CZ_2011_3_Kurzversion
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Zeitschrift der überkonfessionellen Bewegung Campus für Christus Schweiz
3|11
Zeitschrift der überkonfessionellen Bewegung Campus für Christus Schweiz
Fürs Leben lernen
Editorial
fürs leben lernen | editorial
Sich trauen, dumme Fragen zu stellen
Selten habe ich mich so gelangweilt
wie in der Schule. Nicht immer, aber es
gab Schulstunden, da schien der Zeiger
an der Uhr von unsichtbarer Hand auf-
gehalten zu werden, und ich fragte
mich, ob ich jemals noch aus diesem
Zimmer kommen würde. Ganz schlimm
war es, wenn sich dieses Gefühl schon
morgens um halb acht einstellte und
noch sechs oder sieben weitere Lekti-
onen anstanden. Woran lag es? Wohl
daran, dass der Inhalt, die Vermittlung
des Stoffs oder die Lehrperson selbst
nicht am Leben angedockt war. Ich
konnte das, was ich hörte, nicht in Ver-
bindung bringen mit meiner eigenen
Erlebenswelt. Manchmal ging es mir
auch im Glaubensleben so, wenn ich
beim besten Willen nicht sah, wo denn
diese Predigt, jenes Seminar oder die
referierende Person überhaupt am
Leben «angemacht» war.
Wie wohltuend, spannend und inspi-
rierend waren dagegen Menschen, die
die Brücke zum Leben schlagen konn-
ten. Menschen, die nicht nur Richtig-
keiten dozierten, sondern auch zu um-
setzbaren Schritten und praktischen
Erfahrungen anleiteten.
Mit den Jahren bin ich etwas reifer
geworden. Ich habe erkannt, dass
gute Lernerfahrungen nicht nur davon
abhängen, wer mir wie was bringen
kann, sondern auch, ob ich als Lernen-
der meine Eigenverantwortung wahr-
nehme. Ich erinnere mich an verschie-
dene Momente, in denen ich mich
entscheiden musste: Höre ich das
Falsche, oder behalte ich das Gute?
Bleibe ich in der Beobachterrolle auf
Distanz, oder lasse ich mich ein und
suche aktiv nach Wegen, wie ich das,
was vermittelt wird, in mein Leben
integrieren kann? Tue ich so, als hätte
ich es kapiert, wenn ich etwas nicht
begriffen habe, oder stehe ich zu mei-
nen Defiziten und unternehme alles,
um mich schlauzumachen, auch wenn
ich mir dabei eine Blösse gebe? Im
Klartext: Traue ich mich, dumme
Fragen zu stellen?
Dumme Fragen sind nämlich meist
nicht dumm, sondern dumm ist, keine
Fragen zu stellen. Für mich sind dum-
me Fragen der Weg zu guten Fragen,
und die haben mich stets einen wesent-
lichen Schritt weitergebracht. Und die
genialste Entdeckung ist: Ich darf auch
Jesus dumme Fragen stellen, um «von
ihm zu lernen», sodass ich in der Nach-
folge wirklich nachkomme und nicht
nur mitlaufe.
Wir hoffen, mit den Beiträgen dieser
Ausgabe Ihre Lust am «Lernen fürs Le-
ben» neu zu wecken: Indem Sie, wie
Dr. Markus Müller im Interview erzählt,
Ihre eigenen Lernerfahrungen reflektie-
ren und mit anderen Menschen aus-
tauschen. Indem Sie wie bei Veronika
Schmidt Frust und Stress Ihre Lehr-
meister werden lassen. Indem Sie dank
Johann Amos Comenius, Urs und Heidi
Wolf und AD(H)S-Experte Joachim
Kristahn alte und neue Einsichten ge-
winnen und Tipps für lebensrelevantes
Lernen bekommen. Indem Sie von Jesus
selbst für ihre (notwendigen) Lernpro-
zesse ermutigt und angeleitet werden.
Indem Sie die unzähligen Lerngelegen-
heiten nutzen, die Ihnen das Leben täg-
lich bietet, und sich trauen, dumme und
gescheite Fragen zu stellen – um ein
Leben lang zu lernen und zu wachsen.
Peter Höhn
Tue ich so, als hätte ich eskapiert, wenn ich etwas nicht begriffen habe, oder stehe ich zu meinen Defiziten?
3 cz 3|11
CharaktertrainingWas die Jünger auch noch lernen mussten
Wären Sie damals gerne mit Jesus unterwegs gewesen? Sie hätten dramatische Wunder und Heilungen erlebt, wären aber auch bis an die Grenzen gestresst worden. Der Blick hinter die Kulissen von JesuReich-Gottes-Training zeigt: Es geht um konsequente und kindliche Abhängigkeit von Jesus.
Peter Höhn
In Markus, Kapitel 3, lesen wir, dass
Jesus seine Jünger berief, damit sie
«bei ihm seien», bevor er sie aussenden
wollte, um das Reich Gottes in Wort
und Tat zu verkünden. Was bedeutete
es, bei Jesus zu bleiben? Was war es,
was die Jünger lernen sollten?
Fünf Fallen für Jesus-NachfolgerNatürlich sollten sie über die gewaltigen
Machttaten staunen, die Gott durch
Jesus vollbrachte. Sie sollten erkennen
und verstehen, dass Jesus
von Gott gekommen und
von ihm beglaubigt war.
