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Erbrecht

Ein nachhaltiges Pflichtteilsrecht für UnternehmenLiquidität versus verantwortliche Teilhabe

SUSANNE KALSS / BARBARA DAUNER-LIEB*

Unternehmensrecht und Erbrecht sind sowohl in Österreich1 als auch in Deutschland2 schlecht aufeinan-der abgestimmt. Das Erbrecht behandelt unternehmerisches Vermögen nicht anders als Grundstücke,Schmuck oder Geld und hat nur den Ausgleich zwischen dem Erblasser, seinen nächsten Angehörigen undden testamentarischen Erben im Blick. Die Besonderheiten des Unternehmens, insb seine Dynamik unddas Vorhandensein weiterer Stakeholder (Mitgesellschafter, Arbeitnehmer, Gläubiger), werden vom Erb-recht nicht berücksichtigt. Die in beiden Rechtsordnungen vorgesehene Möglichkeit einer Stundung desPflichtteilsanspruchs im Kontext der Sicherung von Unternehmen im Zuge der Unternehmensnachfolgereicht zur Bewältigung der rechtlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Unternehmensnach-folge nicht aus.3 Dementsprechend groß ist die Bedeutung vorsorgender Gestaltung.

*123I. Problemstellung in Österreich und Deutschland

Als Ausgangspunkt gilt in Österreich wie in Deutschland dieTestierfreiheit des Erblassers als „Verlängerung“ seiner Eigen-tümerstellung über den Tod hinaus. Die Testierfreiheit wirdaber begrenzt durch den gesetzlichen Teilhabeanspruchnächster Angehöriger, der in Deutschland sogar verfassungs-rechtlichen Schutz genießt.4 Damit ist in beiden Ländern dasPflichtteilsrecht für die Gestaltung der Nachfolge in unter-nehmerisches Vermögen die zentrale rechtliche Rahmenbe-dingung.

Der Pflichtteilsanspruch ist in Österreich wie in Deutsch-land grundsätzlich auf Barabfindung gerichtet. Bei genaue-rem Vergleich der beiden Systeme der Regelung des Pflicht-teils zeigen sich jedoch erhebliche Unterschiede: In Öster-reich ist – insb seit dem ErbRÄG 20155 – im Zusammenspielalter und neuer Instrumente der Spielraum für eine Gestal-tung der Unternehmensnachfolge mit dem Ziel der Erhaltungvon Familienunternehmen in der Familie deutlich größer,ohne dass die Interessen der Pflichtteilsberechtigten unange-

messen beschnitten würden. „Liquidität versus Wertteilhabe“,so lässt sich der Unterschied auf eine vereinfachende Kurzfor-mel bringen: Während nach derzeit geltendem deutschemRecht das Barabfindungsprinzip strikt durchgehalten unddem Pflichtteilsberechtigten grundsätzlich bei jeder denkba-ren Gestaltung ein sofort fälliger Geldanspruch zugestandenwird, lässt das österreichische Recht auch eine Deckung desPflichtteilsanspruchs mit werthaltigem Vermögen zu, sodassZerschlagung des Unternehmens und Liquiditätsabfluss ver-mieden werden können.

Der folgende Beitrag will neben einer genauen Ausleuch-tung der durch das österreichische Recht eröffneten Optionenunternehmerischer Nachfolgegestaltung zeigen, dass das ös-terreichische Modell Anlass bietet, das deutsche Pflichtteils-recht iS einer stärkeren Berücksichtigung der unternehmeri-schen und unternehmensrechtlichen Herausforderungen zuüberdenken und weiterzuentwickeln.6 Die Überlegungen be-ruhen auf der Prämisse, dass eine Erhaltung von familienun-ternehmerischem Vermögen in Familienhand ein politischwünschenswertes Ziel ist, weil sich dies positiv auf das ein-zelne Unternehmen und auch die Volkswirtschaft auswirkenkann, da eine solche Kontinuität tendenziell sowohl Nachhal-tigkeit als auch Innovation fördert.7 Nach einführendenÜberlegungen zu den Besonderheiten unternehmerischenVermögens und zur teleologischen Legitimation und Wir-kung des geltenden Pflichtteilsrechts8 werden die wesentli-chen Gestaltungselemente in Deutschland und in Österreicheinander gegenübergestellt und analysiert.9 Auf dieserGrundlage wird der Versuch gewagt, das Pflichtteilsrecht imLichte der unternehmerischen Herausforderungen neu zuüberdenken.10

* Univ.-Prof. Dr. Susanne Kalss, LL.M. (Florenz) ist Vorständin des Instituts fürUnternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien. Prof. Dr. Dr. h.c. BarbaraDauner-Lieb ist Direktorin des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht und desInstituts für Gesellschaftsrecht an der Universität zu Köln. Der Beitrag ist einErgebnis des vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichenForschung (FWF) und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geför-derten Forschungsprojekts „Familiäre Vermögensplanung“.

1 Kalss, Unternehmensnachfolge im Licht des künftigen Erbrechts, in Deixler-Hüb-ner/Schauer, Erbrecht NEU (2015) 95; Schauer in Gruber/Kalss/Müller/Schauer,Erbrecht und Vermögensnachfolge2 (2018) § 31 Rz 3; Zollner, Aufgriffsrechte in derGmbH und Pflichtteilsrecht, JEV 2014, 6.

2 Dauner-Lieb, Unternehmen in Sondervermögen (1998); aus der erbrechtlichen Per-spektive Dauner-Lieb, Das Pflichtteilsrecht – Ketzerische Fragen an ein altehrwür-diges Institut, FF 2000, 110; dies, Bedarf es eine Reform des Pflichtteilsrechts?DNotZ 2001, 460; kurz und instruktiv K. Schmidt, Pflichtteil und Unternehmens-nachfolge, in Röthel, Reformfragen des Pflichtteilsrechts (2007) 37; grundlegendauch Oechsler, Pflichtteil und Unternehmensnachfolge von Todes wegen, AcP 200(2000), 603.

3 Explizit ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 25; Schauer, Pflichtteilsrecht einschließlichGestaltung der Pflichtteilsdeckung, in Deixler-Hübner/Schauer, Erbrecht NEU(2015) 55 (70); Zollner, JEV 2014, 6 f. § 2331a BGB gilt als wenig effizient und kom-pliziert; zu den Einzelheiten Weidlich in Palandt, BGB77 (2018) § 2331a Rz 2 ff.

4 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua, JZ 2005, 1001 (Otte).5 Erbrechts-Änderungsgesetz 2015, BGBl I 2015/87.

6 Interessante Vorschläge de lege ferenda schon bei K. Schmidt, Pflichtteil, 37 ff.7 In diese Richtung auch K. Schmidt, Pflichtteil, 37 f.8 Siehe Pkt II.9 Siehe Pkt III.10 Siehe Pkt IV.

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II. Grundlagen

1. Die Besonderheiten des unternehmerischen Vermögens

1.1. Ungewissheit: Volatilität und Risikoimmanenz

Anders als statische Vermögensgegenstände (wie Grundstü-cke oder Gemälde), die das Erbrecht ganz überwiegend imBlick hat, ist ein Unternehmen eine dynamische Organisati-onseinheit, die sich ständig verändert und nach dem Erbfallauch nicht eine Weile „auf Eis gelegt“ werden kann, bis derNachlass geordnet ist. Der Wert unternehmerischen Vermö-gens ist volatil, dh, dass sich der Wert sehr leicht und sehrrasch ändern kann.11 Unternehmerisches Vermögen ist so-wohl von Ungewissheit als auch von Risiko geprägt.12 Vorstell-bar ist etwa, dass sich das Marktumfeld durch den Verlusteines Abnehmermarktes (etwa wegen einer politischen Inter-vention [Sanktion] oder wegen der Findigkeit eines anderenUnternehmers) völlig ändert. Der Wert des Unternehmenshängt nicht nur von externen Marktumständen ab, sondernauch ganz entscheidend von der persönlichen Management-leistung des Unternehmers sowie des Eigentümers.13

Unternehmerisches Vermögen unterscheidet sich von an-deren Nachlassbestandteilen aber auch dadurch, dass es nichteinfach geteilt werden kann. Vielfach ist ein Unternehmen, dasgeteilt wird, weniger wert als das zuvor bestehende Ganze.14

Während sich ein Geldbetrag oder Aktien leicht auf mehrereErben verteilen lassen, ist die Teilung bei unternehmerischemVermögen deutlich schwieriger. Typischerweise macht ge-rade die Gesamtheit eines Unternehmens einen wesentlichenTeil seines Werts aus. Zwar können Teilungen und Spaltungenauch Wertsteigerungen fördern, sie sind aber nicht die typi-sche Folge einer Teilung.15 Ein Verkauf des Unternehmens alsGanzes mag möglich sein, bedeutet aber, dass das Ziel einerErhaltung des Familienunternehmens in der Familie verfehltwird.

1.2. Stakeholder

Das Erbrecht hat nur den Erblasser in seinem Verhältnis zuErben und Pflichtteilsberechtigten im Blick. Das Unterneh-men wird aber auch durch weitere Stakeholder maßgeblichgeprägt:16 Neben den Eigentümern wirken weitere Interessen-träger auf das Unternehmen ein. Diese Interessenträger kom-men aus dem Kreis der Eigentümer, der Familie und des Un-ternehmens. Die Nachkommen der Gesellschafter sindebenso zu berücksichtigen wie Ehepartner und Schwieger-

kinder. Aus dem Bereich des Unternehmens sind die Ge-schäftsführer und sonstigen Organträger sowie die Arbeit-nehmer, die ständigen Vertragspartner (wie die Bank, Liefe-ranten und Berater rund um das Unternehmen) zu nennen.17

Die Interessen der Genannten können parallel mit jenen desEigentümers laufen, sie können sich aber auch gegenläufig ge-stalten. Allein unter den Eigentümern können völlig unter-schiedliche Interessen bestehen, nämlich etwa zwischenFunktionsträgern und schlichten Dividendenempfängern.Während eine Gruppe dauerhaft eine sinnstiftende – und be-zahlte – Arbeit ausübt, liegt das Interesse der nicht im Unter-nehmen beschäftigten und nur einmal jährlich in Kontakttretenden Gesellschafter in einer möglichst hohen Ausschüt-tung und in der Sicherung der Dispositionsfähigkeit.18

1.3. Wirtschaftlicher Nutzen und Macht

Eigentum vereint Macht und Geld. Bei unternehmerischemVermögen tritt diese Teilung in der Verwaltungsteilhabe undder Nutzungsteilhabe am Eigentum hervor.19 Eigentum aneinem Unternehmen vermittelt nicht nur Vermögen, sondernauch Funktionen und damit Herrschafts- und Einfluss-rechte.20 Wirtschaftlicher Nutzen und Einflussrechte könnenund müssen zur analytischen Betrachtung getrennt werden.Sie können von verschiedenen Personen ausgeübt werdenund können im Rahmen der erbrechtlichen Nachfolge in dervorweggenommenen Erbfolge oder im Rahmen von famili-enbezogenen Umgestaltungen auch getrennt übertragen undzugeordnet werden. Da das Erbrecht nur auf statische Gegen-stände zugeschnitten ist, hat es nur den wirtschaftlichen Nut-zen von Eigentum im Blick, blendet aber die Frage der Über-tragung von Einfluss und Funktionen bei unternehmeri-schem Vermögen völlig aus. Die Machtfrage spielt daher beider vorsorgenden Gestaltung eine zentrale Rolle. Da das Erb-recht die verschiedenen Aspekte des Eigentums nicht thema-tisiert, sind Vermögens- und Herrschaftsrechte auch in erb-rechtlichen Konstellationen trennbar21 und gesondert über-tragbar. Das Erbrecht verhindert weder eine Trennung vonHerrschafts- und Vermögensrechten noch deren klare Zuord-nung.22

Diese Erkenntnis ist ein Schlüssel zur Gestaltung dererbrechtlichen Nachfolge im Unternehmen und verdeut-licht auch die Notwendigkeit, dauerhaft die Mehrheit vonEigentümern und die notwendige Einflusskonzentration so-wie effiziente Unternehmensführung in Einklang zu brin-gen. Ein Unternehmen verlangt die klare Ordnung derunterschiedlichen Eigentumskomponenten für verschie-dene Personen und Interessenträger, zugleich die Konzen-tration von Einfluss, um eine effiziente Unternehmensfüh-rung zu gewährleisten. Sie spielt auch für die Deckung derPflichtteilsansprüche eine Rolle. Der zweite Schlüssel zueiner gelungenen Nachfolgeplanung ist das Gespür für per-

11 Dauner-Lieb, Unternehmen, 29 f; Kalss, Unternehmensnachfolge, 100; dies, Rechts-formalternativen in Familiengesellschaften, in Vogt/Fleischer/Kalss, Recht der Fami-liengesellschaften (2017) 1 (9).

12 Schwenker, Denken im Großformat, in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie –Der Ungewissheit offensiv begegnen (2017) 19; grundsätzlich zum rechtlichenUmgang mit Ungewissheit Dauner-Lieb, Nicht zu fassen, in Schwenker/Dauner-Lieb, Gute Strategie (2017) 125.

13 Fleischer in Fleischer/Hüttemann, Rechtshandbuch Unternehmensbewertung(2015) § 22 Rz 32; Kalss, Rechtsformalternativen, 9; dies, Unternehmensnachfolge,100.

14 Implizit OGH 22.3.2018, 2 Ob 98/17a, GesRZ 2018, 191 (Klampfl), Pkt B.4.1.b;Schauer in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 33 Rz 7; ders, Ist das Pflicht-teilsrecht noch zeitgemäß? (Teil I), NZ 2001, 70; B. Jud, Reformbedarf im Erbrecht,in Fischer-Czermak/Hopf/Kathrein/Schauer, ABGB 2011 (2008) 241 (249 f); Krejci,Unternehmensnachfolge und Pflichtteilsrecht (2006) 1; Kalss, Rechtsformalterna-tiven, 9.

15 Kalss, Unternehmensnachfolge, 100.16 Dazu plastisch K. Schmidt, Pflichtteil, 40 f.

17 Kalss/Probst, Familienunternehmen (2013) Rz 9/6 ff.18 Kalss, Rechtsformalternativen, 10.19 Dutta, Warum Erbrecht? (2014) 34; ders, Warum Erbrecht? – in a nutshell, in Weite-

meyer/Hüttemann/Rawert/K. Schmidt, Non Profit Law Yearbook 2014/2015 (2015)79 (80 f); Kalss, Rechtsformalternativen, 10.

20 So Kirchdörfer in seinem vor der Plattform für Familienunternehmen der Industri-ellenvereinigung am 11.6.2018 in Wien gehaltenen Vortrag; Kalss, Erbrecht undNachfolge bei Unternehmen, ecolex 2015, 271; dies, Rechtsformalternativen, 10.

21 Dutta, Erbrecht, 34.22 Kalss, Rechtsformalternativen, 11.

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sönliche Befindlichkeiten und emotionale Bindungen, etwadurch die Zuordnung einer repräsentativen Rolle im Unter-nehmen, die Anerkennung einer Eitelkeit und die Gewäh-rung von Wertschätzung; all dies kostet nichts, kann aberzugleich das Gelingen des Übergangs unverhältnismäßigstark fördern.

