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Postdemokratie Colin Crouch edition suhrkamp SV

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PostdemokratieColin Crouch

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»Postdemokratie«: Dieser Begriff des Politikwissenschaftlers Colin Crouchwurde nach dem Erscheinen der Originalausgabe seines Buches zum Kri-stallisationspunkt der Debatte um Politikverdrossenheit, Sozialabbau undPrivatisierung. Crouch hat dabei ein politisches System im Auge, dessendemokratische Institutionen zwar weiterhin formal existieren, das von Bür-gern und Politikern aber nicht länger mit Leben gefüllt wird. Der pole-mische Essay, der in Italien und Großbritannien bereits als Klassiker derGegenwartsdiagnose gilt, liegt nun endlich auch in deutscher Übersetzungvor.

Colin Crouch lehrt Governance and Public Management an der Universityof Warwick.

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Colin CrouchPostdemokratieAus dem Englischen vonNikolaus Gramm

Suhrkamp

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© 2003, Gius, Laterza & FigliDie deutsche Übersetzung von Postdemocraziaerscheint mit freundlicher Genehmigung vonGius. Laterza & Figli SpA, Roma-Bari.

edition suhrkamp 2540Erste Auflage 2008© der deutschen ÜbersetzungSuhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008Deutsche ErstausgabeAlle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie derÜbertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimUmschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf StaudtPrinted in GermanyISBN 978-3-518-12540-3

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Inhalt

1. Was heißt »Postdemokratie«? 7

2. Das globale Unternehmen 45

3. Soziale Klassen im postdemokratischen Zeitalter 71

4. Zur Lage der Parteien 91

5. Postdemokratie und die Kommerzialisierungöffentlicher Leistungen 101

6. Und jetzt? 133

Literaturverzeichnis 158

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1. Was heißt »Postdemokratie«?

Die Demokratie befindet sich zu Beginn des 21. Jahrhundertsin einer höchst paradoxen Situation. So könnte man sagen, siesei – weltgeschichtlich betrachtet – an einem Höhepunkt ange-langt. In den letzten 25 Jahren übernahmen Spanien und Por-tugal, dann – im Zuge einer äußerst dramatischen Transforma-tion – große Teile des früheren Sowjetimperiums, Südafrika,Südkorea sowie eine Reihe weiterer Staaten im Fernen Osten,schließlich einige Länder Lateinamerikas zumindest ihr ent-scheidendes formales Merkmal: (halbwegs) freie und faireWahlen. Mehr Nationalstaaten als jemals zuvor praktizierenheute demokratische Verfahren. Nach den Ergebnissen einerStudie Philippe Schmitters zur globalen Demokratie ist dieAnzahl der Länder, in denen einigermaßen freie Wahlen abge-halten werden, von 147 im Jahr 1988 (am Vorabend des Zusam-menbruchs des Ostblocks) auf 164 im Jahr 1995 und auf 191im Jahr 1999 gestiegen (Schmitter, private Mitteilung, Oktober2002; vgl. auch Schmitter/Brouwer 1999). Legt man eine etwasstrengere Definition umfassender und freier Wahlen zugrunde,sind die Ergebnisse etwas weniger eindeutig: Einem realenRückgang von 65 auf 43 in den Jahren 1988 bis 1995 steht einAnstieg auf 88 im Jahr 1999 gegenüber.

Wenn man heute allerdings auf die gewachsenen Demokra-tien Westeuropas, Japans, der Vereinigten Staaten und andererTeile der industrialisierten Welt differenziertere Indikatorenfür die Gesundheit des politischen Systems anwendet, will keingroßer Optimismus mehr aufkommen. Ein Blick auf die ameri-kanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 genügt, schließ-lich liegen inzwischen beinahe unwiderlegbare Beweise dafürvor, daß die Ergebnisse in Florida schwerwiegend manipuliertwurden; und das Resultat in diesem Staat war entscheidend fürden Sieg von George W. Bush, dessen Bruder John Ellis – oder

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kurz: Jeb – in diesem Bundesstaat das Gouverneursamt innehat.Abgesehen von einigen Afroamerikanern, die gegen diese Vor-gänge demonstrierten, hielt sich die Entrüstung über die Verfäl-schung des demokratischen Verfahrens allerdings in Grenzen.Offensichtlich kam es den meisten Menschen vor allem daraufan, überhaupt zu irgendeinem Ergebnis zu kommen, um dasVertrauen der Aktienmärkte wiederherzustellen; dies war wich-tiger, als zu ermitteln, wie die Mehrheit der Amerikaner dennnun entschieden hatte.

