Cornelius Monte: Rheinorangen

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Der Roman Rheinorangen von Cornelius Monte ist der fiktive Reisebericht einer spannenden Schiffsreise auf einem Schubboot von Duisburg Ruhrort zum Hafen von Rotterdam. Der Ich-Erzähler heuert als Matrose an Bord eines Schubschiffes mit 16.000 Tonnen Ladung an und begibt sich auf eine spirituelle Odyssee entlang des Niederrheins und dem Rheindelta in den Niederlanden. Er befindet sich auf der Suche nach seiner verschollenen Liebe, einer D-Jane, deren letzter bekannter Aufenthaltsort ein Technoclub in Rotterdam ist. Im Moloch der Maas-Metropole gerät Monte immer tiefer in den Strudel des subkulturellen Undergrounds, die Suche gerät zusehend zu einem Trip zwischen Kulturschock und Selbsterfahrung – ein Roadmovie auf dem Rhein.

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1 18.04.2013 edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 Düsseldorf; Tel.: 0211/5595090 ; www.edition-oberkassel.de

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Inhalt Der Roman Rheinorangen von Cornelius Monte ist der fiktive Reisebericht einer spannenden

Schiffsreise auf einem Schubboot von Duisburg Ruhrort zum Hafen von Rotterdam. Der Ich-Erzähler

heuert als Matrose an Bord eines Schubschiffes mit 16.000 Tonnen Ladung an und begibt sich auf

eine spirituelle Odyssee entlang des Niederrheins und dem Rheindelta in den Niederlanden. Er

befindet sich auf der Suche nach seiner verschollenen Liebe, einer D-Jane, deren letzter bekannter

Aufenthaltsort ein Technoclub in Rotterdam ist. Im Moloch der Maas-Metropole gerät Monte immer

tiefer in den Strudel des subkulturellen Undergrounds, die Suche gerät zusehend zu einem Trip

zwischen Kulturschock und Selbsterfahrung – ein Roadmovie auf dem Rhein.

Cornelius Monte wurde 1970 in Rheinhausen geboren. Er machte 1990 das Abitur am Krupp-Gymnasium

Rheinhausen-Bergheim. Nach dem Zivildienst heuerte er bei einer Ruhrorter Reederei für die

Route Basel – Rotterdam an. Seit der Schulzeit war er als Sänger und Textdichter in

verschiedenen lokalen Bands im Reggae-, Punk- und Elektro-Bereich aktiv. Während des

Studiums der Geisteswissenschaften an der Gerhard-Mercator Universität jobbte er u. a. als

Türsteher, Lagerarbeiter und Zeitungsbote und betrieb zusammen mit anderen Musikern ein

Tonstudio und das Independent Label „City Musik“. Im Jahr 2004 erhielt er einen Gold-

sowie einen Platinaward der deutschen Musikindustrie für den Liedtext zum Nr.1 Hit „Augen

auf!“. Der Roman Rheinorangen ist sein literarisches Debüt.

(D) 11,99 € (A) 12,40 € (CH) SFr. 17,90

ISBN: 9783943121193

Ausstattung: Paperback, 300 Seiten, 12 x 19 cm

Erscheinung: 09.2013

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Leseprobe (unlektoriert) Es ist wie eine Amnesie, als ich das Blatt entfalte. Das Papier ganz weiß vor den Augen, gegen das

Licht. Die Hieroglyphen der Schrift schimmern gräulich-schwarz hindurch, spiegelverkehrt. Dennoch

weiß ich, was darauf steht, brauche keinen Rosettastein. Ich spare mir das Weiterlesen. Ein

allgemeiner Kontrollverlust erfasst mich, Gedankenketten, lose geschmiedet, verlieren ihre

Bindungen, lösen sich aus den Ösen. Hier gibt es nur noch reflektorische Reaktionen, keine Hoffnung

mehr auf Rettung. Du bist verschwunden.

Das sind meine Hände, blau geädert. Wenn ich sie umdrehe, zeigen sich Mäander. Das ist die

Lebenslinie, sie windet sich durch ein Delta von Schwielen und Hornhaut, verschwindet schließlich in

dem immer feiner werdenden Geäst zwischen Ring- und Zeigefinger. Mangroven meiner Existenz.

Der Umriss des Ringes zeichnet sich noch immer hell gegen den Rest der Haut ab. Ein Schatten der

Vergangenheit. Wer war ich, als du mir den Ring gabst? Darunter im Schachbrettmuster der

Epidermis ein dreigeteilter Kanal, gemauert aus Haut. Das Ende dieser Linie zeigt das Lebensalter an,

den Zeitpunkt des Verschwindens, den Exitus. An der Kaimauer fährt die Sinti mit dem lackierten

Nagel ihres Mittelfingers dieselbe Linie ab, hält die Hand mit ihrer eigenen und prophezeit mir in

unbekannter Sprache, durch den Mund ein- und ausatmend. Gegen den steif von West wehenden

Wind weissagt sie mir das Gestern und Morgen, Heute auch. Die Böen bewegen die Borten ihres

Kopftuches, blähen ihren auberginefarbenen Rock, wie die Segel eines Schiffes. Ihre korallenroten,

spröden Lippen formen Vokale: u, e, o und a. Die Worte verhallen an der Luft, die Konsonanten

dazwischen werden zerrissen wie Kondensstreifen hinter Düsenjets, langgezogen und unverstanden,

enigmatisch. Ich zahle und sehe den Geldschein knitternd in ihrer Hand verschwinden. Dabei heben

ihre Augen sich, zeigen die Iris einer Isis. Inmitten der smaragdgrünen Regenbogenhaut, blitzt das

glänzende Schwarz ihrer geweiteten Pupille. Die Größe ihrer Augen wird optisch verstärkt durch

einen einzigen, scharf gezogenen Lidstrich aus Kajal. Ihre Augendeckel sind mit lilafarbenen

Lidschatten bedeckt. Es schimmert violett, sobald die Wimpern das untere geschminkte Lid um-

schließen, wie gewundene Torbögen, ein Wassergraben vor den Zugbrücken der Augen. Ich hätte

gerne prüfend einmal in ihre sonnengebräunte Hand geschaut, für die Gegenprobe, den Beweis,

quod erat demonstrandum . Übereinandergelegt hätten unsere unterschiedlich großen Handflächen

tatsächlich wie die Wurzeln von Bäumen gewirkt und die Wahrsagerei wohl besser ermöglicht. Die

Rückübersetzung ihrer Worte wäre mir leicht gefallen. Unausgesprochen und umsonst.

Wo der Fluss die Brücke passiert, zeigen sich manchmal ähnliche Strukturen. Bei Hochwasser schiebt

sich das Wasser fingergleich ins Land, überspült Wiesen, Industriebrachen, findet stets neue Lücken

und bildet Flächen. Graublaue Seen, auf denen das Licht funkelt wie Schweiß in der Fläche der Hand,

wie die Tropfen in den Gefiedern der Enten und Möwen. Die Tiere schütteln sich und recken ihre

Hälse, strecken sich bereit zum Abflug. Schlanke Gestalten in Gruppen. Wie Phönixe drapiert wirken

sie, als seien ihre Federn aus Tüll. Origami-Figuren. Nur ihre Schreie sind echt. Auf einen unsichtbaren

Befehl hin erheben sie sich und fliegen auf. Alle. Ihr Geschrei vermischt sich mit dem Geräusch der

Maschinen am Ufer. Hebekräne hieven schwere Last auf die Schiffe aus schwarzem Stahl. Laden und

löschen die Ladung von Bergen aus rotem Erz und goldgelbem Sand. Die Boote tragen sie rastlos den

Fluss herauf, bis ans Meer. Bis in den Hafen, in deine Nähe. Sie spülen Sorgen über Bord und saugen

Gedanken ein. Traumwandlerisch finden sie ihr Ziel bei Nacht unter einem schwarzen Himmel. Gelbe

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Pontons schwimmen bisweilen fest gezurrt in der Mitte des Stromes und tragen Signallichter, rote

Lampions, die in der Nacht glühen. Sie weisen den Weg und warnen vor Untiefen. In den

Schiffsbäuchen rattern die Motoren, blind für die Warnhinweise der Laternen. Die Wellen schlagen

an die Stahlmäntel der Schiffe und gleiten an ihnen vorbei, jagen sich gegenseitig entlang der dünnen

Markierungslinie am Kiel. Strudelnd vereinigen sie sich über den Flügeln der Schiffsschrauben,

erzeugen dabei kleine Gischt. Von der Brücke aus blauem und rotem Stahl ergießen sich silberne

Kaskaden in das Wasser, wie ein glänzender Wasserfall aus Licht. Auf der mit Girlanden

geschmückten Veranda des Ausflugslokals über den erleuchteten Ufern des Flusses spielt eine Drei-

Mann-Oldie-Band mit einem altbekannten Schlager zum Tanz auf:

“Wer hat nicht mal am Rhein, in lauer Sommernacht beim Glase Wein vom Glücke träumend

zugebracht. Selig berauscht Küsse getauscht wo nur der Mond allein, dich schelmisch belauscht... .”

Punks und Otto-Normalverbraucher tanzen gemeinsam eine Polonaise. Ein Hüne mit hochtoupierten,

roten Haaren, Pyramidennietenarmband und mit Buttons gepflasterter Lederjacke bildet die Spitze

des Lindwurms. Sein erhitztes, verzerrtes Gesicht wirkt wie das Haupt eines chinesischen Drachens.

Die Bagage singt mit: „Einmal am Rhein und dann zu Zwei’n alleine sein. Einmal am Rhein, beim

Gläschen Wein im Mondenschein... .” Inmitten der sich berührenden, schlängelnden

Leiber dein offenes Lachen und dein geschmeidiger Körper, der in Serpentinen durch die vor und

hinter dir tanzenden Reihen geführt wird. „Einmal am Rhein

du glaubst die ganze Welt ist dein. Es lacht der Mund zu jeder Stund, das kranke Herz es wird gesund,

komm ich lade dich ein, einmal zum Rhein... .”

