Claus Offe Übergänge

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Übergänge Claus Offe Vom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus Ausgewählte Schriften von Claus Offe

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ÜbergängeClaus Offe

Vom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus

Ausgewählte Schriften von Claus Offe

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Reihe herausgegeben vonClaus Offe, Berlin, Deutschland

Ausgewählte Schriften von Claus Offe

Band 6

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In den vorliegenden Bänden werden ausgewählte Schriften des Soziologen und Politikwissenschaftlers Claus Offe zusammengestellt. Es handelt sich um Studien und Essays aus nahezu fünf Jahrzehnten und zu einer Vielzahl von Forschungs-themen. Zum weitaus größten Teil befassen sie sich mit der Wechselbeziehung von kapitalistischer Wirtschaftsordnung und (demokratischer) Politik. Dabei ist der gemeinsame Ausgangspunkt die gut belegbare Überzeugung, dass die Grün-dung, Entwicklung, Förderung und Verteidigung jener spezifischen, auf der „Vermarktung“ von Arbeitskraft beruhenden Wirtschaftsordnung von allem Anfang an ein politisches Projekt war und geblieben ist – ein mit Gewalt und anderen Mitteln der Machtausübung realisiertes Vorhaben, das von den politischen Eliten staatlicher Herrschaftsverbände betrieben und ausgestaltet wird. Nicht nur Eigen-tum und Vertrag, sondern auch das Marktgeschehen insgesamt, beruhen auf poli-tisch-rechtlich gesetzten Prämissen, Lizenzen und Gewährleistungen. Wenn das so ist und die kapitalistische Wirtschaftsdynamik letztlich nur als ein Erzeugnis politischer Macht zu verstehen ist – wie kommt es dann, dass (selbst demokra- tische) Politik ihren eigenen Artefakten so machtlos gegenübersteht, wenn es um die Regulierung, Bändigung, Begrenzung und Korrektur von zweifelsfrei zerstörerischen Seiten des kapitalistischen Marktgeschehens geht – oder doch (nach liberalen und universalistischen normativen Maßstäben, die zumindest in „westlichen“ Kapitalismen kaum gänzlich zu entwurzeln sind) gehen müsste? Es sind solche „großen“ Fragen, die in den vorliegenden Bänden an Gegenstands-bereichen wie dem Arbeitsmarkt, der Sozialpolitik, der politisch-kulturellen Infrastruktur kapitalistischer Demokratien, den Formen und Funktionen politischer Repräsentation, der europäischen Integration sowie dem Übergang staatssozialis-tischer Systeme zu Versionen des demokratischen Kapitalismus gleichsam klein- gearbeitet werden.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16074

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Claus Offe

ÜbergängeVom Staatssozialismus zum demokratischen Kapitalismus

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Claus OffeHumboldt-Universität Berlin und Hertie School of Governance Berlin, Deutschland

Ausgewählte Schriften von Claus Offe ISBN 978-3-658-22262-8 ISBN 978-3-658-22263-5 (eBook)https://doi.org/10.1007/978-3-658-22263-5

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Generalvorwort

Die Idee, eine thematisch geordnete Auswahl meiner Studien, die im Zeitraum von 50 Jahren entstanden sind, in mehreren Bänden zu publizieren, stammt von Adal-bert Hepp, dem langjährigen Lektor des Campus-Verlages und einem der intims-ten Kenner der deutschen sozialwissenschaftlichen Szene. Seine freundschaftliche Ermutigung zu diesem Publikationsprojekt entlastet den Verfasser freilich nicht von der Pflicht, die Gesichtspunkte zu erläutern, unter denen er sich nach leich-tem Zögern vom Sinn des Unternehmens hat überzeugen lassen. Zu ihnen zählt die Vermutung, dass heutige Leser an den sozialwissenschaftlichen Be mühungen ihres Urhebers ein fach- und sogar zeitgeschichtliches Interesse nehmen könnten. Im Rückblick wird nämlich deutlich, wie stark die jeweils gewählten Gegenstän-de und Untersuchungsperspektiven sowohl von akademischen wie gesellschafts-politischen Themenkonjunkturen geprägt und in Aktualitäten verwickelt waren.1

1 Fremdeinschätzungen und Selbstauskünfte zu den Entstehungskontexten der Arbeiten so-wie Beurteilungen und Interpretationen derselben finden sich u. a. in folgenden Titeln der Sekundärliteratur: J. Keane, „The Legacy of Political Economy: Thinking With and Against Claus Offe“, Canadian Journal of Political and Social Theory Vol. 2, Number 3 (Fall 1978), 49 – 92; K. Hinrichs, H. Kitschelt und H. Wiesenthal (Hg.) Kontingenz und Krise: Institutionen-politik in kapitalistischen und postsozialistischen Gesellschaften. Claus Offe zu seinem 60. Ge-burtstag. Frankfurt/New York: Campus 2000; A. Geis und D. Strecker (Hg.), Blockaden staatlicher Politik. Sozialwissenschaftliche Analysen im Anschluss an Claus Offe, Frankfurt/New York: Campus 2005; R. E. Goodin, „Being Claus Offe“, Politische Vierteljahresschrift 53 (2012), Nr. 4, 593 – 600; „Die plötzliche Implosion eines obsoleten Gesellschaftssystems …“, Gespräch mit David Strecker, Zeitschrift für Politische Theorie, 2 (2013), 253 – 284; R. D’Ales-sandro, La Disegualanza programmata. Capitale, Stato e Socièta nel pensiero di Claus Offe, Roma: carocci editore 2015; J. Borchert und S. Lessenich, Claus Offe and the Critical Theo-ry of the Capitalist State, Milton Park: Routledge 2016; „Theorizing Crises and Charting the Realm of the Possible. A conversation with Laszlo Bruszt“, Sociologica, 2/2017, http://www.sociologica.mulino.it/journal/article/index/Article/Journal:ARTICLE:1040; sowie Vor- und

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VI Generalvorwort

Diese Verwicklung kann man – zumal dann, wenn man sich vom irregelei-teten „Physik-Neid“ mancher sozialwissenschaftlicher Theoretiker und Empiri-ker nicht fernzuhalten bereit ist – als einen Makel beklagen, der die akademi-schen Äußerungen von Autoren unserer Fächer von bloßen Meinungsbeiträgen bisweilen kaum unterscheidbar werden lässt. Die Berechtigung entsprechender Vor würfe lässt sich oft (wenn auch keineswegs immer) mit der Erinnerung an die spezifische Natur der Gegenstände von Soziologie und Politikwissenschaft in Zweifel ziehen: Anders als die Gegenstände von Physik und Biologie handelt es sich bei sozialwissenschaftlichen Studienobjekten, also bei sozialen Akteuren und den Folgen ihres Handelns, um solche, die mit dem Wissen (oder doch impliziten Vorstellungen und Annahmen) über die Gründe und Ursachen des eigenen Han-delns und Erlebens begabt sind. Dieses Wissen kann wahr sein oder im Gegen-teil auf (Selbst-)Täuschung beruhen. Dabei beziehen sich Täuschungen sowohl auf die Gesamtheit des Wirklichen und seine Triebkräfte wie auf die Sphären des (Un-)Möglichen. Ich betrachte es als den Sinn und wichtigsten, wenn auch biswei-len nicht ohne Recht als subversiv beargwöhnten Auftrag sozialwissenschaftlicher Forschung, solche Täuschungen zu „enttäuschen“ und so die von ihnen verbreite-ten Gewissheiten zu erschüttern. Was damit zugleich erschüttert wird, ist der fau-le Frieden irrigen Einverständnisses.

Die Begriffssprache der Sozialwissenschaften besteht nahezu ausschließlich aus Worten, die auch im außerwissenschaftlich-alltäglichen Sprachgebrauch vor-kommen. Jeder Zeitungsleser „weiß“, worum es geht, wenn von Dingen wie Ge-meinschaft, Arbeit, Macht, Verantwortung, Bildung, Korruption, Solidarität, Markt, sozialer Ordnung, Staat, Interesse, Diktatur, Institution, Familie, Re ligion, Fortschritt, Bürokratie usw. usf. die Rede ist. Umgekehrt werden sozialwissen-schaftliche Fachbegriffe (Globalisierung, Anomie, Krise, Austerität, Kapitalismus, Kollektivgutprobleme, Transaktionskosten, Identität, Integration) in der Regel rasch in Alltagsdiskurse übernommen und mit lebenspraktischen Bedeutungen aufgeladen. Aus dieser Nähe der Fachsprache zur Alltagssprache ergibt sich für Wissenschaftler die laufende Herausforderung, die verwendeten Begriffe zu schär-fen, d. h. die Frage zu beantworten: Woran genau erkennen wir und wie lässt sich begründen, dass ein Begriff auf eine bestimmte Kategorie sozialer Phänomene an-gewendet werden muss, während er auf andere, oft zum Verwechseln ähnliche Sachverhalte nicht aus ebenso guten Gründen „passt“. Bei dieser Arbeit an der Schärfung von Begriffen geht es in der Regel nicht allein um semantische Präzi-sierung, sondern gleichzeitig um Bewertungskontroversen und zu grundeliegende Wertkonflikte.