2. Rechtfertigung und Wirkungen des Pflichtteilsrechts

2.1. Kein klares teleologisches Konzept

Nach österreichischem wie nach deutschem Recht garantiertdas Pflichtteilsrecht den nächsten Angehörigen, beschränktauf die Nachkommen in direkter Linie und die Ehepartner,eine Nachlassteilhabe unabhängig von einer letztwilligen Ver-fügung des Erblassers. Seine Testierfreiheit wird also durchdas Pflichtteilsrecht beschränkt. Das Pflichtteilsrecht vermit-telt – anders als die Erbenstellung – keine dingliche Beteili-gung am Nachlass, sondern einen Anspruch auf Barabfin-dung gegen den oder die Erben. Dieser Anspruch ist unab-hängig von einem konkreten Versorgungsbedarf, von derkonkreten Vermögensituation des Berechtigten und von derkonkreten Beitragsleistung der begünstigten Angehörigen.23

Die rechtsethische Begründung des geltenden Pflicht-teilsrechts war seit jeher Gegenstand zahlreicher Diskussi-onen. Die wesentlichen, durchaus heterogenen Argumentepro und kontra wurden auch spätestens bei Inkrafttretendes BGB ausführlich kontrovers diskutiert, sie werden seit-dem nur noch gefärbt variiert.24 Zentrale Gesichtspunkte indem nun jahrzehntelang andauernden Diskurs sind nebender ganz im Vordergrund stehenden Familiensolidaritätetwa die Versorgung bedürftiger Hinterbliebener (obwohldas Pflichtteilsrecht gerade keine Bedürftigkeit voraus-setzt), Selbstbindung des Erblassers, Schutz vor den Gefah-ren eines unverantwortlichen Gebrauchs unbeschränkterTestierfreiheit, Generationenvertrag, Vermeidung von Ver-mögenskonzentration oder Rechtsbewusstsein der Bevöl-kerung.25 Ein klares und konsistentes teleologisches Kon-zept gab und gibt es nicht. Dennoch besteht in Deutschlandwie in Österreich eine große Zurückhaltung gegenüberkonzeptionellen Grundsatzdiskussionen. Der Forderungnach einer radikalen Auseinandersetzung mit den Wider-sprüchen des Systems und nach einer Enttabuisierung tra-ditioneller Strukturen26 hat in Deutschland das BVerfGeinen Riegel vorgeschoben.27 Das Pflichtteilsrecht nach ös-

terreichischem Recht hat zwar im ErbRÄG 2015 eine derweitreichendsten Änderungen erfahren,28 dennoch äußertsich der Gesetzgeber nur sehr vage zum Pflichtteilsrecht. Ervermeidet eine Neubewertung der Zwecke der gesetzlichenRegelung.29 Sicherlich auch aus Scheu vor einer Beschädi-gung tief verwurzelter Traditionen begnügt man sich inDeutschland wie in Österreich derzeit der Sache nach mitder Formel, dass das geltende Pflichtteilsrecht eine akzep-table Kompromisslösung zwischen dem gesetzlichen Fami-lienerbrecht einerseits und der völligen Testierfreiheit desErblassers andererseits sei.

2.2. Die traditionelle Begründung: Familiensolidarität und Schutz der Familie

Die traditionelle und ganz herrschende Argumentationsliniezur Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts legt den Schwer-punkt auf die Familiensolidarität und den Schutz der Fami-lie.30 In diesem Kontext werden standardmäßig die Versor-gungsfunktion, die Abgeltungsfunktion für materielle undideelle Beiträge von Angehörigen beim Vermögensaufbauund beim Vermögenserhalt, die familienschützende Funk-tion, die vermögensverteilende Funktion, die Ausgleichs-funktion bei innerfamiliärer Ungleichbehandlung undschließlich die Rechtsfriedensfunktion genannt.31 Damit wer-den die Rechtfertigungen (wie Bedarf, Wertausgleich, Ge-fühlsbande und Entlastung der Allgemeinheit) miterfasst.32

Es geht dabei durchaus um den Schutz eines bestimmten Fa-milienbildes.33 Repräsentativ für diesen Ansatz ist die Argu-mentationslinie des deutschen BVerfG zur verfassungsrecht-lichen Gewährleistung des Pflichtteilsanspruchs: Das Pflicht-teilsrecht knüpfe an die familienrechtlichen Beziehungenzwischen dem Erblasser und seinen Kindern an und über-trage diese regelmäßig durch Abstammung begründete undzumeist durch familiäres Zusammenleben untermauerte So-lidarität zwischen den Generationen in den Bereich des Erb-rechts. Der Erwerb und die Erhaltung von Vermögenswertenberuhe in der Familiengemeinschaft typischerweise auf ide-ellen oder wirtschaftlichen Beiträgen sowohl des Erblassersals auch seiner Kinder (Erziehung, finanzielle Unterstützung,Mitarbeit, Konsumverhalten, Pflegeleistungen). Hieran an-knüpfend habe das Pflichtteilsrecht die Funktion, die Fortset-zung des ideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs vonVermögen und Familie – unabhängig von einem konkretenBedarf des Kindes – über den Tod des Vermögensinhabershinaus zu ermöglichen.3423 Klampfl, Die pflichtteilsrechtliche Anrechnung im Erbrecht, in Bertl/Eberhartinger/

Egger/Hirschler/Kalss/Lang/Nowotny/Riegler/Rust/Schuch/Staringer, Wertmaßstäbe(2018) 114 (116); Rabl, Der Kampf um das Pflichtteilsrecht, NZ 2014, 217 (220).Eine bedarfsorientierte Grundlage hat das englische Recht. Es kennt seit 1938 einebesondere Form des Pflichtteilsanspruchs; vormals Inheritance (Family Provision)Act 1938; nunmehr geregelt im Inheritance (Provision for Family and Dependants)Act 1975, online abrufbar unter https://www.legislation.gov.uk/ukpga/1975/63; vglOdersky, Großbritannien: England und Wales, in Süß, Erbrecht in Europa3 (2015)585 (603 ff); Cooke, Testamentary Freedom: A Study of Choice and Obligation inEngland und Wales, in R. Zimmermann, Freedom of Testation (2012) 125 (129 ff).Er soll die finanzielle Versorgung sicherstellen oder den Unterhaltsbedarf decken.Über den Bedarf und dessen Höhe hat das Gericht mit einem weiten Ermessens-spielraum zu entscheiden; vgl Trulsen, Pflichtteilsrecht und englische family provi-sion im Vergleich (2004) 21; Odersky, Großbritannien, 603 ff.

24 Im Einzelnen Dauner-Lieb, FF 2000, 110 ff.25 Im Einzelnen Dauner-Lieb, FF 2000, 110 ff; aktuell ausführlich auch mit Blick auf

die österreichische Rechtslage Ch. M. König, Die Stiftung als Instrument der Nach-lassplanung (2018), eine Dissertation, die ebenfalls im Rahmen des vom FWF undvon der DFG geförderten Forschungsprojekts „Familiäre Vermögensplanung“ ent-standen ist; grundsätzlich und kritisch zum deutschen Pflichtteilsrecht Kaulbach,Gestaltungsfreiheit im Erbrecht (2012).

26 Siehe nur Dauner-Lieb, FF 2000, 110 ff; für Österreich Schauer, NZ 2001, 76 f; Rabl,NZ 2014, 218; ders, Erbrechtsreform 2015 – Pflichtteilsrecht neu, NZ 2015, 321(323); Klampfl, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 116.

27 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.28 Schauer, Rechtsfragen des Generationenübergangs in der Familiengesellschaft, in

Vogt/Fleischer/Kalss, Recht der Familiengesellschaften (2017) 241 (244).29 Kathrein, Das neue Erbrecht, EF-Z 2016, 4 (13); Pesendorfer, Hintergründe und

Ziele der Reform, in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts(2016) 3 (6); Schauer, Das neue Erbrecht, ÖJZ 2017, 53 (55); F. Binder/Giller in Gru-ber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 3 FN 9; Zöchling-Jud, Die Neuregelungdes Pflichtteilsrechts im ErbRÄG 2015, in Rabl/Zöchling-Jud, Das neue Erbrecht(2015) 71 (72).

30 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 4.31 Genauso F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 4;

Schauer, NZ 2001, 73 ff; Scheuba in 17. ÖJT II/2 (2010) 110.32 So F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 7.33 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 7.34 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.

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2.3. Liquidation des Familienvermögens zugunsten einzelner Familienangehöriger

Die Betonung der Familie darf nicht den Blick dafür verstel-len, dass es dem Pflichtteilsrecht nicht um die Familie und dasFamilienvermögen als Ganzes geht, sondern um die nächstenAngehörigen, vor allem die Kinder, als Individuen. Erbrecht,insb Pflichtteilsrecht, ist Teilungsrecht.35 Das geltende, aufdem Barabfindungsprinzip beruhende Pflichtteilsrecht führtzur Teilung des Vermögens auf die Pflichtteilsberechtigten36

und zielt eben gerade nicht auf Erhaltung des Familienvermö-gens in der Familie in seinem dinglichen Bestand ab, sondernauf Verteilung seines Werts unter den nächsten Angehörigen.Daher ist auch das weitverbreitete Schlagwort von der „Erhal-tung des Familienvermögens“ von vornherein missverständ-lich. Mit der viel beschworenen „erbrechtlichen Familienge-bundenheit des Vermögens“ ist immer nur eine Bindung desVermögenswerts in der Familie gemeint. Innerhalb der Fami-lie zielt das geltende Pflichtteilsrecht auf Verteilungsgerech-tigkeit, notfalls um den Preis der Liquidation des Familien-vermögens.37 Hier liegt die Quelle aller juristischen Problemeder Erhaltung von unternehmerischem Vermögen in der Fa-milie38 und die hohe Innovationskraft des österreichischenModells.

3. Pflichtteilsrecht in Deutschland und Österreich: In a Nutshell

3.1. Kein Sonderstatus unternehmerischen Vermögens

Das in Österreich wie in Deutschland geltende Barabfin-dungsprinzip nimmt im Ausgangspunkt zugunsten dernächsten Familienangehörigen als Individuen eine Liquida-tion des Familienvermögens in Kauf. Die Wünsche des Erb-lassers nach Erhaltung seines Vermögens in seinem gegen-ständlichen Bestand werden durch das Pflichtteilsrecht be-grenzt und zwar auch dann, wenn er dieses Vermögen der Fa-milie nicht entziehen, sondern es gerade in der Familie undfür die Familie erhalten will. Dieser Vorrang des Pflichtteils-anspruchs des einzelnen Familienmitglieds gilt auch für Fa-milienunternehmen, sie genießen keinen Sonderstatus. Diedeutsche Verfassungsrechtsprechung zur Erbschaftssteuerhat dementsprechend auch nicht die Interessen der Familieoder Vorzüge von Familienunternehmen im Blick, sondernstützt ihre Argumentation fast ausschließlich auf den Ge-sichtspunkt der Erhaltung von Arbeitsplätzen.39 Bemerkens-wert ist, dass bei der historischen Entscheidung des deutschenGesetzgebers gegen ein dinglich wirkendes Noterbrecht undfür einen bloßen Wertersatzanspruch das Interesse des Erb-lassers an einer Erhaltung des Familienvermögens durchauseine Rolle gespielt hat: Würde der übergangene Angehörigekraft Gesetzes echter Miterbe, so wurde argumentiert, stünde

ihm auch das Recht auf Auseinandersetzung des Nachlasseszu (§ 2042 BGB); die einheitliche Vererbung komplexer Ver-mögensgegenstände (wie eines Unternehmens) dürfe abernicht am Auseinandersetzungsanspruch naher Angehörigerscheitern.40 Dieser Gedanke, der immerhin eine gewisseWertschätzung des historischen Gesetzgebers für Familien-unternehmen indiziert, spielt aber in der deutschen erbrecht-lichen Diskussion derzeit keine nennenswerte Rolle.

In Österreich wurde in der Literatur schon vor und auchnach dem ErbRÄG 2015 ein durch das Anerbenrecht41 inspi-riertes besonderes Erbrecht für Unternehmen vorgeschlagenoder eingemahnt.42 Auch in der rechtspolitischen Diskussionrund um die Gesetzesnovelle wurden diese Fragen aufgewor-fen.43 Sie wurden letztlich nicht unmittelbar auf gewerblicheund industrielle Betriebe übertragen.44 Die Besonderheitendes Schutzes des Unternehmens werden überhaupt nur imStundungsrecht gem §§ 766 und 767 ABGB angesprochen.Die explizite generelle Bevorzugung von Unternehmen nachneuem Recht wurde in der Judikatur schon ausdrücklich ver-neint.45 Der Schutz vor einer Wertvernichtung des Unterneh-mens durch Vermögensverteilung sei auch nach neuem Rechtgerade keine Rechtfertigung für das Aushebeln des Pflicht-teilsrechts.46 Den rechtspolitischen Vorschlägen, den Unter-nehmenserhalt den Interessen der Pflichtteilsberechtigtenvoranzustellen, wurde gerade nicht unmittelbar nachgekom-men.47 Einen Sonderstatus für unternehmerisches Vermögengibt es somit auch im österreichischen Erbrecht nicht.

3.2. Deutschland: Ausschließlich Barabfindung

Vor diesem Hintergrund gibt es in Deutschland – wie gleichnoch im Einzelnen zu zeigen sein wird – de lege lata im Er-gebnis keinen tragfähigen Weg vorbei an der Barabfindungvon Pflichtteilsberechtigten. Die Pflichtteilsberechtigten ha-ben sofort einen Anspruch auf Liquidität in Höhe ihresPflichtteils. Familiäre Rücksicht oder Verantwortung werdenihnen nicht abverlangt. Will der Erblasser einen Anspruch desPflichtteilsberechtigten auf Barabfindung rechtssicher ver-meiden, muss ihm vor seinem Ableben der Abschluss einesErbvertrages mit Erbverzicht und Pflichtteilsverzicht gelin-gen. Eine vorsorgende Gestaltung der Nachfolge in unterneh-merisches Vermögen ist also in Deutschland auf Konsens zwi-

35 Kalss, Rechtsformalternativen, 12; Schauer, Rechtsprobleme der erbrechtlichenNachfolge bei Personenhandelsgesellschaften (1999) 399; ders in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 33 Rz 7; Zollner, JEV 2014, 6; Wiedemann, Zum Stand der Ver-erbungslehre in der Personengesellschaft, in FS Großfeld (1999) 1309 (1310).

36 Schauer, NZ 2001, 76 f; ders, Entwicklungsperspektiven des Erbrechts in der 23.Gesetzgebungsperiode, JEV 2007, 6 (12); Kalss, Unternehmensnachfolge, 96 f; dies,Rechtsformalternativen, 12.

37 Sehr deutlich zum Postulat der Verteilungsgerechtigkeit BVerfG 19.4.2005, 1 BvR1644/00 ua.

38 Sehr deutlich K. Schmidt, Pflichtteil, 37 ff.39 BVerfG 17.12.2014, 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136.

40 Ausführlich mwN zur historischen Quellenlage Oechsler, AcP 200 (2000), 611.Auch der Sonderregelung des § 2312 BGB für Landgüter lässt sich entnehmen, dassdie Erhaltung der Vermögensgesamtheit in der Familie dem historischen Gesetz-geber durchaus am Herzen lag.

41 Für Landwirtschaftsbetriebe sowie Land- und Forstwirtschaften sehen sowohl dasösterreichische als auch das deutsche Recht ein Sondererbrecht vor, das auf denErhalt des Betriebs, die Bevorzugung der Nachfolger durch eine qualifizierte Personund eine Ausrichtung des Pflichtteilsanspruchs am Ertrag des Betriebs zielt; dazuProbst in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 6 Rz 4 ff.

42 Krejci, Unternehmensnachfolge, 1 ff. Krejci leitete eine Arbeitsgruppe am LudwigBoltzmann Institut für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen, die es sich zum Zielsetzte, Lösungen zu erarbeiten, um den Fortbestand von Unternehmen im Erbfallzu sichern; vgl auch Probst in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 6 Rz 7; kritischzu solchen Vorschlägen Welser, Die Reform des österreichischen Erbrechts (2009)105; ders, Ein eigenes Pflichtteilsrecht für Unternehmer? Zum Gesetzesvorschlageiner Arbeitsgruppe, GesRZ 2008, 261.

43 Siehe dazu Probst, zitiert nach Kalss, Überlegungen zur Gestaltung der Unterneh-mensrechtsnachfolge im Zuge der laufenden Erbrechtsreform, NZ 2015, 50 (52).

44 Probst, zitiert nach Kalss, NZ 2015, 52.45 OGH 22.3.2018, 2 Ob 98/17a.46 OGH 5.6.2007, 10 Ob 45/07a, GesRZ 2007, 473 (N. Arnold); 22.3.2018, 2 Ob 98/17a,

Pkt B.4.1.b.47 Kathrein, Die Reform des österreichischen Erbrechts 2015, in Deixler-Hübner/

Schauer, Erbrecht NEU (2015) 1 (16 f).

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Erbrecht

schen dem Erblasser und den Abkömmlingen (und auch demEhepartner) angewiesen.

Dieser Status quo wird in den deutschen erbrechtlichen Dis-kussionen derzeit nicht grundsätzlich in Frage gestellt, weil – wiebereits mehrfach erwähnt – das BVerfG entschieden hat, dass ei-nerseits das deutsche Pflichtteilsrecht in seiner Beschränkungder Testierfreiheit des Erblassers verfassungsmäßig ist, dass aberandererseits eine unentziehbare und bedarfsunabhängige wirt-schaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers andessen Nachlass von Eigentumsgarantie und Familienschutzdes deutschen GG gewährleistet sei.48 De lege ferenda ist der Ge-staltungsspielraum des Gesetzgebers daher insoweit verfas-sungsrechtlich begrenzt, als dass er den Kindespflichtteil nichtabschaffen oder der Höhe nach wesentlich begrenzen und auchnicht an einen Bedürfnisvorbehalt knüpfen kann.49 Darüberhinausgehende Vorgaben macht das BVerfG allerdings nicht, seies auch nur, weil ihm Alternativen zum derzeitigen deutschenModell bisher gar nicht bewusst sind.

