COLLEEN MCCULLOUGH Insel der Verlorenen · 2018-12-04 · Colleen McCullough, geboren im...

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COLLEEN MCCULLOUGH Insel der V erlorenen

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COLLEEN MCCULLOUGH

Insel der Verlorenen

BuchEngland am Ende des 18. Jahrhunderts: Der Waffenschmied RichardMorgan ist ein angesehener Bürger der Stadt Bristol, ein liebevoller Ehe-mann und Vater. Doch als er durch tragische Umstände seine Familie ver-liert, gerät der aufrechte Mann ins Räderwerk der Justiz. Unschuldig wirder zur Strafarbeit in Übersee verurteilt. Und das bedeutet zu dieser Zeit dieDeportation an einen Ort, den kaum ein Europäer zuvor je gesehen hat:Terra Australis. Zusammen mit über achthundert weiteren Häftlingenbeginnt die höllische Überfahrt auf den Schiffen der sogenannten »ErstenFlotte«. Nach unaussprechlichen Strapazen landen die Häftlinge an derKüste des fremden Kontinents. Doch mit ihrer Ankunft hatte das Martyriumnoch kein Ende: Es folgt der harte Überlebenskampf in einer menschen-feindlichen Umgebung. Schnell macht sich Richard durch sein großes hand-werkliches Geschick, aber auch durch Mut und Aufrichtigkeit bei den Mit-gefangenen und den Kommandanten unentbehrlich. Eines Tages verliebt ersich sogar neu. Noch aber hat Richard seinen inneren Frieden nicht gefun-den: Wird er jemals wieder ein freier Mann sein? Wird es je ein neues pri-

vates Glück für ihn geben – einen Platz am anderen Ende der Welt?

Zum ersten Mal seit ihrem berühmten Weltbestseller Dornenvögel kehrtColleen McCullough mit ihrem neuen Roman nun in ihre Heimat Austra-lien zurück. Spannend und kenntnisreich erzählt sie von einem der größtenExperimente der Menschheit: der Besiedlung des unbekannten Kontinents

Terra Australis.

AutorinColleen McCullough, geboren im neuseeländischen Wellington, hat mit derFamiliensaga »Dornenvögel« einen der international erfolgreichsten Ro-mane der letzten Jahrzehnte geschrieben. Nach einer Aufsehen erregendensechsteiligen Saga über Caesar ist Insel der Verlorenen der bisher persön-lichste Roman der Autorin, in dessen Mittelpunkt mit Richard Morgan eindirekter Vorfahre ihres australischen Ehemannes steht. Colleen McCulloughlebt heute in der Abgeschiedenheit der kleinen australischen Insel Norfolk

Island im Südpazifik.

Von Colleen McCullough ist derzeit lieferbar

Die Dornenvögel (35282) · Haus der Träume (36350) · Land derDornen (36629)

Colleen McCullough

Insel der VerlorenenRoman

Deutsch von Renate Weitbrecht,Werner Roller und Cäcilie Plieninger

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»Morgan’s Run« bei Simon & Schuster, Inc., New York.

Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmender Verlagsgruppe Random House.

6. AuflageVollständige Taschenbuchausgabe April 2005,bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2000

by Colleen McCulloughCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2001

by Limes Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Zefa Masterfile-FreemanPattersonSatz: Uhl+Massopust, Aalen

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckMD · Herstellung: Heidrun Nawrot

Printed in GermanyISBN 978-3-442-36190-8

www.blanvalet-verlag.de

Für Ric, Bruder John, Wayde, Joe, Helenund all die anderen vielen hundert Menschen,

die in direkter Linie von Richard Morgan abstammen.

Vor allem aber ist dieses Buch für meine geliebte Linda,Nachfahrin Richard Morgans der siebten Generation.

Teil Eins

August 1775 bis Oktober 1784

Wir haben Krieg!«, rief Mr James Thistlethwaite.Alle außer Richard Morgan hoben die Köpfe und sahen zur

Tür. Dort stand eine massige Gestalt und schwenkte eine Zeitung.Einen Augenblick lang hätte man eine Stecknadel fallen hören kön-nen, dann redeten alle aufgeregt durcheinander. Nur am Tisch vonRichard Morgan blieb es ruhig. Richard hatte kaum hingehört.Was war schon ein Krieg mit den dreizehn amerikanischen Kolo-nien, verglichen mit dem Schicksal des Kindes, das er auf demSchoß hielt? Vetter James, der Apotheker, hatte das kleine Kerlchenvor vier Tagen gegen die Pocken geimpft. Jetzt wartete RichardMorgan in panischer Angst darauf, dass die Impfung anschlug.

»Komm rein, Jem, lies uns das vor«, rief Dick Morgan, der Wirtund Richards Vater, über den Schanktisch.

Obwohl von draußen die Mittagssonne durch die dicken But-zenscheiben des Cooper’s Arms schien, war der große Raum düs-ter. Mr James Thistlethwaite marschierte also zum Schanktisch,auf dem eine Öllampe stand, und lehnte sich dagegen. Die großenSattelpistolen in den Taschen seines schweren Mantels schlugen andas abgenutzte, fleckige Eichenholz. Mit der Brille auf der Nasen-spitze begann er laut zu lesen.

