. […] Imgleichen die völlige Freyheit von allen pflichtmäßigen Beschäftigungen.“28 Muße bedeutet nach dieser Definition also nicht Untätigkeit schlechthin, sondern die Möglichkeit, frei wählen zu können zwischen Untätigkeit und Tätigkeit, ohne aber in der zur Verfü-gung stehenden Zeit zu der gewählten oder irgendeiner anderen Tätigkeit ver-pflichtet zu sein. Seit der Antike war Muße in diesem Sinne positiv konnotiert. Platon (ca. 428-347 v. Chr.) hielt Muße für erforderlich zum Philosophieren.29 Aristoteles (384-322 v. Chr.) nennt Muße eine Voraussetzung für Glück. In seiner Ethik ist Muße ein „Tätig-sein des Geistes“, das „nach keinem außerhalb gelegenen Ziele strebt, ferner vollendete Lust […] wesensmäßig in sich schließt“.30 In der Neuzeit und besonders seit dem 18. Jahrhundert tritt die privilegierte Position der Muße als Lebensmodus, welcher der Kunst, dem Philosophieren und der Wissen-schaft förderlich wäre, zurück, und diese Tätigkeitsfelder werden zunehmend eben-falls unter dem Begriff der ‚Arbeit‘ gefasst;31 insofern ist Adelungs Bestimmung als „von Berufsgeschäften übrige oder freye Zeit“ bereits eine Definition, die den Mu-ßebegriff nicht mehr ohne einen Bezug zum Begriff der Arbeit zu fassen vermag.

Müßiggang definiert Adelung indessen als „die unthätige Unterlassung der pflichtmäßigen Arbeit, und in engerm Verstande, die Fertigkeit dieser Unter-lassung“.32 Um Müßiggang handelt es sich um 1800 demnach, wenn man nicht arbeitet, obwohl man eigentlich arbeiten müsste. In einer solchen Bestimmung setzt der Begriff des ‚Müßiggangs‘ also eine Arbeitspflicht voraus. Und der Hinweis auf die Fertigkeit der Arbeitsunterlassung verweist auf die Gefahr, eine müßiggän-gerische Lebensweise, also die Vernachlässigung der Arbeitspflicht, zu einer Hal-tung auszuprägen, zu einem Müßiggängertum. Gegen diese Haltung zogen die Philanthropen des späten 18. Jahrhunderts, also am Vorabend der Romantik, zu Felde.33 Bis heute haben sich Sprichwörter gehalten wie „Müßiggang ist aller Laster

28 Johann Christoph Adelung: Die Muße. In: Ders.: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1777, Bd. 3, Sp. 626f. Der zitierte Wortlaut blieb in der Auflage von 1798 unverändert.

29 Vgl. N. Martin: Muße. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter / Karlfried Gründer. Darmstadt 1984, Bd. 6, Sp. 257-260.

30 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Stuttgart 2003 [350 v. Chr.], S. 289. 31 Vgl. Martin: Muße, Sp. 258f. 32 Johann Christoph Adelung: Der Müßiggang. In: Ders.: Versuch eines vollständigen gram-

matisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart, Sp. 628. Der zitierte Wortlaut blieb in der Auflage von 1798 unverändert.

33 Vgl. orientierend Thorsten Unger: Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden. In: Repräsentationen von Arbeit. Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen. Hg. v. Susanna Brogi / Carolin Freier / Ulf Freier-Otten / Katja Hartosch. Bielefeld 2013, S. 59-86, hier: S. 60-66.

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Anfang“.34 Im heutigen Sprachgebrauch würden wir die Erstellung eines Kunst-werkes in der Regel nicht Stunden des Müßiggangs zuordnen, Stunden der Muße jedoch schon. Der Begriff des ‚Müßiggangs‘ hat bis heute eine pejorative Konnota-tion, wie ja auch das Adjektiv „müßig“ neben der engeren Bedeutung „keiner [sinnvollen] Beschäftigung nachgehend; [auf gelangweilte Weise] untätig“ auch die abwertende Bedeutung „überflüssig, unnütz, zwecklos“ hat.35

Natürlich bedarf auch der Begriff der ‚Arbeit‘ zumindest einer Arbeitsdefinition, die sich im vorliegenden Zusammenhang zunächst ebenfalls an der zeitgenössi-schen Begriffsverwendung um das Jahr 1800 orientieren mag.36 Adelung belegt in seinem Wörterbuchartikel den Gebrauch des Wortes ‚Arbeit‘ in zweifacher Hin-sicht, zum einen für die Verrichtung, zum anderen für das durch die Tätigkeit her-vorzubringende oder hervorgebrachte Werk. Der Artikel lautet in den wesentlichen Auszügen:

Die Arbeit, plur. die -en, ein Hauptwort, welches sowohl die Anwendung der Leibes- und Seelenkräfte, als auch den Gegenstand dieser Anwendung zu bezeichnen ge-braucht wird. Es bedeutet also,I. Die Anwendung seiner Kräfte […]; und zwar,1. In eigentlicher Bedeutung, die Anwendung der Leibeskräfte, vornehmlich, um zeitliches Vermögen damit zu erwerben. […] Besonders haben sich dieses Wort die Handwerker eigen gemacht, den ganzen Umfang der zu ihrem Handwerke gehörigen Beschäftigungen damit auszudrucken.2. In weiterer Bedeutung, die pflichtmäßige Anwendung der Seelenkräfte; in welcher Bedeutung die mehresten der oben von der Leibesarbeit angeführten Ausdrücke gleichfalls üblich sind. Man sagt daher auch hier: seine Arbeit verrichten, sich an eine Arbeit machen, an seine Arbeit gehen u. s. f.3. Figürlich. (1) Die innere Bewegung lebloser Körper, besonders diejenige, welche durch die Gährung hervorgebracht wird. […] (2) Mühe, Beschwerlichkeit. Das hat mir viele Arbeit gekostet. Viele Mühe und Arbeit ausstehen. Ehedem erstreckte sich die-se Bedeutung noch weiter, und war für Verdruß, Schmerzen, Verfolgung u. s. f. sehr gewöhnlich. […] Im Hochdeutschen ist diese Bedeutung nicht mehr üblich, außer daß Arbeit zuweilen noch für Mühe gebraucht wird.II. Der Gegenstand der Arbeit, und zwar,1. Dasjenige, was durch die Arbeit hervorgebracht werden soll. Einem eine Arbeit ge-ben, auftragen. Er hat viele Arbeiten, ist mit Arbeiten überhäuft. […]

34 Wanders Sprichwörterlexikon belegt früheste Quellen im 17. Jahrhundert, z. B. Christoph Lehmanns Florilegium Politicum. Politischer Blumengarten von 1630. Vgl. Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörterlexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Aalen 1963 [1873], Bd. 3, Sp. 791f.