Sie sollten lernen, in seinem
Namen zu predigen und
Menschen zu heilen. Aber
um fähig zu werden, in den
Fussstapfen des Meisters
zu gehen, hatten die Jünger
noch mehr zu lernen. Sie
mussten ihr religiöses Welt-
bild gründlich revidieren
und ihren Charakter hart trainieren las-
sen. Insbesondere auf fünf Fallen mach-
te Jesus seine Jünger immer wieder auf-
merksam und zeigte ihnen auch das
entsprechende Gegenmittel ...
Falle: ErfahrungenGegenmittel: Immer neu nicht wissen, wie‘s geht
Die Evangelien zeigen: Jünger Jesu müs-
sen mit den Erfahrungen von gestern
vorsichtig sein. Jede Situation ist ein
neuer Lernplatz. Jesus wirft die Logik
seiner Jünger fortwährend über den
Haufen; er gibt ihnen zu verstehen,
dass es diesmal wieder ganz anders ist
als letztes Mal. Zum Gelähmten am
Teich Bethesda sagt Jesus: «Geh und
sündige nicht mehr!» Aber als seine
Jünger beim blindgeborenen Mann die
Frage nach der Sünde stellen («Hat die-
ser oder seine Eltern gesündigt?»), gibt
Jesus zu verstehen, dass hier die Sünde
gar kein Thema ist. Der reiche junge
Mann sollte alles verkaufen und den
Erlös den Armen geben, aber als einige
Jünger dieses Prinzip bei Marias Ver-
schwendung des teuren Salböls anwen-
den wollen («Man hätte es besser ver-
kaufen und den Erlös den Armen ge-
ben sollen»), hat Jesus eine andere
Meinung. Oder als Petrus mit seinem
Bekenntnis «Du bist der Christus!»
einen prophetischen Volltreffer landet,
bekommt er schon beim nächsten
Votum zu spüren, dass nicht alles, was
er sagt, göttliche Offenbarung ist. Der
ultimative Schock war die Kreuzigung
Jesu. Und als sich die Jünger endlich
mit seinem Tod abgefunden hatten,
war er schon wieder auferstanden.
Offensichtlich geht es Jesus darum,
seinen Jüngern einzuprägen: Jede Situa-
tion, jede Begegnung ist neu und für
eine Überraschung gut. Trotz reicher
Erfahrungen ist die richtige Haltung
eines Jesus-Nachfolgers: «Ich weiss,
dass ich nichts weiss!» Es gilt nur zu
vertrauen: Jesus ist da. Er bringt Hilfe
und Lösungen von Seiten, von denen
es niemand erwarten würde.
Falle: Eigene PläneGegenmittel: Die Lösung beiJesus suchen
Lukas schildert im neunten Kapitel
seines Evangeliums sechs verschiedene
Situationen, in denen es ein Problem
gibt. Immer haben die Jünger eine
Lösung, aber Jesus hat jedes Mal einen
anderen Plan: wie fünftausend Men-
schen verpflegt werden; ob man auf
dem Berg der Verklärung Hütten bauen
soll; ob der fallsüchtige Knabe geheilt
werden kann; wie man die Frage der
Jünger löst, wer der Grösste sei; wie
man mit dem fremden Dämonenaus-
12 cz 3|11
1AmGenferLeiterforum2009hieltRichardBlackabyeinbemerkenswertesReferatzumThema(s.www.genevaleadershipforum.org,Kapitel«DVDsandTalks»).
in geheimnisvoller Weise: «Hütet euch
vor dem Sauerteig der Pharisäer!» Die
Jünger dachten, er tadle sie, weil sie zu
wenig Brot mitgenommen hätten. Aber
Jesus warnte sie vor der pharisäischen
Einstellung, die anderen ihre Fehler an-
kreidet und meint, man bekomme das
Leben in den Griff, wenn man sich nur
korrekt verhalte, die richtigen Gebete
spreche und die Regeln nicht übertrete.
«Hütet euch davor!», sagt Jesus. Jesus
ermahnt seine Jünger nicht, weil sie et-
was vergessen haben, sondern ermahnt
sie, wenn sie vergessen, was Jesus in
solchen Situationen zu tun pflegt: aus
unserem wenigen viel und aus unse -
rem Mist Dünger machen! Gott lässt
uns nicht im Stich, wenn wir etwas
versäumt oder einen Fehler gemacht
haben, sondern lädt uns ein, ihm dann
nur umso mehr zu vertrauen.
Falle: KonkurrenzdenkenGegenmittel: Die Gesinnung eines Kindes bewahren
Was die Jünger besonders gerne tun:
sich austauschen, wer wohl der Grösste
und Wichtigste sei (sie tun das sogar
noch beim Abendmahl). In Matthäus
18,1-5 stellt Jesus als Antwort ein Kind in
ihre Mitte und sagt: «Wahrlich, ich sage
euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wer-
det wie dieses Kind, werdet ihr keines-
falls in das Reich der Himmel hinein-
kommen.» Jesus redet mit derselben
Klarheit wie damals zu Nikodemus. Es
ist unmöglich, im Reich Gottes zu le-
ben, wenn wir nicht aus dem Geist Got-
tes geboren werden, aber auch dann,
wenn wir nicht wie ein Kind werden.
Was zeichnet ein Kind aus?