Man kann diese Anekdote mit den Ergebnissen systema-tischer Studien untermauern: In einem Bericht aus dem Jahr2000 kommt die Trilaterale Kommission – ein elitärer Zirkelhochrangiger Persönlichkeiten aus Westeuropa, Japan und denUSA – zu dem Ergebnis, daß es mit der Demokratie in diesenLändern nicht gerade zum Besten steht (Pharr/Putnam 2000).Die Autoren beschrieben das Problem in erster Linie als einenVerfall der Handlungsfähigkeit der Politiker, da ihre Legiti-mation zunehmend in Zweifel gezogen werde. Aus dieser eherauf die politischen Eliten bezogenen Perspektive erkannten dieVerfasser der Studie nicht, daß es auch für die Öffentlichkeitein Problem darstellen könnte, Politiker zu haben, denen mannicht mehr wirklich vertraut; doch davon einmal abgesehen,sind die Schlußfolgerungen allemal beunruhigend. Natürlichkann man, und Pharr, Putnam und Dalton (2000) hoben dasauch hervor, die wachsende öffentliche Unzufriedenheit gegen-über der Politik und den Politikern als einen Beweis für dieGesundheit der Demokratie deuten: Politisch reife und an-spruchsvolle Bürger erwarten von ihren Führern mehr als diedevoteren Untertanen früherer Generationen. Ich werde aufdiesen wichtigen Einwand zurückkommen.

Die Demokratie kann nur dann gedeihen, wenn die Masseder normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durchDiskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationenaktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen –

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und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt. Dieses Idealbasiert auf anspruchsvollen Vorannahmen: Es setzt voraus, daßsich eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaftenpolitischen Debatten und an der Gestaltung der politischenAgenda beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfra-gen antwortet; daß diese Menschen ein gewisses Maß an politi-schem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus fol-genden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.

Vielleicht wird dieses idealtypische Modell niemals vollstän-dig verwirklicht werden, doch wie alle utopischen Ideale gibt esuns zumindest einen wichtigen Maßstab an die Hand. Auch inunserem Kontext ist es äußerst wichtig und hilfreich, die Fragezu stellen, wie unser Handeln sich zu einem bestimmten Idealverhält, denn nur dadurch haben wir die Möglichkeit, in Zu-kunft besser zu handeln. Es ist ganz entscheidend, daß wir soauch an das Thema Demokratie herangehen; diese Methode istder wesentlich verbreiteteren, bei der die Kriterien des Idealsso weit heruntergeschraubt werden, bis wir sie ohne größereAnstrengungen erreichen können, eindeutig überlegen. Gehtman den anderen, einfacheren Weg, drohen Selbstzufriedenheitund Selbstgefälligkeit, und wir laufen Gefahr, blind zu werdenfür die Probleme, die unsere Demokratien heute bedrohen.

Man fühlt sich hier an die Beiträge US-amerikanischer Poli-tikwissenschaftler aus den fünfziger und frühen sechziger Jah-ren erinnert, die lieber ihre Definition der Demokratie an diepolitische Realität der USA und Großbritanniens anpaßten, alseinzusehen, daß mit den politischen Ordnungen dieser Länderirgend etwas nicht in Ordnung sein könnte (vgl. etwa Almond/Verba 1963). Dieses Vorgehen entsprach eher der Ideologie deskalten Kriegs als den methodischen Standards wissenschaft-licher Analysen. Allerdings gehen in der Gegenwart viele Au-toren ganz ähnlich vor. Demokratie wird – wiederum unterdem Einfluß der USA – zunehmend als liberale Demokratie de-finiert: eine historisch kontingente Form, kein normativ wün-

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schenswerter Zustand (vgl. dazu die kritischen Darstellungenbei Dahl 1989 und Schmitter 2002). Bei diesem Konzept derDemokratie stehen folgende Aspekte im Vordergrund: dieWahlbeteiligung als wichtigster Modus der Partizipation derMassen, große Spielräume für Lobbyisten – wobei darunter vorallem die Lobbys der Wirtschaft verstanden werden – und eineForm der Politik, die auf Interventionen in die kapitalistischeÖkonomie möglichst weitgehend verzichtet. Für die wirkliche,umfassende Beteiligung der Bürger und die Rolle von Organi-sationen außerhalb des Wirtschaftssektors interessieren sich dieBefürworter dieses Modells allenfalls am Rande.

Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen desliberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren despolitischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufrieden-heit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen,das ich als »Postdemokratie« bezeichnen möchte. Der Begriffbezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wah-len abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Re-gierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdingskonkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffent-liche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren,daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nurüber eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Expertenzuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabeieine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagie-ren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten die-ser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter ver-schlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen undEliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.Genau wie das maximalistische Ideal ist auch dieses Modelleine Übertreibung. Man kann in der gegenwärtigen politischenLandschaft allerdings so viele seiner Elemente ausmachen, daßes sich lohnt zu untersuchen, wo wir heute auf dem Kontinuumzwischen den Polen stehen und in welche Richtung sich die

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Politik entwickelt. Ich bin davon überzeugt, daß wir uns dempostdemokratischen Pol immer mehr annähern.

Falls diese Beobachtung zutrifft, werden jene Faktoren, dieich im folgenden als Ursachen dieser Veränderung diskutierenwerde, uns möglicherweise auch dabei helfen, etwas zu erklä-ren, das für Sozialdemokraten und alle anderen Menschen, diean das Ideal der politischen Gleichheit glauben, von großemInteresse ist; für sie ist dieses Buch in erster Linie gedacht. Ineiner Postdemokratie, in der immer mehr Macht an die Lobby-isten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht füregalitäre politische Projekte zur Umverteilung von Wohlstandund Macht sowie die Eindämmung des Einflusses mächtigerInteressengruppen.