35 [O. Verf.]: müßig. In: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bän-den. Hg. v. Wiss. Rat der Dudenredaktion. Mannheim 1999, Bd. 6, S. 2665. Passagen in eckigen Klammern sind original.

36 Ausführlich zur Geschichte des Arbeitsbegriffs vgl. immer noch Werner Conze: Arbeit. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck. Stuttgart 1972, Bd. 1, S. 154-215; sowie neuerdings Manfred Füllsack: Arbeit. Wien 2009.

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2. Dasjenige, was durch Arbeit hervorgebracht worden. Das ist seiner Hände Arbeit, d. i. er hat es verfertiget. […]37

Adelungs Artikel ist gut geeignet, um auf einige virulente Entwicklungen im Feld der Arbeit um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hinzuweisen, die sich be-reits in der Sprachverwendung niedergeschlagen haben: Erstens wird die figürliche Bedeutung von Arbeit als Mühe und Beschwerlichkeit, die für den mittelhochdeut-schen Sprachgebrauch zentral war,38 als im Hochdeutschen nicht mehr üblich ein-geschätzt (I.3(2)); die einst dominierende negative Konnotation des Wortes ist da-mit weit zurückgetreten.39 Zweitens kann neben die Anwendung der Leibeskräfte, wofür die Verwendungsweise des Begriffs bei den Handwerkern herausgestellt wird, bereits eine „pflichtmäßige“ Anwendung der Seelenkräfte, mithin geistige Tätigkeit, ebenfalls als Arbeit bezeichnet werden (I.2), sofern sie zum Zweck des Erwerbs erfolgt. Drittens bleibt die Zweckbestimmung des Arbeitens jedoch noch eng und unscharf, wenn hier lediglich der Erwerb zeitlichen Vermögens angeführt wird (I.1). Schon Joachim Heinrich Campe (1746-1818), der sich 1807 in seinem Wörterbuchartikel sonst sehr deutlich an Adelung anlehnt, fasst die Zweckbestim-mung offener, und das heißt auch: offener für weitere Präzisierungen, wenn er knapp formuliert: „Arbeit […] Die angestrengte Anwendung der Leibes- oder See-lenkräfte zur Erreichung eines Zweckes“.40 Tätigkeiten, die nicht auf einen Zweck gerichtet sind, fallen hier also aus dem Begriff heraus. Wenige Jahrzehnte später sollten über den Zweck menschlicher Arbeit erheblich präzisere Überlegungen for-muliert werden. Als Gipfelpunkt der anthropologischen Bedeutung von Arbeit lässt sich vielleicht Karl Marx’ (1818-1883) in der Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) im Jahr 1844 geprägte Bestimmung des „wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit“ ansehen.41

37 Johann Christoph Adelung: Die Arbeit. In: Ders.: Versuch eines vollständigen gramma-tisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1774, Bd. 1, Sp. 375f.

38 Nach Lexer bezeichnet „arbeit“, auch „erbeit“, im Mittelhochdeutschen, neben dem durch Arbeit zustande Gebrachtem, also dem Werk, besonders: „mühe, mühsal, not die man leidet od. freiwillig übernimmt (mit gen. dessen, wovon die not hervorgebracht wird)“ sowie sogar auch „strafe“. Vgl. Matthias Lexer: arbeit, arebeit. In: Ders.: Mittelhochdeutsches Hand-wörterbuch. Leipzig 1872, Bd. 1, Sp. 88.

39 Vor der Aufklärung hat besonders die Reformation zu einer Aufwertung des Arbeitens gera-dezu als praktizierte Nächstenliebe und damit als Form des Gottesdienstes beigetragen. Un-ter den Reformationsschriften ist hierfür neben anderen zentral: Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Stuttgart 1990 [1520], hier: bes. S. 17, 44f. Vgl. zu den entsprechenden frühneuzeitlichen Entwicklungen des Arbeitsverständnisses immer noch Klara Vontobel: Das Arbeitsethos des deutschen Protestantismus. Von der nachreformatori-schen Zeit bis zur Aufklärung. Bern 1946.

40 [O. Verf.]: Die Arbeit. In: Wörterbuch der Deutschen Sprache. Hg. v. Joachim Heinrich Campe. Braunschweig 1807, Bd. 1, S. 200f., hier: S. 200.

41 Vgl. Karl Marx: Nationalökonomie und Philosophie [1944]. In: Ders.: Die Frühschriften. Hg. v. Siegfried Landshut. Stuttgart 1971, S. 225-316, hier: S. 269.

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Gut erkennbar wird an der zweiteiligen Adelung’schen Begriffsbestimmung indes-sen, wie hier der Aspekt des (zuweilen mühseligen) Tätigseins zur Sicherung des Lebensunterhalts – Adelung sagt: zum Vermögenserwerb – auf der einen Seite und der Aspekt der Wertschöpfung, des Herstellens von Gütern auf der anderen sich ergänzen. Andrea Komlosy hat kürzlich in ihrer lesenswerten wirtschaftsgeschicht-lichen Darstellung das „Sprachfeld Arbeit“ auch vergleichend aufgearbeitet und daran erinnert, dass diese zwei Dimensionen der Arbeit, ausgehend vom Griechi-schen πόνος (pónos) für mühevolle Arbeit und ἔργον (érgon) für das kreative Werk (beziehungsweise labor und molestia sowie opus im Lateinischen), sich in allen mo-dernen indoeuropäischen Sprachen wiederfinden, vom deutschen Arbeit und Werk über das spanische trabajo und obra bis zum polnischen robota und dzieło.42 Cha-rakteristisch für den Entwicklungsstand Anfang des 19. Jahrhunderts ist, dass diese zwei Aspekte miteinander verbunden sind, sodass auch das ‚Werk‘ (und nicht nur das handwerklich gefertigte, sondern auch das geistige ‚Opus‘) als durch Arbeit hervorgebracht gedacht wird und nicht etwa durch Muße. Hannah Arendt (1906-1975) hat die Differenzierung in ihrer Auseinandersetzung mit dem modernen Ar-beitsbegriff unter den Begriffen des ‚Arbeitens‘ und des ‚Herstellens‘ noch einmal deutlich auf den Punkt gebracht, wobei sie für das Arbeiten das bei Adelung noch nicht vorkommende Moment des Repetitiven betont:

Im Gegensatz zum Herstellen, das zu Ende ist, wenn der Gegenstand die ihm ange-messene Gestalt erhalten hat und nun als fertiges Ding der vorhandenen Dingwelt eingefügt werden kann, ist das Arbeiten niemals „fertig“, sondern dreht sich in un-endlicher Wiederholung in dem immer wiederkehrenden Kreise, den der biologische Lebensprozeß ihm vorschreibt und dessen „Mühe und Plage“ erst mit dem Tod des jeweiligen Organismus ein Ende findet.43