Ein Kind ist abhängig: Es kennt gar
nichts anderes als Abhängigkeit. Unbe-
schwert bringt es alles nach Hause:
fürs leben lernen | charaktertraining
Erlebnisse, Wunden, Fragen, und es
weiss: Der Vater wird sich darum küm-
mern. Ein Kind ist vertrauensselig: Es
ruht völlig in seinem Vertrauen, dass der
Vater alles im Griff hat, dass er weiss,
was er tut, und er es gut hinausführen
wird. Ein Kind spielt: Es denkt und analy-
siert sich nicht durchs Leben. Es ist neu-
gierig, probiert selbständig Dinge spiele-
risch aus und lernt so ständig dazu. Ein
Kind liebt: Es liebt, weil es sich geliebt
weiss, und nicht, weil es sich durch be-
sondere Leistungen wertvoll fühlt.
Falle: UnabhängigkeitGegenmittel: Sich vom Heiligen Geist erfüllen und leiten lassen
Am Ende seines irdischen Lebens stellt
Jesus seinen Nachfolgern «den anderen
Ermutiger» vor, den Heiligen Geist. Er
werde bei ihnen und in ihnen sein; er
werde sie nun weiterhin alles lehren und
an alles erinnern, was sie in jeder Situa-
tion wissen und beachten müssten. Er
werde sie in alle Wahrheit leiten.
Die Hauptherausforderung im Leben
eines Jesus-Nachfolgers besteht darin,
sich täglich total abhängig von der Lei-
tung des Heiligen Geistes zu machen.
Es gibt (zu) viele Christen, nicht zuletzt
in leitenden Positionen, die abgeklärt,
stur, resigniert und zynisch geworden
sind. Ist es, weil sie noch den Erfahrun-
gen von gestern nachhängen? Weil
sie immer schon wissen, wie es (nicht)
geht? Weil sie aus dem rechten Tun statt
aus der Gnade leben? Weil sie das kind-
liche Ver trauen und das spielerische
Ausprobieren über Bord geworfen ha-
ben? Weil sie vergessen haben, dass es
mit dem Heiligen Geist immer einen
Neuanfang gibt?
treiber umgeht oder wie man gegen das
widerspenstige samaritanische Dorf
vorgehen soll. «Was, wenn die Jünger
ihre eigenen Ziele erreicht hätten?»,
fragt Richard Blackaby1 und fügt an:
«Die christliche Landschaft ist voller
Trümmer selbstgemachter Visionen.»
Auch wenn es unsere besten Ideen sei-
en, Gott brauche sie nicht. «Gott will so-
wohl der Initiant sein, als auch der, der
den Lösungsweg zeigt.» Unsere Aufgabe
als Nachfolger Jesu ist es, stets von Neu-
em im Gebet Gottes Wege zu suchen.
Falle: Gesetzlichkeit undReligiositätGegenmittel: Üben, fröhlichFehler machen und aus derGnade leben
Häufig, nachdem Jesus seine Macht de-
monstriert hat, treten die Pharisäer auf
den Plan. Sie stellen das, was Jesus tut,
auf den religiösen Prüfstand. Ihnen geht
es nicht um die Menschen, sondern um
das Gesetz. Sie betonen das korrekte
Tun und das Vermeiden von Fehlern.
Sie machen Dinge zum Thema, die
man selbst im Griff hat: Reinigungsvor-
schriften, Halten des Sabbats, Geben
des Zehnten, formale Gebete, religiöse
Streitgespräche. Das gibt ihnen die Illu-
sion, bei Gott und den Menschen res-
pektiert zu sein, aber sie merken nicht,
wie lieblos, unbarmherzig und bezie-
hungsunfähig sie selbst werden.
Jesus war diametral anders: Ihm ging
es um die Menschen. Seinen Jüngern
machte er nie Vorwürfe, dass sie etwas
falsch gemacht hätten. Einmal hatten
die Jünger zu wenig Proviant mit aufs
Schiff genommen. Jesus ermahnte sie
L
13 cz 3|11
Sinnen zu verankern. Es hilft mir, wenn
neue und andere Frust- und Lernsitua-
tionen kommen – und sie kommen
mit Sicherheit –, einen klaren Kopf zu
N e u e W e g e – k o n k r e t e S c h r i t t e«Unzufrieden» und «verankert»Frustsituationen haben mich weiter-
gebracht. Sie weckten in mir jene
not wendigen Emotionen, die ich
brauchte, um mich zu motivieren
und meinem Leben eine neue Rich-
tung zu geben. Selbst wenn sie
manchmal unglaublich wehtaten,
habe ich gelernt: Gott hat sie immer
gebraucht, um mich im Leben weiter-
zubringen und mein Leben überaus
reich zu machen.
Auf der anderen Seite war und ist es
wichtig, im Frust nicht allein zu blei-
ben, sondern ihn mit Gott und Men-
schen zu bearbeiten und dann die
guten Erfahrungsmomente mit allen
gewinnen, den eigenen Willen und die
eigenen Ressourcen zu aktivieren und
Entscheidungen zu fällen, die dem
Leben dienen.
fürs leben lernen | lernen durch stress
23 cz 3|11
A N D R E A S B O P P A R TN e w G e n e r a t i o n
AndreasBoppartist
Eventpredigersowie
Autorundleitetden
ArbeitszweigCampus
GenerationMinistryvon
CampusfürChristus.
