Dämonensilber 1: Der Wettlauf

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Tepor, eine verlassene Welt, deren Vergangenheit im Dunkeln liegt, wurde vor tausend Jahren neu besiedelt. Zwei Reiche entstanden, die schon bald wegen ihrer gegensätzlichen Ideologien in einem immerwährenden Konflikt lagen. Seit Jahrhunderten kämpfen die Vierfürstentümer und das Drakanische Imperium um die Vorherrschaft auf Tepor. Als die Lage eines geheimen Laboratoriums des tot geglaubten Erzhexers Abusan aufgedeckt wird, entbrennt ein Wettlauf zu diesem Ort des Wissens. Abusan war der mächtigste bekannte Magier der Geschichte. Seine Kenntnisse um die Magie würden das Machtgleichgewicht zwischen den verfeindeten Ländern entscheidend verschieben.

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Marc Strauch

Dämonensilber

1. Buch: Der Wettlauf

Roman

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1. Auflage: April 2009

Vollständige Taschenbuchausgabe

© Marc Strauch

Lektorat: Karl-Heinz Haas Umschlagkonzeption: Marc Strauch

Umschlaggestaltung: Thorsten Kirsch Druck und Bindung:

Druckerei Schröder, 35083 Wetter Printed in Germany

ISBN 978-3-00-027566-1

Weitere Informationen auf: www.dämonensilber.de

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Soli Deo Gloria

Danksagung

Besonders danken möchte ich allen meinen unverzicht-baren Testlesern. Danke für alle eure Gedanken, die diese Geschichte lebendiger und schöner gemacht haben. Großen Dank an Thorsten Kirsch für die Erstellung des fantastischen Buchcovers und weiteren Internet-graphiken. Am meisten danke ich meiner Liebsten, die mich immer unterstützt und immer an mich geglaubt hat. Ich kann nur allen Menschen einen solchen Rückhalt wünschen.

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Prolog

Es herrschte gespannte Stille in der gerammelt vollen Wirtsstube, nur unterbrochen vom Knacken brennender Holzscheite und gelegentlichem Räuspern und Husten. Ein gemütlich prasselndes Kaminfeuer und ein paar Talgkerzen warfen ein flackerndes Licht auf erwartungs-volle Augen. Schaffelle und Kiefernholz verbreiteten einen urtümlichen Duft, der sich angenehm mit der frischen Abendluft mischte, die von offenen Butzen-fenstern herein wehte. Frauen und Männer, einfaches Landvolk, das es sich auf Bänken und Hockern bequem gemacht hatte, sowie eine Schar Kinder auf dem fest-getretenen Erdboden der Schänke lauschten voller Spannung dem Meister der Sagen. Klangvoll und mit geübter Stimme begann der Barde seinen Monolog: „Im farblosen Nichts, in der Leere, strahlen wieder und wieder Lichter von gewaltiger Schöpfungsenergie auf. Der Ewige lässt Raum entstehen, und in diesem erschafft er liebevoll und mit genialer Kausalität. Zu Beginn ruft er die Behüter ins Leben. Die Unsterblichen sollen von Anfang an die Schöpfung schauen und hernach als weise Hüter, als Hoffnungsbringer und Schlichter in das neue All entsandt werden.“ Leise flüsterte jemand: „Was ist denn das, diese Kausalität?“ „Pssst!“

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„Wie viele Welten hat Er erschaffen, und wie viele Universen hat der Schöpfer ersonnen? Wer will es je erfassen und begreifen, außer dem Unend-lichen selbst?“ Der Barde legte nach der üblichen Anfangsrede über die Schöpfung eine kurze Kunstpause ein. Die Kinder zu seinen Füßen hingen wie gebannt an seinen Lippen und er dankte es ihnen mit einem strahlenden Lächeln. Mit einer allumfassenden Geste fuhr er schließlich fort: „Wir wissen jedoch von zwölf Welten, durch den Willen des Schöpfers untrennbar miteinander verflochten. Eine jener Welten ist euch wohl bekannt. Ein Erdkreis, der lange Zeit verlassen dalag und auf dem die Wildnis die letzten Zeugnisse vergangener Kulturen verschlang. Auf ihm begann unser Neuanfang. Ihr alle habt der Natur getrotzt, und dank euch entstand ein blühendes Reich, in dem wir in Freiheit leben können – auf unserer Welt Tepor.“ Ein Johlen, gemischt mit ein paar Pfiffen, ertönte aus der Menge. Dramatisch schaute sich der Sagenerzähler im großen Schankraum um. „Erzählen möchte ich von der jüngsten Heldentat. Denn diese den vier freien Völkern der Vierfürstentümer zu verkünden sind alle Barden angehalten. Es begab sich vor nicht allzu langer Zeit, dass die Bedrohung durch das Drakanische Imperium einen neuen Höhepunkt erreichte. In seinem Drang nach der Beherrschung und Verskla-vung aller Völker forschte der herrschende Zirkel der Drakaner nach einem Ort des arkanen Wissens, der das Machtgleichgewicht zwischen unseren westlichen freien Völkern und dem Reich der Drakaner schrecklich ver-schieben sollte. Alles begann, den Schriften zufolge, in Flüsterstein, 1053 nach der Besiedlung von Tepor. In dieser Stadt trafen

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sich ein Teil der Personen, die in dieser Geschichte eine bedeutende Rolle spielen sollten, obwohl sie ihr ge-meinsames Schicksal zu dem Zeitpunkt noch nicht erahnten …“

- Eine Bardenerzählung über die Dämonensilber-

Kriege

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Welt Tepor, Drakanisches Imperium – nordöstliches Vorgebirge des Felmonmassivs 23 Jahre vor der Entdeckung von Abusans Aufzeichnun-gen. Sie hatten weder Mutter noch Vater. Ausbilder, Schinder, Bestrafer und der Tod waren ihre Bezugspersonen. Kämpfen, Schmerz, Kämpfen, endlose Wiederholungen, Schläge, Angst, Kämpfen. Wer das nicht durchhielt, verschwand für immer, ohne Erklärung. Dies war deut-licher als jedes Wort der Drohung. Ein hartes Training, das Kampfkunst, Manöver im Truppenverband und Körperentwicklung beinhaltete, war das einzige Leben, das man ihnen gestattete. Sie waren anders, irgendwie besonders, keine gewöhnlich-en Menschen. Waren sie überhaupt Menschen? Niemand von ihnen wusste, woher sie kamen oder ob es noch andere von ihnen gab. Sie konnten sich nur mit den Ausbildern vergleichen und stellten fest, dass sie mit der Zeit größer und stärker als ihre menschlichen Lehr-meister wurden. Doch trotz ihrer überlegenen Kraft war jedem klar: Ihr Leben gehörte ganz und gar den drakani-schen Offizieren. Ihre kleine Welt bestand aus den Ausbildungslagern und dem tiefen, urtümlichen Wald ringsumher, fernab jeglich-er Zivilisation, tief in der Bergwildnis des Sturmgebirges. Keiner hatte sich je weiter als einen Tagesmarsch von den Kasernen entfernt – und auch das nur unter strenger Aufsicht, um Übungen im Gelände zu vollziehen. Mit den Jahren wurden sie immer geschickter im Kampf. Sie lernten, mit den unterschiedlichsten Waffen umzu-gehen, und einige brachten es mit einer bevorzugten

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Waffe zu einer tödlichen Meisterschaft. Ihre Körper gewannen mit der Zeit gewaltige Kräfte. Wer überlebte, wurde hart, zäh und muskulös. Dank ihrer einen beson-deren Gabe überlebten viele die schlimmen Torturen ihrer ersten Lehrzeit. Nach den vielen Jahren der Grundausbildung, nachdem sie zu einer eingespielten Einheit verschmolzen waren, kamen die schlimmsten Schinder der Drakaner für die letzte Ausbildungsphase. Es gab zwei verschiedene Kasten, aus denen diese Ausbilder stammten: die Urkorr-nor und Urkorr-gaan. Sie waren Meister ihres Faches. Der Kampf mit und gegen Zauberei wurde nun mit aller Härte gelehrt: wie man sich mit verstärkender Magie verhält, mit welchen Hexereien man bei großen Schlach-ten rechnen muss und worauf man zu achten hatte, um illusionäre Magie zu durchschauen. Noch einmal vergingen Jahre, die eine einzige Qual waren, erfüllt mit Angst, bis selbst dieses Gefühl erlosch. In dieser Phase des Lernens gab es keine weiteren Ver-luste. Vonseiten der Drakaner wurde darauf geachtet, dass niemand mehr „verloren“ ging. Sie waren auf einmal wertvoll geworden. Aber auch die erworbene Kraft und Zähigkeit waren dafür verantwortlich, dass kein Weiterer mehr starb. Vieles wurde ihnen antrainiert – nicht gelehrt. Es gab keine Bücher, und es gab auch keine Diskussionen. Fragen waren ihnen fremd; Befehl und Gehorsam waren ihre Dogmen. Einige wenige, die durch Geschick und Intelligenz auf-fielen, erhielten ein größeres Maß an Bildung. Diese bekamen Unterricht in Taktik und Strategie, ihre Logik wurde geschult und ihr Wissen über die Welt und die Natur vergrößert. Diese wenigen Privilegierten machte

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man zu Anführern und Hauptmännern einer größeren Schar. Als sie das erste Mal aus ihrem im Wald versteckten Lager ausrückten, das erste Mal nicht mehr unter der Bewachung und der Knute ihrer Lehrmeister standen, bereit, sich in den kommenden Einsätzen zu bewähren, waren für ihre Ausbildung fünfzehn Jahre vergangen. Das neue Schwert war geschmiedet.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein 2 Wochen vor der Entdeckung von Abusans Aufzeich-nungen. In einer sternenlosen Nacht schleppten sich zwei Männer wankend durch die krummen Gassen Flüstersteins. Über ihnen neigten sich schiefe Hauswände aufeinander zu und vertieften damit die Dunkelheit. Eine hässliche Stimme hallte zwischen den engen Wänden hin und her. Einer der beiden Nachtschwärmer grölte mit ganzer Inbrunst ein Sauflied, der andere war schon nicht mehr bei Sinnen. Schwer hing er in den Armen des Sängers, seine schlaffen Beine wurden hinterhergeschleift. Die Trunkenbolde erreichten eine Hintertür, und das Grölen verstummte. Der Sänger warf einen schnellen Blick die dunkle Gasse hinauf und hinunter, dann erst klopfte er an das Holz. Kurz murmelte er etwas zu der Tür. Sie wurde ihm ge-öffnet, und die zwei Männer verschwanden im Dunkeln eines alten Lagerschuppens. „Da seid Ihr ja … wen bringt Ihr denn da mit?“ Achtlos ließ der Angesprochene den Mann, den er bis hierher getragen hatte, zu Boden fallen. „Verscharr den da im Keller“, erklang seine kalte Stimme. „Wa…as, eine Leiche?! Das könnt Ihr doch nicht ma-chen! Mein Ruf als ehrbarer Händler steht auf dem Spiel, wenn nicht noch mehr.“ Kalte und keineswegs betrunkene Augen fixierten den Händler. „Der Eiserne Thron bezahlte dir genug, um einiges mehr an Risiken als das hier zu ertragen. Glaubst du, ich hatte eine Wahl? Ich musste meinen Verfolger loswerden.“

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Mehr zu sich selbst raunte er: „Man weiß anscheinend von meiner Ankunft in Flüsterstein, und ich werde nicht mehr frei handeln können. Ärgerlich. Jetzt, da man mich kennt, kann ich nicht mehr selbst den Auftrag erle-digen …“ Nach einem kurzen nachdenklichen Innehalten erklang dann der eisige Befehl: „Lass den Kadaver sofort verschwinden! Das Gezücht von der Blauen Rose wird diesmal keine weiteren Informationen erhalten. Diene dem Eisernen Thron gut, und du wirst leben.“

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein Einst, vor Jahrhunderten, entdeckten Siedler einen Hügel voll von saftigem Gras mit einem kleinen Fluss an dessen Fuß und einem großen rechteckigen Felsmassiv auf der Kuppe. Ein ständiger Wind umwehte diesen Felsen und erzeugte ein nie aufhörendes Wispern. Es war, als würde dem Wind an diesem Platz eine flüsternde Stimme verliehen, die von den vergangenen Jahrhunderten er-zählte. So nannten die ersten Siedler diesen wie ver-zaubert erscheinenden Ort Flüsterstein. Die Stadt Flüsterstein war umgeben von weiten Feldern und Weiden, einigen kleinen Wäldchen und einzelnen Bauerngehöften. Wohin man schaute, erblickte man das helle Gelbgrün der keimenden Weizenfelder und das satte Grün der Wiesen. Obstbäume, welche gerade erblühten, erfreuten das Auge mit ihren weißen, roten und violetten Knospen. Erste Blumen zierten die Wiesen mit kräftigen Farben. Im nördlichen Viertel von Flüsterstein erhob sich eine mächtige Bastion, die alleine die breite Hügelkuppe einnahm, wo sich einst das Felsmassiv erhob. Es war immer noch das gleiche alte Gestein, nur behauen und umfunktioniert, sodass vom natürlichen Fels nichts mehr zu erkennen war. Nach wie vor hörte man das Flüstern des Windes, der jetzt die Festung anstatt wie einst den Felsen umspielte, so als würde er die Steinquader der Burg wiedererkennen. Etliche Wehrtürme und mächtige Wälle umgaben den inneren Zwinger, der für sich genom-men schon eine kleine Burg darstellte und dessen Türme und Wände die äußeren Wehranlagen überragten. Die äußeren Festungsmauern besaßen eine Breite von zehn

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Fuß und waren aus großen Granitblöcken zusammen-gesetzt. Das Haupttor bestand aus zwei gewaltigen Steinplatten von enormem Gewicht. Um diese Torflügel überhaupt noch bewegen zu können, war ein gewaltiger Zahnradmechanismus erbaut worden, der mithilfe von fünfzig Pferden angetrieben wurde. Jeder Reisende, der auf Flüsterstein zukam, sah schon von Weitem diese drohende Festungsanlage. Einige Tagesmärsche nach Süden erstreckte sich entlang des Horizontes eine dunkelgrüne Mauer aus alten, aus-ladenden Bäumen, der gewaltige Moranion-Wald. Nach Osten hin erhob sich das Felmongebirge, ein ausge-strecktes Massiv, zerklüftet, steil und schneebedeckt, das die Marken des Westens vom Reich der Drakaner trennte. Scheinbar unüberwindlich, zerteilte dieses Gebir-ge wie eine von Titanen errichtete Burgmauer den Konti-nent vom nördlichen bis zum südlichen Ende. Grummelnd stapfte eine vier Fuß kleine, metallklirrende Gestalt mit einer erstaunlichen Schulterbreite durch die Stadttore von Flüsterstein. Augenblicklich stürzten Lärm und eine Mixtur aus Gerüchen auf den Zwerg ein und ließen ihn erstarren. Die Luft halte wider von den Schimpftiraden der Fuhrleute und dem Rattern ihrer Wagen, den Lockrufen der Straßenhändler und dem Blöken einer Schafherde. Der Gestank von Abwasser-rinnen vermischte sich mit dem Duft von gerade zubereitetem Essen. Ein Windhauch trieb die Ausdün-stungen von Tieren und das Aroma von Kräutern, die in Ständen feilgeboten wurden, die Straße hinab. Dies alles war ganz typisch für eine menschliche Siedlung der Vierfürstentümer. Der Frühling hatte begonnen, und die größte Stadt der Flüstermark wimmelte von geschäftigem

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Treiben. Ungewöhnlich war an Flüsterstein allein die Mischung der vier freien Völker, die normalerweise eher unter sich blieben, hier aber einträchtig beieinander wohnten. Zudem zog diese Stadt als letzte Bastion vor der Wildnis im Süden und den Ländern der Drakaner im Osten viele Abenteurer an – die einen mit edlen, die anderen mit eher eigennützigen Motiven. Grimmige gräuliche Augen sahen sich mit einem unge-haltenen Ausdruck um. Die kleine metallstarrende Gestalt strich sich bedächtig ihren langen Bart, wobei sie das hektische Treiben der Hauptstraße betrachtete. Die Erscheinung des Zwergs war imposant und massiv, trotz seines kleinen Wuchses. Seine breiten Schultern maßen mehr als drei Fuß und ließen ihn massig wirken. Die Arme und die krummen Beine waren muskelbepackt. Der berühmte Dickschädel der Zwerge war auch bei ihm deutlich ausgeprägt und erschien so massiv wie ein Stein. Wuchtige Augenbrauen unterstrichen jeden Gesichtsaus-druck, und eine Knollennase ließ ihn grobschlächtig aussehen. Menschen beschrieben die Gestalt der Zwerge oft als kastenförmig und dem Auge wenig wohlgefällig. Sein Besitztum ließ jedoch erkennen, dass dieser Zwerg kein einfacher Wanderer war: Das hüftlange Kettenhemd und der dreieckige Schild waren aus bestem Stahl und von hohem Wert. Der wuchtige Streithammer am breiten Gürtel war aufwendig verziert, eine Waffe, die Zwerge gern gegen gerüstete Feinde einsetzten. Schwere graue Stiefel mit Stahlkappen und Stahlnieten umhüllten die Füße bis zu den Unterschenkeln. Ein dicker Eisenhelm mit Wangenschutz und einem spitzen Eisendorn in der Mitte, hinten mit einem Kettengeflecht, das den Nacken schützte, krönte das Haupt. Seine schwere Ausrüstung schien ihm keine Last zu sein, und er trug sie mit der

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Selbstverständlichkeit eines Kriegers. Um seinen Hals hing offen ein rundes grobes Steinamulett, das einen kaum bearbeiteten Rubin umfasste. Aus einer Seitengasse in der Nähe der Stadttore hastete ein junger Pferdeknecht auf die Straße der Händler. Ein Ruf von der Seite ließ ihn aufblicken. Eine hübsche Magd lächelte ihm zu, und er konnte die Augen nicht von ihr lassen, während er an ihr vorbeilief. Kurz darauf schallten ein lautes Scheppern, Stöhnen und ein derber Fluch über die Straße. „Bei allen Rattenärschen, wer steht denn hier so blöd mitten auf dem Weg herum?“ Der wütende Knecht schaute vom Erdboden hoch und fragte sich, auf was er da geprallt war. Es hatte sich so angefühlt, als wäre er gegen einen dicken Baumstumpf gelaufen. „Verdammt, ein Zwerg!“ Der Kopf des Angesprochenen ruckte herum, und graue Augen fixierten den am Boden liegenden Menschen mit kalter Ruhe. „Oh … ich meinte, welch Missgeschick …“ Schnell stand der verdatterte junge Mann auf. „Also … von mir … natürlich.“ Eilig machte sich der Knecht davon. Zwerge waren berüchtigt für ihr aufbrausendes Wesen und für schnell verteilte Hammerschläge. Und sie lebten nicht nur in Gebirgen, ihr Körper selbst schien aus Stein gearbeitet. Sich mit einem Zwerg zu schlagen war keine gute Idee, wenn man nicht gerade selbst einer war. „Halt“, dröhnte eine Bassstimme. Ängstlich sah sich der Knecht um. „Du solltest es wiedergutmachen, indem du mir sagst, wo es das nächste Bier gibt und etwas zu essen dazu. Und das Bier sollte gut sein, Junge!“

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Burg Heilborn Die Aufregung stand Halgrimm ins bartlose Gesicht geschrieben. Er war jetzt seit zwei Tagen in Flüsterstein in der Festung der Stadt zu Gast, und nun durfte er endlich beim Fürsten vorsprechen. Zügig schritt er voran, um schnell den Audienzraum des Fürsten zu erreichen, was in dieser riesigen Anlage einige Zeit beanspruchte. Er war von seinem Orden entsandt worden, um den Herrscher der östlichsten Grenzmark kennenzulernen und als Stellvertreter des Grauen Turmes Rat zu geben. Er, Halgrimm al Noschura, bei einem Fürsten als Ratge-ber – es erfüllte ihn ein wenig mit Stolz. Hoffentlich passierte ihm kein Malheur. Die zwei Wochen dauernde Reise aus dem hohen Nordwesten hatte den jungen, schlanken Magier etwas mitgenommen. Er war nicht schwächlich, wie es der landläufigen Meinung über Zauberer entsprach. Dieses hartnäckige Gerücht der Landbevölkerung entsprang der Vorstellung, die wenigen, die diese Gabe der arkanen Künste beherrschen lernten, hätten für nichts anderes als Schriftrollen und Bücher Zeit. In Wahrheit wurden im Orden des Grauen Turmes regelmäßige körperliche Er-tüchtigungen angeordnet. Nach dieser langen, anstreng-enden Wanderung war Halgrimm seinen Lehrern dankbar. Er erinnerte sich an einige Lektionen, die während der körperlichen Übungen gegeben wurden. „Denn in einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist – meistens jedenfalls“, ahmte Halgrimm den Ausspruch eines Mentors leise murmelnd nach. Und ein starker, gesunder Geist war für die Beherrschung der Magie unabdingbar.

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‚Nun ja‘, dachte Halgrimm al Noschura sinnierend, ‚mit der Kondition und Stärke eines Kriegers können wir vom Orden nicht mithalten, aber das macht ein Meister mit den richtigen Zauber-sprüchen ohne Weiteres wett. Tja, ein Meister … ich jedoch habe schon bei den einfachen Zaubern des ersten Machtkreises Schwierigkeiten …‘ Missmutig raffte Halgrimm seinen waldgrünen Wanderumhang. Er besah noch einmal seine braune Lederhose und sein gewebtes Leinenhemd. Beide waren mit vielen kleinen Taschen übersäht, die alle vollgestopft mit verschiedenen nützlichen Dingen für eine Wanderung in der Wildnis oder das magische Handwerk waren. Zufrieden darüber, dass sich alles an seinem Platz befand, wandte er sich der Tür seines Zielortes zu. Viele seiner Mitschüler hätten mit dem Kopf geschüttelt. Sein Aufzug war nicht gerade dem Schick eines Adelshofes ent-sprechend, aber dafür praktisch, und er war schließlich zum Arbeiten hier. Die Arbeit eines Magiers … Erneut drangen unangenehme Erinnerungen an sein Studium im Grauen Turm in ihm hoch, und er verharrte mit der Hand auf dem Riegel der Tür. Ja, er hatte es geschafft, erfolgreich im Orden zum Adepten aufzu-steigen, und es war ihm nun erlaubt, alle Zauber bis zum zweiten Machtkreis zu wirken. Trotzdem war er sich seiner mangelnden Beherrschung der Magierfähigkeiten wohl bewusst. Nicht immer entsprach das Ergebnis eines Zaubers dem, was er eigentlich wollte. Manchmal war das Resultat nicht mal annähernd das, was er geplant hatte. Der junge Zauberer schlug sich nicht wie seine Mit-schüler damit herum, dass sein Lenken der Energien manchmal fehlschlug und nichts passierte. Nein, sein ungewöhnliches Talent, gewaltige Mengen an magischen Energien anzuziehen, ließ es gar nicht zu, dass diese Kraft

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ohne Wirkung verpuffte. Und genau darin lag das Problem: Ein fähiger Magier zeichnete sich selten durch die große Gewalt seiner Zauber aus, sondern dadurch, dass er wie ein Feinhandwerker die Magie genau zu lenken verstand. Des Weiteren entschied über Wohl und Wehe eines Herganges, wie klug man einen Zauberspruch eingesetzt hatte – und nicht dessen Machtgrad. Dies waren jedenfalls die Lehren des Ordens, und Halgrimm musste zugeben, dass an ihnen schon etwas dran war. Einige Ordensmeister vermuteten, Halgrimm könne irgendwann einmal die Energien der stärksten Bannsprü-che beherrschen, die Zauber des zehnten Machtkreises. Er konnte es kaum glauben. Stets setzte er zu viel Kraft für die einfachsten Zaubersprüche ein. Je höher der Machtkreis des Zaubers war, desto ungenauer konnte er ihn lenken. Es war wie bei einer Kutsche, an die zu viele Pferde angespannt wurden und die aufgrund der Geschwindigkeit ständig Gefahr lief, bei einer Bodenwel-le aus der Bahn zu geraten. Es schien, als zöge Halgrimm die freien Energien der Schöpfung wie ein Magnet an – was für jeden anderen Magier schwere Arbeit bedeutete. Eine Gabe, die ihm, wenn er in seinem Leben zurück-blickte, andauernd Probleme eingebracht hatte. Der Rat des Ordens erkannte Halgrimm al Noschuras Leistungen in den arkanen Wissenschaften an, hatte ihm jedoch befohlen, äußerst umsichtig von der Macht Gebrauch zu machen – vor allem in ernsten oder schwierigen Situationen. Seufzend kehrte ein deprimierter Halgrimm aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück und warf einen boshaften Blick auf seinen mannshohen Stab aus glatt poliertem Ebenholz, der ihn als Magier auszeichnete. Dann trat er endlich durch die Tür.

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Der vertraute Geruch von altem Pergament wehte Halgrimm entgegen, vermischt mit Staub und dem Duft von brennendem Kiefernholz. Er sah sich in dem weiträumigen Zimmer um. Kurz erfasste er die großen an der Wand hängenden Karten, die verschiedene Land-striche der westlichen Fürstentümer darstellten. Dann wurden seine Augen auf den schweren, wuchtigen Eichentisch gelenkt, der mit seiner ausladenden Tisch-platte den Raum beherrschte. Auf ihm war die ganze Umgebung der Grenzmark als Miniaturlandschaft abge-bildet, einschließlich der Stadt Flüsterstein und ihrer Burganlage. Umliegende Dörfer wirkten wie Ansied-lungen von Puppenhäusern. Die Bäume der dargestellten Wälder waren wohlgearbeitetes Schnitzwerk. An einer Seite der Platte stand ein grauhaariger Mann mit ver-schränkten Armen, der nachdenklich die Miniaturland-schaft betrachtete. Beim Eintreten des Adepten riss er sich aus seinen Gedanken und schaute zum Eingang auf. „Ah, der junge Magier. Ich freue mich, Euch zu sehen, Halgrimm al Noschura. Willkommen in meiner Feste.“ Mit Erstaunen betrachtete Halgrimm den alten Mann, der mit seiner abgetragenen Kampfkleidung so gar nicht wie ein Fürst aussah. Etwas verspätet verbeugte er sich vor dem Herrn der Mark. „Dank für Willkommen und Einladung, Fürst Nelda al Aldan. Ich erbiete Euch den Gruß von den Meistern des Grauen Turmes, die in Form meines Besuches gern Eurer Anfrage nachgekommen sind. Wie kann ich Euch dienen?“ „Ah, sogleich auf jeden Fall. Kommt mit mir zur Hauptfigur meiner Rätsel und Fragen.“

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Ohne weitere Erklärungen marschierte der Fürst aus dem Kartenraum hinaus, und Halgrimm hastete hinter ihm her. Fürst Aldan führte ihn durch schmale Gänge, die in ihrer Schmucklosigkeit alle recht ähnlich aussahen. Oft bogen sie ab oder durchschritten schwere Eichentüren, und schon bald wusste Halgrimm nicht mehr, wo sie sich befanden. Düsteres Halbdunkel herrschte in den Fluren vor, nur spärlich erleuchtet durch ein entferntes Fenster oder eine einsame Fackel. Bei dieser Trostlosigkeit war Halgrimm froh, dass er nicht in einer Burg leben musste. Fürst Aldan schien derweil eine eigene Düsternis in sich zu tragen. Gedankenschwer ging er schweigend voran, und Halgrimm fragte sich, ob die Sorgen, die dem Fürsten auf das Gesicht geschrieben standen, etwas Schlimmeres zu bedeuten hatten. Nach einer langen Treppe abwärts bogen sie in einen breiten nackten Gang ein, dessen rechte Wand zu einer Außenmauer gehörte. Statt normaler Fenster gab es hier schmale Schießschar-ten, die im Winter mit dicken Holzverschlägen ver-schlossen wurden. Der Rundgang selbst war sauber und schlicht, frei von Gegenständen, die dort Vorbeikom-mende hätten behindern können. Nach etlichen Treppen und verwinkelten Fluren erreichten sie einen weiten Raum, der eine ganze Etage für sich beanspruchte. Halgrimm riss überrascht die Augen auf, als er erkannte, dass er in einem gut eingerichteten Alchemielabor stand. Es war großzügig mit Tischen und Regalen ausgestattet, die beladen von Apparaturen waren. Es herrschte rege Betriebsamkeit, was nicht zuletzt an der Art der quirligen Gnome lag, die hier hauptsächlich ar-beiteten. Die zierlichen Geschöpfe waren emsig dabei, verschiedenste Pflanzen zu extrahieren, Flüssigkeiten und Pulver zu vermischen und Essenzen zu kreieren. Wie in

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einem Ameisenhaufen rannten die gnomischen Alchemis-ten zwischen den Tischen umher oder hantierten mit schnellen Bewegungen mit Laborgerät. Noch nie hatte Halgrimm so viele unterschiedliche Glaskolben gesehen. Gerüche von Verbranntem und einer Vielfalt von Ex-trakten kitzelten seine Nase. Halgrimm war immer wieder erstaunt über dieses kleine Volk, das ihm gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Mit ihren übergroßen Augen, den spitzen, fledermaus-förmigen Ohren und ihrer lederartigen, braunen Haut wirkten sie auf ihn grotesk. Ihre lebensfrohe und etwas respektlose Art machte sie in seinen Augen jedoch liebenswert. Er bewunderte und beneidete sie wegen ihrer Lebenseinstellung. Bevor er sich noch länger umsehen konnte, ergriff Fürst Aldan ungeduldig Halgrimms Ellbogen und führte ihn in die rechte hintere Ecke des Saales. Dort erblickte er nahe einer Wand ein steinernes lebensgroßes Abbild eines Mannes neben einigen Kisten. Auf einer der Kisten hatte es sich ein junger Soldat bequem gemacht und träumte vor sich hin. Halgrimm schätzte, dass er noch nicht lange seiner Jugendzeit entwachsen war. Der junge Krieger war ebenso wie der Fürst mit einem Kettenhemd und Leder-schutz gerüstet. Ein Schwert und ein Parierdolch hingen von seinem Waffengurt herunter. Erschrocken sprang er auf, als er den Herrscher auf sich zukommen sah. „Gut, dass du schon da bist, Restil“, begrüßte ihn Fürst Aldan. „Halgrimm al Noschura, dies ist Restil, mein dritter Sohn. Seit einiger Zeit lasse ich ihn bei den Reichsgeschäften und wichtigen Ereignissen anwesend sein. Seine Zeit ist gekommen zu lernen, was es bedeutet, ein Fürstentum zu führen.“

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Halgrimm verbeugte sich leicht in die Richtung des Fürstensohns. „Möget Ihr die Weisheit der Behüter erlan-gen, junger Herr.“ Aldan lachte auf. „Für das Erste würde mir überhaupt etwas Weisheit bei ihm genügen. Restil, das hier ist der junge Magier, der uns vom Grauen Turm gesandt worden ist: Halgrimm al Noschura.“ „Willkommen, Ordensmeister.“ Restil trat vor und streckte offenherzig seine Hand aus. „Noch kein Meister“, stellte Halgrimm richtig und ergriff fest die dargebotene Hand. „Nur ein Adept, der ebenfalls noch viel zu lernen hat.“ Ein verschwörerisches Lächeln huschte über das Gesicht des Fürstensohnes, das Halgrimm erwiderte. Aldan nickte Halgrimm zu und wies mit ausgestrecktem Arm auf die Steinstatue. „Kommen wir zum Grund Eurer Anwesenheit. Hier habe ich den Gegenstand meiner Sorgen abstellen lassen. Ich hoffe sehr, Halgrimm al Noschura, dass Ihr mir weiterhelfen könnt.“ Ernst besah der Adept der arkanen Künste die Statue. Diese aus Granit bestehende Figur war bemerkenswert detailgetreu. Nahezu lebensecht stellte sie einen jungen Mann in Jägerkleidung dar. Selbst kleinste Falten waren herausgearbeitet worden. Es war wahrlich ein Meister-werk der Bildhauerkunst. Seltsam erschienen die Hände, die eigentlich mehr wie die Pranken eines Bären aus-sahen, fellbesetzt und mit gefährlichen Krallen bestückt. Diese Tatzen wirkten seltsam und unpassend, denn sie waren im Verhältnis zum Rest des Körpers viel zu groß geraten. „Erstaunlich, nicht wahr?“ Aldan trat neben den jungen Magier, und Rastil blickte Halgrimm neugierig an. „Nun, was ist Eure erste Einschätzung? Könnte es irgendetwas

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mit drakanischer Magie zu tun haben? Dieses Kunstwerk wurde in der Hütte eines Waldläufers tief im Moranion-Wald aufgefunden. Wir vermuten, er hat für den Eisernen Thron Informationen gesammelt.“ „Im Moranion?“ Halgrimm sah erstaunt zum Fürsten. „Sehr wagemutig, nach allem, was man so hört von diesem Wald der Wälder. Sogar bei uns im Norden kennt man unheimliche Geschichten über ihn. Größer soll er sein als selbst das Reich der Drakaner und das der freien Völker zusammen. Die seltsamsten und gefährlichsten Kreaturen, so sagt man, treiben sich dort herum.“ „Ja, so sagt man. Aber fundiertes Wissen haben wir nur wenig über dieses Gebiet. Obwohl wir schon seit einem Jahrtausend diesen Kontinent bewohnen, ist uns der größte Teil des Landes unbekannt. Es gäbe noch so vieles zu erforschen. Zum Beispiel die großen Ruinenstädte, die im Moranion-Wald gefunden wurden, die letzten Zeug-nisse von untergegangenen Reichen und Zivilisationen.“ Halgrimm fragte sich, wohin dieses Gespräch führen sollte und ob der Verlauf etwas mit dem Fürstensohn zu tun hatte. Das Thema an sich hatte ihn allerdings schon immer fasziniert, und so äußerte er seine Gedanken darüber: „Es ist unheimlich, dass nicht eine der alten Kulturen überlebte. Die alten Schriften der ersten Besied-lung berichten, dass nicht ein existierendes Reich, nicht einmal eine primitive Siedlung vorgefunden wurde. Alles war verschlungen von der Wildnis, begraben unter Gras und Bäumen.“ Fürst Aldan lächelte grimmig. „Ja, erschreckend. Uns wird vor Augen gehalten, wie vergänglich jedes Streben ist. Und trotzdem ringen wir allezeit nach Weisheit, damit wir nicht ebenso vergehen, sondern dem Feind solchen Untergang bringen können. Wie närrisch wir doch sind.“

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Verwirrt runzelte Halgrimm seine Stirn. „Ja … sicher … Herr.“ Auch Rastil sah verständnislos zu seinem Vater, Halg-rimm hingegen ahnte langsam, auf was der Fürst an-spielte. „Ah – Euer Ausspruch sollte wohl eine Art Aphorismus sein. Ihr meint, dass wir unsere Forschungen hauptsächlich zur Vernichtung der Drakaner betreiben. Und unsere Feinde streben ebenso nach Weisheit, um uns auslöschen zu können. Ihr glaubt, so etwas wäre schon damals bei den untergegangenen Reichen passiert: dass diese sich gegenseitig vernichtet haben. Obwohl uns, den Vierfürstentümern und den Drakanern, aufgezeigt wurde, wie dies enden kann, ändern wir unser Verhalten nicht. Was uns alle zu Dummköpfen macht. Verzeiht, Herr, meint Ihr nicht, dies alles aus Ruinen zu deuten, wären reichlich viele Spekulationen?“ „Vielleicht. Dann sagt mir: Was könnte außer einem Krieg eine solche Vernichtung von mehreren Kulturen mit all ihren großen Städten bewirken? Selbst eine Naturkatastrophe könnte das nicht so allumfassend auf dem gesamten Kontinent.“ Halgrimm schwieg und versuchte den Fürsten einzu-schätzen. Seine Körpergröße war eher durchschnittlich, doch die Schultern waren breit. Der leichte Ansatz eines Bauches war zu erkennen. Die braunen Augen wirkten entschlossen, seine adlerförmige Nase und das energische, bärtige Kinn gaben dem Gesicht Charakter. Für sein Alter sah der Fürst erstaunlich muskulös und abgehärtet aus. Lederschutz, Kettenhemd und das umgegürtete Schwert schienen ganz zu seiner Person zu gehören. Insgesamt, fand Halgrimm, gab er eine stattliche Erscheinung ab, die Reife und Erfahrung ausstrahlte.