Nachwort des Verfassers zur veränderten Neuausgabe (hg. von J. Borchert und S. Lessenich) von Claus Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt/New York 2006.

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Generalvorwort VII

In den vorliegenden, in thematisch geordneten sechs Bänden zusammen-gestellten Studien geht es methodisch um jene Bemühung um begriff liche Präzi-sierung und Unterscheidung. Der Sache nach geht es um das in seinen Ergebnissen nachhaltig ungewisse Spannungsverhältnis zwischen den institutionellen Struktu-ren liberaler und zugleich wohlfahrtsstaatlicher Demokratien einerseits und der Dynamik kapitalistischer Wirtschaftssysteme und ihrer strukturbildenden, gesell-schaftsverändernden Effekte andererseits. Dieses Spannungsverhältnis wird von Sozialwissenschaftlern in vielfältigen Nuancierungen als das von citoyen vs. bour-geois, Status vs. Kontrakt, Staats(volk) vs. Markt(volk), kommunikatives vs. strate-gisches Handeln, Dekommodifizierung vs. (Re-)Kom modifizierung, Bürgerrecht vs. „Effizienz“, Nationalstaat vs. Weltmarkt oder einfach als das von Demokra-tie vs. Kapitalismus erfasst. Diese Spannung und Konfliktlage ist in Deutschland seit dem definitiven „Ende der Nachkriegszeit“ in der Mitte der 1970er Jahre und darüber hinaus in der OECD-Welt durch eine verwirrende Vielfalt von „synthe-tischen“ Politikansätzen bearbeitet, wenn auch niemals dauerhaft bewältigt wor-den – nämlich durch strategische Modelle wie die „soziale Marktwirtschaft“, den „verbändedemokratischen“ Neokorporatismus, die europäische Integration und Weltmarkt-Integration sowie die Adoption neoliberaler Lehren für die Gesell-schafts- und Wirtschaftspolitik oder, partiell in Reaktion auf die Verheerungen, die von der letzteren verursacht wurden, die meist national-populistische Mobi-lisierung zugunsten einer wirtschafts- und sozialprotektionischen Politik der Re-Nationalisierung.

Dem heutigen Leser ist vermutlich schwer vorstellbar, dass ein großer Teil der in diesen Bänden zusammengestellten Texte auf mechanischen Schreibmaschinen erstellt worden ist. Die Leistung von Computer-Programmen, die heute gespro-chene Eingaben automatisch zu verschriftlichen erlauben, lag ganz und gar außer-halb des selbst als ferne Möglichkeit Vorstellbaren. Dasselbe gilt für zeitgeschicht-liche game changer wie den Zusammenbruch von Comecon und Warschauer Pakt, die Entstehung einer europäische Wirtschafts- und Währungsunion, eine nahe an die Dimensionen jener der Zwischenkriegszeit heranreichenden Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, ein globales Wirtschaftswachstum, welches den Westen für viele Beobachter als zur säkularen Stagnation verurteilt erscheint und bereits zu mehr als seiner jährlichen Hälfte allein in China und Indien stattfindet, sowie die Aussichten auf das, was die Errungenschaften der künstlichen Intelligenz auf den Märkten auch für Dienstleistungsarbeit anzurichten im Begriff stehen – von de-nen für herstellende Arbeit ganz zu schweigen. Hinzugekommen sind kaum anti-zipierte politische Mega-Themen wie Klimawandel, Migration, die Demographie alternder Gesellschaften und neuartige Sicherheitsfragen – dies alles im Kontext eines offenbar ebenfalls säkularen, qualitativen wie quantitativen Niedergangs so-zialdemokratischer politischer Kräfte. Angesichts dieser Konstellation sind zu-

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VIII Generalvorwort

mindest einige der hier erneut (und in annähernd chronologischer Reihenfolge und mit nicht immer vermiedenen Wiederholungen) veröffentlichen Studien dem Risiko ausgesetzt, von heutigen Lesern als altbacken und (vor)ahnungslos disqua-lifiziert zu werden. Dieses Risiko kann nur durch die, wie der Verfasser meint, an-haltende und ungebrochene Aktualität des Leitthemas Kapitalismus vs. Demokra-tie und unter laufender Bezugnahme auf dieses kompensiert werden.

Die in diesen Bänden (zum größten Teil wieder-)veröffentlichten Studien sind (zusätzlich zu einer Reihe von Monographien und Aufsatzsammlungen sowie ei-ner Überzahl hier nicht berücksichtigter Texte) als Teil meiner beruflichen Tä-tigkeit an der Universität Frankfurt (1965 – 69) als research associate an den Uni-versitäten Berkeley und Harvard (1969 – 1971) am Starnberger Max-Planck-Institut (1971 – 75), an der Universität Bielefeld (1975 – 1989), am Zentrum für Sozialpoli-tik der Universität Bremen (1989 – 1995), an der Humboldt-Universität zu Ber-lin (1995 – 2005) und schließlich an der Hertie School of Governance, Berlin (seit 2006) entstanden, zum großen Teil auch während Forschungsaufenthalten in au-ßeruniversitären Einrichtungen in Stanford, Princeton, Florenz, Canberra und Berlin. Die Vielzahl dieser Orte und institutionellen Kontexte erklärt, dass die nur zum kleineren Teil in deutscher Sprache verfasst wurden. Da die englische Spra-che heute im akademischen Leben und weit darüber hinaus keine Barriere mehr darstellt (oder doch darstellen sollte), war der Aufwand für eine Übersetzung eng-lischer Texte verzichtbar. Die Texte erscheinen hier in der Sprache, in der sie ge-schrieben wurden.

Die Texte sind – abgesehen von wenigen Erstveröffentlichungen – in Zeitschrif-ten und Sammelbänden erschienen. Ausschnitte aus eigenen und gemeinsam ver-fassten Monographien wurden nicht berücksichtigt. Von wenigen Ausnahmen ab-gesehen sind Änderungen gegenüber den Originalversionen rein redaktioneller Art. Thematisch folgt die Auswahl den großen thematischen Blöcken der sechs Bände. Die Stichworte sind: Arbeitsmarkt, Wohlfahrtsstaat, politische Institu-tionen und Normen, Liberale Demokratie und ihre Gefährdungen, Regieren in Europa und der EU, sowie der Übergang vom Staatssozialismus zum demokra-tischen Kapitalismus nach 1989 in Mittel- und Osteuropa. Innerhalb dieser The-menfelder ist die Auswahl an subjektiven Kriterien wie Qualität, Relevanz und wahrgenommenen Zitiererfolg orientiert.

Die Texte spiegeln den hohen Anregungswert der an den genannten Institutio-nen angetroffenen Kollegen wider, deren gedanklichen Einflüsse beim Verfasser ein gewisses Maß an beherztem Eklektizismus nach sich gezogen haben mögen. Nach meinem Studium bei Otto Stammer an der FU Berlin hatte ich das außer-ordentliche Privileg, für eine volle Dekade mit Jürgen Habermas zusammenzuar-beiten. Fritz Scharpf hat mich 1973 in Konstanz habilitiert und später zu einem längeren Forschungsaufenthalt ans Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) eingela-

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Generalvorwort IX

den. Ab 1975 habe ich für 14 Jahre in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft zu Niklas Luhmann an der Universität Bielefeld gearbeitet. Die zahlreichen Einsich-ten, Anregungen und Herausforderungen, die sich aus glücklichen Ortswech-seln auf gleichsam osmotischem Wege ergeben haben, kann ich nur pauschal und mit Dankbarkeit registrieren, ohne sie recht spezifizieren zu können. Solche os-motisch gewonnene intellektuellen Bereicherungen verdanke ich auch Philippe Schmitter, Terry Karl und James Fishkin seit einer gemeinsamen Zeit in Stanford, Albert Hirschman aus Begegnungen in Harvard und später Princeton, Jon Els-ter und Steven Lukes aus vielfältiger Zusammenarbeit sowie Robert Goodin aus meinen wiederholten Forschungsaufenthalten in Canberra. Dasselbe gilt für mei-nen Freund und (seit mehr als 50 Jahren !) Koautor Ulrich K. Preuß, mit dem ich dank glücklicher Fügung lange Zeitstrecken am selben Arbeitsort, z. T. sogar auf derselben geteilten Planstelle (an der Hertie School of Governance, 2006 – 2012) verbracht habe. Für beinahe ebenso lange Zeit stehe ich im produktiven Aus-tausch mit den befreundeten Kollegen Faruk Birtek (Istanbul) und David Abra-ham (Princeton und Miami). Dankbar (wenn auch nur pauschal) zu erwähnen ist hier auch die große Zahl von exzellenten Mitarbeitern und Doktoranden, die Re-sultate meiner eigenen Bemühungen oft genug und in produktiver Weise auf die Probe gestellt haben.