Mir ist aber ein weiterer Punkt wichtig: Wenn sich die Poli-tik tatsächlich in Richtung der Postdemokratie bewegt, dannkönnte die Linke Zeuge einer grundlegenden Veränderungwerden, im Zuge derer viele Errungenschaften des 20. Jahrhun-derts rückgängig gemacht werden könnten. In diesem Jahrhun-dert haben Linke auf der ganzen Welt – zum Teil friedlich undSchritt für Schritt, zum Teil aber auch im Angesicht von Gewaltund Repression – dafür gekämpft, den normalen Menschen aufder politischen Bühne Gehör zu verschaffen. Werden dieseStimmen nun wieder aus der öffentlichen Arena verdrängt, dadie ökonomischen Eliten ihre Einflußmöglichkeiten weiter-hin nutzen, während diejenigen des demos geschwächt wer-den? Das hieße nicht, daß wir wieder dort stünden, wo wiram Anfang des 20. Jahrhunderts angefangen haben; auch wennwir uns in diese Richtung bewegen mögen, befinden wir unsschließlich an einem ganz anderen Punkt der historischen Ent-wicklung und wir tragen die Erbschaft der jüngsten Vergangen-heit mit uns herum. Ein geeignetes Bild für die Geschichte derDemokratie scheint mir vielmehr die geometrische Form derParabel zu sein: Skizziert man eine Parabel in einem Koordina-tensystem, in dem die x-Achse den Zeitverlauf darstellt, so wird

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der Stift diese Achse zweimal berühren: einmal auf dem Weghin zum Scheitel, ein zweites Mal auf dem Weg vom Scheitel-punkt weg. Dieses Bild ist für vieles, was ich über die komple-xen Charakteristika der Postdemokratie zu sagen habe, rele-vant.

Ich habe bereits an anderen Stellen über die »Parabel despolitischen Einflusses der Arbeiterklasse« geschrieben und michdort zumeist auf die Erfahrungen der englischen Arbeiterbe-wegung konzentriert (Crouch 1999b). Ich hatte dabei die Kar-riere dieser Klasse im 20. Jahrhundert vor Augen: die Karriereeiner zunächst schwachen, ausgegrenzten Bewegung, der sichjedoch immer mehr Menschen anschlossen, die immer stärkerwurde, bis sie endlich laut und deutlich an die Türen der politi-schen Arena pochte; dann die kurze Zeit im Zentrum derMacht, das Zeitalter des Wohlfahrtsstaates, der keynesianisti-schen Nachfragepolitik und der institutionalisierten industriel-len Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern;und schließlich ihr Niedergang, der zunehmende Zerfall ihrerOrganisationen und ihre Marginalisierung in einer Zeit, in dersie zusammen mit den Errungenschaften der Jahrhundertmitteüber Bord geworfen wird. Am deutlichsten kann man dieseparabelförmige Entwicklung in Großbritannien verfolgen, au-ßerdem vielleicht auch in Australien: In beiden Ländern nahmder politische Einfluß der Arbeiterklasse stetig und in fast allenBereichen des politischen Lebens zu; danach erlebte sie einenbesonders steilen Absturz. In anderen Ländern – vor allem denskandinavischen –, die ebenfalls einen stetigen, breit veranker-ten Aufstieg erlebt hatten, war der Niedergang sanfter. DieErrungenschaften der nordamerikanischen Arbeiter fallen imVergleich zwar viel bescheidener aus, der Abstieg ist nun aller-dings noch viel dramatischer. Mit einigen Ausnahmen (z.B. inden Niederlanden und der Schweiz) war die erste Phase derhistorischen Entwicklung in den meisten Ländern Westeuropasund in Japan wechselhafter und stärker von gewalttätigen Epi-

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soden gekennzeichnet. Die Länder Mittel- und Osteuropas ha-ben eine ganz andere Geschichte durchlaufen, die geprägt istvon der verzerrten und korrumpierten Form, die den Organi-sationen der Arbeiterbewegung dort nach dem Sieg des Kom-munismus aufgenötigt wurde.