Eine Schnur wird vor die Polonaise gespannt und alle müssen darunter hinweg. Du biegst deine Hüfte

durch wie eine Feder, strahlst mich mit nach hinten gedrehten Augen an, während du dich mit den

Armen am Tänzer hinter dir abstützt. Ich betrachte den Mambo auf der Deichterasse, während im

Hintergrund das Feuerwerk prasselnd am Nachthimmel leuchtet. Wie knallend leuchtende Blumen

erstrahlen die Raketen am Firmament, blühen auf in schillernden Farbtönen, blähen sich den Augen

der staunenden Betrachter wie Chrysanthemen aus fernen Galaxien zum Greifen nah entgegen und

ersterben dann abrupt in der Nachtschwärze. Es scheint als seien die Feuerwerkskörper eigentlich

Quasare, Kerne einer pyrotechnischen Galaxie, welche enorme Mengen farbiger Lichtenergie mit

allen Nuancen ausstrahlt. Erstaunte Münder öffnen sich tausendfach, formen sich vollkommen

kreisrund und ganz unwillkürlich entgleitet aus hunderten von ihnen gleichzeitig ein langgedehntes

„Oooh!“. Quecksilberne Rauchschwaden von abbrennendem Goldregen ziehen träge entlang der

Pylone der Ruhrorter Rheinbrücke nach oben und vermischen sich dort mit den leuchtenden Farben

am Himmel, kaleidoskopisch. Die Nachtluft duftet an manchen Stellen nach einem Hauch von

Schwefel. Die Farben der explodierenden Feuerwerksraketen spiegeln sich auf den schwarzen

Wellenwipfeln, kupfern, gold, magenta. Lustwandelnde Massen von Menschen umsäumen die

Uferdämme des Flusses. Schiffe aller Größen und Bootstypen sind mit bunten Lichterketten

geschmückt und ziehen lumineszierend ihre Bahn. Der Rhein ist in Flammen.

Deine Wärme, fordernd, meine abweisende Kälte.

„Vielleicht sehen wir uns in Rotterdam.“ Das sind die letzten Worte, die mir im Ohr geblieben sind,

von unserem Gespräch beim Hafenfest. Du hattest dich losgerissen und enteiltest

durch die wogende Menge der Schaulustigen. Kanonenschläge, Schiffshupen und Signalhörner

verkündeten das Ende der Illumination. Applaus brandete zu beiden Ufern auf vom satuierten

Publikum. Das Riesenrad verbarg deine immer kleiner werdende Gestalt schließlich vor meinen

Blicken. Übrig blieben die Gondeln, schwankend, mit Menschen beladen. Immer wieder nach oben

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gehoben, schaukelten sie inmitten des nächtlichen Firmaments und wurden vor meinen halb

geschlossenen Augen selbst zu kleinen, flammenden Sternen. Blitze im Himmel, funkelnde Bälle.

Rotierende Pulsare mit Leben und mit Leidenschaften angefüllt. Sie glichen Sternbildern, schienen

wie bengalische Lichter voll durchschimmernder, luzider Träume.

Die Mühlenweide mit ihrem Mastbaum wirkt nun öde und verlassen. Die bunten Flaggen mit den

Abzeichen und Emblemen der vielfältigen Schifffahrtsfirmen und Reedereien flattern müde im

Vormittagswind. An der Hafenmole sitzen zwei Mädchen mit zurückgekämmten Haaren, die

Gesichter leicht geneigt, einander zu gewandt. Es scheint fast aus der Ferne, als berührten sich ihre

Stirnen, als läsen sie sich etwas vor, doch halten sie kein Buch in ihren Händen. Hinter ihren

jugendlichen Körpern zeichnen sich die Umrisse der Hafenanlagen mit ihren Strommasten,

Hebekränen und den fahrenden Schiffen ab. Ich gehe die gemörtelte, bereits brüchige Betontreppe

hinunter und stehe an der Landungsbrücke. Das Schiff liegt vor mir weiß am Ufer, schlecht getüncht

und nagt an seinen Tauen wie ein mürrischer Kettenhund am Knochen. Es ist die Patience, ein

Zustellschuber für die Route Ruhrort – Rotterdam. Im Hintergrund erheben sich die beiden

Brückentürme, die den Krieg überstanden haben, in ihrer wuchtigen wilhelminischen Bauweise aus

schweren, rußgeschwärzten Rotsandsteinquadern. Wolken jagen sich und werfen sich nieder. Die

Sonne steht falb und sehr hoch am Himmel. Trotz windiger Kühle klebt mein T-Shirt unter Jacke und

Pullover durch den Druck und das Gewicht meines Rucksackes kaltschweißig am Rücken fest. Mir

fröstelt, obwohl in drei Tagen schon Maifeiertag ist. Der Winter war lang in diesem Jahr gewesen und

die Blüten der Bäume stecken zum Teil noch in ihren offen stehenden Knospen, blass lindgrün aber

schon bereit sich beim nächsten Anflug des Frühlings komplett zu öffnen. Auf der Promenade kommt

mir ein Mann entgegen, Hartz-IV-Gestalt, erst Mitte dreißig aber bereits ein markantes Restgesicht

mit Lücken zwischen den Zähnen. Er hat einen ausgefransten Schal vom MSV-Duisburg um seinen

dürren Hals gewickelt und trägt eine blau-weiße Truckerkappe auf dem fettigen, halblangen

Kopfhaar. Unter einem seiner Augenlider ist eine „Knastträne“ eintätowiert. Zu meiner Überraschung

schnorrt er mich nicht auf Kippen oder kleines Geld an. Die rissigen Lippen unter dem Clark-Gable-

Bart bieten mir stattdessen Spenden an: „Ey, brauchste Tabak? Schenk’ ich dir.“ Er greift in seine

Camouflage-Pilotenjacke mit zeppelinförmiger König-Pilsener-Anstecknadel am Polyesterrevers.

Wahrscheinlich erkennt er in mir den Matrosen auf Heuer und offeriert mir deshalb seinen Krauser

mit der selbstverständlichen Solidarität unter Vertriebenen. Ich werde die erste Selbstgedrehte

später auf der Mauer am Hafen rauchen, aber erst muss ich noch zum Kapitän.

Das Gesicht des Afrikaners schaut gespannt und starr geradeaus, in seiner Diener-Livree und seinen

weißen Handschuhen wirkt er wie aus der Josephin- Baker-Revue Mitte der 20er Jahre. Seine Arme

sind ausgestreckt und er begrüßt jeden Besucher mit einem offenen Lächeln. Der Kapitän greift ihm

an den Kopf, seine Handfläche umschließt den gesamten Schädel, der Druck lässt die Fingerknöchel

einen Moment lang weiß hervortreten, fast hält er den Schwarzen wie einen Totem vor sich hin. Wie

ein Pharao beim rituellen Erschlagen der Feinde auf den antiken Gravuren der Tempelwände von

Memphis oder Theben. Der Afrikaner hält ungerührt sein stoisches Grinsen bei, vergnügt und

freundlich im Schraubstock der Hand. „Vom Hafenflohmarkt hier in Ruhrort“,

raunzt der Kapitän und stellt den etwa vierzig Zentimeter großen stummen Diener aufrecht vor sich

auf den Schreibtisch. Die Figur ist aus einem

Stück Palisanderholz gearbeitet und ruht auf einem Kokusnusssockel. Sie ist farbig angemalt und

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bunt lackiert, wobei die brüchige, besonders an der Nase und an den krausen Haaren abgeplatzte

Lasur auf ein bereits recht hohes Alter schließen lässt. “Nettes

Souvenir“, bemerke ich und schaue durch das Panoramafenster der Kommandobrücke auf den ewig

graugrün dahin fließenden Rhein. Überhaupt ist das Steuerhaus, in das ich eingetreten bin, ein

Sammelsurium verschiedenster Nautika: Ein Fischernetz ist unter der Kabinendecke aufgespannt,

darin lebensecht wirkende Plastikhummer, Seepferdchen, Muscheln und Stachelrochen. An den

Rotorblättern des aus Messing gefertigten Deckenventilators baumelt schlaff eine Fledermaus aus

blauem Jeansstoff, bereit ihre Flügel beim ersten Ziehen der für den Start vorgesehenen

Kordtroddeln zu blähen. Ein antiker, kupferner Sextant, die Replik eines Mercator-Globus und ein

Nebelhorn mit Patina wirken deplaziert zwischen den modernen Navigationsgeräten und ihren

Kontrollbildschirmen mit LCD-Anzeige. Eine Radaranlage, drei Funkgeräte, verschiedene Wind- und

Drehzahlmesser, ein Echolot, eine elektronische Anzeigetafel zur Maschinenüberwachung und

diverse Handys, Telefone und ein Faxgerät stehen im krassen Gegensatz zum restlichen, antiquiert

anmutenden Interieur. An den Wänden neben einem Barometer und mehreren Kupferstichen von

Schubbooten und Schleppschiffen hängt ein vergilbter Zeitungsausschnitt aus den 60er Jahren. Darin

die Jagd auf Moby, einen Beluga-Weißwal, der sich von der Nordsee kommend im giftgrünen

Rheinwasser verirrt hatte und tagelang vom Direktor des Duisburger Zoos in bester Ahab-Manier mit

Netzen und Betäubungsgewehr erfolglos gejagt wurde. Aktivisten versuchten die Jagd zu stoppen,

indem sie aus einem Zeppelin Apfelsinen in das Wasser warfen. Zahllose Schaulustige säumten

damals, im Sommer 66, die Ufer und Brücken entlang des Rheins, um einen Blick auf Moby zu

erhaschen und in Bonn schwamm der Wal direkt am Regierungshochhaus Langer Eugen vorbei und

wurde prompt unplanmäßig auf Punkt Eins der Tagesordung einer Bundespressekonferenz gesetzt.

Doch plötzlich, nach vier Wochen Odyssee, kehrte er unvermittelt um. Er schwamm wieder

stromabwärts an den Schloten von Rheinhausen und Hochfeld vorbei, quer durch die Duisburger

Häfen, tauchte unter Abwasserpipelines und Reusen hindurch, um mit äußerster Anstrengung seines

Echolots Emmerich zu erreichen und irgendwo zwischen Lek und Waal seinen Häschern zu

entkommen, um schließlich hinter Rotterdam bei Hoek van Holland die offene See zu erreichen und

niemals mehr gesichtet zu werden, dieser Wal.

