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Das Buch ,Unser Dasein' ist Döblins letztes in Deutschland veröffentlich- tes Buch vor seiner Emigration. Es erschien im April 1933 und wurde bereits einen Monat später — zusammen mit den anderen Werken des Autors — öffentlich verbrannt. Systematisch und detailliert nimmt Alfred Döblin in dieser Sammlung größerer und kleinerer Essays Stellung zu naturwissenschaftlichen, künstlerischen, sozialen, psychologischen und politischen Fra- gen der Zeit und formuliert eine die Einzelwissenschaften über- wölbende Naturphilosophie. Es ist dies die Philosophie eines Dichters, der mit unerschöpflicher Vitalität und Vorstellungs- kraft an die Phänomene des Lebens, der Schöpfung und des menschlichen Lebens herantritt. Mit Akribie und Witz er- forscht er „geringe, größere und große Wahrheiten", wie er selbst im kurzen , Vorspruch` zu diesem Band schreibt. „Die Lampe brennt, das ist eine geringe Wahrheit. Daß ich lebe, eine größere. Wie ich lebe, wer ich bin, was mit mir ist, was mit dem Leben ist, mit unserm Einzelleben, mit unserm Zusam- menleben, mit unserm Zusammenleben mit der Erde und den Gestirnen und dem Weltall, das sind größere und sehr große Fragen und, wenn es gute Antworten darauf gibt, größere und sehr große Wahrheiten." Der Autor Alfred Döblin, geboren am ro. August 1878 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, war Nervenarzt in Berlin; dort Mitbegründer der expressionistischen Zeitschrift ,Der Sturm'. 1 933 Emigration nach Paris, 1940 Flucht nach Amerika und Konversion zum Katholizismus. Nach dem Krieg Rückkehr als französischer Offizier nach Deutschland. Herausgeber der Lite- raturzeitschrift , Das goldene Tor' (1946--1951) und Mitbegrün- der der Mainzer Akademie (1949). Aus Enttäuschung über das Nachkriegsdeutschland 1953 Rückkehr nach Paris. Er starb am 26. Juni 1957.

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Das Buch

,Unser Dasein' ist Döblins letztes in Deutschland veröffentlich-

tes Buch vor seiner Emigration. Es erschien im April 1933 und

wurde bereits einen Monat später — zusammen mit den anderen

Werken des Autors — öffentlich verbrannt. Systematisch und

detailliert nimmt Alfred Döblin in dieser Sammlung größerer

und kleinerer Essays Stellung zu naturwissenschaftlichen,

künstlerischen, sozialen, psychologischen und politischen Fra-

gen der Zeit und formuliert eine die Einzelwissenschaften über-

wölbende Naturphilosophie. Es ist dies die Philosophie eines

Dichters, der mit unerschöpflicher Vitalität und Vorstellungs-

kraft an die Phänomene des Lebens, der Schöpfung und des

menschlichen Lebens herantritt. Mit Akribie und Witz er-

forscht er „geringe, größere und große Wahrheiten", wie er

selbst im kurzen , Vorspruch` zu diesem Band schreibt. „Die

Lampe brennt, das ist eine geringe Wahrheit. Daß ich lebe, eine

größere. Wie ich lebe, wer ich bin, was mit mir ist, was mit

dem Leben ist, mit unserm Einzelleben, mit unserm Zusam-

menleben, mit unserm Zusammenleben mit der Erde und den

Gestirnen und dem Weltall, das sind größere und sehr große

Fragen und, wenn es gute Antworten darauf gibt, größere undsehr große Wahrheiten."

Der Autor

Alfred Döblin, geboren am ro. August 1878 als Sohn einerjüdischen Kaufmannsfamilie, war Nervenarzt in Berlin; dort

Mitbegründer der expressionistischen Zeitschrift ,Der Sturm'.