3.3. Innovative Ansätze in Österreich: Anderweitige Deckung

In Österreich wird zwar dem unternehmerischen Vermögenkein erbrechtlicher Sonderstatus zugebilligt. Mit dem ErbRÄG2015 wird aber zumindest zum Teil auf den Unternehmens-erhalt, wenn auch nicht auf den Schutz sonstiger beliebigerVermögensmassen gezielt.50 Insofern ist jedenfalls von einer –impliziten – punktuellen Neubewertung der vom Pflichtteils-recht verfolgten Zwecke und auch Gestaltungsmöglichkeitendurch das ErbRÄG 2015 auszugehen.51 Der Pflichtteil ist gem§ 761 ABGB zwar auch in Österreich grundsätzlich in Geld zuleisten. Er kann in der letztwilligen Verfügung aber – dies istder entscheidende Unterschied zur Rechtslage in Deutschland –auf beliebige andere Weise gedeckt werden als durch sofortigeBarabfindung. Das Pflichtteilsrecht nach österreichischemRecht ist daher als Wertanspruch mit Erblasserwahl ausgestal-tet.52 Es gewährleistet nicht Liquidität, sondern Wertteilhabe.

Anders als in Deutschland wird das Pflichtteilsrecht auchnicht verfassungsrechtlich, sondern nur einfachgesetzlich ab-gesichert. Es geht darum, ob die Beteiligten, nämlich der Erb-lasser und die Erben, durch die gesetzliche Gestaltung desPflichtteilsrechts einen unzulässigen Eingriff in ihr Grund-recht auf Eigentum erleiden53 und ob ein Erbrechtssystem,welches das Pflichtteilsrecht völlig beseitigen würde, verfas-sungsrechtlich zulässig ist. Auszugehen ist davon, dass Art 5StGG und Art 1 des 1. ZP zur EMRK als grundrechtlicher Ei-gentumsschutz auch den grundrechtlichen Erbrechtsschutzund Pflichtteilsschutz miterfassen.54 Der österreichischeVfGH hat sich bisher bloß mit Teilaspekten des Pflichtteils-

rechts beschäftigt, nämlich mit der Anerkennung des Sonder-rechts für bäuerliche Betriebe, des sog Anerbenrechts.55 Dieösterreichische Gerichtsbarkeit gewährt dem Gesetzgeber in-nerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken einen weitenrechtspolitischen Gestaltungsspielraum, um seine Vorstel-lungen und Anliegen umzusetzen.56 Die mangelnde verfas-sungsrechtliche Absicherung des einzelnen Pflichtteilsbe-rechtigten zeigt sich auch in einigen gesetzlichen Regelungen(wie der Möglichkeit der Schenkung an Dritte zwei Jahre vordem Tod gem § 785 ABGB oder der fristlosen und anrech-nungsfreien Schenkung an gemeinnützige Einrichtungengem § 784 ABGB).

Dies erlaubt die Schlussfolgerung, dass das deutscheBVerfG bisher fast ausschließlich den individuellen Schutzdes einzelnen Pflichtteilsberechtigten im Blick hat, währendder österreichische VfGH eher auf den Erblasser, dessen Ge-staltungs- und Testierfreiheit und zugleich auf die allgemeineGestaltung und auf das System des Pflichtteilsrechts zielt.

III. Gestaltungselemente im Einzelvergleich

1. Ausgangspunkt: Rechtstechnik der Abwicklung der Verlassenschaft

1.1. Deutschland: Von-selbst-Erwerb

Nach deutschem Recht gilt gem § 1922 BGB das Prinzip desVon-selbst-Erwerbs. Das Vermögen des Erblassers geht alsGanzes im Wege der Gesamtrechtsnachfolge ohne Weiteresauf den Erben über. Der Erbe erwirbt ohne weitere Schritteden Nachlass mit dinglicher Wirkung. Eine Annahme oderein sonstiger Akt sind nicht erforderlich. Der Erbe kannallerdings die Erbschaft innerhalb einer bestimmten Frist aus-schlagen. Wird die Erbschaft ausgeschlagen, so gilt gem§ 1953 BGB der Anfall an den Ausschlagenden als nicht erfolgt.

Sind mehrere Erben vorhanden, bilden sie gem § 2032BGB eine Erbengemeinschaft. Der Nachlass wird gemein-schaftliches Vermögen der Erben in Form eines Gesamthand-vermögens.57 Dies bedeutet, dass alle Nachlassbestandteile imGesamthandeigentum aller Erben stehen und nicht mit ding-licher Wirkung kraft letztwilliger Verfügung einzelnen Erbenzugewiesen werden können. Der Erblasser kann zwar gem§ 2048 BGB durch letztwillige Verfügungen Teilungsanord-nungen für die Auseinandersetzung treffen, diese haben aberwiederum keine dingliche Wirkung. Sie bewirken also keineSondererbfolge an einzelnen Nachlassgegenständen.58 Da derNachlass den Erben als Gesamthandvermögen gemeinschaft-lich zusteht, können die Erben gem § 2040 BGB auch nur ge-meinschaftlich über einen Nachlassgegenstand verfügen. Erstim Wege der Auseinandersetzung werden die einzelnen

48 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.49 Ch. M. König, Stiftung, Kap 4.50 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 25; F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer,

Erbrecht2, § 9 Rz 9.51 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 9; aA Welser,

Reform des österreichischen Erbrechts, 112.52 Kralik, Das Erbrecht3 (1983) 309; Schauer in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 14;

Klampfl, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 115 f.53 Hochhauser, Menschenrechtskonvention und Erbrecht, ÖJZ 2015, 1069 (1070);

F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 17.54 VfGH 9.12.2015, G 165/2015, VfSlg 20.032/2015; Schauer, NZ 2001, 72; Nueber,

Schiedsverfahren von Todes wegen, JEV 2013, 118; Scheuba, Grundrechte imRechtssystem – Ist das Pflichtteilsrecht noch zeitgemäß? AnwBl 2014, 44; F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 19; aA Rabl, NZ 2014, 218;ders, NZ 2015, 323; relativierend Hochhauser, ÖJZ 2015, 1071.

55 VfGH 9.12.2015, G 165/2015; ferner OGH 17.12.2008, 6 Ob 289/07d.56 VfGH 9.12.2015, G 165/2015; 13.12.2016, G 572/2015, VfSlg 20.130/2016; F. Binder/

Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 21; Hochhauser, ÖJZ 2015,1071 ff.

57 Dies führt zu erheblichen Problemen, wenn zum Vermögen des Erblassers ein ein-zelkaufmännisches Unternehmen gehört; dazu insb Dauner-Lieb, Unternehmen.

58 Siehe nur Weidlich in Palandt, BGB77, § 2048 Rz 4. Kraft höchstrichterlicher Rechts-fortbildung erfolgt die erbrechtliche Nachfolge in Personengesellschaftsanteileallerdings im Wege einer Sondererbfolge. Die nachfolgeberechtigten Miterbenerwerben die Beteiligung an der Gesellschaft nicht als Erbengemeinschaft und damitauch nicht in Gesamtinteressenbindung, da eine Erbengemeinschaft als Inhaberineiner Gesellschafterposition ungeeignet sei; siehe dazu nur den Überblick bei Weid-lich in Palandt, BGB77, § 1922 Rz 11 und 17 ff.

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Erbrecht

Nachlassgegenstände auf einzelne Erben oder Dritte übertra-gen. Jeder Miterbe kann gem § 2042 BGB (auch gegen denWillen der anderen Erben) jederzeit die Auseinandersetzungverlangen und gerichtlich durchsetzen. Die einzige Motiva-tion zur Einigung liegt in der Sorge vor einem Wertverlustdurch die Zwangsversteigerung zur Unzeit. Der Erblasserkann gem § 2044 BGB zwar durch letztwillige Verfügungeinen Ausschluss der Auseinandersetzung anordnen. Dies hataber wiederum keine dingliche Wirkung; der Erblasser kannauch nicht verhindern, dass sich alle Erben gemeinsam überdie Anordnung hinwegsetzen.59 Eine Abwehr von Pflichtteils-oder Pflichtteilsergänzungsansprüchen ist auf diesem Weggem § 2306 BGB ohnehin nicht möglich.

1.2. Österreich: Das Verlassenschaftsverfahren

Nach österreichischem Recht geht das Vermögen des Verstor-benen nicht unmittelbar auf die Erben über. Vielmehr unter-liegt der Erwerb durch die Erben einem gerichtlichen Verfah-ren und einer gerichtlichen Entscheidung, der sog Einantwor-tung. Erst mit der Einantwortung erwerben die BerechtigtenEigentum an den Gegenständen der Verlassenschaft.60 DieVerlassenschaft ist das rechtliche Instrument, das die Zeit-spanne zwischen dem Tod des Erblassers und der Einantwor-tung überbrückt.61 Der Vermögenstransfer setzt sich daheraus einem dreistufigen Prozess zusammen, nämlich dem Ab-leben des Erblassers, der Erbantrittserklärung der Erben unddem Einantwortungsbeschluss des Gerichts. Beim Tod desErblassers geht dessen Vermögen auf eine – temporär beste-hende – juristische Person, die Verlassenschaft, über. Mit derAbgabe der Erbantrittserklärung erhalten die Erben grund-sätzlich die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über dasVermögen unter gerichtlicher Aufsicht. Mit der Einantwor-tung geht schließlich das Vermögen auf die Erben über. DerErbschaftserwerb vollzieht sich immer nur aufgrund eines ge-richtlichen Aktes.62

Das österreichische Modell betont die hoheitliche Für-sorge für die an der Rechtsnachfolge Beteiligten und die Si-cherung der Verlassenschaft.63 Die Nachteile dieses unter demgerichtlichen Verfahrensschutz stehenden gestreckten Über-gangs des Vermögens vom Erblasser auf die Erben sind über-schaubar: ein möglicher Zeitverlust wegen Einhaltung be-stimmter Fristen sowie die Kosten, die mit der zwingendenEinbindung eines Notars als Gerichtskommissär verbundensind. Schließlich wird auch die Verwaltungstätigkeit über dasVermögen durch die Familie unterbrochen, da die Erben erstmit der Erbantrittserklärung von Gesetzes wegen die Verwal-tungs- und Verfügungsbefugnis darüber erlangen.64

Umgekehrt bietet die gerichtliche Einbettung beträcht-liche Vorteile. Die Durchführung eines Gerichtsverfahrensund die federführende Mitwirkung65 eines Notars als Ge-richtskommissär bieten ein hohes Maß an Rechtssicher-

heit66 und einen Schutz für alle Beteiligten. Somit wirdRechtssicherheit und Befriedung unter den am Erbgang Be-teiligten hergestellt.67 Der gesetzlich zuständige Notar hatdie Aufgabe, als neutrale Ansprechstation für alle Rechts-nachfolger tätig zu werden, hat Auskünfte über die Rechts-lage und das weitere Vorgehen zu geben und das Verfahrenvoranzubringen. Er hat die maßgeblichen letztwilligen Ver-fügungen ausfindig zu machen, sichert das Vermögen desVerstorbenen und hat vor allem auch bei Uneinigkeit derErben über die Vermögenszuordnung die Aufgabe, zwi-schen den Rechtsnachfolgern als Moderator und Mediatorzu wirken.68

Der Zeitverlust kann umgekehrt gerade auch als Zeitge-winn gesehen werden, um unter der gesetzlich vorgegebenenModeration des Gerichtskommissärs die Zuordnung zu ver-handeln und in einem Erbteilungsübereinkommen festzu-legen. Das Erbteilungsübereinkommen ist ein Rechtsgeschäft,das – bei Vereinbarung während des Verlassenschaftsverfah-rens – dazu führt, dass jeder Miterbe die ihm zustehende Sa-che als unmittelbare Rechtsfolge des Erbschaftserwerbs mitder Einantwortung erwirbt.69 Gerade der Zeitgewinn kanndazu führen, dass bestimmte Steuernachteile wegen einernunmehr vorzunehmenden Vermögenszuordnung nichtausgelöst werden oder dass der Übergang von Gesellschafts-anteilen auf bestimmte Personen verhindert wird und damitzugleich unerwünschte Mehrheitsverhältnisse sowie interneKontrollwechsel verhindert oder bestimmte Aufgriffsrechtein Syndikatsverträgen und sonstigen Regelwerken hintange-halten, Change-of-control-Klauseln nicht ausgelöst odersonstige marktrechtliche Folgen (etwa im Übernahmerecht,im Mietrecht oder im Grundverkehrsrecht) nicht schlagendwerden. Ab der Abgabe einer Erbantrittserklärung könnendie gewöhnlichen Unternehmensgeschäfte weitergeführtwerden.

1.3. Würdigung

Das Verlassenschaftsverfahren ist in rechtsvergleichenderSicht ein Solitär.70 Es kann aber als – durchaus positive –Atempause gesehen werden, die den Erben – bei Versäumnisdes Erblassers – die zweite Chance zur eigenständigen Pla-nung und zu einer optimalen Teilung und Zuordnung derVermögensnachfolge gibt. Bei Einigkeit können Pflichtteils-ansprüche durch Übergabe von Gegenständen gedeckt wer-den. Der Pflichtteilsanspruch entsteht und wird gem § 765Abs 1 ABGB zum Zeitpunkt des Ablebens des Erblassers fäl-lig. Auch wenn dieser zwingend erst ein Jahr nach dem Able-ben geltend gemacht werden kann (§ 765 Abs 2 ABGB), kannab diesem Zeitpunkt bereits freiwillig und schuldbefreiendgeleistet werden. Die deutsche Erbengemeinschaft ist als Ge-samthandgemeinschaft schwerfällig; Probleme können sichwegen des Einstimmigkeitsprinzips insb dann ergeben, wennschnelle Entscheidungen erforderlich sind.

59 Siehe nur Weidlich in Palandt, BGB77, § 2044 Rz 2.60 Kalss, Die Vererbung von Aktien, JEV 2015, 112.61 Schauer in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 16 Rz 8; Kalss, JEV 2015, 113.62 Bittner/Hawel in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 11 Rz 1.63 Ferrari, Der Erwerb der Erbschaft, in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht (2007) 440.64 Bittner/Hawel in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 11 Rz 4.65 Der Gerichtskommissär setzt die eigentlichen operativen Schritte; vgl Mondel, Die

Manuduktionspflicht des Gerichtskommissärs, iFamZ 2018, 247.

66 Bittner/Hawel in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 11 Rz 4.67 Schauer in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 31.68 Schauer in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 31; Bittner/Hawel in Gruber/Kalss/Müller/

Schauer, Erbrecht2, § 11 Rz 28.69 OGH 12.6.2012, 4 Ob 75/12a; Sprohar-Heimlich in Klang, ABGB3, § 550 Rz 7; Bittner

in Rechberger, AußStrG2 (2013) § 181 Rz 5.70 Schauer in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 31.