“Was wollen sie?“, fragt der Kapitän. Er ist etwa 60 Jahre alt, sein roter Bart an den Mundwinkeln

und zum Kinn hin schon deutlich ergraut. Am Hals und an den Rändern seiner Wangen sind die

Narben und Wundmale einer schweren Akne aus der Jugendzeit noch gut erkennbar. In seinem

marineblauen Blazer über dem weißen Rollkragenpullover wirkt er wie eine pockennarbige Ausgabe

von Kapitän Iglo, nur trägt sein Schiff keine geputzten Servierplatten mit wohl drapierten, frisch

frittierten Fischfiletstäbchen als Ladung mit sich. Die Patience wird noch vor dem Wochenende eine

neue Mannschaft in den Strom hinaus tragen und sie der von Rotterdam kommenden Hektor VII

übergeben, die wiederum die sechs leeren Frachtbehälter, die bereits im Fluß verankert bereitliegen

festmachen wird, um nonstop die Reise von Duisburg nach Rotterdam anzutreten. Im Hafen von

Rotterdam wird das Schiff mit 16.000 Tonnen Aluminium beladen werden, um sich dann auf seine

Bergfahrt, also stromaufwärts zu begeben, unbändig angetrieben von drei monströsen

Dieselmotoren mit einer Gesamtleistung von über sechseinhalb Tausend Pferdestärken. Die

Besatzung wird außer den beiden Kapitänen der Hektor als deren Schiffsführer, aus einem

Steuermann, einem Maschinisten beziehungsweise Schiffsmechaniker und drei Matrosen bestehen,

wobei einer davon auf meinen Namen hören wird, wenn alles gut geht.

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„Wissen sie, ich hege seit langem den Wunsch, mit einem Rheinschiff die Route Ruhrort – Rotterdam

zu befahren und möchte deshalb auf ihrem Schuber rüber auf die Hektor anheuern, sozusagen als

Leichtmatrose.“ Er lacht halb spöttisch zu mir herauf. „So, so, quasi als Mädchen

für alles, was? Wie in der guten alten Zeit. Einfach so anheuern, wie nach dem Krieg, von zu Hause

weg und ab auf ein Schiff. Ja? Nur, so einfach geht das nicht. Das ist hier kein x-beliebiger

Seelenverkäufer, auf dem sie sich befinden. Wir übergeben eine qualifizierte Mannschaft der morgen

ankommenden Hektor und die Reederei duldet keine blinden Passagiere oder Abenteurer an Bord,

schon allein wegen der Versicherung. Also es tut mir Leid, aber... .“ Er macht eine

Pause, greift in eine Teakholzkiste und fischt sich eine der handgerollten Zigarren heraus. Er kneift

mit einer speziellen Zange das Ende ab und bald verhüllt der beißende Qualm des Brasiltabaks sein

halbes Gesicht. Aus dem Rauch spricht sein Mund: „Einer der zur Ablösung vorgesehenen Matrosen

ist schon seit ein paar Stunden überfällig. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer hier von Bord

wegbleibt und seine Zeit im Rotlicht verbringt, im Goldenen Anker vor Anker geht. Also wenn der bis

heute Nacht nicht wieder auftaucht, haben sie vielleicht Glück, denn jeder Tag am Hafen kostet

richtig und ich muss bis Freitag früh raus sein, denn nach dem Tauwetter und dem verdammten

Dauerregen steht uns nun das Hochwasser bevor. Wir sind jetzt schon auf acht Meter und die

Flutwelle kommt ja erst noch und die Hektor wird noch mitten im Strom die sechs leeren Leichter

ankoppeln müssen.“ „Dann hätte ich ja Glück in ihrem Unglück“, erwidere ich. “Also, ich werde

mich am besten hier in Ruhrort über Nacht einquartieren und mich auf Abruf bereithalten. Haben sie

vielleicht was zu schreiben, wegen der Handy-Nummer? Sie können mich dann jederzeit anrufen und

ich springe für ihren landgängigen Matrosen ein.“ Ich

schreibe im Stehen die Zahlen auf ein Kärtchen mit dem Logo der Reederei und reiche es ihm über

die mit Kontrolllampen bestückte Konsole hinweg. Ein wenig weißgraue Asche aus der glühenden

Zigarrenspitze fällt darauf, als er sie mit skeptischen Blick entgegen nimmt. Von meinem Plan, die

vage Spur zu dir aufzunehmen, die kalte Fährte, erzähle ich ihm lieber nichts. „Wäre mir

auf jeden Fall ein Vergnügen hier an Bord während der Fahrt arbeiten zu dürfen“. „Schon klar, wohl

als neuer Moses, ha, ha.“, spottet er. Dass sie so die Schiffsjungen nennen, werde ich erst später

begreifen, im Augenblick verwirrt mich der Auftritt des vierschrötigen Mannes auf der

Kommandobrücke. “Und außerdem baumelt draußen

nicht der Jolly Rogers, sondern die Tricolore, mein junger Freund. Das wird kein Abenteuerspielplatz

drüben an Bord, für den Fall, dass Sie das meinen. Vor allem bei dem Hochwasser, was noch ansteht

und ich glaube ohnehin nicht, dass es für Sie klappen wird, aber man hat ja schon Pferde kotzen

sehen, wie man so schön sagt. Ihre Handy-Nummer habe ich ja für jeden Fall. Also good luck und auf

Wiedersehen Herr Moses, ja, ha, ha, ha!“ Sein rauhes vom Husten durchbrochenes Lachen hallt noch

nach, als ich die Leiterstufen von der Brücke runter auf das Schiffsdeck steige, wo sich durch den

Wellengang des anschwellenden Flusses schon erste Pfützen gebildet haben.

Das Schiff scheuert seinen eisernen Rumpf rhythmisch an den mit Rost verkrusteten Spundwänden,

wie ein räudiger Köter an irgendeinem Baum oder Laternenpfahl und ich spucke ins

schaumbedeckte, braungrüne Hafenwasser unter mir.

Die zinnoberroten Ziegelsteine sind fischgrätenartig miteinander verzahnt, die Muskeln der Männer

und der Pferde sind gespannt, Schweiß tropft an den Flanken von Mensch und Tier, bildet Lachen

und kleinere Seen, vermischt sich mit dem Staub des Weges. Durch die Hände der Männer laufen

zwei Zoll dicke Hanfseile, hinterlassen ihre blutige Spur auf bereits vernarbter Haut. Die Treidelpferde

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schnauben, Schaum vor den Nüstern, ziehen sie das Transportschiff, vor dem Anblick des Wassers

geschützt nur durch eine einzige, dem Strom zugewandte Scheuklappe. Zwanzig der Kaltblüter sind

aneinander gespannt, auf ihnen die Knechte mit Messern und Beilen ausgerüstet, um die Taue im

Notfall zu kappen und das Versinken des gesamten Gespanns zu stoppen. Die Treidler sitzen einseitig

auf ihren Mähren, um selbst bei drohender Gefahr abspringen zu können. So sind sie optisch mit

ihren Pferden verschmolzen, halb Mensch, halb Tier, Zentauren des Hafens, durch Taue verbunden.

Im Fron an den Strom gebunden ziehen sie das Schiff mit 50 Tonnen beladen um die Rheinschleife.

Die Treidelleine, am Schiffsmast festgemacht, wird auf Spannung gehalten, berührt weder den Fluss

noch den Pfad. Das lange Tau schwebt, scheinbar wartend auf eine Tänzerin mit Schirm in der Hand,

die leichtfüßig über die Karawane hinweg zum Masttopp des Schiffes balanciert und schwerelos im

kunstseidenen Tutu Pirouetten vollführt. Homberg versinkt in den traumberaubten Köpfen der

treidelnden Kreaturen, Essenberg ist nicht mehr noch als eine glitzernde Spitze, eine Landzunge aus

Kopfsteinpflaster, schemenhaft durchbrochen durch die Rheinkehre. Ultramarinblau mit silber- und

bleigrauen Farben durchsetzt, so quillt das Wasser vor und aus ihren blutunterränderten, vom

Schweiß verschwommenen Augäpfeln.

Ich gehe den alten Leinpfad, die historische Treidelmeile an der heutigen Hafenpromenade entlang.

Gegenüber auf der anderen Rheinseite ragt der alte Hebeturm in Homberg auf. Vor mir direkt am

Wasser befindet sich das blauweiße Türmchen des Hafenmeisters. Die Pegeluhr zeigt achthundert

und drei Zentimeter gegen den grauen Himmel an. „Das heißt, wir haben noch knapp 130

Zentimeter, bis zur ersten Hochwassermarke mit eingeschränkter Schifffahrt“, denke ich bei mir.

„Verdammt noch mal, der Kapitän soll sich ja beeilen, sonst kommen wir hier gar nicht mehr aus dem

Hafen raus“, sage ich laut zu mir selbst. Bei

eintausendeinhundert und dreißig Zentimetern Pegelstand wird die gesamte Schifffahrt

vorübergehend eingestellt werden und die eigentliche Flutwelle des in diesem Jahr verzögerten

Frühjahrshochwassers steht noch aus. Ich verlasse den Uferbereich und schlendere durch die

ehemalige Altstadt. Häuser im Jugendstil mit Schiffen aus Stuck an den Giebeln und verziert durch

Mauerwerksanker oder in die Fassaden eingearbeitete Wappen säumen den Weg. In manchen

Vorgärten stehen Schiffsschrauben oder schwere Anker samt Ketten zur Zierde neben Blumenkübeln.

An einer alten, weiß verputzten Mauer entdecke ich das Motiv eines Davidsterns, vielleicht die

letzten Überreste der ehemaligen Synagoge oder einer Mauer des historischen Judenfriedhofes. Im

Progrom der Reichskristallnacht 1938 wurde die ehemals blühende jüdische Gemeinde in Ruhrort

erst gebranntschatzt dann zerstört. Die meisten der Ruhrorter Juden überlebten den Holocaust nicht.