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Aldan bemerkte seine Blicke. „Eine erste Einschätzung des alten Fürsten? Ihr wundert Euch wohl über meine Kampfkleidung.“ „Verzeiht meine Verwunderung, edler Fürst, die Hoch-gestellten, die ich bisher kennenlernte, bevorzugten angenehmere und vor allem prunkvollere Kleidung …“ Rastil, der die ganze Zeit das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte, musste bei dieser Bemerkung grinsen. Es war ersichtlich, dass er die folgende Antwort seines Vaters schon öfter gehört hatte. „Ich möchte nicht verweichlichen, und es macht auf meine Soldaten einen guten Eindruck. Sie sollen wissen, dass sich ihr Befehls-haber genauso viel abverlangt, wie er von ihnen fordert. Außerdem vergesst nicht: Dies ist die Grenzmark, die dem Reich der Drakaner am nächsten liegt. Meine Burg ist Tag und Nacht auf eine Invasion gefasst, und Spähtrupps reiten ständig durch die Grenzlande. Auch ich bin sozusagen wie Ihr in Arbeitskleidung.“ Halgrimm wurde leicht verlegen bei der Erwähnung seiner Bekleidung und fragte schnell: „Wie habt Ihr überhaupt von diesem Waldläufer erfahren, mein Fürst?“ „Unter meinen Kundschaftern befinden sich viele Elfen. Ihr Geschick und ihre Fähigkeiten in der offenen Natur sind überwältigend. Ich denke, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen, sie sind in der Wildnis Menschen, Gnomen und Zwergen weit überlegen. Und Elfen kom-men auch von ihren Streifzügen durch den Moranion-Wald lebend wieder zurück – jedenfalls wenn sie sich nicht zu tief hineinwagen. Sie entdeckten auf einer Erkundung einen Jäger, der aus dem Wald kam und zu unserer Stadt wanderte. Meine Elfenspäher verfolgten ihn heimlich zu einer Schenke und konnten ein Gespräch belauschen. So wurde offenbar, dass er Kontakt zu einem

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Mittelsmann des Eisernen Thrones hatte, der sich in meiner Stadt aufhielt. Was er aber hier für einen Auftrag hatte, bleibt im Dunkeln. Beide, der Waldmann sowie der Mittelsmann, wurden, kurz nachdem man mir Bericht erstattete, mit durchschnittener Kehle aufgefunden.“ Halgrimm fasste sich schluckend an seinen Hals. „Also sind die Drakaner nicht untätig. Eure Mark ist anschei-nend im Brennpunkt der Geschehnisse, und es gibt mindestens noch einen Schleicher der Drakaner in Eurer Stadt.“ Aldans Hand verkrümmte sich zu einer Faust, und er knurrte: „Verdammt, so ist es! Einer meiner Getreuen, der einige zwielichtige Händler beschatten wollte, ist spurlos verschwunden. Ich fürchte, er ist nicht mehr am Leben. Doch haben wir wenigstens die Behausung des Jägers gefunden – und neben ein paar Karten, die er über die Flüstermark angefertigt hatte, noch diese seltsame Statue.“ Zum ersten Mal mischte sich Rastil in das Gespräch ein: „Noch erschreckender finde ich, dass unsere Elfen-waldläufer, ohne es zu bemerken, selbst beobachtet wurden. Das ist zumindest die einzige Erklärung für den plötzlichen Tod der beiden Drakaner, die unsere Späher verfolgt haben.“ Halgrimm betrachtete erneut das erstaunliche Kunstwerk und entgegnete dem Fürstensohn: „Vielleicht waren es gleichfalls Elfen, die Eure Kundschafter beschattet haben. Das Drakanische Imperium setzt sich ebenso wie die Vierfürstentümer aus Gnomen, Elfen, Zwergen und Menschen zusammen, und die Drakaner nutzen all ihre Möglichkeiten.“ „Ja, Ihr habt leider recht“, sagte der Fürst verdrossen. „Denen wurde das Gehirn so mit Lügen verdreht, dass

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sie dem Imperium voller Hingabe dienen. Obwohl die Drakaner es anders ausdrücken würden. Bei ihnen würde es heißen: lenken des ungebildeten Volks zu seinem eigenen Besten. Abschaffung von Hunger und Gewalt durch Entmündigung des Volkes. Es ist schon seltsam – beide Reiche stammen von den ersten Siedlern ab und haben sich doch so unterschiedlich entwickelt.“ Aldan ging näher an die kunstvolle Statue heran und befühlte mit einer Hand die steinernen Pranken. „Ich habe Euch nur deshalb in die letzten Geschehnisse eingeweiht, damit Euch klar wird, wie wichtig es für uns ist, mehr herauszufinden. Nun, was könnt Ihr mir über dieses Ding sagen?“ Halgrimm schloss kurz seine Augen und versuchte eine innere Ruhe zu erlangen. Mit beiden Händen ergriff er seinen Stab. Konzentriert, die Statue im Blick, öffnete er seinen Geist der alles umgebenden Macht der Schöpfung, der Energie, die alle Dinge – tot oder lebend – seit ihrem Sein umgibt. Er füllte seinen Stab mit einem winzigen Teil dieser Energie, der wie zur Antwort in einem sanften Blau aufleuchtete. Für das, was er vorhatte, war der magische Schein völlig unwichtig, aber Halgrimm wollte ein etwas eindrucksvolleres Spektakel bieten, als sein ödes Starren auf eine Steinfigur. Für die eigentliche Aufgabe öffnete er sein geistiges Auge und sah auf die Ebene der Magie. Die Statue leuchtete sanft für ihn auf. Fürst Aldan und Rastil blieb dieses Leuchten allerdings verborgen. „Dieses Werk wurde magisch erschaffen oder hat magische Eigenschaften, mein Fürst. Oder beides …“ „Ach, tatsächlich? So jung, aber schon die gleiche Art, sich festzulegen, wie die Meister aus seiner Zunft. Wie viele Sommer habt Ihr erlebt?“

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Verdutzt blickte Halgrimm zu Fürst Aldan und ließ seinen Stab wieder sinken. „In dem jetzt kommenden Sommer werden es fünfundzwanzig, Herr. Man dachte wohl, dass ich für eine erste Begutachtung ausreichen würde. Ich habe erfolgreich die erste Prüfung der Beherr-schung abgelegt und darf damit die Zauber der ersten beiden Machtkreise nach eigenem Ermessen anwenden.“ Halgrimm fragte sich, was diese Anspielung auf sein Alter sollte. Bezweifelte der Fürst etwa seine Fähigkeiten, nur weil er noch nicht so alt wie ein Ordensmeister war? Ärger machte sich in Halgrimm breit. „Ja, Ihr erwähntet ja bereits, dass Ihr kein Meister seid“, sagte Rastil mit leicht enttäuschter Stimme. ‚Nein, nicht auch noch der Sohn des Fürsten!‘, dachte Halgrimm deprimiert. Rastil blickte etwas mitleidig zu ihm herüber: „Die ersten beiden Machtkreise … was bedeutet das?“ Hier konnte Halgrimm beweisen, dass er sich perfekt in den magischen Theorien auskannte. Diese Chance wollte er sich nicht entgehen lassen und so erklärte er mit Feuereifer: „Ah, dazu müsst Ihr wissen, dass die Zauber, je nach dem Umfang der Veränderung der Realität und der Größe des beeinflussten Volumens, in zehn Schwie-rigkeitsgrade eingeteilt wurden. Je höher der Machtkreis, desto weitreichender ist die Veränderung der Umwelt und umso mehr muss der Magier Schöpfungsenergie in sich aufnehmen. Die Ausführung des Zaubers wird mit steigender Menge der Schöpfungsmacht immer gefähr-licher. Dementsprechend mächtig sind Zauber des zehn-ten Machtgrades, die kein bekannter Magier außer einst Abusan wirken konnte, obwohl selbst diese Zauber nur das Vorhandene abändern und nicht etwas neu erschaf-fen können. Das ist allein dem allmächtigen Schöpfer möglich.“

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Fürst Aldan grinste Halgrimm listig zu. „Ah, endlich erfährt man etwas mehr von Eurem zugeknöpften Orden. Bisher taten einige Eurer höchsten Meister so, als wäre ihnen nichts unmöglich dank ihrer Macht.“ Halgrimm sah verlegen zu Boden. Über die Reaktion Halgrimms leicht amüsiert, fuhr Aldan fort: „Die Ein-teilung der Zauber war mir bekannt – mit Ausnahme der Tatsache, dass momentan keiner vom Orden des Grauen Turmes den letzten Machtkreis beherrscht.“ Halgrimm stöhnte auf und wünschte sich verzweifelt ein tiefes Loch herbei, das ihn und seine große Klappe aufnehmen könnte. In seinem Geltungsdrang hatte er glatt vergessen, dass der Orden aus dieser Tatsache ein Geheimnis machte. Fürst Aldan blickte in die Ferne und fuhr mit ernster Stimme fort: „Abusan beherrschte also den zehnten Machtkreis. Wir können alle dankbar sein, dass dieser machtvolle Hexer nicht mehr lebt. Er hätte sonst die Drakaner irgendwann zum Sieg geführt.“ „Abusan?“ Die Frage Rastils kam zögerlich, und er schaute etwas unsicher zu seinem Vater. Der schnaubte ungehalten auf. „Rastil, pass bei deinen Lehrstunden besser auf! Geschichte ist wichtig, auch wenn es dir langweilig erscheint.“ Mit einer ungehaltenen Geste zu Halgrimm hin bat er ihn: „Bitte, seid so gut und gebt ihm einen kurzen Exkurs über den Hexer.“ Halgrimm verbeugte sich. „Gern, Herr.“ Wenigstens war er heute nicht der Einzige, der sich eine Blöße gab. „Abusan galt als der mächtigste und listenreichste Magier seit der Besiedlung Tepors. Den Schriften zufolge war er schon während des großen Überganges alt und soll maßgeblich daran beteiligt gewesen sein, dass die Flucht der vier Völker von der alten Welt nach Tepor überhaupt

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gelang. Seit dem ersten Betreten dieser Welt hat Abusan um die siebenhundert Jahre lang versucht, die Macht über alles, was auf Tepor lebt, zu erlangen.“ „Wieso mussten unsere Ahnen von ihrer Heimatwelt fliehen?“ Rastil hatte etwas unwillig seine Arme ver-schränkt, war aber aufmerksam. „Wir wissen es nicht, junger Herr. Im ersten Jahrhundert der Besiedlung gab es keine Historiker. Die Flüchtlinge hatten Wichtigeres zu tun, als Vergangenes aufzu-schreiben. Das Wissen ging verloren und wurde zu einer nebulösen Sage über eine gewaltige Katastrophe unbe-nannter Art. Abusan, der einzige Zeitzeuge, der noch am Leben war, schwieg diesbezüglich.“ Der Fürstensohn machte ein ungläubiges Gesicht. „Un-fassbar, das er schon beim Übergang dabei war. Selbst Elfen und Zwerge haben höchstens eine Lebensspanne von zweihundertfünfzig Jahren. Wie kann ein Mensch über siebenhundert Jahre alt werden?“ „Das ist eines der großen Rätsel um Abusan und zeigt, welche Möglichkeiten er hatte. Nach den Gesetzen der Magie kann weder ein Zauberer noch ein Kleriker durch die Macht sein Leben verlängern. Was Abusan gelang, sollte somit eigentlich unmöglich sein.“ Mit einem nachdenklichen Ausdruck im Gesicht wischte sich Rastil seinen wilden schwarzen Haarschopf nach hinten. „Und was hatte Abusan mit den Drakanern zu tun?“ Schwer stützte sich Halgrimm auf seinen Stab und stöhnte innerlich. Das hier würde wohl noch länger dauern. Nun gut, wenn Rastil so viel fragte, dann würde er weit ausholen. Vielleicht würde das den Fürstensohn von weiteren Fragen abhalten. „Einige unserer Vorfahren drangen über das Felmongebirge auf die andere Seite des

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Kontinents vor. Vieles dieser ersten Besiedlungszeit im Osten liegt für uns im Dunkeln. Wir wissen nur, dass ein Bund aus Klerikern und Magiern in der wichtigsten Stadt auf der anderen Seite des Gebirges die Macht an sich riss, und dies war der Anfang des Drakanischen Imperiums. Eine zweigeteilte Gesellschaft entstand, in der nur diejenigen zur herrschenden Klasse aufstiegen, die über die Macht gebieten konnten. Die Herrschaftsstrukturen waren für Abusan ideal. In der Tat spiegelt die Form der drakanischen Regentschaft die krankhafte Kontrollsucht Abusans wider. In den Jahren 608 bis 610, so vermuten einige Schriftgelehrte, gelang es ihm, als Mitglied in den imperialen Rat berufen zu werden.“ „Nicht sehr klug von dem drakanischen Rat “, meinte Rastil verächtlich. Fürst Aldan, der während Halgrimms Erklärungen mit verschränkten Armen in die Ferne gestarrt hatte, sagte: „Abusan ist als ein Meister der Täuschung bekannt gewesen. Den Ratsmitgliedern war vermutlich nicht klar, wen sie da in ihren Rat eingelassen hatten.“ Mit einem Nicken zu Halgrimm forderte der Fürst ihn auf: „Doch fahrt fort. Entschuldigt meine Störung.“ Die Unterbrechung hätte, wenn es nach Halgrimm gegangen wäre, gern etwas länger dauern können. Er erzählte weiter: „Wenige Jahre später schwang sich der Hexer zum Imperator auf. Abusan baute seine Befugnisgewalt immer weiter aus, und der Rat verlor seine bestimmende Funktion. In den folgenden Jahren bereitete er alles vor, um auch die Länder westlich des Felmongebirges unter seine Herrschaft zu bringen. Er brachte jahrelangen Krieg über die Vierfürstentümer. Um endlich die Entscheidung herbeizuführen, griff er dann persönlich in die Kampfhandlungen ein. Mit den

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gesamten Elitetruppen und allen Ratsmitgliedern des Imperiums bildete er ein besonderes Heer, welches er selbst anführte. Noch nie gab es so eine Ansammlung von Zauberern und Priestern in einer Armee und solch einen mächtigen Heerführer. Man nannte sie die Legion der Magie. Keine Stadt und keine Festung, egal, wie stark sie auch war, widerstand diesem machtvollen Heer. Der Großteil der Vierfürstentümer wurde erobert und besetzt. In einem letzten verzweifelten Akt führten die vier Völker all ihre Kräfte zusammen und hatten doch wenig Hoffnung, die Legion der Magie zu bezwingen.“ Halgrimm machte eine Pause und stellte vergnügt fest, dass Rastil mit weiten Augen an seinen Lippen hing. „Wie haben wir damals gesiegt?“, fragte Rastil, als Halgrimm nicht gleich weitererzählte. „Die Vierfürstentümer haben gar nicht gesiegt“, sagte Halgrimm und verkniff sich ein Lächeln, als der Fürstensohn die Stirn krauste. „Kurz bevor die beiden Heere aufeinandertrafen, wurde Abusan von den Rats-herren verraten. Was zu jener Zeit am Zerborstenen Berg geschah, wird von unseren Schriftgelehrten nur vermutet. Offensichtlich wollte der Rat seine Macht wiedererlangen. Wahrscheinlich hatten sie sich lange auf den entschei-denden Schlag vorbereitet. Vielleicht wollten sie so lange warten, bis Abusan die Vierfürstentümer niedergerungen hatte, und sahen nun den Zeitpunkt für ihren Verrat gekommen. Auf jeden Fall hatte der Rat den Großteil der Soldaten auf seine Seite gebracht, denn es wird berichtet, dass im Lager der Drakaner ein kleiner Teil des Heeres umstellt und angegriffen wurde.“ Die Hand Rastils fuhr unterbrechend nach oben. Halg-rimm atmete tief ein. „Ich verstehe nicht, warum der Rat nicht die letzte Schlacht abgewartet hat.“

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„Das fragen sich noch andere. Vielleicht war es nur ein günstiger Augenblick, eine Lücke in Abusans Sicherung, die man spontan nutzte. Oder es wäre nach dem Brechen des letzten Widerstandes etwas geschehen, was einen Angriff auf Abusan noch schwerer gemacht hätte. Aber es war niemand von den Vierfürstentümern anwesend, um diese Ungereimtheit aufzuklären.“ „Genau das hasse ich so an dem Geschichtsunterricht“, beschwerte sich Rastil und verschränkte wieder seine Arme. „Entweder langweilig oder man weiß es nicht genau. Nun gut, was tat Abusan?“ „Abusans Reaktion war fürchterlich. Er sorgte dafür, dass keiner der Verräter entkam, und webte einen Zauber, der bis dahin nicht für möglich gehalten wurde. Der Berg, auf dem die Legion der Magie lagerte, wurde zu einem ausbrechenden Vulkan.“ „Der Zerborstene Berg …“, flüsterte Rastil verstehend. „Ja, daher sein Name. Der Berg zerbarst“, bestätigte Halgrimm und versuchte, noch mehr Dramatik in seine Stimme zu legen. „Die Explosion des Ausbruchs und die nachfolgenden heißen Aschewinde vernichteten die Le-gion der Magie. Als sich die Nachricht verbreitete, flohen alle stationierten Soldaten und das zweite drakanische Heer zurück ins Imperium.“ Fürst Aldan blickte vom Boden auf und sagte: „Sie haben sich selbst besiegt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie.“ „Wir haben also nur durch Glück unsere Freiheit behal-ten?“, rief Rastil ungläubig aus. Aldan wandte sich seinem Sohn zu. „War es wirklich Glück oder wurde es gefügt? Ich denke nicht, dass der Schöpfer all dem tatenlos zugesehen hat.“

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„Ein gläubiger Mensch würde das wohl so sehen“, meinte Halgrimm leise. Dann sprach er bestimmt weiter: „Zu-mindest wurde von den freien Völkern viel aus eigener Kraft getan. Nur wegen der heftigen Gegenwehr der Vierfürstentümer sah sich Abusan gezwungen, selbst einzugreifen und sich in Gefahr zu begeben. Im Dra-kanischen Reich muss er sich abgesichert haben, sonst hätten die Ratsherren ihn schon viel früher bekämpft.“ Etwas unsicher fügte Halgrimm hinzu: „Glaube ich zumindest …“ Fürst Aldan betrachtete Halgrimm nachdenklich. „Eins verstehe ich nicht“, meinte Rastil, und seine brau-nen Augen verengten sich kritisch. „Das Drakanische Reich hat nicht alle seine Magier und Kleriker verloren. Das ist offensichtlich, denn sie beherrschen immer noch das Imperium. Wieso sind die drakanischen Magier nicht durch Abusans Wissen viel mächtiger als unsere Machtanwender geworden?“ „Er war äußerst misstrauisch und hütete eifersüchtig seine Erkenntnisse“, antwortete Halgrimm. „Er ver-steckte seine Forschungen und sicherte sie ab. Was Abusans Zauber anbelangt, sind die Drakaner also genau-so unwissend wie wir.“ Rastil nickte. „Gut, dass Abusan vernichtet ist.“ Halgrimm schüttelte den Kopf „Einige meiner Meister sind sich bezüglich der Vernichtung Abusans nicht wirklich sicher. Abusan war gerissen und hatte durch seine Macht viele Möglichkeiten.“ „Ach, die studierten Theoretiker“, sagte Fürst Aldan sarkastisch. „Wenn dem so wäre, warum hat er dann die letzten dreihundertfünfzig Jahre nicht mehr in die Geschehnisse eingegriffen?“

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Darauf wusste Halgrimm nichts zu sagen, und statt eine Antwort zu geben, verbeugte er sich leicht vor dem Fürsten. Ernst schaute Fürst Aldan zu seinem Sohn. „Die Dra-kaner verfügen nicht über das Wissen Abusans. Doch wir wissen weder, was das Imperium alles vermag, noch, was es plant. Zwar entsenden wir Schleicher in das Imperium, aber ohne nennenswerten Erfolg. Die strenge Diktatur und der Umstand, dass die Ratsmitglieder nicht öffentlich bekannt sind, machten es bisher unmöglich, einen Schleicher in eine Schlüsselposition zu bringen.“ Halgrimm wischte sich über seine geschwungenen Augenbrauen und versuchte, recht belanglos zu klingen. „Der magische Rat ist sehr vorsichtig geworden und hält all seine Machenschaften verborgen. Aber sagt, haben die Fürstentümer des Westens nicht ebenso einen geheimen Rat, damit Beschlüsse nicht dem Feind bekannt und Entscheidungsträger nicht gemeuchelt werden?“ „Ah, noch mehr Gerüchte“, murrte Fürst Aldan und verschränkte seine Arme. „Bleiben wir bei den Fakten und der Wirklichkeit. Und die ist hier vor Euch in Form eines Steins, Halgrimm al Noschura. Könnt Ihr mir nicht noch mehr über den Zweck dieser Statue berichten? Oder soll ich schnell einen weiteren Boten zum Grauen Turm senden?“ Zornesfunkelnd starrte Halgrimm den Fürsten an – der blickte gelassen zurück. Aufmerksam verfolgte Rastil den Verlauf des Gespräches und verhielt sich still. „Vielleicht bin ich Euch doch mehr von Nutzen, mein Fürst. Ich glaube, vorhin bei der Untersuchung einen bestimmten Magiebereich erkannt zu haben. “ „Aber nicht den exakten Zauber?“

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„Das ist auch sehr unwahrscheinlich, Herr.“ „Erklärt mir das.“ „Die Umwelt abzuändern ist ein komplizierter Vorgang. Der Geist des Magiers muss mit der Energie, die er aufgenommen hat, die Zustandsformen von Hitze, Kälte sowie Masse, Raum und Zeit genauestens anordnen. Die Folgen eines Fehlers sind unvorhersehbar und meistens tödlich. Ein jeder Magier kann also nicht einfach spontan die Welt verzaubern, erst muss er die genaue Formel der Anordnungen für jede noch so kleine Veränderung wissen, die sogenannten Zaubersprüche. Diese Formeln werden mühsam in Jahren der Forschung erarbeitet oder vom Meister an den Schüler weitergegeben. Zauberer können die gewaltigen Kräfte der Schöpfung mit ihrer Gabe lenken. Aber kein lebendes Wesen hat einen so überragenden Intellekt, dass es spontan und beliebig diese Macht einfach so formen könnte. Da die beiden Lehr-stätten des Arkanen, der Graue Turm und diejenige der Drakaner, nie zusammengearbeitet haben, sind die Zau-ber, die erforscht wurden, völlig unterschiedlich. Grund-sätzlich gilt: Es gibt oft mehrere Wege, dasselbe oder ein ähnliches Ziel zu erreichen. Die Drakaner kennen dem-nach Zauber, die wir weder verstehen noch wirken können, und umgekehrt kennen wir Zauber …“ „Ja, ja, verstanden! Aber wenn ein Hexer einen fremden Zauber in seiner Ausführung beobachtet, dann könnte er diesen doch imitieren.“ „Verzeiht, Herr, nein! Das wäre ungefähr so, als würdet Ihr einen Soldaten sein Schwert schwingen sehen und dadurch erkennen, wie man Metalle schmelzen muss und mit welchen Verfahren diese Metalle dann zu schmieden sind.“

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„Die arkane Wissenschaft ist wahrlich kompliziert. Deshalb seid ihr Zauberer auch immer hinter den Zauberbüchern der Drakanern her und die Drakaner hinter euren Forschungen!“ Halgrimm neigte bejahend sein Haupt. „Also gut. Dann zeigt mal, was in Euch steckt, mein junger Gelehrter. Ich muss mehr über die Statue erfahren, egal, wie! Oder gebt Ihr so schnell auf?“ Noch ärgerlicher geworden, dachte Halgrimm bei sich: ‚Du hast es so gewollt …‘ Die Magie der Statue hatte etwas mit Umformung, Leben und Stein zu tun. Zwar konnte er den fremden Zauber nicht nachvollziehen, aber, wenn er sich nicht irrte, mit einer eigenen Formel den Effekt umkehren. Er konzen-trierte sich auf die Worte und Gesten, die dabei halfen, die Elemente umzuordnen. Die Welt um ihn herum hörte auf zu existieren. Nur noch das Gefühl der Kraftströme, die seinen Körper durchdrangen, sowie unendliche Weiten und Vielfalt waren für ihn gegenwärtig. Und eine kleine Stimme in seinem Kopf, die bemerkte, dass diese Beschwörung doch nicht mehr in den ersten beiden Machtgraden lag. Sein Geist verdrängte die lästige Stimme, drang in die Struktur der Steinfigur ein und löste hier, ordnete da, und Erkenntnis flammte auf. Er brauchte mehr Energie. Nein, falsch, nicht so viel. Im Labor fing die Luft um die Figur an zu summen. Ner-vös blickte Fürst Aldan zu dem Adepten und bemerkte, dass dieser anfing, heftig zu schwitzen. Rastil wich mehrer Schritte zurück. Ein Glühen umfing die Statue und breitete sich weiter aus. Die Gnome in der Werkstatt hatten aufgehört zu arbeiten und schnatterten mit ihren hohen Stimmen wild durcheinander. Die übergroßen

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Augen und Ohren der kindergroßen Gestalten richteten sich auf das Gleißen in der Ecke des Raumes. Ein Dröhnen schwoll an, die Wände im Bereich der Ecke begannen zu zittern. Fürst Aldan stellte sich schützend vor seinen Sohn. Ein Knall und ein Windstoß folgten. Halgrimm, Fürst Aldan und Rastil wurden zu Boden gefegt. Ein Wimmern riss Halgrimm aus seinem benommenen Zustand, und er blickte auf. Vor ihm hatte sich die Statue zu Boden gekrümmt und war nunmehr weder grau noch steinern. Er sah echte Kleider, ein grünes Lederhemd und braune Lederhosen. Entsetzt starrte Halgrimm den sich windenden Mann am Boden an, der nun erschreckend echte Prankenhände hochhielt. Geschockt und gleichermaßen fasziniert konn-te Halgrimm diese Tatzen nicht mehr aus den Augen lassen. Sie begannen sich zu verändern. Sie zerflossen zu einer breiigen Masse, aus der sich sofort etwas anderes formte. Es entstanden menschliche Hände. Dann fiel der Mann in Ohnmacht. Fürst Aldan sprang hoch und sah nach seinem Sohn. Als er sich überzeugt hatte, dass es Rastil an nichts fehlte, half er Halgrimm auf, der immer noch verdattert auf dem Boden lag. „Sagt mir, Halgrimm“, fragte der Fürst in einem betont ruhigen Tonfall, „geschieht das immer, wenn man einen Magier wütend macht?“ Er zeigte dabei auf den Boden und die Wände um den Ohnmächtigen herum. Der Steinboden und Stücke der Wand hatten sich in un-definierbares Fleisch verwandelt.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein Das Bier war tatsächlich ausgezeichnet. Fast so gut wie das Zwergenbier zu Hause in Hammerklang. Wotan lehnte sich zufrieden in dem einfachen Holzstuhl zurück und steckte sich das letzte Stück Brot in den Mund, welches noch auf seinem Zinnteller lag. Äußerst satt und zufrieden sah er sich zum ersten Mal im Gasthaus „Zum Grünen Kobold“ um. Die Wirtsstube war groß und gemütlich mit den vielen Holzschnitzereien an den Balken, die in regelmäßigen Abständen die Decke stütz-ten. Ein großer offener Kamin wärmte und erhellte mit einem prasselnden Feuer den halbdunklen Raum. Davor standen in einem weiten Halbkreis verteilt mehrere Sessel, Schemel und Stühle, auf denen es sich auch schon ein paar Gäste gemütlich gemacht hatten. Hier und da vernebelten kleine Rauchwolken aus Pfeifen die Köpfe. Durch die kleinen runden Fenster drang nur noch wenig Licht. Die Dämmerung begann, und die Schenke füllte sich zusehends. Der „Grüne Kobold“, so hatte man Wotan gesagt, war ein bekanntes Gasthaus in Flüsterstein. Hier trafen sich Glücksritter, Abenteurer, Söldner und verrückte Spinner, zusammengewürfelt aus den verschiedensten Gebieten und Rassen. Es klang für Wotan genau nach der richtigen Unterkunft. Zudem war man auch an die unterschied-lichen Bedürfnisse der Gäste angepasst. Wotan hatte ganz zu seiner Zufriedenheit an einem niedrigen Tisch und auf einem für ihn passenden Stuhl sein Mahl einnehmen können. Nachdem er eine Zeit lang die Gäste beobachtet hatte, ging Wotan zum Kamin und gesellte sich zu drei anderen