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2. Deckung des Pflichtteils

2.1. Deutschland: Ausschließlich Liquidität

Für das deutsche Pflichtteilsrecht gilt ausnahmslos das Prin-zip der Barabfindung. Es ist kein Noterbrecht und vermitteltdem Berechtigten daher – anders als die Erbenstellung – keineunmittelbare, dingliche Beteiligung am Nachlass, sondernnur einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den oder die Er-ben. Verlangt werden kann nur die Zahlung eines Geldbe-trags, und zwar in Höhe der Hälfte des Werts des gesetzlichenErbteils. Umgekehrt können die Erben den Pflichtteilsan-spruch aber auch nur durch Geldzahlung erfüllen, wenn sienicht mit dem Pflichtteilsberechtigten einen Konsens übereine andere Lösung finden. Eine Deckung des Pflichtteilsdurch Nachlassgegenstände ist nicht erzwingbar,71 wenn derPflichtteilsberechtigte sich darauf nicht einlässt. §§ 2305 bis2308 BGB schützen diejenigen Pflichtteilsberechtigten, diezwar vom Erblasser nicht völlig ausgeschlossen, aber dochnicht zureichend bedacht wurden: § 2305 BGB gibt dempflichtteilsberechtigten Erben, dessen Erbteil unter dem Wertseines Pflichtteils liegt, gegen seine Miterben einen sogPflichtteilsrestanspruch auf Ausgleich des Wertunterschiedszwischen zugewendetem Erbteil und vollem Pflichtteil.§ 2306 BGB hilft gegen Beschwerungen und Beschränkun-gen: Ist etwa ein als Erbe berufener Pflichtteilsberechtigter inder letztwilligen Verfügung durch die Anordnung eines Tes-tamentsvollstreckers oder eine Teilungsanordnung beschränkt,dann kann er den Pflichtteil in Geld verlangen, wenn er dieErbschaft ausschlägt. § 2307 BGB verhindert, dass ein von derErbfolge ausgeschlossener Pflichtteilsberechtigter auf einVermächtnis abgedrängt und auf diesem Weg nur mit einembestimmten Nachlassgegenstand bedacht wird.72 Er kann denPflichtteil verlangen, wenn er das Vermächtnis ausschlägt.Das rechtstechnisch verwickelte und nicht ohne Weiteres zu-gängliche System der §§ 2305 bis 2307 BGB stellt also im Er-gebnis lückenlos sicher, dass der Pflichtteilsberechtigte tat-sächlich Liquidität in die Hände bekommt und nicht mit ir-gendeinem Nachlassgegenstand abgefunden werden kann,mag dessen Wert auch der Höhe des Pflichtteils entsprechen.73

2.2. Österreich: Werthaltigkeit, nicht Liquidität

In der Frage der Optionen zur Deckung eines Pflichtteils un-terscheidet sich das österreichische Erbrecht einschneidendund folgenreich vom deutschen Prinzip der ausnahmslosenBarabfindung. Eine der grundlegenden Neuerungen desPflichtteilsrechts durch das ErbRÄG 2015 ist die Klarstellung,dass die Wahl des Vermögenswerts zur Deckung des Pflicht-teilsanspruchs völlig liberal gestaltet werde kann. Zwar ist derPflichtteilsanspruch wie in Deutschland im Grundsatz einGeldanspruch,74 zulässig ist allerdings auch die Deckungdurch vollkommen beliebige Zuwendungen von Todes wegenoder von Schenkungen, einschließlich der Schenkung von

Todes wegen gem § 603 ABGB.75 Nur wenn diese nicht aus-reichen, besteht ein auf Geld gerichteter Pflichtteilsergän-zungsanspruch. Ausdrücklich sieht § 761 Abs 1 ABGB nun-mehr vor, dass der Pflichtteil durch eine Zuwendung auf denTodesfall oder durch eine Schenkung unter Lebenden gedecktwerden kann. Zuwendungen auf den Todesfall sind ein Erb-teil, ein Vermächtnis oder auch eine Zuwendung von Todeswegen aus einer Privatstiftung oder aus einem Trust.76 Schonnach altem Recht wurden liberale Gestaltungen zugelassen.77

Zum Zweck der Pflichtteilsdeckung kann alles zugewen-det werden, was bewertbar ist und einen Wert hat. Auf denZufluss liquider Mittel kommt es nicht an.78 § 762 ABGBnormiert nunmehr ausdrücklich, dass sich ein Pflichtteils-berechtigter im Prinzip alle Beschränkungen und Belastun-gen gefallen lassen muss.79 Somit gibt es an und für sich vonvornherein keine Zuwendung, die per se vorweg als taug-liche Pflichtteilsdeckung ausscheidet.80 Die Pflichtteils-deckung kann mit Auflagen, Befristungen, Vermächtnissen,Belastungen, Belastungs- und Veräußerungsverboten verse-hen werden,81 ebenso mit einer Testamentsvollstreckungoder einer Nacherbschaft. Gesellschaftsanteile dürfen dahervinkuliert werden oder mit Vorkaufs- sowie mit Aufgriffs-rechten belastet oder als Vorzugsaktien gestaltet sein.Ebenso ist es zulässig, dass nur ein Fruchtgenussvermächt-nis oder ein Genussrecht oder ein Rentenvermächtnis ein-geräumt sind.82

Die Belastungen und Beschränkungen können letztwilligdurch eine Anordnung im Testament verfügt werden oderden Gegenständen schon (wie bei einer Vinkulierung im Ge-sellschaftsvertrag) immanent sein.83 Auszugehen ist davon,dass – entgegen der Formulierung in § 766 ABGB – dieserWert dem Pflichtteilsberechtigten nicht innerhalb von fünfJahren zugekommen sein muss, zumal der Zweck und die his-torische Absicht des Gesetzgebers klar sind.84

Eine Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeit zur De-ckung des Pflichtteils liegt auch darin, dass nunmehr aus-drücklich auch Schenkungen unter Lebenden als Abdeckung

71 Zu den Grenzen kautelarjuristischer Gestaltung plastisch K. Schmidt, Pflichtteil,47 ff.

72 Siehe nur Weidlich in Palandt, BGB77, § 2307 Rz 1.73 Zu Recht bezeichnet K. Schmidt (Pflichtteil, 37 ff) daher das Barabfindungsprinzip

als Quelle aller Probleme im Spannungsfeld zwischen Pflichtteil und Gestaltung derUnternehmensnachfolge.

74 Schauer, Rechtsfragen, 244; Bittner/Hawel in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.02,§§ 762, 763 Rz 2; Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5 (2017) § 763 Rz 1.

75 Im deutschen Recht finden auf die Schenkung von Todes wegen die Vorschriftenüber Verfügungen von Todes wegen Anwendung. Vollzieht der Schenker die Schen-kung durch Leistung des zugewendeten Gegenstands doch noch zu eigenen Lebzei-ten, so finden die Vorschriften über Schenkungen unter Lebenden Anwendung; vgl§ 2301 BGB. Da die Schenkung ein gegenseitiger Vertrag ist und die Schenkung sooder so vom Beschenkten angenommen werden muss, kann also auch über dieSchenkung von Todes wegen das Prinzip der Barabfindung nicht ausgehebelt werden;zum österreichischem Recht siehe Pkt III.3.2.

76 Schauer, Pflichtteilsrecht, 62; N. Arnold, Privatstiftung und Pflichtteilsrecht, GesRZ2015, 346 (348); Klampfl, Privatstiftung und Pflichtteilsrecht nach der Erbrechts-reform 2015, JEV 2015, 120; siehe Pkt III.5.

77 Zur Unterbeteiligung OGH 15.10.1998, 6 Ob 189/98g; zum Rentenvermächtnis bzwFruchtgenuss Umlauft, Das zur Pflichtteilsdeckung geeignete Vermögen, in FSWoschnak (2010) 593; Krejci, Unternehmensnachfolge, 62 f; aA Welser in Rummel/Lukas, ABGB4, § 774 Rz 4.

78 Schauer, Rechtsfragen, 245; F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2,§ 9 Rz 117.

79 Kogler, Die Ausschlagung im neuen Erbrecht, EF-Z 2018, 4 (6); Giller, Die Gestalt-barkeit der Pflichtteilsdeckung nach dem ErbRÄG 2015, JEV 2016, 58 (59 f);Schauer, ÖJZ 2017, 56.

80 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 117.81 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 32; Schauer, ÖJZ 2017, 56; ders, Rechtsfragen, 245.82 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 32; Schauer, ÖJZ 2017, 56; ders, Rechtsfragen, 245; ders,

Pflichtteilsrecht, 64; Barth, Pflichtteilsrecht neu, in Barth/Pesendorfer, Praxishand-buch des neuen Erbrechts (2016) 157 (163); Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger,ABGB5, § 762 Rz 1.

83 Schauer, Rechtsfragen, 246.84 Giller, JEV 2016, 59 f; F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9

Rz 122; Schauer, ÖJZ 2017, 57; ders, Rechtsfragen, 247; Klampfl, JEV 2015, 135 f; aAMusger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5, § 762 Rz 6; Umlauft, Erbrechts-reform 2015: Antinomie zwischen den Regelungen der Pflichtteilsdeckung und derPflichtteilsstundung? in FS Eccher (2017) 1189 (1196 ff).

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für den Pflichtteil anerkannt werden.85 Allein wenn der Erb-lasser den Erlass der Anrechnung letztwillig verfügt oder diesmit den Pflichtteilsberechtigten gem § 785 ABGB vereinbart,werden die Anrechnung und damit die Deckung nicht vorge-nommen.86

Schließlich besteht auch die Möglichkeit, den Pflichtteildurch eine Begünstigung bzw durch Zuwendungen aus einerPrivatstiftung zu decken, wie dies ausdrücklich §§ 780 und781 Abs 1 und 2 Z 5 ABGB normieren.87

2.3. Österreich: Keine Ausschlagungsmöglichkeit

Wie bereits dargelegt, schützt das deutsche Erbrecht denPflichtteilsberechtigten vor Gestaltungen, die seinen Anspruchauf liquide Mittel im Wert der Hälfte seines gesetzlichen Erb-teils gefährden könnten, durch die Möglichkeit der Ausschla-gung des zugedachten Erbteils oder Vermächtnisses zugunsteneines Rückgriffs auf den Pflichtteilsanspruch. Auch insoweit istdie Rechtslage in Österreich anders: Gem § 808 Abs 2 ABGBkann eine pflichtteilsberechtigte Person die Erbschaft nicht un-ter dem Vorbehalt ihres Pflichtteils ausschlagen. Sie muss sichdaher grundsätzlich Zuwendungen von Todes wegen pflicht-teilsdeckend gefallen lassen.88 Somit gibt es einen Vorbehalt desGeldpflichtteils nicht. Der Pflichtteilsberechtigte muss das ihmZugewendete jedenfalls akzeptieren.89 Deckt oder übersteigtder Wert des Erbteils oder des Vermächtnisses den Pflichtteildaher und schlägt der pflichtteilsberechtigte Erbe das Erbrechtdennoch aus, geht er völlig leer aus.90 Nur wenn das Erbrechtoder das Vermächtnis wertmäßig hinter dem Pflichtteil zu-rückbleiben, kann der Pflichtteilsberechtigte neben der Zu-wendung den nicht gedeckten Pflichtteil in Geld verlangen.91

Der Pflichtteilsberechtigte kann sich daher nach dem ös-terreichischen Recht seinen ihm zugedachten Gegenstandnicht in Geld ablösen lassen. Durch die Erstreckung auf wert-haltiges Vermögen, das unterschiedlichen Beschränkungenausgesetzt werden kann, kann der Pflichtteil in der Familiedazu führen, dass mehrere Familienmitglieder Vermögen er-halten und „reich“ (dh vermögend) werden, ohne Geld zu ha-ben. Das Pflichtteilsrecht führt nach österreichischem Rechtzwar zur Teilung des Vermögens innerhalb der Familie, dieWährung für das Pflichtteilsrecht muss aber nicht Geld, son-dern kann jeder beliebige werthaltige Gegenstand und jedesVermögensgut sein.92

Die Pflichtteilsberechtigten sind wie der Erbe an dem mitRisiko und Volatilität behafteten unternehmerischen Ver-mögen beteiligt und es wird keine einseitige Risikozuwei-sung (einerseits unternehmerisches Vermögen und anderer-seits Bargeld) vorgenommen. Damit wird ein ganz maßgeb-licher Schritt gesetzt, der die Gestaltungsmöglichkeiten fürden Erblasser dramatisch erhöht und den Bestand des Un-

ternehmens sichert. Aus dieser Gestaltung heraus ergibt sichauch die Möglichkeit, den Pflichtteil erst aus dem Unterneh-men zu verdienen; durch den Zeitgewinn wird er viel einfa-cher leistbar; selbstredend ist die zeitliche Streckung in derBewertung des zugewendeten Rechts oder Gegenstands zuberücksichtigen.93

3. Zuwendung an gemeinnützige Einrichtungen

3.1. Deutschland: Keine Privilegierung

In Deutschland sind weder Schenkungen unter Lebendenoder von Todes wegen noch Erbeinsetzungen an gemeinnüt-zige Einrichtungen pflichtteilsfest. De lege lata werden Zu-wendungen im Allgemeininteresse in keiner Weise gegenüberden allgemeinen erbrechtlichen Prinzipien zugunsten desPflichtteilsberechtigten privilegiert. Insb sind unentgeltlicheZuwendungen an Stiftungen (in Form von Zustiftungen oderfreien oder gebundenen Spenden) pflichtteilsergänzungs-pflichtige Schenkungen iSv §§ 2325 bis 2329 BGB. Dies hatder BGH in seiner Entscheidung zur Stiftung Dresdner Frau-enkirche prägnant begründet:94 Ohne weite Auslegung der§§ 2325 und 2329 BGB liefe das Pflichtteilsrecht Gefahr, seinematerielle Bedeutung weitgehend zu verlieren, da der Erblas-ser es in der Hand hätte, Nachlass und Pflichtteilsansprüchezu schwächen. Auch die Verfolgung gemeinnütziger ideellerZwecke könne eine solche Schwächung nicht rechtfertigen.Dass im Einzelfall die Motive durchaus anerkennenswert seinmögen und die als gemeinnützig gedachte Vermögensver-schiebung im allgemeinen Interesse liegen könne, sei für diedamit einhergehende Pflichtteilsverkürzung ohne Belang.Entsprechende Eingriffe in das Pflichtteilsrecht, so sie dennrechtspolitisch wünschenswert erschienen, seien dem Ge-setzgeber vorbehalten. Vor dem Hintergrund der Anerken-nung einer verfassungsrechtlich gewährleisteten Mindestteil-habe der Abkömmlinge durch das BVerfG im Jahr 200595 er-scheint die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers insoweitaber von vorneherein begrenzt: Ein vollständiger Ausschlussvon Pflichtteilsrechten zugunsten einer Privilegierung vongemeinnützigen Einrichtungen ist auch de lege ferenda nichtmöglich.

3.2. Österreich: Volle Gestaltungsfreiheit des Erblassers

Ein wirkungsvoller Ausdruck des sehr viel liberaleren Zu-gangs der österreichischen Rechtsordnung gegenüber demErblasser liegt in § 784 ABGB. Dieser wurde 1916 im Zuge der3. Teilnovelle96 eingeführt und seitdem von der österreichi-schen verfassungsgerichtlichen Judikatur so akzeptiert. Gem§ 784 ABGB sind Schenkungen, die der Erblasser aus Ein-künften ohne Schmälerung des Stammvermögens, in Ent-sprechung einer sittlichen Pflicht oder aus Gründen des An-stands, insb aber solche, die er zu gemeinnützigen Zweckengemacht hat, weder hinzu- noch anzurechnen. Bei Letzterenmuss es sich um eine gemeinnützige Einrichtung handeln.

85 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 118.86 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 118; Klampfl,

Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 122; Umlauft, Die Hinzu- und Anrechnung vonSchenkungen im Erb- und Pflichtteilsrecht2 (2018) 119.

87 Siehe Pkt III.5.88 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 38.89 Kogler, EF-Z 2018, 6; Zöchling-Jud, Neuregelung, 74; Rabl, NZ 2015, 326 FN 58;

Barth, Pflichtteilsrecht, 168.90 Kogler, EF-Z 2018, 6.91 Kogler, EF-Z 2018, 6; ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 25; Rabl, NZ 2015, 326 FN 58; Spruzina

in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.02, § 808 Rz 9.92 Klampfl, Privatstiftung und Pflichtteilsrecht (2018) 21; ders, Pflichtteilsrechtliche

Anrechnung, 123.

93 Vor allem Hügel/Aschauer, Pflichtteilsrecht und Unternehmensbewertung bei derGründung von Unternehmensstiftungen, in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch desneuen Erbrechts (2016) 227 (229 ff).

94 BGH 10.12.2003, IV ZR 249/02, NJW 2004, 1382.95 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.96 Kaiserliche Verordnung über die dritte Teilnovelle zum allgemeinen bürgerlichen

Gesetzbuch, RGBl 1916/69.

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Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen werden ebensoweder hinzu- noch angerechnet.97 Gemeinnützige Zweckesind etwa Zuwendungen an öffentliche Institutionen (wieSchulen, Kindergärten, Spitäler oder Universitäten [zB dieWirtschaftsuniversität Wien oder die Universität zu Köln])sowie Versorgungseinrichtungen für Bedürftige. Für dieseForm der Schenkung besteht keine Begrenzung der Höhenach.

Der Erblasser kann daher sein gesamtes Vermögen an-rechnungsfrei verschenken98 und so die Pflichtteilsberechtig-ten um den gesamten Pflichtteil bringen.99 Der Gesetzgeberdes Jahres 2015 hielt die alte Wertung der Förderung gemein-nütziger Vermögenswidmungen aufrecht.100

Da das ErbRÄG 2015 die Schenkung auf den Todesfallgem § 603 ABGB nunmehr der Vertragstheorie unterworfenhat und sie daher als Schenkung iSv § 781 ABGB und nicht alsVermächtnis behandelt wird,101 unterliegen auch Schenkun-gen auf den Todesfall – wie sonstige Schenkungen unter Le-benden – der Hinzu- und Anrechnung. Der Geschenkgeber,der eine gemeinnützige Schenkung auf den Todesfall macht,muss die geschenkte Sache nicht einmal zu Lebzeiten entbeh-ren.102 Damit erweitert sich der Gestaltungsspielraum desErblassers über sein Vermögen noch einmal deutlich, zumaler bis zuletzt sein Vermögen halten kann.