Heute wird das Konzept noch weiter ausgeweitet, indem auch das dritte bei Arendt diskutierte Feld menschlichen Tätigseins, das ‚Handeln‘, und speziell das Handeln im Sozialsystem der Politik im gängigen Sprachgebrauch der Arbeit subsummiert wird. Arendt führt Handeln und Sprechen als die beiden identitätssetzenden Akti-onsformen des Menschen ein, die ihn aktiv von anderen unterscheiden. Staatspoli-tisch Handelnde produzieren letztlich nicht weniger als Geschichte.44 In der Anti-ke war das Handeln in der Polis eine Sache der Freien und wurde streng von der Sphäre der Arbeit unterschieden. Den umgekehrten Effekt diagnostizierte unter anderem Rainer Hank Ende des 20. Jahrhunderts:

42 Vgl. Komlosy: Arbeit, S. 36-40. Komlosy bezieht die modernen Sprachen Deutsch, Eng-lisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Polnisch und Serbisch in die Untersu-chung ein und nimmt eine sehr erhellende Analyse des heutigen Wortfelds ‚Arbeit‘ vor, die sie mit Entsprechungen bzw. Nichtentsprechungen im Chinesischen vergleicht. Vgl. ebd., S. 44-52.

43 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München [u. a.] 1994 [1958], S. 90. 44 Ebd., S. 164-243, speziell zu den hervorgehobenen Punkten S. 165-69 und 174f.

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Daß das Engagement für die Politik überhaupt noch Menschen anzieht, konnte nur mittels eines Tricks gelingen: Auch Politik läßt sich verstehen als Beruf. Politik ist dann Arbeit, nicht mehr undiszipliniertes, aber verantwortetes Schwadronieren über die Angelegenheiten des Gemeinwesens wie in den Zeiten Athens.45

Für das 20. Jahrhundert kann Hank hierbei schon die Titelformulierung aus Max Webers (1864-1920) berühmtem Vortrag über Politik als Beruf aus dem Jahr 1917 aufgreifen.46 Anfang des 19. Jahrhunderts gilt dies jedoch wohl noch nicht. Aber die Diskussion der Adelung’schen Wörterbucheinträge hat gezeigt, dass die Ent-wicklung, immer größere Teile des aktiven Lebens der Kategorie der Arbeit unter-zuordnen, Ende des 18. Jahrhunderts bereits vorangeschritten war. Damit setzen sich die Romantiker auseinander.

3. Fragestellung des vorliegenden Bandes

Die Zeit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist für die Ent-wicklung des modernen Arbeitsbegriffs von außerordentlicher Relevanz. Literatur und Künste der Romantik bringen in diesen Prozess spezifische Anregungen ein, weil sie sich nicht auf die von der Aufklärung etablierte Gegenüberstellung von po-sitiv bewerteter Arbeit und negativ bewertetem Müßiggang reduzieren lassen, son-dern häufig gerade das ‚Andere‘ des tätigen Lebens (neben dem Müßiggang auch den Schlaf, die Muße und Faulheit) aufwerten oder mit Überblendungen zwischen Formen der Arbeit und Nicht-Arbeit operieren. An dem einen Ende des Spektrums solcher Einlassungen steht dabei etwa der Ironiker Friedrich Schlegel, der 1799 das zeitgenössische bürgerliche Arbeitsethos durch seine Figur des Julius als „leere[s] unruhige[s] Treiben“ und als „nordische Unart“ bezeichnen lässt und dem aufklä-rerischen Prometheus-Bild einen Herkules entgegenstellt, dessen letztes Ziel bei all seinen Herkulesaufgaben „doch immer ein edler Müßiggang“ geblieben sei.47 Am

45 Rainer Hank: Arbeit – Die Religion des 20. Jahrhunderts. Auf dem Weg in die Gesellschaft der Selbständigen. Frankfurt am Main 1995, S. 10. Vgl. aus dem angelsächsischen Sprach-raum zum Begriff der ‚Arbeit‘ und seinen zunehmenden Vereinnahmungen ebenfalls Ri-chard Sennett: Handwerk. Berlin 2008; Alain de Botton: Freuden und Mühen der Arbeit. Frankfurt am Main 2014.

46 Vgl. Max Weber: Politik als Beruf. Berlin 2010 [1919]. 47 Friedrich Schlegel: Lucinde. Hg. v. Karl Konrad Polheim. Stuttgart 1963 [1799], hier: S. 34

und 37. Dischner hat 1980 eine an Schlegel anschließende kommentierte Materialsamm-lung über den Müßiggang herausgegeben, die manche interessante Funde bereithält. Gisela Dischner: Friedrich Schlegels Lucinde und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs. Hildesheim 1980. Dass der Müßiggang insgesamt „kein wirklich theoriefähiges Phänomen“ sei, vertritt demgegenüber Stumpp in ihren Analysen zum Bildungsroman. Vgl. Gabriele Stumpp: Müßige Helden. Studien zum Müßiggang in Tiecks William Lovell, Goethes Wil-helm Meisters Lehrjahre, Kellers Grünem Heinrich und Stifters Nachsommer. Stuttgart 1992, S. 3. Vgl. neuerdings wieder Gisela Dischner: Liebe und Müßiggang. Bielefeld [u. a.] 2012 [2011]. Zum Thema Müßiggang in der Literatur ist ebenfalls einschlägig: Leonhard Fuest:

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anderen Ende des Spektrums lässt sich Georg Büchner (1813-1837) ansiedeln, der als Satiriker dreieinhalb Jahrzehnte später in Leonce und Lena (1836) den Müßig-gang wieder sehr kritisch als Lebensform des Adels aufspießt, vor allem aber schär-fer noch als Zyniker seinen Danton (Dontons Tod, 1835) resümieren lässt: „[D]as Leben ist nicht die Arbeit wert, die man sich macht, es zu erhalten“.48

Die Beiträge des vorliegenden Bandes explorieren die kultur-, sozial- und ästhe-tikgeschichtlichen Dimensionen dieses �emenkomplexes. Sie wollen damit auf der einen Seite erkunden, welche Bedeutung die Epoche für die Ausdifferenzierung des Diskurses um Arbeit und Müßiggang hatte. Und sie wollen andersherum die Bedeutung dieses �emas für die Artefakte der Epoche genauer ergründen. Im Ein-zelnen werden Fragen gestellt wie: Welche Formen der Arbeit werden in romanti-schen Texten vorgeführt? Schlägt sich das idealistische Konzept einer Selbstver-wirklichung durch Arbeit nieder? Zeichnet sich schon das Problem der Entfremdung ab? Wie wird das Verhältnis von Arbeit und Eigentum gestaltet? Ist von einem Recht auf Arbeit die Rede oder eher von einer Pflicht zur Arbeit? Welche geschlech-terspezifischen Repräsentationen von Arbeit und Müßiggang können ausgemacht werden? Auf welche Weise geraten Muße und Müßiggang in den Blick? Bleiben sie letztlich auf das Arbeitsleben bezogen wie Mittagspause, Feierabend und Urlaub? Oder erscheint auch eine Sphäre des Müßigen und Müßiggängerischen völlig un-abhängig von Erwerbsarbeit vorstellbar?