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Zwergen. Diese unterhielten sich leise bei einem Humpen Bier und schienen sich schon lange zu kennen. Sie waren in edle Gewänder aus Leinen oder Seide gekleidet, und ihre Bärte waren grau durchsetzt. Jeder von ihnen hatte einen Schild und einen Streitkolben neben seinen Stuhl gestellt. ‚Händler aus einem fremden Klan‘, schloss Wotan aus dem, was er sah. Kein Zwergenkrieger würde außerhalb der Nachtruhe seine Rüstung ausziehen. „Ist in Eurer Runde noch ein weiterer Platz, Ehrwürdige? Mein Name ist Wotan vom Tiefstahl-Klan.“ Die Zwerge schauten auf, und Wotan wurde kritisch gemustert. Die Augenpaare blieben eins nach dem ander-en auf dem Anhänger Wotans haften und weiteten sich. Die drei standen auf. „Es ist uns eine Ehre, Erdenbewahrer!“, erwiderte einer von ihnen. „Setzt Euch, setzt Euch.“ Einige Gäste bemerkten erstaunt das ehrerbietige Ver-halten der älteren Zwerge gegenüber dem Jüngeren, denn das Volk der Zwerge verehrte normalerweise die Erfahr-eneren weitaus mehr, als dies bei den anderen Völkern der Fall war. Wotan schob sein Kettenhemd zurecht und nahm den angebotenen Platz ein. „Lektar, Terter und Gontram. Vom Blaugold-Klan“, stellte Gontram sie mit dem typischen grollenden Zwer-genbass nacheinander vor. Dabei zeigte er jeweils auf die genannte Person. „Welch ein Geschick lässt uns die Ehre zuteil werden, hier einen Priester von Toorn zu treffen?“ „Eine Wallfahrt.“ Die älteren Zwerge stießen Laute der Überraschung aus. Wotan hatte die volle Aufmerksamkeit der Händler, so

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wie er es beabsichtigt hatte. „Ich bin auf der Suche nach Wissen und Hilfe. Meinem Volk in den Wolfzahnbergen ergeht es seit Jahren schlecht. Eine Welle von Troll-angriffen überrollt unser Reich. Die Kämpfe sind so zahl-reich, dass Anbau und Handwerk mehr und mehr zum Erliegen kommen. Zwar sind wir in unserer Bergstadt Hammerklang in den Tiefen des Gebirges gut geschützt, aber jeder Gang zur Oberfläche ist gefährlich geworden. Trotzdem müssen wir uns den Gefahren außerhalb unserer Stadt täglich stellen. Wir müssen uns schließlich ernähren; es wächst nur wenig im Licht einer Laterne in einem dunklen Tunnel. Auch sind wir auf Waren aus anderen Städten angewiesen. Nur noch wenige Kara-wanen wagen sich auf den Weg zu uns, obwohl wir an den Grenzen Einheiten für den Geleitschutz abstellen.“ Terter stöhnte auf. „Trolle? Das sind schlimme Nachrich-ten. Mir wird klar, warum wir schon so lange nichts mehr vom Volk der Wolfzahnberge gehört haben. Sind sie wie die Trolle aus den südlichen Bergen?“ Wotan knurrte: „Leider ja. Riesengroß, unglaublich stark, und auch diese Trolle heilen eine erhaltene Wunde in wenigen Herzschlägen statt in Tagen.“ „Konntet Ihr feststellen, woher die Horden auf einmal kommen?“, fragte Lektar mit besorgtem Tonfall. „Es scheint so, als hätten sie schon immer in den wilden, unbekannten Gebieten weiter nördlich von unserem Heimatgebirge gehaust. Bisher dachten wir, dass sie die Stärke unseres Volkes fürchteten. Es gab nur wenige Scharmützel, und stets waren wir siegreich. Vor sechs Jahren dann kamen sie zunehmend in immer größer werdenden Scharen. Glücklicherweise sind sie zu dumm, um komplexe Strategien zu verwenden. Allerdings wer-den sie durch die Masse gefährlich, und wie Ihr wisst,

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sind sie schwer zu töten. Man braucht viele Krieger, um einen zehn Fuß hohen um sich schlagenden Troll kurz und klein zu hacken, damit es wirklich zu Ende mit ihm ist.“ Wotan gab dem Wirt ein Zeichen, dass er Bier haben wollte, und fuhr fort. „Meine Mutter, eine Hohepriesterin des Behüters Toorn, empfing eine Weissagung. Der Spross ihres Hauses solle sich auf die Suche nach Mandrenadol, dem einstigen Herrscher über das Wolfs-zahngebirge, machen. Würde dieser Spross seine Wall-fahrt auf sich nehmen, so würde er Hilfe mit nach Hause bringen.“ Gontram schnaubte. „Aber es ist doch Euer Gebirge, oder hieß einer Eurer Fürsten Mandrenadol?“ „Wir dachten ebenso in unserer Arroganz.“ Wotan unterbrach sich und nahm freudestrahlend von einer Magd einen schäumenden Becher entgegen. Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierkrug und wischte sich den Schaum aus seinem Bart „Nein, niemand bei uns hat einen so seltsamen Namen. Wir forschten in den alten Geschichten und befragten unsere Weisen, jedoch konnten wir nichts über Mandrenadol in Erfahrung bringen. Schließlich war meine Mutter so verzweifelt, dass sie ein selten benutztes Gebetswunder, das Toorn …“ – „Ehre sei Toorn und allen Bewahrern!“, murmelten die anderen Zwerge dazwischen – „… uns gewährt, ausführte. Dieser Gebetszauber ermöglicht eine mentale Verständigung mit Tieren und somit einen eingeschränkten gedanklichen Austausch. Ja, seht mich nicht so an, sie fing an, sogar Tiere zu befragen! Die meisten Tiere haben zwar keine Sprache, sondern denken eher bildhaft, aber mit etwas Übung kann man trotzdem einiges erfahren.“

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Terter räusperte sich verhalten. „Wenn Ihr das sagt, Erdenbewahrer, wird es wohl so sein.“ Gontram warf Terter einen strafenden Blick zu und sagte: „Und was hat Eure verehrte Mutter herausgefunden?“ Gelassen nahm Wotan noch einen Schluck aus seinem Krug und sagte dann: „Sie suchte nach Lentors, den einzigen Tieren, die eine so lange Lebensspanne haben, dass die Erinnerungen eines alten Tieres Antworten bringen könnten.“ „Sind Lentors nicht diese langsamen, zotteligen Pflanzen-fresser, so groß und stark wie zwei Stiere zusammen?“, wollte Gontram wissen. „So ist es. Sie sind für Tiere klug und leben länger als wir Zwerge. Nach ausgiebiger Suche traf sie auf ein Lentorrudel, und dessen ältestes Tier konnte ihr endlich weiterhelfen. Es war vor langer Zeit jemandem begegnet, den es seitdem als Herrscher des Landes ansah.“ „Waaas, Junge, oh Erdenbewahrer, ein Tier soll der Herrscher sein?“, platzte es aus Lektar heraus. „Nein, kein Tier natürlich.“ Wotans Stirn verzog sich in viele Runzeln, seine Stimme wurde noch etwas dunkler. „Es begegnete einem Drachen. Einer, der den Status des silbernen Schimmers erreicht hatte. Also zum Glück ein Drache, der freundlich gesonnen ist. Meine Mutter vermutet, der Drache hatte einst mit dem Lentor Gedanken ausgetauscht, um etwas zu erfahren.“ „Nein, nicht möglich“, flüsterte Terter. „Aber das bestätigt Gerüchte, dass Drachen im Geist anderer Wesen lesen und sprechen können. ‚Das ist so töricht, wie einen Drachen zu belügen‘, so geht das Sprichwort, nicht wahr?“ Lektar gab ein fragendes Brummen von sich und rieb sich seine dicke Nase. „Manch einer bezweifelt, ob es je

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Drachen außerhalb einer Bardenerzählung gegeben hat. Und in diesen Geschichten halten sich die Drachen immer aus den Belangen der Völker heraus.“ „Das mag so sein oder auch nicht“, gab Wotan darauf zurück. „Es ändert nichts an der Prophezeiung, und ich werde zumindest versuchen, Hilfe zu finden.“ Gontram zog bedächtig an seiner nach unten gebogenen Pfeife. Seine grauen Augen sahen wissend zu Wotan. „Wo sich dieser Drache aufhielt, das habt Ihr nicht herausgefunden, Gesegneter der Erde, nicht wahr? Und seit langer Zeit sind Drachen weder gesehen noch Hinweise auf ihre Existenz gefunden worden. So seid Ihr auf der Suche nach Wissen, wahrscheinlich in der großen Bibliothek des Fürsten von Flüsterstein.“ „Ihr habt es erraten. Außerdem hoffe ich, Gelehrte vom Grauen Turm dort anzutreffen. Sie sollen am meisten Wissen in der Drachenkunde gesammelt haben. Auf meinen Reisen hierher habe ich gehört, dass der Fürst mindestens einen vom Orden der Magier ständig zu seiner Verfügung hat. Ich hoffe, ich treffe hier einen erfahrenen Weisen an, sonst muss ich die weite Reise zum Orden unternehmen, und mein Geldbeutel ist schon erschreckend leicht.“ „Seid unbesorgt, edler Erdenbewahrer.“ Gontram zwinkerte Wotan mit einem leichten Lächeln zu. „Da können wir Euch bestimmt weiterhelfen, wenn Ihr etwas Zeit einsetzen wollt. Ein Priester von Toorn kann mit seinen Fähigkeiten immer hilfreich sein.“ Wotan klopfte auf seinen Kriegshammer, der neben ihm auf dem Dielenboden stand. „Kampfpriester! Mein Vater ist ein anerkannter Schlachtenführer und wollte, dass ich auch die Kriegskunst erlerne.“

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Gontram nickte. „Umso besser! Wir sind hier geschäftlich tätig und haben viele Verbindungen. Es wird sich etwas finden lassen. Wir werden noch einige Tage in Flüsterstein verweilen. Wenn Ihr noch kein Zimmer habt, so empfehle ich eins in diesem Gasthof zu nehmen. Sauber, ordentlich, und der Preis ist angemessen. Zudem haben sie hier auch ein paar Zimmer, bei denen die Decken schön niedrig sind und Stühle und Betten eine vernünftige Höhe haben.“ Die Zwerge tranken noch viele Biere und tauschten sich rege über die Heimat, den Bergbau und Steinarbeiten aus. Schnell wurde daraus eine fröhliche Runde. Es wurde viel gelacht, alte Witze und Neuigkeiten erzählt, als wäre man schon lange miteinander bekannt. Dabei wurde geraucht und die verschiedenen Tabaksorten jedem in der Runde angeboten. Und wie schon so oft wurde auch bei diesem Treffen der alte Satz von den Zwergen aufgesagt: „Unter den Zwergen der freien Fürstentümer gibt es viel mehr Vertrauen und Hilfsbereitschaft als bei den anderen Völkern.“ Erst spät in der Nacht verabschiedeten sie sich voneinander und verabredeten sich für den kommenden Abend wieder im Schankraum.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Burg Heilborn Der junge Mann, der vor Kurzem noch ein Stein gewesen war, schlief vier Tage ohne Unterbrechung. Sein dunkel-braunes Haar klebte verschwitzt an seiner Stirn, und seine eigentlich olivbraune Haut hatte einen grauen Schimmer. Sein Schlaf war unruhig, fast schon ein Kampf. Immer wieder gab es Phasen, in denen er sich im Bett wild hin und her warf. Dunkle Träume suchten ihn heim: Ein Gefängnis, ohne Ausgang, ohne Fenster, ohne Fluchtmöglichkeit, wurde zur ewigen Qual. Es gab kein Entrinnen, kein Entkommen aus diesem perfekten Kerker. Selbst der Verstand war gefesselt, gefangen ganz und gar. Am Abend des zweiten Tages erwachte er mit einem Schrei. Er fand sich zu seinem Erstaunen in einem weichen Bett wieder, dass in einem gemütlichen und gut beheizten Zimmer stand. Ein Kamin zu seiner Linken sorgte für Licht und Wärme. Verstört blickte er sich um und war verwirrt wegen seines Aufenthaltsorts. Wie die Reste von Spinnweben, durch die man unfreiwillig geschritten war, hingen noch die letzten Fetzen seiner Träume an ihm. Eine ältere Frau neben seinem Bett ließ ihre Stickarbeit sinken und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie legte eine kühle Hand auf seine Stirn und sprach beruhigende Worte zu ihm. Die Worte nahm er gar nicht wahr, zu sehr war er noch in seiner Verwirrung gefangen. Der sanfte Klang ihrer Stimme jedoch erzielte die beabsichtigte Wirkung: Langsam kam er wieder zu Verstand und sank in die Kissen zurück. Die Frau reichte ihm etwas zu trinken. Misstrauisch roch er an dem dargebotenen Becher, und als er erkannte, dass es nur Wasser war, trank er ihn in einem Zug aus. Er unter-

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drückte seinen Fluchtdrang, ein Entkommen würde sowieso verhindert werden. Stattdessen versuchte er, seine Bewacherin einzuschätzen. Ihr langes Wollkleid wirkte wie die Uniform eines Berufstandes. War sie vielleicht eine Heilerin? Aber wieso kannte er dann ihre Berufstracht nicht? Er spannte sich an, als sie zur Tür schritt und diese öffnete. Natürlich, es standen Wachen davor. Die Heilerin wandte sich einem der Soldaten zu: „Bitte benachrichtigt den Fürsten. Der Gefangene der Drakaner ist erwacht.“ Vier Soldaten hetzten hinter Halgrimm al Noschura her und versuchten, den Anschluss an ihn nicht zu verlieren. Der Fürst hatte Halgrimm befohlen, eine erste Befragung des geheimnisvollen Mannes durchzuführen. Und, bei den Behütern, nichts anderes hatte er seit zwei Tagen gewollt. Halgrimm konnte es gar nicht abwarten und stürzte regelrecht durch die Gänge, um schnellstmöglich das Gemach zu erreichen – sehr zum Leidwesen der Wachen, die ihn beschützen sollten. Es war nicht nur wissenschaftliche Neugier, die ihn trieb. Halgrimm war im nachhinein auch erleichtert über den glimpflichen Ausgang dieser Rückverwandlung. Bei allen guten Geistern, er hätte niemals einen Zauber wirken dürfen, den er nicht ganz verstand und über den er keine vollständige Kontrolle hatte. Nun wollte er sich davon überzeugen, dass der Mann ohne eine Beeinträchtigung erwacht war. Als sie zur Kammer gelangten, befahl Halgrimm den Wachen, vor der Tür zu warten. Nur bei Kampflärm oder einem Hilferuf sollten sie in das Zimmer stürmen und

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sich ansonsten nicht blicken lassen. Mit vorgetäuschter Selbstsicherheit trat er ein. Halgrimm suchte, kaum dass er im Raum war, den Blick-kontakt mit dem Fremden und redete sogleich drauflos: „Ahhh, wie sehr freue ich mich, dass Ihr wohlauf seid. Willkommen auf Burg Heilborn in Flüsterstein.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, wandte sich Hal-grimm der anwesenden Heilerin zu: „Wie ist sein Befin-den?“ Es entging ihm dabei nicht, wie ihn der Fremde taxierte und ausgerechnet seine Kleidung besonders beachtete. „Oh, so weit ganz gut. Der Entzug ging besser vonstatten als wir vermuteten. Die Gifte der ihm verabreichten Kräuter wurden anscheinend schnell aus seinem Körper ausgeschwemmt. Es war vermutlich eine leichte Droge, die den Körper nicht so sehr angreift, dafür aber auch nicht so stark in eine Abhängigkeit führt. Ich denke, weitere Ruhe und als Nächstes etwas zu essen werden ihn wieder ganz zu Kräften kommen lassen.“ „Seid so gut und veranlasst, dass man ihm etwas bringt.“ Die Heilerin machte einen Knicks und verließ den Raum. Nachdem die Tür sich geschlossen hatte, begann der Mann Halgrimm anzureden. „Ich bin nicht mehr im Land der Drakaner! Kann es wirklich sein, dass mich das Schicksal in das Reich der vier Völker geführt hat?“ Halgrimm lächelte, nickte und setzte sich auf den Stuhl der Heilerin. „Man merkt an Eurer Redeweise, dass Ihr lange unter Drakanern gelebt habt. Der Akzent des Imperiums ist Euch anzuhören.“ „Ja, in den freien Fürstentümern werden die Wörter etwas anders ausgesprochen.“ Der Schimmer einer Erkenntnis oder einer Erinnerung blitzte in dem Antlitz

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des Mannes auf. „Seid Ihr der Magier, der mich befreit hat?“ „Ja, mein Name ist Halgrimm. Und der Eure?“ Unglücklich sah der Bettlägerige auf seine Hände. „Mein Name … Ich weiß nicht mehr, wie mich meine Eltern genannt haben. Das alles liegt weit für mich zurück, eine Vergangenheit, die schon erloschen ist. Aber die Dra-kaner nannten mich Kevan-aj.“ „So? Euer Name kommt aus der toten Sprache, die nur noch Priester und Magier erlernen. Wenn ich mich nicht täusche, bedeutet er so viel wie Viel-Tier. “ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Nennt mich einfach Kev. Ich bin Euch wegen meiner Befreiung zu großem Dank verpflichtet! Das werde ich Euch nie vergessen.“ Er umfasste mit beiden Händen die Rechte von Halgrimm. „Ach, Kev, wir hatten beide großes Glück bei dem Ausgang dieser Befreiung.“ „Wie meint Ihr das?“ „Na ja … ich habe … dass die Statue … Nun, ich meine, dass Euer Körper in die Hände von Fürst Aldan fiel. Wieso wurdet Ihr so verflucht?“ Kev zögerte, seine Augen blickten in die Ferne, und ein Funken des Misstrauens glomm auf. „Leider habt Ihr und die zwei Soldaten, die Euch bewachten, meine Rück-verwandlung schon gesehen. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als zu hoffen und zu vertrauen. Mein Name beschreibt mich ganz gut. Die Drakaner haben sich jahrelang meiner Fähigkeiten bedient, um Infor-mationen zu beschaffen. Ich bin einer Ihrer besten Schleicher, denn ich bin ein Wechselbalg – oder auch bekannt als Wandler.“

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„Das ist eine Gestalt aus den Legenden. Dass es Wandler geben soll, wird nur in Sagen beschrieben“, erwiderte Halgrimm mit hochgezogenen Augenbrauen auf dieses Geständnis. „Wandler sollen zu einem seltenen Volks-stamm gehören, deren Angehörige sich in alles verwandeln können, was ihnen beliebt.“ „Nein, nicht in alles! Es ist den Wandlern nicht möglich, tote Materie und die Pflanzenwelt zu imitieren. Die meisten Lebewesen können wir nachempfinden und uns damit in sie verwandeln. Aber das sagen die Legenden doch bestimmt auch.“ Halgrimm überging die letzte Aussage. „Dann stimmt es: Wandler können sich in jedes Lebewesen verwandeln, egal, wie klein oder groß es ist?“ Der Gesichtsausdruck von Kev wurde undeutbar. „Nun … es reicht, um mich zu verteidigen.“ Halgrimm sah skeptisch zu dem so normal aussehenden, unscheinbaren Mann im Bett. „Aber wenn Ihr wirklich verschiedene Gestalten annehmen könnt, was für Möglichkeiten würden Euch dann offenstehen! Wie kann es sein, das Ihr den Häschern des Eisernen Thrones dann nicht sofort entflohen seid oder Euch nicht in eine mächtige Bestie verwandelt habt, um Eure Wärter zu töten?“ „Was glaubt Ihr wohl, warum sie mich in Stein ver-wandelt haben, statt mich in ein Gefängnis zu sperren? Die Drakaner wussten sehr genau, dass mich weder Fesseln noch Mauern hätten halten können. Also verwandelte mich mein Aufseher, ein Kleriker der Archonen, in ein steinernes Ebenbild. Nur vor einem neuen Auftrag wurde ich kurz befreit. Vor jedem Auftrag wurde mir mit einer Droge mein Wille genommen, auf dass ich gehorsam meine Order ausführte. Bei einer

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Rückverwandlung hielten sich immer mehrere Magier und Kleriker bereit, damit ich nicht entkommen konnte. Sie haben mich immer wieder zu Stein erstarren lassen, bis ich wieder benötigt wurde.“ Kurz erkannte Halgrimm die Ängste in den Augen des Wandlers, bevor sich das Fenster zu seinem Inneren wieder schloss. Er konnte sich gut vorstellen, welch eine Qual solch eine Gefangenschaft sein musste. Aber was für eine Kreatur ihm da gegenübersaß, konnte er sich nicht im Geringsten ausmalen. Der Wandler rieb sich unentschlossen die Stirn, dann sagte er: „Kommen wir zu Eurer zweiten Frage, die ich nur beantworte, weil Ihr mich errettet habt. Sich in ein Monster zu verwandeln ist eine schöne Idee, jedoch hat ein Wechselbalg nur die normalen körperlichen Fähigkeiten des Lebewesens, in das er sich verwandelt, aber keine Fähigkeiten, die mit der Macht verbunden sind. Ich könnte mich in Euch verwandeln, aber deswegen könnte ich noch lange nicht zaubern. Nicht dass ich Euch als Monster bezeichnen möchte … Oder nehmen wir einen Troll: Ich bekäme die physische Stärke des Trolls und seinen großen Körper, aber die besondere Heilkraft der Trolle hätte ich leider nicht.“ ‚Das hätte ich an seiner Stelle auch gesagt ‘, dachte Halgrimm, ‚nur nicht die neuen Gastgeber verschrecken und die eigenen Fähigkeiten offenbaren, solange man diese nicht einschätzen kann.‘ „Diese Art der Gefangenschaft muss schrecklich gewesen sein. Ihr habt mein tiefes Mitgefühl“, nahm Halgrimm das Gespräch wieder auf. „Euer Wert als Schleicher für den Eisernen Thron liegt auf der Hand.“ „Ja, wohl wahr, aber ebenso mein Hass auf die Drakaner und meine Dankbarkeit meinen Befreiern gegenüber. Ich weiß nicht einmal, wie viele Jahre meine Gefangenschaft

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schon andauert. Als Stein hat man kein Zeitempfinden. Mein Gedächtnis an mein früheres Leben ist von den Drakanern zerstört worden, um mich gefügiger zu machen. Ich habe das Gefühl, gar nicht gelebt zu haben.“ Nach kurzem betroffenen Schweigen stand Halgrimm auf. „Den Sagen zufolge, in denen die Wandler vorkommen, liegt ihre Heimat vielleicht nicht auf dieser Welt. Vielleicht enthalten sie auch in diesem Fall ein Stück Wahrheit. Ich persönlich habe mich schon immer gefragt, ob Solandra der einzige Kontinent von Tepor ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass es weitere Erdteile gibt, auf denen andere Kulturen existieren. Mehr kann ich Euch zu Eurem Volk leider nicht sagen. Ich werde Euch jetzt weiter ruhen lassen und dem Fürsten Bericht erstatten. Seid unbesorgt, Kev, verweilt hier und denkt nicht sogleich an eine Flucht. Ihr seid nicht mehr bei den Drakanern, und die Freiheit eines Wesens wird hier geachtet. Ihr könnt gehen, wann immer Ihr wollt. Doch bevor Ihr uns verlasst, wäre der Fürst für jede Information dankbar, die Ihr über die Drakaner geben könnt. So, genug für heute. Habt Ihr noch irgendeinen Wunsch?“ Leise murmelte Kev: „Außer mein Volk kennenzu-lernen?“ Dann sah er mit einem Freudestrahlen zu Halgrimm auf. „Ja, ich würde sehr gern unter Leute kommen und belanglosen, friedlichen Gesprächen lau-schen, die sich nur auf das alltägliche Leben beziehen. Und Wein würde ich gern trinken. Gibt es hier ein Wirtshaus?“ „Wie würde Euch gleich ein ganzes Fest gefallen? In Flüsterstein wird gerade das Fest des Erwachens gefeiert. Für die friedlichen Leute kann ich bei all dem Bier, das

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dort fließt, allerdings nicht garantieren. Ihr habt bis dahin noch etwas Zeit, Euch zu erholen.“ Halgrimm lächelte Kev zum Abschied zu und verließ den Raum. Es würde mehrere Stunden dauern, bis Fürst Aldan Zeit hätte, seinen Bericht entgegenzunehmen. Halgrimm wan-derte in der Feste umher, vertrat sich die Beine und dachte nach. Da er nichts Besseres zu tun hatte, machte er sich Gedanken über die politische Situation und den Grund seiner Entsendung nach Flüsterstein. In den letzten beiden Tagen hatte er deutlich gespürt, dass etwas im Gange war. Man weihte ihn nicht ein; er schloss dies nur aus den Beobachtungen, die er gemacht hatte. Ritter und Ratsherren kamen angespannt aus den ungewöhnlich häufigen Besprechungen zurück, und auf dem Gemüt des Fürsten lag ein dunkler Schatten. Der Herrscher von Flüsterstein hatte irgendwelche Befürchtungen, die er nicht laut aussprach, und er wollte so schnell wie möglich Nachricht über diesen ungewöhnlichen Gefangenen der Drakaner. So wartete Halgrimm ungeduldig, bis Fürst Aldan aus einer seiner vielen Sitzungen kam. Es war spät, als Fürst Aldan endlich in dem abgeschie-denen Kartenraum eintraf, in den er Halgrimm bestellt hatte. Er forderte den Adepten sogleich auf zu erzählen. Der Bericht stürzte ihn in weitere Sorgen, und er hatte heute wahrlich schon genug erfahren, was ihm Verdruss bereitete. Zuletzt erzählte der junge Magier ihm noch von dem innigen Wunsch des Wandlers, das Frühlingsfest in Flüsterstein zu besuchen. Auch das noch …

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Aldan fing an, im Zimmer auf und ab zu schreiten, und verfiel in tiefes Schweigen. Dabei interessierte es ihn nicht im Geringsten, dass der junge Magier nervös an seiner Kleidung herumzupfte und nicht wusste, was er tun sollte. Er musste nachdenken. ‚Eine Sagengestalt, ein Wechselbalg, der jahrelang den Drakanern gedient hat, ausgerechnet jetzt in meiner Stadt. Er ist eine Gefahr und gleichzeitig eine Gelegenheit für uns, wenn er denn wirklich die Drakaner hasst. Am liebsten würde ich ihn hier erst einmal festhalten, solange ich noch nicht weiß, was in Flüsterstein gerade passiert. Aber wie kann man einen Wandler gefangen halten, ohne ihm die gleiche Gewalt anzutun wie der Eiserne Thron? Zudem möchte ich sein Vertrauen gewinnen. Jemand muss ihn ständig bewachen. Doch es gibt nur eine Art Wächter, die ein Wesen mit solchen Fähigkeiten bei einem Fluchtversuch festhalten kann. Jemand, der die Macht benutzt, ein Magier oder ein Geweihter der Hüter. Aber wer mit solchen Fähigkeiten steht mir momentan zur Verfügung und ist abkömmlich?‘ Fürst Aldan fasste Halgrimm fest ins Auge.

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Welt Tepor, Drakanisches Imperium – nordwestliche Provinzen – Tannstadt Der langsam sich verdunkelnde Abendhimmel wurde mit Orange und Schwarz vermischt. Ein Großteil des glü-henden Widerscheins kam nicht von der untergehenden Sonne. Er stammte von einer Stadt, einer lichterloh brennenden Stadt. Schwarze Rauchfahnen stiegen hoch zu den vereinzelten Wolken am Firmament, ein weithin sichtbares Mahnmal. Die Stadt war klein, mit einfachen Fachwerkhäusern, die selten mehr als ein Stockwerk besaßen. Ein ringförmiger Verteidigungswall umschloss die Ansiedlung, aber er war nicht mehr intakt. Zwei frisch geschlagene Breschen unterbrachen die einfache Schutzanlage. Hinter der Stadtmauer schien fast jedes Gebäude zu brennen. Todesschreie erfüllten die Luft. An verschiedenen Stellen berührten drei einfache Kriegstürme den Wall, nun verlassen und unbesetzt. Den Hauptweg runter, vom Stadttor einige Hundert Pferdelängen entfernt, waren die Wiesen auf beiden Seiten des Weges von vielen Zelten besetzt. Am Rand dieses Lagers saß auf einem aus Holz provisorisch errichteten Hochsitz ein wohlgestalteter Elf. Seine Kleider waren ausgezeichnet gefertigt, priesterliche Gewänder in dunkelgrünen Samt mit schwarzen Borten und Stickereien. Mit Interesse beobachtete er versprengte Stadtbewohner, die verzweifelt aus der Stadt flohen. Sein schulterlanges, silbrig schimmerndes Haar wehte, von einer sanften Brise getragen, nach vorn und erschwerte geringfügig seine Sicht. Aus seinen schönen grünen Elfenaugen strahlten Selbstsicherheit und Härte. Auf dem Brustteil seines Gewandes sowie auf seinem Gürtel waren eiserne Zeichen eingearbeitet. Sie erschienen unnatürlich,

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in sich verdreht und seltsam verschoben, sodass keiner der Umstehenden sie ansehen mochte. Die Soldaten in seiner unmittelbaren Nähe waren angespannt und schienen zu frösteln. Laukim, Hohepriester des Eisernen Throns und Heerführer der angreifenden Armee, ge-fürchtet und gehasst von den einen, von den anderen gefürchtet und verehrt. Vier Soldaten führten in ihrer Mitte einen abgehärmten alten Mann in zerrissenen Kleidern zu dem Hochsitz. Das Wams des Gefangenen war angesenkt und voller Ruß-flecken, ebenso die Hose und das graue Haar. Die Hände hatte man ihm auf den Rücken gefesselt, und die Beine waren von einem Strick behindert, der seine Fußknöchel umwand. Ein Soldat trat vor und schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Hoher Urkorr-gaan, hier ist einer der Stadtväter von Tannstadt.“ Der Gefesselte bekam einen Schubs und fiel vor dem Hochsitz zu Boden. Laukim schaute herab. „Einer der Narren, der den Un-tergang dieses Ortes bewirkt hat. Was habt ihr euch dabei nur gedacht? Wie heißt du?“ Mühsam kam der alte Mann auf die Knie. Trotzig schaute er auf, fixierte Laukim aus erschöpften Augen. „Wieso tut Ihr uns das an, hoher Urkorr-gaan? Wieso missbraucht Ihr Eure Macht, um eine wehrlose Stadt so zu züchtigen? Ihr habt kein Recht dazu.“ „Alter Narr, ich habe es sehr wohl. Du weißt genau, dass deine Stadt mit ihrem Ungehorsam das drakanische Recht gebrochen hat.“ „Ja, ein Gesetz das ungerecht ist und mit der Macht des Eisernen Throns erzwungen wird. Ich meinte aber das

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moralische Recht, das durch das Gewissen entsteht. Haben die Urkorrs kein Gewissen?“ Laukim begann amüsiert zu schmunzeln. „Welch in-teressante Wendung des Tages. Ein unverhofftes philoso-phisches Gespräch über moralisches Recht und Unrecht. Ich frage dich: Wenn jeder sein gerade empfundenes moralisches Recht über das Wohl der Gemeinschaft stellt, wie sollte dann jemals ein Reich bestehen bleiben?“ Laukim straffte sich, zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Stadtvater und fuhr mit harter Stimme fort. „Ich werde deine Frage nicht unbeantwortet lassen, törichter Statthalter. Der Eiserne Thron setzt seine Macht ein, weil es seine Pflicht ist. Nur wenige haben die Gabe der Magie und Weisheit bekommen. Diese wenigen, wir Urkorrs, sind auserwählt, das gemeine Volk zu lenken und zu führen. Wie glaubst du, sind Verbrechen und Hunger im Imperium ausgerottet worden? Eure lächerliche Forder-ung nach Freiheit verführt andere zum Ungehorsam, und schon bald würden wieder Chaos und dann die alten Leiden über das Reich hereinbrechen. Wir würden unserer Bestimmung zuwiderhandeln, würden wir solch unseligem Treiben keinen Einhalt gebieten.“ Der Statthalter verlor, als er diese Rede vernahm, den letzten Rest seiner Fassung. „Glaubt Ihr wirklich, was Ihr da sagt?“ Er rang nach Worten. „Ich sehe nur, dass einige durch Schicksal oder Fügung mehr Macht als viele andere bekommen haben und dies ausnutzen.“ „Die übliche Ausrede der Unzufriedenen, die nicht an das Allgemeinwohl aller denken.“ „Welches Allgemeinwohl? Wer ist glücklich? Hunger und Verbrechen sind mit Sklaventum und schnellen Todes-strafen bekämpft worden. Der Grund von Angst und Sorgen hat nur ein neues Aussehen.“ Mit hoffnungsloser,

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leiser Stimme fügte der alte Mann hinzu: „Wie auch die Verbrecher ein neues haben …“ „Wer dem Imperium treu dient und die Gesetze befolgt, braucht sich nicht zu fürchten und hat ein geruhsames Leben. Doch genug davon.“ Laukim hatte seine Auf-merksamkeit in die Ferne gerichtet. „Führt ihn ab.“ Ein Wachsoldat verbeugte sich. „Wir hören und gehor-chen. Was soll mit ihm geschehen?“ „Steckt ihn zu den anderen Stadtvätern.“ Laukim beobachtete, wie der Stadtrat weggeführt wurde, und überdachte die Komplikationen mit diesem Mann. ‚Bei der Gerichtsverhandlung gegen die Stadtväter von Tannstadt müssen wir die Anklageschrift gut und deutlich formulieren. Nicht dass jemand vom Pöbel noch auf die Ketzergedanken dieses alten Mannes hört. Davor muss man das Volk unbedingt beschützen. Ich werde nicht zulassen, dass so ein Dummkopf unsere Gesellschaft gefährdet. Ich fürchte, das üble Gedankengut der Vierfürstentümer breitet sich aus.‘ Erneut richtete Laukim seinen Blick auf das Schlachtfeld und befahl mit leiser, klarer Stimme: „Hauptmann 23, schick dort links von der Stadt einen Zehnertrupp deiner Kämpfer gegen den Widerstand, der sich dort gebildet hat. Sie decken die Flucht einiger dieser beschränkten Städter.“ Eine dunkle, raue Stimme neben dem Hochsitz antwortete, ohne zu zögern: „Sofort, Herr. Zehn gegen mehr als dreißig?“ Sie kam von einem hünenhaften Wesen, das mit seiner Körperhöhe von acht Fuß, dem kantigen, schwer-knochigen Schädel und dem muskelbebackten Körper wie ein Troll wirkte. Dafür sprachen auch der gräuliche Schimmer seiner Haut sowie sein gänzlich haarloser Körper. Aber es war kein Troll. Trolle waren ein Stück

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größer, besaßen stärker ausgeprägte Eckzähne, eine schuppige Haut und waren plump in ihren Bewegungen. Vor allem hatte niemand je einen Troll so gut sprechen gehört. Ein süffisantes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Heerführers. Sein Blick blieb auf den Geschehnissen in der Ferne haften, als er dem Hauptmann antwortete. „Ja, ich will die Kampfkraft deiner Truppen gegen eine eindeutige Übermacht einschätzen. Das wird, so hoffe ich, interessanter als das Vorangegangene heute. Ich will mit eigenen Augen sehen, wie leistungsfähig ihr seid. Wenn man den Berichten Glauben schenkt, habt ihr angeblich alle bisherigen Kampfgänge siegreich bestan-den.“ „Wie Ihr wünscht, Herr!“, kam die knappe, knurrige Antwort. Ein mächtiger Arm gab einen kurzen Wink, und schon eilte ein bei den Zelten wartender Trupp im Laufschritt zum Hochsitz. Es waren fünfzig Hünen, alle von der gleichen Art wie ihr Hauptmann. Ihre Körper waren von mächtigen Vollrüstungen und halb offenen Helmen geschützt. Auf jedem der Brustpanzer prangte deutlich sichtbar in der Mitte eine Zahl. Sie waren mit gewaltigen Schlachtäxten bewaffnet, ausgelegt für die Größe dieser Wesen, und mit langen Breitschwertern, die auf ihre Rücken geschnallt waren. Unter dem Plattenpanzer, der schon dicker als gewöhnlich war, trugen sie zusätzlich noch ein Kettenhemd, welches an einigen Stellen unter den Rüstungsteilen und am Kragen hervorblinkte. Als die Mannschaft sich vor dem Hochsitz in Reih und Glied aufstellte, rief ihr Hauptmann zehn Nummern auf, und bei jedem Ruf trat einer aus der Kampftruppe hervor.