Seine Stimme, ein beeindruckendes Organ, hob und senkte sichin dramatischen Kadenzen, und einiges von dem, was er sagte,drang sogar durch den Nebel von Richard Morgans Sorgen –Wortfetzen wie »in offener Rebellion« und »größte Anstrengun-gen, diese Rebellion niederzuschlagen und die Verräter ihrer ge-rechten Strafe zuzuführen«.

Richard spürte die Verachtung im Blick seines Vaters und ver-

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suchte krampfhaft zuzuhören. Das Fieber hatte sicher schon an-gefangen. Bestimmt? Wenn ja, dann hatte die Impfung angeschla-gen. Aber wenn sie angeschlagen hatte, dann gehörte WilliamHenry vielleicht zu denen, bei denen die Krankheit sich voll ent-faltete. Würde er trotz der Impfung sterben? Gütiger Gott, nein!

Mr James Thistlethwaite kam zum Schluss der Rede des Königs.»Die Würfel sind gefallen!«, donnerte er. »›Die Kolonien müs-

sen sich entweder unterwerfen oder triumphieren!‹«»Was für eine seltsame Ausdrucksweise für einen König«, sagte

der Wirt.»Seltsam?«»Es klingt so, als ob der König einen Triumph der Kolonien für

möglich hält.«»Oh, das bezweifle ich sehr, Dick. Sein Redenschreiber – ver-

mutlich ein obskurer Staatssekretär seines Günstlings Lord Bute –hat sich von seiner Formulierungskunst mitreißen lassen. Dick?«Mr Thistlethwaite deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Mund.

Der Wirt grinste und füllte einen kleinen Zinnbecher mit Rum.Dann drehte er sich um und machte mit Kreide einen Strich auf dieSchiefertafel an der Wand.

»Dick! Meine Neuigkeiten sind einen Schluck auf Kosten desHauses wert!«

»Nein, wir hätten sie früher oder später sowieso gehört. Ich be-treibe ein anständiges Wirtshaus, keine Säuferhöhle für Presspat-rouillen.«

»Das ist ein non sequitur«, erwiderte Mr Thistlethwaite, setztesich an Richards Tisch und fasste dem Baby zärtlich unters Kinn.»Das eine folgt nicht aus dem anderen.«

»Lass die gelehrten Floskeln, Jem. Wir sind einfache Leute ausBristol, keine Horace Walpoles.« Der Wirt stützte sich mit denEllenbogen auf den Schanktisch, der an den entsprechenden Stel-len bereits zwei kleine Vertiefungen aufwies, und starrte Mr Thist-lethwaite in seinem schweren Mantel mit den Pistolen an. Der wardoch total übergeschnappt! Es war ein drückend heißer Sommer-tag. »Im Ernst, Jem, so ganz überraschend kommt das nicht, aberein Schock ist es natürlich trotzdem.«

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Niemand sonst mischte sich in ihre Unterhaltung ein. DickMorgan hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Stammgästen, undJem Thistlethwaite war in Bristol schon lange als exzentrischer In-tellektueller bekannt. Die anderen Gäste begnügten sich daher mitder Zuhörerrolle und verleibten sich währenddessen das Getränkihrer Wahl ein – Rum, Gin, Bier und Bristol-Milch.

Die beiden Morgan-Frauen waren im Schankraum unterwegs,sammelten leere Gläser ein und brachten sie Dick zum Nachfüllen.Die Strichliste auf der Schiefertafel wuchs. Bald war Essenszeit.Der Geruch frischen Brotes, das Peg Morgan von Bäcker Jenkinsmitgebracht hatte, überlagerte die anderen Gerüche, die bei Nied-rigwasser zu einem Wirtshaus in unmittelbarer Nachbarschaft desBristoler Hafens gehörten. Die meisten anwesenden Männer,Frauen und Kinder würden bleiben, um sich an ebendiesem fri-schen Brot gütlich zu tun. Dazu gab es einen Klumpen Butter,einen Kanten Somerset-Käse und einen dampfenden Zinnteller mitRindfleisch und Kartoffeln, die in einer dicken Soße schwammen.

Dick Morgan sah seinen Sohn finster an. Richard wusste, dasssein Vater ihn für zu weich und sentimental hielt. Unglücklichsuchte er nach Worten. »Wahrscheinlich haben wir gehofft, die an-deren Kolonien würden Massachusetts nach ihrer anfänglichenWarnung nicht beistehen«, sagte er unsicher. »Wie konnten sieglauben, der König würde sich dazu herablassen, ihren Brief zu le-sen? Oder, selbst wenn er es getan hätte, ihren Forderungen nach-geben? Sie sind doch Engländer! Der König ist auch ihr König.«

»Geschwätz, Richard!«, sagte Mr Thistlethwaite scharf. »Dieüberspannte Sorge um dein Kind verwirrt deinen Denkapparat zu-sehends! Der König und seine scheinheiligen Minister sind geradedabei, unsere schöne Insel in eine Katastrophe zu stürzen. Acht-tausend Tonnen Fracht aus Bristol sind in weniger als einem Jahrungelöscht aus den dreizehn Kolonien zurückgekommen! Die Ser-gestoffmanufaktur in Redcliff ist pleite, und die vierhundert See-len, die dort Arbeit hatten, fallen jetzt der Gemeinde zur Last.Ganz zu schweigen von der Fabrik beim Port Wall, die bemalteLeinwandteppiche für Carolina und Georgia herstellt, und vonden Pfeifenmachern, Seifensiedern, Flaschenmachern, Zucker-