Meine Tochter Lynn, eineinhalbjährig, lernt
ständig. Vieles hat sie mit dem Mund er-
forscht, so zum Beispiel total spannende
Gegenstände wie die Klobürste oder den
grünen Komposteimer auf der Terrasse, aber
auch Mamis kleines Tintenfässchen. Weil
Letzteres nicht ganz dicht war, stand Lynn
die Freude am Entdecken buchstäblich ins
Gesicht geschrieben.
In ihrem neuesten Lernprozess hat sie das
Malen entdeckt und die Tinte gegen Grafit
ausgetauscht. Toll, wie sie es mit dem Blei-
stift hinkriegte, eine Fläche künstlerisch zu
segnen, die etwa zehnmal so gross war wie
das Papier, das ihr eigentlich zur Verfügung
stand. Ich habe dann mit dem Radiergummi
alles säuberlich wieder weggemacht. Und
war stolz. Und weiss: Es werden noch Mo-
mente auf mich zukommen, in denen nicht
nur die Knie vom Schrubben schmerzen,
sondern auch mein Herz – aber ich will mich
freuen, wenn ich sehe, wie meine Tochter
im Leben lernt und wächst, und ich will da-
ran festhalten, dass sie es ein Leben lang
tun wird. Genau das möchte mein Vater im
Himmel auch.
Randy Alcorn schreibt in seinem Buch über
den Himmel, dass Gott nicht will, dass wir
jemals mit Lernen aufhören. Er will viel-
mehr, dass alles ausgeräumt wird, was uns
am Lernen hindert. Dieses Lernen, Entde-
cken und Erforschen bezieht sich ebenso
auf die Gegenwart wie auf die Zukunft. Wir
werden auch im «Himmel» nicht einfach all-
wissend, sondern weiter auf Entdeckungs-
reise sein. Denn Gott wird uns weiterführen
in seinem ursprünglich erdachten Plan, so
wie es im Epheserbrief 2,6-7 steht: «Und er
[Gott] hat uns in Christus Jesus mitaufer-
weckt und miteingesetzt im Himmel, damit
er in den kommenden Zeiten erzeige den
überschwänglichen Reichtum seiner Gnade
durch seine Güte gegen uns in Christus Je-
sus.» Das Wort «erzeigen» heisst so viel wie
«aufdecken, klarmachen». Im Zusammen-
hang mit den «kommenden Zeiten» bedeu-
tet das, dass es sich um ein «Klarmachen»
handelt, das nie aufhören wird.
Gott hat das ganze Leben, vom Anfang bis
in alle Ewigkeit, auf das Lernen, Entdecken
und Erforschen ausgerichtet. Meine kleine
Tochter hat‘s kapiert: Ich bin erst wieder
dran, diese Wahrheit für mich zu entde -
cken – denn manchmal ist Neues zu lernen
anstrengend. Zum Beispiel dann, wenn
ich endlich das alte Mobilephone kapiert
habe. Oder wenn ich mich an einem Ort ein-
gelebt und mich an die Leute gewöhnt ha-
be. Aber trotz aller Mühsal, die dieser steti-
ge Lernprozess bei mir auslöst, fasziniert er
mich auch. Denn es sind genau jene Leute,
die bis ins hohe Alter Neues wagen, Neues
bei Jesus entdecken und mutig umsetzen,
die mich beeindrucken und am meisten
herausfordern.
Lernen gehört zum Leben. Manchmal das
Gefühl zu haben, schon alles zu wissen,
auch. Und zu begreifen, dass dem nicht so
ist, mindestens ebenso. Wäre frustrierend,
würde ich mit meinen 32 Lenzen noch so
holprig den Stift führen wie meine kleine
Tochter. Und würde ich in zehn Jahren noch
so sein wie jetzt. Und würde Lynn mit zwölf
noch mit dem Bleistift auf dem Boden krit-
zeln. Wir lernen. Ein Leben lang. Und das
ist gut so. Hoffentlich besprayt Lynn dann
mal Hauswände.
Lernen für das Leben
Schon von klein auf will der Umgang mit Frust und Stress geübt sein – und in posi-tive Energie umgewan-delt werden.
Gold- und Silberfäden entdecken
Joachim Kristahn: Kinder mit AD(H)S im Leben stärken
Spätestens im Schulalltag nimmt der Leidensdruck von Kindern mit AD(H)S und ihren Familien stark zu. Jo-achim Kristahn berät betroffene Familien. Mit grosser Sensibilität und Liebe für diese Kinder fördert er sie in ihren Stärken und sucht Wege, ihre Schwächen einzudämmen.
Interview:SabineFürbringer
Christliches Zeugnis: Die Diagnose
AD(H)S hört man bei Schulkindern recht
häufig. Was muss man sich darunter
eigentlich vorstellen?
Joachim Kristahn: Das Aufmerksam-
keitsdefizit-Syndrom mit oder ohne
Hyperaktivität (H) ist – nach weltweit
gebräuchlichen Diagnose-Manuals –
eine feststellbare Verhaltensauffällig-
keit mit einer organischen Basis. Die
betroffenen Zentren und Abläufe im
Gehirn führen zu drei Leitsymptomen,
um die herum sich dann das Syndrom
individuell ausgestaltet. Im Zentrum
steht die Aufmerksamkeitsstörung in
Form einer Inkonsistenz, das heisst,
auf eingehende Reize wird nicht adä-
quat eingegangen. Dazu kommen eine
emotionale Impulsivität und drittens
noch eine Hyperaktivität (motorische
Unruhe) oder im Gegenteil eine Hypo-
aktivität (Unteraktivierung). Die Hyper-
aktivität muss also nicht unbedingt
dabei sein, es gibt auch die ru hige,
verträumte, unauffällige Art.