1 933 Emigration nach Paris, 1940 Flucht nach Amerika undKonversion zum Katholizismus. Nach dem Krieg Rückkehr alsfranzösischer Offizier nach Deutschland. Herausgeber der Lite-

raturzeitschrift , Das goldene Tor' (1946--1951) und Mitbegrün-der der Mainzer Akademie (1949). Aus Enttäuschung über dasNachkriegsdeutschland 1953 Rückkehr nach Paris. Er starb am26. Juni 1957.

Alfred Döblin

Werkausgabe in Einzelbänden

Bereits erschienen:

Jagende Rosse/Der schwarze Vorhang und andere frühe

Erzählwerke (242I)

Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine. Roman (2424)

Der deutsche Maskenball von Linke Poot/Wisscn und

Verändern! (2426)

Reise in Polen (2428)

Unser Dasein (2431)

Der Oberst und der Dichter oder Das menschliche Herz/Die

Pilgerin Actheria. Zwei Erzählungen (2439)

Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Roman (2442)

Drama, Hörspiel, Film (2443)

Briefe ( 2444)

Alle Bände sind einzeln erhältlich

Diese Werkausgabe Alfred Döblins ist textidentisch mit der

von Walter Muschg begründeten und von Anthony W. Riley —

in Verbindung mit den Söhnen des Dichters — herausgegebenen

Ausgabe des Walter-Verlags, Olten.

Alfred Döblin:

Unser Dasein

Deutscher

Taschenbuch

Verlag

d t v

Von Alfred Döblin

sind außerdem im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Berlin Alexanderplatz (295)Die Ermordung einer Butterblume (1552)

Ein Kerl muß eine Meinung haben (1694)

Der Überfall auf Chao-lao-sü (i0005)

Babylonische Wandrung (10035)

Ungekürzte Ausgabe

September 1988

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

München

© 1964 Walter-Verlag AG, Olten

Umschlaggestaltung: Celestino Piatti

Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,

Nördlingen

Printed in Germany • ISBN 3-423-02431-3

VORSPRUCH

Sie hören von Geschichten, aus den Zeitungen, Sie können nichtrasch genug ans Radio laufen, wenn es heißt : Achtung, Ach-tung, hier ist Berlin, wir bringen —Wenn Sie Prozesse lesen, sind Sie glücklich : das ist dieWahrheit.Wenn Sie im Geographiebuch nachschlagen, falls es Ihnen in dieHand gerät, und Sie lesen von Städten oder Flüssen oder Meeres-tiefen und sehen die Linien der Festländer, so sind Sie befriedigt.Sie wissen, das ist die lautere Wahrheit und das stimmt.Hier nun wird gedacht und betrachtet. Und da werden Sie sagen,was geht mich das an. Was ich denken muß, denke ich allein.Tatsachen sind nötig, Tatsachen, Berichte von der Realität, undweiter nichts, sonst kann uns nichts nützen.Ich sage Ihnen, was vor Sie tritt, ist mehr Wahrheit als wenn Sieerfahren, ein Schiffist untergegangen, und die Japaner rücken inder Mandschurei vor, oder der Kohlenpreis soll und wird, viel-leicht, gewiß, möglich, unmöglich herab-, herauf-, herauf-,herabgesetzt werden.Was Sie hier hören werden, hat größere Wahrheit als die Nach-richt von der Trockenlegung der Zuidersee.Es gibt geringe, größere und große Wahrheiten. Es gibt viertel,halbe und beinah ganze Wahrheiten. Denn ganze Wahrheiten —ob es die gibt — aber wir sprechen noch davon. Die Lampe brennt,das ist eine geringe Wahrheit. Daß ich lebe, eine größere. Wieich lebe, wer ich bin, was mit mir ist, was mit dem Leben ist, mitunserm Einzelleben, mit unserm Zusammenleben, mit unsermZusammenleben mit der Erde und den Gestirnen und demWelt-all, das sind größere und sehr große Fragen und, wenn es guteAntworten darauf gibt, größere und sehr große Wahrheiten.Laßt uns die Lampe, den mandschurischen Krieg, den Kohlenpreisnicht vergessen und nicht geringschätzen, — es wird uns freuen,wenn der Krieg zu Ende ist und der Preis gefallen ist. Aber laßtuns über den unvollständigen kleinen Tatsachen nicht die großenumfassenden vergessen. Sie werden gefunden durch Denken.