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Hauptmann 23 wies mit einem Arm auf die fliehenden Milizen und sprach die Auserwählten an: „Ihr werdet die Stadtwachen eliminieren. Macht den Namenlosen Ehre.“ Der Befehl wurde still und ohne weitere militärischen Gesten direkt ausgeführt. Im leichten Laufschritt zog die Kampftruppe der schwer gepanzerten Hünen dem letzten Widerstand entgegen. Nummer 23 blickte ihnen nach und analysierte für sich die Situation. Diese letzten Kämpfer der Stadt machten ihre Sache nach der Meinung des riesigen Hauptmanns in Anbetracht ihrer mangelnden Erfahrung gut. In einem stetigen Rückzugsgefecht über Weidefelder deckten sie die Flucht vieler Stadtbewohner und kamen selbst immer näher an den Ausläufer eines Waldgebietes, welches die beste Chance auf ihre eigene Flucht bot – wie gering diese auch immer sein mochte. Ihre großen Schilde führten sie immer wieder geschickt zu einem geschlossenen Schildwall zusammen. Sie waren eindeutig eingespielt und für Stadtwachen gut ausgebildet. Die Letzten der Stadtmiliz kämpften mit dem Mut der Verzweiflung und mit einer gewissen Verbissenheit. Es war ihnen anscheinend klar, dass es keine Gefangenen geben würde. Die meisten Soldaten des Hoch-Urkorr-gaans waren noch in der Stadt, um zu plündern und zu zerstören, und es gab keine Kavallerie, die durch ihre Schnelligkeit den Fluchtweg zum Wald hätte abschneiden können. Dadurch bekamen die Stadtmilizen die Gelegenheit zu einem geordneten Rückzug, ohne gleich von einer Übermacht überrannt zu werden. Nun, das würde sich bald ändern. Hauptmann 23 hoffte, dass seine Namenlosen ihre Sache gut machten, denn sonst würden sie nicht überleben.

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Der Scharführer der Stadtmilizen horchte alarmiert auf. Der tiefe, dumpfe Klang von Kriegshörnern hallte über die Wiesen. Warmut verschaffte sich einen Überblick und sah wie sich die kleine Anzahl von verfolgenden Soldaten von seiner Miliz zurückzogen. Alle – bis auf zehn Hünen mit gewaltigen Plattenpanzern und Kriegsäxten. Die Schnelligkeit, mit der sie die Strecke zu ihrem Ziel trotz ihrer Last zurücklegten, zeugte von Kraft und Ausdauer. Warmut wollte die kurze Kampfpause ausnutzen und ließ seine Männer im leichten Trapp weiter auf den Wald zu fliehen. Doch sie waren von den vorangegangen Kämpfen erschöpft. Ihm als erfahrenen Kommandanten wurde schnell klar: Diese riesigen Krieger würden sie einholen. Die Männer schwitzen und keuchten, und viele hatten kleinere Blessuren und Wunden davongetragen. Der Scharführer ließ seine achtunddreißig Kämpfer anhalten, damit sie sich wenigstens ein paar Augenblicke erholen konnten, bevor der neue Gegner sie erreichte. Auch wollte Warmut gegen diese Ungeheuer von Soldaten auf jeden Fall in geschlossener Formation antreten. „Schildwall zum Gegner, Speerträger dahinter, zum gemeinsamen Zustoßen bereit machen. Nehmt euch, wenn möglich, zu fünft einen vor. Kämpft tapfer, die sind nur groß, aber dafür langsam, und es sind nur eine Handvoll Männer!“ Misstrauisch sah Warmut zu dem heranstürmenden zahlenmäßig kleinen Trupp Krieger mit ihrer beein-druckenden Körpermasse. Warum hatten sich alle anderen Kampfgruppen zurückgezogen, statt sich alle-samt an dem Angriff zu beteiligen? So standen ihre

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Chancen durch ihre Übermacht ziemlich gut, diesen Angriff zu überleben und doch noch zu entkommen. Über diesen Glücksfall würde er sich bestimmt nicht beschweren. Diese Arroganz, mit zehn Kriegern mehr als dreimal so viele Stadtwachen aufhalten zu wollen, passte zu den Heerführern des Imperiums. Er selbst war einst einer der zwangsrekrutierten Soldaten in einem Heer der Drakaner gewesen, einer der überlebenden Veteranen, die eine Menge gesehen und erlebt hatten. Viele Feldzüge waren gegen Trollhorden geführt worden, die wie eine Plage immer wieder aus den Bergen des Felmonmassivs herunterstiegen und drakanische Ortschaften überfielen. Er war auch bei der Vernichtung zweier drakanischer Städte dabei gewesen, die gemeinsam eine Armee auf-gestellt und einen Aufstand gewagt hatten. Diesmal stand er einer drakanischen Armee gegenüber und war selbst der Rebell. Sie alle konnten nur beten, dass sie in den Wäldern entkamen. Wenigstens waren ein paar erfahrene Soldaten aus seiner damaligen Schar unter den Stadtwachen, die mit ihm nach Tannstadt gekommen waren. Er hätte es besser wissen müssen, als zu hoffen, der Eiserne Thron würde auf eine unbedeutende Stadt am entlegenen Rand des Imperiums nicht weiter achten – eine Stadt, die den Frevel beging, nach ein wenig mehr Freiheit zu streben. Dabei wollten die Bewohner dieser ärmlichen Stadt nur nicht im vollen Umfang die hohen Abgaben an hergestellten Lebensmitteln an das Reich abführen. Irrtümlich nahmen die Stadtväter an, dass man zu abgelegen liege und zu unwichtig sei, um wegen dieser Übertretung der Gebote drastische Maßnahmen befürch-ten zu müssen. Auch der Stadtrat hätte es besser wissen müssen.

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Warmut riss sich aus seinen Gedanken. Nur noch wenige Schritte trennten seine Männer von der seltsamen imperialen Einheit. Die letzten Meter stürmten die mas-sigen Krieger im schnellen Lauf in einer Reihe auf den Schildwall zu. Dabei schwärmten sie leicht aus, statt geschlossen Schulter an Schulter vorzupreschen. Wie ein Mann schwangen alle gleichzeitig mit beiden Händen ihre gewaltigen Äxte von links nach rechts. Mit Todes-verachtung stürmten sie mit voller Wucht gegen den Schildwall an, als wären die Speere nicht vorhanden, die sich ihnen entgegenstreckten. Der Zusammenprall war fürchterlich. Die Wucht der Axtschläge war so gewaltig, dass sie das Holz der meisten Schilde einfach durch-schlugen. Tief fraßen sich die scharfen Schneiden durch Arme und Oberkörper, trotz der Kettenhemden der Stadtwachen. Die schwer Verwundeten wurden durch die Gewalt der Schläge mitgerissen und gegen ihre be-nachbarten Kameraden geschleudert. Viele aus der ersten Reihe kämpften um ihr Gleichgewicht. Die Speerträger in der zweiten Reihe stachen ihrerseits so fest, wie sie konnten, über den Schildwall hinweg zu. Kaum eine Stahlspitze richtete Schaden an, die Panzer der Riesenkrieger waren zu massiv. Nur einem gelang es, einem Hünen seinen Speer in die Achsel zu bohren und das Kettenhemd zu durchdringen. Ungläubig erlebte Warmut, wie schon der erste Angriff den Schildwall seiner Männer zerriss. Und das ohne schlimme Kon-sequenzen für die Angreifer! Viele seiner Schildträger kamen erst gar nicht an den Gegner heran. Sie stolperten umher oder konnten mit ihren kürzeren Schwertern ihre Widersacher nicht erreichen, so lang waren die Schäfte der Äxte. Die wenigen, die einen Schlag landen konnten, scheiterten an massivem Eisen.

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Keiner der vorandrängenden Krieger hielt sich damit auf, seine Axt aus dem gerade gefällten Verteidiger zu be-freien. Alle zogen fast zeitgleich die Breitschwerter, ohne in ihrem Ansturm innezuhalten. Hingefallene Männer wurden einfach überrannt. Die so niedergetrampelten Schildträger schrien vor Schmerzen auf; das Gewicht der großen Krieger mit ihren Vollrüstungen war enorm. Durch den schnellen Vorstoß kamen die Stadtwachen gar nicht dazu, ihren Feind zu umschließen und so ihre Überzahl auszunutzen. Die Gewalt des Ansturms und die Schreie ihrer sterbenden Kameraden ließ viele vor Schreck erstarren. Wütend und erschrocken brüllte Warmut seine Männer an und rüttelte sie damit auf. Mit neuem Mut stachen und schlugen sie zu und scheiterten ein um das andere Mal an der Panzerung der gewaltigen Krieger. Dagegen forderte fast jeder Schlag der Hünen Blutzoll unter den Verteidigern. Schilde wurden durch die überlegene Kraft der Angreifer mit einer Hand einfach zur Seite weggerissen. Die entstandenen Lücken hatten oft tödliche Folgen. Warmut behielt den Überblick und schrie einen Befehl. Gehorsam führten seine Männer das Manöver aus. Die gewaltigen Krieger an den beiden äußeren Enden der Kampflinie wurden von mehreren Männern umstellt und gerieten in Bedrängnis. Schläge prasselten von allen Seiten auf die Hünen nieder. Die schiere Vielzahl der Attacken ermöglichte es einigen aus der Miliz, gezielt auf Schwachpunkte der Rüstungen zu schlagen und die Hünen zu verwunden. Trotz der Verletzungen griffen die drakanischen Elitesoldaten weiter voller Wildheit an, als verspürten sie keine Schmerzen. Noch bevor die beiden Krieger an den Flanken zu Fall gebracht werden konnten, fügten sie der Stadtmiliz weitere Verluste zu.

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Währenddessen wurde die Mitte der Stadtwachen weiter zurückgedrängt. Schon waren siebzehn der Schar durch den Ansturm gefallen oder kampfunfähig. Einer der Verteidiger warf sich plötzlich einem Drakaner-krieger vor die Beine und brachte ihn zu Fall. Augen-blicklich nutzten zwei Stadtwachen diese Gelegenheit und stachen in den kurzzeitig entblößten Hals des orientie-rungslosen Hünen. Ein Freudenschrei ging durch die Reihen der langsam verzweifelnden Stadtmilizen. Der mutige Soldat, der den Sturz ausgelöst hatte, versuchte aufzuspringen. Noch in gebückter Haltung durchbohrte ihn ein Schwert von hinten. Vier der Hünen drangen zu den Speerträgern durch. Ohne den Schildwall als Deckung und mit ihren toten Kameraden vor sich waren die Speerträger kurz davor, in Panik zu verfallen. Sie wichen rückwärts gehend zurück und stachen wild und ungeordnet mit ihren Speeren zu. Die Spitzen prallten am Metallschutz ab oder wurden von gepanzerten Händen abgelenkt. Dann waren die Dra-kaner auf Schlagreichweite herangestürmt. Kurz darauf lagen fünf weitere Stadtwachen danieder. Von den ent-setzlichen Kriegern waren bisher erst drei gefallen. Zwar waren etliche der Hünen mittlerweile verletzt, aber dies schien sie nicht daran zu hindern, unvermindert weiter-zukämpfen. Die überlebenden Stadtwachen von den Flanken griffen die weit in die Mitte hineingedrängten Elitekrieger nun von hinten an. Sie überraschten zwei Hünen und stachen ihnen bei der rückwärtigen Aussparung der Beinpanzer-ung in die Kniegelenke. Beide stürzten zu Boden und konnten sich wegen der zerschnittenen Sehnen nicht mehr erheben. Die letzten fünf Hünen schlossen sich daraufhin fließend zu einem Kreis zusammen, Rücken an

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Rücken, und rissen bei ihrem geschickten Manöver weitere vier Stadtwachen in den Tod. Warmut traute seinen Augen kaum. Solch ein Zusam-menspiel von Kraft, Können und gemeinsamem Agieren hatte er in seinem langen Soldatenleben noch nicht gesehen. „Kämpft! Kämpft, verdammt! Vor diesen Kriegern könnt ihr nicht weglaufen. Kämpft um eurer Leben!“ Diese Worte verhinderten eine kopflose Flucht. Mit dem Mut der Verzweiflung rückten die restlichen Stadtmilizen gegen ihre Feinde vor. Die starken Rüstungen und die hohe Kampfkunst der Drakanersoldaten ließen alle Angriffe scheitern. Blitzschnell kamen ihre Konter-schläge, und weitere drei Städter fielen. Die verbliebenen Speerträger griffen nun vorwiegend den Kopf an, versuchten, durch die weiten Augenschlitze einen schwe-ren Treffer zu landen. Einem gelang es tatsächlich, durch eine Parade zu brechen, und der getroffene Drakaner brach mit einem Schrei zusammen. Doch gleichzeitig stürmten die anderen vier gebückt vor, unterliefen die Speerattacken und töteten jeweils einen ihrer Gegen-spieler. Der Anführer und seine letzen vier Soldaten flohen weder, noch streckten sie die Waffen. Keiner von ihnen erwartete Gnade von einer Drakanerarmee. „Karl, Jurrk, auf das rechte Bein, ich und Ulger auf das linke!“, schrie der Scharführer. „Leffe, an dir hängt der Rest.“ Mit der Tapferkeit der Todesgewissheit warf sich Warmut mit drei seinen Männern auf die Beine des vordersten Kriegers. Überrascht krachte dieser auf den Rücken und war leicht benommen. Fast augenblicklich reagierten die anderen Hünen und schlugen zu. Milizionär Leffe nutzte

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den kurzen Augenblick und sprang, als die Drakaner-schwerter auf seine Kameraden niedersausten. Er warf sich auf die Brust des liegenden Kriegers, ließ dabei sein Schwert fallen und zog seinen Dolch. Tief trieb er die schmale Klinge durch den Sehschlitz des Helmes in das Auge des Kriegers. Dann trafen ihn drei Schwerter auf einmal. Von seinem Hochsitz aus beobachtete Hoch-Urkorr-gaan Laukim, wie seine Namenlosen siegten. Nach dem der letzte Gegner niedergeschlagen war, wandten sich die drei letzten Namenlosen augenblicklich ihren Kameraden zu und sahen nach ihren Verletzungen. Laukim war nicht überrascht, als sie ihre Mitstreiter liegen ließen und zum Haupttross des Heeres zurückkehrten. Als sie den Hochsitz Laukims erreichten, knieten sie nieder, und einer erstattete mit knurriger Stimme Bericht. „Melde den Stoßtrupp mit Anzahl acht zurück. 104 und 245 haben tödliche Verletzungen erhalten, alle anderen sind nur schwer verwundet und werden wieder rege-nerieren. Bis auf einen werden sie wie gewohnt morgen Abend wieder einsetzbar sein. 132 hat ein Auge verloren und wird erst in einer Woche seine volle Kampf-bereitschaft zurückerlangen.“ Laukims Gesicht blieb ausdruckslos, ohne die geringste Gefühlsregung, als er antwortete. „Sehr gut, 56, ihr dürft euch zurückziehen. Euer Gefecht war aufschlussreich. Ich bin sehr zufrieden mit dem Ergebnis eurer Leistung. Wirklich, sehr zufrieden.“

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein In der ganzen Stadt war eine freudige Betriebsamkeit ausgebrochen. Das Fest des Erwachens wurde in Flüster-stein gefeiert, ein Fest, um dem Wachsen aller Dinge und dem Leben zu huldigen. So waren dieser Tage die Wirtshäuser noch besser besucht als sonst. Aus den umliegenden Ländereien waren die Bauern mit ihren Familien und dem Gesinde zur Stadt geströmt, und ganze Schwärme von Händlern, Akrobaten und Spielleuten hofften auf gute Geschäfte. Die Stadt wimmelte nur so von Besuchern. Seit dem Mittag war Halgrimm mit Kev in der Stadt unterwegs. Gemeinsam hatten sie das bunte Treiben auf den Straßen genossen, und der „Grüne Kobold“ war mittlerweile der vierte Gasthof, in den sie einkehrten. Halgrimm hoffte Kev würde dieses besondere Gasthaus gefallen, denn nirgendwo sonst traf man auf so viele interessante Gestalten. Es war ein Treffpunkt von weit gereisten Glücksrittern, dubiosen Händlern und hart-gesottenen Söldnern der verschiedensten Rassen. Kul-turen prallten aufeinander, und die Geschichten und Geschehnisse der zivilisierten Welt trafen hier zusammen und wurden weitergegeben. Es freute Halgrimm, wie der Wandler mit großen Augen die Eindrücke förmlich in sich aufsaugte. Kev hatte anscheinend eine Menge aufzuholen. Er stürzte sich in das Leben der Straßen und war voll des Staunens über die vielen unbeschwerten Leute, die in Flüsterstein miteinander das Fest begingen. Halgrimm hatte den Führer gespielt und war zu seinem Unwillen auch gleichzeitig eine Art Aufpasser für Kev. Fürst Aldan hielt einen Magier am besten geeignet, um

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mit einem Wechselbalg fertig zu werden, sollte dieser etwas anstellen. Wieso der Fürst nach der letzten Offen-barung seiner Zauberfähigkeiten noch solch ein Ver-trauen in ihn hatte, konnte sich Halgrimm nicht recht erklären. Nicht dass er es in seinem jetzigen alkoho-lisierten Zustand wagen würde, auch nur den geringsten Zauber zu wirken … Halgrimm sah sich leicht schwankend um und suchte nach einem Platz zum Sitzen. Die rauchgeschwängerte Wirtsstube war an diesem Tag bis zum Bersten gefüllt. Alles in der Schenke erschien ihm übervoll: der Lärm aus zahlreichen Gesprächen, die vielen Gerüche, aber auch die gute Laune, die sich in lautem Gelächter und fröhlichen Gesichtern widerspiegelte. An einem überfüllten Tisch, an dem mehrere kleine, mit hohen Stimmen krakeelende Gnome mit ein paar menschlichen Karawanenwächtern um die Wette tranken, fand Kev zwei freie Hocker. Er winkte Halgrimm zu und deutete auf die Plätze. Erleichtert ließ sich Halgrimm auf einen der Schemel plumpsen. Ihm war etwas duselig, und ihm schwirrte der Kopf. Vielleicht hing es mit den zwei vorangegangenen Gläsern Wein zusammen, auf jeden Fall brauchte er seine ganze Konzentration, um auf diesem verdammten Hocker ohne Rückenlehne sitzen zu blei-ben. Das Ding hatte eindeutig ein hinterhältiges Eigen-leben entwickelt und begann hin und her zu schwanken. „Bei Euch scheinen die Gehöfte ja großartig zu laufen. Habt ’ne Menge Schafe und Ziegen auf diesem Frühlingsfest verkauft“, drang es an Halgrimms Ohr. Ein breiter, schon in die Jahre gekommener Bauer an einem Nebentisch hatte dies zu einem Gnom gesagt, der keck seinen Strohhut in die Stirn gezogen hatte. Seine großen eckigen Ohren gingen durch zwei Schlitze in der Hut-

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krempe und gaben der Kopfbedeckung damit zusätz-lichen Halt und ein merkwürdiges Aussehen. Beide hatten einfache, vom Tagewerk schmutzige Arbeitskleidung an, die üblichen Hosen und Hemden aus naturfarbener, grober Wolle. Die eulengroßen Augen des kleinen Kerls hatten bei der Bemerkung des Bauern zu leuchten ange-fangen. „Wie macht Ihr das bloß? Keiner hat so ein Händchen mit Tieren wie die Gnome.“ Der Gnom zuckte mit den Schultern. „Na, die Elfen vielleicht, aber nicht bei der Aufzucht. Ich glaube, es liegt an der Achtung, die wir vor jedem Leben haben. Ich will, dass es meinen Tieren gut geht, und das wirkt sich halt aus.“ Der alte Bauer kratzte sich seine verschwitzte Stirn. „Na, wenn Ihr meint. Für mich klingt das zwar seltsam, aber Ihr habt den Erfolg. Wer soll da noch widersprechen? Habt Ihr bei Eurer Reise hierher etwas Neues über den Streit bei Estraend gehört?“ Halgrimm hörte aufmerksam und wissbegierig dem Gespräch zu. Die lebenslustigen Gnome wirkten auf ihn mit ihren kindlichen Körpermaßen, den übergroßen Augen und Ohren und dem ihnen eigenen quirligen Auftreten immer wie noch nicht ganz erwachsene Jugendliche. Die Schriften wiesen die Gnome jedoch als gelehrtes, wissbegieriges Volk aus. Wieso verfiel man bei fremden Völkern noch schneller in Vorurteile als bei jemandem aus dem eigenen Volk? Nun gut, wenn man sich die Gnome ansah, lag es auf der Hand. „Oh, das ist eine interessante Geschichte.“ Kurz ließ der Gnom den Bauern und damit auch Halgrimm etwas schmoren, bevor er fortfuhr. „Der Streit an der Grenze hat sich ganz schön zugespitzt. Die Elfen waren gar nicht

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erfreut, dass ständig Menschen von Estraend in ihre Waldgebiete kommen und Holz schlagen. Es gab schon harte Drohungen von beiden Seiten und eine handfeste Auseinandersetzung. Dann wurden vom Elfenfürsten Ascheriun Friedensrichter einberufen – natürlich, wie es der Sitte entspricht, aus den anderen Völkern. Bis diese dann endlich die Stadt erreichten, hatte sich die Lage weiter zugespitzt. Zum Glück konnte der Bürgermeister von Estraend seine Leute zurückhalten, weitere Bäume aus dem Fürstentum Fen-A'Dor zu schlagen, sonst wäre es blutig geworden. Den Gerüchten nach einigt man sich gerade. Irgendetwas in der Art wie: Die Bauern dürfen im Grenzgebiet von Fen-A'Dor für den Eigenbedarf Früchte und liegendes Holz sammeln und verpflichten sich im Gegenzug dafür, dem Wald keinerlei Schaden mehr zuzufügen.“ Der Bauer schnaubte. „Es ist grotesk, wie sehr den Elfen an jeglicher Wildnis liegt. Man muss sich doch die Natur untertan machen. Ihr ganzes Fürstentum scheint noch genauso unberührt wie zu dem Zeitpunkt, als sie es in Besitz nahmen.“ Der Gnom winkte ab. „Viel interessanter finde ich, wann ich Flüsterstein wieder verlassen darf. Was denkt sich der Fürst eigentlich dabei, niemanden mehr aus der Stadt zu lassen? Niemand weiß, wie lange die Tore geschlossen bleiben sollen. Ich muss wieder zu meinem Hof …“ Etwas kratzte an Halgrimms Aufmerksamkeit und lenkte ihn von weiteren Ausführungen des Bauern ab. Das Gefühl einer fremden Macht streifte sein Bewusstsein. Umgehend und ohne groß darüber nachzudenken öffnete er sich der arkanen Sicht. Vor seinem geistigen Auge sah Halgrimm Kraftstränge, die nur für den Kundigen sichtbar aufleuchteten, an einem kleinen gegenüber-

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liegenden Tisch zwischen zwei Personen hin und her gehen. Die Gabe der Magie war so selten, dass Halgrimm nie damit gerechnet hätte, in Flüsterstein das arkane Wirken eines anderen zu spüren. Dazu kam, dass diese Stränge der Macht seltsam waren, zu präzise und mit dem Beigeschmack von etwas Fremdem, Machtvollem ver-setzt. Aufmerksam geworden, versuchte Halgrimm, zwischen dem Gedränge und durch die stehenden Gäste hindurch mehr vom Nachbartisch zu sehen. Dort waren vier Pfeife rauchende Zwerge in ein Gespräch vertieft, drei in reiche Gewänder gekleidet, einer in einem schweren Kettenhemd. Ein Helm lag neben dem Gerüsteten auf dem Tisch. Dieser Zwerg war es auch, von dem die Macht ausging, als er mit beiden Händen den Arm des ihm gegenübersitzenden Zwergs umfasst hielt. Ein Zwerg und kein Mensch, also musste es ein Kleriker sein. Priester, die von einem Behüter erwählt worden waren und von diesem die Gabe der Macht erhielten, waren mindestens so selten wie Magier. Wenn ein solchermaßen Gesegneter zu Besuch war, wusste davon normalerweise die ganze Stadt. Gerade bei einem Fest hätte sich diese Neuigkeit wie ein Lauffeuer ver-breitet, doch Halgrimm hatte nichts von der Ankunft eines Geweihten der Behüter gehört. Halgrimm beobachtete die Gesellschaft der Zwerge weiter. Kev schien vollends damit beschäftigt, das hek-tische Treiben der Gnome am Tisch zu verfolgen. Ein Mann trat aus der Menge zu der Zwergengesellschaft und begrüßte jeden Einzelnen. Sein unauffälliges Gesicht mit einem schwarzen Bart und schmalen Zügen setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. Seine Kleidung war aus schlichtem grünen Tuchleinen, ein Stoff der gern von Handwerkern und Knechten getragen wurde. Er setzte

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sich hinzu und wurde anscheinend mit dem Zwerg in der Rüstung bekannt gemacht. Die Gruppe steckte die Köpfe zusammen, als wollte sie nicht, dass jemand der Umstehenden etwas von dem Gespräch mitbekommt. Halgrimm ärgerte sich, dass er noch nicht den Zauber beherrschte, mit dem Meister Naruum immer die jungen Anfangssemester aushorchte, die in der hintersten Reihe des Übungssaals miteinander flüsterten anstatt aufzu-passen. Meister Naruum baute dann den Inhalt des Gespräches sehr zum Schrecken der Kinder in seinen Unterricht mit ein. Halgrimm hatte sich nie sehr für diesen unspektakulären Bannspruch interessiert. Warum eigentlich nicht – bei seiner Neugier? Andererseits konn-ten Magiekundige es oft erspüren, dass sie gerade magisch ausspioniert wurden. Angestrengt lauschend, bekam er nur einzelne Satzfetzen mit: „… feindliche Händlergilde …“, „… aus der Stadt hinausbekommen …“ Der Zwerg in Kettenrüstung webte erneut Stränge der Macht zusammen. Wieso hielt der fremde Kleriker seinen Aufenthalt in Flüsterstein geheim? Fürst Aldan machte sich über etwas große Sorgen, und es gab Schleicher der Drakaner in der Stadt. War der Zwerg ein Drakaner? Völlig fasziniert von dem Gedanken, ergriff Halgrimm unbewusst den Weinkelch von Kev und nahm einen tiefen Zug daraus. Oh, Dämon der Torheit, das war nicht klug gewesen! Seinen eigenen Kelch hatte er bereites ausgetrunken, und der Wein stieg ihm mittlerweile kräftig zu Kopf. Trotz oder gerade wegen seines benebelten Zustandes versuchte Halgrimm sich mit seinem schummrigen Verstand an die Lehren des Grauen Turmes über die klerikale Magie zu erinnern.

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Die klerikale Macht war ein Geschenk der Behüter. Manche der Erwählten waren bereits als Priester tätig, andere wurden unversehens berufen. Im Gegensatz zu Zauberern konnten Kleriker jedoch nicht die Schöpfungskräfte frei nach ihrem Willen lenken. Zwar beruhten die Gebetswunder auf denselben Energien, die auch die Zauberer nutzten, doch wurden die Kräfte von den höheren Wesen bereits fertig verwoben übergeben und nicht von den Priestern selbst geformt. Diese Zauber gingen nie fehl, und damit war ein Erwählter der Behüter nie in Gefahr, durch falsches Verweben der Macht zerrissen zu werden. Die Bewahrer vergaben allerdings nur wenige und in ihrer Wirkungsweise bestimmte Zau-ber, je nach Wesen des Bewahrers. Bei den Klerikern des Imperiums ging man hierzulande allgemein davon aus, dass sie ihre Macht von den Gegenspielern der Behüter bekamen – den Dämonen. Bei diesen Gedanken betrachtete Halgrimm den gerüs-teten Zwerg mit einem unguten Gefühl im Magen. Der hagere Mann schob dem Zwergenkleriker gerade eine lederne Rolle mit Verschlusskappe zu. Daraufhin stand der Hagere auf, nickte noch einmal zum Abschied und verließ den „Grünen Kobold“. „Habt Ihr Genickstarre oder seid Ihr schon betrunken?“ Überrascht wandte sich Halgrimm zu Kev um, der ihn lächelnd betrachtete. „Ah, keine Genickstarre, also betrunken!“ „Isch … ich glaub, ich bin wirklisch etwas angetrunken, trink sonst nich’ sehr oft geistige Getränke. Sagt mal, wie gut könnt Ihr eigentlich hö… hören?“ „Wie kommt Ihr denn jetzt darauf?“ „Na ja, könn’ Ihr zum Beispiel hier in diesem Lärm ’n Gespräch an einem anderem Tisch verfolg’n?“

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„Beim Abgrund, nein! Hier ist es lauter als bei einer Schlacht. Dazu müsste ich mich in einen Hund oder ein anderes Wesen mit gutem Gehör verwandeln. Aber Ihr wollt doch sicher nicht, dass ich das jetzt mache? Ich glaube, es ist jetzt spät genug für Euch, wir sollten nach Hause.“ „Nein, nich’ jetzt! Hört auf, mich soo komisch anzusehen, so betrunk’n bin ich nicht. An dem gegenüberlieg’nden Tisch mit den vier Zwergen geh’n interessante Dinge vor sisch.“ „Zwerge und interessante Dinge? Ihr seid betrunken! Oder habt Ihr an Gestein, Metall und Schmiedekunst gefallen? Für mich jedenfalls keine Themen, die ich tagelang bereden könnte. Und genau das werden die vier da machen.“ „Wenn Ihr Euch verwan’elt, nehmt doch bitte ein Tier mit großen Ohren und ohne Maul. Dann hört Ihr viel-leicht erst mal su, ohne mich dauernd su unterbrech’n.“ Ein finsterer Blick ersetzte Kevs vorangegangenes Grinsen, doch Halgrimm bemerkte diesen gar nicht. Er hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder dem Nachbar-tisch zugewandt. „Da, jetzt steh’n sie alle auf! Der mit dem Kettenhemd hat ’nen Pergamentbehälter von dem Hageren be-komm’n. Das braune Ding, dasch er sich grad in den Rucksack stopft.“ „Ja, und da oben an der Decke sind zwei Fliegen, die verdächtige Bewegungen gemacht haben.“, murmelte Kev vor sich hin. „Sie geh’n! Los, hinterher!“ Prompt stand Halgrimm auf, doch kam er nicht be-sonders weit. Kevs linke Hand drückte auf seine Schulter, sodass er gleich wieder auf seinen Hocker plumpste.