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und Rumfabrikanten – um Gottes willen, meine Herren! Dergrößte Teil unseres Handels geht über den Atlantik und kein ge-ringer Teil davon in die dreizehn Kolonien! Ein Krieg mit den Ko-lonien ist wirtschaftlicher Selbstmord!«

Der Wirt hatte die Zeitung genommen und überflogen. »Ichsehe hier, dass Lord North eine – eine ›Proklamation zur Nieder-schlagung der bewaffneten Rebellion‹ veröffentlicht hat. Das heißtvermutlich, dass es beim Heer wieder Arbeit gibt. Gott habe Mit-leid mit den armen Soldaten und beschütze sie.«

Von der Marine sagte er nichts. In Bristol kannte und fürchtetejedermann den gefräßigen Schlund, der Männer verschluckte,meist ohne sie lebendig und bei guter Gesundheit wieder auszu-spucken. Und die Kapitäne der Handelsflotte waren um kein Haaranständiger, noch pressten sie weniger rücksichtslos. Sie bezahltenihre Matrosen genauso schlecht und peitschten sie genauso oftaus. Besonders auf Sklavenschiffen starben die Matrosen schnellerals die Schwarzen, wenn das überhaupt möglich war.

»Wir können diesen Krieg gar nicht gewinnen«, sagte Mr Thist-lethwaite und streckte Mag Morgan seinen Becher entgegen.

Richard wollte das nicht unwidersprochen lassen. »Aber siehmal, Jem, wir haben nach sieben Kriegsjahren Frankreich geschla-gen – wir sind das größte und tapferste Land der Welt. Der Königvon England verliert seine Kriege nicht.«

»Wenn er sie gegen unsere unmittelbaren Nachbarn führt odergegen Heiden oder ungebildete Wilde, die von ihren eigenen Herr-schern verkauft werden. Aber die Einwohner der amerikanischenKolonien sind, wie du ganz richtig sagst, Engländer. Sie sind zivi-lisiert und mit unserer Lebensart vertraut. Sie sind Blutsver-wandte.« Mr Thistlethwaite lehnte sich zurück, seufzte und zogdie vom Grog prächtig zum Blühen gebrachte Knollennase kraus.»Sie fühlen sich nicht ernst genommen, Richard. Ausgenutzt, be-spuckt, mit Herablassung behandelt. Engländer sind sie, ja, aberdoch nicht gleichberechtigt. Und sie sind sehr weit weg, eineSchwierigkeit, die der König und seine Minister noch gar nicht er-kannt haben. Man könnte natürlich sagen, die Marine gewinntunsere Kriege – wie lange ist es her, dass unser Schicksal von einem

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Heer abhing, das außerhalb der britischen Inseln kämpfte? Aberwie können wir einen Seekrieg gegen einen Feind gewinnen, derkeine Schiffe hat? Wir werden zu Land kämpfen müssen. In drei-zehn verschiedenen Kolonien, zwischen denen es kaum Verbin-dungen gibt. Und gegen einen Feind, der im Grunde gar keine rich-tige Armee hat.«

»Du hast gerade dein eigenes Argument entkräftet, Jem«, sagteder Wirt lächelnd, aber ohne nach der Kreide zu greifen, als erMag einen frischen Becher mit Rum gab. »Unsere Armeen sindhaushoch überlegen. Die Kolonisten werden ihnen nicht standhal-ten können.«

»Einverstanden, vollkommen einverstanden!«, rief Jem. Er hobden Becher und prostete dem Wirt zu, der nur selten etwas spen-dierte. Dick Morgan war wie die meisten Bürger Bristols ein hartkalkulierender Geschäftsmann. »Die Kolonisten gewinnen viel-leicht keine Schlacht, aber das müssen sie ja auch gar nicht, Dick.Sie müssen nur durchhalten. Weil sie im eigenen Land kämpfen,nicht in England.« Jem fasste in die linke Tasche seines Mantels.Heraus kam die schwere Pistole und landete polternd auf demTisch. Die anderen Gäste schrien entsetzt auf – und Richard, derseinen kleinen Sohn auf dem Schoß hielt, schob die Mündungblitzschnell zur Seite. Die Pistole war, wie jedermann wusste, ge-laden. Ohne die Bestürzung wahrzunehmen, die er verursachthatte, wühlte Mr Thistlethwaite in den Tiefen seiner Tasche undzog schließlich einen Stoß zusammengefalteter Zeitungen heraus.Nacheinander blätterte er sie durch. Seine blassblauen, blutunter-laufenen Augen erschienen durch die Brille vergrößert, seine dun-kel gelockten Haare hatten sich aus dem Band gelöst, mit dem ersie achtlos zurückgebunden hatte. Denn Mr James Thistlethwaitetrug weder Perücke noch Zopf.