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INHALT

ERSTES BUCH

DAS ICH UND DIE DINGWELT

Seite 13

Auf der Wanderung — Die Ichsuche — Gesang des Spottvogels —

Der Leib: irgendein Konzern — Lied, an den Fingern zu lutschen

— Des Pudels Kern — Eine Hauptstation ist erreicht — Entzwei-

ung — Blick hin, und du siehst Ich — Das Sprungbrett

ZWISCHENSPIEL

SOMMERLIEBE

Seite 33

ZWEITES BUCH

DAS GEGENSTÜCK DER NATUR

DIE DREI EIGENTÜMLICHKEITEN DES ICH

Seite 47

Wie das Ich Gegenstück der Natur ist — Gotamo Buddhos an-

dere Meinung — Ich hat Sein — So ist mit dein Ich das Sein

geboren — Hier geschieht Wahrheit — Trommeln des Zweifels —Ruhen im Ich? — Paukenschläge — Wir vergehenEs gibt nur ein einziges Ich — Die Zahl — Ich greife nach demSpiegel und sehe — die Person — Ich, der Malermeister — Wervon uns beiden hat denn das Ich? — Drei Bittsteller — Im Namenaller Fehlgeburten — Ich, Seele, Leib

Principium individuationis — Die unvollständige Individuation

— Der große Strom — Die eine Welt, der eine Leib, das eine

Leben — Was bist du von Haus? — Das Individuum, ein Anlaufzur Ganzheit — Burleskes Nachspiel

Das Ich als Bauzentrum — Das Dasein als Handlung — Wovordas Fallgesetz zittert — Die Ding- oder Werkzeugwelt — DerWeckruf des Ich

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DRITTES BUCH

AUFSCHLIESSUNG DER WELT

DIE NATUR

Seite 93

Die Person als offenes System — Erstes Hauptstück. Die Pflanze

und der Nervmuskelmensch — Das Gehirn — Die Begrenzung

der Tierflucht — Die Liebe bei den Pflanzen und Tieren — Die

Pflanze als Boden der Tiere — Der Grashalm

Zweites Hauptstück. Die anorganische Welt — Zwischen Zelle

und Kristall — Durchgriff des anorganischen Formprinzips im

Organischen — Ergebnis für uns Menschen

Drittes Hauptstück. Von den Sternen — Größere Organismen?

— Die großen Massengesetze in der Sternwelt — Die Gerinnung

der Zeit

Viertes Hauptstück. Von den Elementarkräften — Die Wärme

und die Gestalt der Körper — Ermittlungsverfahren gegen dieWärme — Nochmals Blick auf die Erde — Rolle der Wärme im

Tier- und Pflanzenreich — Das Licht — Die Art des lichtgebore-

nen Lebens — Vom lebendigen Plasma und seiner Entstehung —

Schöpfungstage — Die Entstehung der Arten in Naturkollekti-ven — Kein Summieren — Die Gliederung der Zeit — Von derResonanz — Die Resonanz und das Du — Die Kräfte der Land-

schaft — Fortgang der Welt, aber wohin?