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„Gemach, Halgrimm. Ich kann mich in einen Eber verwandeln, aber Ihr habt die Natur eines Ebers. Wenn Ihr so wild und auffällig hinterherstürmt, könnt Ihr auch gleich die Sturmglocken schlagen, Ihr Meister der Schlei-cher. Nicht dass ich den Sinn hinter dieser ganzen Aktion sehen kann …“ Große, etwas glänzende Augen sahen Kev an, und hinter Halgrimms Stirn schien es zu arbeiten, bis er nach einer Weile etwas stockend meinte: „Un’ wie lang musch man warten? Ich hatt’ ganz vergessen, Ihr hab’ ja lange Zeit die Arbeit eines Sch… Schleichers ausgeführt. Also, ich verlass mich auf Euch, dass wir die Zwerge nich’ verlier’n. Und bidde glaubt mir, an dem einen is’ was Besonderes dran, ein Kleriker is das, da bin ich mir sicher. Na ja, und ich binnn auch neugierig, das is’ nun mal die Triebfeder jeder Wischenschaft.“ „Und der Weg ins Verderben, das kann ich Euch versichern. Aber gut, ich lasse Euch Euren Spaß. Lehnt Euch zurück, entspannt Euch und seht vor allem nicht mehr … Was geht denn hier vor?“ Kevs Stimme war bei seinem letzen Ausspruch immer leiser geworden. Mit einem kurzen Rucken des Kopfes wies er Halgrimm auf eine schmale Gestalt mit einem grauen Umhang hin, die an einem Holzpfosten in der Nähe des eben verlassenen Tisches der Zwerge lehnte. Halgrimm verstand nicht, warum Kev ausgerechnet diesem Gast so besondere Aufmerksamkeit schenkte. Er sah, wie das wohlgeformte Gesicht des Mannes die Schritte der Zwerge verfolgte und dieser sich dabei sein langes Haar zurückstrich, um besser sehen zu können. Die ebenmäßigen Züge und das silbrige Haare wiesen ihn als Elfen aus. Als die Zwerge langsam im Gedränge

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verschwanden, machte der Elf sich auf, ihnen nach-zugehen. Kev beugte sich näher zu Halgrimm und raunte: „Die Erdwühler werden anscheinend beschattet! Seht, der Elf ist der einzige Gast hier, der ganz allein ist, und jetzt stellt er seinen vollen Bierkrug auf dem Tisch ab. Ich kann es kaum glauben, hier geht wirklich etwas Seltsames vor.“ „Tja!“, lallte es ihm von Hallgrimm mit erhobenem Zeigefinger entgegen. „Ihr könn’ Euch in einen Jagdhun’ verwandeln, aber ich hab das Geschpür eines Jagd-hun’es!“ Verzweifelt drehte Kev die Augen zur Decke, während er gleichzeitig Halgrimm von seinem Hocker hochzog. Auch als sie sich zum Ausgang des verrauchten weit-läufigen Schankraums durch die Besucher drängelten, ließ der Wandler den Arm von Halgrimm nicht mehr los. Wotan schüttelte die Hände von Lektar, Terter und Gontram in kräftiger Zwergenmanier. Die vier Zwerge standen nur wenige Schritte entfernt vom „Grünen Kobold“ in der Windgasse, die direkt am Wirtshaus vorbeiführte. Die Dunkelheit der Nacht er-füllte die Gassen, hier und da durchbrochen von Inseln aus Licht, das aus einigen Fenstern drang. Noch immer war viel Volk unterwegs. Ständig kam jemand aus der Tür des „Grünen Kobold“ heraus oder ging hinein, wobei dann jedes Mal ein Lärmschwall von gut gelaunten Schenkenbesuchern aus dem Eingang drang, gefolgt von einer Wolke schweißgetränkter Luft. „Danke für diesen leichten und gut bezahlten Auftrag, den Ihr mir vermittelt habt. Das werde ich Euch und dem Blaugold-Klan nicht vergessen.“

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Lektar nickte Wotan zu und zitierte: „Feinden nichts vergeben und bis zur letzten Untat heimgezahlt, den Freunden keine Tat vergessen, Treue, auch wenn der Schnitter naht, so ist das Felsvolk immerdar gekannt.“ Gontram legte eine Hand auf die mächtige Schulter des Kampfpriesters. „Glück mit Euch, Erdenbewahrer, es war uns eine Freude, Euch helfen zu können. Seid Ihr sicher, das wir Euch nicht bis vor die Stadt zu diesem Treffpunkt, an dem ihr diesen Behälter abgeben müsst, begleiten sollen? Ich trau diesem Menschen nicht mit seiner ganzen Ge-schichte über verfeindete Händlergilden, die Botschaften abfangen, um den Handel zu stören.“ Terter fiel in die Zweifel mit ein. „Für einen simplen Botengang ist die Bezahlung recht hoch, auch wenn gerade das Verlassen der Stadt verboten ist. Auch das Argument, dass niemand mit einem Erdenbewahrer als Überbringer rechnet, ist für mich nicht recht befrie-digend. Man hofft wohl, dass ein Erdenbewahrer nicht gegen seinen Willen in der Stadt festgehalten wird. Dieser Händler hat uns einige kleinere Gefallen getan, und wir standen in seiner Schuld. Gleichzeitig sahen wir eine Möglichkeit, Euch zu helfen. Aber ganz wohl ist mir bei der Sache nicht.“ Wotan starrte kurz auf den gepflasterten Boden. „Er sagte aber auch, es wäre ihm egal, ob ich allein oder mit einer ganzen Wachmannschaft käme. Hauptsache, es wären nur Zwerge, die aus dem Osttor der Stadt ziehen, damit ich sie als mein Gefolge ausgeben kann. Und dass es heute Nacht geschieht. Klingt für mich nicht nach einem Überfall.“ Grimmig blitzten Wotans Augen, als er jeden in der Runde kurz ansah. „Doch misstrauisch ist der langlebige

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Zwerg, also lasst uns doch mal nachsehen, was an seinen Worten so dran ist.“ Wotan klaubte daraufhin den Schriftrollenbehälter aus seinem Rucksack heraus, ging weiter zu einem hell erleuchteten Fenster an der langen Außenwand des „Grünen Kobolds“ und öffnete die Verschlussklappe des Behälters. Im Lichtschein des Fensters steckten die Zwerge die Köpfe über dem auseinandergerollten Perga-ment zusammen und lasen dessen Inhalt. „Empfehlungen und Preise für günstige Waren, War-nungen über schlechte Qualität bei anderen Gütern, Lagerhauskosten. Mmmm …“ Terter kratze sich nachdenklich an seinem fast kahlen Kopf, während aus einer Nebengasse ein grölender Haufen Menschen in die Windgasse einbog. Irgendwo in der Nähe ertönten die würgenden Geräusche eines sich Übergebenden aus der Nacht. „Das sieht so aus, als hätte die Geschichte des Menschen einen geraden Tunnel. Bisher hatten wir als Händler noch keine Probleme mit konkurrierenden Kaufmännern.“ „Dann müsst Ihr noch entscheiden, ob Ihr mich beglei-ten wollt. Ich werde diesen Auftrag ausführen, da ich keinen Haken erkennen kann und das Geld angenommen habe.“ Die drei Händler sahen sich an, dann nickte erst Terter, dann Lektar Gontram zu. „Wir werden Euch heute Nacht begleiten, Erdenbe-wahrer. Terter, hol unsere Waffen!“ Kev und Halgrimm brauchten eine Weile, um den „Grünen Kobold“ zu verlassen, was nicht zuletzt an Halgrimms fehlender Standfestigkeit lag. Als sie endlich aus der Tür traten, erfasste Kev schnell die Gruppe

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Zwerge, die am Ende der Außenwand des Wirtshauses an einem Fenster stand und sich über etwas beugte. Langsam gingen sie weiter. Kev, immer noch mit der Hand am Arm des Adepten, beobachte aus den Augen-winkeln die Gasse ringsumher. Halgrimm blickte ange-strengt zu Boden. „Wooo is’ denn der Elf hin, Meischter Kev?“ „Leise – und kommt zur Ecke der nächsten Gasse.“ Kev führte seinen angeschlagenen Begleiter in einen dunklen, sehr schmalen Weg zwischen krummen Häuser-wänden, in den kaum noch Licht von den Fenstern aus der Windgasse drang. „Der ist dort schräg links auf einem Dach.“ „Wie is’ der denn so schnell da raufgekommen? Wie habt Ihr das gesehen, haabt doch kaum den Kopf bewegt?“ „Wie Ihr schon sagtet, bin ich lange in diesem Geschäft tätig gewesen. Doch schaut, die Zwerge lesen etwas, ausgerechnet hier draußen im Dunklen.“ „Mir ist schlecht!“ „Das kann nicht Euer Ernst sein. Ausgerechnet jetzt?!“ „Tut mir leid. Is’ das erschte mal, dass ich mehr als ’n Glas Wein getrunken hab.“ „Ihr seid ein Magier! Macht Euch wieder nüchtern!“ „Ich soll ja nich’ mal zaubern, wenn ich nüchtern bin“, kam es schmollend aus dem Dunkeln. „Was faselt Ihr da?“ „Oooh, is’ mir schlecht!“ Es kam das Unvermeidliche. Kev sah fassungslos, wie Halgrimm sich vornüberbeugte und sich lautstark übergab. Ohne Mitleid riss der Wandler Halgrimm in einen Hauseingang tiefer in die Schatten hinein. „Das glaub ich einfach nicht, das glaub ich einfach nicht!“, kam es unterdrückt aus Kevs zusammenge-

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presstem Mund. „Wir können von Glück reden, wenn niemand auf uns aufmerksam geworden ist. Passt auf, Meister Halgrimm, Ihr füttert hier erst mal weiter die Ratten und bekommt wieder einen freien Kopf. Währenddessen verfolge ich unsere Maulwürfe alleine – auf meine Art und Weise.“ Halgrimm hob zwischen zwei Würgern bejahend den Daumen. Kev legte seinen Dolch, einen Silberring und andere metallene Gegenstände neben Halgrimm ab. Eine tiefe Konzentration erfüllte das Gesicht des Wandlers. Sein gesamter Körper schien sich zu wellen, die Beine und Arme verkürzten sich, und selbst die lederne Kleidung zog sich zusammen. Kleiner und kleiner wurde seine Gestalt, während er sich nach vorn beugte und mit den Händen auf dem Boden abstützte. Dann formten sich Kopf, Hände und Füße um, schwarze Haare sprossen überall hervor, wurden dichter und zahlreicher. Voll Schrecken und Staunen sah Halgrimm in seiner gebückten Haltung die Umwandlung seines Gefährten mit an. Der Kopf des Wandlers befand sich nun direkt vor ihm, und Halgrimm blickte in Kevs Augen, die bis zuletzt, obwohl sie immer kleiner wurden, die Augen von Kev blieben.Zum Schluss formten sich die Pupillen zu Rauten um und begannen gelb zu schimmern. Eine pechschwarze Katze reckte sich neben dem an der Wand lehnenden Magieradepten, wo soeben noch Kev gestanden hatte. Die Katze blickte in das entgleiste Gesicht Halgrimms und zwinkerte ihm mit einem Auge zu. Gleich darauf verschwand sie mit einigen weiten Sprüngen von Fenstersims zu Fenstersims geräuschlos hinauf auf die Dächer von Flüsterstein.

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Terter brauchte eine Weile, bis er schwer beladen zurückkam. Er trug einen riesigen Rucksack und brachte es irgendwie fertig, auch noch drei kleine Rundschilde unter dem linken Arm mitzuschleppen. Er hatte nicht nur drei Streitkolben mitgebracht, sondern auch noch Kettenhemden, die Gontram, Lektar und Terter ohne viel Umstände einfach über ihre Gewänder zogen. Einige vorbeiziehende Nachtschwärmer staunten ob dieses Schauspiels, doch ein paar kurze düstere Zwergenblicke ließen alle schnell wieder den Blick abwenden. Niemand hatte Lust, sich in Angelegenheiten von Zwergen ein-zumischen, die sich gerade Waffen und Rüstzeug anlegten und dabei Gesichter aufsetzten, als hätte jemand ihre Schwester geschwängert und sich dann aus dem Staub gemacht. Bald darauf klimperten und schellten vier Zwerge durch die nachterfüllten Gassen von Flüsterstein. Er kauerte sich hinter einen Schornstein und lugte über die obere Mauerkante des Schlotes hinab in die Gasse. Sichergehend, dass ihn niemand bemerkt hatte, wartete er still ab und beobachtete. Er war ein Schatten in der Nacht, sein Körper verborgen unter einem dunkelgrauen Mantel, das Gesicht unter der Kapuze unsichtbar. Die wolkenverhangene Nacht ließ ihn fast vollständig mit seiner Umgebung verschmelzen. Er wandte alles an, was er gelernt hatte, um unbemerkt zu bleiben, und war sich doch sicher, dass es bei denen hier glatte Zeitver-schwendung war. Vier kurze, breite Gestalten lärmten klirrend die Gasse unter ihm entlang. Sie gingen langsam, zwei von ihnen manchmal auf Zehenspitzen, so als wollten sie die Gassen entlangschleichen. Ihre Schlag-

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waffen lagen einsatzbereit auf den Schultern. Immer wachsam zu den Seiten und nach hinten spähend, sicherten sich die Zwerge ununterbrochen ab. Was für Dilettanten! Nur einmal blickten sie überhaupt nach oben. Er hätte sich auch offen hinstellen und lärmend über die Dächer springen können, die vier hätten es nicht bemerkt. Trotzdem blieb er bei der Verfolgung leise und umsichtig. Mit der Geschicklichkeit eines Seiltänzers bewegte er sich von Schindel zu Dachtraufe. Seine Schuhe waren dick mit schwarz gefärbten Stoffstreifen umhüllt und verhinderten selbst bei weiten Sprüngen ein lautes Geräusch. Die wenigen Laute, die er dennoch verursachte, wurden allemal von dem Lärm der Zwergenrüstungen übertönt. Lektar drehte sich wieder nach vorn und schloss zu seinen Gefährten auf. „Niemand, der uns verfolgt, glaube ich. Wir treffen kaum noch jemanden auf der Straße zu dieser späten Stunde, eine Verfolgung wäre unweigerlich auffällig.“ „Hmpf“, kam mürrisch Wotans Antwort. Bei der nächsten Gasse zu ihrer Linken bogen sie ab und folgten dieser längere Zeit nach Norden, dann nahmen sie wieder eine Gasse, die nach Osten führte. Alle vier Zwerge hatten ihre strengsten Mienen aufgesetzt, ihre Augen kamen nicht zur Ruhe, stets auf der Suche nach Gefahr. „Bisher läuft es gut, das Osttor ist nicht mehr weit, geehrter Erdenbewahrer“, tat Terter seine Meinung kund. „Hmpf“, ertönte es diesmal gleichzeitig aus Gontrams und Wotans Mund. „Würden die Herren so gütig sein und aufhören, hier rumzuhmpfen! Hab ich was übersehen?“ Lektar blickte

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scheel von links nach rechts von Gontram zu Wotan, die nah vor ihm hergingen. Gontram schaute kurz Terter an und dann hinter ihnen die Gasse hinunter. „Meine Nase juckt, und ich hab ein schlechtes Gefühl im Bauch. Außerdem fühle ich mich nackt, so ohne Helm.“ „Ich weiß auch nicht, mir geht es genauso. Irgendwas liegt in der Luft“, stimmte Wotan zu. „Wir sind nicht in unseren Höhlen. Die Städte der Oberirdischen sind ungewohnt für uns, und wer weiß, was wir alles übersehen? Wir sollten kein unnötiges Risiko eingehen. Da ich heute erst einen Segen Toorns gewirkt habe, kann ich noch etwas für unseren Schutz tun.“ Abrupt blieb Wotan stehen und drehte sich zu seinen Gefährten um. „Haltet an und kniet nieder! Empfangt die Güte Toorns!“ ‚Denk nach, Halgrimm, denk nach.‘ Etwas schwankend, drückte sich Halgrimm von der Wand der Windgasse ab, gegen die er fast gestoßen wäre. Diese Gasse waren die Zwerge entlanggegangen, aber sie waren längst außer Sicht. Halgrimm ging es nach dem Erbrechen erheblich besser. Ihm war zwar immer noch schlecht, doch konnte er wieder etwas klarer denken. ‚Oh, wieso musste ich mich ausgerechnet heute das erste Mal betrinken? Ausgerechnet dann, wenn etwas Wichtiges vorgeht. Denk nach, Halgrimm. Bei allen Dämonen, ich hab keine Ahnung, wo die hin sind. Ich sollte zurück in die Burg gehen und auf Kev warten.‘ Halgrimm sah sich um und versuchte sich in der Dunkelheit zu orientieren. ‚Wo bin ich? Wieso sieht in der Nacht nur alles anders aus?‘

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Halgrimm wusste weder, wo er war, noch, wie er zurück zur Burg kommen sollte. Der grau gewandete Verfolger spähte vorsichtig über den Rand eines Daches mit leichter Schräglage. Er hatte sich flach hingelegt und war zur Kante gerobbt, als er bemerkte, dass die Zwerge stehen geblieben waren. Die Verfolgung der Erdwühler wurde fast schon langweilig, und er musste sich zusammenreißen, um weiterhin umsichtig zu bleiben. Er sah desinteressiert mit an, wie drei der Zwerge vor einem niederknieten. Ein kurzer monotoner Gesang wurde von dem Stehenden gespro-chen, und ein Leuchten, braun wie Lehmboden, erfüllte die Hände dieses Zwerges, mit denen er nacheinander seine niederknienden Gefährten an der Stirn berührte. Der Schleicher auf dem Dach zuckte zurück, und ein unbeabsichtigtes Zischen entfuhr ihm. Der erwartete Alarmruf blieb aus. Als er wieder nach unten spähte, sah er gerade noch das letzte bronzene Leuchten einer verblassenden Aura, welche die drei niederknienden Zwerge umhüllte. Derjenige, der den Bannspruch aus-führte, schwankte kurz. Er wusste, jeder Gebrauch der Macht fordert Kraft. Es war nur die Frage, wie viel Kraft der Kleriker noch hatte und wie gefährlich er dem-entsprechend noch werden konnte. Als die Zwerge wieder weiterzogen, wartete er diesmal einen Augenblick und gab ihnen einen Vorsprung. Nach einigen Herzschlägen führte er seine behandschuhten Hände zum Mund, und kurz darauf zerriss der lang gezogene Schrei einer Katze die Nachtluft. Wenige Sekunden später er-klangen zwei andere Maunzer aus östlicher Richtung. Nickend erhob er sich, trat zurück und schnellte dann mit zwei Schritten Anlauf über die Kluft zum nächsten Spitzdach, welches etwas höher gelegen war. Elegant

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landete er auf den Dachziegeln und huschte weiter hinauf zum Giebel. Mit einem Mal verharrte er. Obwohl er nichts gehört hatte, fühlte er sich beobachtet. Vehement wandte er den Kopf nach hinten und blickte zurück zum Dach, von dem er kam. Er sah niemanden, einsam und leer lag es unter ihm. Es gab kein Versteck, hinter dem jemand sich der Sicht hätte entziehen können, nur ein beindickes Rohr ragte als Rauchablass aus den Schindeln hervor. Langsam drehte er sich von einer Seite zur anderen, suchte auch Dächer in der Nähe ab. Das Dach, auf dem er sich befand, war höher als die umliegenden und bescherte ihm einen guten Ausblick. Doch es blieb alles still, nichts regte sich. Er schalt sich einen Narren, auf einmal auf seine Gefühle zu hören. Er hatte selbst kaum ein Geräusch verursacht und nicht einmal etwas gehört. Niemand hätte ihn hier oben die ganze Zeit unbemerkt verfolgen können. Entschlossen wandte er sich um und bewegte sich leise über den Giebel, um gleich darauf gewandt die Schräge auf der anderen Seite des Daches hinunterzugleiten. Aus dem tiefschwarzen Schlagschatten des Abzugrohres des gerade noch beobachteten Daches trat leichtfüßig eine schwarze Katze hervor. Selbst jetzt waren ihre Konturen kaum auszumachen, doch in den lichtlosen Ecken wurde sie zu einem unsichtbaren Jäger. Kurz schätzte sie die Entfernung des gegenüberliegenden Da-ches ab und sprang ohne Anstrengung aus dem Stand hinüber. Ohne den geringsten Laut landete das schwarze Tier mit perfekt eingespielten Bewegungsabläufen auf samtweichen Pfoten. Selbst wenn die Stadt in Stille versunken wäre, hätte niemand einen Laut bei ihrer Lan-dung vernommen. Mit ein paar schnellen Sätzen sprang die Katze zum Giebel und huschte dann der grauen

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Gestalt nach, die in dieser Nacht ihren Meister in der Kunst des Schleichens gefunden hatte. „Gütige Behüter, wir sind wohl beim Marktplatz ange-langt. Ja, da ist ein Brunnen, wir sind richtig. Lasst uns dieses Geschäft endlich hinter uns bringen.“ Terter blickte vom Ende der Seilgasse, aus der sie gerade gekommen waren, auf den offenen Platz vor sich. Diesen Marktplatz gleich vor dem Osttor hatte man mit quadratischen Steinplatten gepflastert. Hier war es längst nicht so dunkel wie in den schmalen Gassen mit den hohen Hauswänden. Überall verteilt standen hölzerne Buden, bunt bemalt und geschmückt mit Wimpeln und Fahnen. Die Läden waren für die Nacht verrammelt und die Türen verschlossen. Gontram hob die Hand mit dem Streitkolben. „Hört ihr das?“ „Was? Das Katzengejammer?“, gab Terter zurück. „Nein, da vor uns würgt doch jemand seinen Mageninhalt hervor. Da, an der ersten Bude, hinter der Ecke sieht man noch ein Stück Mantel.“ „Immer vorsichtig! Macht Euch kampfbereit! Es könnte ein Hinterhalt sein. Terter, deckt nach hinten“, befahl Wotan leise. Dann rief er lauter: „Hey da, Ihr da vorn! Kommt hervor und gebt Euch zu erkennen, aber schön langsam.“ Keine zehn Meter weit entfernt erhob sich jemand aus einer gebückten Haltung. Ein selbst in der Dunkelheit bleich schimmerndes Gesicht sah zu Wotan. „Verzeiht, ich bin etwas unpässlich … Was? Ihr?“ Halgrimm, der herumgeirrt und unwissend direkt zum Wachtplatz gelaufen war, sah erschrocken in das grim-mige Gesicht Wotans.

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„Was heißt hier ‚Was? Ihr?‘ ? Ich kenne Euch nicht. Ihr habt uns wohl erwartet.“ „Aber nein, nicht so. Äh, ich meinte, ich kenne Euch auch nicht … “ Halgrimms Stimme erstarb mit einem Krächzen. Ein Maunzen kam vom Rand des Platzes von einem der Dächer, ein weiteres folgte von einem anderen. Wotans Augen wurden schmal. Er sah kurz an den Seiten des Marktplatzes entlang und fasste Halgrimm wieder fest ins Auge. „Ihr solltet schnell zur Wahrheit kommen, ich werde nämlich gerade sehr nervös.“ Halgrimm guckte verdattert den wuchtigen Zwerg mit seinem schweren Kriegshammer an und fing an zu stammeln. Ein angsterfüllter Schrei, der unmittelbar über der Zwer-gengemeinschaft seinen Anfang nahm, zerriss die Nacht. Ein dunkler Kleiderhaufen landete mit einem Platschen direkt neben Wotan. Ein Stimme rief vom Dach direkt über dem gestürzten Körper herunter: „Lauft weg! Hier sind überall welche. Halgrimm, flieht, eine Falle!“ ‚Das ist doch Kevs Stimme.‘, erkannte Halgrimm. Wotan reagierte schon, während Kev noch rief. Sein Hammer schlug krachend auf die Kapuze der gefallenen grauen Gestallt ein, die sich gerade stöhnend zu erheben versuchte. „Zum Tor!“, rief Wotan und rannte los. Plötzlich war die Nacht von rufenden Stimmen erfüllt, die von den Dächern herunterschallten. Ein Pfeil zischte von oben herab und zerschellte harmlos auf dem Boden. Die Zwerge liefen in enger Formation, die Schilde über ihren Köpfen erhoben. Halgrimm, der nur entsetzt dastand, wurde zur Seite gerammt. Pfeile schlugen in die Schilde ein. Trotz ihrer kurzen Schrittlänge kamen die

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vier Zwerge schnell zur Mitte des Wachtplatzes, einer freien Fläche mit Brunnen, der von einem Kreis aus Buden umgeben war. Dort stoppten sie ihren Lauf. Hinter den kleinen Holzhütten zum Osttor hin traten mehrere gerüstete Menschen mit gesenkten Speeren hervor und versperrten den Weg zum Tor. Die Zwerge wandten sich nach rechts, doch um sie herum öffneten sich auf einmal die Läden der Verschläge. Männer kamen zum Vorschein mit Bögen im Anschlag. Die Falle hatte sich geschlossen. Ein Soldat trat vor. „Ergebt Euch, im Namen von Fürst Aldan, Protektor und Wächter von der Flüstermark. Diese Aufforderung werde ich nur einmal aussprechen!“ Wotan sah seine Gefährten an und schüttelte den Kopf. „Hier endet unser Weg. Kein unnützes Blutvergießen, legt die Waffen beiseite.“ Gontram seufzte zustimmend. „Ja, so ist es wohl. Es sind anscheinend Soldaten des Fürsten, das ist besser als irgendwelches Räuberpack. Fürst Aldan ist als gerecht bekannt. Ich hoffe, es wird sich alles aufklären.“ Daraufhin ließen die Zwerge die Waffen zu Boden fallen, und einige Soldaten nahmen diese in Gewahrsam, während andere die Zwerge umstellten und durch-suchten. Während er gefesselt wurde blickte Wotan auf und sah nun viele dunkelgekleidete Gestalten auf den Dächern stehen, die das Geschehen auf dem Wachtplatz verfolgten. Das Aufgebot und die Mühe, die man sich anscheinend extra für sie gemacht hatte, erstaunten ihn. Auch der dünne junge Mensch, der wohl wirklich verwirrt oder betrunken war, wurde gefangen genommen. Vielleicht gehörte dieser aber auch zu den Auftraggebern, die ihn in diesen Schlamassel gebracht hatten. Einige Soldaten sprachen aufgeregt über einen Fremden auf den

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Dächern, den sie noch nicht gestellt hatten und nach dem sie das ganze Viertel durchkämmten. Wotan erinnerte sich an die Stimme, die sie vorhin von den Dächern aus gewarnt hatte. Es war eine ereignisreiche und sehr ver-wirrende Nacht, und trotz seiner misslichen Lage brannte Wotan auf die Aufklärung dieses ganzen Geschehens. Als die Soldaten zufrieden mit der Sicherung ihrer Ge-fangenen waren, nahmen sie die Zwerge und Halgrimm in ihre Mitte und führten sie zur Feste von Flüsterstein ab. Während des Marsches erblickte Wotan nicht weit hinter sich zwei Männer in grauen Kapuzenmänteln und stoff-umwickelten Schuhen, die einen Kameraden in derselben Gewandung trugen. Dieser konnte sich offensichtlich nicht mehr rühren, und seine Träger hatten Mühe, ihn zu halten. Nachdem Wotan länger seine Augen angestrengt hatte, erkannte er spitz zulaufende Ohren und schräge Mandelaugen in wohlgeformten Gesichtern. Es waren Elfen. Er schloss die Augen und betete still, dann sprach er die Wache neben sich an: „Euer Gefährte am Ende der Gruppe ist bestimmt schwer verletzt. Ich möchte Euch die heilenden Kräfte vom Hüter Toorn zur Verfügung stellen, denn ich bin ein Kleriker Toorns.“ Ernst und bitter schaute ihn der Soldat an. „Das wird nichts nützen, es sei denn, Ihr könnt den Tod heilen.“ Wotan blickte grimmig zu Boden.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark Weit vom Osttor Flüstersteins entfernt stiegen mehrere Raben aus einer kleinen Waldung auf. Rasch schlugen ihre Flügel, trugen sie in die Höhe, dem Nachthimmel mit seinen tief liegenden, schweren Wolken entgegen. Den schwarzen geflügelten Boten sahen sechs Männer nach, deren Blicken die Vögel in der mondlosen Nacht rasch entschwanden. Jeder von ihnen trug eng anliegende Gewänder, und selbst ihre Gesichter waren verhüllt mit einer Kopfbedeckung, die nur die Augenpartie frei ließ. Die Farbe ihrer Kleidung war ebenfalls identisch – ein dunkles Grau mit schwarzen Flecken, das in der Dunkelheit verschwamm. „Acht verschiedene Gruppen sollten die Informationen aus der Stadt schmuggeln, und nur zwei haben es zu uns geschafft! Wer auch immer in der Stadt die Führung der Schleicher innehat, er war wachsam.“ Eine andere Stimme antwortete mit einem Krächzen, das man meinen könnte, er wäre mit den davongeflogenen Raben verwandt. „Nicht wachsam genug, wie es scheint, Nachtmeister. Die zwei, die es geschafft haben, waren erfahrene Diebe. Allen Wachen zum Trotz gelang es ihnen, unbemerkt über die Stadtmauern zu entkommen.“ Ein anderer aus der Gemeinschaft sagte sanft und leise: „Eure Voraussicht hat sich wieder einmal als richtig erwiesen. Ihr hattet recht damit, dass die Schergen Aldans recht schnell unsere Anwesenheit bemerken würden: die vielen Fragen, die in Schenken und auf den Plätzen nach Fremden in der Stadt gestellt wurden; die Jagdfalken, die

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seit Tagen um die Stadt kreisten und jeden Raben über der Stadt getötet haben. Es war weise, nur einen Schleicher in die Stadt zu schicken und uns hier mit den Botenraben zu verstecken. Die unwissenden Stadtbewohner unsere versteckten Schriften aus der Stadt bringen zu lassen war grandios. Keiner von ihnen wird bei einer Gefangennahme etwas Wichtiges erzählen können. Ob einer oder alle es aus der Stadt geschafft hätten, ist einerlei. Jetzt ist die Nachricht unterwegs.“ „Genug der Schmeichelei, Jastok. Es wird dir nichts bringen. Ich weiß, was ich getan habe und aus welchem Grund.“ Der Nachtmeister wandte sich um und ging zum Lager zurück. Seine Männer folgten ihm mit respektvollem Abstand. In seinen Gedanken spielte der Nachtmeister die Ereignisse der letzten Tage noch einmal durch, und er war ganz und gar nicht zufrieden: ‚Bei den Archonen, die Erfüllung unseres Auftrages gelang nur um Haaresbreite. Ulesar, unfähig wie er ist, hat sich verfolgen lassen. Die Deckung unseres Bruders flog auf, und das Versteck wurde entdeckt. Der Wechsel-balg ist verloren, der schlimmste Verlust, der uns wiederfahren konnte.‘ Die Gruppe erreichte ein kleinen Hain aus Buchen. Als sie in den Schatten der Bäume eintraten steuerten sie einige flache Laubhügel an. Erst aus der Nähe waren diese Hügel als flache, mit Laub getarnte Zelte zu erkennen. Der Nachtmeister blieb stehen und wandte sich zu seinen Untergebenen. „Es war ein schwieriges Unternehmen, und ich habe deswegen einen unserer Besten ausgesandt. Einen Bru-der, der weiß, wie wichtig sein Erfolg für unser Land ist. Der weiß, dass unsere Nation nicht von der Pest der

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Selbstbestimmung heimgesucht werden darf, die nichts als Chaos und Tod verursacht. Er ging ohne zu zögern, obwohl er wusste, dass er wahrscheinlich nicht mehr zurückkehren würde. Ehrt ihn und denkt an sein Opfer für unser glorreiches Imperium. Dem drakanischen Volk ist es gelungen, ein Reich ohne Hunger und Leid zu errichten! Wir müssen mit allen Mitteln die Bedrohung durch die Vierfürstentümer für unser Volk aus dieser Welt schaffen! Wir haben noch viel zu tun.“ Der Nachtmeister hielt kurz inne. „Bevor wir gehen, beseitigt alle Spuren. Ich hoffe, dass die unwissenden Toren, die es zu uns geschafft haben …“ Einer der Schleicher verbeugte sich vor dem Nacht-meister und antwortete demütig: „Keiner hat mehr die Luft zum Reden.“ „Gut! Dann werden wir noch in dieser Nacht unser Lager abbrechen und uns zurückziehen. Ich hoffe, unser Bruder kann aus Flüsterstein fliehen … oder nimmt rechtzeitig sein Gift.“