Vereinzelt errinnern kleine Messingplatten, sogenannte Stolpersteine in den Bürgersteigen an die

Wohnorte und an die Namen der Opfer. Ich durchquere den Haniel Park mit seinen künstlichen

Grachten und komme am anderen Ende schließlich am Altmarkt aus. Im Schatten des alten

Hochbunkers auf der ihm gegenüberliegenden Seite des Marktes stelle ich mich an der Trinkhalle an.

Vor mir am Büdchen zwei Nachwuchs-Alkis im Emo-Skater-Stil: schwarze Kapuzenjacken, Lippen-

Piercings, abgewetzte Chucks. Der mit dem Sankt-Pauli-Emblem auf der Jacke zahlt mit Kleingeld,

greift sich seine Pilsflaschen und blickt mich durch seinen verwachsenen, schwarzblau gefärbten

Halbscheitel unter der schwarzen Mesh-Cap linkisch an. Er öffnet das erste Bier mit dem Flaschenhals

einer weiteren Pulle und spuckt dabei durch die Vorderzähne, während er mit einem Kick sein am

Boden liegendes Skateboard aufrichtet. Der andere, mit rotblonden Haaren als G.I.-Schnitt und

rotweiß karierter Baseballcap, auf der ein NOFX-Pin befestigt ist, klemmt sich sein Longboard unter

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den Arm, um die Bierflaschen besser tragen zu können. Auf der abgeschrammten Oberfläche des

Boards sind die zerfransten Reste eines Aufklebers zu erkennen. Unter den Achseln des Blonden ist

davon nur „O RISK-NO FU“ zu entziffern. „Na, Alter, so

früh schon auf den Beinen. Die Säufersonne is’ doch noch gar nich’ aufgegangen“, ruft mir der

Schwarzhaarige frech entgegen. Hämisches Gelächter. Ihre jugendlichen Gesichter sind mit einem

Mal zu bösen Fratzen entstellt. „Tja, no

Risk no fun“, entgegne ich ihm trocken. Der mit dem schwarzen Scheitel schielt verdutzt und der

Rotblonde feixt: „Yo, Alder! Cool.“ Die beiden trollen sich. Ich kaufe mir eine Flasche

Mineralwasser. Das perlende Nass tut gut. Ich blinzle und sehe, wie die beiden Skater in der Ferne

ihre Boards besteigen und in schlingernden Bahnen mit Bieren in der Hand und in den Plastiktüten

die abschüssige Straße Richtung Rheinpromenade hinunterfahren.

„Jetzt nur noch eine Herberge für die Nacht suchen und das Handy eingeschaltet halten und mit ein

wenig Glück, gibt es bald ein Wiedersehen mit dir, die du so plötzlich und scheinbar spurlos

verschwunden bist“, denke ich und trinke.

Aus dem geschenkten Tabak drehe ich mir eine weitere Zigarette, zünde sie mir an und mache mich

durch die von den Gleisen der S-Bahn-Linie durchschnittenen Straßen auf den Weg. Vorbei an

erblühenden japanischen Kirschbäumen, spielenden Kindern mit schmutzigen Mündern und Lollies in

den Händen und einem mir entgegenkommenden Kampfhund mit schlecht sitzendem Maulkorb an

der Leine seines glatzköpfigen Herrchens, biege ich in den nächsten Straßenzug ein. Der

Nachmittagswind fegt hinter mir den Müll vom Asphalt. Es wird kalt. Am Gemeindehaus in der

Dr.Hammacher-Straße halte ich an und rücke mir meine Mütze zurecht. Die Giebelfront des

wuchtigen Gebäudes ist im romanisch geprägten Jugendstil errichtet. Das in Stein gehauene Schiff als

Bekrönung des mächtigen Turmes und Symbol der Hafenstadt ging zusammen mit dem Löwken,

einer Löwenfigur vor den Kollonaden der alten Rheinbrücke im Bombenhagel des zweiten

Weltkrieges verloren. Eine gusseiserne Treppe führt zu dem aus Holz geschnitzten Hauptportal.

Darüber befindet sich eine große Sandsteinrosette mit getönten Bleiglasfenstern.

Aus einem offen stehenden Giebelfenster höre ich den soeben stattfindenden Gottesdienst der hier

ansässigen Nederlandse Kerk: „Onze Vader die in de hemelen zijt, uw naam worde geheiligd, uw

Konikrijk kome; uw wil geschiede... .“ Als ich um die Ecke biege verhallen hinter mir noch die letzten

Gebetsfetzen „...en de kracht en de heerlijkheid tot in eeuwigheid. Amen.“

Das Gasthaus mit Schankwirtschaft in der Parterre befindet sich in einem stillen, vergessenen Winkel

der Altstadt und ist eines der letzten windschiefen, zweistöckigen Fachwerkhäuser, die einen

Eindruck des alten Ruhrort vermitteln. Auf der Ziegelhauswand über dem Türfirst neben einer Reihe

alter Hochwassermarkierungen ist eine Bronzefigur angebracht: ein schelmisch blickender Schiffer,

der mit seiner heruntergelassenen Hose auf einem Holzfass hockt und dem Betrachter höhnisch die

Zähne entgegen bleckt. Darunter steht in getünchten, halbverblichenen, altdeutschen Lettern der

plattdeutsche Name der Herberge: Zum Ruhrschen Drieter.

„Tja, so haben uns vor über 100 Jahren die Leute aus Meiderich geschimpft. Die nannten uns

Tönnekes Drieter, die in die Tonnen Scheißer, weil et damals noch keine Klos und Kanalisation gab

und alles. Da wurden überall Tonnen und kleine Holzfässerkes in die Winkel der Straßen und in ’ne

Hofecken gestellt und darauf haben die Leute dann gemacht und wenn die voll waren, ging dat alles

in den Rhein. Bei Hochwasser war dat natürlich so ne Sauerei und der ganze Hafen schwamm voll

davon, bis oben an’ne Kaimauer. Aber irgendwann kamen dann auch hier vernünftige Rohrleitungen

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und Abwasser hin. Als Maskottchen und Symbolfigur ist der Drieter aber geblieben. Unser

Karnevalsverein verleiht jedes Jahr noch ’nen Tönnekesdrieter-Orden für zivilen Ungehorsam.

Deshalb hängt die Figur seit vielen Jahren schon über unserer Tür an’ne Wand. Aber keine Angst, wir

haben saubere, gepflegte WC´s hier im Haus. Hier drinne gibbet keine Tönnekes mehr.“ Die Wirtin

und Herbergsmutter ist ein klein gewachsenes, pausbackiges Persönchen von Mitte sechzig mit

bereits schlohweißem Haar, dritten Zähnen und stahlblauen, blitzenden Augen. Die Haare auf

ihrer linken Braue sind schon fast ausgefallen und um ihren kurzen Hals hat sie einen Seidenschal in

Pastelltönen gewickelt. Ihre Füße mit den wohl selbst gestrickten Socken stecken in blauen

Kunstlederklotschen. Dadurch wirken sie optisch wie die gewickelten Zehen einer alten Geisha der

Edo-Zeit. Mit ihren tippselnden Schritten schwebt sie fast über dem Boden in der Schenke. Der

Schankraum selbst und die Theke ist mit dunklem Holz getäfelt von bearbeiteten Planken und aus

Schiffsparkett. Es riecht nach Kirschtabak und leicht saurer Bierhefe. In einer Ecke des niedrigen

Raumes brennt ein offener Kamin. Die glühenden Holzscheite im Inneren knistern und aus der

Flamme sprühen kleine Funken auf die gusseiserne Trittplatte mit dem Wappen von Ruhrort darauf.

Durch die Glasbutzen der Fensterscheiben, die zusammen ein großes Ankerkreuz bilden, fällt ein

Lichtkegel, in welchem feine Staubpartikel wie die Sterne einer fernen Galaxie glänzen, auf das Ölbild

an der Wand hinter dem Tresen. Es zeigt ein Segelfrachtschiff in einer Hafenbucht bei

Sonnenuntergang. Eine Frau mit rot gemaltem Rock und einem Kind an der Hand spaziert am Ufer

entlang, der Abendsonne entgegen. Die Struktur der Malfarbe steht stachelig von der Leinwand ab,

der geschnitzte Bilderrahmen ist aus Walnussholz gefertigt und wird flankiert von mehreren

gehobelten und klar lackierten Regalbrettern. Darauf stehen außer den unterschiedlichsten

Spirituosen auch zwei Buddelschiffe. Das eine Flaschenschiff beinhaltet eine Fregatte mit Namen

Albatros, in der anderen Flasche schippert ein Binnenschiff auf blauen Wellen aus Knetmasse. An

einer Ecke des Tresens steht ein großes Einmachglas mit Glasdeckel, in dem sich Soleier tänzelnd im

Kreis bewegen, ähnlich den Wachskugeln in einer Lavalampe. Ich bin der einzige Gast im

Schankraum, der anmutet wie ein Schiffsrumpf, dunkel gemütlich, kalvatert und gewachst; ein

hölzerner Uterus.