VIERTES BUCH

VON ZEITLICHKEIT, HANDELN UND LEIDEN

Seite 18 1

Erster Teil. Was Handeln ist — Notiz über das Leiden —Menschliches, tierisches, pflanzliches, anorganisches Handeln —

Die doppelte Bewegung in der Welt — Bewußtsein und Han-deln — Der freie Wille — Instinkt und Bewußtsein — En-bloc-Denken — Der tierische und der menschliche Arbeitsprozeß —Kopfdenken und Realdenken — Das Realdenken und der Wel-

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tenbau — Der Geist kein Feind der Natur — Das Ich und der

,Geist` — Das zweckvolle Handeln und die Kausalität

Zweiter Teil. Die Zeitlichkeit der Welt — Das wirkliche Dasein

ist Gegenwart — Was steigt in das Becken des Jetzt? — Das Jetzt

als Gericht — Jedes Ding hat seine Realzeit — Die Aufhebung der

Zeit — Immer vor dem Gelobten Land — Der Fortschritt und dieUnvollendung — Das ewigfalsche ,Wozu` des Nervmuskel-

menschen — Ablehnung eines buddhistischen Gedankens — Die

Erbschaft und die Geschichte — Man soll nicht zuviel von Men-

schen verlangen — Der Tod, der rüstige Schläger — Von der

Vollendung und Überhöhung

FÜNFTES BUCH

VON DER KUNST

Seite 2 39

Die Kunst als Bewegung des unvollständigen Individuums —Die Förderung durch Kunst — Von den anorganischen Zeichen

— Schönheit — Im Varieté — Die Saftströme — Kunst- und Natur-

werk — Die Aufhebung der Zeit in der Kunst — Vom Spiel —

Einzelnes zur Kunst — Die anorganischen Gesetze und die Mu-

sik — Von Musikgestalten — Von der Dichtung — Die Stoffe

BETRÜBLICHES ZWISCHENSPIEL

Seite 265

Erster Teil. Die Welt als Wahn und Schicksal. Betrüblichesüber das Denken — Die Welt als Schicksal — Am Meer — In der

Untergrundbahn — Der Riesenschatten — Als Ding unter Din-gen — Die Welt als Wahn — Ein Rückfall!

Zweiter Teil. Die Wiederaufrichtung — Ich bin ein Etwas ohne

Gewicht — Es ist ein Ich da, das hält alles zusammen — Geständ-

nis — Gewaltig ist der Menschengeist — Das schlechte Ich istausgerottet — Nicht ,Ich`, sondern ,dies begibt sich' — Gesang

des Spottvogels — Klage um das verlorene Ich — Das Ich dankt

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ab — Trauermarsch — Nachruf. Fehlerhafter Fischzug — Fluch

und Forderung — Aschenputtel — Weder Gott noch Welt, son-

dern der kleine Kerl — Die Person, Stück und Gegenstück der

Natur

SECHSTES BUCH

VON KLEINEN UND GROSSEN MENSCHEN

Seite 293

Die drei Zufluchten — Vom Glück des Nichtseins — Die Arten

der Lüste und Schmerzen — Von allerhand Leuten — Die ,Natur`

gibt es nicht — Dieses ist ein Café — Dämon oder Verstimmung?

— War ihre Zeit erfüllt? — Vater und Sohn — Mißglückte Meta-

morphose. Ein Schülerselbstmord — Das Mitgefühl als Reso-

nanzerscheinung — Die Elemente in uns — Gotamo Buddho —

Phantasien über Jesus

ÜBERGANG ZUM KOLLEKTIVUM

VON HERDEN UND INDIVIDUEN

Seite 347

Unstet und flüchtig — Organentwertung in der Herde — Der

Herdenmensch — Vom Tierstaat und Menschenstaat — Parage-

nese beim Menschen

SIEBENTES BUCH

WIE LANGE NOCH, JÜDISCHES VOLK-NICHTVOLK?

Seite 355

Ihre Geschichte. Die Not- und Dauerform des Übervolkes —

Sie waren nicht immer wie heute — Vergeblicher Vorstoß von

Jesus, Sieg des Talmud — Besitz und Kirche — Sie geben die

Weltlichkeit auf — Ihr Zustand. Der simple Tatbestand — Ge-

schichtliche Notizen — Die großen Aufbrüche — Ein ganzes

Leben wird gefordert — Sie halten ihre Religion fest? — Die

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Rachitis des Exils — Inventuraufnahme. Politische und soziale

Lage der Juden — Art und Charakter — Falsche Warnung vor

einer Änderung der Lage — Ihr Weg. Notwendigkeit der Ent-

scheidung — Die vier Kräfte der Entscheidung — Zionismus —

Die weltliche Zentrale der Juden — Gewinnung innerer Macht.

