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230 PETER STOTZ STIENE, Heinz Erich . Wandalbert von Prüm. Vita et Miracula sancti Goaris. (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelal- tes 11 = Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 : Deutsch e Sprache und Literatur 399) . Frankfurt am Main/Bem : Lang, 1981 . LXI, 330 S. Hauptaufgabe und -inhalt dieser Arbeit, einer Kölner Dissertation , ist die Edition der Lebensbeschreibung des heiligen Goar, an die ei n Wunderbericht anschliesst . Wandalbert, Mönch des Klosters Prüm i n der Eifel (813 bis vielleicht um 870), den wir vor allem als begabten , formgewandten Dichter kennen, hat dieses hagiographische Prosawer k im Auftrage seines Abtes Markward etwa 839 abgefasst . Was di e eigentliche Vita betrifft, hat er eine ältere anonyme Fassung (VIT A Goar ., MG Mer 4, S . 403-423) überarbeitet . Erstmals schriftlich nie- dergelegt hat er die Berichte über die Wunder, die sich am Grabe de s Heiligen (St. Goar, am linken Ufer des Rheins, halbwegs zwische n Bingen und Koblenz) ereignet hatten . Die Miracula vermitteln hübsche Einblicke in das Alltagsleben zur Karolingerzeit ; so ist etwa von Kaufleuten und von Töpfern die Rede, die den Rhein hinauf- und hinunterfahren . Wohl deshalb sind sie im Rahmen der Monu- menta Germaniae historica (MG SS 15, 1, S . 361-373) kritisch edier t worden, während die eigentliche Vita bisher nach der Ausgabe vo n Mabillon (Acta sanctorum OSB, Saec. 2, Paris 1669, S . 281-299 ; Nachdruck : PL 121, Sp . 639-674) zu benützen war .

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STIENE, Heinz Erich. Wandalbert von Prüm. Vita et Miracula sancti

Goaris. (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelal-tes 11 = Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 : Deutsch eSprache und Literatur 399) . Frankfurt am Main/Bem : Lang, 1981 .LXI, 330 S.

Hauptaufgabe und -inhalt dieser Arbeit, einer Kölner Dissertation,ist die Edition der Lebensbeschreibung des heiligen Goar, an die ei nWunderbericht anschliesst. Wandalbert, Mönch des Klosters Prüm i nder Eifel (813 bis vielleicht um 870), den wir vor allem als begabten ,formgewandten Dichter kennen, hat dieses hagiographische Prosawer kim Auftrage seines Abtes Markward etwa 839 abgefasst. Was di eeigentliche Vita betrifft, hat er eine ältere anonyme Fassung (VIT A

Goar ., MG Mer 4, S . 403-423) überarbeitet . Erstmals schriftlich nie-dergelegt hat er die Berichte über die Wunder, die sich am Grabe de sHeiligen (St. Goar, am linken Ufer des Rheins, halbwegs zwischenBingen und Koblenz) ereignet hatten. Die Miracula vermittelnhübsche Einblicke in das Alltagsleben zur Karolingerzeit ; so ist etwavon Kaufleuten und von Töpfern die Rede, die den Rhein hinauf-und hinunterfahren. Wohl deshalb sind sie im Rahmen der Monu-menta Germaniae historica (MG SS 15, 1, S . 361-373) kritisch edier tworden, während die eigentliche Vita bisher nach der Ausgabe vo nMabillon (Acta sanctorum OSB, Saec. 2, Paris 1669, S . 281-299 ;Nachdruck : PL 121, Sp . 639-674) zu benützen war .

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St. legt für beide Texte eine gründliche. kritische Edition vor, di eauf 12 Handschriften nebst einer Inkunabel beruht . In seiner ausführ-lichen Einleitung liefert er Beschreibungen der einzelnen Textzeuge nund geht den Verwandtschaftsverhältnissen nach . Es gelingt ihm, ein-zelne Hyparchetypen zu ermitteln, doch bei andern Handschrifte nlässt sich die Stellung in der Überlieferung nur schwer bestimmen ,und so widersteht er der Versuchung, die Gesamtheit der Überliefe-rungsträger in ein Stemma zu zwingen. Es wird ein durchweg befriedi-gender, verständig interpungierter Text geboten . Der Kritische Appa-rat ist nicht zu knapp bemessen : Auch der eher sprachlich als textkri-tisch Interessierte kommt auf seine Kosten, da über die zahlreiche nungewohnten Lautungen bzw . Graphien Auskunft gegeben wird (z .B .maice für magicae, S . 22, B. 17 ; spalmodia, S . 53, 1 ; nanscisci, S . 86,7 usw .) .