3.3. Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Erblasser und Pflichtteilsberechtigten

Das de lege lata fast unentziehbare deutsche Pflichtteilsrechtnaher Angehöriger und die verfassungsrechtlich abgesicherteund damit auch de lege ferenda begrenzt einschränkbare Min-destteilhabe von Kindern geben diesen im Verhältnis zu denEltern eine sehr starke Stellung. Auch bei familiären Span-nungen oder Meinungsverschiedenheiten über die Zukunftdes zu vererbenden Vermögens weiß der Pflichtteilsberech-tigte, dass ihm die Hälfte seines Erbteils unentziehbar zusteht,und zwar in liquiden Mitteln. Dies wird durchaus positiv ge-sehen; in den deutschen erbrechtlichen Diskussionen findetsich immer wieder die Argumentation, dass das Pflichtteils-recht sicherstelle, dass auf den Pflichtteilsberechtigten keinunangemessener Wohlverhaltensdruck ausgeübt werde. Diesklingt auch in der richtungsweisenden Entscheidung desBVerfG vom 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua, an: Gerade in denFällen einer Entfremdung zwischen dem Erblasser und seinenKindern oder gar der Zerrüttung dieser Beziehung setze dasPflichtteilsrecht der Testierfreiheit des Erblassers und der da-mit für ihn eröffneten Möglichkeit, ein Kind durch Enterbungzu „bestrafen“, Grenzen.

Im Gegensatz dazu bietet das österreichische Recht mitseiner Option von Zuwendungen an gemeinnützige Ein-richtungen zulasten der Pflichtteilsberechtigten dem Erblas-ser ein nicht zu unterschätzendes Disziplinierungsinstru-ment. Ihm steht ein einfach handhabbares Steuerungsin-strument zur Verfügung, bis zuletzt ohne jede zeitlicheSchranke über sein gesamtes Vermögen zulasten der Pflicht-teilsberechtigten und Familienangehörigen zu verfügen. DieRechtsnachfolger haben gegebenenfalls überhaupt keinenAnspruch auf Teilhabe am Vermögen des Erblassers oder amFamilienvermögen. Gerade dieses Worst-case-Szenariokann sich durchaus konstruktiv auf die innerfamiliäre Dy-namik und Entscheidungsfindung auswirken, weil es ten-denziell zu einer Steigerung des Einigungsdrucks für ver-tragliche Lösungen für eine zukünftige Zuordnung des un-ternehmerischen Vermögens bereits zu Lebzeiten des Ver-mögensinhabers führt und damit auch zu einer Förderungdes Einigungswillens.103

Praktische Erfahrungen zeigen, dass ein Testament viel-fach nicht allein vom Erblasser in der stillen Kammer ge-schrieben oder allein von einem Rechtsberater für den Erb-lasser aufgesetzt und diskutiert wird. In den Konstellationender Vererbung unternehmerischen Vermögens ist eine letzt-willige Verfügung häufig das Ergebnis eines Verhandlungs-prozesses in der Familie. Solange der Erblasser die Möglich-keit hat, sein gesamtes Vermögen seinen Rechtsnachfolgernauf einfache Art zur Gänze zu entziehen, steigert er dieWahrscheinlichkeit einer vertraglichen Lösung und die Be-reitschaft unter den Rechtsnachfolgern, Kompromisse ein-zugehen, die es auch erlauben, Emotionen einzufangen undrationalen Überlegungen (wie der Konzentration der Unter-nehmensleitung und des Einflusses einerseits sowie der Teil-habe am wirtschaftlichen Nutzen andererseits) in sachge-rechter Weise zum Durchbruch zu verhelfen.

4. Berücksichtigung von Zuwendungen unter Lebenden

4.1. Problemstellung

Der Zweck der Hinzu- und Anrechnung im Pflichtteilsrechtliegt im Schutz der Pflichtteilsberechtigten und im Ausgleichunter den Pflichtteilsberechtigten einerseits sowie im Gedan-ken der Verfügungsfreiheit zugunsten des Erblassers anderer-seits.104 Es geht zum einen um die Frage, ob und inwieweit derPflichtteilsberechtigte vor unentgeltlichen Übertragungenvon Vermögen an Dritte zu Lebzeiten des Erblassers geschütztwird, zum anderen um die Berücksichtigung von entspre-chenden Zuwendungen an den Pflichtteilsberechtigten selbst.Zu unterscheiden sind daher zwei unterschiedliche Konstel-lationen, nämlich die nachträgliche Zurechnung des „ver-schenkten“ Vermögens zur vorhandenen Verlassenschaft (dhdie Erhöhung der Bemessungsgrundlage für die Ermittlung

97 Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5, Nach § 788 Rz 10; Kalss, Diepflichtteilsrechtliche Anrechnung im Stiftungsrecht, in Bertl/Eberhartinger/Egger/Hirschler/Kalss/Lang/Nowotny/Riegler/Rust/Schuch/Staringer, Wertmaßstäbe (2018)96.

98 Welser in Rummel, ABGB3, § 785 Rz 14.99 Welser, Zur Reform der Anrechnung im Erbrecht, in FS W. Jud (2012) 773 (799).100 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 35; Schauer in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 17; kritisch

dazu Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 292 f; Welser Reform der Anrechnung,799; ders, Reform des österreichischen Erbrechts, 160; Eccher in Schwimann/Kodek,ABGB4, § 785 Rz 14. Die testamentarischen Zuwendungen an gemeinnützige Ein-richtungen steigen derzeit spürbar; siehe https://derstandard.at/2000090352279/Immer-mehr-Oesterreicher-spenden-per-Testament.

101 Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 293.102 Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 293; Schauer, Hinzu- und Anrechnung von

Schenkungen, in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts (2016)193; ders in Klang, ABGB3, Vor § 531 Rz 17.

103 Zwar bietet das österreichische Recht nicht die Möglichkeit eines Erbvertragesunter Geschwistern oder zwischen Eltern und Geschwistern, wie das deutscheRecht dies eröffnet. Allerdings kann durch eine entsprechende Gestaltung vonÜbergabeverträgen, kombiniert mit Pflichtteilsverzichtverträgen, die gleiche Wir-kung erzielt werden wie mit dem generationsübergreifenden Erbvertrag in derFamilie.

104 Apathy, Zur Hinzurechnung und Anrechnung im neuen Erbrecht, ÖJZ 2016, 805(806); ders, Hinzurechnung und Anrechnung im neuen Erbrecht, in Artmann/Rüff-ler/U. Torggler, Gesellschaftsrecht und Erbrecht (2016) 1 (3); Umlauft, Hinzu- undAnrechnung2, 12 f; Schauer, Hinzu- und Anrechnung, 195.

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Erbrecht

der Pflichtteilsansprüche) und die Anrechnung von Vermö-gen, die sich ein Pflichtteilsberechtigter gefallen lassen muss,wenn er tatsächlich bereits werthaltiges Vermögen vom Erb-lasser vorweg erhalten hat.105

4.2. Deutschland: Zeitlich begrenzte Pflichtteilsergänzung und Anrechnung von Zuwendungen bei Anrechnungs-bestimmung

Das sehr schneidige Pflichtteilsergänzungsrecht der §§ 2325 ffBGB zielt auf Schutz vor Ausfüllung und Umgehung desPflichtteilsrechts durch eine unentgeltliche Weitergabe vonVermögenswerten (an Dritte) zu Lebzeiten des Erblassers. DerPflichtteilsberechtigte kann als Ergänzung seines Pflichtteilsden Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht,wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass zugerechnetwird. Eine Schenkung bleibt unberücksichtigt, wenn seit demErbfall 10 Jahre vergangen sind. Innerhalb des ersten Jahresvor dem Erbfall wird die Schenkung in vollem Umfang be-rücksichtigt, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfallum jeweils ein Zehntel weniger. Der Pflichtteilsergänzungs-anspruch schmilzt gem § 2325 Abs 3 BGB also mit jedem Jahrzwischen Schenkung und Erbfall um 10 % ab.106 Die Regelungwird von der höchstrichterlichen Rspr tendenziell pflichtteils-freundlich gehandhabt: Eine Leistung des verschenkten Ge-genstands iSv § 2325 Abs 3 BGB soll nur dann vorliegen, wennder Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümeraufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenktenGegenstand weiter zu nutzen.107 Hat der Pflichtteilsberech-tigte selbst ein Geschenk von dem Erblasser erhalten, so istdas Geschenk gem § 2327 BGB in gleicher Weise wie das demDritten gemachte Geschenk im Nachlass zuzurechnen.108 BeiSchenkungen an Ehegatten beginnt der Fristablauf überhaupterst mit der Scheidung der Ehe. Wird die Ehe durch Tod auf-gelöst, sind somit alle während der gesamten Ehezeit von demErblasser an seinen überlebenden Ehegatten109 gemachtenSchenkungen (auch die sog unbenannten Zuwendungen) er-gänzungspflichtig, auch wenn sie Jahrzehnte zurückliegen.110

Generell ausgenommen von einer Pflichtteilsergänzung sindgem § 230 BGB lediglich Schenkungen, durch die einer sitt-lichen Pflicht oder einer aus Anstand zu nehmenden Rück-sicht entsprochen wird, eine Regelung, die von der höchst-richterlichen Rspr wiederum äußerst pflichtteilsfreundlichgehandhabt wird.

Lebzeitige Zuwendungen des Erblassers an den Pflicht-teilsberechtigten werden nur unter bestimmten Vorausset-zungen berücksichtigt: Der Pflichtteilsberechtigte hat sichgem § 2315 BGB auf den Pflichtteil anrechnen zu lassen, wasihm von dem Erblasser durch Rechtsgeschäft unter Leben-den mit der Bestimmung zugewendet worden ist, dass es aufden Pflichtteil angerechnet werden soll. Die Anrechnungs-bestimmung muss so deutlich sein, dass ihre Tragweite demPflichtteilsberechtigten zu Bewusstsein kommen mussteund er somit abwägen konnte, ob ihm die Zuwendung eine

Verminderung seines späteren Pflichtteils wert ist. Der Erb-lasser kann die Anrechnungsbestimmung nicht später nach-holen.111

4.3. Österreich: Zwei Jahre oder immer!

Nach dem ErbRÄG 2015 werden in Österreich alle wirtschaft-lichen Schenkungen iSv § 781 ABGB angerechnet. Das öster-reichische Recht kennt nur das Alles-oder-nichts-Prinzip.Nur Schenkungen aus Anstand oder sittlicher Pflicht sindhiervon ausgenommen. Gerade aus Sicht der Planung des Un-ternehmens sind wesentliche Aspekte zu beachten. Zunächstist zu unterscheiden, ob eine Schenkung an eine – abstrakt112

– pflichtteilsberechtigte oder eine nicht pflichtteilsberechtigtePerson vorgenommen wird.

Im österreichischen Recht ist diese Entscheidung deshalbvon so großer Bedeutung, weil an nicht pflichtteilsberechtigtePersonen bis zwei Jahre vor dem Tod ohne Zu- bzw Anrech-nung eine Schenkung vorgenommen werden kann, währendgegenüber pflichtteilsberechtigten Personen Schenkungenunbefristet und unbeschränkt angerechnet werden, unabhän-gig davon, wann die Schenkung stattgefunden hat. Der Grundfür die Festlegung der Zweijahresfrist liegt darin, dass das Ge-setz nur die letzte Zeit vor dem Tod des Erblassers als umge-hungsgefährdet ansieht.113 Das Gesetz anerkennt somit, dassVermögensübereignungen, die länger als zwei Jahre zurück-liegen, nicht mehr in die Ermittlung der Pflichtteilsberechti-gungen einbezogen werden,114 da sie „unverdächtig“ sind.115

Damit kann eine Schenkung (etwa an den Schwiegersohnoder die Schwiegertochter, an eine Schwägerin oder an denBruder) noch bis relativ kurz vor dem Tod, nämlich zweiJahre, davor vorgenommen werden. Sie ist kein Rechtsmiss-brauch.116

Die Besonderheit der österreichischen Privatstiftungliegt darin, dass sie nicht nur für gemeinnützige Zwecke eta-bliert werden kann, sondern für jeden erlaubten Zweck, insbauch für eigennützige Zwecke und damit für die Versorgungder Familie oder auch nur einzelner Familienmitgliederoder bestimmter anderer Personen. Gerade die Zweckoffen-heit macht die Privatstiftung besonders interessant für dieVermögensweitergabe (auch von unternehmerischem Ver-mögen). Der Preis für diese offene Gestaltungsmöglichkeitliegt aber in der gem § 15 Abs 2 PSG angeordneten Soll-bruchstelle, der zwingenden Überantwortung der Ge-schäftsführung der Privatstiftung an nicht begünstigte Per-sonen. Im Kontext der Vermögensnachfolge sind dies regel-mäßig familienfremde Personen. Zudem beschränkt die Ju-dikatur des OGH – entgegen dem gesetzgeberischen Anlie-

105 Klampfl, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 119.106 Zu den Einzelheiten siehe nur Weidlich in Palandt, BGB77, § 2325 Rz 24.107 Zu den Einzelheiten Weidlich in Palandt, BGB77, § 2325 Rz 7 ff.108 Zu den komplizierten Einzelheiten Weidlich in Palandt, BGB77, § 2327 Rz 2.109 Dies gilt gem § 10 LPartG auch für den eingetragenen Lebenspartner.110 Zu den Einzelheiten Weidlich in Palandt, BGB77, § 2325 Rz 29.

111 Zu den Einzelheiten Weidlich in Palandt, BGB77, § 2325 Rz 2 ff.112 F. Binder/Giller in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht2, § 9 Rz 22. Abstrakt

heißt, dass die Pflichtteilsberechtigung im Grundsatz besteht, aber noch eine Per-son dazwischen ist und den aktuellen Anspruch verdrängt (zB Enkel im Verhältniszur Oma, wenn die Mutter noch lebt).

113 HHB 78 BlgHH 21. Sess, 116; Kletečka, Pflichtteilsrechtliche Behandlung derErrichtung einer Privatstiftung, EF-Z 2012, 4 (6); Kalss/Probst, Familienunterneh-men, Rz 21/197.

114 Schauer, Privatstiftung und Pflichtteilsrecht, NZ 1993, 251 (252); Kletečka, EF-Z2012, 7; Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 96.

115 Schauer, NZ 1993, 252; Kletečka, EF-Z 2012, 7; Kalss/Probst, Familienunternehmen,Rz 21/197; Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 96.

116 OGH 30.1.2018, 2 Ob 213/17p; kritisch Hofmann, Kritische Anmerkungen zumKonstrukt der „typisierenden Betrachtungsweise“, NZ 2018, 204.

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gen und über den Gesetzeswortlaut hinaus – die Kontroll-möglichkeiten der Familie.