Von der jüdischen Staatsräson zur Religion — Abbau und Neu-

bilden, nicht Konservieren! — Religiöse Erhebung der Juden —

Das Wörtchen Und — Die Ebenbilder Gottes

ACHTES BUCH

VON ABENDLÄNDISCHEN VÖLKERN

Seite 415

Laufe, mein Ich! — Moloch Öffentlichkeit — Das Ich ist kein

Glassarg — Das Kollektivum ist kein Känguruh — Der Fluch der

Arbeit — Öffentlichkeit — Menschliche Verarmung durch heuti-

ge Staatlichkeit — Einer liest Zeitung — Freiheit und Übersicht-

lichkeit in heutigen Staaten — Zur Freiheit — Grimm — Gewalt-

formen — Verfluchte Zeit — Krieg — Arbeiterlied — Tischlerlied —

Von der Diesseitigkeit — Realisieren und Irrealisieren — Roma

aeterna — Der anthropologische Umschwung hinter der Wirt-

schaft — Auftreten eines Komikers — Rebellion der Atome — Die

Maschine — Voller Weisheit, voller Weisheit — Nation und

Wirtschaft — Deutscher Kampf zwischen Staat und Gesellschaft

— Arbeiter, Angestellte, Intelligenzschicht — Nicht zuviel wol-

len! — Entscheidungen für heute — Sehr ferne Ziele — Von unse-

rer Macht — Der Stern über dem Meer — Laßt mich den großen

Himmel loben

NACIIWORT

Seite 479

II

ERSTES BUCH

DAS ICH UND DIE DINGWELT

Nur durch das Tor des Ich betritt man die Welt

Auf der Wanderung

Die Arbeit läßt einen los. Man geht allein durch sein Zimmer,blickt die Schränke an, die Bücher, den Tisch, die Stühle. Es istsehr still im Haus. Da kann man sich am Tisch niederlassen. DerBlick irrt über die Tischplatte. Da ist nichts, was einen lockt.Briefe schiebt man beiseite. Auch keine Bücher. Es ist nicht ihreZeit. Wessen Zeit ist eigentlich?Die Dinge weichen von einem ab. Sie wollen angesehen sein. Manmüßte nachdenken. Da ist auch ein Jemand, der will die Beine aus-strecken, will ausspannen — ich. Wofür ist eigentlich Zeit? Zu sichzu kommen. «Zu sich », merkwürdiges Wort. Ja, ich will nach-denken. Da ist der Schreibtisch, die Tischlampe. Das Zimmer istum mich. Die Dinge werden angerufen. Ein Fragen beginnt.

Unten fährt ein Lastwagen. Ein Auto tutet.Ich. Ich. Ich denke nach, ich fühle nach. Was ist mit mir? Sonstsind Dinge und Handlungen um einen. Man muß sich heraus-ziehen aus ihnen, um sie zu bemerken und um sich zu bemerken.Wer ist das, was hier fragt? Ich — ich bin ein Mann, von einembestimmten Alter, dann und dann geboren, mit dieser Kindheitund dieser Schule. Diese Erfahrungen habe ich hinter mir, inallerhand Tätigkeiten habe ich mich getummelt, jetzt in dieserStunde ist etwas Ruhe.Aus diesen Tätigkeiten und Erfahrungen mußt du dich heraus-heben. Du tust dies, du tust das, in tausend Dinge wirst du zer-rissen, es schmettert um dich ein Lärm, von Straßengeräuschen,von Schlagworten. Dieses Zimmer ist gut. Sitz ruhig und über-denke, wer du bist.Ich? Ich bin vorhanden in all jenen Tätigkeiten, Arbeiten,Kämpfen, Auseinandersetzungen. Wer soll ich sein, wenn ichmich da heraushole? Du willst von mir mein Leben nehmen undfragst dann, wer ich bin. Eine Leiche, was sonst.Du mußt mich nicht mißverstehen. Du weißt auch schon, wasich meine. Jetzt, wo es stille ist, weißt du gut, was ich meine. Du