Der Niedergang der traditionellen Klasse der (Industrie-)Ar-beiter ist jedoch nur ein Aspekt (wenngleich ein sehr wichtiger)der parabelförmigen Lebenskurve der Demokratie. Die beidenPhänomene, die Krise des egalitären, an politischer und ökono-mischer Gleichheit ausgerichteten Projekts und der Substanz-verlust der Demokratie, sind nicht notwendigerweise ein unddasselbe. Aus der Perspektive der Egalitaristen könnte manbehaupten, daß es nicht darauf ankommt, ob eine Regierung diedemokratischen Verfahren manipuliert, solange sie den Reich-tum und die Macht in der Gesellschaft gleichmäßiger verteilt.Konservative Demokraten werden darauf hinweisen, daß einhöheres Niveau in öffentlichen Diskussionen nicht unbedingtzu einer gerechteren Politik führen muß. Doch an einer Reiheganz entscheidender Punkte berühren sich diese Probleme, undes sind gerade diese Punkte, auf die ich mich in diesem Buchkonzentrieren möchte. Dabei kommt es mir vor allem auf eineThese an: Während die demokratischen Institutionen formalweiterhin vollkommen intakt sind (und heute sogar in vielerleiHinsicht weiter ausgebaut werden), entwickeln sich politischeVerfahren und die Regierungen zunehmend in eine Richtungzurück, die typisch war für vordemokratische Zeiten: Der Ein-fluß privilegierter Eliten nimmt zu, in der Folge ist das egalitäreProjekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.Eine Implikation dieser These ist es, daß es zu kurz greift, wennman die Krise der Demokratie allein auf die Massenmedien unddie wachsende Bedeutung von PR-Profis und spin doctors zu-rückführt. Damit vernachlässigt man einige tiefer greifendeProzesse, die sich in der Gegenwart vollziehen.

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Der Augenblick der Demokratie

Meinem idealtypischen Modell der Demokratie am nächstenkommen Gesellschaften vermutlich in den ersten Jahren nachihrer Einführung oder nach tiefen politischen Krisen, Zeiten, indenen der Enthusiasmus für dieses politische System weitver-breitet ist; in denen sich gewöhnliche Menschen in vielen Grup-pen und Organisationen an der Gestaltung einer politischenAgenda beteiligen, die wirklich ihren Interessen entspricht; inPhasen, in denen jene mächtigen Interessengruppen, die inundemokratischen Gesellschaften das Geschehen bestimmen,auf dem falschen Fuß erwischt und in die Defensive gedrängtwerden; und in Zeiten, in denen sich das politische System nochnicht richtig auf die neuen Forderungen eingestellt hat undnicht weiß, wie man diese manipulieren kann. Populäre politi-sche Bewegungen und Parteien können durchaus von charis-matischen, durchsetzungsfähigen Persönlichkeiten dominiertwerden, deren Stil selbst wiederum alles andere als demokra-tisch ist. Doch diese sind zumindest dem vitalen, aktiven Druckeiner Massenbewegung ausgesetzt, die selbst wiederum für ei-nen Teil der Hoffnungen der Menschen steht.

In Nordamerika und in den meisten Staaten Westeuropaserlebten wir diesen Augenblick der Demokratie ungefähr in derMitte des 20. Jahrhunderts; kurz vor dem Zweiten Weltkrieg inNordamerika und Skandinavien; kurz danach in einer Reiheweiterer Länder. Damals waren nicht nur zwei große, antide-mokratische Bewegungen – der Faschismus und der National-sozialismus – besiegt, politische Prozesse waren überdies ein-gebettet in eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung, diedie Verwirklichung vieler demokratischer Ziele ermöglichte.Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ging mandavon aus, daß die Ökonomie nur gedeihen könne, wenn esauch der Masse der abhängig Beschäftigten einigermaßen gutginge. Diese Überzeugung stand nicht nur hinter den wirt-

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schaftspolitischen Maßnahmen, die man mit John MaynardKeynes verbindet, sondern auch in der Logik des Zyklus vonMassenproduktion und -konsum, die in den sogenannten »for-distischen« Produktionsmethoden zum Ausdruck kam. In den-jenigen Industriegesellschaften, die nicht kommunistisch wur-den, gelang es, einen sozialen Kompromiß zwischen den Interes-sen der kapitalistischen Wirtschaft und denen der arbeitendenBevölkerung herzustellen. Im Austausch für den Fortbestanddes Kapitalismus und das Abflauen des Protestes gegen die Un-gleichheiten, die dieses System hervorbrachte, nahmen die öko-nomischen Eliten Beschränkungen ihrer Macht in Kauf. ImRahmen des Nationalstaats war die politische Steuerungskapa-zität überdies derart gebündelt, daß die Regierungen in derLage waren, diese Beschränkungen auch zu verteidigen, da dieUnternehmen weitgehend nationalen Autoritäten unterstan-den.

Dieses Entwicklungsmuster läßt sich in seiner idealtypischenForm in Skandinavien, den Niederlanden und im VereinigtenKönigreich erkennen. Andernorts gab es wesentliche Abwei-chungen. Obwohl die US-Regierung in den dreißiger Jahren –zeitgleich zu Ländern wie Schweden oder Norwegen – wich-tige wohlfahrtsstaatliche Reformen begonnen hatte, führte dieSchwäche der amerikanischen Arbeiterbewegung bereits inden fünfziger Jahren zu einer allmählichen Erosion dieser Er-rungenschaften und der institutionalisierten Beziehungen zwi-schen Kapital und Arbeit, obwohl das Land im großen und gan-zen bis in die achtziger Jahre hinein der keynesianischen Wirt-schaftspolitik treu blieb; im Zyklus von Massenproduktion und-konsum reproduzierte die US-Ökonomie dabei permanent dieGrundlagen der Demokratie. In der Bundesrepublik Deutsch-land dagegen schlug man erst in den späten sechziger Jahren denWeg der keynesianischen Nachfragesteuerung ein, das Landverfügte jedoch über sehr stabile Institutionen im Bereich derindustriellen Beziehungen und schließlich auch über einen star-