Wann beginnen die zwei Jahre? Der entscheidende Zeit-punkt, wann diese zwei Jahre zu laufen beginnen, ist gem§ 788 ABGB jener, zu dem die Schenkung wirklich gemachtwurde. Das Gesetz knüpft damit an die sog Vermögensopfer-theorie an.117 Die Vermögensopfertheorie zielte genau daraufab, eine Umgehung des Pflichtteilsrechts für zwar außerhalbder Zweijahresfrist vereinbarte, aber noch nicht endgültig er-brachte Zuwendungen zu verhindern. Folgende Umständemüssen vorliegen, damit eine Schenkung wirklich gemachtworden ist:118 Zunächst muss eine wirksame schuldrechtlicheVerpflichtung auf Übertragung des Vermögensgegenstandseingegangen werden; der Beschenkte muss die sachenrechtli-che Eigentümerstellung erhalten haben; der Eigentumsüber-gang muss vollzogen sein, ohne dass der Schenker den Eigen-tumsübergang jederzeit wieder rückgängig machen kann.Das Vermögensopfer ist somit erst dann erbracht, wenn dieSubstanz vom Schenker endgültig aufgegeben wurde. Diessetzt etwa eine Zuwendung oder Schenkung ohne Widerrufs-vorbehalt oder eine ähnliche vertragliche Gestaltung (wie einAngebot der Rückschenkung) voraus.119 Das Vermögensopferist nach der Judikatur und entgegen der überwiegenden Lite-ratur auch nicht erbracht, wenn der Schenker oder der Stiftersich bei Übertragung des Vermögens das gesamte Fruchtge-nussrecht zurückbehalten haben.120

Der maßgebliche Bewertungszeitpunkt ist gem § 788ABGB der Zeitpunkt der tatsächlich gemachten Schen-kung.121 Der Zeitpunkt des Todes ist nach geltendem Rechtnur dann der maßgebliche Bewertungszeitpunkt, wenn dasVermögensopfer bis dahin noch nicht erbracht worden ist. Isthingegen das Vermögensopfer durch eine Schenkung er-bracht worden, so steht der Zeitpunkt der Bewertung fest.122

Dieser Wert ist sodann auf den Todeszeitpunkt nach einemvon der Statistik Austria verlautbarten Verbraucherpreisin-dex anzupassen.123 Die Bewertungsregelung gilt für alle Ver-mögensgegenstände, für bewegliche und unbewegliche Sa-chen, für Gesellschaftsanteile und Unternehmen. Die Pla-nungssicherheit wird dadurch für den Geschenknehmer in-sofern deutlich erhöht, als dass der Erblasser keine massivenWertschwankungen erwarten muss und somit schon zumZeitpunkt der Schenkung die Höhe der bereits gedecktenPflichtteile kennt.124

5. Die Rolle der Stiftung

5.1. Deutschland: Uneingeschränkte Wirkung des Pflichtteilsrechts

Nach deutschem Recht bieten Stiftungslösungen bei derNachfolgeplanung und Nachfolgegestaltung im Hinblick aufdas Pflichtteilsrecht keine größere Flexibilität. Sowohl lebzei-tige als auch letztwillige Vermögensübertragungen auf bereitsexistierende Stiftungen in Form von Stiftungen und Spendenals auch die Vermögensausstattung von Stiftungen, die lebzei-tige oder von Todes wegen errichtet werden, unterfallen un-eingeschränkt dem Wirkungskreis des Pflichtteilsrechts. Diesgilt ohne Rücksicht auf den Stiftungszweck, sodass insb ge-meinnützige Stiftungen und Familienstiftungen keinen ande-ren Maßstäben unterliegen. Lebzeitige Vermögenstransfersan bereits existierende Stiftungen stellen Schenkungen darund unterfallen infolgedessen der Pflichtteilsergänzung nach§§ 2325 ff. BGB.125

5.2. Vermögenswidmung an die Privatstiftung als relevante Schenkung

Seit dem ErbRÄG 2015 anerkennt das österreichische Rechtgem § 781 Abs 2 Z 4 und 5 ABGB ausdrücklich erbrechtlicheund pflichtteilsrechtliche Wirkungen von Privatstiftungenund normiert, dass die Vermögenswidmung an eine Privat-stiftung als zurechnungs- und anrechnungsfähige Schenkunganzusehen ist und dass die Einräumung der Stellung als Be-günstigter einer Privatstiftung als derartige Schenkung zuqualifizieren ist. Nach dem alten Erbrecht war es eine der vieldiskutierten Fragen, ob die Einräumung der Begünstigten-stellung überhaupt zur Pflichtteilsdeckung geeignet ist und inwelcher Weise die Einräumung der Begünstigtenstellung zuberücksichtigen war.126

Überträgt der Stifter sein Vermögen (dh sein Unterneh-men) an eine Privatstiftung, so ist dies eine Übertragung aneine dritte – nicht abstrakt pflichtteilsberechtigte – Person.Mit der Vermögenswidmung beginnt daher grundsätzlich dieZweijahresfrist gem § 784 ABGB zu laufen. Das Vermögen derPrivatstiftung steht im Eigentum der Privatstiftung und nichtdes Erblassers. Das Vermögen der Privatstiftung wird aberdem Stifter für die Ermittlung der Pflichtteile so lange zuge-rechnet, als er einen qualifizierten Zugriff auf das Vermögender Privatstiftung hat. Dies bedeutet: Solange der Stifter dasVermögensopfer noch nicht erbracht und das Vermögen derPrivatstiftung noch nicht endgültig gewidmet hat, weil ereben noch darauf zugreifen kann,127 wird ihm das Stiftungs-vermögen zugerechnet. Es wird bei Ermittlung des Pflichtteils-anspruchs auch der Verlassenschaft als Bemessungsgrund-lage zugerechnet.

Sofern sich ein Stifter daher in der Stiftungsurkunde dasWiderrufsrecht oder das Recht auf Änderungen vorbehält,

117 OGH 5.6.2007, 10 Ob 45/07a; 6.8.2015, 2 Ob 125/15v, PSR 2015/49 (Zollner); Kalss,Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 96 f.

118 Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 96 f; Klampfl, PflichtteilsrechtlicheAnrechnung, 129; ders, Die Einräumung einer Stifterstellung als Schenkung unterLebenden im Pflichtteilsrecht, GesRZ 2018, 69; Schauer, Hinzu- und Anrechnung,219 f.

119 Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5, §§ 782, 783 Rz 4; Schauer, Hinzu-und Anrechnung, 219 f; Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 97.

120 OGH 6.8.2015, 2 Ob 125/15v; 22.3.2018, 2 Ob 198/17a; RIS-Justiz RS0130273.121 Dies wurde vor dem ErbRÄG 2015 von der Literatur gefordert; vgl Rabl, Die Aus-

wirkungen eines Fruchtgenußvorbehalts auf die Schenkungsanrechnung (Teil I),NZ 1999, 291 (298); L. Eder, Die Bewertung des Unternehmens zum Zwecke derPflichtteilsanrechnung, JEV 2011, 49 (53); Kletečka, EF-Z 2012, 12; Kalss/Probst,Familienunternehmen, Rz 21/229.

122 ErlRV 688 BlgNR 25. GP, 35; Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5, § 788Rz 1; Schauer, Hinzu- und Anrechnung, 215; Hügel/Aschauer, Pflichtteilsrecht, 252ff; Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 299 f.

123 Apathy, Hinzurechnung, 19; Musger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB5, § 788Rz 1; Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 300.

124 Rucker, Die Anrechnung im neuen Erbrecht, NZ 2016, 81 (89); Schauer, Hinzu-und Anrechnung, 215; Umlauft, Hinzu- und Anrechnung2, 301; siehe schon vorherKalss/Probst, Familienunternehmen, Rz 21/224.

125 Umfassend zu allen Grundsatz- und Einzelfragen die Dissertationen von Ch. M.König, Stiftung.

126 Siehe dazu nur B. Jud, Privatstiftung und Pflichtteilsdeckung, in FS Welser (2004)369 (380 ff); Schauer, Privatstiftung und Erbrecht, in Gassner/Goeth/Gröhs/Lang,Privatstiftungen (2000) 15 (31); Giller, Die Hinterlassung des Pflichtteils, in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge (2010) 535 (556); Kalss,Stiftungsrechtliche Maßnahmen der Vermögenszuteilungen in und durch die Pri-vatstiftung, in FS Woschnak (2010) 235 (246).

127 Siehe Pkt III.4.

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wird ihm mangels Vermögensopfers128 das Vermögen zuge-rechnet und somit nicht dem Pflichtteilsberechtigten ent-zogen. Gibt aber der Stifter umgekehrt diese Rechte zweiJahre vor seinem Tod auf, so fällt das gesamte Vermögen derPrivatstiftung aus dem zuzurechnenden Vermögen für dieErmittlung des Pflichtteils gem § 785 ABGB heraus. Nachganz überwiegender Lehre und auch Judikatur129 sind aberandere Einflussnahmemöglichkeiten (wie etwa die Beset-zung von Organen und faktische Einflussnahmemöglich-keiten ohne rechtliche Absicherung) nicht zurechnungsbe-gründend.130

5.3. Die Einräumung der Begünstigtenstellung als Schenkung

Zwischen der Begünstigtenstellung als solcher und der ein-zelnen Zuwendung von der Privatstiftung an den jeweils Be-günstigten ist zu unterscheiden.131 Mit der Begründung derBegünstigtenstellung kommt einem Begünstigten je nachgesetzlicher oder statutarischer Ausgestaltung seinerRechtsposition überhaupt erst die Möglichkeit zu, Trägerder Begünstigtenrechte zu sein. Er ist berechtigt, die Be-günstigtenrechte auszuüben, und erhält ein Recht auf Zu-wendung oder zumindest eine Aussicht darauf. Mit der Ein-räumung der Begünstigtenstellung wird die zukünftige Zu-wendung durch die Privatstiftung bis zu einem bestimmtenGrad wahrscheinlich.132 In der Einräumung der Begünstig-tenstellung liegt eine dreipersonale Beziehung zwischendem Stifter als Geschenkgeber (Erblasser), dem Begünstig-ten als Geschenknehmer und der Privatstiftung, der gegen-über die Begünstigtenstellung besteht, vor.133 Damit ist eineSchenkung im wirtschaftlichen Sinn anzuerkennen.134 DerStifter als Geschenkgeber135 veranlasst mit Schenkungsab-sicht eine freigiebige Vermögensverschiebung unter Leben-den aus seinem Vermögen in das Vermögen des Begünstig-ten als Geschenknehmer.136 Die Begünstigtenstellung istaber nicht jedenfalls als Schenkung iSv § 781 ABGB anzu-sehen, sondern nur dann, wenn die Begünstigtenstellungzum maßgeblichen Bewertungszeitpunkt über einen be-wertbaren Vermögenswert verfügt.137 Wurde die Zuwen-dung schon erbracht und wurde sie vom Stifter veranlasst, soist diese Zuwendung als Deckung des Pflichtteils grundsätz-lich geeignet138 und jedenfalls zu berücksichtigen.139

5.4. Stiftung

Damit eröffnen sich in Österreich für den Erblasser, der zu-gleich Stifter ist, unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten,je nach Ausformung der Privatstiftung zur Lenkung und Ge-staltung der Pflichtteilsdeckung. Die Privatstiftung ermög-licht es etwa, dass klare Aufträge bzw Weisungen140 des Stiftersgegenüber dem Vorstand in der Stiftungsurkunde festge-schrieben werden. Wenn kein Änderungsvorbehalt besteht,ist die Privatstiftung dennoch als vom Stifter losgelöst anzu-sehen.

Durch die Einsatzmöglichkeit der Privatstiftung wird esleichter möglich, unternehmerisches Vermögen in einerHand zusammenzuhalten und nicht der erbrechtlichen Tei-lung zu unterwerfen und zugleich auch die Einflusspositio-nen im Unternehmen entsprechend dauerhaft zuzuordnen.

6. Zwischenergebnis

Eine vergleichende Detailanalyse der Regelungen des öster-reichischen und des deutschen Pflichtteilsrechts zeigt, dasstrotz gemeinsamer Ausgangsposition zwischen den beidenSystemen ein bedeutender Unterschied besteht, in welcherForm Pflichtteilsansprüche erfüllt werden können. Die Re-gelungen des deutschen Rechts vermitteln dem Pflichtteils-berechtigten sofort fällige, auf Geld gerichtete Zahlungs-ansprüche, also Liquidität. Die österreichischen Regelungeneröffnen dagegen die Option, im Rahmen der sog Pflicht-teilsdeckung den Pflichtteil – statt in Form einer Barabfin-dung – in Form nicht sofort liquidierbaren Vermögens (etwain vinkulierten Gesellschaftsanteilen oder künftig zu erwar-tenden Ausschüttungen einer Privatstiftung) im Wert desPflichtteilsanspruchs zu erfüllen. Es bestätigt sich also dieeinleitend formulierte Gegenüberstellung „Liquidität versusWertteilhabe“.

IV. Pflichtteilsrecht neu gedacht!

1. Ausgangspunkt: Die Modelle in der Gesamtschau

1.1. Ähnliche Regelungen – unterschiedliche Wirkungen

Sowohl die deutsche als auch die österreichische Rechtsord-nung erkennen den Pflichtteilsanspruch bzw den Pflichtteils-ergänzungsanspruch im Ausgangspunkt als Anspruch aufBarabfindung an. Die Rechtstechnik des Pflichtteilsregimesist daher auf dem ersten Blick durchaus ähnlich. Tatsächlichist aber festzustellen, dass wenige, eher unscheinbare Stell-schrauben im österreichischen Recht zu Unterschieden füh-ren, die wesentliche Auswirkungen auf den Spielraum füreine vorsorgende Gestaltung einer Unternehmensnachfolgehaben. Die Reichweite der Unterschiede und das Ausmaß anunterschiedlicher Gestaltungskraft der Pflichtteilsrechte inDeutschland und Österreich werden erst bei genauer funk-tionaler Analyse und Einbettung in die einzelnen gesetzli-chen Vorgaben und privatautonomen Gestaltungsmöglich-keiten erkennbar und müssen anhand konkreter Beispiele er-probt werden.

128 Siehe dazu zuletzt nur OGH 22.3.2018, 2 Ob 98/17a; Klampfl, GesRZ 2018, 198;Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 97.

129 OGH 22.3.2018, 2 Ob 98/17a.130 OGH 22.3.2018, 2 Ob 98/17a; Klampfl, GesRZ 2018, 198; H. Foglar-Deinhardstein,

NZ 2018, 215.131 Kalss, Die einmalige Zuwendung, ZfS 2015, 137 (139).132 Zollner, Die eigennützige Privatstiftung (2011) 255; ders, Der Verzicht auf die

Begünstigtenstellung, in FS Delle Karth (2013) 1075 (1076); Kalss, ZfS 2015, 139;dies, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 100.

133 Klampfl, Privatstiftung, 35; Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 100.134 Klampfl, JEV 2015, 128; ders, Privatstiftung, 36; ders, GesRZ 2018, 74; Zöchling-Jud,

Nochmals: Privatstiftung und Pflichtteilsrecht nach dem ErbRÄG 2015, ZfS 2017,162 (172); Zollner/Pitscheider, Pflichtteilsrechtliche Aspekte einer Begünstigtenstel-lung, PSR 2016, 8 (11); Schauer, Hinzu- und Anrechnung, 207.

135 Klampfl, GesRZ 2018, 74.136 Egger in Schwimann/Neumayr, ABGB-Taschenkommentar4 (2017) § 781 Rz 5;

Kalss, Pflichtteilsrechtliche Anrechnung, 100.137 Klampfl, JEV 2015, 128; ders, Privatstiftung, 37; Hügel/Aschauer, Pflichtteilsrecht,

263; H. Foglar-Deinhardstein, NZ 2018, 215 ff.138 Klampfl, GesRZ 2018, 76.139 Klampfl, GesRZ 2018, 199; ders, Privatstiftung, 37; Kalss, Pflichtteilsrechtliche

Anrechnung, 103.

140 Zur Zulässigkeit des Stiftungsauftrags in der Stiftungserklärung gegenüber demStiftungsvorstand R. Briem, GesRZ 2015, 337; Kalss in Kalss/Nowotny/Schauer,Österreichisches Gesellschaftsrecht2 (2017) Rz 7/76.

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Erbrecht

1.2. Großer Gestaltungsspielraum nach österreichischem Recht

Das österreichische Recht bietet dem Erblasser unternehme-rischen Vermögens einen deutlich größeren Gestaltungs-spielraum als das deutsche Recht. Dies ist auf den ersten Blicknicht erkennbar und wird auch vom Gesetzgeber nicht offendargelegt. Eine ausdrückliche Berücksichtigung der Beson-derheiten unternehmerischen Vermögens findet sich im Ge-setz bei der Stundung des Geldpflichtteils gem §§ 766 und 767ABGB: Hier wird die Bedeutung des Erhalts von Unterneh-men ausdrücklich als wichtig anerkannt, gleichzeitig abereine Stundungsregelung eingeführt, die wirtschaftlich voll-kommen unattraktiv ist, solange sich das Zinsniveau nichtdeutlich, jedenfalls über den gesetzlichen Zinssatz von 4 % er-höht. Auch aus anderen Gründen hat der Erblasser in Öster-reich mehr Möglichkeiten, unternehmerisches Vermögennach seinem Willen seinen Rechtsnachfolgern zu übergebenund das unternehmerische Vermögen zusammenzuhalten,als in Deutschland. Dies ergibt sich im Zusammenspiel ver-schiedener auf den ersten Blick recht unscheinbarer Instru-mente, wie der Eignung jeglichen werthaltigen Vermögenszur Deckung des Pflichtteils, der freien Zuwendbarkeit desVermögens an eine gemeinnützige Einrichtung, der freienZuwendung an nicht pflichtteilsberechtigte Personen oderEinrichtungen bis zwei Jahre vor dem Tod, der rechtssicherenGestaltbarkeit von Schenkungen und schließlich der weit-greifenden Einsetzbarkeit der Privatstiftung als Alternativezum Erbrechtsmodell und zur Sicherung des Zusammenhaltsdes Vermögens und zur Lenkung der Pflichtteilsansprüche.Der liberale Gestaltungszugang des österreichischen Rechtsräumt dem Erblasser Wahlmöglichkeiten ein. So kann er denPflichtteilsberechtigten völlig freies ungebundenes liquidesVermögen hinterlassen oder übertragen oder nur unterneh-merisch gebundenes Vermögen. Dies hängt allein vom Erb-lasserwillen ab. Er kann dieses Vermögen auch entsprechenddem Talent und dem Interesse der Berechtigten zuteilen (etwabereits vorweg durch Zuwendungen und Schenkungen unterLebenden oder aber von Todes wegen). Letztlich eröffnet dasösterreichische Recht auch noch nach dem Tod des Erblassersdurch das von einem Gerichtskommissär gut moderierte Erb-teilungsübereinkommen eine unternehmerisch sinnvolleErbteilung, mittels der es gelingen kann, unternehmerischesVermögen entsprechend den Interessen der Berechtigten zu-zuordnen.