Der Hertie School und ihren Präsidenten Michael Zürn und Helmut An heier verdanke ich optimale Arbeitsbedingungen für mein Dasein als Emeritus, wie sie v. a. durch die hilfreiche Assistenz von Ines André-Schulze und Marcel Hadeed realisiert worden sind. Mein Dank gilt auch Andreas Beierwaltes von Springer VS, der sich für das Projekt in äußerst entgegenkommender Weise interessiert hat, so-wie meiner Lektorin Cori Mackrodt, die sich der Sache mit anhaltend geduldiger Hilfsbereitschaft angenommen hat – einer Sache, die ohne ein jahrelanges freund-schaftliches Zureden von Adalbert Hepp kaum die vorliegende Gestalt angenom-men hätte.

Berlin, im Februar 2018 Claus Offe

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XI

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

Teil I Die Transformation und ihre Varianten

1 Wohlstand, Nation, Republik . Aspekte des deutschen Sonderweges vom Sozialismus zum Kapitalismus (1993) . . . . . . . 3

2 Die deutsche Vereinigung als „natürliches Experiment“ (1991) . . . . 21

3 Economic ‘Hardware’ and Institutional ‘Software’ in the Two German Transitions to Democracy: Comparing Post-1945 West Germany with Post-1989 East Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

4 Das Dilemma der Gleichzeitigkeit . Demokratisierung und Marktwirtschaft in Osteuropa (1991) . . . . . . . . . . . . . . . 59

5 Die Integration nachkommunistischer Gesellschaften: Die ehemalige DDR im Vergleich zu ihren osteuropäischen Nachbarn (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

6 East European exceptionalism as a challenge to democratization . Cultural Aspects of the Consolidation after State Socialism: A note on the peculiarities of postcommunist transformations (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

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XII Inhalt

7 Ethnische Politik im osteuropäischen Transformationsprozess (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

8 Political liberalism, group rights, and the politics of fear and trust (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

9 Demokratie und Vertrauen (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

10 Why has Cuban state socialism escaped its “1989” ? Reflections on a non-event (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Teil II Sozialer Schutz im Postsozialismus

11 The Politics of Social Policy in East European Transitions: Antecedents, Agents, and Agenda of Reform (1993) . . . . . . . . . 193

12 The Politics and Economics of Post-Socialist Capitalism in Central East Europe (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

13 Postkommunistische Wohlfahrtsstaaten in der EU . Bilanz und Perspektiven (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Teil III Schuld und Gerechtigkeit im Systemwechsel

14 Rechtswege der „Vergangenheitspolitik“: Disqualifizierung, Bestrafung, Restitution (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

15 Die moralische Rechtfertigung der Restitution des Eigentums . Überlegungen zu einigen normativen Problemen der Privatisierung in postkommunistischen Ökonomien (1994) . . . . 297

16 Transitional Justice in the German Democratic Republic and in Unified Germany (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

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Inhalt XIII

17 Administering justice – Vetting and Lustration in European post-Communist Transitions (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

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XV

Vorwort

Der „normale“ Modus des sozialen und historischen Wandels scheint einer zu sein, der sich im Rückblick als das kumulative Resultat einer epochentypischen Entwicklungsdynamik verstehen lässt, die sich über Zeiträume von Jahrzehnten entfaltet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden wir Beispiele für die-ses eher zähflüssige Muster des Wandels etwa in der Dynamik des Kalten Krie-ges, der Dekolonialisierung, der politisch-ökonomischen (Neo-)Liberalisierung und Globalisierung und der europäischen Integration. Seltener dagegen sind of-fenbar (abgesehen von klassischen internationalen Kriegen und Revolutionen) „schnell“ ablaufende Bewegungsmuster der Veränderung, die innerhalb von Mo-naten, manchmal nur Tagen dazu führen, dass ganze Gesellschaften und supra-nationale Ordnungen irreversibel zusammenbrechen und gleichsam über Nacht nicht mehr dieselben sind, die sie vorgestern noch waren.

Die Jahre und Monate vom Februar 1989 (Runde-Tisch-Verhandlungen in Warschau) bis Juli 1991 (Selbstauflösung des Warschauer Paktes) markieren, zu-sammen mit den dazwischen liegenden Ereignissen der durch die Opposition aufgedeckten Wahlfälschung in der DDR (Mai 1989), des Massakers in Peking (4. Juni), der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze mit beginnendem Massen-Exodus der Bevölkerung aus der DDR (Juni), der Selbstauflösung kom-munistischer Parteien, der Wahl eines nicht-kommunistischen Ministerpräsiden-ten in Polen (August), der Gründung von vier politischen Parteien bzw. Bürger-rechtsbewegungen innerhalb von vier Wochen in der DDR (September/Oktober), lautstarken Massendemonstrationen und schließlich dem Fall der Berliner Mau-er (9. November), die „historische Minute“ der plötzlichen Implosion des europä-ischen Staatssozialismus. Dessen Beendigung war zwar das Ziel einer mehr oder weniger erfolgreich unterdrückten politischen Opposition; als real mögliches oder gar tatsächlich eintretendes, dazu weitgehend unblutiges Ereignis ist sie jedoch nicht mehr als von vereinzelten Stimmen vorausgesagt worden. Für die ganz über-

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XVI Vorwort

wiegende Zahl der Akteure und Beobachter gilt, und zwar gleichermaßen für die externen wie die internen, dass der galoppierende Lauf der Ereignisse außerhalb des Bereichs des kurz zuvor noch außerhalb des Denk- und Vorstellbaren lag.

Die zwangsläufigen oder kontingenten, wirtschaftlichen oder politischen, in-ternen und/oder extern gesteuerten Ursachen, die zum plötzlichen Zusammen-bruch des Systems staatssozialistischer Parteidiktaturen (übrigens nur der europä-ischen !) und damit für den Westen zum definitiven Sieg im Kalten Krieg geführt haben, sind von den Sozialwissenschaften weit weniger thematisiert worden (und blieben eher den Untersuchungen zeitgenössischer und zukünftiger Historiker überlassen) als die unmittelbaren Folgen. Geradezu schlagartig bildete sich in den internationalen Sozialwissenschaften und den sie fördernden Stiftungen und staatlichen Organisationen die Spezialdisziplin der Transformationsforschung (im Englischen meist transition studies) heraus, die von der Ambition getrieben war, den historisch einmaligen Vorgang der Umwandlung eines staatssozialisti-schen Systems in ein (so die seinerzeit vorherrschende Annahme bzw. Intention) demokratisch-kapitalistisches nach westlichen Vorbild synchron und komparativ zu erforschen und politikberatend zu begleiten. Dabei lag der Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses auf der mittleren Etappe einer dreistufigen Sequenz von Zusammenbruch des alten Systems; institutionelle, wirtschaftspolitische und kulturelle Gründung eines neuen Gesellschaftssystems sowie schließlich den – sei-nerzeit noch höchst ungewissen – Bedingungen für die Bewährung und Konsoli-dierung des letzteren.1

Die im Laufe der Zeit nicht etwa Punkt für Punkt abgeschlossene, sondern vielmehr immer länger werdende Liste der Forschungsthemen, mit denen es die Transformationsforschung zu tun hatte und hat, lässt sich folgendermaßen skiz-zieren:

(1) Die Umwandlung eines staatssozialistischen Wirtschaftssystems in ein pri-vatkapitalistisches mit seinen Kerninstitutionen des privaten Eigentums, des Ar-beitsvertrages und der Marktpreisbildung wirft die Frage auf, wie und zu wessen Gunsten die Privatisierung des staatlichen Produktiveigentums vollzogen werden soll, um einen „capitalism without capitalists“ (I. Szelenyi) in Bewegung zu set-zen. Gleichzeitig muss die institutionelle Infrastruktur einer kapitalistischen Öko-nomie, also ein Bankensystem (bestehend aus Zentral- und Geschäftsbanken), Börsen, Finanzverwaltung, Zivilgerichtsbarkeit und ein Tarifsystem zur Regulie-

1 Ich habe mich in Zusammenarbeit mit u. a. Jon Elster, Ulrich K. Preuß und Philippe Schmit-ter in den 90er Jahren an diesen Bemühungen beteiligt. Vgl. C. Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten. Frankfurt, New York: Campus, 1994; C. Offe, Modernity and The State. East and West. Cambridge: Polity Press 1996; J. Elster, C. Offe, Ulrich K. Preuss et al., Institutional Design in Post-Communist Societies. Rebuilding the Ship at Sea. Cambridge: Cambridge University Press 1998.