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ken Wohlfahrtsstaat. In Frankreich und Italien folgte die hi-storische Entwicklung einem weniger klaren Muster. Dort kames zu einer diffusen Kombination: Auf der einen Seite machteman Zugeständnisse gegenüber den Forderungen der Arbeiter-klasse, um die Attraktivität des Kommunismus zu reduzieren;gleichzeitig wurde jede direkte Vertretung der Interessen derArbeiter abgelehnt, nicht zuletzt, da diese vorwiegend vonkommunistischen Parteien und Gewerkschaften repräsentiertwurden. Spanien und Portugal traten erst in den siebziger Jah-ren in das demokratische Zeitalter ein – just in dem Momentalso, in dem die Rahmenbedingungen, die das Modell derNachkriegszeit möglich gemacht hatten, sich grundlegend ver-änderten; in Griechenland wurde die demokratische Entwick-lung schließlich durch den Bürgerkrieg und eine jahrelangeMilitärdiktatur unterbrochen.

Das hohe Niveau der politischen Beteiligung in den spätenvierziger und frühen fünfziger Jahren verdankt sich zum Teilauch der Tatsache, daß nach dem Krieg der Wiederaufbau diewichtigste Aufgabe darstellte. In einigen Ländern ging diesespolitische Engagement auf die Zeit des Zweiten Weltkriegszurück, als gesellschaftliche Angelegenheiten verstärkt von deröffentlichen Hand gesteuert wurden. Vor diesem Hintergrundmußte man bereits damals davon ausgehen, daß sich diesesNiveau der demokratischen Aktivität nicht über viele Jahrehinweg aufrechterhalten lassen würde. Die Eliten lernten rechtbald, wie man die Menschen auch unter den veränderten Be-dingungen steuern und manipulieren konnte. Die Bürger wie-derum verloren ihre Illusionen, sie waren zunehmend ge-langweilt oder immer stärker mit den Problemen des Alltagsbeschäftigt. Nach den großen Erfolgen der politischen Refor-men am Anfang dieser Phase waren die Probleme nun wesent-lich komplexer, es wurde immer schwieriger, informierte Posi-tionen einzunehmen, intelligente Kommentare abzugeben oderüberhaupt zu wissen, auf welcher »Seite« man eigentlich stand.

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Die Mitarbeit in politischen Organisationen ging so gut wieüberall zurück, zuletzt war die politische Apathie so groß, daßviele Menschen nicht einmal mehr zur Wahl gingen. Unabhän-gig von dieser Veränderung blieben die grundlegenden demo-kratischen Imperative einer Ökonomie, die von dem – durchöffentliche Ausgaben aufrechterhaltenen – Zyklus von Mas-senproduktion und -konsum abhängig war, bis in die siebzigerJahre hinein die wichtigste politische Triebfeder des demokrati-schen Augenblicks.

Die Ölkrisen stellten dann jedoch in den Siebzigern dieAnpassungsfähigkeit des keynesianistischen Systems, insbe-sondere seine Möglichkeiten, der Inflation Herr zu werden,solange auf die Probe, bis es schließlich zerbrach. Mit dem Auf-stieg der Dienstleistungsökonomie nahm die Bedeutung derIndustriearbeiter für die Aufrechterhaltung des Zyklus vonProduktion und Konsumption deutlich ab. In Westdeutsch-land, Österreich, Japan und – bis zu einem gewissen Grad –auch in Italien wurden die Konsequenzen dieser Entwicklungerst mit beträchtlicher Verzögerung spürbar; dort florierte wei-terhin das herstellende Gewerbe, das für eine wachsende Zahlvon Menschen länger als anderswo ausreichend Beschäfti-gungsmöglichkeiten bot. In Spanien, Portugal und Griechen-land lagen die Dinge noch einmal anders. Dort eroberten dieOrganisationen der Arbeiterbewegung erst in diesen Jahren diepolitischen Teilhaberrechte, die ihre Kollegen im Norden be-reits seit Jahrzehnten genossen. Damit begann die kurze Phase,in der man den Eindruck haben konnte, die Sozialdemokratenseien in die Sommerferien gefahren: Während ihre traditionel-len Hochburgen in Skandinavien nun nach rechts tendierten,übernahmen linke Parteien in den Regierungen mehrerer Mit-telmeerländer wichtige politische Funktionen. Doch diesesZwischenspiel währte nicht lange. Obwohl die Regierungen inSüdeuropa tatsächlich beträchtliche Leistungen beim Ausbauder minimalen wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ihrer Län-

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der vorweisen konnten (Maravall 1997), schlug die Sozialdemo-kratie dort niemals tiefe Wurzeln. Die Arbeiterklasse gelangtedort nicht in eine derartig starke Position wie in anderen Län-dern während der Blüte des Industriezeitalters.