„Ich suche ein Bett für eine Übernachtung. Vielleicht würde ich auch schon in der Nacht aufbrechen,

falls das bei Ihnen möglich ist.“ Ich erkläre ihr meine Situation, erzähle ihr von

meiner Anheuerung und dem möglichen Rückruf des Kapitäns. Durch die tänzelnden Soleier im Glas

betrachtet, scheint eines ihrer Augen ebenfalls in Bewegung geraten zu sein und trudelt munter im

Reigen mit. Sie fixiert mich mit der Pupille: „Na, na. Also für

gewöhnlich sind wir ja kein Stundenhotel oder eine Jugendherberge mit Nachtschlüssel oder so

etwas. Abba in Ihrem Fall kann ich eine Ausnahme machen. Wenn Se in der Nacht noch Ihren Rückruf

erhalten, klingeln Sie einfach bei mir unten an, ich schlafe sowieso meistens schlecht. Mein Mann

oder ich lassen Sie dann raus. Mögen Sie vielleicht ein Frühstück? Ich stell’ Ihnen dann ein paar

Soleier mit Brötchen zusammen. Frikadellen und Fleischsalat hab’ ich auch heute noch frisch

selbstgemacht, schließlich bin ich ja gelernte Kaltmamsell. Ich könnte Ihnen von allem wat mit für

den Weg einpacken. Auf der Fahrt ist dat immer gut und Sie werden bestimmt Hunger kriegen, vor

allem bei der Arbeit auf Deck.“ Ich blicke in ihr rundes, freundliches Gesicht und gehe

dankbar auf ihr Angebot ein. Ich bezahle für eine Nacht mit Frühstück, dann geleitet sie mich durch

eine mit Delfter Kacheln geflieste Diele und über eine schlagfest gestrichene Treppe aus

Eichenbohlen in mein Zimmer. Es ist eine Mansardenstube mit schrägen Wänden und einem

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unverputztem, aus Ziegeln stufenförmig errichteten Kamin. Im weißen Wandputz liegen einige

Fachwerkbalken der Dachkonstruktion frei und geben dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Ein

Deckenstützbalken steht frei im Zimmer, die Holzmaserung ist gut zu erkennen und bildet aus den

Jahresringen ein spiralförmiges Muster ähnlich der Milchstraße. Daneben steht das Bett, gegenüber

an der Wand befindet sich ein kleines Keramikwasch-becken mit Rasierspiegel und bereit liegenden

Handtüchern. Am Kopf des Bettes ist ein kleines bullaugenartiges Fenster geöffnet, der frische Wind

bläst Luft herein. Ich stelle meinen Rucksack auf einen Stuhl, der an dem größeren,

gegenüberliegenden Fenster vor einem Tisch in der Fensternische steht und öffne auch dieses einen

Spalt breit. Ich atme durch und genieße den Ausblick. „Von hier aus können Se den gesamten

Vinckekanal aus sehen und wenn der Schornstein nich’ raucht sogar eine Spitze von’ne kleinen

Brücke über ’n Eisenbahnhafen schräg hinter der normalen Rheinbrücke.“ Ich strecke den Kopf,

verdehe den Hals und erhasche tatsächlich einen kurzen Blick auf die altertümliche

Brückenkonstruktion aus Eisenfachwerk. Im Augenwinkel blinkt blau gestrichener Stahl auf.

Ich wende mich zur Gastwirtin: „Sie haben wirklich eine schöne Aussicht von hier oben. Schade, dass

die Nacht vermutlich nur kurz sein wird.“ „Ja, herrlich, die beiden Brücken, nicht

wahr? Wie Vatter und Sohn. Und gegenübber in Homberch gibbet noch zwei am Hafen. Angeblich

hat Duisburch ja mehr Brücken wie Venedich. Abba freuen Se sich lieber auf moien früh, denn wenn

dat mit Ihrer Schifffahrt klappt, werden Sie noch ganz andere Aussichten genießen können. Viel Glück

und guten Schlaf auch. Falls Sie noch irgendwat benötigen oder Hunger bekommen, geh’n Se einfach

runter in den Schankraum, Sie finden mich dann dort oder vorm Haus. Ich muss nämlich noch meine

Rosenstöcke düngen und die restlichen Blumen versorgen.“

Sie zieht die Zimmertür hinter sich zu und ich höre das Klappern ihrer Klotschen auf der Treppe beim

Hinuntergehen langsam leiser werden. Ich öffne das Fenster vor mir ganz, lehne mich hinaus und

jetzt streift der Rauch mein Gesicht und durchweht mir das Haar. Unten im Hafenkanal heult das

Signalhorn eines ankommenden Schiffes vom Hafenmund herauf. Durch den rauchigen Schleier

hindurch sehe ich den orangeroten Eisenschild, der die Ruhrmündung weit sichtbar markiert, die

sogenannte Rheinorange. Sie vermischt sich mit der camparifarbenen Abendsonne zu einer einzigen

Melange aus gelb und rot, steigt wie ein massiver Torbogen neben dem Wasser der Flussmündung

auf und verschmilzt am Himmel schließlich zu einem glühenden Orangeton.

„Hallo ihr Süßwassermatrosen und Flußpiraten da draußen. Ihr hört Radio Deichkrone auf 77, 5

Megahertz, es begrüßt Euch am Mikrofon Euer DJ Deichgraf. Ahoi!“. Ich drehe den Lautstärkeregler

am Radiowecker lauter und sinke aufs Bett zurück. Über den Äther läuft ein Lied einer lokalen

Elektro-Punkband aus Duisburg: “... . Laufen wir zur Mühlenweide, Ruhrort kein Kurort. Gehen wir

auf ein Schiff – Hafenrundfahrt und an Bord geht’s hoch her... .” Ich sitze im Schneidersitz auf dem

Bett und lehne mit dem Rücken an der etwas speckigen, ehedem weiß verputzten Wand. Auf der

Höhe meiner Schulter befindet sich das offene, kleine Bullaugenfenster. Die roten Blüten des

Zierkirschbaumes, der vor dem Haus bis zum Fenster empor wächst, bilden zusammen mit seinem

Geäst eine florale Arabeske, eingefasst durch die ovale Fensteröffnung. Es wirkt wie jene

schnörkeligen Rankenmuster nach orientalischer Art, mit der die Rundkuppeln und Decken der

großen Moscheen, wie beispielsweise derjenigen in Marxloh, verziert und ausgeschmückt sind. Bei

meinem Besuch dort reckte ich den Kopf nach oben und hatte das Gefühl, in rosa Glanzpapier und

weißem Staniol verpackte Bonbons würden aus einem Katarakt in geometrischer Genauigkeit nach

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unten regnen und sich gleich einer nicht versiegenden Bonboniere auf den Betrachter in Strahlen

ergießen, wie die Schmelzfunken in einem Stahlwerk.

„... . Schnell zum Innenhafen auf eine Bank, neben an läuft Deutschpunk. Ziemlich krank, ziemlich

krank. Duisburg City – Gott sei Dank! Herrlich, Herrlich, Herrlich hier in Duisburg.” Ich höre den Song

der Elektro-Band noch zu Ende und stelle dann das Radio ab. Ich setze mich an den Tisch unter dem

Fenster und sinniere. Was wird die bevorstehende Fahrt bringen, wenn sie überhaupt Wirklichkeit

wird? Ich greife mir mein Notizheft aus dem Rucksack und schreibe, so wie es mir gerade in den Sinn

kommt mit dem Stummel eines Bleistiftes:

Spurensuche

Wo steckst du nur, wo hast du dich verkrochen, in welchen Winkel, wir fahnden nach dir.

Wir suchen dich, versprühen Agent Orange. Wo steckst du jetzt in aller Welt?

Wir rüsten Expeditionen aus, Päpste wünschen Glück, wir setzen Segel und finden vielleicht nur die

alte Welt und sonst nichts.

Wir besteigen Raketen, schießen uns ins All, durchqueren Galaxien. Und inmitten des Universums ist

irgendwo ein Weg zu dir. Der Mars ist nicht leer.

Wir zahlen mit barer Münze millionenfach, verwalten das Chaos, stiften Staatsanleihen.

Wir gründen Banken, bieten zinslose Darlehen, Eurobonds für eine Spur von dir.

Allgemeine Rasterfahndung und du schlüpfst durchs Netz. Auf jeder Plakatwand dein Bild, DNA-

Abgleich, doch keine Spur führt zu dir.

Nur die Sonne scheint, es scheint mir als seiest du hier. Als seiest du hier bei mir. Doch nur die Sonne

scheint, über mir.

Bis du mir aus den Träumen niedersteigst. Bis eine vage Spur den Weg mir weist.

Ich nenne dich Rhenania, ich nenne dich Hydra. Ich nenne dich Athene, Helene, Kallipygos. Ich nenne

dich Maria Magdalena. Ich nenne dich Sinsemila. Mit Lorbeerzweigen kröne ich dein Haupt.

Göttliche, tödliche Braut.

Ich ziehe meine Mütze auf und stülpe die Clochard-Handschuhe über meine Finger, denn es ist,

obwohl in zwei Tagen Mai, inzwischen kühl draußen geworden und ich möchte noch etwas essen

gehen. Wer weiß, eigentlich müsste Biggi ja ihre Schicht im Rio Negro haben. Auf dem Weg nach

unten treffe ich die Gastwirtin, die gerade dabei ist, Bärlauchblätter aus dem Garten, in dessen Mitte

ein beflaggter Mastbaum im Rasen verankert steht, in die Küche zu tragen. Die frisch geernteten

Blätter liegen satt grün und straff in ihrem Schürzentuch und an manchen Halmen sind bereits die

ersten schneeweißen Blütenstengel zu sehen. „Woll’n

Sie noch einen kleinen Spaziergang machen?“, fragt sie, während ich durch den Schiffsbauch der

Schankwirtschaft schreite. Mittlerweile sitzen drei Männer mittleren Alters an einem der runden,

dunklen Eichentische und spielen offenbar Skat. Einer, der aussieht wie ein gerupfter Tom Waits, mit

stacheligem Haar krächzt: „Herz ist Trumpf“, während der mit der karierten Schlagmütze auf dem

Schädel und der Filterlosen im Mund seine Lefze nach oben zieht. Der Dritte in der Runde, ein langer

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Schlacks mit Pferdeschwanz, Nasenstecker und Strickpulli, seufzt hinter seinem Kartenfächer und

greift dann resigniert hinunter zu einem Pinneken Korn.

„Ja, vielleicht noch zum Hafen und dann mal sehen“, antworte ich ihr im Gehen. „Mein Handy habe

ich auf jeden Fall bei, falls unerwartet der Rückruf vom Schiff komm sollte. Es kann vielleicht etwas

später werden.“ „Oh, dat macht gar nix. Schellen Se ruhig an. Is’ die kleinere

Messingklingel auf der Barachiel steht. Mein Mann ist eigentlich immer lang wach. Auf

Wiedersehen.“ „Scheiß Spiel!“ und „Du

kommst!“ höre ich noch vom Skattisch, als ich durch den braun wattierten Vorhang an der

Eingangstür hinaus aus der brütend warmen Luft der Schankstube nach draußen in die Kälte, auf das

rauhe Kopfsteinpflaster der Straße trete.