Obwohl diese Kinder genauso Hilfe
bräuchten, fallen sie nicht auf. Aber
auch sie verpassen viel, weil sie ihre
Aufmerksamkeit nicht fokussieren
können. AD(H)S tritt gehäuft in be-
stimmten Familien auf, hat also auch
eine genetische Dimension.
Spätestens im Schulalltag bekommen
die betroffenen Kinder massive Pro
bleme. Was genau geschieht dort
eigentlich?
Das Hauptproblem liegt darin, dass
der Transfer des Lernstoffes vom Kurz-
zeitspeicher in den Langzeitspeicher
nicht funktioniert. In der dritten Klas-
se nimmt das Lerntempo in der Schu-
le massiv zu, und spätestens dann wer-
den die Probleme gravierend. Normaler-
weise können wir unsere Aufmerksam-
keit auf einen Lerninhalt richten und
dort auch aufrechterhalten. Ein AD(H)S-
Kind nimmt viele Reize gleichzeitig
wahr. Vor dem Fenster pfeift ein Vogel,
in der hinteren Bank schwatzt eine
Freundin, in der Bank nebenan liest ein
Junge einen Comic unter dem Tisch,
und auf dem Flur draussen sind Schrit-
te zu hören. Mitten in diesem Reizwirr-
warr steht die Lehrerin an der Tafel und
versucht, eine Rechnung zu erklären.
Normalerweise können Kinder ihre Auf -
merksamkeit willentlich längere Zeit
auf die Lehrerin fokussieren. Ein Kind
mit AD(H)S nicht. Man kann sagen, es
habe eine Reizfilterschwäche bei gleich-
zeitiger Reizoffenheit, kann schlecht
zwischen wichtig und unwichtig unter-
scheiden. Das Kurzzeitgedächtnis ist
schnell überlastet, und die Reize wer-
den wieder hinausgedrängt. Zudem ist
der Kurzzeitspeicher bei AD(H)S-Betrof-
fenen kleiner als bei anderen.
Müssen sich Eltern und Lehrpersonen ein
fach damit abfinden, oder wie können
sie ein Kind mit AD(H)S unterstützen?
Manchmal ist AD(H)S für Eltern schwer
zu akzeptieren, denn sie erleben ihr
Kind bei gewissen Aktivitäten hoch
kon zentriert, zum Beispiel wenn es
am Computer spielt. Tatsächlich kön-
nen sie hyperfokussiertes Verhalten
an den Tag legen, wenn sie ein Inhalt
fasziniert. Manche Kinder sind richtige
Experten für Vulkane, Technik, Natur-
themen oder auch Handwerk und
Sport. Dort vergessen sie die Zeit und
die Welt um sich herum. Könnte man
den Lernstoff so präsentieren, dass er
die Kinder bei ihren Interessen abholt,
würde manches leichter gehen. Aber
oft ist der Unterricht nicht spannend
genug und die Beziehung zur Lehr-
person nicht motivierend. Im aktuell
laufenden AD(H)S-Trainerkurs1 in der
36 cz 3|11
Schweiz erzählte eine Teilnehmerin
von einem Kind, das mit dem Rechnen
enorme Mühe hatte. Aber es hatte eine
Vorliebe fürs Sparen, und so hat sie im
Matheunterricht für dieses Kind die
Aufgaben in Texte rund ums Sparen
eingekleidet. Und siehe da: Das Kind
konnte rechnen. Die Kinder würden
gerne ihre Spezialthemen einbringen,
manche beschäftigen sich auch inten-
siv mit religiösen Fragen. Eine gute
Beziehung zur Lehrperson und ein po-
sitiver Klassengeist sind für AD(H)S-
Betroffene besonders wichtig. Das ruft
positive Gefühle hervor, und deren Wir-
kung auf den Lernerfolg wird unter-
schätzt. Kann eine Lehrperson Herzens-
begegnungen mit dem Kind schaffen,
ermöglicht ihm das Momente höchster
Konzentration und bringt auch Frieden.
Übrigens: Was für AD(H)S-Betroffene
gut ist, ist auch für den Rest der Klasse
nicht schlecht! Es gibt Kinder, die den
Schulstoff langweilig finden, aber we-
gen der Lehrperson, die sie so mögen,
die Motivation zum Lernen aufbringen.
Die Emotionen scheinen eine
wesentliche Komponente des
Lernprozesses zu sein.
Ein spannender Unterrichtsstil weckt
gute Gefühle. AD(H)S-Betroffene fahren
viel Frustration ein, nicht nur im Schul-
alltag: Sie sind wie Jäger und Samm-
ler in einer Gesellschaft von Siedlern.