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fühlst es. Du fühlst dich. Du willst dich fühlen. Du begehrst dichzu fühlen. Du merkst den Unterschied zwischen dir und jenenTätigkeiten, Arbeiten, Kämpfen, Auseinandersetzungen. Dumöchtest dich einmal von ihnen absetzen. Du sollst nicht abge-löst werden von ihnen. Aber damit du dich richtig siehst, damitdu richtig gehst in den Tätigkeiten, Arbeiten, Auseinander-setzungen, darum bitte ich dich, setze dich und überdenke -dich. Bedenke, wer du bist, was du bist. Überdenke, was mitdir ist, mit diesem Menschen hier.Nun gut. Ich kann es tun. Was soll ich sagen? Soll ich von mei-nem Leben erzählen, zu Gericht sitzen, wie man sagt?Das wirst du eines Tages auch tun. Aber jetzt wollen wir vondir sprechen, von dir, so wie du bist. Ja, so wie du hier nunsitzest, endlich sitzest. Laß alle Vergangenheiten, was geleistetund verfehlt ist. Denk nur an dich, wer du bist. Vielleicht wirddann auch draußen vieles klarer. -Ja, wie denn?Wie soll ich michermitteln? - Du sitzt hier. Du sitzt auf dem Stuhl. Sag doch, werbist du? - Ich? Ein Mensch, irgendein Mensch. Du siehst es ja.Jetzt können wir anfangen.

Die Ichsuche

Ein erster Schritt ist jetzt getan, wir fangen eine Reise an. Wo-hin wir wandern, das weiß ich noch nicht. Wir werden an allenEcken fragen, wohnt hier - Ich?Drauf wird eine Frau zum Fenster heraussehen und sagen: «Wenmeinen Sie damit? Ich kenne viele Leute, aber den Herrn kenneich nicht. Können Sie vielleicht beschreiben, wie der Herr siehtaus? Gestern ist einer dagewesen, wie heißt er, vielleicht Stanis-laus? » Bekümmert werden wir sagen: «Mit dem ist mir nichtgedient. Wir müssen weiterfahren. Bitte um Entschuldigung,wir haben Sie umsonst bemüht.»An einem andern Orte steht der Schupo auf dem Platz, er ist vondem Magistrat da hingestellt, damit er auf die Wagen aufpaßt.

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Wir werden ihm uns nähern. «Guten Morgen, Herr Polizist, wirwollten von Ihnen hören, wohnt hier am Ort Ich? » «Ich? Nawarten Sie mal, da drüben hat einer gewohnt, der hieß so ähn-lich, jetzt ist der Mann aber tot. »Wir schütteln betrübt den Kopf:«Ach nein! Dann muß es eben woanders sein.»Wir kaufen uns neue Stiefeln, der Schuster fragt, wohin es geht,und wie er erfährt, wir suchen das Ich, rät er, gleich noch sechsPaar zu kaufen, damit wir nicht barfuß laufen, denn er weiß,sagt er, seit langer Zeit, das Ich wohnt tausend Meilen weit. Wirsind darüber nicht sehr betroffen, wir sind noch tausend Meilengeloffen, wir fragten an allen Ecken die Menschen, in der Luftdie Vögelein, an denWagen die Eselein, die Uhus, die Katzen inder Nacht, wir haben uns keinen Weg erspart.Und eines traurigen Sommerabends legen wir uns müde undhoffnungslos in den Graben. Wir klagen die Welt und dasSchicksal an, bei dem Klagen wandelt der Schlaf uns an.Und da im Schlafen kommt uns vor, es sagt uns einer dieWahr-heit vor. Der weiß sie besser als Frau und Polizist, als Schusterund was da gewesen ist. Die Vöglein und Uhus, die sagen Ge-schwätz, aber die Wahrheit sagt man uns jetzt. Man sagt sie unsdie ganze Nacht hindurch, wir liegen da, es wird uns nicht genug.Dann wachen wir auf und suchen und fragen, was der Mann imSchlaf uns denn bloß sagte. Eine ganze Nacht hat er es uns gesagt,weg war es, in die Luft gejagt. Die ganze Nacht war die Wahr-heit erklungen, in Betrübnis sind wir hingesunken, wir weintentrostlos, und im Weinen wurde uns klar, was in der Nacht ge-heimnisvoll geredet war. Wir fühlten, die Tränen im Gesicht :in Träumen, im Weinen war Ich.