1.3. Akzeptanz der Zerstörung des Bestehenden nach deutschem Recht

Die deutsche Regelung bewirkt, dass der Pflichtteilsberech-tigte durch zwingende Zuerkennung einer Barabfindung Li-quidität erhält, die ihn in die Lage versetzt, den Barbetragohne Rücksicht auf den Willen des Erblassers oder irgend-welche Familieninteressen gänzlich neu zu disponieren undzu gestalten. Er hat in seinen Entscheidungen die völlige Un-abhängigkeit vom bisherigen Vermögen und zugleich vonden Erben oder anderen Pflichtteilsberechtigten. Ob geradediese Freiheit, losgelöst von jeder Verantwortung, von derverfassungsrechtlichen Gewährleistung iSd Rspr desBVerfG abgedeckt ist, erscheint eher zweifelhaft. Wie darge-

legt, geht es dem BVerfG um das familiäre Band zwischenErblasser und Abkömmlingen sowie um Verteilungsgerech-tigkeit zwischen den Abkömmlingen.141 Zur Frage, ob diewirtschaftliche Teilhabe auch die individuelle Freiheit zueinem Neustart umfassen muss, hat sich das BVerfG nichtgeäußert.

Kehrseite der Zubilligung verantwortungsfreier Liquiditätist die Akzeptanz der gegebenenfalls vollkommenen Zerstö-rung des Bestehenden und Alten. Die Wirkung des deutschenPflichtteilsrechts liegt darin, dass der Pflichtteilsberechtigtevollkommen frei für etwas Neues wird, selbst wenn das beste-hende, an sich gut eingerichtete Unternehmen deswegen ver-kauft, geteilt und – im äußersten Fall – auch vernichtet wer-den muss. Die konkrete Ausgestaltung des deutschen Pflicht-teilsrechts gibt also den Interessen des Pflichtteilsberechtigtenund einer Neustartmöglichkeit mit frei einsetzbarem liquidenVermögen von Anfang an Priorität vor dem Bestand des Fa-milienunternehmens.

2. Das Modell „Liquidität“

2.1. Sollbruchstelle Tod: Liquidation innerhalb der Familie

Das BGB gibt somit eine normative Disruption vor. Es er-kennt eine Sollbruchstelle bei jeder Generation an, auch wenndiese Bruchstelle nur innerhalb der Familie liegt. Die Kartenwerden in der Reichweite des Pflichtteilsrechts in jeder Gene-ration durch Liquidation gewachsenen Vermögens neu ge-mischt. Diese Liquidation erfolgt in der Familie und führt zurVerteilung des Erblasservermögens auf die einzelnen Indivi-duen der Nachfolgegeneration (und des Ehepartners). Indieser Liquidationswirkung liegt eine gedankliche Verwandt-schaft zur Erbschaftssteuer. Auch die Erbschaftssteuer be-wirkt, dass ein bestimmtes Ausmaß der Erbschaft liquidiertwird. Dies kommt freilich der Allgemeinheit und nicht nurden anderen Familienangehörigen zugute. Über diesen Ver-teilungsmechanismus soll eine neue Generation (im Allge-meinen jenseits der Einzelfamilie) eine neue Chancen erhal-ten und für die Gesellschaft die notwendige Mobilität geför-dert werden.142

2.2. Kein unternehmerischer Auftrag – keine unternehmerische Verantwortung

Die über den Pflichtteilsanspruch vermittelte Liquidität ist„verantwortungsfrei“, sowohl im Hinblick auf das Vermögen,aus dem sie stammt, als auch im Hinblick auf ihre Verwen-dung. Sie verpflichtet den Pflichtteilsberechtigten nicht zueinem eigenständigen unternehmerischen Handeln. Somitbesteht keine Verpflichtung, das Barvermögen aus dem Un-ternehmen in neue Unternehmen zu investieren oder über-haupt unternehmerisch zu verwenden. Das Gesetz lässt denPflichtteilsberechtigten die vollkommene Offenheit. Die Bar-abfindung aus dem Pflichtteil kann in Zinshäuser ebenso in-vestiert werden wie in einen intensiven Konsum; sie kannauch die Grundlage für ein Leben als Privatier bilden. Die

141 BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.142 Dutta, Erbrecht, 34 ff; siehe auch https://derstandard.at/2000088455720/Erste-

Group-Chef-Treichl-Erben-ist-keine-Leistung.

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Erbrecht

Inkaufnahme der Zerstörung des Bestehenden wird also nichtdurch die gesicherte Perspektive einer Schumpeter’schenschöpferischen Neuerung aufgewogen.

2.3. Überbetonung der individuellen Freiheit?

Im Lichte des österreichischen Rechts wird die zentrale Fragean das geltende deutsche Pflichtteilsrecht greifbar: Das deut-sche Modell gibt dem Pflichtteilsberechtigten eine verantwor-tungsfreie Barabfindung, selbst wenn dies eine Zerstörung ge-wachsener Einheiten erforderlich macht. Diese Metamor-phose des Familienvermögens in gesichts- und bindungslosesGeld ist jedoch auf der Grundlage der traditionellen und herr-schenden Begründung des deutschen Pflichtteilsrechts kaumzu erklären. Gerade wenn man mit dem BVerfG die verfas-sungsrechtliche Gewährleistung des Pflichtteilsrechts iS einerunentziehbaren Teilhabe am wirtschaftlichen Wert des Nach-lasses aus dem Gedanken der Familiensolidarität ableitet,dann erscheint es begründungsbedürftig, dass dem Pflicht-teilsberechtigten seinerseits nach dem Tod des Erblassers kei-nerlei Familiensolidarität und familiäre Rücksichtnahmemehr abverlangt wird. Vor allem wenn man die unentziehbareTeilhabe darauf stützt, dass sie die Fortsetzung des ideellenund wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermögen undFamilie ermöglicht und sichert,143 ist schwer zu erklären, wa-rum es dem Pflichtteilsberechtigten freistehen soll, genaudiesen Zusammenhang zu zerstören.

3. Das Modell „Wertteilhabe“

3.1. Möglichkeit der Kontinuität und Teilhabe am Erblasservermögen

Das österreichische Modell eröffnet die Option, dem Pflicht-teilsberechtigten statt Liquidität lediglich eine Wertteilhabeam bestehenden Vermögen einzuräumen. Der Pflichtteilsan-spruch wird also in die familiäre Tradition und den schon be-stehenden familiären Vermögensrahmen eingebettet. Das ös-terreichische Recht ermöglicht also eine Ausgestaltung desPflichtteils als Teilhabe an einem dynamischen, bereits beste-henden Gebilde (= Unternehmen) mit all seinen Vor- undNachteilen, mit den Risiken, zugleich aber auch mit neuen Er-werbschancen. Der Pflichtteilsberechtigte wird damit viel en-ger an bereits bestehendes Vermögen gebunden und hat ge-gebenenfalls auch nur ein Recht auf das eben Bestehende und„Belastete“.

3.2. Unternehmerisches Risiko für alle!

Dem Erblasser eines österreichischen Unternehmens ist esdamit möglich, für die Pflichtteilsberechtigten ganz andereBindungen festzulegen als ein Unternehmer in Deutschland.Wenn dies dem Willen des Erblassers entspricht, muss nachösterreichischem Recht ein Pflichtteilsberechtigter etwa dasgleiche unternehmerische Risiko tragen wie der Erbe, der jaseinerseits auch bei Fortführung des Unternehmens keine Li-quidität für eigene Lebensprojekte bekommt.144 Durch dieVerhinderung des sofortigen Liquiditätsabflusses zugunsten

der Pflichtteilsberechtigten kann ein Unternehmen erhaltenbleiben und muss nicht unbedingt veräußert werden. Bei ent-sprechender Gestaltung können die Erträge allein herangezo-gen werden, um den Pflichtteil zu decken. Dadurch kann aucheine Interessenparallelität zwischen Erben und Pflichtteilsbe-rechtigten hergestellt werden, um gemeinsam das unterneh-merische Risiko zu tragen.

3.3. Gleichlauf von Rechten und Pflichten

Pflichtteilsberechtigte erhalten in diesem Modell insofernRechte, als ihnen eine Wertteilhabe in Höhe ihres Anspruchsgesichert wird, sie werden aber zugleich auch in die Pflicht ge-nommen. Sie erhalten nämlich nicht nur das neue „unbelas-tete“ Geld, sondern übernehmen auch das Risiko des Unter-nehmens, das zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich zumZeitpunkt des Todes des Erblassers, einen bestimmten Werthat, der sich aber täglich ändern kann.145 Hingegen ist derGeldbetrag für den Pflichtteilsberechtigten eine risikoloseAuszahlung. Das Risiko wird im Modell des zwingendenGeldpflichtteils voll auf den unternehmerischen Erben abge-wälzt. Das österreichische Recht bietet hingegen die Möglich-keit, dem Pflichtteilsberechtigten ein nicht völlig freies Ver-mögen zu gewähren, vielmehr kann auch das Vermögen desPflichtteilsberechtigten – gleich wie jenes des Erben – unter-nehmerisch gebunden werden. Damit ermöglicht es den Er-halt des Gesamten trotz unterschiedlicher Eigentumsauftei-lung. Aufgrund der unterschiedlichen Gestaltung und der un-terschiedlichen Qualifikationen von unternehmerischem Ei-gentum kann die Zerschlagung des Unternehmens vermie-den werden. Somit vermeidet das österreichische Modell,deutlich stärker als das deutsche, die unbedingte Zerschla-gungsnotwendigkeit unternehmerischen Vermögens.

4. Die Makroperspektive

4.1. Herstellung von Parität mit juristischen Personen

Das österreichische Modell erweitert nicht nur die Testierfrei-heit einzelner Erblasser, sondern fördert ganz allgemein wirt-schaftlich eine Nachfolgeplanung iS einer Erhaltung von Fa-milienunternehmen in der Unternehmerfamilie. Die Offen-heit der Gestaltung des Pflichtteilsanspruchs kompensiert inwirksamer Weise die „Ungleichheit“ natürlicher Personen alsUnternehmer im Vergleich zu bestimmten juristischen Per-sonen. Diese kennen die natürliche Bruchstelle des Todes unddie Notwendigkeit des Unternehmensübergangs und der da-mit verbundenen Teilungsfolgen nicht. Je offener eine Rechts-ordnung daher eingestellt ist, um Pflichtteilsansprüche zu de-cken, ohne das Unternehmen liquidieren zu müssen, destoeher wird eine Chancengleichheit unter den Unternehmenunterschiedlicher Rechtsform und Eigentümerstruktur eröff-net. Gerade fondsartige bzw anstaltsartige Gesellschaftenkennen die Sollbruchstelle des Todes eines Unternehmersnicht. Das offen gestaltete Pflichtteilsrecht öffnet die privatau-tonome Grundlage zur Schaffung einer parallelen Ausgangs-lage und eines Marktumfelds, das gleiche Rahmenbedingun-gen bietet. Ein offenes Pflichtteilsrecht trägt dazu bei, diesesstrukturelle Defizit auszugleichen. Bei genauer Sicht existiert

143 So ausdrücklich das BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.144 Auf diesen Aspekt zutreffend hinweisend K. Schmidt, Pflichtteil, 39; vgl auch Oechs-

ler, AcP 200 (2000), 617. 145 Siehe Pkt II.1.

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Erbrecht

nämlich der „Markt von Unternehmen“ nicht, beruht er dochauf vollkommen verschiedenen Prämissen: Kontinuität trifftauf die notwendige Bruchlinie in jeder Generation (25 bis 30Jahre). Je liberaler der Gestaltungsrahmen in der Rechtsnach-folge ist, desto leichter können Unternehmen unterschiedli-cher Struktur erhalten werden.146 Eine solche „Parität“ ist –das ist eine der Prämissen dieses Beitrags – wünschenswert,weil Familienunternehmen volkswirtschaftlich und gesell-schaftlich eine wichtige Rolle spielen147 und das Bestehen derOption, Familienunternehmen (in Familienhand) zu erhal-ten, daher im Allgemeininteresse steht.

4.2. Geschäftsmodell Diversifikation versus Produktentwicklung mit Ausstrahlungseffekten

Fonds sind typischerweise nicht unternehmerisch iS einerstrategischen unternehmerischen Führung tätig. Sie sind imRegelfall Finanzinvestoren, die durch Diversifikation auf Op-timierung ihres Ertrags in kurzer Zeit zielen. Regelmäßig istes für sie kein zentrales Anliegen, ein Produkt oder eine be-stimmte Geschäftsidee zu fördern und zu entwickeln. Das Ri-siko wird entsprechend diversifiziert und auf verschiedeneGeschäftsideen in völlig verschiedenen Regionen und Bran-chen gestreut. Dabei geht es regelmäßig nicht um eine dauer-hafte Entwicklung und Wertschöpfung, sondern vielfach umeine kurzfristige Gewinnoptimierung, um diesen Ertrag an-derweitig einzusetzen. Unternehmen in der Hand einer Fa-milie konzentrieren sich typischerweise zunächst auf einLand und eine Region, in der der Großteil der Familie lebt, umdamit auch Wertschöpfung in einer bestimmten Region dau-erhaft zu schaffen. Dabei geht es nicht um eine kurzzeitige in-tervallbezogene Optimierung der Erträge, sondern um einelangfristige Sicherung des Lebensunterhalts, um dauerhaftfür sich und die Familienmitglieder eine Erwerbsquelle undauch eine sinnstiftende Tätigkeit zu verfolgen. Diese Möglich-keit wird zugleich auch den Beschäftigten in den Unterneh-men gegeben. Damit wird auch die Sicherheit geschaffen,langfristig angemessene Gewinne zu erwirtschaften und zuverteilen. Zugleich wird die Möglichkeit eröffnet, auch füreine bestimmte Gruppe eine Solidaritätsgemeinschaft zu bil-den, sei es innerhalb der Familie für in Not geratene Personen,sei es für die Arbeitnehmerschaft in Unternehmen, sei es auchfür Bewohner einer Region des Unternehmens.

4.3. Wegfall des Liquiditätsabflusses als Investitionstreiber

Da ein sofortiger Liquidationsabfluss in Höhe der Pflicht-teilsansprüche durch wertmäßige Deckung vermeidbar ist,können Investitionen nachhaltig geplant und gestaltet wer-den. Es entfällt die Notwendigkeit, im Hinblick auf einenErbfall Liquidität vorzuhalten und neben dem im Unterneh-men gebundenen Vermögen aus den Erträgen Abfindungs-vermögen zu schaffen. Die entsprechenden Mittel stehen sozur Verfügung, um Investitionen zu tätigen und dieMarktentwicklung voranzutreiben. Laufende Dividendenmüssen nicht ausgereizt und sofort ausgeschüttet, Sonder-dividenden nicht dargestellt, sinnvolle Investitionen nicht

hintangehalten und aufgeschoben werden, vielmehr stehendie erwirtschafteten Erträge tatsächlich für unternehmeri-sche Zwecke unmittelbar zur Verfügung. Durch die Siche-rung der Investitionstätigkeit können der dauerhafte Be-stand des Unternehmens und damit auch die Arbeitsplätzesowie der regionale Standort eines Unternehmens abgesi-chert werden. Dies ist auch eine Chance für Regionen, in de-nen Arbeitsplätze rar sind.148 Familienunternehmen stehendamit in besonderem Maß für Nachhaltigkeit. Beispiele fürgenerationenübergreifendes, nachhaltiges Wirtschaften fin-det man in Österreich sowohl in Tourismusbetrieben alsauch in gewerblichen und industriellen Unternehmen. Da-mit können Unternehmen und damit auch Infrastrukturund qualifizierte Arbeitskräfte auch in verschiedenen loka-len Kleinzentren gehalten werden und die Wirtschaft aufverschiedene Fokalpunkte gestreut werden.149

4.4. Innovation und innovationsfördernde Fehlerkultur

Die Option einer Vermeidung des Liquiditätsabflusses inHöhe der Pflichtteile fördert tendenziell Innovation. Kapitalbleibt im Unternehmen, kann für Forschung und Entwick-lung eingesetzt und muss nicht für die Auszahlung weichen-der Erben vorgehalten werden. Stärken können weiter ausge-baut, Neues kann innerhalb alter bestehender Unternehmenausprobiert werden. Innerhalb bestehender Unternehmenwerden sog Forschungs-Labs gebildet, die wiederum eineRückkoppelung zu qualifizierten Arbeitsplätzen und Aus-strahlungswirkung und Verstärkungseffekte bewirken. DieForschungs-Labs können auch als Chance eingesetzt werden,unterschiedliche unternehmerische Talente im Unternehmenzu erproben, sei es von Familienmitgliedern, sei es vonAußenstehenden unter der Leitung der Familie.