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Vorwort XVII

rung des Arbeitsmarktes ins Leben gerufen werden. Welche Theorien, Vorbilder, Machtverhältnisse und Interessen spielen bei diesem Gründungsgeschehen eine maßgebliche Rolle und wie unterscheiden sich dessen einzelne nationale Fälle ? Was geschieht in der Zwischenzeit, in der die alten Einrichtungen nicht mehr und die neuen noch nicht funktionieren – also in der Zwischenphase eines institutio-nell noch nicht eingebetteten, „wilden“ „grab-and-run“-Kapitalismus ?

(2) Gleichzeitig müssen politische Institutionen (Verfassungen, politische Par-teien, Parlamente, Wahlrecht, Massenmedien, liberalisierte Bildungseinrichtun-gen, öffentliche Verwaltungen auf diversen territorialen Ebenen) gegründet und mit Akteuren ausgestattet werden. Bei diesen handelte es sich in aller Regel um Akteure, die ihre Erfahrungen und professionellen Qualifikationen unter dem al-ten Regime erworben haben. In welchem Maße eignen sich westliche Vorbilder für diesen notwendigen Prozess der Institutionenbildung und wie wird er durch die i. d. R. hohen Grad an Eliten- und sonstiger Personalkontinuität beeinflusst ?

(3) Jeder Regimewechsel von einem autoritären zu einem (zumindest partiell) liberalisierten System wirft die „vergangenheitspolitische“ Frage nach transisitional justice auf, also die Frage, wie das neue Regime sowohl mit den Eliten des alten Regimes wie mit dessen Opfern und Leidtragenden in einer praktikablen und zu-gleich als „gerecht“ qualifizierbaren Weise umgehen soll – z. B. durch strafrecht-liche oder politische Sanktionierung von „Tätern“, durch „Lustration“ von Funktio-nären und Amtsinhabern, durch die materielle oder symbolische Kompensation und Rehabilitation von „Opfern“ oder die bloße Bereitstellung von Informationen über geschehenes Unrecht durch „Wahrheitskommissionen“, mit dem von man-chen erwarteten Ergebnis einer allmählichen und dauerhaften Versöhnung zwi-schen beiden, zumindest einer gewissen Befriedung des aus der nahen Vergan-genheit herrührenden Konfliktpotentials. Der deutsche Fall bietet mehr als jeder andere Anschauungsmaterial für nicht weniger als drei Varianten von transitional justice-Regimes (Bundesrepublik nach 1945, DDR nach 1945, Bundesrepublik nach 1989).

(4) Der postkommunistische Transformationsprozess ist durch markante poli-tisch-kulturelle Konflikte bestimmt, die sich zwischen ethnisch identifizierten Be-völkerungsteilen abspielen. Während die westeuropäischen „Staatsnationen“ ih-ren Staat als den aller seiner Bürger verstehen, hat sich in Mittel- und Osteuropa das Modell der „Kulturnation“ erhalten (bzw. nach dem Ende des sowjetischen Zwangs-Internationalismus sogar revitalisiert), dem zufolge der Staat in erster Li-nie der Staat der Angehörigen einer angestammten, ethnisch exklusiv definierten Titularnation ist. So statuiert z. B. Art. 36, Abs. 1 der bulgarischen Verfassung von 1991 – in klarer Frontstellung gegen die türkischsprachige ethnische Minderheit der Bevölkerung – den Erwerb und Gebrauch der bulgarischen Sprache als „Recht und Pflicht jedes bulgarischen Bürgers“. Konfliktverschärfend kommt hinzu, dass

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XVIII Vorwort

interne ethnische Minderheiten, die es in vielen Ländern der Region gibt, als ex-terne Minderheiten benachbarter Nationen betrachtet werden (können), die als Brückenköpfe imperialer Fremdherrschaft erinnert und beargwöhnt werden. Die-ses Muster trifft zu auf ethnische Russen in Estland, Lettland und dem Kaukasus, auf Deutsche in Polen, Ungarn in der Slowakei, Rumänien und Serbien, Serben in Kroatien und Türken in Bulgarien. Vergleichbare Spannungen sind dagegen im Verhältnis zwischen Ukrainern und ethnischen Polen in Polen nicht im glei-chen Ausmaß zu registrieren, weil dort das Merkmal einer erinnerten imperialen Fremdherrschaft fehlt. Hinzu kommt das Konfliktpotential, das sich aus der Dis-kriminierung und sozialökonomischen Unterdrückung der einzigen ethnischen Gruppe in der Region ergibt, die niemals state seeking war, nämlich der Roma.

(5) Die postkommunistische Transformation der Region ist in sehr viel stärke-rem Maße, als das bei der (Re-)Demokratisierung der lateinamerikanischen Mi-litärdiktaturen, aber ähnlich den südeuropäischen Fällen Spanien, Portugal und Griechenland (1974 – 5), durch externe Akteure und die von ihnen gesetzten An-reize gesteuert. Man wird ohne Übertreibung von einer – versuchten – westlichen „Landnahme“ sprechen können, die von teilweise durchaus respektablen Absich-ten gesteuert war. Diese externe Steuerung beginnt mit in den frühen 90er Jahren einsetzende „zivilgesellschaftliche“ Initiativen, die auf breiter Front, wenn auch mit insgesamt wohl eher mäßigem Erfolg mit dem Ziel der democracy promotion von westlichen Stiftungen, Parteien, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Wissenschaftsorganisationen unternommen wurden. Weiter zu nennen sind in diesem Zusammenhang die gleichzeitig einsetzenden Direktinvestitionen und die Einrichtung von Wertschöpfungs- und Lieferketten durch westliche Investo-ren, die im Blick auf niedrige Kosten und gute Qualifikationen der Ar beitskräfte der Region sowie auf die ihnen bereitwillig gewährten steuerlichen Privilegien für die wirtschaftliche Entwicklung der postkommunistischen Staaten struktur-bestimmend wurden. Mit Abstand am wirksamsten bei der externen Steuerung der Transformation waren aber die beiden supranationalen Institutionen der NATO und der Europäischen Union. Während die NATO sich auf die dauerhafte Verlagerung der militärischen „Systemgrenze“ nach Osten spezialisierte, hat die EU die nachhaltige wirtschaftliche und politisch-institutionelle „Verwestlichung“ der Länder der Region zum Ziel. Mit den drei 1993 seitens der EU deklarierten Kopenhagen-Kriterien (liberale Demokratie, wettbewerbsfähige Marktwirtschaft, Übernahme des gesamten Acquis der EU-Gesetzgebung und dessen zu verlässige Implementierung) wird den postkommunistischen Staaten ein Tausch angeboten, der fortan als „Konditionalismus“ firmiert: der Tausch umfassender politisch-ökonomischer Modernisierung nach westlich-kapitalistischem Vorbild gegen Mitgliedschaft in der EU mit Anspruch auf strukturpolitische Transferleistungen sowie Zugang zum Binnenmarkt für Güter und Arbeitskräfte. In drei Runden der

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Vorwort XIX

„Osterweiterung“ der EU (2004, 2007, 2013) sind inzwischen (abgesehen vom Son-derfall der Deutschen Demokratischen Republik, die bereits 1990 durch Fusion mit der Bundesrepublik Deutschland unterging) 11 post-kommunistische (ein-schließlich zwei post-jugoslawische) Staaten nach dieser Logik der EU beigetreten.

Nachdem in diesen 11 Fällen dieser Tausch abgeschlossen und der Hebel des Konditionalismus nicht länger wirksam ist, stellt sich die Frage nach der Qualität der Ergebnisse. Die Antwort ist auf beiden Seiten von Enttäuschungen geprägt. Auf der Seite der alten Mitgliedstaaten wird über die bestenfalls fragmentarische und z. T. zunehmend verfehlte politisch-institutionelle Modernisierung der neuen EU-Mitglieder Klage geführt, die sich in anhängigen Rechtsstaatsverfahren der EU gegen deren halbautoritäre Regierungspolitik niedergeschlagen hat. Umgekehrt wird auf der Seite der neuen Mitglieder bemängelt, dass die Vollendung der in Aussicht gestellten wirtschaftlichen Konvergenz nach wie vor in weiter Ferne liegt und dort, wo sie überhaupt langsam vorankommt, mit einer scharf regressiven Verteilung von Einkommen, Vermögen und anderen Lebenschancen bezahlt wird.