Schlimmer noch: In Italien, Griechenland und Spanien ver-strickten sich diese Regierungen in Korruptionsskandale. Ge-gen Ende der neunziger Jahre war dann offensichtlich, daß dieKorruption keineswegs ausschließlich ein Problem linker Par-teien oder der Länder des Südens darstellte, sondern ein weit-verbreitetes Merkmal des politischen Lebens (Della Porta 2000;Della Porta/Meny 1995; Della Porta/Vannucci 1999). Tatsäch-lich ist Korruption ein sehr guter Indikator für die Schwächedemokratischer Systeme. Sie zeigt, daß die politische Klasse zy-nisch und amoralisch geworden, nicht länger kritischer Über-prüfung ausgesetzt und von der breiteren Öffentlichkeit ab-geschnitten ist. Die traurige Lektion, die man zuerst aus densüdeuropäischen Ländern, später jedoch auch aus den Beispie-len Belgiens, Frankreichs, gelegentlich auch der Bundesrepu-blik und Großbritanniens ableiten konnte, bestand darin, daßdie Parteien der Linken gegenüber diesem Phänomen, das ihrenBewegungen und Parteien ein Greuel sein sollte, keineswegsimmun waren.

Gegen Ende der achtziger Jahre verlagerte sich der Schwer-punkt der wirtschaftlichen Dynamik unter dem Einfluß derglobalen Deregulierung der Finanzmärkte vom Massenkon-sum auf die Aktienmärkte. Der shareholder value wurde –zuerst in den USA und in Großbritannien, dank eifriger Nach-ahmer allerdings bald auch in anderen Ländern – zum wichtig-sten Indikator des ökonomischen Erfolgs (Dore 2003); die Dis-kussionen über eine stakeholder-Ökonomie, in der auch dieInteressen anderer gesellschaftlicher Gruppen berücksichtigtwerden sollten, verstummten rasch. Nachdem der Anteil derarbeitenden Bevölkerung am Gesamteinkommen der Volks-wirtschaft über Jahrzehnte hinweg praktisch überall gestiegen

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war, ging er nun im Vergleich zu dem des Kapitals wiederzurück. Man hatte die demokratische Ökonomie nun zusam-men mit dem demokratischen Gemeinwesen gezähmt. DieUSA galten weiterhin als das globale Beispiel in Sachen Demo-kratie, und zu Beginn der neunziger Jahre wurden sie wieder,wie schon während der Nachkriegsjahre, zum unbestrittenenModell für alle, die mit Dynamik und Modernität in Verbin-dung gebracht werden wollten. Doch während das politisch-ökonomische System der USA bis dahin für viele Beobachteraus Japan und Europa einen kreativen Kompromiß zwischeneinem vitalen Kapitalismus und wohlhabenden Eliten sowieegalitaristischen Werten, starken Gewerkschaften und denwohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen des New Deal darstellte,repräsentierten die Vereinigten Staaten nun ein vollkommenanderes Gesellschaftsmodell. Da viele europäische Konserva-tive zuvor überzeugt waren, es gebe keinen Spielraum für einenInteressenausgleich zwischen ihnen und den Massen, der fürbeide Seiten gewinnbringend sei, hatten viele von ihnen zwi-schen den Weltkriegen die repressive Politik und den Terror derFaschisten bzw. Nationalsozialisten unterstützt. Als diese Ant-wort auf die Herausforderung durch die Massen jedoch imWeltkrieg schändlich scheiterte, griffen viele von ihnen denamerikanischen Kompromiß auf, der auf der Ökonomie derMassenproduktion basierte. Gerade dadurch – und angesichtsihrer militärischen Erfolge während des Krieges – konnten dieUSA nun legitimerweise für sich in Anspruch nehmen, derweltweit führende Vorkämpfer der Demokratie zu sein.

Unter der Regierung Ronald Reagans veränderte sich dasLand dann allerdings von Grund auf: Die wohlfahrtsstaatlichenInstitutionen wurden beinahe restlos abgewickelt, die Gewerk-schaften marginalisiert, und die Spaltung zwischen Arm undReich erreichte allmählich ein Niveau, das man bisher nur ausLändern der dritten Welt gekannt hatte. Die Verbindung vonModernisierung und der Verringerung der sozialen Ungleich-

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heit, die zuvor als historische Notwendigkeit gegolten hatte,zerbrach. Das amerikanische Beispiel kam den Eliten in allerWelt, auch in den Ländern, die soeben den Kommunismus hin-ter sich gelassen hatten, gerade recht. Genau in dieser Zeitbegannen amerikanische Autoren ein Konzept der Demokra-tie zu vertreten, das gekennzeichnet war durch die begrenzteMacht der Regierung inmitten einer unbeschränkten kapitali-stischen Ökonomie. Die wirklich demokratische Komponentereduzierten sie dabei auf das Abhalten von Wahlen.

Eine Krise der Demokratie? Welche Krise?