Die Amazone bewegt sich federleicht auf der Stange, dreht ihre blaue Stirn in meine Richtung, legt

den Kopf schräg und schaut mich mit beinahe lidlosen, großen bronzefarbenen Augen an. Ihre Zunge

ist gebogen, wie der Daumen eines Säuglings, ihre Stimme rau und allenfalls guttural. Mit den Zehen

ihres linken Fußes hält sie die soeben geknackte Erdnuss anmutig hoch und führt sie mit

vollkommenem Gleichgewicht zum offenem Schnabel, in welchem die steil aufgereckte Zunge die

bleiche, ölige Hülsenfrucht umschlingt. Sie schüttelt sich genüsslich, kleine Federn fallen herab,

schweben stahlblau und smaragdgrün schimmernd wie Fallschirme zu Boden. In meiner Nische am

Fenster ist alles aus Bambus gebaut: Tisch, Stühle, Trennbalken, selbst der Vogelbauer schräg über

meinem Kopf. An den Querbalken, die meinen Sitzplatz wie eine spanische Wand abdecken, wachsen

tropische Epipyhten und eine Fingeraralie mit ihren dünnen, hanfartigen Blättern sowie ein

dickfleischiger Philodendron, ranken fast das gesamte Fenster zu. Es bleibt gerade noch genug Sicht,

um die abbruchreifen Reste der alten Schmiede draußen am Werfthafen zu erblicken. Wie ein

zahnloser, halb aufgebrochener Kiefer, gähnen die Gebäudereste in die Abenddämmerung. Der noch

erhaltene Kamin steht wie ein dürrer Finger ab, als drohe er den Brandstiftern, die dieses

Industriedenkmal vor kurzem in einer nächtlichen Feuersbrunst dahinrafften.

Durch den dichten Tropengarten sehe ich zuerst ihre nackten Gliedmaßen. Es wirkt, als würden die

Aralien, Bromelien und sonstigen Grünpflanzen im Rio Negro mit einmal Blüten tragen oder von

Tagfaltern bevölkert sein. Ihre Unter-und Oberarme sind farbig tätowiert mit Blumen und

Schmetterlingen. Über ihrem Schlüsselbein, neben dem Motiv einer Hibiskusblüte ist ein

schwirrender Kolibri gestochen und es wirkt täuschend echt, als würde der schillernde Vogel mit

seinem Pinzettenschnabel in den umherstehenden Dschungelpflanzen schweben, als sie sich mit

wiegendem Schritt auf die mit immergrüner Vegetation bewachsene Lounge zubewegt.

„Mensch, wie geht es dir. Schön dich auch mal wieder zu sehen.“ Ihre Dreadlocks wirbeln

wild umher und ihr Gesicht verzieht sich zu einem freudigen Strahlen. Die Locks sind blau gefärbt und

sie kontrastieren angenehm zu ihrer knatschroten Kunstlederkorsage, aus der ihr üppiges Dekolleté

quillt. Sie trägt lange Ketten mit Kambala-Holzperlen und Porzellanschnecken-Gehäusen um ihren

Hals. Um ihre Hüften ist ein ockerfarbener Sarong gewickelt, auf der Wade prangt ein gut

gearbeiteter Jah Lion mit Fahne. Ihre Füße stecken in römischen Sandalen, die Nägel abwechselnd in

Rastafarben rot, gelb und grün lackiert. Ihre Erscheinung passt in den Dschungel, der sie umgibt,

denn es ist warm hier, obwohl draußen der Frühling noch nicht mal ganz begonnen hat.

„Hey Biggi, ich hatte tatsächlich mal Hunger bekommen und dachte, schau mal nach, ob es dich hier

noch gibt.“ Küsschen links und rechts und eines in die Mitte.

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„Siehst gut aus. Wie immer. Was steht denn aktuell auf der Karte?“, frage ich schelmisch. Sie freut

sich über mein Kompliment und ein wenig Farbe gleitet durch ihr Gesicht.

„Ist natürlich alles lecker wie immer. Aber heute würde ich dir brasilianisches Rinder-Hüftsteak mit

roten Linsen und Quinoa in Limettensauce mit grünem Pfeffer empfehlen“, antworten ihre Lippen,

wobei die untere durch ein Piercing geziert ist.

„Und vorneweg ’nen Cuba Libre oder ein Caipi,“ werfe ich ein. „Ich hol dir ’nen

Caipirinha, der geht später besser zu der Limettensauce, ja?“ Die Lippen schürzen sich ein wenig.

„Ist klar. Nehm’ ich“, rufe ich augenzwinkernd und ihre schwingende Hüfte verschwindet im

amazonischen Dickicht. „Na, wenn die Rinderhüfte später auch so gut

ist...“, denke ich bei mir und schaue hoch in den Vogelkäfig, in dem die Blaustirnamazone ihre

Mahlzeit beendet hat und sich mit nach hinten gedrehtem Hals die zitronengelben Flecken ihres

Schwunggefieders mit dem Sichelschnabel putzt. Wieder ruht das eidechsenartige Auge selbst in

dieser, für den Vogel unbequemen Position auf mir und fixiert mich, während ich auf meinen Drink

warte.

Der Cachaca tut seine Wirkung und ich merke, wie mir leicht schwindelig wird. Das Essen ist wirklich

gut gewesen. Biggi hat sich alle Mühe gemacht, doch auch mit dem Zuckerrohrschnaps nicht gespart.

Und ich habe bereits den fünften Caipi weg. Mittlerweile ist es ruhiger im Restaurant geworden und

sie setzt sich zu mir an den Bambustisch. Ich erzähle ihr von meinen Plänen und dem möglichen

Auslaufen am morgigen Tag. Sie schaut mich mit leicht besorgten Augen an, während ich an einem

ihrer blauen Dreadlocks spiele. „Was? Du willst sie tatsächlich wiedersehen?“, fragt sie halb

besorgt, halb entsetzt. „Nach all den Jahren und der ganzen Scheiße? Verdammt Mann, ich weiß

wirklich nicht, ob das ’ne gute Idee ist. Und anyway, ich hab’ selbst seit drei Jahren nichts mehr von

ihr gehört. Seit sie Hals über Kopf nach Rotterdam gezogen ist. Das letzte, das ich hörte, war, dass sie

da als D-Jane in irgend’nem Techno-Club aufgelegt hat. Temple oder so. ’N Afterhour-Laden war das,

glaub’ ich. Weiß der Teufel, ob’s den überhaupt noch gibt. Fuck! Aber sonst weiß ich auch nichts

mehr. Kümmert sich ja keiner mehr um niemanden, fahren alle voll den Egofilm. Mensch sei nicht

blöd, vergiss sie. Hier am Deich gibt’s doch genug coole Mädels, oder?“

Sie wirft die Mähne nach hinten und für einen Moment werden auf ihrem Nacken die schwarz

gestochenen Ausläufer ihres Rückentattoos sichtbar. Ich nutze den Augenblick und küsse schnell die

feine, getuschte Linie. „Hast natürlich Recht,

aber mir geht es auch um die Fahrt. Wenn das mit dem Schuber klappen sollte, wäre das echt die

Show. Das letzte, was ich von ihr weiss war, dass sie nach Rotterdam ziehen wollte. Und ich Arsch

hab sie abfahren lassen. Eiskalt, ohne eine Wort. Ich hatte ihre Handy-Nummer aber die hab

irgendwann im Frust aus meiner Rufliste gelöscht. Verdammt, irgendwas ging damals in ihr vor, das

weiss ich noch wie heute. Bin mir sicher dass sie mir noch was wichtiges sagen wollte, was in ihr

wühlte aber ich konnte nicht... .“ Ich mache eine Pause und überlege, ob ich reinen Wein

einschenken soll, halte mich dann aber doch lieber an die diplomatische Etikette: „Na ja, auch egal,

wenn ich sie finde, bringe ich ihr eben ein paar Tulpen mit. Und außerdem war eh nicht alles

ausgeräumt zwischen uns. Du weißt, Partylife und Egotrips, der ganze unausgesprochene Mist. Und

immer die elende Leere, trotz anderer Ladies seitdem. Irgendwie nie mehr das Wahre, außer

natürlich die Zeit mit Dir.“ Ich

zwinkere sie an, ihr Lächeln kommt gequält und ich halte für einen Moment lang Biggi´s Hand: „Sorry.

Aber vielleicht war es am Ende nur ein Missverständnis oder falsche Eitelkeit, das kann ich im Detail

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nicht sagen. Weiß der Henker! Obwohl, drei Jahre sind ’ne lange Zeit und es war nicht alles

gentlemanlike, das geb’ ich zu.“ „Mensch Typ, du hast echt ein

Rad ab. Weißt du das eigentlich?“, fragt sie und schielt halb verzweifelt, halb mütterlich zu mir

hinüber, dann beugt sie sich vor und greift an den Strohhalm in meinem Drink, wobei sich ihre Brüste

unwillkürlich an das Cocktailglas mit den zerstoßenen Limettenscheiben und dem

schnapsübergossenen Cruncheis in meiner Hand pressen. Ich spüre den Unterschied zwischen ihrer

Körpertemperatur und der Kälte des beschlagenen Glases und auf meinem Unterarm zeigt sich eine

Gänsehaut. Der Rohrzucker knirscht, als sie ihn durch den Halm nach oben saugt. In ihrem

Mundwinkel erscheint eine dünne Spur Limettensaft mit halbgelösten, braunen Zuckerkristallen. Ihre

Zunge wischt im Reflex darüber. „Aber Okay. Einfach so abzuhauen, wie sie es

tat, so mir nichts dir nichts und alle Brücken zu sprengen wie die scheiß Nazis am Kriegsende, war

auch nicht gerade die feine englische Art.“ Sie macht eine

Pause und der Kolibri auf ihrem Schlüsselbein schillert zusätzlich durch einige feine Schweißperlen

auf ihrer Haut. „Tja, manchmal bemerkt man die besste Zeit im Leben eben erst,

wenn sie vorbei ist“, sagt sie und ihrem Atem entströmt das fruchtige Aroma von Limette. „Weißt du

was? Wenn du sie wirklich triffst, gib ihr ’nen Kuss von mir und ’nen Arschtritt. Miss Djane MeJane

hätte sich ruhig mal melden können. Und wer weiß, vielleicht habt ihr beide wirklich was zu kitten

oder aber... fuck off!“. Ich zahle (aber nur für’s Essen) und Biggi steckt mir noch einen der Flyer

zu, die überall in dem wie eine Hazienda gebauten Lokal ausgelegt sind. Wir küssen uns kurz zum

Abschied und dann erhebt sie sich, schlingert wie eine Indio vom Stamm der Chavantes durch den

Gewächshausdschungel des Rio Negro vorbei an einem Terrarium, in dem rot-weiß gestreifte

Pfeilgiftfrösche ihre hochfrequenten, leisen Gesänge aus Bromelien heraus ertönen lassen. Die

Kehlsäckchen der winzigen, todgiftigen Amphibien pulsieren, als ob sie in der schwülen Hitze des

Bassins hechelten. Ich lächle den Ansätzen von Biggis Rückentattoo hinterher, als sie die Klapptür zur

Küche betritt. Ich weiß nämlich zu gut, was sich unter dem Schnürmieder über ihren gesamten

Rücken erstreckt: Die Konterfeis der Wailers, eins zu eins abgestochen vom Frontcover der Burnin-LP.