(6) Probleme der sozialen Sicherheit, der Verteilungsgerechtigkeit, der sozial-staatlichen Dienste in den Bereichen von Gesundheit, Wohnung und Bildung so-wie der Armutsprävention und Alterssicherung sind in vielen der neuen Mit-gliedstaaten ungelöst. Sie werden verschärft durch überall (wie ebenso im Westen Europas) festzustellende Stadt-Land-Disparitäten mit ihren Implikationen für das Wahlverhalten der Bevölkerung. Ihre Bürger sind unter der staatssozialistischen Tradition mit der Erwartung zuverlässiger (wenn auch bescheidener) wohlfahrts-staatlicher Versorgung aufgewachsen und mit dem Risiko der Arbeitslosigkeit und der Marktpreisbildung für Mieten völlig unvertraut. Entsprechend ne gativ oder doch skeptisch fallen in weiten Teilen der Bevölkerung Bewertung und Un-terstützung für die beiden grundlegenden Neuerungen aus, mit denen sie der Post-Sozialismus konfrontiert: kapitalistische Marktwirtschaft und politische De-mokratie. Die Bereitschaft, stattdessen auf autoritär-populistische Politikangebote mit ihren (z. B. familienbezogenen) verteilungspolitischen Schutzversprechen und steuerlichen Privilegien positiv zu reagieren, ist daher ausgeprägt. Daraus er-geben sich auf die Frage nach der Konsolidierung und Akzeptanz des demokra-tischen Kapitalismus in der Region der neuen Mitgliedstaaten (und ebenso auf die nach der europäischen Integration) deutlich und wohl zunehmend skeptische Einschätzungen.

(7) Das dauerhafte und nur für privilegierte Minderheiten sich langsam ab-schwächende Wohlstandsgefälle zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten hat einerseits zu einer sich vertiefenden politischen und sozialökonomischen Ost-West-Spaltung innerhalb der EU geführt, andererseits, daraus folgend, zu wachsenden Wanderungsanreizen, die vor allem die jüngere Generation betref-fen – und bemerkenswerterweise die Frauen oft stärker als männliche Bürger. Alle

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XX Vorwort

Staaten der Region haben in den vergangenen 30 Jahren Wanderungsverluste in der Größenordnung von 10 bis über 20 Prozent ihrer im arbeitsfähigen Alter ste-henden Bevölkerung erlitten. Es handelt sich dabei um einen (völlig unkompen-sierten) Humankapital-Transfer von Ost nach West, der nicht nur die demogra-phische Lücke alternder Zielländer partiell auffüllt, sondern zudem in diesen (wie z. B. in Deutschland) die Kosten von Ausbildung und Qualifikation von Arbeits-kräften sowie wohl auch von Lohnkosten einzusparen erlaubt. Schätzungen zufol-ge haben auf diese Weise die neuen Mitgliedstaaten im Zeitraum zwischen 2009 und 2017 allein an die deutsche Volkswirtschaft den Gegenwert von 100 Milliar-den Euro an Qualifikationskosten transferiert (so viel zum Stichwort „Transfer-union“, deren Anfängen laut deutscher Austeritätspropaganda so dringlich zu wehren ist !). Die Folgen, auf die Wanderungsbewegungen dieser Größenordnung hinauslaufen, sind zweierlei Art. Zum einen bereiten sie in den Herkunftsländern den Boden für eine „demographische Panik“ (I. Krastev), die sich aus der Be-fürchtung nährt, dass die einheimischen Emigranten irgendwann nicht anders als durch fremdländische Immigranten außereuropäischer Herkunft ersetzt werden können und müssen. Zum anderen darauf, dass durch den Verlust an qualifizier-ten Arbeitskräften (Durchschnittsalter: 30 Jahre) Wirtschafts- und Produktivi-tätswachstum in ihren Herkunftsländern nachhaltig beeinträchtigt und auf diese Weise eine „Konvergenz“ in noch weitere Ferne rückt und zu weiterer Abwan-derung selbstverstärkend beitragen könnte.

(8) Was die nachdrücklichen rechtsstaatlichen Anforderungen angeht, die in den Kopenhagen-Bedingungen von 1993 als Voraussetzungen für eine EU-Mit-gliedschaft angeführt sind, so ist deren Verletzung nach dem Beitritt eines Lan-des und mithin dem Ende konditionalistischer Hebel nicht länger wirksam sank-tionierbar. Entsprechend wächst für die Eliten der neuen Mitgliedstaaten der Spielraum nicht nur für ungestrafte Verstöße gegen grundlegende Prinzipien des Verfassungsstaates (Gewaltenteilung, insbesondere justizielle Unabhängig-keit, Grundrechtsschutz), sondern zum großen Teil auch für politische und an-dere Korruption. Was solche Verstöße angeht, so führt die EU-Kommission seit Jahren einen rechtlichen und diplomatischen Stellungskrieg gegen Regierungen ei-niger neuer Mitgliedstaaten, denen sie zu beiden Punkten augenscheinlich wohl-begründete Vorwürfe macht. Was politische Korruption angeht, so ergeben die laufende mediale Berichterstattung, die Beobachtungen von Transparency Inter-national und nicht zuletzt die Untersuchungen von Alina Mungiu-Pippidi eine reich haltige Kasuistik. Sie erstrecken sich auf beide Varianten von politischer Korruption. Zum einen werden (z. B. von vermögenden Akteuren wie den sog. „Oligar chen“) private Mittel eingesetzt, um von ihnen gewünschte politische Ent-scheidungen (Gerichtsurteile, Wahlergebnisse, Regierungsämter usw.) zu „kaufen“. Zum anderen werden, sozusagen in der entgegengesetzten Fahrtrichtung, öffent-

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Vorwort XXI

liche Mittel und Entscheidungskompetenzen von Regierenden (z. B. bei der Ver-gabe öffentlicher Aufträge oder bei einer gesetzlichen Neuordnung der Medien-landschaft) so genutzt, dass sie im Ergebnis Freunden, Mitstreitern, Unterstützern, Netzwerken und Familienangehörigen zugutekommen, die dann ihrerseits zu er-wünschten Gegenleistungen veranlasst werden können. Gegenüber diesen beiden Formen politischer Korruption tritt wohl der vergleichsweise simple Typus der Selbstbereicherung von Amts- und Mandatsträgern durch Betrug, Unterschlagung oder Nepotismus in seiner Bedeutung zurück. In allen diesen Fällen fehlt es einst-weilen an überzeugenden Antworten auf die nicht nur in post-kommunistischen Regimes akute Frage, wie sich politische Korruption mit justiziellen, organisatori-schen, publizistischen oder auch qualifikationspolitischen Mittel unter Kon trolle bringen lässt.

(9) Ein weiterer Gegenstand lohnender Forschungen auf dem Gebiet der ver-gleichenden Transformationsforschung nach dem Zusammenbruch des Staats-sozialismus ist die Frage nach den besonderen Bedingungen, die im Sonderfall der RGW und im Unterschied zu ihren vormaligen „Bruderstaaten“ unter dem Dach von Comecon und Warschauer Pakt entwicklungsbestimmend waren. Dar-auf gehen verschiedene Beiträge im vorliegenden Band ein. Anders als in allen anderen Fällen gab es bei der DDR, die es nie zum Status eines vollwertigen Na-tionalstaats gebracht hat, keinen territorialen Fortbestand des Staates und auch keine Auftrennung eines vormaligen Staatsgebietes (wie in allen Fällen einer föde-ralen staatssozialistischen Verfassung: Sowjetunion, Jugoslawien, CSFR). Vielmehr vollzog sich hier die Transformation als vertraglich ausgehandelte (Selbst-)Aus-löschung eines Staates und seiner Fusion mit einem anderen, der westdeutschen und dann (von einer Minute zur anderen um Mitternacht des 2. Oktober 1990) „gesamtdeutschen“ Bundesrepublik. Deren materielle und personelle Ressourcen gestatteten es, den Transformationsprozess vergleichsweise generös zu alimentie-ren, wobei der Bevölkerung der nunmehr „neuen Bundesländer“ die Gestaltung ihrer politischen und wirtschaftlichen Zukunft nicht (wie in allen anderen Fällen) zur autonomen „Neuerfindung“ anheimgestellt, sondern ihr von mehr oder weni-ger fürsorglichen westdeutschen Eliten, die sich von der Vorschrift des Art. 146 des deutschen Grundgesetzes umstandslos lossagten, weitgehend abgenommen wur-de. Diese Konstellation hat dafür gesorgt, dass dank der vergleichsweise reichlich verfügbaren personellen Ressourcen die politischen, administrativen, justiziellen und akademischen Eliten in der vormaligen DDR rigoroser durch „Abwicklung“ sanktioniert und schneller und gründlicher ausgewechselt wurden und werden konnten als in den Vergleichsfällen – obwohl ein Wiederaufleben staatssozialis-tischer Bestrebungen, dem durch den Personalwechsel vorgebeugt werden sollte, hier wegen der neu entstandenen staatlichen Einheit weitaus weniger zu befürch-ten war als anderswo.