Sie nehmen ihre Andersartigkeit sel-
ber wahr, stossen aber auch auf Ableh-
nung durch ihre Umwelt. Zu den Auf-
merksamkeitsdefiziten gesellen sich
Gefühlsstörungen und eine erhöhte
Impulsivität. In sozialen Situa tionen
schätzen sie sich und andere falsch
ein und können auch oppositionelles
Verhalten an den Tag legen. Die Kritik
kommt dann postwendend. Sie werden
blossgestellt und zum Aussenseiter ge-
macht. Durch ihre erhöhte Sensibilität
leiden sie enorm daran. Sie wollen doch
so aufmerksam sein wie alle anderen,
aber es gelingt ihnen nicht. In ihrem
weichen Kern verstehen sie nicht, war-
um sie nicht einfach «sein» dürfen,
warum sowohl Elternhaus als auch
Schule ihnen das verweigern. Dieser
Leidensdruck führt zu einer inneren Ab-
wärtsspirale, die sie etwa durch Clow-
nerie zu überdecken oder mit Stehlen,
Angreifen anderer, Hämischwerden
oder innerem Rückzug zu bewältigen
versuchen. Das führt zu noch mehr
Ärger und Kritik, die Spirale dreht sich
immer weiter, und alle beschäftigen
sich nur noch mit ihren Schwächen.
Und man muss bedenken, dass welt-
weit, in jeder Gesellschaft, zwei bis
sieben Prozent der Bevölkerung von
AD(H)S betroffen sind.
Was können wir denn AD(H)S vom
christlichen Menschenbild her
entgegenhalten? Gibt es dort nicht
noch andere Chancen oder Lösungen?
Unser Ansatz bei IGNIS heisst «Stärken
stärken, Schwächen schwächen».
Psalm 139 spricht davon, dass wir
«im Verborgenen gewoben» wurden.
Das hebräische Wort umschreibt das
Weben kostbarer Stoffe unter Einbezug
von Gold- und Silberfäden. Diese Gold-
und Silberfäden gilt es zu entdecken
und aufzurichten. Den Schwächen
stehen explizit auch entsprechende
Stärken gegenüber. Die kann man be-
wusst machen und fördern, einbezie-
hen. Das versuchen wir zum Beispiel
in unserem AD(H)S-Online-Stärken-
training zu vermitteln1.
Die biblische Botschaft, dass dort, wo
wir mit Gott versöhnt leben, Friede
herrscht, ist eine grosse Chance. In-
nerer Friede steht der Unruhe, die mit
AD(H)S einhergeht, entgegen. Es ist so-
wohl Hoffnung als auch konkrete Er-
fahrung für diese Menschen, dass das
Leben mit Jesus zur ersehnten inneren
Ruhe führt und damit auch zu mehr
Konzentration. Kolosser 3,15 sagt, dass
wir zum Frieden Christi berufen sind
und dieser Friede in unseren Herzen
regieren soll. Das umschreibt einen
geistlichen Wachstumsprozess, der
im Einzelfall sehr viel Zeit in Anspruch
nehmen und lange dauern kann, in
den wir aber auch schon Kinder und
Jugendliche behutsam mit hineinneh-
men dürfen. Eigentlich brauchen wir
alle eine innere Ruhe in dieser hek-
tischen Zeit. AD(H)S fordert uns her-
aus zu fragen, ob wir im Alltagstreiben
noch das Wesentliche im Fokus haben
oder eher unruhig und wie getrieben
durchs Leben hasten.
Wie muss man sich so ein «Trainings
programm» vorstellen?
Ein wesentlicher Teil ist der Umgang
mit Gefühlen wie etwa Wut oder Be-
geisterung. Das kann man einüben.
Beispielsweise kann man lernen, den
Gefühlen einen Namen zu geben. «Bin
ich enttäuscht? Oder ärgerlich? Oder
eher traurig oder wütend?» Das gibt
einem eine Basis, um entscheiden
zu können, was eigentlich los ist. Als
nächsten Schritt überlege ich, wie ich
damit fertig werde. «Soll ich zur Person
hingehen und das Gespräch suchen?
Der Diplompsychologe Joachim Kristahn berät
betroffene Familien und bildet im Rahmen der
IGNIS Akademie AD(H)S-Trainer aus.
z u r P e r s o n
fürs leben lernen | gold- und silberfäden entdecken
1 MehrInformationenzurFortbildungzurFortbildungzumAD(H)S-Trainer,zumOnline-Stär-kentrainingundzudemKinder-Mut-Mach-MaterialbeiIGNIS,derDeutschenGesellschaftfürChristlichePsychologieunter:www.ignis.de/Seminare/ADHS-Beratungsstelle
37 cz 3|11
Soll ich meine Wut am Boxsack rauslas-
sen? Soll ich Gott um Hilfe bitten und
dann das Gespräch suchen?» Kinder
brauchen für diese Schritte Trainerin-
nen und Trainer, die ihnen helfen und
Möglichkeiten aufzeigen. Dazu haben
wir die Kinder-Mut-Mach-Gruppen.
Kinder sollen frühzeitig lernen, sich
dem Leben und dem Schmerz zu stel-
len, damit sie eine Idee davon bekom-
men, wo sie damit hinkönnen. Im Kin-
der-Mut-Mach-Programm «Ich stelle
mich meinen Gefühlen» gibt es etwa
die Gefühle-Kiste, bestückt mit Ta-
schentüchern, Sportschuhen, Boxhand-
schuhen, einem Telefon, einem Tage-
buch und anderem. Das Kind kann
konkret entscheiden: «Was mache ich
jetzt mit meiner Wut? Wen rufe ich an?