Mit solchen Fragestellungen verfolgt diese Aufsatzsammlung das Ziel, zu einer Historisierung gegenwärtiger gesellschaftlicher und kultureller Debatten über Ar-beit und verschiedene Formen der Nicht-Arbeit beizutragen. Nach Lage der Dinge setzen diese Debatten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zwei Akzente: Erstens wird nach wie vor konstatiert, dass es zu wenig bezahlte Arbeit gebe, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe;49 zweitens wird mehr und mehr darüber diskutiert, dass diejenigen, die erwerbstätig sind, eher zu viel als zu wenig arbeiten. Genau genommen scheint es sich um zwei Seiten der gleichen Medaille zu han-deln. Auf der einen Seite steht die ‚Freisetzung‘ von Erwerbstätigen durch Rationa-lisierung, und zwar nicht nur in der Industrie, sondern durch die rasante EDV-

Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008; Leonhard Fuest: Die Ironie des Müßiggangs. Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß. In: Romantik. Mythos und Moderne. Hg. v. Ulrich Wergin / Timo Ogrzal. Würzburg 2013, S. 213-223.

48 Georg Büchner: Dantons Tod. In: Ders.: Werke und Briefe. München 1980, S. 7-68, S. 30. Das Spektrum steckt genauer ab und führt es überblicksartig, aber pointiert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weiter: Luigi Forte: Lob der Faulheit. Muße und Müßiggang im 19. Jahrhundert. In: Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbil-dung 1850-1918. Hg. v. Martin Huber / Gerhard Lauer. Tübingen 1996, S. 79-93, zu Schlegel und Büchner bes. S. 82-86.

49 Vgl. hierzu bereits in kulturtheoretischer Perspektivierung den Sammelband: Jenseits des Arbeitsprinzips? Vom Ende der Erwerbsgesellschaft. Hg. v. Jörn Ahrens. Tübingen 2000. Anregend auch: Melissa Gregg: Work’s Intimacy. Cambridge 2011.

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Entwicklung der letzten Jahrzehnte längst auch im Dienstleistungssektor.50 In den meisten OECD-Ländern ist dies mit einer hohen strukturellen Langzeitarbeitslo-sigkeit verbunden. Zusätzlich arbeiten viele erwerbstätige Personen unter prekären Arbeitsverhältnissen, ohne hinreichende soziale Absicherung oder ohne ihren Le-bensunterhalt durch ihre Erwerbstätigkeit vollständig sichern zu können. Zugleich werden viele gesellschaftlich höchst bedeutsame Arbeitstätigkeiten im sozialen und pflegerischen Bereich und vor allem in der Familie nach wie vor zu wenig oder gar nicht finanziell honoriert.51 Gerade auch für solche stark genderspezifischen Kons-tellationen gibt es historische Bezugspunkte im frühen 19. Jahrhundert.

Mit den oben skizzierten Diskussionen um Muße und Müßiggang berührt sich aber stärker noch die andere Seite der Medaille, also die Situation derjenigen, die eher zu viel statt zu wenig arbeiten. Was damit gemeint ist, umreißt in aller Deut-lichkeit die Ankündigung des 2011 erschienenen Films WORK HARD PLAY HARD von Carmen Losmann (* 1978):

In unserer modernen Dienstleistungsgesellschaft bedeutet die Optimierung eines Be-triebs die Optimierung der Mitarbeiter. Carmen Losmann hat einen zutiefst beunru-higenden Film über moderne Arbeitswelten gedreht. […] Die Grenzen zwischen Ar-beit und Lifestyle sollen verschwinden. Damit die Arbeit attraktiver wirkt, und auch nach Dienstschluss weitergeht. […] WORK HARD – PLAY HARD heftet sich an die Fersen einer High-Tech-Arbeiterschaft, die hochmobil und leidenschaftlich ihre Ar-beit zum Leben machen soll. […]Dabei ist eine zutiefst widersprüchliche Welt entstanden: Die papierfreien Büros sol-len nicht mehr nach Arbeit aussehen, eher wie moderne Wohnzimmer oder schicke Cafés, gleichzeitig sollen die Mitarbeiter dank mobiler IT-Technik jeder Zeit und überall ihrer Arbeit nachgehen können.52

Losmanns Film zeigt, wie die Übergänge zwischen Arbeit und Lifestyle, mithin zwischen Arbeit und Müßiggang gezielt fließend gemacht werden sollen, damit am Ende die Arbeit alle Bereiche infiltriert und überdeckt, auch solche, die ehedem Refugien des Müßiggangs waren. Während die Entwicklung der abhängigen Er-werbsarbeit Anfang des 19. Jahrhunderts gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass die Sphäre der Arbeit räumlich und zeitlich mehr und mehr von der Sphäre des Familiären abgegrenzt wurde, in Betrieben stattfand, morgens um eine bestimmte Zeit begann und abends um eine bestimmte Zeit endete, findet jetzt die umgekehr-te Entwicklung statt: Im modernen Home Office ist nicht nur der Arbeitsraum kaum mehr vom privaten Raum der Familie und der Freizeit abgegrenzt, auch zeit-

50 Hierzu immer noch lesenswert: Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Frankfurt am Main 1997.

51 Vgl. hierzu orientierend Karin Hausen: Arbeit und Geschlecht. In: Geschichte und Zukunft der Arbeit. Hg. v. Jürgen Kocka / Claus Offe. Frankfurt am Main [u. a.] 2000, S. 343-361; sowie insgesamt Karin Hausen: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Göttin-gen 2012.