Angesichts der Schwierigkeiten, die politische Realität dauer-haft dem oben skizzierten Ideal anzunähern, müssen wir unsdamit abfinden, daß die wahrhaft demokratischen Phasenbegrenzt sind. Allerdings kann die Demokratie auf zwei Wegenwiederbelebt werden: Durch Krisen und Veränderungen, dieein erneutes politisches Engagement hervorrufen; oder aber(was in demokratischen Systemen mit universellem Wahlrechtwahrscheinlicher ist) durch die Entstehung neuer kollektiverIdentitäten, die die Form der Partizipation an Debatten undEntscheidungen verändern. Wie wir sehen werden, gibt es sol-che Gelegenheiten immer wieder, und sie sind sehr wichtig.Über lange Zeiträume hinweg müssen wir uns jedoch auf dieEntropie der Demokratie gefaßt machen. Es wird daher wichtigsein, die Kräfte zu verstehen, die hier am Werk sind, und unsereBetrachtungsweise politischer Partizipation dem anzupassen.All jene, die an egalitären politischen Zielen interessiert sind,können den Anbruch der Postdemokratie nicht rückgängigmachen, aber wir müssen lernen, damit zurechtzukommen:indem wir sie abschwächen, hier und da etwas verbessern undsie manchmal auch grundsätzlich in Frage stellen, anstatt sieeinfach zu akzeptieren.

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Im folgenden werde ich einige der tiefer gehenden Ursachendes Phänomens diskutieren und die Frage erörtern, wie wirdamit umgehen können. Zunächst möchte ich mich jedochdetailliert mit den Argumenten auseinandersetzen, die skepti-sche Leser gegen meine Ausgangsthese vorbringen könnten,nach der mit der Demokratrie heute nicht alles zum Bestenbestellt ist.

Es gibt durchaus Beobachtungen, die dafür sprechen, daß dieDemokratie als politisches System heute einen ihrer histori-schen Höhepunkte erlebt. Zum einen, darauf habe ich bereitshingewiesen, gab es noch nie so viele gewählte Regierungen wieheute. Man kann aber auch – näher bei uns, für die sogenannten»entwickelten Ländern« – die Behauptung aufstellen, daß diePolitiker von der Öffentlichkeit und den Massenmedien mitweniger Ehrerbietung und unkritischem Respekt bedacht wer-den als wohl je zuvor. Die Regierungen und ihre Geheimnissewerden zunehmend dem demokratischen Blick ausgesetzt. Esgibt hartnäckige und häufig erfolgreiche Forderungen nacheiner größeren Transparenz des Regierens und nach Verfas-sungsreformen, die die Politiker dem Volk gegenüber stärkerzur Rechenschaft ziehen sollen. Leben wir also heute nichtdoch in einem Zeitalter, das demokratischer ist als jeder »de-mokratische Augenblick« des dritten Viertels des 20. Jahrhun-derts? Damals schenkten naive und ehrerbietige Wähler denPolitikern in einer Weise Vertrauen und Respekt, die diese nichtverdient hatten. Was aus einer Perspektive als eine Manipula-tion der Meinungen durch die heutigen Politiker erscheinenmag, kann aus einer anderen Perspektive in dem Sinne aufge-faßt werden, daß die Politiker sich solche Sorgen um die An-sichten einer scharfsinnigen und vielschichtigen Wählerschaftmachen, daß sie enorme Ressourcen aufbieten, um herauszu-finden, was diese denkt, um dann darauf zu reagieren. Stelltes nicht einen Fortschritt an demokratischer Qualität dar, daßdie Politiker heute stärker als früher darum besorgt sind, die

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politische Agenda zu gestalten, und es dabei vorziehen, einenGroßteil der Themen auf diesen Agenden aus den Ergebnis-sen der Marktforschung und der Meinungsumfragen abzulei-ten?

Diese optimistische Sicht auf den aktuellen Zustand der De-mokratie bekommt allerdings das grundlegende Problem derGegenwart nicht in den Blick: die Macht der Wirtschaftseliten.Dieses Thema wird in den folgenden Kapiteln im Mittelpunktstehen. Zusätzlich gibt es allerdings einen grundlegenden Un-terschied zwischen zwei Konzepten des aktiven demokrati-schen Staatsbürgers, den man aus der skizzierten optimisti-schen Sichtweise nicht erkennt. Auf der einen Seite gibt es daspositive Modell des Bürgerstatus, dem zufolge Gruppen undOrganisationen kollektive Identitäten entwickeln, ihre Interes-sen und Forderungen selbständig artikulieren und an das politi-sche System weiterleiten. Auf der anderen Seite steht der nega-tive Aktivismus des Tadelns und Sich-Beschwerens, bei demdas Hauptziel der politischen Kontroverse darin besteht, zusehen, wie Politiker zur Verantwortung gezogen werden, wieihre Köpfe auf den Richtblock gelegt und ihre öffentliche undprivate Integrität peinlich genau überprüft wird. Diese beidenKonzepte der Rolle der Staatsbürger hängen eng mit zwei un-terschiedlichen Interpretationen der Bürgerrechte zusammen.Die Vorstellung der positiven Rechte hebt die Fähigkeiten derBürger, sich an ihrem Gemeinwesen zu beteiligen, hervor: dasRecht, zu wählen, das Recht, Organisationen aufzubauen undihnen beizutreten, das Recht, exakte Informationen zu erhal-ten. Negative Rechte sind diejenigen, die das Individuum gegenandere schützen, insbesondere gegen den Staat: das Recht,Anklage zu erheben, sowie die Eigentumsrechte.