Was schreib ich in mein Gebetstage-
buch?» So lernen sie, ihre Gefühle mit
Gott zu besprechen, und erleben, wie
Gott ihre Gebete erhört und manchmal
auch Wunder tut. Gott antwortet viel-
leicht mehr auf die Gebete von Kindern,
als wir «abgeklärten Erwachsenen»
denken. Ich erinnere mich zum Beispiel
an einen Vater, der nach Jahren zur Fa-
milie zurückkehrte und sich entschul-
digte, dass er mit einer anderen Frau
weggegangen war. Seine älteste Tochter
hatte zuvor nach Jahren des Schmerzes
wieder angefangen, anhaltend dafür
zu beten ...
Wie kann man zusammenfassend auf
dieser emotionalen Basis das Lernen
allgemein unterstützen?
Bei AD(H)S funktionieren zwei Lern-
wege: Der eine ist der direkte Weg, der
bei hoher Motivation, positiven Gefüh-
len und Spezialthemen gut funktio-
niert. Hier rutscht der Lerninhalt direkt
ins Langzeitgedächtnis. Der andere Weg
kommt bei uninteressantem, nicht mo-
tivierendem Lernstoff zum Tragen, und
der heisst: wiederholen, wiederholen,
wiederholen! Jeder Mensch braucht das,
damit sich ein zu lernender Inhalt setzt
– AD(H)S-Betroffene ganz besonders.
Sie müssen einen einzigen Lösungsweg
– und nicht etwa viele Lösungsvarian-
ten – verinnerlichen können, bis er sich
automatisiert. Wichtige Dinge zu wie-
derholen und zu automatisieren, könn-
te übri gens allen im Leben weiterhel-
fen. Lehrmeister klagen immer wieder
darüber, dass ihre Lernenden wesentli-
che Grundlagen nicht beherrschen. Das
ist darauf zurückzuführen, dass diese
nicht tief genug durch Wiederholung
verankert wurden.
Grundsätzlich darf Lernen aber Spass
machen. Gute Beziehungen, Kreativi-
tät, Abwechslung, Farbe, Bewegung
und Einbezug der Schüler im Unterricht
machen hier einen Unterschied. Und
das kommt AD(H)S-Betroffenen und
allen anderen entgegen!
AD(H)S-Beratungsstelle
Kanzler-Stürtzel-Str. 2
97318 Kitzingen
www.ignis.de/Seminare/
ADHS-Beratungsstelle/
w e i t e r e I n f o s
A N D Y S C H I N D L E R - W A L C HFilmtipp
• AndySchindler-Walch,Filmspezialistund
RedaktorbeieinerLokalzeitung.
Jason Stevens (Drew Fuller) ist ein junger
Mann, der alles hat, was er sich wünscht:
eine gut aussehende Freundin, eine teu-
er eingerichtete Wohnung und vieles mehr.
Er ist der Enkel des milliardenschweren In-
dustriellen Red Stevens (James Garner) und
wird finanziell gut versorgt. Doch Jason
ist innerlich leer und führt ein Leben ohne
Sinn und Ziel. Eines Tages stirbt sein Gross-
vater Red. Bei der Testamentseröffnung ge-
hen die geldgierigen Verwandten praktisch
leer aus. Nur für seinen Enkel Jason scheint
Red etwas vorbereitet zu haben, das ihm
vom Firmenanwalt Mister Hamilton und
der Anwaltsgehilfin Miss Hastings präsen-
tiert wird: Via Filmbotschaften, die Red vor
seinem Tod aufzeichnen liess, beschenkt er
seinen Enkel nun mit einer Reihe von Auf-
gaben, die Jason zuerst lösen muss, bevor
er das ultimative Geschenk als sein Erbe be-
kommen soll. Widerwillig beginnt Jason,
die erste Aufgabe zu lösen, die von ihm ver-
langt, auf einem Feld eine Reihe von Zaun-
pfosten aufzustellen. Zuerst erkennt Jason
nicht, warum er diese und danach weitere
Aufgaben erfüllen muss. Doch dann gehen
ihm langsam die Augen auf.
«Das ultimative Geschenk» ist die Verfil-
mung des gleichnamigen Bestsellers von
Jim Stovall. Der Film erzählt von einem ar-
roganten jungen Mann, der sich durch ei-
ne Reihe von Aufgaben verändert und lernt,
welche Werte im Leben wirklich wichtig
sind.
«Das ultimative
Geschenk» (USA/2006,
114 Minuten) ist als DVD
im Handel erhältlich.
«Das ultimative Geschenk»
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fürs leben lernen | gold- und silberfäden ... | kolumnen
«Wo sind die Rüstmesser?» – «Ich kann das
Salatsieb nicht finden!» – «Die Kaffeetassen
sind an einem total unlogischen Ort.» – So
tönt es zurzeit aus unserer Küche.
Die Fragen und Kommentare kommen nicht
von irgendwelchen fremden Eindringlingen,
die sich hier zu schaffen machen, sondern
von meinen allerliebsten Familienmit-
gliedern. Ihre Desorientierung hat eine
handfeste Ursache: Wir sind umgezogen!
Als Frau des Hauses hatte ich das Privileg
und die Herausforderung, unsere in Bana-
nenschachteln verpackten Schüsseln, Teller,
Pfannen, Gewürze, Geräte, Kochlöffel und
Tassen im neuen Heim wieder auszupacken
und sinnvoll auf die Regale und Schubla-
den zu verteilen. Dabei gibt es unbestritten
verschiedene Varianten, die sich diskutie-
ren lassen. Wie beispielsweise die optimale
Luftlinienentfernung zwischen Kaffeetas-
sen und Kaffeemaschine.