Gesang des Spottvogels

Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier auf dürrer Heide, voneinem bösen Geist herumgeführt, und ringsumher liegt schönegrüne Weide.

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Auf der Wanderung

Man tummelt sich Jahrzehnt über Jahrzehnt unter den Men-schen, in den Städten, durch die Landschaften. Immer sagt man,Ich`. Nun kann man wirklich einmal nachsehen, wer das ist.Ich — bin ein Mensch, ein zoologisches Exemplar, das ist deut-lich. Ich — habe Hände, Finger mit Nägeln dran, die sind wieKlauen bei Tieren; habe Zähne im Mund. Ich — gehe zwar auf-recht, aber habe vier Gliedmaßen. Das ist genau wie bei einemHund oder einer Katze. Ich — habe eine Stimme. Das ist wie beiden Vögeln. Auch die Löwen, Tiger und Affen haben Stimmen,damit brüllen sie und schreien, vielleicht verständigen sie sichauch damit. Ein Bauch, ein Darm — es stimmt, alles wie bei Tie-ren. Ich — bin ein Tier. Da ist weiter nichts zu sagen.Weiter nichts? Doch. Es ist sonderbar. Ich wundere mich. Ich —wundere mich, daß ich — Tier bin.

Groß ist die Welt und voller Dinge, voller Tiere, Vögel undMenschen und Klänge, ich kann sie erleben und freue mich anihr. Aber jetzt spreche ich nicht von ihr.Ich sitze in einer geschlossenen Stube, vor mir ist ein Tisch, untermir ein Stuhl. In diese Stube bin ich eingetreten. Die Welt, diehabe ich draußen gelassen. Es ist etwas anderes da, damit mußich mich befassen.Was ist das andere ? Wie sieht es aus? Ist es denn schön, hat es lan-ges Haar, kann es lachen, lieb sein und umschlingen? Schließt dudich ein, um mit ihm die Zeit zu verbringenAch, wenn du in dies Zimmer eintrittst, vernimmst du Liebes-geflüster nicht. Hier sitzt einer still auf dem Stuhl für sich. Hierkönnte einer lachen und denkt an sich.Er ist ein Narr, man kann nichts mit ihm machen. Er denkt undfragt und fragt und denkt, und während er denkt, wird dieWelt weiterlaufen, und wenn er heraustritt, wird keiner von ihmetwas kaufen, und keiner nimmt von ihm etwas geschenkt.Die draußen haben ja so vieles, was in keine Stube geht und was

sich Tag um Tag bunt und lustig weiterdreht. Sie haben Berge,Täler, Ebenen und Seen, in der Stube kann man grade zehnSchritte gehen. Was kann in dieser Stube gescheheneJa, es gibt Frühling, Sommer, Herbst undWinter. Es gibt Mor-gen und Abend, Mittag und Nacht, es gibt Jugend und Alter,Musik und Geschrei. Der hier sitzt, denkt aber nur einerlei — wieer dies alles in der Welt liebt und verehrt, wie er glücklich ist,daß ihm dies ist beschert, wie er sich von keinem Ding abkehrt —wie er aber in seiner Stube ist einemWesen begegnet, einem Tiermit Nägeln, Knochen und Zähnen, mit Augen und Ohren,Muskeln und Sehnen. Das sitzt auf einem Stuhl mit ihm, undwenn er es fragt, wie es heißt, sagt es dreist: Ich.Von diesem Tier, diesem Untier, Übertier will er jetzt nichtlassen. Er will es nicht lassen, bis es ihn gesegnet und ihm gesagthat, wie es wirklich heißt und wer es ist. Er fühlt, daß ihm nichtsWichtigeres gegeben ist.