»Aha!«, rief er schließlich und schwenkte ein Nachrichtenblattaus London. »Vor siebeneinhalb Monaten, meine Damen undHerren hier im Cooper’s Arms, fand eine Debatte im Oberhausstatt, bei der der große alte William Pitt eine Rede hielt, die alsseine bedeutendste gilt. Er verteidigte die Kolonisten, die er…, ja,hier steht’s, ›loyale und ehrbare Menschen‹ nannte. Aber es sind

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nicht seine Worte, die ich zitieren will.« Mr Thistlethwaiteschenkte Richard einen freundlichen Blick, der schützend dieArme um seinen Sohn gelegt hatte. Richard war immer noch überdie geladene Pistole empört. »Es sind die Worte des Herzogs vonRichmond, die mich begeistern. Ich zitiere: ›Sie können Tod undElend verbreiten, aber das hat mit Regieren nichts zu tun!‹ Wiewahr, wie grundwahr! Und jetzt kommt eine Stelle, die ich für einegroße philosophische Wahrheit halte, obwohl die Lords schnarch-ten, als der Herzog sie vortrug. ›Kein Volk kann dazu gezwungenwerden, sich einer Staatsform zu unterwerfen, die es nicht habenwill.‹«

Jem sah sich um und nickte. »Deshalb sage ich, dass alleSchlachten, die wir gewinnen, nichts nützen und am Ausgang desKrieges nichts ändern werden. Wenn die Kolonisten durchhalten,müssen sie gewinnen.« Er faltete das Blatt zusammen und schobes mit den anderen Papieren in die Manteltasche zurück. Zuletztstopfte er noch die Sattelpistole hinein. »Du hast zu viel mit Pis-tolen zu tun, Richard, das ist dein Problem. Das Kind war nicht inGefahr, und auch niemand sonst.« Ein Rülpser stieg in seinerKehle auf und entwich durch die geschürzten Lippen. »Ich habemein ganzes Leben in diesem stinkenden Loch namens Bristol ver-bracht und dabei wenigstens für etwas Unterhaltung gesorgt, in-dem ich einige der schlimmsten Torys der Regierung zum Gegen-stand meiner Satiren gemacht habe, egal ob Shaker, Quäker oderVerräter.« Er kicherte und kam auf ein anderes seiner Lieblings-themen zu sprechen. »Ja, die Scheinheiligkeit! Du schrecklich-schönes Ungeheuer Scheinheiligkeit, Muse der Nonkonformisten,von denen es in Bristol so viele gibt!«

»Jem«, sagte der Wirt freundlich, »hör auf. Es mag in Bristol ge-nauso viele Nonkonformisten wie Mitglieder der anglikanischenKirche geben, aber im Wirtshaus wirst du nur wenige finden, alsospar dir deine bissigen Bemerkungen.«

»Wie wahr, wie grundwahr.« Mr James Thistlethwaite schwenkteseinen ramponierten Dreispitz in die Richtung der Zuhörer undschloss die Augen. »Wenn die Kolonisten durchhalten, müssen siegewinnen«, wiederholte er. »Jeder, der hier in Bristol lebt, kennt tau-

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send Kolonisten – sie huschen durch die Stadt wie Fledermäuse imletzten Tageslicht. Das ist das Ende des Empires, Dick! Das erste Rö-cheln in unseren englischen Kehlen. Ich kenne die Kolonisten, undich sage: Sie werden gewinnen.«

Erregtes Stimmengewirr drang von draußen herein, und die ver-zerrten Schatten der Passanten vor den Fenstern begannen plötz-lich zu rennen.

»Aufrührer!« Richard sprang auf und drückte seiner Frau dasKind in die Arme. »Peg, geh mit William Henry nach oben! Mama,du begleitest sie.« Er sah Mr Thistlethwaite an. »Jem, willst dubeidhändig schießen oder kann ich die zweite Pistole haben?«

»Immer mit der Ruhe!« Dick kam hinter dem Schanktisch her-vor. Er hatte eine ähnliche Statur wie Richard – größer als die meis-ten und kräftig. »In diesem Teil der Broad Street gibt es keine Auf-rührer, selbst wenn die Bergleute aus Kingswood in die Stadtkämen und sich den alten Brickdale schnappten. Was immer dadraußen gerade vorgeht, es ist kein Aufruhr.« Er ging zur Tür.»Aber ich will nachsehen, was da im Gange ist.« Er trat hinaus.Die Gäste des Cooper’s Arms folgten ihm, darunter auch Richardund Jem Thistlethwaite, dessen Sattelpistolen noch in den Man-teltaschen steckten.

Menschen drängten sich auf der Straße und streckten neugierigdie Hälse aus den Fenstern der Häuser. Weder das Straßenpflasternoch die Platten des neu angelegten Bürgersteigs auf beiden Seitender Broad Street waren noch zu sehen. Die drei Männer ließen sichvon der Menge auf die Kreuzung von Wine und Corn Street zu-schieben. Nein, es handelte sich hier nicht um Aufrührer, sondernum vermögende und im Augenblick sehr zornige Gentlemen, dieohne Frauen und Kinder unterwegs waren.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Broad Street, in RichtungGeschäftszentrum und Börse, stand das White Lion Inn, dasHauptquartier der Steadfast Society. Die Steadfast Society war derClub der Torys, die Seiner Britannischen Majestät König Georg III.in blinder Treue folgten. Das Zentrum der Unruhe war das Ame-rikanische Kaffeehaus daneben. Über dem Eingang prangte einWirtshausschild mit der rotweiß gestreiften Flagge, die die meis-

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ten amerikanischen Kolonisten benutzten, wenn die Fahne einereinzelnen Kolonie wie etwa Connecticut oder Virginia unpassenderschien. Das Schild mit seinen satten Farben hing an einem eiser-nen, mit Schnörkeln und vergoldeten Blättern verzierten Pfosten.