Gerne wäre ich die Nacht über bei Biggi geblieben, wie Odysseus dereinst bei Calypso, aber ich muss

los. Über mir turnt die Amazone nun kopfüber in ihrem Käfig, die Schmuckfedern am Hinterkopf

aufgeplustert wie einen saphirblauen, chinesischen Fächer. Ihren lidlosen Blick hat sie abgewendet

und ihr Krächzen vermischt sich rhythmisch mit dem Salsa-Reggae, der nun über den Köpfen der

speisenden Gäste als Hintergrundmusik gespielt wird.

Silbern sind die Spitzen der Wellen vom Mondlicht beschienen, sonst ist der Fluss eine anthrazitblaue

Linie, die an ihren Rändern hier und da von gusseisernen Laternen im Empirestil beleuchtet wird und

die dann in den Lichtkegeln ein wenig mehr mysteriöse blau-graue Farbe zeigt. Die Oscar Huber liegt

wie ein gestrandeter Wal am Kai vor der Schifferbörse. Wie ein aufgetauchtes, leckgeschlagenes U-

Boot aus dem 1.Weltkrieg zeichnet sich das Schiff schwarz und undeutlich gegen die heraufgezogene

Nacht ab. Seine beiden Schornsteine wirken wie Finger, die in schwarzen Samthandschuhen stecken,

von Jack the Ripper vor hundert Jahren ins dunkel glänzende Wasser des Hafenbeckens geworfen.

Der eiserne Radschleppdampfer ist heute ein Museumsschiff, früher verbrauchte er für eine Fahrt

von Ruhrort nach Rotterdam und zurück 70 Tonnen Kohle, die in den glühenden Schlündern seiner

unter Deck befindlichen Heizkessel verschwanden. Die Heizer, halbe Kinder noch, schöppten

schwitzend mit rußgeschwärzten Gesichtern die Kohlen und Funken stoben in ihre entzündeten, halb

zusammengekniffenen Augen. Das schnaubende Schiff brauchte für die Strecke damals volle sechs

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Tage. Mit dem Einsatz von Schleppdampfschiffen wie diesem, Ende des 19. Jahrhundert ging die Ära

der Treidelpferde und ihrer Knechte an Rhein und Ruhr für immer vorbei. Dieselbetriebene

Schubverbände wiederum bereiteten Dampfschiffen wie der Huber in den Jahrzehnten nach dem

zweiten Weltkrieg den Garaus. Seit 1974 gehen nur noch Schulklassen und Besucher an Bord des

alten Dampfers, der fest getäut wohl für ewig hier vor Anker liegt.

Ich stelle mich unter eine Laterne an die Hafenmauer und in ihrem fahlen Licht entfalte ich den Flyer,

den Biggi mir gab. Unter dem Siebdruck, der die Oscar Huber und eine Kompassrose mit Winkelskala

zeigt, steht der Name der Veranstaltung: „R(h)einklang – die elektronische Party, 5 Euro, die Eins hat

freien Eintritt. Live angekündigt werden Ceram Kehrwasser, DJ Mole und Kai vom Kay. Location:

Schaluppe. Doors open 22h.” Ich drehe meinen Kopf und sehe bereits die erleuchtete Eingangstür

des Clubs. Er liegt schräg gegenüber der Huber, direkt am Hafendamm. An der Kasse steht ein

Barhocker mit Würfelbecher darauf. Der Zwei-

Meter-Hüne mit New-York-Giants-Cap, Ohrentunneln und Baggy-Trousers spricht mit Zigarette im

gepiercten Mundwinkel: „Versuch’ dein Glück, die eins zahlt nix.“

Sein Fünf-Tage-Bart ist auf die Minute genau geschnitten und er reicht mir den Becher. Ich würfele

eine Drei und löhne den Fünfer. Der Club ist klein und T-förmig gebaut. Zur Linken die Theke, dann

über Eck die Bühne. Ich trinke Bier. Die Schaluppe ist gut gefüllt und über die Köpfe des Publikums

werden Dias an die Wand der Bühne projeziert: King Kong, ein Schubschiff von der Rheinhauser

Eisenbahnbrücke aus fotografiert, Bilder vom historischen Ruhrort, die Enola Gay, Godzilla und so

weiter. Das Motto des Abend heißt „Ambient meets Classic“. Und so spielt der Pianist Kai Schumann,

alias Kai vom Kay Stücke von Satie, Debussy und Ravel. Er hat sich dabei einen gelben Südwester über

seine Sturmfrisur gezogen. Sein E-Piano ist zusätzlich mit einem Delay-Effekt belegt. Eigentlich hatte

man ihn gedrängt auch Stücke seines Namensvetters Robert Schumann zu spielen, doch das verbat

er sich ausdrücklich. Ceram Kehrwasser heißt eigentlich mit Vornamen Marc und DJ Mole mit

Vornamen Manuel. Ceram spielt flächige Sounds über einen alten Korg-Synthesizer ein und Manuel

alias Mole bedient eine Groovebox und sorgt für die Diashow. Ich kenne die beiden aus

gemeinsamen Feiertagen, von Technoparties, damals noch im alten Hochbunker in Rheinhausen-

Bergheim. Ordentlicher Applaus am Ende ihres Programms. Als Zugabe wird „Une barque sur

l´océan“ von Maurice Ravel als Ambient Dub Version gegeben und die drei verabschieden sich mit

geneigten Köpfen vor dem Diabild einer am Heckflügel brennenden Concorde. Elektro-Musik

erschallt über Laptop vom DJ-Pult und animiert das Publikum weiter zu tanzen.

„Ey Alter, alles klar?“ Marc, der das Pseudonym Ceram verwendet, hat sich von der Bühne begeben

und steht mit um den Armen gewickelten XLR-Kabeln vor mir. Die Kabel wirken auf mich wie die

schwarzen Gebetsriemen, die Tefillin, mit denen sich gläubige Juden bei ihren Morgengebeten zu

umwickeln pflegen. Marc alias Ceram trägt ein grauschwarz gestreiftes Kapuzenshirt mit gesticktem

Kompass auf der Brust, verwaschene Jeans und Chucks, bei denen am linken Fuß die Sohle

aufgeklappt ist, so dass die Socken hervorlugen. Mit seinem Wochenbart sieht er aus wie eine

Kreuzung aus Brad Pitt und Herrn Nielson aus der Villa Kunterbunt. „Jetzt gibbet erstma wat zu

schlucken. Komma mit.“ Er wirft die Kabel, die er trägt in einen kleinen Katzensarg, den er als

Equipment Koffer umfunktioniert hat und stiefelt mit mir zur Theke. „Zu

’nem feinen Absinth sachste bestimmt nich’ nein, wie ich dich kenn’“, schnauzt er und stellt sich

neben die Fontäne, die an der Ecke des Tresens steht.

Das bauchige Gefäß ist aus Glas, sein Sockel eine Messingskulptur und stellt eine nackte Venus im Art

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Deco-Stil der dreißiger Jahre mit erhobenen Armen da und ich muss unwillkürlich wieder an dich

denken. Der Glaskorpus darüber ist mit Eiswasser gefüllt, vier kleine, kupferne Hähne zum Ausgießen

befinden sich am Rand des Gefäßes. Ceram lässt sich zwei Gläser mit Absinth reichen. Geschickt legt

er einen perforierten Löffel mit einem Stück Würfelzucker über das mit der smaragdgrünen

Spirituose zu einem Viertel gefüllte Glas. Er stellt es unter einen der Hähne an der Fontäne, öffnet

diesen und schon tröpfelt das eiskalte Wasser über den Zucker hinein ins Glas. Der Zuckerwürfel löst

sich dabei und der Absinth opalisiert, trübt sich milchig ein in dem Moment, als er sich mit dem

Eiswasser vermengt. Ceram rührt den Rest Zucker mit dem Löffel unter, grinst mich diebisch an.

Dann überlässt er mir die Absinthfontäne für das bereitstehende zweite Glas. Ich wiederhole das

Ritual und wir prosten uns zu und halten dann Smalltalk. Er macht noch eine zweite Runde klar. Die

Bitterspirituose verfehlt ihre Wirkung nicht. Der in ihr enthaltene Wermut und Ysop deckt sich

perfekt mit dem Anis-Aroma und den rund 75 Volumenprozent Alkohol. Schon fallen mir die Drinks

im Rio Negro wieder ein und ich merke, dass ich schon ganz gut betrunken bin.

„Prost Alter, nächste Woche ist Fete auf’m House-Boot im Innenhafen. Dabei legen Mole und ich als

DJ-Team auf. Kannst ja auch ma’ rein schneien. Dann setz ich dich auffe Gästeliste.“ Er blitzt mich mit

rot geränderten Augen an und ehe ich noch antworten kann, klopft er mir auf die Schulter, trinkt

seine grüne Fee auf Ex und verschwindet in Richtung Bühne, wo er eine zierliche Japanerin mit

spitzen Brüsten, die keck unter ihrem hellblauem T-Shirt mit Fujiyama-Motiv aufragen, erspäht hat.