Eigentümergetragene Unternehmen sind mit der Offen-heit für Innovation im Regelfall auch offener für eine tole-rante Fehlerkultur. Sie sind seltener von der ständigen Angstmöglicher Haftung geprägt, die ein – inzwischen lähmendes– Geschäftsmodell für börsenotierte Gesellschaften gewor-den ist. Vielfach zeigen diese sich nur mehr als getriebeneFremdvermögensverwalter, die besorgt sind, ihre Eigenver-antwortung durch endlos prozeduralisierte Entscheidungenmöglichst kleinzuhalten. Die Anerkennung einer Fehlerkul-tur und die Toleranz von Fehlern im überschaubaren Aus-maß eröffnen die Chance zum Probieren.150 Haftung alleinkann kein ausreichender Anreiz für eine zukunftsorientierteunternehmerische Tätigkeit sein. Die Relativierung der Leis-tungs- und Verhaltenssteuerungskraft von Haftung ist keinAufruf zur Verlotterung, sondern eine Anmahnung, denVorteilen einer toleranten Entwicklungskultur offen gegen-überzustehen.

Eigentümergetragen heißt dabei nicht unbedingt, dassnur Familienmitglieder in der Geschäftsführung sind, aber esbedeutet, dass die Familie eine starke Unterstützung derGeschäftsführung ist und die Familie eine starke und aktiveEigentümerrolle auf der Ebene der Gesellschafter oder auf

146 Ähnlich K. Schmidt, Pflichtteil, 37 ff.147 So auch K. Schmidt, Pflichtteil, 37 ff.

148 Probst, zitiert nach Kalss, NZ 2015, 52.149 Siehe dazu auch BVerfG 17.12.2014, 1 BvL 21/12.150 Kalss, Gesellschaftsrechtliche Grundlagen von Compliance, in Kalss/U. Torggler,

Compliance (2016) 1 (17 ff); Bärtschi, Verantwortung im globalen Konzern, in Bru-dermüller/Fuhrmann, Verantwortung und Moral in der Wirtschaft – mehr als einfrommer Wunsch? (2011) 9 (14 f).

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Erbrecht

Organebene spielt.151 In börsenotierten Gesellschaften (ohneRückbindung an einen starken Gesellschafter=) steigt die Ge-fahr der „Beraterisierung“ der Entscheidungsträger für unter-nehmerische Tätigkeit. Dies wird zu einem Geschäftsmodellvon anliegenden Dienstleistern rund um die „kernunterneh-merische“ Tätigkeit.

4.5. Netzwerk als Wettbewerbsvorteil

Die Erhaltung von Familienunternehmen in Familienhandhat schließlich einen weiteren, bisher wenig beachteten Vor-teil: Das Netzwerk innerhalb der Familie und die Netzwerkeder einzelnen Familienmitglieder bleiben langfristig für dasUnternehmen nutzbar. Damit kann auch die Chance der Di-versität der Familie genutzt werden, zumal die Diversität in-nerhalb einer Familie vielfach deutlich höher ist als in Akti-enklubs oder sonstigen neuen Investmentvereinen. Die seitGenerationen gewachsenen Verbindungen dürfen keines-wegs als Ausdruck dubioser geschlossener Netzwerke miss-verstanden werden; es geht um den Aufbau von stabilem undnachhaltigem Vertrauen, das in guten wie in schlechten Zei-ten für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens zentraleBedeutung hat.

5. Noch einmal: Wirtschaftlicher Nutzen und Macht

5.1. Macht verlangt nach Ordnung!

Erbrecht blendet die in Unternehmen unvermeidbare Macht-frage aus; im Erbrecht wird nur ein stichtagsbezogener Werttransferiert und zugeordnet. Macht und Einflusspositionenmüssen letztlich aber zugeordnet werden.152 Das deutscheRecht braucht mit seiner Radikallösung der Liquidierung in-nerhalb der Familie und der Verpflichtung, eine Barzahlungzu leisten, auf die Machtfrage im Unternehmen nicht einzu-gehen. Der Pflichtteilsberechtigte ist ohnehin „draußen“ undhat die Chance, neu zu beginnen. Bei der Barlösung geht eseben nicht um Macht, sie geht ohnehin jedenfalls verloren,auch dem Erben des Unternehmens, wenn er nicht die not-wendige Liquidität zur Barabfindung aufbringen kann. DieGestaltungsmöglichkeiten des österreichischen Pflichtteils-rechts zwingen dagegen dazu, Macht auch zu verteilen undMacht zuzuordnen. Das Erbrecht ist dabei keine Hilfe; dieVerteilung von Macht und Einfluss ergibt sich fast automa-tisch als Folge der Eigentumszuordnung. Geschäftsführungs-positionen und Nominierungsrechte etc werden überhauptnicht erfasst. Die größere Gestaltungsfreiheit des österreichi-schen Modells führt daher zwangsläufig auch zu komplexerenGestaltungsnotwendigkeiten.

5.2. Effiziente Unternehmensführung – Sicherung der Entscheidungsfindung

Im Rahmen der Gestaltung der Unternehmensnachfolge istdaher eine eindeutige und sachgerechte Machtzuteilung ausgesellschaftsrechtlicher Sicht unbedingt notwendig, um eine

effiziente Unternehmensführung sicherzustellen.153 Die Tei-lungskraft und die Gleichheit des Erbrechts stehen dem Prin-zip des Gesellschaftsrechts nach Sicherung einer effizientenUnternehmensführung diametral entgegen.154 Hier schlägtdie Stunde guter Kautelarjuristen, die nicht nur die Individu-alinteressen der verschiedenen Familienmitglieder, sondernauch das gesamtheitliche Unternehmensinteresse im Blickhaben.

In besonderer Weise spitzt sich die Machtzuteilung beiHeranziehung der Privatstiftung als Instrument der Vermö-gensorganisation zu. Der wirtschaftliche Nutzen ist von demunmittelbaren Einfluss und der Machtposition getrennt155

und sobald eine Privatstiftung in den Gestaltungskanon ein-bezogen wird, ist die Machtfrage daher unbedingt zu klärenund zu ordnen. Das österreichische Modell mit seinen Mög-lichkeiten der Pflichtteilsdeckung (etwa durch Anteile ohnejedes Stimmrecht, durch Anteile mit ganz geringem Stimm-recht oder nur durch ein Genussrecht oder eine Rente) mussdie Machtfrage mitlösen. In diesem Augenblick drängt sichauch die Frage der Zuteilung und der Bewertung von Machtauf.

5.3. Wie viel sind Einfluss und Macht wert und wie sind sie zu ordnen?

Macht wird auch in der Unternehmensbewertung nicht offenangesprochen und nicht offen bewertet. Vielfach zeigt sie sichaber sehr wohl als Kontroll- oder Entscheidungsprämie.156

Diese Möglichkeit der Kontroll- und Entscheidungsprämiemuss offen angesprochen werden. Dies ist allerdings äußerstschwierig. Weniger Macht bedeutet zweifelsfrei einen Wert-nachteil, dessen Abgeltung dem Grunde und der Höhe nachsehr komplex und einzelfallbezogen sein kann.157 Gerade inErbteilungsübereinkommen besteht die Möglichkeit, die Auf-gabe von Macht durch einen zumindest temporären höherenErtragszufluss zu kompensieren. Dabei darf aber nicht außerAcht gelassen werden, keine verzerrenden Verhaltensanreizezu setzen. Im Falle eines Erbteilungsübereinkommens, indem alle Beteiligten zustimmen müssen, somit auch derPflichtteilsberechtigte, muss eine Lösung für die Machtfragegefunden werden und damit auch für die Frage ihrer Bewer-tung.158

Zielstellung der Gesamtgestaltung ist die Sicherung einesGleichgewichts zwischen ökonomischem Nutzen und Ord-nung der Macht, das den Interessen aller Stakeholder gerechtwird. Letztlich geht es darum, unter Berücksichtigung derEigenarten des jeweiligen Unternehmens und der Unterneh-merfamilie ein Modell zu entwickeln, das eine Entschei-

151 Nach einer rezenten Studie vom September 2018 sind familiengeführte Unterneh-men an der Börse deutlich ertragsstärker als sonstige; siehe dazu NordbayrischerKurier vom 11.9.2018, S 8.

152 So ausdrücklich Kirchdörfer in seinem vor der Plattform für Familienunternehmender Industriellenvereinigung am 11.6.2018 in Wien gehaltenen Vortrag.

153 Siehe nur Kalss, Rechtsformalternativen, 9 und 16.154 Kalss, Rechtsformalternativen, 16; dies, Unternehmensnachfolge, 97; zur Bewertung

von Stimmrechten Kalss/Probst, Was ist der Einfluss in der Gesellschaft wert?GesRZ 2016, 178 (180); Strimitzer, Der Wert der Geschäftsführung und des Gesell-schaftereinflusses, UnternehmerCircle 4 (2016), 9; Winner, Wert und Preis im Zivil-recht (2007) 419; ders, Wert und Preis im neuen Recht des Squeeze-out, JBl 2007,434 (436).

155 Kalss, Rechtsformalternativen, 11.156 Hügel/Aschauer, Pflichtteilsrecht, 274 ff; ferner dazu Winner, Wert und Preis, 481;

Piltz, Die Unternehmensbewertung in der Rechtsprechung3 (1994) 238; Wiechers,Besonderheiten bei der Bewertung von Anteilen an Unternehmen, in Peemöller,Praxishandbuch der Unternehmensbewertung (2001) 455 (461); Fleischer in Flei-scher/Hüttemann, Unternehmensbewertung, § 18 Rz 44.

157 Siehe dazu Kalss/Probst, GesRZ 2016, 180; Strimitzer, UnternehmerCircle 4 (2016),9 ff.

158 Kalss, Unternehmensnachfolge, 112.

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Erbrecht

dungsprärogative oder jedenfalls eine gesicherte Entschei-dungsfindung zugunsten eines oder bestimmter Gesellschaf-ter sicherstellt, sei es in Form einer geringfügigen Stimm-rechtsübermacht (51 % oder 50 % + 1 Stimme) oder in Formeines Stichentscheidungsrechts (Dirimierungsrecht). Letzt-lich ist es auch möglich, einen Beirat oder auch eine schonfestgesetzte oder nach einem festgelegten Prozedere zu nomi-nierende Schiedsperson als Ventil für eine Lösung vorzuse-hen. Als ultima ratio kann man schließlich auch das Los ent-scheiden lassen. Jedenfalls muss es einen Mechanismus ge-ben, der die Entscheidungsfindung sicherstellt.

Gerade für diese Gestaltungen gibt es einleuchtende Best-practice-Lösungen. Allein psychologisch ist es vielfach schwe-rer, eine unterschiedliche Zuteilung nach wirtschaftlichemNutzen und Einflussnahmemöglichkeit tatsächlich zu setzenoder umgekehrt zu akzeptieren. Eine best practice könnte undmüsste ua sein, die Macht zu ordnen, die Macht nur für eineGeneration zuzuweisen und nicht gleich auch für die kom-menden Generationen zu zementieren. Die Geschäftsfüh-rung sollte nicht einem Kind oder einem Stamm zukommen,sondern im Interesse der Sicherung der Kontinuität des Un-ternehmens tatsächlich vom Bestgeeigneten übernommenwerden. Gerade hier sind auch innerhalb der Familie strikteund objektiv überprüfbare Kriterien notwendig, die vorwegin Regelungen gefasst werden. Sinnvoll könnte es hier sein, ineiner Regelkombination von gesellschaftsrechtlicher Rege-lung und letztwilliger Verfügung klar die Zuteilungen ge-trennt vorzunehmen und so zwar die wirtschaftliche Versor-gung aller zu sichern, den Erhalt des Unternehmens und diedauerhafte Sicherung aber gezielt nach Qualifikation zu ord-nen.

V. Ausblick

„Liquidität versus Wertteilhabe“, so lässt sich der zentrale Un-terschied zwischen deutschem und österreichischem Pflicht-teilsrecht tatsächlich auf den Punkt bringen. Das deutscheModell gibt dem Pflichtteilsberechtigten einen sofort fälligen,„verantwortungsfreien“ Anspruch auf Liquidität, mit der erals Individuum seine eigenen Lebensprojekte vorantreibenkann, selbst wenn dafür das Familienvermögen, das dieGrundlage für seinen Anspruch bildet, liquidiert werdenmuss. Dagegen erlaubt das österreichische Pflichtteilsrechtdurch die Eröffnung von Deckungsmöglichkeiten eine Ein-bindung der Erfüllung des Pflichtteilsanspruchs in die Struk-turen des Herkunftsvermögens. Der Pflichtteilsberechtigtekann auf eine verantwortliche Wertteilhabe verwiesen wer-den. Seinen Rechten als Pflichtteilsberechtigter am Erblasser-vermögen stehen dann entsprechende Pflichten im Hinblickauf die Erhaltung dieses Erblasservermögens gegenüber. Dasösterreichische Modell schafft damit – vom Reformgesetzge-ber 2015 beabsichtigt oder nicht – eine gewisse erbrechtlicheGrundlage für die Erhaltung von Familienunternehmen inFamilienhand. Nach den hier entwickelten Überlegungen ist

dies mit Nachdruck zu begrüßen, das Pflichtteilsrecht wäreaber aus volkswirtschaftlichen Überlegungen im Hinblick aufeine praktikable Stundungsregelung in der Pflichtteilszah-lung durchaus noch weiter entwickelbar.

Das ist Sozialromantik, könnte man einwenden: Die Per-petuierung von Familienunternehmen führt nur zu Verkrus-tungen überkommener Strukturen; ein derartiges Lebensmo-dell könne daher keineswegs ein erstrebenswertes Ziel sein,das vom Privatrecht auch noch gefördert werden sollte.159

Die Realität des österreichischen und deutschen Mittel-stands vermittelt eine andere Botschaft: Familienunterneh-men setzen tendenziell auf Nachhaltigkeit, Innovation undsozialen Ausgleich und sind damit – dies ist letztlich kaum be-streitbar – tragende Säulen der beiden Volkswirtschaften. Istes denn sinnvoll, so könnte man weiter einwenden, dass sichdie junge Generation den Vorstellungen ihrer Eltern unter-werfen und für deren Lebensprojekte in die Pflicht nehmenlassen muss, anstatt kreativ und unabhängig ihre eigenen Vor-stellungen zu realisieren? Diese Freiheit wird ihr freilich auchim österreichischen Modell nicht genommen. Ihr steht zurVerwirklichung ihrer individuellen Ziele und Pläne eben nurnicht die Liquidität zur Verfügung, die zur Erhaltung des Fa-milienunternehmens in der Herkunftsfamilie erforderlich ist.Diese Mittel muss sie sich selbst verdienen, dies entsprichtdem Leistungsprinzip.

Ließe sich das österreichische Modell einer verantwortli-chen Wertteilhabe de lege ferenda auf das deutsche Erbrechtübertragen? Wäre dies verfassungskonform? Sieht man ein-mal von rechtstechnischen Herausforderungen ab, die sichaus den strukturellen Unterschieden zwischen dem österrei-chischen und den deutschen Erbrecht ergeben (insb Von-selbst-Erwerb und Verlassenschaftsverfahren), so ist dies zubejahen.160 Das österreichische Modell einer verantwortli-chen Wertteilhabe entspricht der verfassungsrechtlichen undteleologischen Fundierung des Pflichtteilsrechts durch dasdeutsche BVerfG sogar besser als das derzeitige deutsche Mo-dell der Barabfindung: Wenn man das Postulat einer unent-ziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Min-destbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlassmit dem Gedanken der Familiensolidarität rechtfertigt, er-scheint es geradezu konsequent, dem Pflichtteilsberechtigtenauch die Familiensolidarität und familiäre Rücksichtnahmeabzuverlangen, die zur Erhaltung des Familienvermögens inder Familie erforderlich sind. Gerade wenn man die unent-ziehbare Teilhabe darauf stützt, dass sie die Fortsetzung desideellen und wirtschaftlichen Zusammenhangs von Vermö-gen und Familie ermöglicht und sichert,161 wäre es nur folge-richtig, dem Pflichtteilsberechtigten die Möglichkeit zu neh-men, genau diesen Zusammenhang zu zerstören.

159 Prominent und immer noch lesenswert für diese Argumentationslinie Reuter, Pri-vatrechtliche Schranken der Perpetuierung von Unternehmen (1973).

160 Ebenso Ch. M. König, Stiftung.161 So ausdrücklich das BVerfG 19.4.2005, 1 BvR 1644/00 ua.

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