Mit der Vita selber wird das Bild eines aus der Fremde (Aquita-nien) gekommenen liebenswürdigen Einsiedlers gezeichnet, der Pilge rund Arme nicht nur geistlich erbaut, sondern auch mit ihnen speist .Die Ausübung solcher mitmenschlicher caritas steht ihm über denrigorosen Fastengeboten strengen Mönchtums (S . 21, 8-10) . Mit Wun-dertaten produziert er sich nicht ; sie , unterlaufen' ihm recht eigent-lich (S . 21, 1lff.), mitunter werden sie ihm förmlich aufgezwunge n(S . 24, 13ff.) . Bemerkenswert ist, dass der bescheidene Klausner de mübelwollenden, in Sünden lebenden Bischof von Trier etwa so gegen -übertritt wie der christliche Märtyrer früherer Tage seinem heidni-schen Richter . Auch nachdem seine geistige Macht offenbar geworde nund die Kunde davon bis an den Königshof gedrungen ist, setzt e rsein Leben in der Stille fort ; auf langjährigem Krankenlager widmeter sich dem Gebet.

Im zweiten Teil reihen sich Wundererzählungen zu einer bunte nKette ; Wandalbert selber erklärt das betriebsame Wundergeschehe nam Grab des Heiligen als Ausgleich für Goars grossenteils verborgen eHeiligkeit zu Lebzeiten (S . 77, 7ff.). Was den Schriftsteller Wandalbertselber betrifft, so fällt auf, wie sorgsam er die einzelnen Berichtedurch den Hinweis auf Zeugen zu beglaubigen sucht, und wie sehr esihm um eine sinnvolle Anordnung der einzelnen Erzählungen zu tun ist .

In den Anmerkungen bietet St. einen schätzenswerten Sachkom-mentar, namentlich auch durch bibliographische Hinweise zu Motiv-parall Inn in der übrigen hagiographischen Literatur . Hierzu ver-gleiche man auch seinen inzwischen erschienenen Aufsatz : Gregorsdes Grossen , Dialogi ` und die , Vita Goaris ` Wandalberts von Prü m(Mittellateinisches Jahrbuch 18, 1983, S . 51-62) . Im Anschluss an di eEdition arbeitet er einzelne Züge von Wandalberts sachlicher undsprachlich-stilistischer Umformung der Vorlage heraus .

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Doch nicht genug damit : St . nimmt die Editionsaufgabe, die sic hihm gestellt hat, zum Anlass, die Latinität Wandalberts insgesam trecht eingehend zu untersuchen, also auch die Sprache seiner Dich-tungen (, Martyrologium `, , De mensibus' nebst den kleineren Stük-ken (ediert in MG Poetae 2, S. 567-622) . Er versteht diesen zweitenTeil seiner Arbeit als „ bescheidenen Beitrag zu einer noch zu schrei-benden Mittellateinischen Grammatik " (S . 146) .

Das Material ist nicht nach den loci classici der Grammatik geglie-dert, sondern nach Wortarten . So werden etwa im Abschnitt über da sVerbum (S . 146-173) Besonderheiten der Graphie und der Phonologie ,der Morphologie, der Syntax und der Lexikologie behandelt . Ober-haupt geht es St . weniger um eine vom grösseren Ganzen her systema-tisch gegliederte Abhandlung — eine solche hätte sich bei dem ver-hältnismässig schlanken Textcorpus auch nicht empfohlen —, sonder num die kasuistische Behandlung von Einzelerscheinungen . Daherwählt er im Innern der Sachgruppen auch die alphabetische Anord-nung : er bietet sozusagen einen reich kommentierten Index auffälli-gen Wortgebrauchs .

St . geht überaus gründlich zu Werke . Er sucht die Erscheinunge nentwicklungsgeschichtlich zu deuten und arbeitet jedesmal ihr eBehandlung in der umfangreichen Literatur zur spätantiken Latinitä tbibliographisch präzise auf. Ungezählte Einzeluntersuchungen, di eman nur selten zur Hand nimmt, sind hier ausgewertet für alles, wasbei Wandalbert an Auffälligem erscheint . Der Bearbeiter lässt sichimmer wieder auf Phraseologisches ein. Die Bedeutung des Cursus fürdie Wortwahl stellt er gebührend in Rechnung . Ab und zu tritt er vonder onomasiologischen Seite an Wandalberts Sprache heran (etwaS . 197f. : Synonymik betreffend , Stadt') . Mitunter widmet er sich derausführlichen Erörterung eines Wortes, die etwa im Falle von praeri-plum (S . 211-214) auch textkritische Implikationen hat . Auch wasspeziell der Dichtung zugehört, wird behandelt, so die spätantik-mit-telalterlichen Besonderheiten der Prosodie mancher Wörter. Mitunterschlägt er Besserungen des Textes vor, so etwa bei Mart. 494f. : excel-let, ab ipsis quern (S. 237) . Wertvoll sind Beobachtungen zum Unter-schied zwischen Dichtung und Prosa beim nämlichen Schriftsteller. Sokommt de mit Ablativ in der Funktion des Instrumentalis nur i nseiner Dichtung vor, dort aber gehäuft (S . 242f.) . Umgekehrt begegne tpartitives ex nur in Prosa (S . 244) ; ebenso ist der Gebrauch von apudund propter der Prosa vorbehalten (S . 250, 252) .