Dick Morgan hatte sich auf die Zehen gestellt, doch vergeblich.»Ich glaube, vom ersten Stock des Cooper’s Arms sehen wir mehrals hier.«

Sie kehrten also zurück, stiegen die baufällige Treppe am ande-ren Ende des Schanktisches hinauf und traten an die Flügelfensterim ersten Stock, der gefährlich weit über die darunter gelegeneBroad Street hinausragte. Im Hinterzimmer derselben Etageweinte der kleine William Henry. Mutter und Großmutter beug-ten sich gurrend und gluckend über sein Bettchen. Der Tumultdraußen auf der Straße war ihnen gleichgültig, solange WilliamHenry so schrecklichen Kummer litt. Richard wollte sich denFrauen anschließen.

»Richard, dein Sohn stirbt nicht in den nächsten Minuten«, riefDick ihm hinterher. »Komm zurück und sieh dir das an, verdammtnoch mal!«

Widerwillig kehrte Richard zurück und lehnte sich aus dem of-fenen Fenster. Erstaunt hielt er den Atem an. »Yankees, Vater!Meine Güte, was machen sie mit den Dingern da?«

Bei den »Dingern« handelte es sich um zwei mit Stroh ausge-stopfte und mit Lumpen bekleidete Puppen, über und über mitnoch rauchendem Pech beschmiert, auf das man Federn gestreuthatte. Auf den Köpfen saßen die Erkennungszeichen der Kolonis-ten – ihre abgrundtief unmodischen, aber sehr praktischen Hüte.Die Hüte wurden in kleinen Manufakturen in den nahe gelegenenMendip Hills hergestellt und über Bristol in die Kolonien ver-schifft. Die Krempe war mit Nadeln aufgesteckt wie bei Dreispit-zen üblich, die Ränder waren mit Borten gesäumt, um zu verhin-dern, dass der Filz ausfranste. Und was tat ein Yankee, sobald ereinen neuen Hut gekauft hatte? Er zog die Hutnadeln heraus undbog die Krempe rundherum nach unten, sodass die niedrige, rundeKrone aussah wie das Eigelb eines Spiegeleis! Dann brachte erüblicherweise noch ein Hutband an und steckte eine Adlerfeder hi-

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nein. Manchmal steckte er die Krempe auch über einem Ohr hoch.Deshalb, so spotteten die Bristoler, musste ein hutloser Mann miteinem Sonnenbrand auf einem Ohr ein Yankee sein.

Der Gestank nach brennenden Lumpen und brennenden Federnzog durch die Straße und fügte dem Geruchscocktail von Bristoleine neue Komponente hinzu.

»Hallo!«, brüllte Jem Thistlethwaite. Er hatte ein stadtbekann-tes Gesicht erspäht, das zu einem stadtbekannten, teuer gekleide-ten Herrn gehörte, der auf einem mit großen Fässern beladenenPferdefuhrwerk stand. »Master Harford, was geht hier vor?«

»Die Steadfast Society will John Hancock und John Adamshängen!«, rief der reiche Quäker.

»Warum denn? Weil General Gage sich nach Concord geweigerthat, die beiden zu begnadigen?«

»Ich weiß es nicht, Master Thistlethwaite.« Offenbar erschrecktvon der Vorstellung, auch er könnte auf unschmeichelhafte Weisezum Gegenstand einer von Thistlethwaites Schmähschriften wer-den, stieg Joseph Harford von seinem Aussichtspunkt herunterund verschwand in der Menge.

»Heuchler!«, schimpfte Mr Thistlethwaite leise.»Samuel Adams, nicht John Adams«, sagte Richard, dessen

Interesse erwacht war. »Er meint doch sicher Samuel Adams?«»Wenn die Steadfast Society die reichsten Kaufleute Bostons

hängen will, dann ja, dann müsste es Samuel sein«, sagte Mr Thist-lethwaite. »Aber John ist der produktivere Schriftsteller und Red-ner.«

In einer Stadt am Meer stellte die Beschaffung zweier Stricke mitzwei sauber geknüpften Schlingen keine Schwierigkeit dar. Zweisolche Stricke tauchten wie durch Zauberei auf, und die stoppeli-gen, mannsgroßen Puppen wurden am Hals zum Schild des Ame-rikanischen Kaffeehauses hochgezogen. Dort drehten sie sich rau-chend um die eigene Achse. Der Rachedurst der Menge warbefriedigt, und die Mitglieder der Steadfast Society verschwandenhinter den einladend toryblauen Türen des White Lion Inn.

»Pack!«, sagte Mr Thistlethwaite und stieg die Treppe hinunter,einen gut gefüllten Becher mit Rum vor Augen.

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»Du gehst jetzt, Jem!«, befahl der Wirt und schob ihn hinaus.Dann verriegelte er die Tür, um abzuwarten, bis sich draußen allesberuhigt hatte.