52 URL: http://www.workhardplayhard-film.de/index_htm_files/WORK%20HARD%20Pres-seheft.pdf (Stand: 08.10.2016).

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lich durchdringen sich die beiden Sphären wieder stärker. Dass dies ein globales Phänomen ist, zeigt der Berliner Kulturphilosoph Byung-Chul Han, ein gebürtiger Koreaner. Han interpretiert den beschriebenen Zusammenhang als einen Quali-tätswandel im Erleben von Zeit, und zwar mit einem pathologischen Effekt:

Die heutige Leistungsgesellschaft nimmt die Zeit in Geiselhaft. Sie fesselt sie an die Arbeit. […] Das Burn-out ist keine Arbeits-, sondern eine Leistungskrankheit. Es ist nicht die Arbeit als solche, sondern die Leistung, dieses neue neoliberale Prinzip, was die Seele krank macht. Die Pause als Arbeitspause markiert keine andere Zeit. Sie ist nur eine Phase der Arbeitszeit. Heute haben wir keine andere Zeit als die Arbeitszeit. Wir haben längst die Zeit des Festes verloren. […] Heute nehmen wir die Arbeitszeit nicht nur in den Urlaub, sondern auch in den Schlaf mit. […] Auch die Erholung ist insofern nur ein Modus der Arbeit, als sie zur Regeneration der Arbeitskraft dient.53

In der Tat müssen Begriffe wie Burnout und Workaholic heute weder kursiv gesetzt noch durch Anführungsstriche markiert werden, weil sie ins Wörterbuch der deut-schen Alltagssprache längst Eingang gefunden haben.54 Das kann vielleicht für das Wort Karôshi noch abgewendet werden; so bezeichnet man es nämlich in Japan, wenn Menschen durch berufsbedingten Arbeitsstress sterben, sich gewissermaßen tot arbeiten.55 Wie es scheint, gibt es für viele aus der Vereinnahmung durch die Arbeit kein Entkommen.56 Mit Bezugnahmen auf solche Entwicklungen und mit subversiv kritischen Stimmen zu betriebswirtschaftlichen Heilsversprechen des Neoliberalismus ist das �ema Arbeit auch in die Literatur der letzten 20 Jahre zu-rückgekehrt. Exemplarisch genannt seien die Dramen Top Dogs (1997) von Urs Widmer und Elite I.1 (2002) von John von Düffel sowie die Romane Das Jahr der Wunder (2001) von Rainer Merkel, wir schlafen nicht (2004) von Kathrin Röggla und Schule der Arbeitslosen (2006) von Joachim Zelter.

53 Byung-Chul Han: Alles eilt. Wie wir die Zeit erleben. In: DIE ZEIT, Sonderheft: „Philoso-phie“ 25 (13.06.2016), S. 42. Auch unter der URL: http://www.zeit.de/2013/25/zeit-logik-effizienz-kapital-gabe (Stand: 28.09.2015). Vgl. zudem Byung-Chul Han: Müdigkeitsge-sellschaft. Berlin 2010, ein Essay, der sich schnell zum Bestseller des kulturtheoretischen Schrifttums entwickelt hat und 2015 in der 11. Auflage vorgelegt wurde.

54 Vgl. die entsprechenden Lemmata im Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Hg. v. der Dudenredaktion. Mannheim [u. a.] 2001, zu Burn-out / Burnout: S. 326, zu Workaholic: S. 1828. Unter den Literaten hat Martin Walser solche Entwicklungen früh literarisch diag-nostiziert; vgl. dazu Hilmar Grundmann: Berufliche Arbeit macht krank. Literaturdidakti-sche Reflexionen über das Verhältnis von Beruf und Privatsphäre in den Romanen von Mar-tin Walser. Frankfurt am Main [u. a.] 2003.

55 Vgl. Toshiko Himeoka: Die ‚betriebszentrierte Gesellschaft‘ und die Geschlechterverhält-nisse in der Arbeitswelt Japans. In: Kocka / Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit, S. 135-147, hier: S. 143.

56 Das reflektiert auch ein neuer Buchtitel wie Hans-Jürgen Arlt / Rainer Zech: Arbeit und Muße. Ein Plädoyer für den Abschied vom Arbeitskult. Wiesbaden 2015.

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4. Aktuelle Forschungstendenzen zum Thema Arbeit und Nicht-Arbeit

Wie in der Literatur so wird das �ema Arbeit seit den 1990er Jahren auch in der Forschung zunehmend neu aufgegriffen, und zwar unter sich stetig weiter ausdiffe-renzierenden kulturwissenschaftlichen Paradigmen. Wenn die Forschung der 1970er und 80er Jahre durch ideologiekritische Impulse gekennzeichnet war und durch das Interesse, die Abbildung von und die Debatten über Missstände in der Arbeitswelt zum �ema der Literaturwissenschaft zu machen, so kennzeichnet neuere Arbeiten ein offenes und undogmatisches, häufig im Sinne einer textsorten- und medienübergreifenden Diskursanalyse umgesetztes Interesse an Repräsentati-onen von Arbeit und Haltungen zur Arbeit in kulturellen Artefakten verschiedener Art.57 Daneben treten Spezialstudien zum Beispiel aus genderkritischer58 oder kul-turvergleichender Perspektive.59 Dass es fruchtbar sei, Konzepte von Arbeit und von Müßiggang aufeinander zu beziehen, zeigte Anfang der 1990er Jahre eine von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders herausgegebene Anthologie.60 Seither wer-den in der Forschung immer wieder Aspekte der Arbeit zu verschiedenen Formen der Nicht-Arbeit ins Verhältnis gesetzt,61 oder es wird der nur noch scheinbare ge-sellschaftliche Konsens eines hohen und positiven Arbeitsethos wie im Titel des 2013 erschienenen Sammelbandes Omnia vincit labor? zumindest mit einem de-

57 Wegweisend wurde für das Forschungsfeld der Sammelband: Vom Wert der Arbeit. Zur lite-rarischen Konstitution des Wertkomplexes ‚Arbeit‘ in der deutschen Literatur (1770-1930). Hg. v. Harro Segeberg. Tübingen 1991. Vgl. sodann beispielsweise Thorsten Unger: Dis-kontinuitäten im Erwerbsleben. Vergleichende Untersuchungen zu Arbeit und Erwerbslo-sigkeit in der Literatur der Weimarer Republik. Tübingen 2004; Arbeit – Kultur – Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur. Hg. v. Dagmar Kift / Hanne-liese Palm. Essen 2007; Narrative der Arbeit – Narratives of Work. Hg. v. Franz-Josef Dei-ters / Alex Fliethmann / Birgit Lang / Allsion Lewis / Christiane Weller. Freiburg im Breis-gau. [u. a.] 2009; Kulturen der Arbeit. Hg. v. Gisela Ecker / Claudia Lillge. Paderborn 2011; Arbeit und Protest in der Literatur vom Vormärz bis zur Gegenwart. Hg. v. Iuditha Balint / Hans-Joachim Schott. Würzburg 2015 sowie Claudia Lillge: Arbeit. Eine Literatur- und Mediengeschichte Großbritanniens. Paderborn 2016.