Interessant ist, das Verhalten der einzel-
nen Personen in diesem aufgezwungenen
Lernprozess zu beobachten: Ich selbst habe,
wie gesagt, das Vorrecht, gestaltend mit-
zuwirken und aufgrund der mir eigenen Lo-
gik ein System zu schaffen. Dadurch me-
moriert sich das Neue relativ schnell. Dann
gibt es den Typus «Alle Schränke durchklap-
pern, wenn nötig dreimal hintereinander».
Nach unzähligem Trial-and-Error kommt
auch er zum Ziel, und mit der Zeit verkür-
zen sich die Suchwege. Der dritte Typus ist
der eingangs erwähnte: «Lauthals durchs
Haus nach Lösungen und Anleitung ru-
fen.» Falls er beim Umsetzen des angebo-
tenen Lösungsweges sein Gehirn aktiviert,
kommt er mittelfristig ebenfalls zu einer
eigenständigen Orientierung im Schubla-
dendschungel.
Sich in einer neuen Küchenumgebung zu-
rechtzufinden, ist ein relativ harmloses Un-
S A B I N E F Ü R B R I N G E Rbeziehungsweise
Orientierung im Küchenlabyrinth
• SabineFürbringeristPsychologinsowie
FamilienfrauundarbeitetbeiCampusfür
ChristusalsReferentin,AutorinundBeraterin.
terfangen. Doch Gott mutet uns auch im
grösseren Stil immer wieder Veränderungen
und damit Lernprozesse zu. Dabei dürfen
wir ihn als Vater um Orientierung bitten. In
gewissen Situationen schweigt er aber be-
wusst und lässt uns alleine suchen.
Die ganz besonderen Momente sind jene, in
denen wir etwas von seiner Schöpferkraft,
die er in uns angelegt hat, ausleben und
selbst Struktur und Logik ins Neue hinein-
bringen können. Dazulernen macht das Le-
ben reich und erfüllt!
K U R T B U R G H E R RIn meinem Leben bin ich schon Tage, Mo-
nate, ja sogar Jahre in Schulbänken, Hör-
sälen und Seminarräumen gesessen. Diese
Basis war notwendig und hilfreich. Aber mir
ist klar: Ohne praktische Erfahrung im All-
tag und ohne die Bereitschaft, sich auf Neu-
es einzulassen, bliebe alles Wissen letzt-
lich nutzlos.
Was mir in dieser Hinsicht schon vielfach
die Augen geöffnet hat, ist die Begegnung
mit anderen Kulturen. Ich habe dadurch
nicht zuletzt viele biblische Berichte besser
verstehen gelernt. Vor ein paar Jahren war
ich in Albanien mit einem Team unterwegs,
um in Bergdörfern den Jesus-Film zu zei-
gen. Weil die entsprechenden Kommunika-
tionsmittel nicht vorhanden waren, konn-
ten wir unseren Besuch jeweils nicht im
Voraus ankündigen. Wir hatten nur einen
kleinen Rucksack und keine Lebensmittel
dabei. Hotels oder Herbergen gab es nicht.
In der albanischen Kultur ist aber Gast-
freundschaft tief verwurzelt. So wurden
wir täglich zum Essen eingeladen, und je-
de Nacht waren wir bei jemandem zu Gast,
der uns spontan beherbergte. Diese Erleb-
nisse erinnerten mich an Stellen in der Bibel,
wie wir sie etwa in Lukas 10 finden, wo Jesus
seine Jünger aussendet und ihnen sagt, sie
brauchten sich wegen Essen und Übernach-
tung nicht zu sorgen.
Vor kurzem war ich zu Gast in einem orien-
talischen Land. In dieser Kultur ist die Fami-
lie sehr wichtig. Man trifft sich am Sonntag
in der (Gross-)Familie, und aus diesem Grund
haben alle Häuser eine Stube, die zwei- bis
dreimal so gross ist wie bei uns. Rundherum
stehen Sofas, auf denen die Familienmitglie-
der Platz finden. Ich stelle mir vor, dass dies
schon zu biblischen Zeiten so war: Man war
eingerichtet, um grössere Gruppen zu ver-
sammeln, und so konnten sich auch die ers-
ten Christen «in den Häusern» treffen. Sie
hatten offenbar den Platz dazu.
Jeder Kontakt mit Menschen in anderen
Ländern schenkt wertvolle Lebenserfahrun-
gen. Einen Reiseführer oder einen Bericht
Blickpunkt Welt
Über die Theorie hinauskommen
• KurtBurgherrleitetAgapeinternational,die
AuslandtätigkeitvonCampusfürChristus
Schweiz,mitSchwerpunktinGemeinde-und
LeiterentwicklungsowieEntwicklungszusam-
menarbeit.
über das Land zu lesen, kann uns wissens-
mässig vorbereiten; Lernerfahrungen kom-
men aber erst im persönlichen Sicheinlas-
sen. Eine gute Möglichkeit dazu bieten Kurz-
zeiteinsätze. Sicher, in zwei, drei Wochen
wird man noch kein Experte. Aber die Chance
ist gross, eine entscheidende Horizonterwei-
terung zu erfahren und die notwendige Er-
gänzung zu bekommen zu all dem, was man
im Laufe des Lebens vielleicht erst theore-
tisch gelernt hat.
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