Richard war seinem Vater nicht nach unten gefolgt, wie es seinePflicht gewesen wäre. Schließlich stand sein Name jetzt neben demvon Dick im Handelsregister der Stadt. Richard Morgan, Gastwirtmit Schankkonzession, war nach Entrichtung einer Gebühr als»freier Mann« eingetragen worden, als wahlberechtigter Bürgereiner Stadt, die sich selbst verwaltete, der zweitgrößten Stadt vonEngland, Wales, Schottland und Irland. Nur 7000 der 50 000 See-len, die hier auf engstem Raum lebten, waren wahlberechtigte freieMänner.

»Wirkt die Impfung schon?«, fragte Richard seine Frau undbeugte sich über das Kinderbettchen. William Henry war still ge-worden und in einen unruhigen Schlummer verfallen.

»Ja, Liebling.« Pegs sanfte braune Augen füllten sich plötzlichmit Tränen, und ihre Lippen zitterten. »Jetzt ist es Zeit zu beten,dass die Pocken nicht in voller Stärke bei ihm ausbrechen,Richard. Obwohl er nicht so fiebert wie Mary damals.« Sie schobRichard sanft zur Tür. »Mach einen langen Spaziergang. Geh spa-zieren und bete. Bitte, Richard, geh! Wenn du hier bleibst,schimpft Vater nur.«

Eine seltsame Starre hatte sich über die Broad Street gelegt, dasErgebnis der Panik, die sich in wenigen Minuten über die ganzeStadt auszubreiten schien, wann immer Unruhen drohten. Vordem Amerikanischen Kaffeehaus blieb Richard einen Augenblickstehen, um die an der Stange baumelnden Puppen von John Han-cock und John oder Samuel Adams zu betrachten. Aus dem Spei-sesaal des White Lion drang in Schüben lautes Gelächter und Ge-schrei. Dort zechten die Mitglieder der Steadfast Society. Richardverzog verächtlich die Mundwinkel. Die Morgans waren stand-hafte Whigs. Sie hatten mit ihren Stimmen bei der Wahl im ver-gangenen Jahr zum Erfolg von Edmund Burke und Henry Crugerbeigetragen – was für ein Zirkus das gewesen war! Und wie belei-digt Lord Clare gewesen war, als er kaum eine Stimme bekommenhatte!

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Richard beschleunigte seine Schritte. Er ging die Corn Streetentlang, vorbei an John Weeks legendärem Bush Inn, dem Haupt-quartier der Whigs. Dann bog er nach Norden ab, in die SmallStreet. Auf der Höhe der steinernen Brücke kam er auf die Straßeam Hafen. Von hier bot sich ein spektakulärer Blick nach Süden.Schiff lag an Schiff, wie eine breite Straße voller Schiffe, ein Meervon Masten, Rahen, Stagen und Wanten über breiten, eichenenBäuchen. Vom Froom, dem Fluss, in dem die Schiffe ankerten, warnichts zu sehen. Zwanzig Wochen lagen die Schiffe hier zwischenAnkunft und Abfahrt. Niemand hatte es eilig in Bristol, nicht ein-mal ein Handelskapitän. Die Fracht wurde quälend langsam ge-löscht, die neue Ladung im selben Schneckentempo an Bord ge-bracht.

Die Ebbe hatte den Tiefststand erreicht, und das Wasser lief mitverblüffender Geschwindigkeit wieder auf. Der Wasserspiegel imFroom wie auch im Avon stieg in etwa sechseinhalb Stunden umdreißig Fuß. Bei Ebbe lagen die Schiffe im Schlamm auf der Seite.So mancher Kiel hatte sich vom vielen Auf-der-Seite-Liegen imSchlamm von Bristol schon verzogen. Zuweilen sprachen Rat undKaufleute der Stadt davon, den Dreißig-Fuß-Tidenhub durch bau-liche Maßnahmen zu mildern, die gleichzeitig großen Schiffen freieFahrt den Avon hinauf bis zu den Hafenanlagen hinter dem Anle-ger von Bristol ermöglichen sollten. Baupläne wurden angefertigt,doch dann schreckten die Behörden aus Kostengründen davor zu-rück, und es wurde wieder still um die Pläne, während Liverpool,ideal am Mersey gelegen, beständig an Bristols Seehandel knab-berte. Und der gesamte Handel der Stadt wurde per Schiff abge-wickelt, denn auf Grund des bergigen Umlands und der entsetzlichschlechten Straßen mussten alle Güter die Stadt auf dem Seewegverlassen – Schnupftabak, Gebrauchsgegenstände aus Messingund Kupfer, Kalk, Porzellan, Glas, Stoffe, raffinierter Zucker,Rum, Seife und vieles mehr.

Den Bürgern von Bristol bereitete all dies erhebliches Kopfzer-brechen. Auch in Richard kamen beim Anblick der vielen Schiffeinstinktiv alte Sorgen hoch, doch wandte er sich in Gedanken baldwieder den Problemen zu, die ihn vordringlich beschäftigten.