58 Vgl. Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung. Hg. v. Brigitte Aulen-bacher. Münster 2012.

59 Die Rolle der Arbeit in verschiedenen Epochen und Kulturen. Hg. v. Manfred Bierwisch. Berlin 2003.

60 Vgl. Arbeit und Müßiggang 1789 bis 1914. Dokumente und Analysen. Hg. v. Wolfgang Asholt / Walter Fähnders. Frankfurt am Main 1991.

61 Vgl. beispielsweise den Sammelband: Nicht-Arbeit. Politiken, Konzepte, Ästhetiken. Hg. v. Jörn Etzold / Martin Jörg Schäfer. Weimar 2011. Vgl. hierzu die Rezension von Lydia Mühlbach und Thorsten Unger in: Arbitrium 32/1 (2014), S. 118-123. Den Aspekt des Müßiggangs als Lebenshaltung hat Gisela Dischner seit ihrer Materialsammlung von 1980 in diversen Publikationen verfolgt, in denen sie kulturwissenschaftliche Analysen mit enga-gierten persönlichen Stellungnahmen und kulturpolitischen Einschätzungen verbindet. Vgl. die Zusammenstellung ihrer Publikationen zum Thema in Dischner: Liebe und Mü-ßiggang, S. 154-156. Hier sei noch genannt: Gisela Dischner: Wörterbuch des Müßiggän-gers. Bielefeld [u. a.] 2009.

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monstrativen Fragezeichen versehen.62 Das Spektrum der Nicht-Arbeit reicht hier-bei von struktureller Erwerbslosigkeit63 über diverse Formen von Muße und Faulheit,64 über Phasen kulturell bedingter Ereignislosigkeit wie beispielsweise das Schlangestehen65 bis gelegentlich sogar hin zu dezidierter Arbeitsverweigerung.66

5. Zur Gliederung des vorliegenden Bandes

Während sich jüngere Forschungsbeiträge oft auf Phänomene des 20. und 21. Jahr-hunderts konzentrieren und diese zuweilen so betrachten, als seien sie völlig neu,67 nimmt der vorliegende, auf die europäische Romantik fokussierte Band eine dezi-diert historische Perspektive ein. Fünf Schwerpunktthemen strukturieren dieses themenbezogene Epochenporträt und ordnen die Reihe der Beiträge.

Konzepte der Arbeit um 1800

Die intensive Auseinandersetzung mit Phänomenen der Arbeit seitens der Literatur geht mit einer grundlegenden Neuausrichtung der Arbeitskonzepte um 1800 ein-her. Sie ist maßgeblich an der Etablierung einer romantischen Poetik beteiligt, die sich bewusst von der Ästhetik der Weimarer Klassik absetzt. Dabei kommt es zur Verbindung einander scheinbar widersprechender Konzepte wie ‚Arbeit und Ruhe‘

62 Vgl. Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion. Hg. v. Torsten Erdbrügger / Ilse Nagelschmidt / Inga Probst. Berlin 2013.

63 Vgl. Susanne Heimburger: Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartstexten. München 2010.

64 Vgl. Faulheit. Hg. v. Viola Vahrson / Hannes Böhringer. Köln 2008; Recht auf Arbeitslosig-keit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit. Hg. v. Rainer Bar-bey. Essen 2012; Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur. Hg. v. Mirko Gemmel / Claudia Löschner. Berlin 2014; Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe 2012; Wolfgang Schneider: Die Enzyklopädie der Faulheit. Ein Anleitungsbuch. Berlin 2005; Verweilen im Augenblick. Texte zum Lob der Faulheit, gegen Arbeitsethos und Leistungszwang. Hg. v. Gerhard Senft. Wien 2005. Eine knappe Kulturgeschichte der Muße versucht Eberhard Straub: Vom Nichtstun. Leben in einer Welt ohne Arbeit. Berlin 2009. Anregend auch: Nichts Besseres zu tun. Über Muße und Müßig-gang. Hg. v. Joseph Tewes. Oelde 1989.

65 Vgl. hierzu den anregenden Band kulturanthropologischer Provenienz Billy Ehn / Orvar Löfgren: Nichtstun. Eine Kulturanalyse des Ereignislosen und Flüchtigen. Hamburg 2012.

66 Mit zwei Aufsätzen zur ‚Arbeits-Verweigerung‘ in der Literatur schließt auch der Sammel-band: Erdbrügger / Nagelschmidt / Probst: Omnia vincit labor?: Wolfgang Müller-Funk: Tu nix. Ein kleines Panorama der Arbeitsverweigerung. In: Ebd., S. 427-440; Torsten Erdbrüg-ger: Ein Schelm, wer da an Arbeit denkt. Peter-Paul Zahls glückliche Arbeitslose. In: Ebd., S. 441-457.

67 Dies gilt zum Beispiel für den Sammelband: Erdbrügger / Nagelschmidt / Probst: Omnia vincit labor?, aber auch für die ansonsten sehr verdienstvolle Dissertation Heimburger: Ka-pitalistischer Geist sowie für Ahrens: Jenseits des Arbeitsprinzips?

ARBEIT UND MÜSSIGGANG IN DER ROMANTIK 27

oder ‚Arbeit und Kindheit‘. Die Beschäftigung der Literatur mit der Arbeit umfasst hierbei so unterschiedliche Diskurse und Phänomene wie naturwissenschaftliche Forschung, die Erfindung der Dampfmaschine oder den Pauperismus.

Wie entscheidend der Binarismus ‚Arbeit und Müßiggang‘ das Sprechen über Literatur in der Goethezeit und der Romantik steuert, zeigt der Beitrag von FRANZ-JOSEF DEITERS. Deiters führt dies über vier Stufen aus: Bei Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Friedrich Schiller (1759-1805) würden Arbeit und Öko-nomie zwar am Rande erwähnt, seien aber für die Literatur noch weitgehend irre-levant, insofern ihre seit dem Schöpfungsmythos etablierten Wertungen davon un-angetastet blieben. Bei Eichendorff und Schlegel fänden sich demgegenüber signifikante Umdeutungen, indem etwa in Eichendorffs Wanderlied (Wem Gott will rechte Gunst erweisen, 1823) die Arbeitenden als träge erscheinen oder in der Lucinde die Müßiggänger als göttlich. Im potenzierten Sinne romantisch aber wer-de es im Gespräch mit dem Bergmann in Novalis’ (1772-1801) Heinrich von Ofter-dingen (1802), indem hier der Bergmann an seinem als Rezeptionsort dargestellten Arbeitsort die Chiffren der Natur entziffere und dies zugleich in einen Produkti-onsakt münden lasse, nämlich in Gesang. In der operativen Literatur des jungen Deutschland schließlich fänden sich Beispiele, die den literarischen Produktionsakt mit einer Parteinahme für die in ihrer Arbeit verelendenden Bevölkerungsgruppen verbänden, wie Deiters am Beispiel von Heinrich Heines (1797-1856) Lied Die schlesischen Weber (1844) zeigt.