Die Demokratie braucht beide Arten von Rechten, doch der-zeit gewinnt das negative Modell die Oberhand. Das ist einAnlaß zur Besorgnis, da offensichtlich gerade die positivenStaatsbürgerrechte die kreativen Energien dieses politischen

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Systems ausmachen. Bei aller Aggressivität gegenüber der poli-tischen Klasse hat das negative Modell der Staatsbürgerschaftmit dem beschriebenen liberalen bzw. negativen Konzept derDemokratie eines gemeinsam: die Idee, daß die Politik imwesentlichen eine Angelegenheit von Eliten sei, die von derwütenden Masse der Zuschauer mit Schimpf und Schande be-dacht werden, wenn sie entdecken, daß etwas schiefgegangenist. Jedesmal, wenn wir einen Fehler oder ein Mißgeschickbereits dann als behoben betrachten, wenn ein unglückseli-ger Minister oder Beamter zurücktreten muß, machen wir unsparadoxerweise mit einem Modell gemein, in dem die Politikallein als das Geschäft kleiner Gruppen elitärer Entscheidungs-träger gilt.

Schließlich könnte man auch die Frage stellen, ob die Ten-denz zu mehr Transparenz und Offenheit des Regierens einerkritischen Überprüfung standhält, oder ob es sich um ein ober-flächliches Phänomen handelt. Auf den ersten Blick könnteman diese Entwicklung als den einzigen positiven Beitrag zumZustand der Demokratie betrachten, den der Neoliberalismusim letzten Viertel des 20. Jahrhunderts geleistet hat, doch alldiese Maßnahmen werden gegenwärtig durch eine verstärktestaatliche Sicherheits- und Geheimhaltungspolitik konterka-riert. Diese stehen in engem Zusammenhang zu einer ganzenReihe tiefer greifender Veränderungen: In vielen Ländern hates einen merklichen Anstieg der Kriminalität und Gewalt ge-geben, in den reichen Teilen der Welt wachsen die Ängste vorEinwanderern aus armen Ländern und vor Fremden ganz allge-mein. Diese Entwicklung erreichte ihren symbolischen Höhe-punkt am 11. September 2001. Seit diesen Anschlägen habenRegierungen – in den USA und in Europa – neue Argumente ander Hand, mit denen sie eine Politik der Geheimhaltung recht-fertigen sowie die Ansprüche der Bürger, staatliche Aktivitätenunter die Lupe zu nehmen, zurückweisen können. Gleichzeitigerhielten die Staaten neue rechtliche Möglichkeiten, ihre Bevöl-

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kerungen auszuspionieren und die oft gerade erst errungenenRechte zum Schutz der Privatsphäre auszuhebeln. Man mußdavon ausgehen, daß die Fortschritte, die in den achtziger undneunziger Jahren im Bereich der Transparenz des Regierenserzielt wurden, auf ganz ähnliche Weise rückgängig gemachtwerden – mit Ausnahme derjenigen, die für die globale Finanz-wirtschaft von besonderem Interesse sind.

Politische Beteiligung jenseits von Wahlen

Viele Argumente, die auf den ersten Blick gegen meine Behaup-tung sprechen mögen, die Demokratie würde immer schwä-cher, stammen aus der umtriebigen Sphäre der sozialen Bewe-gungen und Nichtregierungsorganisationen, die in der letztenZeit massiv an Bedeutung gewonnen haben. Sind das nicht diebesten Beispiele für eine gesunde, positive Mentalität der Bür-ger? Es besteht die Gefahr, daß man sich zu sehr auf Parteipo-litik und Wahlkämpfe konzentriert, und dabei übersieht, wiesich das kreative Engagement der Menschen immer stärker ausdiesen engeren Arenen in jene weitere der Bürgerinitiativenund NGOs, kurz: der »guten Sachen« verlagert. Man könntesagen, daß Organisationen für die Menschenrechte, die Ob-dachlosen, die dritte Welt, den Umweltschutz und viele andereAnliegen zu einer wesentlich reicheren Demokratie beitragen,da sie uns befähigen, einzelne Themen auszuwählen, währenddie Arbeit in einer Partei uns nötigt, ein komplettes Paket anPositionen zu übernehmen. Außerdem können wir dadurchauf einmal ganz andere Dinge in Angriff nehmen, als einfachnur Politiker zu wählen oder abzuwählen. Und moderne Kom-munikationsmittel wie das Internet machen es einfacher undbilliger, neue Interessengruppen zu organisieren und zu koor-dinieren.

Das ist ein sehr starkes Argument, und ich möchte es an

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