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Herr im Himmel, erhöre mein Gebet! Behüte meinen Sohn. Nimmihn nicht von uns…

Richard Morgan war nicht der einzige Sohn seines Vaters. Er hatteeinen jüngeren Bruder, William, Betreiber eines Sägewerks drun-ten am St.-Philips-Ufer des Avon, und drei Schwestern, die alle einegute Partie gemacht hatten und mit angesehenen Bürgern verhei-ratet waren. Morgans gab es in verschiedenen Stadtteilen, aber dieMorgans von Richards Familie, ursprünglich vielleicht Einwande-rer aus Wales, waren inzwischen so lange in der Stadt ansässig,dass sie eine gewisse gesellschaftliche Bedeutung erlangt hatten.Wichtige Mitglieder der Sippe wie Vetter James, der Apotheker,standen großen Unternehmen vor, gehörten bedeutenden Han-delsgesellschaften an oder saßen in der Stadtverwaltung. Sie spen-deten erhebliche Summen an die Armenhäuser und hofften, einesTages Bürgermeister zu werden.

Richards Vater gehörte nicht zu den bedeutenden Familienmit-gliedern, er machte der Familie aber auch keine Schande. Nacheiner einfachen Schulbildung hatte er eine Lehrzeit als Gastwirtabsolviert. Dann, nach Abschluss seiner Ausbildung und als freierMann, der seine Gebühr bezahlt hatte, hatte er nur noch ein Zielvor Augen: ein eigenes Wirtshaus. Eine standesgemäße Heiratwurde arrangiert. Margaret Biggs kam aus einer Familie braverBauern und konnte sogar lesen, allerdings nicht schreiben. DieKinder kamen in kurzen Abständen, was darüber hinweghalf, dassnicht alle überlebten. Das erste Kind war ein Mädchen, zuletztwaren es zwei Söhne und drei Töchter, gesunde Kinder und nichtso viele, dass das Essen nicht für alle gereicht hätte. Zumindest einSohn sollte lesen und schreiben können. Als klar wurde, dass Wil-liam, zwei Jahre jünger als sein Bruder, kein guter Schüler war,konzentrierte Dick seine Hoffnungen auf Richard.

Im Alter von sieben Jahren wurde Richard in Colstons Kna-benschule gegeben. Er trug jetzt den berühmten blauen Mantel,der allen Bristolern anzeigte, dass sein Vater arm, aber rechtschaf-fen war und ein treuer Anhänger der anglikanischen Kirche. ImLauf der nächsten fünf Jahre bekam er Lesen, Schreiben und Rech-

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nen eingebläut. Er erlernte eine saubere Handschrift und dasKopfrechnen und arbeitete sich durch Cäsars Gallischen Krieg,Ciceros Reden und Ovids Metamorphosen, angetrieben durch denpfeifenden Rohrstock und den beißenden Spott des Lehrers. Ri-chard war ein guter, wenn auch kein glänzender Schüler und oben-drein von ruhigem, einnehmendem Wesen, deshalb überstand erdie philantropische Einrichtung des verstorbenen Mr Colston un-beschadeter als manch anderer und mit mehr Gewinn.

Mit zwölf Jahren war es Zeit, die Schule zu verlassen und einGewerbe oder Handwerk zu wählen, das seiner Schulbildung ent-sprach. Sehr zur Überraschung der Verwandtschaft schlugRichard einen Weg ein, den bisher noch kein Morgan gegangenwar. Er hatte eine besondere Begabung für mechanische Dinge, fürdas Zusammensetzen der Teile eines Puzzles. Damit einher gingeine für einen so jungen Menschen bemerkenswerte Geduld. Aufeigenen Wunsch wurde er Lehrling bei Senhor Tomas Habitas,dem Büchsenmacher.

Sein Vater war darüber insgeheim erfreut. Ihm gefiel die Vor-stellung eines Morgan, der einmal kein Kaufmann oder Gastwirtwar, sondern Handwerker. Außerdem gehörte der Krieg zumLeben, und Gewehre gehörten zum Krieg. Wer Gewehre herstellenund reparieren konnte, war weniger gefährdet, Kanonenfutter aufdem Schlachtfeld zu werden.

Sieben Jahre dauerte die Lehrzeit. Richard fand Gefallen an derArbeit, auch wenn er mit einigen Entbehrungen vorlieb nehmenmusste. Er wohnte wie alle Lehrlinge im Haus des Meisters, be-diente diesen bei Tisch, ernährte sich von den Essensresten undschlief auf dem Fußboden. Glücklicherweise war Senhor TomasHabitas ein verständnisvoller Lehrherr und ein hervorragenderBüchsenmacher. Er verstand prachtvolle Duellpistolen und Jagd-gewehre herzustellen, hatte sich aber auf die Herstellung der Mi-litärmuskete spezialisiert, von Infanteristen und Seesoldaten liebe-voll »Brown Bess« genannt, weil sie über ihre ganze Länge von46 Zoll so braun wie eine Nuss war – das Holz des Schaftes ebensowie der stählerne Lauf.

Mit neunzehn, nach Abschluss der Lehre, zog Richard aus dem

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Habitas-Haushalt aus, nicht aber aus der Habitas-Werkstatt. Erbaute dort weiter die Brown Bess. Und er tat etwas, was er alsLehrling noch nicht hatte tun dürfen, er heiratete. Seine Frau wardie Tochter des Bruders seiner Mutter, also eine Base ersten Gra-des. Die anglikanische Kirche hatte dagegen nichts einzuwenden,und so ehelichte er seine Braut in der St.- James-Kirche, an der seinVetter James Pfarrer war. Obwohl arrangiert, war es eine Liebes-heirat, und die Liebe des Paares wuchs im Lauf der Jahre noch.Nur um die Namen gab es einige Verwirrung, denn Richard Mor-gan, der Sohn des Richard Morgan und der Margaret Biggs, hatteseinerseits eine Margaret Biggs zur Frau genommen.