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XXII Vorwort

(10) Erst nach Ablauf von drei Dekaden, also einer ganzen Generation, stellt sich in der ehemaligen DDR wie ähnlich in den anderen Transformationsgesell-schaften zweifelsfrei heraus, dass der lange Arm der staatssozialistischen Vergan-genheit die Gegenwart der nachkommunistischen Gesellschaften ziemlich fest im Griff hat. Trotz z. T. eindrucksvoller Wachstumsraten (Polen, Tschechische Re-publik, Slowakei) und gewaltiger finanzieller West-Ost-Transfers (DDR) halten sich hartnäckig nicht nur die Differenzen im Felde der Prosperität, sondern auch bei dem Profil der politischen Präferenzen der Bevölkerung. Trotz aller materiel-ler und ideeller Förderung, die auf nationaler und EU-Ebene dem unternehme-rischen Mittelstand und seiner entrepreneurship zugedacht worden ist, ist es zum erwarteten Aufstieg und Wachstum einer unternehmerischen Mittelklasse nicht gekommen. Die neuen rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien sind nicht allein auf dem Territorium des untergegangenen Staatssozialismus erfolgreich, aber dort etwa doppelt so erfolgreich wie in den meisten Regionen im Westen Europas. In Polen und Ungarn scheinen sie sich, anders als im italienischen Fall, durch halbautoritäre institutionelle Reformen in ihrer politischen Machtposition auf Dauer eingebunkert zu haben.

Diese unerwartet zählebigen Ost-West-Differenzen, die auch kooperative Fortschritte auf EU-Ebene etwa bei der Migrationspolitik zusätzlich behindern, verlangen weiterhin nach historischen und soziologischen Erklärungen. Sie mö-gen zum Teil in dem Umstand zu finden sein, dass im kollektiven Gedächtnis und politisch-kulturellen Erfahrungsschatz der DDR (ebenso wie in den meis-ten anderen RGW-Staaten) zwei Gegebenheiten fehlten, die im Westen Europas fester Bestandteil der Lebenswelt sind: zum einen die migrationsbedingte eth-nische Heterogenität der ansässigen Bevölkerung, die sich hier durch Jahrzehnte kontinuierlicher Einwanderung (sei es post-koloniale, sei es die von integrierten „Gastarbeitern“) eingestellt hat; zum anderen der Schub an „Fundamentalliberali-sierung“, den im Westen seit den 60er Jahren die Frauen-, Studenten-, Friedens-, Bürgerrechts- und ökologischen Bewegungen ausgelöst haben.

Für sozialwissenschaftliche Erklärungen des Systemwandels von 1989 können die im vorliegenden Band zusammengestellten Essays und Studien al lenfalls An-sätze bieten, womöglich auch bereits überholte. Sie beschränken sich auf Über-legungen, die den Punkten 1, 3, 4, 6 und 9 der oben ausgebreiteten Liste von Fra-gen zugeordnet werden können. Wenn sie auf eine These hinauslaufen, dann auf diese: Der schicksalsentscheidende Mangel des Staatssozialismus, sein grundle-gender Konstruktionsfehler, bestand in seiner institutionell abgesicherten Unfähig-keit zur unvoreingenommenen Selbstbeobachtung und -beurteilung. Will sagen: Es gab keine unabhängigen Medien, kaum eine autonome Sozialwissenschaft und historische Forschung, kein verlässliches betriebliches oder volkswirtschaftliches Rechnungswesen, keine unabhängige Justiz, keine genuine, im politischen System

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Vorwort XXIII

vor gesehene und anerkannte Opposition, keine autonome Kunst und keine politi-sche Öffentlichkeit. Durch das Fehlen aller dieser „liberalen“ (oder einfach „mo-dernen“) institutionellen Vorkehrungen und Reflexionsgelegenheiten, zusätzlich zur Verdrängung und Repression sozialstruktureller und kultureller Differenz, hat sich das staatssozialistische System die Lernzwänge erspart, von deren Befolgung sein Bestand auf Gedeih und Verderb abgehangen hat.

Berlin, Juni 2019 Claus Offe

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Teil I

Die Transformation und ihre Varianten

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Wohlstand, Nation, Republik. Aspekte des deutschen Sonderweges vom Sozialismus zum Kapitalismus (1993)

Es spricht alles dafür, dass die Auflösung der politischen, ökonomischen und mi-litärischen Ordnung in Osteuropa von zukünftigen Historikern als ein epoche-machender Einschnitt gewürdigt werden wird. Es ist heute zu früh, über Trieb-kräfte und Folgen dieses Wandels insgesamt auch nur zu spekulieren. Andererseits ist es jetzt, im Herbst des Jahres 1990, bereits zu spät, um diesen Wandel als einen einheitlichen, in allen Ländern des ehemaligen „Realsozialismus“ gleichartig ver-laufenden zu beschreiben. Vielmehr erscheint schon heute jedes der betroffenen Länder als ein Sonderfall. Einer dieser Sonderfälle, nämlich der deutsche, d. h. der Sonderfall der (ehemaligen) Deutschen Demokratischen Republik, soll hier in sei-nen heute erkennbaren Umrissen analysiert werden.

Revolutionen verändern die Grundlage der gesellschaftlichen Einheit. Sie stif-ten einen neuen „Sozialvertrag“, in dem bestimmt wird, wer in einer Gesellschaft wem gegenüber welche Rechte und Pflichten hat und wie die einzelnen Teile und Funktionen der Gesellschaft miteinander koordiniert werden sollen. Ich möchte für moderne und säkulare Gesellschaften drei mögliche Arten solcher revolutio-nären Einheitsstiftung unterscheiden:

1) Die Einheit kann durch die Gemeinsamkeit der nationalen Geschichte, der Sprache und der Kultur begründet werden – also durch alles das, was Willy Brandt gemeint haben mag, als er davon sprach, dass nun „zusammenwächst“ was „zusammengehört“;

2) sie kann aus einem revolutionären Akt der Proklamation einer politischen Verfassung resultieren – also aus einem für alle Zukunft verbindlichen Satz von Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit;

3) und schließlich kann sie auch durch Neuorganisation der Wirtschaft, also der Logik von Produktion und Verteilung zustande kommen – als Ergebnis der

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020C. Offe, Übergänge, Ausgewählte Schriften von Claus Offe 6,https://doi.org/10.1007/978-3-658-22263-5_1

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Einrichtung einer „sozialistischen“ oder „kapitalistischen“ Eigentumsordnung und Steuerungslogik.

Je nachdem, welcher Modus der Einheit der vorherrschende ist, wird das durch ihn begründete soziale, politische und ökonomische System mehr oder weniger „reißfest“ sein: Die Art und Weise der Gründung entscheidet darüber, wie dauer-haft, wie belastbar und wie friedlich die soziale Ordnung sein wird und für wie lange der Rückfall in einen neuen Naturzustand abgewendet werden kann. Wel-ches dieser Modelle der sozialen Ordnung war im Falle der revolutionären Um-wälzung maßgeblich, die im Oktober 1989 in der DDR einsetzte ?

Seit die DDR im Jahre 1949 als Folge des Zweiten Weltkrieges und des einset-zenden Kalten Krieges entstanden ist, war es immer eindeutig, in welchem Sinne die Frage nach der inneren Einheit von Staat und Gesellschaft in diesem Lande zu beantworten war: Die DDR war niemals eine distinkte Nation, sondern im-mer Teilnation. Sie ist nicht durch einen eigenständigen revolutionären Akt der Verfassungsgebung entstanden (wenn auch zunächst ein negatives, nämlich „anti-faschistisches“ Prinzip als Gründungsidee des Staatswesens herhielt), sondern durch die sowjetische Besatzungsmacht und die von ihr dekretierte Verfassungs-ordnung konstituiert worden. Folglich war die DDR nichts anderes als ein – je länger, desto ausschließlicher – nach staatssozialistischen Prinzipien gestaltetes eigenständiges Wirtschaftssystem. Sie hatte nichts als eine ökonomische Identität und repräsentierte insofern eine „reine“ (und vielleicht auch deswegen vergleichs-weise erfolgreiche) Form einer sozialistischen Wirtschaftsgesellschaft. Sie un-terscheidet sich dadurch von allen anderen RGW-Gesellschaften, die zumindest auch als nationale Gesellschaften integriert waren oder sich sogar als selbständige Nationen neu bilden. In territorialer Hinsicht können wir drei ganz verschiedene Verläufe des Wandels unterscheiden:

1) konstitutioneller und ökonomischer Regimewechsel bei Kontinuität des Na-tionalstaates (z. B. Ungarn),

2) Neuentstehung (oder Wiederentstehung) von Nationalstaaten im Rahmen des Regimewechsels (z. B. die baltischen und die post-jugoslawischen Staaten),

3) Verlust der Eigenstaatlichkeit durch Regimewechsel (einziges Beispiel ist die DDR mit ihrer immer nur nominellen nationalen Identität).