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein Halgrimm sah sich voller Unbehagen um. Die kleine Audienzhalle, bekannt als die „Halle des Rechts“, war düster und kalt. Die Ecken waren erfüllt mit flatternden Schatten, hervorgerufen durch das Lichtspiel der Flam-men im Kamin und durch die vier eisernen Kohlebecken im Raum. Banner, Waffen aus Holz und Stahl, Schilde und Hörner an den Wänden wurden von den flackern den Feuern beschienen und zeugten von vergangenen Schlachten und Ruhm. Halgrimm betrachtete seine Mit-gefangenen, die wie er schon seit Stunden hier vor dem Richterstuhl warteten und der Anklagen harrten. Da waren vier Zwerge, die trotz ihres kleinen Wuchses mit ihrem breiten, kräftigen Körperbau und den grimmigen Gesichtern nicht zu übersehen waren. Der eine, den er schon als Kleriker erkannt hatte, sah immer wieder abschätzend zu ihm herüber. Dann waren da noch eine junge Magd, eine ältere Bauersfrau, ein nach Schafen stinkender Junge und zwei Stallknechte, die sich alle angsterfüllt umsahen. Vor den Versammelten stand, leicht erhöht auf einem steinernen Podest, ein gewaltiger Richterstuhl. Er war aus dunkler Eiche gefertigt, die man auf Hochglanz poliert und eingeölt hatte. Groß und ausladend waren seine Rücken- und Armlehnen, prächtig mit vielen Schnitzer-eien verziert. Vor dem Richterstuhl und an den Wänden hielten gerüstete Soldaten mit Schild und Speer Wache. An den beiden Doppeltüren hinter und gegenüber dem Richterstuhl standen zusätzliche Schildwachen und noch einige männliche und weibliche Elfen in ihren grauen Mänteln, die Halgrimm schon zur Genüge in dieser

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Nacht gesehen hatte. Leise flüsterten zwei dieser Elfen mit einem Scharführer der Wachen, ansonsten sprach niemand, und es war still bis auf das Knacken und Zischen der brennenden Scheite. Halgrimm war verwirrt von den Geschehnissen. Er hass-te es, unwissend zu sein, egal, ob es nun um magisches oder politisches Wissen ging. Hier in Flüsterstein ballte sich etwas Drohendes zusammen. Er meinte zu spüren, dass ein Wendepunkt erreicht war, doch ob für die freien Vierfürstenlande oder nur für sein eigenes Leben, ver-mochte er nicht zu sagen. Glücklicherweise war sein Kopf inzwischen wieder fähig, klare Gedanken zu fassen. Die Türen hinter dem Richterstuhl wurden aufgerissen. Fürst Nelda al Aldan trat mit energischen Schritten in den Saal, hinter sich im Gefolge eine bewaffnete Schar aus Rittern, Elfen und einfachen Soldaten. Als letztes trat ein alter, gebrechlich wirkender Mann in den weiten Roben eines Meisters vom Orden des Grauen Turms in die Halle. Lange graue Haare fielen auf einen feinen blauen Mantel, darunter trug er ein ebenfalls blaues Leinenhemd und eine passende Leinenhose. Ein weißer gut getrim-mter Schnurbart, der zu beiden Seiten des Mundes bis zum Kinn herunterlief, zierte das Gesicht. Halgrimm riss erstaunt die Augen auf, als er diesen alten Mann erblickte. „Meister Faban! Ihr seid hier?“ Fast ging Halgrimms Stimme im Lärm der Stiefel und Schritte der Gefolgschaft des Fürsten unter. „Aber wie kann das sein?“, kam es leise fragend aus dem Mund von Halgrimm, während seine Augen den alten Mann zum Podest verfolgten. „Es hieß, Ihr seid weit in den Norden gereist. Ich sollte doch hierherkommen, weil keiner unseres Ordens derzeit abkömmlich war.“

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Dann entdeckte der junge Adept Kev in der Menge der Begleiter des Fürsten, die sich zu beiden Seiten des Podestes verteilten. Der bemerkte den Blick und lächelte verkrampft und unglücklich Halgrimm zu. Der Fürst nahm mit grimmigen Antlitz auf dem Eichen-stuhl Platz. „Stellt Wachen vor den Türen und in den Gängen auf! Lasst niemanden hier rein! Ich will keine Störungen, nicht einmal wenn ein Dämon als Mönch aufgenommen werden möchte!“ Sogleich traten einige Soldaten und Elfen aus dem Saal vor die Flügeltüren und zogen sie hinter sich zu. Müde musterten die Augen des Fürsten die vor ihm stehenden Gefangenen, während er sein Kinn auf seine Hand stützte. Seine ersten Worte ließen alle vor ihm Stehenden bis auf die Zwerge erschrocken aufkeuchen. „Ihr alle habt heute Nacht dem Eisernen Thron gedient.“ Einer der Stallknechte fiel auf die Knie. „Aber mein Fürst, bitte! Ich habe doch nur eine Botschaft von Händ-lern für ein kleines Zubrot überbringen wollen. Was ist daran falsch gewesen?“ Die anderen außer Halgrimm und den Zwergen stimmten sogleich mit ein und beteuerten ihre Unschuld. Der Fürst erhob seine Hand. „Hört auf! Du!“, sprach Fürst Aldan den knienden Stall-knecht an, „Erzähl mir, wer dich für diesen Auftrag verdingt hat.“ „Ja, Herr. Es war ein fahrender Eisenwarenhändler, den ich in den letzten Jahren immer wieder mal in unserer Stadt gesehen habe. Er sagte etwas von einer Botschaft, die dringend noch heute Nacht einem Händler über-bracht werden müsste, der draußen vor der Stadt lagert. Er gab mir Silber für zwei Wochenlöhne. Ich hatte keine

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Ahnung, dass ich etwas anderes als einen Händlerbrief in meinen Händen hielt. Ich kann doch nicht einmal lesen.“ „Ja, so war es bei mir auch“, rief der Junge dazwischen, und gleichzeitig kam von den beiden Frauen: „Bei mir war es ganz ähnlich.“ Wotan trat an die Seite des Stallknechtes vor. „Fürst Aldan, bitte gewährt mir ein paar Worte. Ich bin Wotan vom Tiefstahl-Klan, Sohn des Hammerdin, des Corkaans vom Tiefstahl-Klan.“ „Sprecht.“ „Diese ehrenwerten Kaufleute aus meinem Volk haben mir zum Gefallen eine Arbeit gesucht, mit der ich meine Reisekasse wieder füllen sollte.“ Wotan wies auf seine drei Zwergengefährten. „Wir hatten keine üblen Absich-ten, und diese dort trifft keine Schuld. Ich war ihr Anführer und nehme die Verantwortung auf mich. Dieser Botengang wurde mir hoch entlohnt, und das war in der Tat auffällig. So auffällig, dass ich mich entschloss, nicht allein zu gehen und sogar den Brief zu lesen, um mich gegen Gefahr und Betrug abzusichern. Doch es war nichts in diesem Schreiben, was nicht Händlergerede gewesen wäre. Auch gab es sonst keine weiteren Gegen-stände, die wir überbringen sollten. Ich konnte somit kein Verbrechen ersehen und verstehe auch jetzt nicht, um was es hier geht. Vom Inhalt des Schriftstückes könnt Ihr Euch selbst überzeugen.“ Dann trat Wotan noch einen Schritt vor. Die schwer gerüsteten Ritter um das Podest herum zogen ihre Schwerter, und die Schildwachen traten vor Wotan, um einen Angriff abzufangen. Wotan ignorierte sie, ging auf ein Knie und schlug sich mit seiner Faust an seine Brust. Sein Kettenhemd klirrte.

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„Fürst Aldan, ich war mir keines Unrechts bewusst. Jedoch habe ich einen Eurer Männer erschlagen, da ich einen Überfall befürchtete, und stehe jetzt mit dieser Schuld vor Euch. Trotzdem wurden wir verschont, und dies danke ich Euch und rechne es Eurer Ehre an. Ich kann Euch nur meine Dienste anbieten, als Krieger und als Erdenbewahrer Toorns, um diese meine Tat zu sühnen.“ Fürst Aldan sah milde erstaunt den vor sich knienden Zwerg an. Auch Halgrimm vernahm verblüfft die Rede Wotans und sah, wie die anderen Zwergengefährten Wotans energisch und zustimmend zu diesen Worten nickten. Kurz sah der Fürst zu Meister Faban und kam dann anscheinend zu einem Entschluss. Er tauschte einen Blick mit einem der anwesenden Elfen, der bestätigend seinen Kopf langsam vorbeugte. Darauf-hin sprach er zu Wotan: „Erhebt Euch, Wotan vom Tiefstahl-Klan. Eure Worte sind gehört worden, und ich werde mich Eures Schwures erinnern.“ Der Burgherr richtete sein Augenmerk wieder auf die Gefangenen. „Ich glaube, dass tatsächlich keiner von euch wusste, was er tat. Es war eine kluge List der Drakaner, dass sie Un-wissende in ihre Machenschaften einbezogen. Ihr könnt gehen, aber seid euch bewusst, dass ab jetzt ein Auge auf euch alle gerichtet ist. Erdenbewahrer Wotan und Adept Halgrimm, mit Euch muss ich noch sprechen. Und auch mit Euch, Meister Kevan-aj.“ Kev verbeugte sich leicht vor dem Fürsten, während die Stadtbewohner erleichtert aufatmeten. Eilig gingen die Freigelassenen aus der Halle des Rechts hinaus und wurden dabei nicht unfreundlich von einigen Soldaten

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hinausgeleitet. Die meisten Wächter blieben im Saal, ebenso wie die grau gewandeten Elfen, die Ritter und Meister Faban. Als wieder Ruhe in der Halle eintrat, winkte Fürst Aldan dem alten Magier zu. „Verehrter Großmeister Faban, bitte erzählt doch den nun Anwesenden das Ergebnis Eurer Untersuchung der Schriftstücke, die diesen ganzen Aufruhr heute Abend verursacht haben. Sprecht frei heraus, alle Anwesenden sind entweder Eingeweihte der Blauen Rose oder werden es bald sein.“ Sein Blick wanderte zu Wotan und Kev. Wotan nickte nur bei diesen Worten. Kev zog die Augenbraun hoch, und in seinem Gesicht spiegelten sich unzählige Gefühle wider. ‚Blaue Rose?‘, schoss es fragend durch Halgrimms Gedanken. ‚Fürst Aldan hat doch abgestritten …‘ Halgrimm sah sich verdattert um, dann schlich sich langsam Erkenntnis in die Augen des Adepten. „Ja, natürlich besteht diese Organisation tatsächlich. Und was liegt näher, als einen der besten Strategen der Vier-fürstentümer in diese zu integrieren, zumal er ja auch noch eine der wichtigsten Grenzmarken hält“, sagte er laut zu sich selbst. „Nuuun, mein Junge …“ Großmeister Faban setzte ein strenges Lehrergesicht auf. Seine tiefe Stimme klang älter und schwächer, seit Halgrimm sie das letzte Mal gehört hatte. „… zu guter Letzt hast du ja doch noch deinen Verstand benutzt und einiges begriffen. Deine Anwesenheit hier diente der Ablenkung. Es sollte nicht bekannt werden, dass ein Großmeister des Ordens sich in Flüsterstein aufhält. Als aber die Steinstatue gefunden wurde, ist allgemein erwartet worden, dass jemand vom Orden des

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Grauen Turmes sich darum kümmern würde. Nach außen hin musste der Schein gewahrt werden, denn wir vermuteten drakanische Schleicher in der Stadt. Also wurden Botschaften geschickt, die einen Magier anfor-derten, damit ich mich nicht offenbaren musste. Ich hoffe, es ehrt dich, wie viel mir daran lag, dass man dich hierhersandte.“ „Es wundert mich, Meister Faban. Ihr habt mich vor vier Monden das letzte Mal unterrichtet und wisst doch um meine Besonderheiten.“ „Sagen wir mal, dass dein Fall mich sehr interessiert und meine Verantwortung als Mentor anspricht. Außerdem, nach allem, was du so anstellst, fühle ich mich einfach wohler, wenn ich ein Auge auf dich habe. Über die Rückverwandlung der Statue sprechen wir noch, mein Junge! Aber dazu später …“ Der Großmeister wandte sich mit etwas lauterer Stimme nun an alle Anwesenden. „Ich möchte kurz einen Abstecher in unsere Geschichte machen“ – Halgrimm stöhnte leise auf – „und durch diese Ausführungen allen hier die Tragweite der jüngsten Entdeckung klarmachen.“ Faban guckte tadelnd zu Halgrimm, räusperte sich und fuhr mit gelehrsamer Stimme fort. „Seit der Besiedlung von Tepor kam vor allem ein Mann immer wieder in den Schriften vor. Ein kluger und mächtiger Magier namens Abusan. Da er die Gabe der Zauberei hatte, war er natürlich ein Mensch, denn nur diesen ist es gegeben, Magier zu werden.“ „Verzeiht meine Unterbrechung, aber das verstehe ich nicht“, warf ein Elf ein. „Elfen, Zwerge oder Gnome werden doch von den Behütern als Priester erwählt. Und

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die Priester können die Macht lenken. Sind sie dann nicht ebenfalls eine Art Magier?“ „Nein. Ein Kleriker kann die Schöpfungsmacht nicht nach eigenem Ermessen formen. Ihre Zauber sind immer gleich und werden von den Behütern übergeben. Ein Magier ist frei in seiner Gestaltung der Macht, unge-bunden in dem, was er tut. Priester und Magier sind demnach nicht zu vergleichen.“ Für Wotan klang das zu seinem Ärger alles sehr einseitig. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und platzte dazwischen: „Ihr habt vergessen, die kleine Tatsache zu erwähnen, dass es nur Priestern durch das Eingreifen der Behüter möglich ist zu heilen und Magier da jämmerlich versagen.“ Irritiert sah sich Faban zu dem Erdenbewahrer um. „Nun ja. Da habt Ihr recht. Verzeiht, Erdenbewahrer, ich wollte nicht die einen über die anderen stellen. Magier wie Priester haben ihre Stärken und Schwächen.“ Kurz sammelte sich der alte Ordensmeister und wandte sich wieder allgemein den Versammelten zu. „Warum es auch immer dem Schöpfer gefallen hat, er verlieh die Gabe der Zauberei nur den Menschen. Dafür wählen die Behüter Priester nur aus den anderen Völkern aus. Aber zurück zu unserem Thema: Weder Magiern noch Priestern ist es trotz ihrer Macht gegeben, ihre Lebensspanne zu verlängern.“ Dramatisch streckte der alte Zauberlehrer bei seinem nächsten Satz seinen Finger in die Höhe. „Hier kommen wir zur Ausnahme Abusan. Es ist nie herausgefunden worden, wodurch er seine Langlebigkeit erreichte. Er war angeblich schon bei dem Übergang auf diese Welt gegen-wärtig und lebte viele Jahrhunderte, also weit über die normale Lebensspanne eines Menschen hinaus. Dieser

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Hexer war leider nicht nur genial, sondern auch macht-besessen. Lange Zeit beeinflusste er unsere junge Ge-schichte zum Schlechten für alle frei lebenden Wesen. Viel hat er in der arkanen Kunst erforscht und erschaf-fen: machtvolle Zauber und magische Artefakte von großer Kraft.“ „Für einen so kurzlebigen Menschen haltet Ihr aber lange Reden über bekannte Gegebenheiten“, rief frech ein drahtig gebauter Elf mit einem gutmütigen Grinsen dazwischen. Alle Elfen und die meisten der Soldaten lachten oder schmunzelten über den Scherz. Faban lächelte geduldig dem Schelm zu und erwiderte: „Elfen und ihre Ungeduld! Guter Olagrion, lasst doch einem alten Narren seinen Auftritt. Außerdem sind es eben nicht allen bekannte Begebenheiten. Viele haben nicht das tiefe Wissen über die Geschichte wie Ihr Elfen. Ihr werdet meine Stimme noch ein wenig ertragen müssen, fürchte ich. Also, dieser Abusan hatte sich im Laufe seines Lebens mehrere geheime Rückzugsorte erschaffen, in denen er seinen Forschungen nachging. Jedenfalls steht dies in manchen Aufzeichnungen ver-gangener Zeiten, nie ist aber so ein Ort entdeckt worden. Um zum Höhepunkt zu kommen: Es scheint so, als hätten die Drakaner eine Spur zu einem der Verstecke Abusans gefunden. Ich hoffe, es ist jedem der hier Versammelten klar, welch schreckliche Konsequenzen daraus folgen.“ Eine eisige Stimmung erfasste die Zuhörer, und die Düsternis der Halle war auf einmal unheilvoll. Die zuvor anwesenden Laute der Heiterkeit erstarben in Stille. „Ja, mit dem Wissen und den Artefakten Abusans würden die Drakaner eine ungeheure Machtfülle erlang-en. Das Kräftegleichgewicht zwischen den Vierfürsten-

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landen und dem Eisernen Thron wäre dahin, und wir würden besiegt und unterworfen werden“, fasste ein Ritter mit Namen Wasmut zusammen. Der alte Magier nickte mit ernster Miene und holte tief Luft. „Das ist mit Sicherheit zu befürchten. In dieser Nacht haben Schleicher der Drakaner versucht, eine Botschaft aus der Stadt zu schmuggeln. Sie benutzten dafür mehrere unwissende Bürger Flüstersteins und brachten sie unter falschem Vorwand dazu, ein Perga-ment aus der Stadt zu tragen. Wir haben insgesamt sechs Boten abfangen können, und daran waren einige von Euch beteiligt.“ Faban nickte der Gruppe anmutiger Elfen und dann einigen Soldaten zu. Olagrion, der den Elfen vorstand, berührte mit seiner Rechten seine Stirn und ließ dann die Hand leicht wie zum Gruß in Richtung Faban wandern. „Auf den Pergamenten steht ein unbedeutender Text, der in Wahrheit aber eine weitere, verschlüsselte Nachricht enthält. Glücklicherweise hat der Orden der Blauen Rose nach Jahren voller Mühen vor einigen Wochen die Geheimschrift der drakanischen Schleicher entziffern können. Und dadurch konnten wir heute Nacht den wahren Inhalt des Textes erkennen. Es gab ausgerechnet hier in Flüsterstein einige Hinweise auf einen alten Aufenthaltsort Abusans. Alte Zeichen, die auf dem steinernen Boden eines Weinkellers gefunden wurden, lieferten eine Beschreibung, wie ein Laboratorium tief im Moranion-Wald gefunden werden kann.“ Etwas eingeschüchtert von den hohen Herrschaften in der Halle fragte Halgrimm leise: „Ist das nicht sehr seltsam? Abusan war bestimmt nicht so unvorsichtig oder dumm, Hinweise auf einen seiner Rückzugsorte zu hinterlassen.“

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„Ein guter Einwand“, entgegnete Meister Faban mit einem anerkennenden Nicken. „Die Zeichen stammen vielleicht von einem Diener, der ihn verraten hat. Oder sie führen in die Irre und sind wertlos. Aber selbst wenn sie in eine alte Falle führen, die Abusan für Feinde gelegt hat, müssen wir jedem Hinweis nachgehen. Es wäre nichts schlimmer, als wenn die Drakaner eine For-schungsstätte Abusans fänden.“ „Wie kommt es, dass der Eiserne Thron davon Kenntnis erlangt hat?“, meldete sich ein kleiner, kräftiger Ritter in einem abgenutzten Brustpanzer zu Wort. „Darüber kann man nur mutmaßen, Rittmeister Jotar“, antwortete Fürst Aldan. „Die Drakaner haben ihre eigenen Schriften und Mythen. Vielleicht konnten sie aus diesen Quellen Erkenntnisse gewinnen, die uns nicht zur Verfügung standen. Wichtiger ist für uns, ob die Schleicher des Eisernen Throns ihre Erkenntnisse aus der Stadt schmuggeln konnten. Zwar haben wir sechs Mit-teilungen abfangen können, aber ob das alle waren oder noch mehr auf den Weg geschickt wurden, bleibt im Ungewissen.“ „Wir müssen wohl vom Schlimmsten ausgehen!“, erklang die ernste Stimme eines alten Ritters. Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Versammelten. Olagrion erhob seine klare, ruhige Elfenstimme: „Der Eiserne Thron wird schnell reagieren und einen Erkun-dungstrupp in den Moranion-Wald entsenden. Was die Drakaner nicht ahnen, ist, dass wir durch die Ent-schlüsselung der Nachricht nun ebenfalls Kenntnisse von Abusans Laboratorium haben. Es wird zu einem Wettlauf werden, ob unsere Gruppe oder die der Drakaner diesen Ort als Erstes erreicht.“

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Der Fürst wandte sich an Kev. „Meister Kevan-aj, könnt Ihr uns mehr Einblicke in die Handlungs- und Denk-weisen der drakanischen Schleicher geben?“ „Ich … ich würde gern. Seid versichert, die Drakaner sind mir zutiefst verhasst durch das, was sie mir angetan haben. Leider wurde ich, damit sie meiner sicher sein konnten, oft für lange Perioden in Stein verwandelt. Ich bekam dadurch nur geringfügige Einblicke bei den Schattenläufern. So werden die Schleicher von den dra-kanischen Soldaten genannt: die Schattenläufer.“ „Versucht es. Jedes noch so kleine Wissensbröckchen hilft.“ „Mein Eindruck von den Schattenläufern – nun gut. Diese handverlesene Einheit steht direkt dem obersten Rat zu Diensten und bekommt nur von diesem Befehle. Sie sind eine effektive, fanatische Organisation, die vor keiner Handlung zurückschreckt, selbst wenn es sie das Leben kosten könnte. Sie haben sich ganz und gar dem Imperium verschrieben. Wenn wirklich alle Pergamente mit einer so wichtigen Nachricht von Euch abgefangen wurden, wäre es für mich sehr verwunderlich, dass Flüsterstein nicht schon von Kampfeslärm widerhallt. Selbst wenn es nur wenige Schattenläufer wären, würden sie ihr Leben einsetzen, um doch noch irgendwie diese Informationen zu ihren Führern zu bringen.“ Kev schien unsicher zu werden und besann sich kurz, bevor er weiter redete: „Noch etwas möchte ich zu bedenken geben. Einsätze der Schattenläufer sind sehr gut organisiert. Sie rechnen oft mit dem Schlimmsten und haben immer mehrer Notfallpläne. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sogar befürchten, dass die Geheimbotschaft gelesen werden könnte. Geht besser davon aus, dass mehrere Erkundungstrupps schon in verschiedenen Landstrichen

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bereitstehen und nur auf einen Befehl per Rabenpost warten, um einen beschriebenen Zielort zu suchen.“ Ritter Jotar schlug zornig seine Faust auf die Handfläche seiner Linken. „Beim Abgrund, ich habe gehofft, wir könnten rasch den Pass von der Flüstermark zum Imperium der Drakaner mit einem Heer besetzen und sperren. Damit hätten wir verhindert, dass ein Suchtrupp unsere Länder schnell erreichen kann. Die Reise über einen anderen Pass wäre um viele Wochen länger gewesen.“ Olagrion äußerte dazu: „Dann müssen wir noch in dieser Nacht handeln. Mein Fürst, schickt umgehend die Waldläufer der Blauen Rose los. Meine Elfenschar wird Euch unterstützen und ebenfalls mitkommen. Das wird ein ernster Wettlauf, und der Siegespreis ist unsere Freiheit.“ „Ich und meine Mannen werden auch mitziehen!“, rief ein Ritter links von Olagrion. Andere Stimmen fielen mit ein. Der alte Fürst hob seine Hand. Nach und nach wurde es wieder ruhig im Saal. Stumm saß der Fürst auf seinem gewaltigen Richterstuhl und war in Gedanken versunken. Den Umstehenden wurden die Augenblicke lang und länger, in denen sie auf die Befehle ihres Anführers warteten. Schließlich richtete Fürst Aldan sich auf, und in seinem Gesicht spiegelte sich Entschlossenheit wider. „Jotar, nehmt Eure ganzen Pferdekämpfer und jeden Ritter, den Ihr auftreiben könnt, und reitet noch heute Nacht zum Scheidepass. Beeilt Euch, den Pass so schnell wie möglich zu erreichen. Setzt Euch dort fest und haltet ihn, bis ich mit meinem Heer nachgekommen bin.“

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„Aber Herr, was hat das für einen Sinn? Wir haben doch eben noch gehört, dass in den Landen der Vierfürsten-tümer schon drakanische Suchtrupps verweilen.“ „Ich habe überlegt, was ich an der Stelle der drakanischen Führer machen würde – unter den Voraussetzungen, die Meister Kevan-aj zu bedenken gab. Ich würde versuchen, meinen Suchtrupps so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, und verhindern, dass mein Feind verfol-gende Einheiten hinter ihnen herschickt. Den Feind beschäftigen und seine Kräfte binden.“ Fürst Aldan erhob energisch seine Stimme. „Hört mir gut zu! Ich bin davon überzeugt, dass, sobald der Eiserne Thron unterrichtet ist, Flüsterstein angegriffen wird. In dieser Geschichte sind uns die Drakaner die ganze Zeit voraus. Wir müssen verhindern, dass sie uns hier in Flüsterstein mit einem Heer einschließen, sonst sind nicht nur unsere Kräfte gebunden. Unsere Sucher könnten bei einem erfolgreichen Auffinden von Abusans Versteck ihren Fund nicht mehr nach Flüsterstein bringen, da die Drakaner die Kontrolle über Landstriche vor dem Moranion-Wald hätten. Eine lange Jagd auf unseren Trupp wäre die Folge und er hätte kaum Aussichten die nächste Stadt zu erreichen. Ihr, Jotar, sollt dieser feind-lichen Armee den Weg abschneiden. Ich weiß, ich ver-lange viel von Euch und Euren Männern. Der Pass ist eng; Ihr könnt ihn für eine kurze Zeit gegen überlegene Streitkräfte halten. Ich werde unseren Heerestross so schnell vorantreiben, wie es nur geht, um die Zeit, die ihr den Pass allein halten müsst, zu verkürzen.“ „Dann haben wir aber kaum noch Soldaten, die wir in den Moranion-Wald entsenden können“, wandte ein Ritter ein.

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„Ich weiß. Hier kommt es aber auf Schnelligkeit an, und große Einheiten von Soldaten kommen nur langsam voran. Eine kleine, erfahrene Einheit wird im Moranion-Wald mehr Erfolg haben. Vor allem wird diese Einheit die Unterstützung der Macht benötigen. Schließlich geht es zum Unterschlupf eines paranoiden Magiers, der seine Behausungen extrem gesichert hat. Großmeister Faban, ich möchte Euch bitten, die Expedition in den Moranion-Wald zu begleiten, wenn dies trotz Eures Alters für Euch möglich ist.“ „Es muss möglich sein, wie Ihr schon richtig erkannt habt. Ich werde mitgehen. Halgrimm al Noschura soll mich begleiten und mir helfen.“ Fürst Aldan atmete auf und fasste nun Wotan fest ins Auge. „Wotan vom Tiefstahl-Klan, seid Ihr bereit, Euren Schwur einzulösen? Ich hätte gern einen Kleriker mit seinen heilenden und schützenden Kräften bei der Expedition. Ihr seid der einzige Geweihte, den ich momentan zur Hand habe.“ Wotan schlug sich mit der Faust auf die Brust; sein Kettenhemd klirrte. „Ein Erdenbewahrer hält sein Wort. Aber selbst wenn ich Euch nicht verpflichtet wäre, würde ich bei dieser Sache helfen. Unser aller Freiheit steht auf dem Spiel, und wir müssen zusammenhalten.“ „Habt Dank, Erdenbewahrer. Eure Teilnahme erleichtert mein Herz. Olagrion, auch Euch würde ich gern bei diesem Wettlauf mit dabei wissen. Wählt noch drei weitere aus Eurem Gefolge die ihr für besonders Fähig haltet. Vier Waldläufer von der Blauen Rose sollen dann die Gruppe vervollständigen. Nehmt nur so viel an Ausrüstung mit, dass Ihr schnell zu reisen vermögt.“

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Der Elf berührte als Zeichen seines Einverständnisses mit der Hand seine Stirn und beugte leicht den Kopf. „Ich möchte mich dem Trupp anschließen.“ Kev trat aus der Menge zum Richterstuhl vor. „Meine Fähigkeiten als Wechselbalg könnten der Gruppe sehr nützlich sein.“ „Ein Wechselbalg?“, rief Olagrion aus. „Ist das wirklich wahr? Schon lange hörte unser Volk nichts mehr von diesen seltsamen Wesen.“ „Ja, ich bin ein Wechselbalg. Zwar bin ich noch jung und muss noch vieles erlernen, glaube aber, dass ich helfen kann.“ Fürst Aldan musterte Kev längere Zeit und dachte nach. Halgrimm trat neben Kev. „Fürst Aldan, Ihr überlegt, ob wir Kev trauen können. Mein Herz sagt mir, dass er vertrauenswürdig ist, und ich würde ihn gern dabeihaben. Das alleine soll aber nicht den Ausschlag geben. Ich möchte Euch an die Ereignisse der heutigen Nacht erinnern. Meister Kevan-aj hat Eure Schleicher, ohne dass sie es bemerkten, die ganze Zeit verfolgt. Nicht einmal unsere Elfenfreunde, denen normalerweise nichts Ungewöhnliches entgeht, haben ihn bemerkt. Als er sich zu erkennen gab, um mich zu warnen, konnte ihn keiner fangen. Wenn Meister Kevan-aj gewollt hätte, wäre er längst auf und davon. Ich glaube ihm, dass er gegen seine einstigen Peiniger kämpfen will.“ Das Gesicht von Kev erstrahlte vor Freude, und er lächelte leicht verlegen zu Boden. Fürst Aldan seufzte schwer. „Auf Euer argloses Herz möchte ich mich nicht verlassen. Aber an Eurem Argument ist etwas Wahres dran. Was sagen die anderen Mitglieder der Expedition? Wären alle einverstanden?“ Die Elfengesellschaft beriet sich kurz, dann sprach Olagrion für die Elfen: „Wir kennen den Wandler nicht

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von seiner inwendigen Gestalt. Wir vertrauen aber dem Urteil von Halgrimm al Noschura, wenn auch sein verehrter Lehrer, Großmeister Faban, ihm zustimmt.“ „Nuuun, dann will ich mich gleich dazu äußern. Ich habe heute das erste Mal mit Meister Kevan-aj gesprochen, als er bei der Gefangennahme von Halgrimm zum Fürsten eilte, um Hilfe zu holen. Allein diese Handlung aus Sorge um einen Gefährten sagt mir einiges. Durch Fürst Aldan erfuhr ich auch von seinem schlimmen Schicksal bei den Drakanern. Es kann natürlich sein, das all dies eine geschickt eingefädelte Täuschung vom Eisernen Thron ist. Ich für mein Teil glaube daran aber nicht. Zu viel spricht dagegen, dass Meister Kevan-aj jahrelang indoktriniert und den Drakanern hörig wurde. Ich bilde mir ein, dass ich dies erkennen würde. Zudem sind seine Fähigkeiten für uns von unschätzbarem Wert.“ Gütig besah Faban Kev. „Manchmal muss man Vertrauen wagen. Ich möchte ihn mitnehmen.“ „Dann werde ich derjenige sein, der ein Auge auf ihn hat.“ Wotans dunkle Stimme durchdrang den Saal. „Wenn er einen Schwur vor dem ewigen Schöpfer leistet, uns zu helfen und die Drakaner zu bekämpfen, dann bin auch ich mit seiner Teilnahme einverstanden.“ Wotans Augen blickten direkt in die Augen von Kev, der nur wenige Meter neben ihm vor dem Podest stand. Der junge Wandler starrte trotzig zurück. Sein Gesicht wurde rot. „Dann will ich schwören, beim ewigen Schöpfer – ich werde der Blauen Rose dienen und die Drakaner bekämpfen, so gut ich es vermag.“ Fürst Aldan stand von seinem Stuhl auf. „Also gut, so sei es. Damit hätten wir vortreffliche Krieger zusammen – und dazu noch drei, die mit der Macht umgehen können.