Solange das Geschäft der Habitas-Büchsenmacherei blühte,hatte das keine Rolle gespielt, denn das junge Paar lebte in einerZweizimmermietwohnung in der Temple Street am anderen Uferdes Avon, gleich um die Ecke der Habitas-Werkstatt und der Syn-agoge.

Die Hochzeit hatte im Jahr 1767 stattgefunden, drei Jahre nach-dem der Siebenjährige Krieg gegen Frankreich mit einem unpopu-lären Frieden zu Ende gegangen war. Trotz des Sieges hoch ver-schuldet, musste England durch zusätzliche Steuern für neueEinnahmen sorgen und die Ausgaben für Heer und Marine durchmassive Einsparungen senken. Gewehre wurden nicht mehr benö-tigt. Senhor Habitas musste seine Handwerker und Lehrlingenacheinander entlassen, bis der Betrieb nur noch aus ihm undRichard bestand. Zuletzt, kurz nach der Geburt der kleinen Maryim Jahr 1770, musste Habitas gegen seinen Willen auch Richardentlassen.

»Arbeite doch für mich«, hatte Dick Morgan seinem Sohn an-geboten. »Gewehre mögen kommen und gehen, aber der Rum istabsolut unvergänglich.«

Also hatte Richard angefangen, bei seinem Vater im Cooper’sArms zu arbeiten.

Es stellte sich heraus, dass Peg, die liebenswerte, anschmiegsamePeg, nicht leicht empfing. Mary, ihr erstes Kind, kam fast dreiJahre nach der Hochzeit. Am guten Willen fehlte es nicht. Natür-

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lich hatten beide Eltern einen Sohn erhofft und waren zunächstenttäuscht, dass sie jetzt einen Mädchennamen suchen mussten.Richard fand Gefallen an Mary, einem in der Familie unüblichenNamen, dem, wie sein Vater erklärte, ein papistischer Makel an-haftete. Trotzdem. In dem Augenblick, in dem Richard seine neu-geborene Tochter auf den Arm nahm und scheu auf sie nieder-blickte, entdeckte er in sich eine Liebe, die ihn selbst überraschte.Vielleicht weil er so geduldig war, hatte er Kinder immer gemochtund war gut mit ihnen zurechtgekommen, doch hatte ihn das nichtauf das vorbereitet, was er beim Anblick der kleinen Mary emp-fand. Sie war Blut von seinem Blut, Fleisch von seinem Fleisch.

Und jetzt, da er ein Kind hatte, gefiel Richard sein neuer Berufals Wirt viel besser als die Büchsenmacherei. Ein Wirtshaus warein Familienbetrieb. Richard konnte ständig in der Nähe seinerTochter sein, sie mit ihrer Mutter zusammen sehen und das Wun-der erleben, wie Pegs schöne Brust als Kissen für den Kopf desBabys diente, während der kleine Mund Milch saugte. Milch hattePeg überreichlich. Sie fürchtete den Tag, an dem Mary abgestilltund langsam an Dünnbier gewöhnt werden sollte. Wasser durftendie Kinder in Bristol nicht trinken, genauso wenig wie die Kinderin London. Dünnbier wiederum enthielt zwar nicht viel Alkohol,aber etwas doch. Kinder, die es zu früh bekamen, wurden nachMeinung der Bauerntochter Peg später unweigerlich Trinker. Magpflichtete ihr darin bei. Auch Dick Morgan, der sonst nicht viel aufdie Meinung von Frauen gab, stimmte ihr von Herzen zu. Er warseit vierzig Jahren Gastwirt. Die kleine Mary wurde deshalb erstmit über zwei Jahren abgestillt.

Die Morgans bewirtschafteten damals noch die Bell, Dicks ers-tes eigenes Wirtshaus. Es stand in der Bell Lane und war Teil einesverschlungenen Komplexes von Mietshäusern, Lagergebäudenund unterirdischen Geschäftsräumen im Besitz von Vetter James,dem Apotheker. Vetter James teilte die südliche Hälfte der engenGasse mit dem ähnlich ausladenden Komplex der amerikanischenWollehändler Lewsley & Co. Vetter James betrieb in der CornStreet ein vorzügliches Einzelhandelsgeschäft für den lokalen Be-darf. Das meiste Geld verdiente er jedoch mit der Herstellung und

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Colleen McCullough

Insel der VerlorenenAustralien-Saga

Taschenbuch, Broschur, 672 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-36190-8

Blanvalet

Erscheinungstermin: April 2005

England, Ende des 18. Jahrhunderts: Richard Morgan ist ein angesehener Bürger der StadtBristol, ein liebevoller Ehemann und Vater. Doch als er seine Frau und seinen kleinen Sohnverliert, gerät sein Leben aus den Fugen. Unschuldig verurteilt, wird er in jenes unbekannteLand deportiert, von dessen Existenz damals kaum jemand gehört hatte: Terra Australis. Nur mitunerschütterlichem Überlebenswillen, mit viel Mut, Verstand und Hoffnung überlebt Richard indieser menschenfeindlichen Umgebung – und findet sogar eine neue Heimat am anderen Endeder Welt...