Bei Friedrich Hölderlin (1770-1843) denkt man nicht in allererster Linie an Fragen der Arbeit, und doch hat er sowohl in seiner Lyrik wie auch in seinem Ro-man Hyperion (1797, 1799) ein neues Verhältnis von ‚Arbeit und Ruhe‘ konzipiert, das SABINE DOERING in ihrem Beitrag rekonstruiert. Sie steigt ein, indem sie das Ideal eines harmonischen Ausgleichs von Arbeit und Ruhe skizziert, wie ihn die Ode Abendphantasie (1799) andeutet, und führt den Gedanken über zwei Argu-mentationsschritte der ‚verlängerten Arbeit‘ und ‚verlängerten Ruhe‘ auf der einen Seite sowie der ‚entfremdeten Arbeit‘ und ‚entfremdeten Ruhe‘ auf der anderen Seite hin zu einer Utopie des Zusammenfalls von ‚Arbeit und Muße‘, in der sich Mühe und Ruhe nicht mehr abwechseln, sondern gleichzeitig zum Zuge kommen.

Eine weitere Verbindung zweier zunächst widersprüchlich erscheinender Kon-zepte beleuchtet CHRISTIANE WELLER in ihrem Beitrag zu ‚Arbeit und Kindheit‘ in Adelbert von Chamissos (1781-1838) Reise um die Welt in den Jahren 1815-1818 (1836). Kindsein und Arbeit stehen für Chamisso nicht im Gegensatz zueinander, sondern sind, im Gegenteil, eng miteinander verbunden. So erscheint die empiri-sche naturwissenschaftliche Arbeit während einer Expeditionsreise in Chamissos Beschreibung geradezu als eine Wiederentdeckung der Kindheit, insofern sie eine affektive Beziehung zu ihren Gegenständen auslöst, die einer kindlichen Begeiste-rung gleichkommt.

Eine ganz andere Seite der Wechselwirkungen zwischen den kulturellen und naturwissenschaftlich-technischen Wissensdiskursen zeigt DALE ADAMS: Sein Bei-trag widmet sich der Frage, wie Autoren der Romantik die Erfindung der Dampf-maschine auch im Hinblick auf den Arbeitsbegriff rezipierten. Genügte im Gel-

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tungsbereich der einfachen Maschinen die schlichte physikalische Formel ‚Arbeit = Kraft mal Weg‘, so führt die Dampfmaschine zur Annahme der Äquivalenz von ‚Wärme und Arbeit‘: Durch die Verbrennung fossiler Stoffe entsteht Wärme, mit der sich die nötige Kraft erzeugen lässt, um Bewegungen hervorzubringen. Anstatt also menschliche Arbeit einzusetzen, um einen Gegenstand von a nach b zu trans-portieren, lässt sich für dieselbe Verrichtung auch künstlich erzeugte Wärme nut-zen. Die Romantiker faszinierte und erschreckte dabei zugleich, dass die durch die Verbrennungsprozesse erzeugte Kraft um ein Vielfaches größer war als die durch menschliche Arbeit hervorrufbare Kraft. An Beispielen von Eichendorff, Novalis, Heine und in Weiterziehung des Fadens bis zu Honoré de Balzac (1799-1850) und Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) zeigt Adams, wie diese Entwicklungen so-wohl in die Arbeits- als auch in die Maschinenmetaphorik der Literaten eingehen. Zuweilen rückt die Dampfmaschine geradezu in die Position Gottes, und am Ende kann selbst eine künstlerische Tätigkeit wie das Dichten im Bild der Dampfma-schine umschrieben werden.

Einen weiteren wichtigen Bezugsrahmen eröffnet der Beitrag von ELKE BRÜNS, der den Arbeitsdiskurs in Büchners Woyzeck (1879) im Kontext des Pauperismus des frühen 19. Jahrhunderts situiert. Man habe es in Büchners Figur mit einem Menschen zu tun, der extrem viel arbeite, aber seine und die Subsistenz seiner Fa-milie dadurch nicht sichern könne, also mit einem Armen, der keineswegs arbeits-unwillig sei, sondern mit einem arbeitenden Armen. Woyzeck ist Soldat, ‚jobbt‘ aber zusätzlich als Barbier und als Versuchsobjekt für eine Studie des Doktors. In diesem letztgenannten Arbeitsfeld wird die Situation auf absurde Weise pointiert: Indem sich Woyzeck verpflichte, nur noch Erbsen zu essen, was ihn irre mache, werde er für das langsame Irrewerden bezahlt; Woyzeck sei also jemand, der, wie Brüns pointiert hervorhebt, „um zu überleben, noch weniger isst, als er essen könn-te und müsste“. Insgesamt sieht Brüns die Figur als ein Diskurskonstrukt und zeigt in ihrem Aufsatz, wie Büchner zu ihrer Ausgestaltung mehrere relevante Diskurse seiner Zeit zusammenführt.

Selbsttechniken der Muße

Muße und Müßiggang werden von den Romantikern auf vielfältige Weise als ent-scheidende Selbsttechniken der romantischen Existenzweise reflektiert und prakti-ziert. Als Quellen der Reflexion dienen ein in Literatur und Kunst stark idealisier-ter Orient ebenso wie der spätantike Augustinus (354-430), der Humanist Francesco Petrarca (1304-1374) oder Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Auf Sei-ten der Praxis eröffnet die Lebenswelt um 1800 ganz neue Möglichkeiten zur Muße und zum Müßiggang: Die aufkommende Konsumkultur verspricht eine mühelose Verfügbarkeit der Dinge für mußevolle Stunden und lädt mit ihren Warenauslagen zum Flanieren durch die Städte ein.

In ihrer detailreichen Lektüre von Schlegels Idylle über den Müßiggang begreift HEIDE VOLKENING den Text als eine Reflexion europäischer Poetologie und be-leuchtet zwei bislang weniger beachtete Aspekte: die Idee einer ‚Kunst der Faulheit‘

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sowie die Verknüpfung von ‚Müßiggang und Orient‘. Beide Aspekte verbinden sich mit einer Vielzahl intertextueller Bezüge, durch die Arbeit und Müßiggang nicht einfach in Opposition zueinander stehen, sondern ein vielschichtiges Ver-hältnis zueinander einnehmen.

MARIO BOSINCU unterzieht E.A.F. Klingemanns (1777-1831) Nachtwachen. Von Bonaventura (1804) einer begriffsgeschichtlichen Interpretation, um so die Muße im semantischen Feld von Arbeit, otium, Anachoretentum und verwandten Kon-zepten zu verorten. Dabei spannt er einen Bogen von Augustinus über Petrarca, Rousseau, die Kyniker und andere, um darzulegen, dass es sich bei den Nachtwachen um eine moderne Imaginationsübung des Blicks handelt, die darauf abzielt, aus der Perspektive eines selbstmarginalisierten Müßiggängers die Schattenseiten der Zivili-sation aufzuzeigen.