Gesang des Spottvogels

Ein Kerl, der spekuliert, zwei Kerls, die spekulieren, drei Kerle,die spekulieren.

Der Leib: irgendein Konzern

Diese Hand, diese Finger. Ein Tier. Merkwürdig : daß man Tierist, haben die Kirchenväter immer bejammert. Sie meinten da-mit die Sünde, Tier sei Sünde, Begierde, Kampf zwischen Engelund Satan. Das meine ich nicht.Daß ich Finger, Hände, Arme habe, und was das ist, und wie ichdazu komme — das meine ich. Ich sitze hier und finde mich alsTier, als Eigentümer eines Tierkörpers. Geld muß man erwer-ben, dies aber kommt einem angeflogen, und man soll es ver-stehen. Man kommt für nichts und wieder nichts so an, aus derPistole geschossen, hat Arme, Beine, einen Kopf und kann spre-

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chen. Ebensogut hätte man auch bellen können und könnteHund sein.Warum schließlich auch nicht. Es ist ein reiner Zufall,daß ich da bin, auf dem Stuhl sitze und schreibe, und der Hundläuft da unten an der Ecke neben seinem Frauchen. Ebensogutkönnte er hier oben sitzen, auf dem Stuhl, und schreiben, undich lauf an der Leine. Wär gar nicht so schlecht. Dem Hundgönne ich es jedenfalls, daß er auch mal hier sitzt und denkt.Wie ist das kurios, in welchem Zustand ich bin. Wenn einer ebenBettler war und nachher wird er auf irgendwelche Weise, durchphantastische Siege oder Volksreden, Kaiser oder Volkskom-missar oder Bankdirektor, so kann er sich damit, wenn auch ver-blüfft, abfinden. Was mit mir ist, ist beispiellos. Ich bin vor einevollendete Tatsache gestellt.Was hat man da alles bei sich. Was man so mit sich herumträgt.Man nimmt es kaum wahr. Man sieht in den Spiegel, rasiert sich,so und so sehe ,ich` aus, nicht grade schön, man muß es hin-nehmen. Oben wachsen einem die Haare, als sei man ein Bergmit Bäumen, oder ein Grasfeld, das immer abgemäht werdenmuß — auf zum Barbier, ich bin reif zur Ernte, gern mein Herr,wir werden sofort landwirtschaftliche Hilfskräfte engagieren.Was habe ich für einen Weggesellen. Ein ‚Männchen' bin ichauch, ein Mann. Im zoologischen Garten stecke ich nicht. Nochnicht. Von meiner Tierart gibt's zu viele.Es ist fabelhaft, womit dieser Apparat versehen ist. Es ist eineganze Fabrik, eine Überfabrik, ein Brutschrank, ein Automat,eine Serie von Automaten, ein Konzern. In was für eine Gesell-schaft bin ich geraten. Gott weiß, was man hier mit mir vorhat.Es ist ja ungeheuer. Was reden die Heiligen und Moralen, wasich alles in diesem Leben tun und meiden soll? Man sehe an, inwelche Gesellschaft ich gesteckt bin, lebenslänglich, und waseiner da noch machen kann. Hier kann man überhaupt nichtsmehr tun, hier ist man mit Sack und Pack verkauft.Dies hier ist eine ganze Festung gegen einen einzelnen Mann.Wie ist das gemacht, Arme, Beine, Lungen, tausend Organe,für alle Zwischenfälle, das ist die schlaue raffinierte Arbeit von

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