Sie trägt außerdem eine silberne Lackhose mit einem schmalen Krokogürtel und dazu lachsfarbene

Balettschuhe aus Satin. Schon becirct er die mandeläugige Raverin, deren platinblonder Bubikopf

durch den halben Laden leuchtet. Ich wende mich

wieder meinem Glas zu und nun taucht Dj Mole bei mir auf.

„Hi Manu“, sage ich, halb in mein Glas hinein. „Mensch Alter, wie

geht’s, hat dir der Gig gefallen?“, fragt er. „Ja, war schon cool. Vor allem in

Kombination mit der Diashow.“ Ich schlucke den Rest Absinth in meinem Glas

herunter. „Ja, Mann, die Visuals sind ganz schön trashig. Ging auch gut

ab vor der Bühne, trotz der ungewohnten Mischung aus Klassik und Ambient.“ „Ja,

besonders bei den etwas beatbetonten Stücken zum Ende hin“, antworte ich ihm mit leichtem Lallen.

„Du trinkst bestimmt einen mit“, spricht er ohne meine Antwort abzuwarten und keine zwei Minuten

später stehen die Drinks vor uns, diesmal Rheinfeuer on the Rocks, ein Schlehenschnaps irgendwo in

Duisburg hergestellt. „Lass ich immer mit Campari strecken, dann geht das Zeug noch

besser ab,“ sagt er und sein Zungenpiercing wird beim Ansetzen des Cocktailglases einen Moment

lang sichtbar. Ich seufze, bevor ich mein Glas trinke. „Sach’ mal, Manu. Du hast doch als

Mole schon oft woanders gespielt und aufgelegt. Warst du jemals Support im Temple in Rotterdam?“

„Klar kenn’ ich, hab’ ich voriges Jahr noch aufgelegt auf ’ner Party zusammen mit deutschen und

holländischen DJ’s. Ist aber soundmäßig nicht so mein Ding. Old School, viel Goa und Trance und

komplett verstrahlte Leute da. Voll der Fetisch. Die kamen auf mein Elektro-Ding erst gar nicht klar.

Erst ab 140 bpm wussten die Bescheid und ich hab die am Ende dann mit hochgepitchtem Teckhouse

zugeballert. War aber trotzdem ganz gut der Abend oder besser der Morgen, denn der Temple macht

ja immer erst gegen zwei Uhr auf. Ist echt heftig der Afterhour-Laden.“

„Und hat auch eine DJane-MeJane an dem Tag aufgelegt?“, frage ich ihn wie nebenbei, während ich

an meinem Drink sauge. „Also nicht, dass ich wüsste. Waren ja fast alles

DJ’s außer vielleicht eine oder zwei. Eine DJane nannte sich, glaub ich, Miss Agent Orange. Aber

MeJane weiß ich wirklich nicht. Warum?“ „Weil ich vielleicht morgen

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früh nach Rotterdam fahre und dann in den Club wollte.“

„Was, morgen früh schon? Na, dann viel Spaß, so wie du jetzt bereits aussiehst. Waren wohl nicht

deine ersten Drinks heute Abend. Aber du hast ja morgen noch die halbe Nacht Zeit dich auszuruhen,

denn im Temple ist vor drei, vier Uhr morgens eh nicht viel los.“

„Ausruhen? Daraus wird wohl nichts, denn ich fahre eventuell mit ’nem Rheinschiff mit bis

Rotterdam, wenn das klappt, als Leichtmatrose.“ „Mit ’nem Schiff? Wohl eher als ‚Voll’-

Matrose. Na, dann Ahoi! Und trinke besser noch Einen. Dann kriegste die schwere Fahrt erst gar

nicht richtig mit“, gibt er mir als nicht ganz ernst gemeinten Rat mit zum nächsten randvoll bestellten

Glas. „Aber wenn du in den Temple kommst,

dann frag’ doch mal nach MC-Vox, der ist Teilhaber von dem Schuppen, außerdem Resident und

kennt so ziemlich alle und jeden. Aber wie gesagt, der Laden ist stylish, da kommste mit Jeans und

Strickpulli nicht rein.“ Er öffnet den seitlichen Reißverschluss des Bags, in dem er seine Groovebox

transportiert und hält mir einen kleinen Glasflakon mit einer matt gelb-grün schimmernden

Flüssigkeit hin. „Das ist fluoreszierende Farbe. Stell’

das Fläschen drei Stunden vor irgendeine Glühbirne, die lädt dann das Neon auf. Damit leuchteste im

Dunkeln wie ein Marsmensch. Ein bischen Body-Painting und du bist am Start. Das Zeug ist der letzte

Schrei. Und keine Bange, die Farbe ist hautverträglich.“ Ich bedanke mich bei Manuel

für die Hilfe, schütte das zweite Glas Likör hinunter, spucke die Reste der Eiswürfel zurück ins Glas

und will mich auf den Weg machen. Ich merke wie der Alkohol in mir sein Unwesen treibt. Das immer

noch projizierte Diabild der brennenden Concorde schwimmt vor meinen Augen und ich stolpere

beim Loslaufen. Beinahe hätte ich mich an Manuels Ostfriesennerz festhalten müssen, den er als

Bühnen-Outfit über sein Hans Albers T-Shirt gezogen hat.

Ich krieg schon kaum mehr mit, wie er mir noch eine gelochte Plastikkarte mit Karabiner und langem

Halsband wie für Schlüsselanhänger mit den Worten zusteckt: ”Hier, das kann sich im Temple als

Türöffner erweisen.“ Als ich aus der Schaluppe

nach draußen trete, treffen mich die Sterne am Nachthimmel mit voller Wucht. Die Oscar Huber legt

vor meinen Augen ab und ich höre das Dröhnen ihrer Schiffsglocke in meinem Kopf. Als sie vom Kai

ablegt und sich mit Hilfe ihrer Schaufelräder in Bewegung Richtung Hafenmund setzt, löst sich eine

schemenhafte Gestalt von der Schwärze des Schiffes in der Nacht. Du stehst an Bord mit offenem

schwarzem Haar, durch das der qualmende Ruß aus den beiden Schiffsschornsteinen weht. Leicht

winkst du mir und das schrille Pfeifen der Maschinenkessel scheint wie ein Sirenengesang aus

deinem Mund zu kommen. Es hallt hinter meinen geschlossenen Augen wider und steigert sich zu

einem unerträglichem Wehgeschrei aus dem metallischen, schwarzen Bauch des auf dem

nächtlichen Fluß mit Volldampf stampfenden Schiffes.

Ich reiße die Augen auf. Das Kreischen der Banshee an Bord surrt immer noch wie ein China Gong in

meinen Ohren. Jetzt erst bemerke ich, dass es der Klingelton meines Handys ist. In der ersten

Orientierungslosigkeit fällt es mir prompt von der Nachtkonsole auf den Boden. Ich hebe es

irgendwie auf und halte es an mein Ohr. Es ist Viertel nach sechs am Morgen und mein Kater ist

unbeschreiblich. „Hallo, wer ist da?“, frage ich mit einem Geschmack wie Batteriesäure im Mund. Es

ist der Kapitän der Patience. Sein Matrose sei tatsächlich nicht mehr erschienen. Er gebe mir eine

halbe Stunde Zeit zum Vinckeufer gegenüber Duisport zu kommen, denn in einer Stunde lege er ab.

Meine Heuer sei die Kost und Logis. Ich sage ihm, dass ich mich beeile, bedanke mich nochmal und

lege auf. Alles dreht sich. Ich taste nach einem Lichtschalter und der gleißende Wolframfaden in der

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aufleuchtenden Glühbirne über meinem Bett stachelt den Kopfschmerz doppelt an. Kleine Blitze

tanzen über meine gereizte Netzhaut wie die Funken einer brennenden Wunderkerze. Ich schaffe es

bis zum Waschbecken, überwinde den Brechreiz, trinke drei Handvoll Wasser aus dem Hahn und

beginne mit meiner Katzenwäsche.

Etwa eine Viertelstunde später klingel ich angezogen und leidlich reisefähig unten bei der Gastwirtin.

Sie ist bereits wach und kocht in einem blauen Morgenmantel für sich und ihren Mann, einem

korpulenten, gorillaähnlichen Glatzkopf von annähernd siebzig Jahren mit silbernem Schimanski-

Schnurbart in der Küche den Morgenkaffee. Ich grüße beide mit rauher, belegter Stimme.

„Morjen“, sagt der Silberrücken und nippt unbeeindruckt am Kaffee, den ihm seine Frau hinstellte.

„Guten Morgen. Et is’ wohl etwas später geworden bei Ihnen, heut’ nacht, wie mein Mann mir schon

gesacht hat“, begrüßt sie mich und ihre blauen Augen blitzen.

„Abba hauptsach’, et klappt mit Ihrer Reise. Dat freut mich nämlich für Sie. Ich habe Ihnen bereits

vorsorglich wat zu Essen zusammengestellt und in den Kühlschrank getan.“ Sie reicht mir ein

Lunchpaket mit Soleiern, selbst gemachtem Fleischsalat, Aufbackbrötchen und Frikadellen.

„Die Frikos sind mit Bärlauch aus meinem Garten. Sie werden bestimmt Hunger kriegen an Bord,

sobald Se wieder essen können.“ Sie zwinkert mich wissend an.

Ich bedanke mich herzlich und bin reichlich beschämt über meinen nächtlichen Auftritt mit halbem

Filmriss aber ihrem mütterlichen Gesichtsausdruck entnehme ich, dass sie derartige Szenen hier am

Hafen wohl oder übel gewöhnt ist. Sie schließt mir die Tür auf und ich rücke mir meine Mütze

zurecht. Der Morgen dämmert bereits nebelig herauf. Der Wind in der Nacht hat viele Blüten der

Zierkirsche herunter geweht und der Asphalt ist mit ihren cremefarbenen, teils blutroten Blüten

besprenkelt. „Viel Glück an Bord und Schiff ahoi!“, ruft sie mir nach, während ich ihr winke und beim

Laufen zwei Aspirin trocken runter schlucke.