LEONHARD FUEST dekonstruiert Hölderlins Hyperion und den Versuch, darin formulierte Muße-Gedanken auf ein Konzept festzulegen, indem er am Ende be-tont, dass alle Hölderlin’schen Differenzierungen in der Schwebe bleiben. Er steigt mit dem Adjektiv ‚müßig‘ im Sinne von ‚vergebens‘, ‚gleichgültig‘ in eine Diskus-sion ein, die Hyperions Schreiben selbst als ein Palliativum sieht, das zwischen den Polen Linderung, Betäubung und Gift changiert, aber ‚keinerlei Auf-Lösungen‘ bietet. Im Satz „Beim Himmel! ich bin überreif zur Arbeit“,68 mit dem Hyperion Diotima gegenüber begründet, dass er in den Krieg zieht, sieht Fuest in der hier formulierten Kategorie der Arbeit eine Entsprechung angedeutet zwischen wahrer Liebe und Krieg; in DOERINGS Lesart erscheint der Satz indes als Ausdruck des Überdrusses an einem Zustand der ‚entfremdeten Ruhe‘.

An Beispielen aus Friedrich (Johann) Justin Bertuchs (1777-1815) Journal des Luxus und der Moden (1747-1822) zeigt BORIS ROMAN GIBHARDT, wie mit der aufkommenden Konsumkultur neue kulturelle Praktiken entstehen und von den Zeitgenossen unter anderem in einer Aktualisierung des Pandora-Mythos disku-tiert werden. Im Blick auf die dabei vorgeführten Produkte, etwa der Möbel oder des Wedgwood Geschirrs, ist bemerkenswert, wie Substitutionsmaterialien und Kompromisse im Design den Preis der Gegenstände reduzieren und ihr Tauschwert Aspekte der Handwerkskunst in den Hintergrund treten lässt. Es bleibt in diesen Diskussionen aber nicht nur die zur Herstellung der Konsumgüter erforderliche Arbeit unberührt. Auch woher das Geld kommt, das zur Aneignung durch Kauf erforderlich ist, wird offenbar nicht beleuchtet. Die Konsumgüter erscheinen viel-mehr in einer Sphäre sorgloser Verfügbarkeit und damit des Müßiggangs. Im Rück-griff auf kritische Bemerkungen Goethes führt Gibhardt solche Formen des Mü-ßiggangs als ‚falsche Muße‘ ein und diskutiert Goethes Konzept des Sammelns als ein mögliches Gegenmodell.

Der Beitrag von ROBERT KRAUSE untersucht das Verhältnis des Flaneurs Heine zu Arbeit und Müßiggang. In den Briefen aus Berlin (1822) inszeniert sich Heine als Müßiggänger und erweist sich zugleich als kritischer Beobachter des frühindus-

68 Friedrich Hölderlin: Hyperion. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt am Main 1994, Bd. 2, S. 118.

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triellen Arbeitslebens und des damit verbundenen Elends. Lutezia (1854), Heines zwanzig Jahre später in Paris entstandene Berichte, werden sich dann mit dem zeit-genössisch verhandelten ‚Recht auf Arbeit‘ auseinandersetzen. Dass Heines Ideal gleichwohl der Müßiggang bleibt, begründet, bei aller Nähe, die Kluft zu kommu-nistischen und marxistischen Positionen.

Reflexionen der Künste

Arbeit, Muße und Müßiggang bilden in der Romantik auch Ausgangspunkte für diverse Selbstreflexionen der Künste. Dabei sind die Beziehungen zwischen ihnen keineswegs festgelegt oder eindeutig. Schon in Schlegels Idylle über den Müßiggang werden Arbeit und Müßiggang nicht mehr als bloße Gegensätze gedacht, sondern treten in ein facettenreiches Verhältnis. So können Arbeitsformen wie das Hand-werk oder die nächtlichen Wachen als Modelle für das künstlerische Schaffen die-nen und andererseits die Arbeit des Dichtens als mußevoll begriffen oder Muße zu ihrer Voraussetzung gemacht werden.

Zwei literarische Handwerksdarstellungen um 1800 stehen im Zentrum des Beitrags von MICHAEL BIES: Goethes Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes, vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung (1776) und E.T.A. Hoffmanns Alma-nach-Erzählung Meister Martin der Küfner und seine Gesellen (1819). Dabei begreift Bies die Literarisierungen nicht vorrangig als Kritik des sich ausbreitenden ‚Fabri-kenwesens‘, sondern als eine Selbstverständigung der Literatur über ihre eigenen Produktionsbedingungen in der sich ausdifferenzierenden Gesellschaft. Goethe wie Hoffmann leiten die moderne Kunst aus dem Handwerk ab – was bei Hoffmann zugleich als Reflexion über die Gattung der Almanach-Erzählungen gelesen werden kann.

TOMASZ WASZAK verfolgt in seinem Beitrag die berufliche Laufbahn Kreuz-gangs, des Protagonisten aus Klingemanns Nachtwachen. Von Bonaventura, um die-se als Reflexion auf die ökonomische Bedingtheit von Kunst zu interpretieren. Aus systemtheoretischer Perspektive zeigt Waszak die Annäherung von ‚Kunst und Ar-beit‘ in den Nachtwachen auf. Diese wird nicht nur durch die Handlung vorge-führt, sondern in der metafiktionalen Konstruktion der Nachtwachen auch literar-ästhetisch umgesetzt.

Bei Jean Paul (1763-1825) begegnen uns sowohl müßiggängerische als auch mußevolle Helden, die, wie MONIKA SCHMITZ-EMANZ in einer tour de force durch unterschiedliche Werkphasen eröffnet, in je unterschiedlicher Ausprägung die Bühne der Literatur betreten. Dem gesellschaftlich hochgestellten Müßiggänger, der mal als Glücksspieler, als Höfling oder patrizischer Tunichtgut inszeniert ist, kontrastiert dabei vor allem der Figurentypus des Idyllikers, für den Arbeit und Muße keinen Gegensatz, sondern eine produktive Melange darstellen. Gerade wer sich der Leidenschaft des Schreibens hingibt, dem wird die Arbeit leicht zum Spiel und das Spiel zur Arbeit. Die auf diese Weise immer wieder poetisch umkreiste, Kontemplation und Produktion verbindende Tätigkeit des Schriftstellers, so führt Schmitz-Emanz aus, ist indes keineswegs unabhängig von bestimmten Faktoren