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Dann sollten wir jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Wir haben noch eine lange Nacht vor uns und müssen uns sputen. Die Expeditionsgruppe sowie Ritter Jotar und seine Pferdekämpfer müssen vor dem Morgengrauen auf dem Weg sein. Mögen die Behüter Euch alle bewahren.“ Die Türen wurden von den Wachsoldaten aufgetan, und die Versammlung löste sich in Windeseile auf. Manche Ritter gaben schon im Gang Befehle an dort verweilende Soldaten aus. Kev und Halgrimm gingen gemeinsam hinaus. Der Adept dankte Kev für seine Fürsorge in dieser Nacht, und aufgeregt unterhielten sie sich über die Geschehnisse. Der Fürst trat nah an Faban heran und flüsterte: „Bitte sorgt dafür das Eurer Ordensbruder, Meister Dukarran, zu mir gebracht wird. Ja, auch wenn es ihm so schlecht geht, dass er nicht mal mehr laufen kann. Er darf auf keinen Fall gesehen werden! Ich muss umgehend einiges mit ihm besprechen. Und bringt auch Wotan heimlich die Weisung, dass er gleich noch einmal allein zu mir kommen soll.“ Der alte Lehrer vom Grauen Turm ließ mit keiner Miene erkennen, dass er irgendetwas gehört hatte. Er machte sich auf, ohne den Fürsten anzusehen, und verließ die Halle. Nach einigen nachdenklichen Augenblicken erhob Fürst Aldan fordernd seine Hand. Sogleich trat aus einer Ecke hinter ihm sein persönlicher Diener hervor und verbeugte sich vor ihm. „Herr, was ist Euer Wunsch?“ „Nebkar, diese Sache möchte ich nur dir allein anver-trauen. Bereite noch heute Nacht unauffällig eine Reise mit einigen Soldaten zum Grauen Turm vor. Nimm dafür einen Reisewagen. Gehe in Dukarrans Gemächer, ziehe

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Kleider von ihm an und lass dich dann von dort mit einer Bahre zum Wagen tragen. Keiner darf dein Gesicht sehen, und nicht einmal die begleitenden Soldaten sollen wissen, dass es nicht Dukarran ist, den sie bewachen. Reise zwei Wochen lang zum Orden der Magier und komm dann zurück.“ „Herr, ich werde alles diskret vorbereiten.“ „Ich weiß, Nebkar. Ein Grund von vielen, warum ich dir dies überlasse. Eile jetzt aber erst dem jungen Kevan-aj hinterher und sag ihm, ich habe noch etwas mit ihm zu besprechen.“ Der Diener verbeugte sich und ließ den Fürsten allein zurück. Ein scharfer Windzug ging durch die Halle des Rechts. Drohend loderten die Flammen in den Kohlebecken auf, die mit wildem Zucken den wartenden Regenten in seinem Richterstuhl beschienen. Unheilvoll zeichnete sich Fürst Aldans einsame Gestalt in diesem Feuerschein ab, so unheildrohend wie die Sorgenfalten auf seiner Stirn.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark Zwei Stunden vor Morgengrauen ritten zwei Gruppen aus den Toren von Flüsterstein. Die kleinere Schar umfasste zwölf Leute und ritt nach Süden. Aus dem Osttor zogen zweihundertfünfzig berittene Krieger, die ihre Pferde im leichten Galopp Richtung Felmongebirge laufen ließen. Die Soldaten führten viele Packpferde mit zusätzlichem Gepäck mit. Sie selbst waren nur mit leichten Lederrüstungen ausgestattet, und jeder hatte an Waffen nur ein Schwert und einen Bogen dabei. Ritter Jotar führte diesen Trupp an. Neben ihm ritt ein kleiner Gnom, der ziemlich jämmerlich auf seinem großen Kriegsross auf und ab geschleudert wurde. Seine großen, spitzen Ohren hingen bekümmert mit den Enden herab, und seine Augen waren weit aufgerissen. „Oh weh, welch jämmerliche Figur gebe ich gerade ab! Ich muss schon sagen, sosehr ich unseren Fürsten auch verehre, aber Gnome und Reiten ist eine dumme Idee. Das verträgt sich einfach nicht.“ „Ach, Quarus, du hältst dich wirklich nicht schlecht … na, für einen gnomischen Gelehrten zumindest“, ertönte es lachend neben dem Unglücklichen. „Ja, ja, du hast gut lachen, du zu groß geratener … Troll.“ „Es heißt: du zu klein geratener Troll.“ „Ach was“, schnaubte der Gnom. „Jetzt werde ich auch noch von einem Ritter in der Redekunst belehrt. Wie viel schlimmer kann es noch werden?“ Jotar versuchte noch, es zu unterdrücken, doch dann platzte wieder sein polterndes Lachen aus ihm heraus. „Ich bin sehr froh, mein Freund, dass dein kluger Kopf uns begleitet“, brachte er nach Luft ringend hervor.

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„Wäre ich wirklich klug, dann läge ich jetzt in meinem Bett, statt auf einem Pferd zu sitzen!“ „Sei beruhigt. Wir werden nicht mehr lange galoppieren. Damit die Pferde sich nicht verausgaben, werden wir abwechselnd Schritt reiten, dann neben den Pferden hergehen und sie anschließend wieder ein kurzes Stück rennen lassen.“ „Ja, wirklich? Dann werde ich mich also nur ein Drittel der Zeit als lächerlichster Gnom von Flüsterstein fühlen. Aber im Ernst, ich glaube, der Meister vom Grauen Turm in der Mitte des Zugs wird viel entscheidender sein als ich.“ „Sag das nicht! Jeder mit seinen Fähigkeiten wird gebraucht, und einem Magier gehen die Kräfte beim Zaubern genauso aus wie jedem Krieger beim Kämpfen. Die richtigen Einfälle zur rechten Zeit entscheiden ganze Schlachten.“ „Hoffentlich ist bei der ganzen Rüttelei mein Kopf noch dazu in der Lage, sich etwas auszudenken. Jetzt weiß ich, warum ihr Ritter immer so mutig in die Schlacht zieht. Bei einem ständig durchgeschüttelten Kopf muss man ja ganz verrückt werden.“ Jotar grinste gutmütig über die Unverschämtheiten des Gnoms. „Dann habe ich noch Hoffnung, dass du deine Tapferkeit bis zum Erreichen des Scheidepasses finden wirst. Und so wie du reitest, wirst du mutiger als wir alle zusammen sein.“ Die Kabbelei zwischen ihnen ging noch viele Stunden weiter, bis der Morgen graute und sie ihres Spieles sprichwörtlich müde wurden. Jotar lies seine Reiter-kämpfer ohne Pause weiterziehen, und es ging Stunde um

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Stunde voran, immer im Wechsel von Galopp, Schritt und zu Fuß die Pferde führend. Das Landschaftsbild einer bewohnten Gegend mit Ackerbau und auf-geforsteten Wäldern veränderte sich zunehmend zu wildem Mischwald. Das Land wurde hügelig, und die alten Kastanien, Birken und Eichen, die hier gediehen, standen mit viel Raum für Farn und Gestrüpp vonein-ander entfernt. Reichlich Sonnenlicht durchdrang das Blätterdach und ließ Gras und Ampfer, Farn und Waldblumen zu einer üppigen grünen Schicht am Boden gedeihen. Längst waren die Gespräche unter den Mannen ver-stummt. Durch die Anstrengung beugten sich immer mehr Köpfe von Mensch und Tier. In der Ferne rückte das allgegenwärtige Felmongebirge immer näher, welches den gesamten Horizont vor der Kriegerschar einnahm. Als der Abend anbrach, befanden sie sich bereits tief in den Gebirgswäldern, die sich unmittelbar unter dem Scheidepass befanden. Erst hier ließ Jotar bei einer Lichtung Rast machen und wies seine Männer an, zu essen und zu schlafen. Die Pferde wurden abgesattelt, und bald brannten mehrere kleine Lagerfeuer, an denen sich die Reiter in Gruppen sammelten und heißen Tee tranken. Quarus machte nach diesem Ritt gar keine langen Umstände und ließ sich gleich neben seinem Pferd zu Boden sinken. Breitbeinig und mit einem letzten Grunzen schlief er an Ort und Stelle ein. Sein Schlaf währte nur wenige Stunden. Noch in derselben Nacht befahl Jotar die Weiterreise. Diszipliniert machten sich die müden Krieger bereit. Nachdem Jotar sich davon überzeugt hatte, dass der Aufbruch reibungs-los verlief, ging der Ritter zum schnarchenden Quarus,

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um ihn zu wecken. Ein lautes Toben und Schimpfen ertönte, und die umstehenden Männer blickten sich ver-wundert um: Quarus wurde wach. Es gab einen wenig benutzten Sandweg, der die Hügel hinauf zu den Bergen und zum Pass führte. Wegen der Dunkelheit und des steinigen Pfads gingen alle Krieger zu Fuß. Beim ersten rot strahlenden Morgenlicht ritten sie im Trab, immer höher hinauf, bis der Weg nur noch in Serpentinen die Anhöhe erklomm. Seit dem Erreichen der Gebirgswälder war die Luft deutlich kühler geworden. Nun wurden die Temperaturen mit steigender Höhe noch niedriger. Hoch über sich sah Quarus fröstelnd zwei gewaltige Berggipfel. Die Spitzen waren weiß verschneit, und sie schienen ihm fast an das dunkle Firmament zu stoßen, so hoch stiegen sie empor. Das himmlische mit weißen Flecken durchsetzte Blau der Morgenstunden war einer grauen Wolkendecke gewichen. Der Weg wurde so steil, dass alle abgestiegen waren und neben ihren Pferden gingen. Quarus hätte nie gedacht, dass er sich jemals über einen unwegsamen Pfad freuen würde, und rieb sich beim Gehen seinen schmerzenden Hintern. Der Weg war schmal, und es konnten höchstens zwei Männer neben-einandergehen, und so entstand ein langer Zug. Quarus hatte sich mittlerweile etwas von seiner Müdigkeit erholt und atmete tief die frische, kalte Gebirgsluft ein. Da sie zu Fuß gingen, fühlte er sich wieder wohl und hatte Muße, sich umzusehen. Weit konnte er von dieser Höhe in die Ferne blicken, auf die urtümlichen Kiefern und Fichten unter ihnen und die lichten Waldhügel, die sie am Tag zuvor durchquert hatten. Wie eine dünne braune Schnur erblickte er hier und da zwischen dem grünem Blätterdach ein Stück des Weges, auf dem sie gereist

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waren. Um sich herum fand Quarus nur noch wenige kleine Bäume vor, dafür mehr dicht an den Boden gedrängte Büsche und drahtiges Gras zwischen Steinen und Fels. Immer wieder hob er neugierig Blätter und mit Flechten bewachsene Steine auf. Viele davon steckte er in seinen Rucksack. Jotar beobachtete still das Tun des Gnoms und schüttelte immer wieder erneut erstaunt den Kopf. „Wir sind bald auf dem Passweg, Männer. Es wird noch kälter werden. Wir machen kurz halt, und alle sollen ihre warme Kleidung anziehen. Gebt das nach hinten weiter“, befahl der Ritter. Einige Stunden später, gegen Abend, erreichte die Reiterschar einen breiter werdenden Pfad, der auf den Bergsattel zwischen den beiden Gipfeln führte. Als sie diesen Weg erklommen hatten, standen sie am Anfang eines Torweges, der in ein Tal mit Stoppelgras hinab-führte, in dem verstreut vereinzelte mannshohe Stein-blöcke lagen. Der Durchlass im Fels war nur wenige Pferdelängen breit und lang. Das Tal, das sich hinter diesem Tor eröffnete, war klein und schmal. Auf der gegenüberliegenden Seite konnten sie den Ausgang er-kennen, der in eine tiefe, sich verengende Schlucht hineinführte: der andere Zugang des Passes in Richtung des Imperiums. Quarus blickte sich ängstlich um. „Haben wir es ge-schafft? Oder sind die Drakaner schon hier?“

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Welt Tepor, Drakanisches Imperium, Vorgebirge des Felmonmassivs – Burg Krähenwacht Ein Rabe schoss aus milchweißen Wolken mit angelegten Flügeln steil zu einem Berghang hinab. Leicht veränderte sich sein Flug und richtete sich auf eine kleine Burg, die sich an die Flanke dieses Berges schmiegte. Die Festung wirkte mit ihren Bauten zusammengedrängt und verwinkelt und besaß nur einen hohen Turm an einer Mauerecke. Als er nah an den Turm herankam, breitete der Rabe seine Flügel aus und fing seinen Sturzflug ab. Elegant kreiste er, immer langsamer werdend, zweimal um die Turmspitze herum. Mit einem letzten Flügelschlag segelte er durch eine offene Fensterluke. In der Turm-spitze begrüßten ihn unzählige Krächzrufe von anderen Raben, die im Halbdunkel auf verschiedenen Stangen und Holzbalken saßen. Kaum hatte er sich auf einer Stange niedergelassen, kam auch schon ein schmutziger Junge aus einer Ecke von einem Strohhaufen auf ihn zuge-sprungen. Mit geübten Handgriffen entwand der Junge dem Bein des Raben eine Holzhülse. Eilig rannte er aus dem Turmhorst die steile Treppe hinunter, um die Botschaft schnellstmöglich zu überbringen. Mit einem bestickten Taschentuch wischte sich Hohe-priester Laukim den Mund. Er hatte soeben im kargen Burgsaal von der Bergfeste Krähenwacht sein Mittags-mahl beendet. Der elfische Hohepriester pflegte allein zu speisen. Diener waren die einzigen Personen, die er bei einem Mahl ertragen konnte, denn Diener schwiegen und machten keinen Lärm. Die Saaltür sprang auf. Mit starren Schritten kam ein Offizier im Rang eines Kut Or herein, trat vor den

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Hohepriester und kniete mit vor der Brust verschränkten Armen nieder. „Möget Ihr lange leben, mein Feldherr und hoher Urkorr-gaan.“ Laukim winkte knapp mit seiner Linken. Darauf erhob sich der Kut Or, ging einen Schritt vor und reichte über den Tisch hinweg ein langes, schmales Stück Pergament. „Die Nachricht, auf die wir gewartet haben, Herr. Direkt vom Eisernen Thron.“ Laukim nahm die Botschaft entgegen und las den Inhalt sorgfältig durch. „Du dienst noch nicht lange in meiner Schotahr. Dein Name war Rewkar, nicht wahr?“ „So ist es, Herr.“ „Rewkar, du bist mir verantwortlich dafür, dass unser Heerestross innerhalb von drei Stunden zum Abmarsch bereit ist. Sag meinen Hauptmännern, sie sollen sich unverzüglich bei mir einfinden, und es sollen die Land-karten für den Scheidepass und Flüsterstein gebracht werden.“ „Ich höre und gehorche.“ Mit einer letzen Verbeugung eilte der Kut Or aus der steinernen Halle. Kurze Zeit später stand Laukim mit seinem Offiziersstab an mehreren zusammengeschobenen Tischen. Zwei Zwerge, zwei Menschen und zwei Elfen waren in Waffen und Lederrüstungen erschienen. Alle hatten harte Ge-sichter mit Augen, die viel Blut und Tod gesehen hatten. Ihre Haare waren kurz geschnitten, wie es bei dra-kanischen Soldaten üblich war; nur die Zwerge trugen lange Bärte. Die siebte Person war eine Frau mit langem roten Haar, bekleidet mit schwarzem Lederhemd und

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Rock. Ihre Kleidung war prachtvoll gefertigt, mit Näher-eien verziert und übersäht mit kleinen Taschen. Sie wirkte stolz, unnahbar und gab sich selbstsicher. Für die Offiziere war es das typische Verhalten eines Urkorr-nor. Es gab nur wenige Ausgebildete dieser magischen Kaste, und somit war sie der einzige Urkorr-nor, der in Laukims Heer diente. Zwei Karten lagen auf den Tischplatten ausgebreitet, an den Ecken mit Zinnbechern beschwert. „Die Pläne des Eisernen Throns sind aufgegangen, und so kommen wir wie geplant zum Einsatz“, eröffnete der Hohepriester die Zusammenkunft. Er sprach leise und doch gebieterisch. „Unser Ziel ist es, die Stadt Flüster-stein rasch zu belagern und damit die dortigen Streitkräfte zu binden. Des Weiteren müssen wir den Scheidepass kontrollieren, und dies nicht nur für unseren Rückzug. Es gibt noch drei weitere Einheiten, die in den Ländern der Unerleuchteten einen Auftrag haben. Diese brauchen nach Erledigung ihrer Arbeit freies Geleit über den Pass und unsere Rückendeckung. Fragen?“ Dorgwer, ein narbenübersäter alter Zwerg, sah von den Karten auf. „Wird man uns erwarten, Herr?“ „Unwahrscheinlich, dass sie uns so früh erwarten. Laut den mir geschickten Informationen sind erst zwei Tage verstrichen, seitdem bestimmte Ereignisse in Flüsterstein geschehen sind.“ „Ich denke, entscheidend ist nur, dass unsere Schotahr über den Pass ist, bevor wir auf Gegenwehr stoßen“, brachte Gatem, einer der menschlichen Hauptmänner, sich in das Gespräch mit ein. „Wenn nicht in den letzten Wochen noch eine Truppenverschiebung stattgefunden hat, müsste Flüsterstein über zweitausend einsetzbare Krieger verfügen. Unser Heer ist dreimal so groß. Wenn

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wir schnell sind, nageln wir sie in der Stadt fest und können Verstärkung und Nachschub abschneiden.“ „Ja“, stimmte Dorgwer zu. „Wir sollten dieses Ziel leicht erreichen, da unser Heerestross schon für einen längeren Feldzug bereitsteht. Der alte Fürst Aldan kann unmöglich in so kurzer Zeit eine größere Armee einberufen und ausstatten.“ Tarote, der weibliche Urkorr-nor, lachte leise in sich hinein. „Es sei denn, er verzichtet auf Essen und schwere Ausrüstung. Das wäre ein zusätzliches Geschenk für uns. Ohne Nahrung und Zelte werden die Truppen Aldans in wenigen Tagen erschöpft sein, und wir werden sie vernichten.“ Laukim winkte ab. „Keine Träumereien, Tarote. So viel Glück werden wir nicht haben. Fürst Nelda al Aldan gilt als scharfsinniger Stratege. Er hat in seinen jungen Jahren schon einmal einen Angriff auf die Flüstermark zurück-geschlagen. Diese Entehrung soll nicht noch einmal geschehen, weil wir ihn unterschätzen.“ „Ja, hoher Urkorr-gaan“, lenkte Tarote demütig ein und verbeugte sich mit vor der Brust gekreuzten Armen. „Um die Stärke des Feindes einschätzen zu können, müssen wir die magischen Kräfte des Gegners kennen. Hat der Herrscher von Flüsterstein Urkorrs zur Verfügung?“ „Unsere Schleicher hörten nur von einem Adepten des Grauen Turmes, den man vernachlässigen kann“, ant-wortete der Hohepriester. „Dazu könnte noch ein Erden-bewahrer kommen, der vor Kurzem nach Flüsterstein kam. Die Schleicher vor Ort wollten ihn benutzen und ausschalten, aber dies misslang. Das ist alles, was das Schreiben vom Eisernen Thron berichtet.“ „Was ist mit dem für Flüsterstein zugeteilten Urkorr-nor?“, fragte Naral’alsel in kühlem Tonfall. Er war einer

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der wenigen Elfen, die ihr prachtvolles silbernes Haar kurz schoren und damit seine Zugehörigkeit zu den imperialen Legionen besonders betonten. „Um den wurde sich gekümmert. Einem Schleicher ist es gelungen, als Diener in den Haushalt der Feste aufgenommen zu werden. Er konnte dem Urkorr-nor ein Gift verabreichen und ihn so für die nächste Zeit un-schädlich machen. Die Wirkungsweise des Giftes ist so geartet, dass der Vergiftete wie ein schwer Erkrankter wirkt. Man hat ihn eilig, ohne auf Ablösung eines anderen vom Grauen Turm zu warten, zu seinem Orden transportiert, und niemand hat Verdacht geschöpft. All dies wurde schon seit Monden vom inneren Zirkel vorbereitet.“ „Dann, hoher Urkorr-gaan, sollten Eure und meine Kräfte dem Feind weit überlegen sein“, schloss Tarote. Laukims wundervoller Mund lächelte erbarmungslos. „Ja, es ist alles bereit. Gut – in den letzten zwei Stunden vor unserem Aufbruch will ich noch einmal die Pläne für die Belagerung Flüstersteins mit euch durchsprechen.“ Exakt drei Stunden nachdem Hohepriester Laukim die Anweisung zum Abmarsch ausgab, bewegte sich ein langer eisenstarrender Heerwurm über die letzen Hügel auf das Felmongebirge zu, hinauf zum Scheidepass.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Menschenreich, Flüstersteinmark – Flüsterstein Zwölf Berittene und fünf Packpferde passierten müde das Südtor von Flüsterstein. Vier davon waren Elfen. Stolz und selbstsicher ritten sie auf ihren braunweiß gescheckten Mustangs aus elfischer Zucht. Die anderen Reisenden waren Menschen und ein Zwerg auf einem stämmigen Pony. Es war noch Nacht, doch der erste helle Schimmer des nächsten Tages ließ in der Ferne den Horizont grau werden. Im leichten Trab ritten sie jeweils zu dritt nebeneinanderher in den anbrechenden Tag hinein. Olagrion führte die Gesellschaft. Links und rechts von ihm begleiteten ihn zwei Elfenfrauen, Serenoa und Oenothera. Alle drei sahen in ihrer grünen, praktischen und eng anliegenden Kleidung schlank und geschmeidig aus. Die langen silbrig glänzenden Haare der Elfen hingen zu festen Zöpfen geflochten den Rücken hinunter. Das erste Licht schien sich in dem Silberhaar zu spiegeln und ließ es glänzen. Kev, der gleich hinter Olagrion ritt, konnte die Augen nicht von den beiden hübschen Elfenfrauen lassen. Er war der Ausgelassenste in der Reisegesellschaft und sah sich immer wieder glücklich in der Landschaft um, so wie ein jahrelang Gefangener nach langer Einkerkerung. So wechselte sein Blick immer wieder von der Landschaft zu den Elfen-damen und zurück. Rolfah, einer der Waldläufer des Fürsten Aldan, beugte sich zu Kev herüber und flüsterte leise: „Wenn ich Euch einen Rat geben darf, starrt nicht so viel zu unseren Führerinnen, wenn diese Euren Blick nicht erwidern können. Das gilt unter den Elfen als unhöflich.“

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„Ja? Oh.“ Kev war sichtlich unangenehm berührt und erwiderte leise: „Ich habe bisher nur selten Elfen gesehen und wollte sie deshalb unauffällig betrachten.“ Corsan, der auf der anderen Seite von Kev ritt, kratzte sich am Schnurrbart und verdeckte damit ein breites Grinsen. „Glaubt mir, Meister Kev“, meinte Rolfah, „wenn ich es bemerkt habe, dann erst recht unsere Elfendamen.“ „Meinen Dank für Eure Aufklärung. Wisst ihr, es ist so … es ist einige Zeit her, dass ich Frauen gesehen habe. Na ja, Hauptsache, die Damen hören nicht so gut, wie sie aufmerksam sind.“ In diesem Moment wandte Oenothera ihren Kopf nach hinten und betrachtete Kev mit leuchtend blauen Augen. Eine silbrige Augenbraue schien sich einen Hauch zu heben. Ihm fiel nichts anderes ein, als sie verkrampft anzulächeln. Eine Reihe dahinter unterhielten sich Wotan, Halgrimm und Faban miteinander, und den Schluss der Gruppe bildeten der Elf Enyu und die Waldläufer Toma und Karr. Wotan saß als einziger auf einem stämmigen Pony, welches ihm vom Fürsten zur Verfügung gestellt worden war. Grimmige Falten zerknitterten seine Stirn. „Ja, jetzt wird mir einiges klarer, was in den letzten Stunden passierte. So war also Euer betrunkener Auftritt heute Nacht mehr ein Zufall.“ Halgrimm schielte zu seinem Lehrer. „Ja, ja, ihr müsst nicht noch öfter erwähnen, dass ich etwas getrunken habe. Trotz meines Zustandes habe ich ja noch einiges bemerkt.“ Wotans ernster Blick verlor sich in die Ferne. „Im Nachhinein war ich aber derjenige, der einen schlimmen

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Fehler beging, obwohl ich bei Sinnen war! Und dadurch starb jemand.“ „Dies war eine höchst unglückliche Fügung“, sagte Faban daraufhin. „Dass ihr dafür Verantwortung übernehmt ist gut und richtig. Aber auch dem Fürsten und uns allen ist klar, dass Ihr und Eure Freunde glaubtet, in Gefahr zu sein, und dass Ihr Euch verteidigt habt. In dem ganzen Verwirrspiel konnten beide Parteien nicht wissen, dass sie keine Feinde vor sich hatten. Mit Eurem Schwur und Eurer Hilfe sühnt ihr Euren Totschlag.“ Halgrimm meinte: „Es hätte auch umgekehrt sein können. Ich sah die Pfeile, die man auf euch abschoss, und einer hätte tödlich treffen können.“ „Ich bin für die freundlichen Worte dankbar. Ich hoffe nur, ich bringe nicht durch meinem Schwur mein Volk in große Gefahr, da ich meine Wallfahrt nicht weiter fortführen kann.“ „Ihr wart in einer wichtigen Sache auf Reisen?“, fragte der alte Ordensmeister. „Ja.“ Wotan schwieg daraufhin erst mal, und die beiden Magier drangen nicht weiter in ihn. „Nun, da wir ja jetzt Gefährten auf Leben und Tod sind, werde ich von meinem Auftrag erzählen. Aber dazu brauche ich ein Pfeifchen.“ Meister Faban Gesicht verzog sich missfällig. „Ah, diese schrecklich stinkende Eigenart der Zwerge, Rauch ein und auszuatmen.“ „Ja, eine Wohltat! Ihr Menschen wisst einfach nicht, was Gemütlichkeit ist.“ „Ich für meinen Teil kann an Gestank nichts Gemütliches finden. Allein wie man auf die Idee kommen kann, Rauch zu atmen, ist mir ein Rätsel. Aber dem Schöpfer gefiel die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit.

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Ich denke, an der frischen Luft werde ich diese Vielfalt auch ertragen können.“ Wotan hatte währenddessen in aller Ruhe seine Pfeife aus einem Beutel am Gürtel geholt, sie gestopft und angezündet. „Ihr Menschen empfindet Euch zu oft als Maß aller Dinge. Wenn Menschen rauchen würden, dann wären alle, die nicht rauchen, in Euren Augen seltsam. Obwohl ich als Heiler zugeben muss, dass Rauchen nicht die gesündeste Angewohnheit ist.“ Kaum dass er dies ausgesprochen hatte, stopfte er sich wieder die Pfeife in den Mund. Als die ersten grauen Schwaden von Wotan aufstiegen, fing er an über die Notlage seines Volkes zu erzählen und wie es zu seiner Reise nach Flüsterstein kam. Als Wotan seine Erzählung beendet hatte, meinte Faban dazu: „Ich wusste nicht, dass es so schlimm um die Zwerge in den Wolfzahnbergen steht. Wir hatten schon einen Ordensbruder vor einiger Zeit zu Eurem Volk entsendet.“ „Das war auch eine große Hilfe, ohne die wir noch viel schlimmer daständen. Aber es ist längst nicht genug. Kurz vor meiner Abreise schickte man einen Boten zum Grauen Turm, um weitere Hilfe zu erbitten.“ Faban wirkte betroffen, als er dies hörte. „Es schmerzt mich, das ich Euch sagen muss: Der Orden kann Euch zur Zeit nicht helfen. Unsere Anzahl war seit je her nicht groß. Als ich vom Grauen Turm abreiste, war jeder fähige Magier wegen verschiedener Probleme in den Vierfürstentümern im Einsatz. Seit heute Nacht ist für mich klar, dass der Eiserne Thron alles seit geraumer Zeit geplant hat, damit hier in der Flüstermark möglichst wenige Magier sind. Ich kann Euch nur einen Trost

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bieten: Ein Hüter hat Euch eine Vision geschickt, und das ist eine viel gewaltigere Hilfe als ein paar Magier vom Grauen Turm. Euer Weg hat Euch nach Flüsterstein geführt. Wer weiß, es sollte vielleicht so sein, dass Ihr der Blauen Rose und dieser Unternehmung helft. Ohne Euch hätten wir niemanden bei uns, der durch die Macht heilen und schützen kann.“ Bei diesen Worten stockte Meister Faban, streckte seinen Rücken und rieb mit einer Hand sein Kreuz. „Diese Hilfe würde ich gern bei unserer nächsten Pause in Anspruch nehmen. Das viele Reiten geht in meinem Alter sehr auf den Rücken, und mit dem habe ich schon länger Probleme.“ „Wenn es mir möglich ist, werde ich Euch helfen.“ Halgrimm fragte: „Warum kümmert Ihr Euch nicht selbst darum, Meister Faban?“ „Weil ich es nicht wage.“ „Ihr meint, das Verbot des Ordens an die Adepten, dass wir uns niemals mit der Macht heilen sollen, gilt auch für Meister und Erzmagier?“ „Halgrimm, dachtest du wirklich, die Lehren über das Heilen gelten nur für Schüler?“ „Ja … nein. Ich verstehe es nicht. Es muss doch auch einem Magier möglich sein, sich durch Magie zu schützen und zu heilen. Beide, Kleriker wie Magier, benutzen dieselbe Kraft.“ „Der Orden sollte in den ersten Lehrjahren dieses Thema mehr behandeln. Es ist zu wichtig, als dass darüber Unklarheit herrschen darf.“ Der alte Ordensmeister ver-fiel in seine Vortragsstimme. „Nuun, die vielfältigen Lebensfunktionen eines Wesens sind so komplex, dass ein Zauberer eher Schaden anrichtet, wenn er die Schöpf-ungskraft zur Heilung nutzen will. Obwohl wir schon

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lange danach forschen, verstehen wir vieles bei diesem Thema noch nicht. Anscheinend gibt es eine Grenze, was ein Sterblicher mit der Schöpfungskraft beeinflussen kann, die besonders das Geheimnis des Lebens betrifft. Ich kann dir nur Vermutungen als Erklärung anbieten.“ Faban rieb sich ärgerlich seinen Rücken und fuhr gereizt fort: „Ein Magier muss die Natur der Sache, die er verändern möchte, verstehen und daraufhin eine Formel entwickeln. Dies gelingt uns bei Dingen die nicht lebendig sind, ganz gut. Ein Körper ist jedoch starken Veränderungen unterworfen. Er ist schon bei guter Gesundheit von Tag zu Tag unterschiedlich vital. Dazu sind auch die Verletzungen oder die Krankheiten, die man behandeln will, immer wieder anders. Elfen oder Zwerge sind wiederum anders aufgebaut als Menschen. Ein entscheidender Faktor, der es hinzu schwierig macht, ist, dass ein Lebewesen nicht nur aus Fleisch besteht. Es hat auch eine Seele. Schlussendlich ist es einfach zu komplex, und oft kommt es zu schlimmen Ergebnissen, sobald ein Zauberer mit der Macht versucht zu heilen oder einen lebenden Körper zu verändern. Oder es passiert nichts und die angesammelte Macht im Magier zerreißt ihn.“ Wotan brummte, als Faban den Satz beendete, mit tiefer Stimme: „Bei Klerikern ist dies nicht so, weil sie nicht so vermessen sind, die Schöpfungskraft selbst zu lenken. Ein Hüter gibt seinem Priester die richtige Verwebung der Kräfte. Sie sind uns vom Schöpfer zur Seite gestellt worden; sie sind weise, und ihr Einblick in die gesamte Schöpfung ist groß. Die von ihnen gegebenen Zauber wirken, ohne fehlzugehen – im Gegensatz zu den arkanen Bannen von Magiern.“

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Etwas verkniffen erwiderte Faban: „Deswegen versuchen wir vom Orden des Grauen Turms, bei der Findung neuer Zauberformeln sehr gewissenhaft vorzugehen. Und deshalb ist die Ausbildung bei uns so lang und streng. Wenn der Schöpfer nicht gewollt hätte, dass man die Macht lenken kann, hätte er diese Fähigkeit auch keinem gegeben.“ „Ein altes Argument. Ich weiß nicht, ob es der Wahrheit entspricht oder nicht. Was ich aber erkannt habe, ist, dass wir, egal aus welchem Volk wir stammen, uns gern die Sachen zurechtlegen und uns selbst belügen, wenn wir etwas wollen. Die größte Gefahr hierbei ist nach meiner Meinung: Macht, egal, in welcher Form, korrumpiert oft denjenigen, der sie innehat. Aber ich will nicht alle Magier als Schurken hinstellen. Der Graue Turm hat einen guten Weg eingeschlagen, und ich bin sehr froh, dass es seine Hilfe gibt. Bei den Drakanern jedoch sieht man die schlimmen Folgen, wenn Macht missbraucht wird.“ Der alte Ordensmeister holte Luft, doch Halgrimm kam ihm zuvor. Ganz unbedarft das Streitgespräch missachtend, sinnierte er: „Und dadurch lassen sich auch die Unterschiede bei den Schutzbannen von Kleriker und Magier verstehen. Ein Magier könnte sich vor Feuer schützen, in dem er die Luft um sich herum erkalten lässt. Oder er erschafft einen Erdwall als Schild zum Schutz vor Pfeilen. Wenn er aber seinen eigenen Körper verändern möchte, sodass er vor Gift geschützt ist oder sein Leib dem Feuer direkt widersteht, tritt wieder das angesprochene Problem ein. Kleriker können nur die wenigen Zauber, die ihnen von den Hütern gegeben werden, aber durch die Hilfe der Hüter können sie lebende Dinge beeinflussen. Das muss ich wohl endlich akzeptieren.“