Nicht nur der seit 1949 begonnene Aufbau einer Identität der DDR, sondern eben-so ihre 1989 eingeleitete Zerstörung sind dadurch gekennzeichnet, dass beide nur in Kategorien der wirtschaftlichen Organisation verliefen. Es handelt sich bei der Umwälzung in der DDR um eine Revolutionierung der Produktionsweise, die durch den Beitritt zum Verfassungssystem der Bundesrepublik flankiert und er-

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möglicht wurde. Aber der Wechsel der Verfassung war nicht die treibende Kraft und das leitende Motiv des Umsturzes. Das galt allenfalls für die wenigen Wochen um die Jahreswende 1989/1990, in denen die demokratischen Bürgerbewegungen mit ihrem Ruf „Wir sind das Volk !“ das Geschehen bestimmten. Das Fehlen eines längerfristig tragenden und genuin verfassungspolitischen Faktors der Neuord-nung mag im Falle der DDR auch damit zusammenhängen, dass im kollektiven Gedächtnis der Bürger dieses Staates die Erfahrung liberal-demokratischer und pluralistischer politischer Verhältnisse seit dem Jahre 1933 nicht mehr enthalten ist. Diese Erfahrung liegt damit weiter zurück als in irgendeinem anderen Land außer der Sowjetunion selbst. Deswegen gibt es im revolutionären Prozess der DDR (anders als in der BRD nach 1945) keine „alte“ Generation, die für eine de-mokratisch-republikanische Führungsrolle hätte reaktiviert werden können. An-ders als in Polen und in der Tschechoslowakei gab es in der DDR keine durch vergangene Kämpfe, Niederlagen und Repressionsakte markierte und für die Öf-fentlichkeit sichtbare demokratische Gegen-Elite von Personen (wie Dubcek, Ha-vel, Walesa) und Organisationen (Charta 77, Solidarnosc), die zur Ablösung des alten Regimes und zur revolutionären Begründung eines neuen bereitgestanden hätten. Zwar benannte sich die DDR selbst als ein „demokratisches“ und „republi-kanisches“ Staatswesen, aber jede offizielle Ausdeutung dieser Begriffe lief – nach-dem sich bereits in den 50er Jahren das Pathos einer „antifaschistischen“ Staats-gründung rasch verbraucht und kompromittiert hatte – nicht auf das Modell des liberalen Rechts- und Verfassungsstaates hinaus, sondern auf die „führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse“ und damit auf einen Mechanismus der bürokrati-schen Wirtschaftsorganisation.

Der Prozess, in dem die Einheit der beiden deutschen Staaten entstanden ist, war also weder ein von nationalen, noch von demokratisch-revolutionären Moti-ven und Bewegungen getragener Vorgang, sondern ein wirtschaftlicher Integra-tionsprozess, dessen Besonderheit gerade in der (bisherigen) Bedeutungslosigkeit konstitutioneller Kategorien besteht. Die politische Führung des in Auflösung be-griffenen Staatswesens der DDR hatte im Jahr 1990 weder die erkennbare Ambi-tion noch (u. a. wegen des dramatischen wirtschaftlichen Machtgefälles zwischen beiden Staaten) die reale Chance, eigene Vorstellungen über die politische Ord-nung des neuen Gesamtstaates zur Geltung zu bringen.

Allen Beteiligten ging es in erster Linie um Fragen der Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsentwicklung. Die Dominanz der ökonomischen Integrations-bemühungen bringt allerdings ein Problem mit sich: Ein politisches System kann nicht allein durch ökonomische Kategorien integriert werden. Früher sagte man: das Proletariat hat kein Vaterland, und das Kapital ist ohnehin heimatlos. Das Bedürfnis nach Wohlstand führt nicht zur Bindung an ein bestimmtes national-staatliches System, sondern ist standort-abstrakt. Ein intaktes Wirtschaftssystem

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ist eine notwendige, aber nicht zureichende Bedingung nationalstaatlicher Inte-gration. Das zeigte sich an der Geschichte der „realsozialistischen“ DDR, und es zeigt sich unvermindert nach ihrem Ende, d. h. nach ihrer Aufnahme in das Wirt-schaftssystem der kapitalistischen Bundesrepublik. Weil die Bereicherung allein keine Grundlage für die wechselseitige Verpflichtung von Bürgern in einem staat-lichen Verband sein kann, ergab sich auf beiden Seiten das Bedürfnis, die real ge-wordene ökonomische Interdependenz mit einem einheitsstiftenden Sinn zu fül-len. Die Quelle, aus dem dieser Sinn geschöpft wurde, war das Gefühl nationaler Einheit und Zusammengehörigkeit. Der Appell an nationale Gemeinschaftswerte erfüllte die Funktion, die blinde Gewalt der dramatischen ökonomischen Abläufe verständlich, akzeptabel und sinnvoll zu machen.

Das besondere Merkmal des neuen deutschen Nationalismus ist sein instru-menteller, sein artifizieller und auf die Bedürfnisse des wirtschaftlichen Eini-gungsprozesses hin funktionalisierter Charakter.

1) Das gilt zunächst für das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zur reichen Bun-desrepublik. Die Parole „Wir sind ein Volk !“, die bald die demokratisch-revo-lutionäre Maxime „Wir sind das Volk !“ übertönte, war von der durchsichtigen Absicht inspiriert, der dringend benötigten wirtschaftlichen Unterstützung von Seiten der Bundesrepublik einen verpflichtenden Sinn zu geben. Das hat der Ministerpräsident der DDR später in die elegante Formel gekleidet, die Teilung sei nur durch Teilen zu überwinden.

2) Dasselbe Muster eines taktisch kalkulierten Nationalismus bewährte sich auch umgekehrt im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR: nur wenn die west-deutschen Steuerzahler dazu veranlasst werden können, angesichts der ent-stehenden deutschen Einheit Gefühle nationalen „Glücks“ (H. Kohl) zu ent-wickeln, sind ihnen die empfindlichen Opfer politisch gefahrlos zuzumuten, die sie für die rasche wirtschaftliche Sanierung der DDR-Ökonomie allemal aufbringen müssen. Die Bereitschaft der westdeutschen Bevölkerung, sol-che Opfer zu bringen und darüber hinaus unbestimmte Verbindlichkeiten für die Zukunft einzugehen, hätte zudem dann erheblich nachgelassen, wenn die Kontrolle der nach Osten fließenden Ressourcen nicht alsbald in die Hand ei-ner einheitlichen nationalen, d. h. einer von der Bundesrepublik dominierten Regierung übergegangen wäre.

3) Schließlich hat sich der funktionalisierte Nationalismus als ein Instrument empfohlen und bewährt, das in den Verhandlungen der beiden deutschen Staaten mit den Alliierten des Zweiten Weltkriegs eingesetzt werden konnte: ihnen gegenüber wurde das unbedingte Recht der Deutschen auf national-staatliche Einheit und Souveränität als ein so begehrenswertes Gut reklamiert, dass sie dessen Gewährung nicht ohne eigenes Risiko versagen konnten.

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4) Die Erleichterung des Verhältnisses zu sich selbst und der eigenen Ge schichte, die durch Wiederherstellung der nationalen Einheit möglich wurde, mag au-ßerdem eine Rolle gespielt haben. Während bisher zwangsläufig die mora-lischen Katastrophen des von Deutschen begonnenen Weltkrieges und der von ihnen begangenen Judenvernichtung im Mittelpunkt des (deswegen schwa-chen) westdeutschen Geschichts- und Nationalbewusstseins standen, bietet die Wiedervereinigung zumal den ehemaligen Westdeutschen die Chance, diese Last zu relativieren und mindestens teilweise gegen die ungleich leich-tere Bürde auszuwechseln, die in der Bewältigung der Geschichte der DDR und ihrer systematischen und massenhaften Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten besteht.