Das grösste Interesse des kompetenten und belesenen Bearbeitersgilt der Spätantike ; sehr nuancenreich stellt er hier einzelne Verschie-bungen dar . Dies ist verdienstvoll, gilt doch immer noch Karl Strek-kers Wort, dass „ man vor allem Spätlatein studieren muss, wenn man

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Mittellatein lernen will" . Doch hier eine Anregung zum Sprach -gebrauch : Die deutsche Terminologie ist unbefriedigend ; das weis sjeder, der schon einmal einem unverbildeten Menschen begreiflich z umachen versucht hat, dass , Spätlatein ` vor ,Mittellatein' kommt.Aber wenn auch , Spätlatein' zum unverrückbaren Sprachgebrauchgeworden ist, klingt es für mich unnatürlich, wenn — darüber hinaus ,in freien Formulierungen — Erscheinungen, die etliche Jahrhundert evor unserem (immer noch frühmittelalterlichen) Autor in Übunggekommen sind, als „ sehr spät” (u.ä.) bezeichnet werden (etw aS. 201, 205, 215, 228) . Hier sollte vielleicht auch der Klassische Philo-loge den zeitlichen Horizont des jeweiligen Gegenstandes zur Mitt enehmen . Für den Mediävisten sind nicht Martianus Capella oderCassiodor späte lateinische Schriftsteller, sondern etwa Jacob Bald eoder Spinoza. — Es gibt sehr viel mehr, als irgend jemand von unsüberblickt. So hat es denn vorderhand auch wenig Sinn zu sagen ,etwa, dass es für calcatrix „ in der gesamten lateinischen Literaturkeine weiteren Belege” (als die auf S . I91 genannten zwei) zu gebenscheine : Zu viel Textgut entzieht sich noch dem Zugriff der Lexiko-graphen — und erst recht : dem der Wörterbuchbenützer ! Daherscheint mir auch der Gebrauch des Terminus lina ? cyóµsvov (S . 200 )bei dem derzeitigen Erschliessungsgrad der mittelalterlichn Latinitä twenig sinnvoll .

In kurzer Form seien einige Einzelheiten bemerkt : Wenn „ ganzspäte Autoren” (5 ./6. Jahrh .) inflexus im Sinne von , ungebeugt `verwenden, erklärt man dies besser nicht als Abweichung von de rklassischen Bedeutung eines einzigen Wortes (S . 228), sondern al shomonyme Neubildung : Neben das Partizip Perf. Pass . eines Präverb-kompositums mit in- tritt recht häufig ein Kompositum mit in- privati-vum zum Partizip Perf. Pass . des Simplex (oder umgekehrt) . Vgl . etwainaratus, inauditus, inauratus, incitus, inclinis, incoctus, incretus, incusususw. — Ob in der Verbindung si quando . . . id contigisset (S . 24, 4) dieKonjunktion si (für sich) „ in zweifelsfrei temporaler Bedeutung "(S. 270) steht ? Steckt der temporale Gehalt nicht mehr in dem indefi-niten Pronominaladverb quando ? — Ebenfalls nur um die Einschät-zung einer Nuance geht es bei temporalem sub (S . 263) : Freilichenthalten Ausdrücke wie sub Asuero abbate (S . 47, 10) eine Zeitan-gabe, aber zugleich ist der Aspekt der Unterordnung mit gegeben .Von Fällen wie sub eodem tempore (S . 68, 3) oder . sub uno die (S . 83 ,3) scheinen sie sich mir merklich abzuheben . — Nach Massgabe derim Ganzen reichlich und mit Umsicht gegebenen Erläuterungen ver -misst man diese ab und zu bei einem Wort : Von dem Ausdruck fisc iregii procurator etwa (S . 61, 3) wird zwar procurator (S . 190) gebucht,aber über die mittelalterliche Bedeutung von fiscus als , königlicher

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Hof' verlautet nichts. — Das geläufige adimplere (eher : , Doppelkom-positum ` als , Dekompositum ` [= Ableitung von einem Kompositum} )ist besprochen (S . 149), dagegen ist das weit seltenere superex(s)tare(S . 67, 17) , herausragen (über) ` übergangen . — An der Stelle desSacramentarium Gelasianum, auf welche S . 210 Bezug genommen ist ,steht te perduci, doch muss in der Tat te praeduce verstanden werden.Dies ist aus der (vielleicht ihres Haupttitels wegen zu wenig bekann-ten) kritischen Ausgabe von Leo C . Mohlberg (et al .) zu ersehen(Liber sacramentorum Romanae aecclesiae. . ., in : Rerum ecclesiastica-rum documenta, Series maior : Fontes 4, Roma 1960, Nr. 1314, Appa-rat) . — Zu pertrectare als , bestreichen ` (S . 167) sei hier die unterblie-bene Stellenangabe' nachgetragen : S . 19, 10 .

Den Schluss dieser sehr schätzenswerten Arbeit — die weit meh renthält, als ihr Titel verspricht — bildet die Edition eines hoch- ode rspätmittelalterlichen Reimoffiziums auf Goar, das in der Editio prin-

ceps (vom Jahre 1489) der Goarsvita beigegeben ist (Incipit : Cleru scum pueris studeant in honore Goaris).

Zürich

Peter STOTZ .