Der neue Nationalismus in Deutschland ist heute aus allen diesen Gründen kein Nationalismus der emotionalisierten Volksseele; dagegen spricht schon das Fak-tum, dass der Wiedervereinigung Deutschlands ein guter Teil der westdeutschen Bürger mit kostenbewusster Reserviertheit gegenübersteht. Es handelt sich viel-mehr um einen kühl berechneten und moderierten „Eliten-Nationalismus“, der als sinnstiftende Kulisse für den überstürzten Prozess der wirtschaftlichen Inte-gration dramaturgisch eingesetzt wurde.

Dieses hohe Tempo der wirtschaftlichen Integration erschien zunächst keines-wegs zwangsläufig. Im Gegenteil: Bundesbank und wirtschaftliche Eliten der alten Bundesrepublik haben sich, in realistischer Einschätzung der Proportionen der „Einigungskrise“, die auf dem „schnellen“ Pfad der politischen Logik angesteuert wurde, für einen „langsamen“ Pfad ökonomischer Vernunft starkgemacht. Es wird eine Aufgabe zukünftiger Historiker sein, im Einzelnen verständlich zu machen, weshalb das politische Kalkül so eklatant über das ökonomische gesiegt hat. Das Dilemma zwischen beiden Wegen lag von Anfang an klar auf der Hand, wie es sich in dem Spottvers ausdrückt, mit dem am 10. November 1989 die bröckelnde Ber-liner Mauer beschriftet war:

Kommt die D-Mark, ist sie pleite,kommt sie nicht, dann gehn die Leute.Ja, sie hat es wirklich schwerUns’re arme DDR.

Für den „schnellen“ Weg sprach aus der Sicht der Regierung der Bundesrepu-blik die Ungewissheit der sowjetischen innenpolitischen Entwicklung und des Schicksals von Michael Gorbatschow, die Gefahr einer strukturellen „Implosion“ der DDR durch Abwanderung großer Teile ihrer wirtschaftlich aktiven Bevölke-rung, sowie (als Ursache dieser Gefahr) das völlige Fehlen eines politischen, mo-

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ralischen und ökonomischen Willens zur Selbsterhaltung und Selbstbehauptung auf Seiten von Politik und Gesellschaft der DDR. Hinzu kam wohl bei den poli-tischen Eliten der alten Bundesrepublik die Erwägung, dass wirtschaftliche Op-fer für die Rekonstruktion der DDR der westdeutschen Bevölkerung nur dann oder jedenfalls leichter aufzuerlegen seien, wenn zuvor ausgeschlossen wäre, dass über die Verwendung dieser Mittel von einem politisch souveränen und demo-kratisch legitimen „anderen“ Staat disponiert werden könnte. Nachdem sich die Deutsche Demokratische Republik mit dem Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 erstmals zu einem politischen Gebilde gewandelt hatte, das auch nach westlichen Kriterien seinem Namen genügte, kam der Wunsch nach ei-nem selbständigen Fortbestehen dieses Gebildes keineswegs auf. Ihre Bürger woll-ten (aus sehr leicht nachvollziehbaren, wenn auch im Ergebnis wohl irregeleiteten ökonomischen Motiven) keine „andere“ DDR, sondern überhaupt keine. Weitaus stärker als die politischen Kräfte, die am Bestand der DDR festhalten wollten, wa-ren jedenfalls diejenigen gesellschaftlichen und parlamentarischen Kräfte, die ei-nen ungeordneten, d. h. einen vertraglich nicht geregelten Einmarsch durch das weit geöffnete Tor des Artikel 23 GG zumindest glaubhaft androhten. Dieses kom-plexe Gemenge aus außen-, wirtschafts- und beiderseits innenpolitischen strate-gischen Motiven verlangte nach einer Vereinfachung und Stilisierung, für die nur Formeln aus dem Repertoire nationalstaatlichen Denkens in Betracht kamen. So sorgte das funktionalisierte Pathos der „nationalen Einheit“ dafür, dass im Kon-flikt zwischen politischer und ökonomischer Rationalität der „schnelle“ Pfad der „national“ angereicherten politischen Strategie durchgesetzt werden konnte.

Diesem Pfad hatten Gesellschaft und Politik der DDR nichts entgegenzuset-zen. Es ist symptomatisch für den von vierzig Jahren „Realsozialismus“ gleichsam betäubten und entpolitisierten Zustand der DDR-Gesellschaft, dass – in scharfem Gegensatz zur ungarischen, tschechoslowakischen und polnischen Situation – die politischen, moralischen und organisatorischen Ressourcen für eine eigenstän-dige Reformpolitik eindeutig nicht zur Verfügung standen und die Initiative des-halb nahezu restlos an die Bonner Regierung fiel. Die Handlungsinitiative, welche die westdeutsche Exekutive seit dem März 1990 und durch Berufung auf das über-ragende Ziel der nationalen Einheit gewonnen hatte, konnte ihr, wie sich heraus-stellte, auch nicht von den ökonomischen Eliten der Bundesrepublik, nicht von der sozialdemokratischen Opposition, nicht von den Bundesländern und nicht von ihren außenpolitischen Partnern in Westeuropa oder jenseits des Atlantik streitig gemacht werden.

Trotz dieses dramatischen weltweite Aufmerksamkeit erregenden exekutiven Kraftakts der national-kapitalistischen Integration der DDR ist der Erfolg dieser Strategie heute mehr als ungewiss. Die Strategie der westdeutschen Regierung hat darin bestanden, durch exekutive Entscheidungen und internationale Verträge in

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rascher Folge Irreversibilitäten zu schaffen und gleichzeitig die sozialen und öko-nomischen Folgen in die Zukunft hinein zu externalisieren und den Kräften des Marktes zu überlassen. Es handelt sich um eine Strategie, die – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – auf einem sehr hohen und sehr schlecht besicherten Kredit basiert. Ihre Urheber vertrauen – sei es naiv, sei es zynisch – auf ein „zwei-tes Wirtschaftswunder“, das die Marktwirtschaft der (früheren) DDR wie selbst-verständlich bescheren werde. Dieses Vertrauen hat sich bisher nicht in Ansätzen bestätigt.

Zwar setzte sich im industriellen Sektor die wirtschaftliche Rationalität west-deutscher Investoren durch, die freilich weithin eine „Rationalität des Abwartens“ war: je länger der wirtschaftliche Niedergang der zu großen Teilen nicht wett-bewerbsfähigen industriellen Basis der DDR andauern würde, so die erwartbare Erwartung der maßgeblichen Kapitalgruppen, und je schmerzhafter seine öko-nomischen und sozialen Ergebnisse sich ausnehmen würden, desto kostengüns-tiger würde der Rest zu übernehmen sein. Noch beschleunigt wurde dieser Nie-dergang durch den gezielten Ausbau der Dienstleistungen des Handels. Dieser sorgte dafür, dass die qualitativ, vor allem auch in ihrem symbolischen Prestige-wert durchweg überlegenen westdeutschen Erzeugnisse in jedem Winkel der ehe-maligen DDR leicht erhältlich waren. Sie begannen unmittelbar nach der Wäh-rungsunion im Juli 1990, nicht nur die einheimischen Industrieprodukte, sondern zumindest für einige Zeit sogar einheimische Agrarerzeugnisse vom Markt zu verdrängen. Die Chance, die Ökonomie der DDR gegen diesen Penetrationsdruck für einen begrenzten Zeitraum durch zollpolitische Maßnahmen zu schützen und ihren Umstellungsprozess damit weniger schmerzhaft und zerstörerisch verlau-fen zu lassen, war durch die Tatsache bereits zunichte gemacht, dass ja die Grenze nicht mehr bestand, an der eine Verzollung der aus dem Westen kommenden Wa-renströme hätte stattfinden können.

Katastrophale Rückstände im Kommunikations- und Verkehrswesen, in der Energieversorgung, im Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und im Bildungs-system führen dazu, dass die Chance der DDR-Ökonomie, im neuen marktwirt-schaftlichen Wettbewerb mit offenen Grenzen zu bestehen und aus eigenen Kräf-ten den Anschluss an die Dynamik wirtschaftlichen Wachstums zu finden, sich seit 1990 kaum verbessert hat.

Insgesamt handelt es sich bei den gegenwärtigen Anpassungsschwierigkei-ten, Strukturbrüchen und Ungewissheiten über die Zukunft zweifellos um die schwerste (um nicht zu sagen: die einzige) wirtschaftliche Krise, die die Bevölke-rung der DDR in den 40 Jahren ihrer Geschichte erlebt hat. Natürlich ist es mög-lich, den zerstörerischen Zwang zur Anpassung als einen kurzen harten Schock auf dem Wege zu Wohlstand und Stabilität zu deuten. Es ist aber klar, dass die Menschen in den neuen Ländern diese optimistische Deutung rasch fallengelas-