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Wotan und Faban sahen sich irritiert an, in ihrem beginnenden Streit gestört. Kurz darauf mussten sie sich angrinsen. „Nuun, mein Junge, du hast es erfasst. Übrigens sollte dir jetzt klar sein, welch enormes Glück du bei der Rück-verwandlung von Kev hattest. Nun, wenn ich es recht bedenke, Kev eigentlich noch mehr. Es war extrem un-wahrscheinlich, dass du ihn mit deinem Zauber nicht getötet hast und dich noch dazu. Du hast nicht daran gedacht, dass eine Rückverwandlung von Stein in einen lebenden Körper ebenfalls die Grenze der Zauberer überschreitet?“ „Ihr habt recht“, kam es leise von Halgrimm. Betroffen ließ er den Kopf hängen. Eine leise innere Stimme jedoch rebellierte gegen diesen Tadel. Er hatte eigentlich etwas ganz anderes getan. Er hatte nicht Kevs Körper verändert, sondern den Bannspruch, der auf ihn gewirkt wurde irgendwie aufgelöst. Die Rückverwandlung war nach seinem Gefühl mehr eine natürliche Folge. Sein Mentor sprach mit energischer Stimme weiter: „Da wir gerade davon sprechen und ich vorhin mit der ernsthaften Ausbildung des Ordens geprahlt habe – ab heute werden wir uns jeden Abend zum Einzelunterricht treffen. Deine Künste der Zauberei brauchen dringend Übung, und ich möchte nicht, dass du den Orden vor unserem Erdenbewahrer hier entehrst.“ Ein Seufzer entfuhr Halgrimms Mund, und er schaute mit einem leidenden Blick voller Resignation zu Wotan. Dieser fing schallend an zu lachen. Die Reise wurde bereits in den ersten Tagen anstrengend und ermüdend. Bei Sonnenaufgang standen sie auf, und erst am frühen Abend lagerten sie wieder. Die Tage

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vergingen mit Reiten und Gehen mit wenigen Pausen dazwischen. Im Verlauf des Tages entstanden viele Gespräche und man lernte sich kennen oder vertiefte die Bekanntschaft. Die vier Waldläufer waren tüchtig und geschickt bei den Arbeiten in der freien Natur und gewannen den Respekt der sie begleitenden Elfen. Auch teilten die Waldläufer, genauso wie Kev und Faban, die Liebe der Elfen zur Natur, und diese Gemeinsamkeit wob ein zusätzliches Band des Vertrauens. Wotan allerdings war in sich gekehrt und unnahbar. Besonders zu den Elfen vermied er, so weit es ging, den Kontakt. Trotz der anstrengenden Stunden des Wanderns war es eine angenehme Zeit für die Gemeinschaft. Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite. Die Bäume erblühten, das Gras wahr saftig grün, Vögel balzten und auf den bestellten Feldern die sie passierten schossen die ersten Setzlinge empor. Das Wetter war mild, die Luft roch frisch und lebendig, und sie mussten nur hin und wieder mal einen kurzen Regenschauer erdulden. Oft hörte man Serenoa ein fröhliches Lied singen. Ihre angenehme Sopranstimme schien die Stimmung der Natur hervorzuheben und erfreute das Herz. An den ersten beiden Abenden fanden sie kleine Wiesenscheunen in denen sie Übernachten konnten. Die danach folgenden Nächte unter freiem Himmel waren ebenfalls angenehm, da das Wetter weiterhin mild und freundlich blieb. Ordensmeister Faban machte sein Versprechen wahr. Halgrimm war nach dem Gespräch mit Wotan am ersten Reisetag nicht verwundert darüber. Jeden Abend verließ sein Mentor mit ihm für eine Weile das Lager und wählte einen Platz zum Üben. Die Schwierigkeit war dabei, einen

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Ort zu finden, an dem die Gefahr möglichst gering war, einen größeren Flächenbrand auszulösen. Zwar hielt sich der Ordensmeister stets bereit zum Eingreifen, doch Halgrimm war sich bewusst: Bei ihm wollte der alte Lehrmeister lieber auf der sicheren Seite sein. Faban ließ Halgrimm seine erlernten Zauber endlos wiederholen und geizte nicht mit Korrekturen, damit Halgrimm seine Zauber beständiger mit der gewünschten Kraft zur Wirkung brachte. Es war entnervend für Halgrimm, aber er strengte sich an. Halgrimm wollte seinen alten Lehrer nicht enttäuschen. Aufmerksam und konzentriert vollzog er seine Lektionen. Bei den Bannsprüchen, die Halgrimm schon sicher beherrschte, sollte der Adept als Nächstes versuchen, sie immer schneller auszuführen. Dies, so lehrte Faban seinen Schüler, wäre genauso wichtig wie die sichere Beherrschung der einzelnen Magieformeln. Denn ein Magier, der seinen Zauber nicht abschloss, bevor das Schwert ihn erreichte, würde meistens keinen weiteren Zauber mehr wirken. Es war unvermeidlich, dass einige Versuche durch die Eile gehörig danebengingen. Halgrimm kam meist frustriert von den Übungsstunden zurück – und Faban erschöpft. Die Feuchtwiesen, die sie zum Üben benutz-ten, waren manches mal nicht mehr als solche zu erken-nen. Die Bauern, die später das verkohlte Gras und die aufgewühlten Erdkrater entdeckten, erzählten im Wirts-haus von flammenden Ungeheuern, die aus dem großen Wald gekommen sein sollten, immer auf der Suche nach Fleisch, das sie verbrennen können. Bald darauf sprach man über diese Geschichte in allen umliegenden Dörfern. Am fünften Tag hatte die Gemeinschaft die Grenzen der Mark Flüsterstein erreicht. Das Tageslicht verlor zu-

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sehends seine Kraft, und es wurde langsam dunkler. Am Rande eines kleinen Kieferngehölzes hatten Enyu und Corsan auf einer Wiese ein wohlig prasselndes Feuer ent-facht. Um dieses herum saßen sie jetzt auf ihren Decken und nahmen ein Abendbrot ein. Faban spülte einen letzen Bissen mit einem Schluck Wasser hinunter und fragte in die Runde: „Wie weit sind wir vorangekom-men?“ „Wir verlassen nun die bewohnten Gebiete.“, antwortete ihm Toma. Er hatte wie immer in den letzten Tagen gekocht und selbst am meisten seines Gerichts gegessen. Nun lag er mit seiner nicht geringen Leibesfülle schwer gegen einen Baumstamm gelehnt. „Wege werden wir nun keine mehr finden. Ab morgen reiten wir durch offene Wildnis, und wenn alles gut geht, werden wir gen Abend den Saum des Moranion erreichen.“ Toma pulte, während er redete, mit einem schmalen Zweig zwischen seinen Zähnen herum, was ihm von Serenoa und Oenothera einen angewiderten Blick einbrachte. „Über-morgen befinden wir uns also im Moranion, und damit beginnen für uns die Gefahren.“ „Ja, und deshalb sollte ab morgen niemand mehr alleine Nachtwache haben.“ Oenothera grinste Kev spöttisch an, als sie weitersprach: „Zu zweit sieht und hört man mehr.“ Kev verfiel wieder in sein verkrampftes Lächeln und griff schnell nach einem Stück Brot. Rolfah und Corsan fanden plötzlich irgendetwas ungemein amüsant. „Man hält sich zu zweit auch gegenseitig wach“, führte Olagrion weiter aus. „Und nicht nur wegen des Dra-kanersuchtrupps sollten wir wachsam sein.“ „Stimmt es denn, dass dieser Wald so gefährlich ist, wie man sich allerorts erzählt?“ Wotan, der Olagrion gegen-über auf seiner Decke lag, hatte dies gefragt.

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„Ach Unsinn, nichts ist so schlimm, wie es nachts im Wirtshaus bei einigen Bieren zu viel erzählt wird“, warf Serenoa fröhlich ein, während sie ihr glänzendes silbernes Haar zu einem neuen Zopf flocht. Olagrions edle, ernste Züge verwandelten sich, als er Serenoa anlächelte, und er fing an zu erzählen: „Vieles wird sich unter den vier Völkern über den Moranion erzählt, über Geister, alte Machtstätten und Ungeheuer. Wir Elfen, die seinen nördlichen Rand immer wieder durchwandern, können nur sagen: Der Moranion-Wald ist alt und wild. Seine Ausmaße sind gewaltig, größer als die Gebiete der Vierfürstentümer; aber auch mein Volk hat ihn nie durchwandert. Er ist Heimat von vielen wilden Kreaturen. Einigen sind wir begegnet, und von anderen sahen wir nur die Spuren. Bären und Wölfe sind noch die kleinste Gefahr, auf die man dort treffen kann. „Na, vielen Dank, Bären und Wölfe reichen mir“, warf Halgrimm ein. Kevs Gesicht hingegen schien zu leuchten. „Was kann man dort noch für Kreaturen vorfinden, Olagrion?“ „Es leben majestätische Greife im Moranion, die in Rudeln jagen, Basilisken, deren Atem und Biss giftig ist, Oger – gefährlich durch ihre gewaltigen Körperkräfte – und geflügelte Schlangen, die wir Serpentas nennen. Eine große Raubkatzenart, die sich für ein Tier außergewöhn-lich klug verhält, nannten wir Gorlach. Ein Gorlach kann mit seinem Fell genau die Farben und Muster seiner Umgebung nachahmen. Man kann ihn meist nur aus kurzer Distanz oder aufgrund seiner orangefarbenen Augen entdecken, was ihn besonders gefährlich macht.“ „Sehr unangenehm.“ Toma schmiss seinen kleinen Zweig ins Feuer. „Faszinierend!“, rief Kev begeistert.

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Corsan schnaubte bei Kevs freudigem Ruf auf und sah ihn irritiert an. Serenoa dagegen blickte wohlwollend zu dem Wandler und sagte: „Das ist die richtige Einstellung, Kev.“ Wotan klopfte auf seinen Schild und fragte in die Runde: „Wenn wir viele Kämpfe zu bestehen haben, wundert es mich, das nur ich einen Schild benutze. Für mich ist er wichtiger als meine Rüstung.“ „Es kommt immer darauf an“, antwortete Enyu. „Je-mand, der mit zwei Waffen kämpfen kann, ist einem Gegner mit Schild durchaus ebenbürtig. Ich weiß, die Meinungen gehen darüber auseinander. Unsere Wald-läuferfreunde und wir Elfen kämpfen alle mit langem Kampfdolchen und Schwertern. Ihr denkt wohl auch an Schlachtformationen, bei denen man Schildlinien oder Schilddächer bilden kann. Wir werden aber in dichtem Wald kämpfen, in dem viele Pflanzen einen behindern. Geschicklichkeit und Schnelligkeit werden dort wichtiger sein. Ein Schild ist auf Dauer zu schwer und unhandlich und behindert einen, insbesondere wenn man schleichen möchte.“ „Ich sehe schon“, brummte Wotan missmutig, „das sind alles Dinge, die für mich völlig fremd sind, ebenso wie ein wilder Wald. Ich jedenfalls brauche meinen Schild, Wald hin oder her.“ „Wir müssen trotz aller Gefahren so schnell wie möglich zu dem Gebiet gelangen, welches wir nach dem Unter-schlupf von Abusan durchsuchen wollen. Die tödlichste Gefahr wird immer noch der drakanische Trupp für uns sein“, erinnerte Faban. „Wenn sie das Versteck vor uns finden, wird ein Kampf unvermeidlich. Lieber wäre es mir, wir erreichten still und unentdeckt vor ihnen das Labor. Dann werden wir mitnehmen, was wir tragen

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können, alles Weitere vernichten und das Blutvergießen vermeiden.“ Olagrion nickte dazu, doch Karrs bärtiges Gesicht zeigte Ablehnung. Seine harten grauen Augen funkelten, als würde eine tiefe Glut in seiner Seele brennen. „Warum wollt Ihr nur unbedingt einen Kampf vermeiden, Meister Faban? Immer wieder versucht der Eiserne Thron, uns der Freiheit zu berauben, und diese drakanischen Soldaten würden uns ohne zu zögern abschlachten. Ich hasse sie, und ich wüsste diesen feindlichen Suchtrupp lieber tot als in meinem Rücken.“ „Karr, das Wichtigste ist die Erfüllung unseres Auftrages und dass wir alle lebend zurückkommen. Diese feindliche Gruppe wird mit Sicherheit Magier und Kleriker mit sich führen. Du weißt nicht, wie schrecklich ein Gefecht mit Magie ist, doch das steht uns bevor, sobald wir auf sie stoßen. Was ist, wenn sie uns mit der Macht überlegen sind?“ Wotan richtete sich auf. „Ich stimme Meister Faban zu. Es ist nicht feige, einem Kampf auszuweichen, wenn wir dadurch Leben schonen können und unser Ziel er-reichen. Sind wir schnell, dann holen uns die Drakaner auf dem Rückweg auch nicht mehr ein. Stellen sie uns während der Suche, werden wir sie mit allen rechten Mitteln und der Hilfe der Hüter bekämpfen. Doch werde ich niemanden, der sich ergibt, niedermachen oder zulas-sen, dass jemand so etwas tut! Dann wären wir genauso schlimm wie unsere Feinde.“ Bis auf Karr stimmten alle Wotan zu. Olagrion sprach: „Dann lasst uns so handeln, wie es Meister Faban sagte.“ „Die Art, wie Ihr zu Entscheidungen gelangt, sagt mir, dass es richtig war, den Vierfürstentümern zu helfen“,

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bemerkte Kev. „Bei den Drakanern gibt es keine ver-schiedenen Meinungen, noch solche Diskussionen. Es gibt nur die unangefochtenen Weisungen eines Urkorrs.“ Mit gemischten Gefühlen sah Wotan zu Kev hinüber und versuchte, in dessen Gesicht die Wahrheit über Kevs Ansicht zu finden. Olagrion meinte zustimmend: „Ja, es gibt keine Freiheit im Imperium. Wir haben zwar unsere Probleme, besonders durch die Andersartigkeit der verschiedenen Völker. Aber es gibt bei uns Gerechtigkeit.“ Wotan fügte dazu an: „Und wir sind vor dem Schöpfer alle gleich. Ein einfacher Glaubenssatz, der jedoch entscheidende Auswirkungen auf die Lebensweise hat, wenn man dies glaubt oder eben nicht glaubt.“ Meister Faban stand mit einem leisen Ächzen auf. „Komm, Halgrimm, es ist schon spät, aber ein paar Übungen müssen wir noch machen. Wenn es zu einem Kampf kommt, wirst du dein Können dringend benötigen.“ Umständlich erhob sich Halgrimm von seiner Decke. Wotan stand ebenfalls auf. „Gern würde ich mich an-schließen und gegebenenfalls an den Übungen beteiligen, wenn es Euch recht ist.“ „Seid willkommen. Ein Kleriker wird für uns eine Bereicherung sein, und gerade Halgrimm hatte, so viel ich weiß, noch nicht oft Gelegenheit, mit und gegen klerikale Magie zu kämpfen. Kommt hier entlang. Der Teich, an dem wir vorhin Wasser geholt haben, gleich hinter dem Hügel, ist ein guter Platz für unser Anliegen.“ „Ja, und ich weiß auch, warum“, brummte Halgrimm leise und ging los. Wotan setzte seinen Helm auf, nahm Schild und Kriegshammer zur Hand und folgte den beiden Magiern.

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Nach kurzem Fußmarsch gelangten die drei zu einem lang gestreckten Teich, der wie das Lager der Gemein-schaft in einer großen Grasmulde lag. Nur Büsche und Hecken wuchsen außer dem Gras in dieser Mulde. Das stehende Wasser des Teichs war größtenteils bedeckt mit grüner Entengrütze. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen, und man sah nur noch schlecht im letzen grauen Licht des Himmels. Faban wandte sich zu Halgrimm um. „Nuun, Halgrimm, dann kommen wir gleich zur ersten Übung. Mach Licht, sodass hier alles gut ausgeleuchtet ist.“ Wotan setzte sich mit klirrendem Kettenhemd auf einen größeren Stein und holte, wie fast immer Abends, seine Pfeife hervor. Halgrimm nahm nervös seinen Stab in beide Hände. Er konzentrierte sich, und schon leuchtete der Saphir an der Spitze des Stabes auf. Zuerst ganz seicht schimmernd, wurde das blaue Licht immer stärker, bis es die Helligkeit eines großen Feuers hatte. „Gut. Steck deinen Stab in den Boden und versuch es ohne die Hilfe eines Artefaktes.“ Der Adept rammte seinen Stab neben sich in den Boden, und der Saphir strahlte unvermindert weiter. Kurz sah er sich nach etwas um, dann machte er mit einer Hand eine seltsame Geste in Richtung Wotan. „Ho, hey, was wird das?“ Wotan nahm verdattert seine Pfeife aus dem Mund. Unter dem Zwerg entstand ein heller werdender Schein. Der Stein, auf dem er saß, verstrahlte nun ebenfalls ein helles Licht. Erleichtert rückte Wotan seinen Helm zurecht. „Oh, nicht schlecht.“ Meister Faban blickte tadelnd zu seinem Schüler. „Nur Zauber, die man absolut beherrscht, sollte man in die Nähe von Personen zaubern. Ich muss dir ja nicht sagen,

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wie gefährlich ein der Kontrolle entglittener Bann sein kann.“ „Aber Meister, einen einfachen Lichtzauber kann ich nun wirklich.“ Halgrimm war etwas beleidigt. Lichtzauber waren die ersten Banne die man erlernte. Hatte Meister Faban so wenig zutrauen zu ihm? „Nun gut. Nachdem es jetzt ausreichend hell ist, werden wir heute ein Kampftraining simulieren. Ich werde verschiedene Trugbilder erstellen, die dich angreifen. Die Illusionen werden sehr real wirken, sind aber ungefähr-lich, solange du daran denkst, dass sie nicht echt sind. Verteidige dich mit deinen Zaubern. Denke dran, du musst schnell reagieren. Wotan, geht besser ein gutes Stück weiter weg.“ Der Zwerg ließ sich nicht lange bitten und suchte sich einen anderen Stein, der fast am Rand der Mulde stand. Von dort konnte er alles gut überblicken. Er machte es sich bequem und zog genüsslich an seiner Pfeife. Der alte Ordensmeister ließ Halgrimm stehen und ent-fernte sich ein ganzes Stück von ihm. Mit einer schnellen Drehung wandte er sich seinem Schüler zu, während seine Hände schon ein Pulver in die Luft schmissen und dumpfe Wortlaute aus seinem Mund drangen. Gänzlich angespannt riss Halgrimm seine Augen auf, um ja nichts zu übersehen. Fünfzig Fuß vor ihm schimmerte die Luft, und etwas formte sich aus dem Flirren heraus. Eine kleine graue Ratte erhob sich vom Boden und schnup-perte in die Luft. „Das ist nicht witzig, Meister Faban!“ Halgrimm hatte dies kaum ausgerufen, da waren aus der einen Ratte blitzartig zehn geworden, dann hundert, Hunderte und immer mehr. Ein riesiger grauer Teppich aus unzähligen Ratten rannte auf einmal auf Halgrimm

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zu. Mit überraschtem Gesichtsausdruck machte er einige Gesten. Seine Hände hinterließen rote Leuchtspuren in der Luft. Die Ratten hatten den jungen Magier fast erreicht, da fing vor seinen Füßen der Boden an zu brennen. Es war nur ein kleines Stück, wenige Fuß lang und breit. Ein dicker Qualm stieg augenblicklich von der brennenden Erde auf. Rasend schnell wuchs diese Wolke empor, aber statt in den Himmel zu steigen, breitete sie sich aus und zog auf die Ratten zu. Zäh wallte der Rauch über die Ratten hinweg, und diese reagierten so, wie Tiere immer reagieren, wenn sie Feuer riechen. Laut quiekend zerstreute sich der Schwarm in alle Richtungen und verschwand. „Gut gemacht!“, donnerte Wotan mit begeisterter Stimme. Halgrimm atmete schwer und wischte sich angestrengt sein Gesicht. Die Qualmwolke löste sich auf, und zurück blieb ein Fleck verkohlter Gräser und Zweige, von denen noch dünne Rauchfäden aufstiegen. Ein neues Bild formte sich vor ihm, diesmal groß und massig. Ein schwarzer Stier mit langen, weit auseinander-ragenden Hörnern entstand. Die Brust war so breit wie die von zwei Männern, und der Kopf des Stieres befand sich auf der Höhe von Halgrimms eigenem Haupt. Geifernd stürmte das Ungetüm mit gesenkten Hörnern auf ihn zu. Zu perplex, um noch anders zu reagieren, konnte er sich nur noch zur Seite in einen Busch werfen. Knapp entging er der ersten Attacke. Durch den Schwung seines Laufes weitergetragen, musste der Stier erst abbremsen, bevor er sich wieder Halgrimm zuwenden konnte. Schlitternd stemmte er seine Hufe in den Boden und verlor an Schwung. Als sich das Tier einige Herzschläge später zu dem Gebüsch umwandte, in

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welches Halgrimm gesprungen war, konnte es den Adepten nicht mehr entdecken. Auch Wotan war überrascht. Eben sah er noch, wie Halgrimm sich zwischen den Zweigen und Blättern aufrappelte, dann schien der junge Mensch in die Knie zu gehen und zu verschwinden. Langsam trottete der Stier zu der Hecke von Ginsterbüschen, deren Zweige sich noch leicht bewegten. Er blieb davor stehen und schnüffelte an den Blättern. Aus dem Gebüsch kamen mehrere Äste geschossen, die einen langen Dolch hielten. Tief stach die Waffe in den Hals des Tieres, und da verblasste auch schon die Illusion des Stieres. Ein Teil der Hecke trennte sich von dem Rest und wuchs in die Höhe, an einer Stelle schien der Dolch an einigen Ästen zu kleben. Die Blätter von diesem Etwas verschwammen, ebenso die Äste und die vielen anderen Kleinigkeiten, die diese Tarnung so perfekt gemacht hatten. Die Kleidung und die Haut von Halgrimm traten unter dem verschwimmenden Trugbild hervor. Halgrimm liefen nun Schweißperlen an Stirn und Nacken herunter und er atmete schnell. „Eine gute Idee – und schnell ausgeführt“, lobte Faban. „Danke, Meister. Eine echte Unsichtbarkeit wäre jedoch besser gewesen als eine Nachahmung der Umgebung.“ „Aber das ist ein viel schwierigerer Bann. Du hast ihn erst einmal unter meiner Aufsicht gewirkt, und in einem Kampf wäre er dir wohl misslungen. Ganz davon abgesehen, liegt er weit über dem zweiten Machtkreis und ist dir noch nicht erlaubt. Es war eine gute Entscheidung, die du getroffen hast. Und jetzt pass auf!“ Erneut flimmerte die Luft. Diesmal entstand eine Flammensäule an der Stelle, an der auch schon die Ratten und der Stier erschienen waren. Lautes Fauchen wie bei großen Bränden erfüllte die Nacht, derweil die Säule auf

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die Höhe von zwei Männern anwuchs. Im oberen Viertel entdeckte Halgrimm zwei blaue Flammen, die wie Augen geformt waren. Zwei heiße Auswüchse, die wie ständig sich verzerrende Krallen aussahen, streckten sich Hal-grimm entgegen. Ein mächtiges Feuerelementar war vor ihm entstanden – ein Flammengeist – und griff ihn an. Es war offensichtlich, dass Halgrimm nichts einfiel, wie er sich verteidigen sollte, denn er gab Fersengeld. Schon bald stellte er fest, dass er nicht so schnell lief, wie das Elementar über den Boden züngeln konnte. Noch während er rannte, öffnete er sich für die Macht. Das Feuerwesen kam ihm immer näher. In der Bewegung nahm er seine Wasserflasche und entkorkte sie. Mit einem Ruck seines Armes schleuderte er das Wasser dem Feuerelementar entgegen und löste einen Zauber aus. Das Wasser verwandelte sich augenblicklich zu spitzen Eisgeschossen. Die Eisdolche schienen eine unglaubliche Kälte auszustrahlen, die selbst Wotan auf seinem er-höhten Sitz noch erreichte. Als sie in das brennende Wesen einschlugen, verharrte es zuckend einige Augen-blicke. Ärgerlich flammte es auf und griff erneut an. Verzweifelt schlug Halgrimm ein paar Haken und stürzte sich dann in den Teich. Bis zur Hüfte im Wasser platschte er zur Mitte des Tümpels. Am Rand des Wassers hielt das Feuerelementar an und zischte wütend. Halgrimm überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Was wusste er über diese Kreaturen? Da sah er, wie sich das Elementar in der Mitte aufblähte. Ein kleiner Feuerball löste sich aus dem Körper und schoss auf ihn zu. Er traf ihn mitten auf die Brust, und Halgrimms Wams ging in Flammen auf. Er schrie vor Schmerzen. Doch statt in Panik auszubrechen, wurde Halgrimm wütend, so wutentbrannt, dass etwas in ihm heißer

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loderte als jedes Feuer. Er dachte gar nicht daran, sich in das Wasser zu werfen, um damit seine Kleider zu löschen. Stattdessen öffnete er weit seinen Geist. Ohne Zurückhaltung füllte er sich mit der Macht der Schöpfung und formte seinen Bann. Unendlichkeit erfüllte ihn, Feuer und Eis waren gleichzeitig in seiner Brust, und dennoch zerriss es ihn nicht. Noch nicht. Er spürte, dass der unendliche Abgrund ganz nah war, und das Gewicht eines ganzen Meeres stürzte auf ihn ein. Voller Schrecken versuchte Halgrimm, seinen Zauber zu vollenden. Mit einem Schlag war es still. Wie abgeschnitten erstarb jedes Geräusch. Wotan schrie vor Schreck und plötz-lichem Schmerz auf, konnte sich selbst aber nicht mehr hören. Er rang nach Luft, seine Augen quollen hervor. Gleichzeitig sah er, wie die Kleidung von Halgrimm aufhörte zu brennen und dieser ebenfalls mit heraus-quellenden Augen nach Luft rang. Das Feuerelementar zerstob und verging wie eine Flamme, die nichts mehr zum Verbrennen hat. Auf einmal strömte von allen Seiten ein starker Wind kurz und heftig in die Mulde, und es gab ein lautes Krachen. Gierig atmete Wotan die vermisste Luft ein. Halgrimm saß im Wasser, keuchend und völlig verdattert. Meister Faban stand wie vom Donner gerührt da. „Das war verdammt gut.“ Und dann schrie er: „Und das war verdammt noch mal weit über dem zweiten Machtkreis, du Hornochse! Unverantwortliches, talentiertes Rind-vieh.“ Faban geriet völlig außer sich. „Du hättest dich schon mit der richtigen Ausführung dieses Zaubers töten können. Und du wärst wahrscheinlich einfach geplatzt, wenn du die Kraft nicht richtig gebündelt hättest. Dazu hast du auch noch die ganze Senke und uns dazu mit in dem

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luftleeren Raum eingeschlossen, statt die Luftleere nur um das Elementar zu legen! Das hätte denselben Zweck erfüllt und viel weniger Macht benötigt. Wie oft muss ich noch sagen, dass man durch kluges, maßvolles Zaubern oft mehr erreicht?“ Während dieser Strafpredigt kam Wotan zu Halgrimm herunter in den Teich gerannt. Halgrimm raffte sich ge-rade auf und schüttelte ein paar Algen von den Ärmeln. Seine ganze Kleidung triefte und tropfte. „Ist mit dir alles in Ordnung?“ Wotan stütze den wanken-den Adepten. Halgrimm keuchte und war entkräftet wie nach einem langen, schweren Waffengang. Gemeinsam stiegen sie aus dem Teich. Jetzt rannte auch Faban zu seinem Schüler, und sie legten Halgrimm auf das Gras. „Entschuldige, Junge. Das hätte ich zuerst fragen müssen. Ich war so wütend, dass ich gar nicht dran gedacht habe, ich alter Narr. “ Wotan kniete neben dem Adepten und war in tiefer Konzentration versunken. Seine Hand war auf die Stirn von Halgrimm gepresst und leuchtete braun. „Schon gut, Meister Faban. Eurem Schüler geht es gut. Er ist nur entkräftet, aber das geht nach einer kurzen Pause bald vorbei. Die geplatzten Adern in seinem Gesicht waren nicht schwer zu heilen.“ ‚Oh nein, das musste er doch nicht unbedingt sagen.’, dachte Halgrimm und befürchtete: ‚Jetzt wird die Standpauke von meinem alten Lehrer gleich weitergehen.‘ Faban seufzte und schüttelte den Kopf. „Halgrimm, ist dir klar, dass du uns alle in Gefahr gebracht hast, weil du zu viel wolltest und zu viel von der Macht in dich aufgenommen hast?“ Halgrimm nickte ihm im Liegen zu.

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„Gut, dann war dies für heute die wichtigste Lektion. Ansonsten hast du dich gut geschlagen. Es ist genug für heute. Lasst uns wieder zum Lager zurückkehren.“ Die drei machten sich auf und gingen Halgrimm zwischen sich haltend langsamen Schrittes zurück. „Also, ich finde, du hast dich großartig gemacht. Das war ein Schauspiel, alle Achtung. Aber ich denke, ab jetzt sollte ich immer zu den Übungen mitkommen.“ Wotan klopfte Halgrimm kräftig auf den Arm, dieser reagierte mit einer Grimasse. Faban brauste auf. „Jetzt lobt ihn bloß nicht zu viel! Er ist schon übermütig genug. Es ist zwar wahr, der letzte Zauber war eine brillante Leistung, aber Halgrimm muss lernen, verantwortungsvoll zu zaubern. Er kann einer der größten Magier werden, wenn er es denn schafft, bis dahin zu überleben.“ Halgrimm lies die Schultern hängen. Wotan raunte ihm zu: „Nur Mut, das wird schon. Die Gefahr, auf dieser Reise zu sterben, ist viel höher.“ Verblüfft öffnete sich Halgrimms Mund, dann folgte ein leichtes ironisches Lächeln. „Danke, Ihr wisst, wie Ihr jemanden mit den richtigen Worten aufbaut, Erden-bewahrer“. Die Augen des Zwerges blitzten schelmisch auf. Als sie ihre Lagerstätte erreichten, schliefen ihre Ge-fährten bereits. Halgrimm war erleichtert. Neugierige Fragen zu beantworten wäre das Letzte gewesen, was ihm zurzeit im Sinn stand. Wotan klopfte ihm noch mal auf den Rücken und legte sich schlafen, ohne das Ketten-hemd auszuziehen. Nur die nasse Hose wechselte er noch gegen eine trockene aus. Meister Faban legte sich eben-falls zur Ruhe. Bald mischten sich zwei neue Schnarch-laute zu dem schon vorhandenen Schnarchkonzert der

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Schlafenden. Halgrimm blieb allein am Feuer zurück, zog seine nassen Sachen aus und ließ sie auf einigen Ästen von der Hitze trocknen. Kurz schaute er sich um. Serenoa hatte heute Abend Wachdienst, entdecken konnte er sie allerdings nicht. Bestimmt war sie gut in der Nähe versteckt; er vertraute ihr und den anderen Elfen. Bei der Wache schien sie nicht vor sich hin zu singen, natürlich nicht, ganz sicher war er sich da jedoch nicht gewesen. Ein schmunzeln huschte über Halgrimms Gesicht und verblasst so schnell wie einer der Funken des Feuers. Lange starrte er in die Flammen, verstrickte sich in Sorgen und Selbstzweifel. Beunruhigt dachte er an seinen Wutanfall zurück, der ihm den ganzen Ärger heute eingebracht hatte. Würde er jemals die arkanen Künste beherrschen? Er hoffte inständig, dass Meister Faban nicht an ihm verzweifelte. In seiner Wut hatte er bei der heutigen Übung schrecklich viel von der Urkraft der Schöpfung in sich aufgenommen. Fast wäre ihm die Kontrolle entglitten, musste er sich eingestehen. Andererseits war es nicht nur furchtbar gewesen, so viel Macht zu lenken, sondern wundervoll und berauschend zugleich. Er hatte sich gefühlt, als wäre er … er hatte es wieder mal verpatzt. Wieso passierten ihm immer wieder solche Missgeschicke? Seine Erinnerungen an die ersten Jahre seiner Lehrzeit tauchten tief aus einer dunklen Gruft in seinem Bewusstsein auf. Seine schrecklichen Fehler, die ihm wieder und wieder bei arkanen Machtanwendungen unterliefen. Zuerst wurde er nur gehänselt, wie das unter Kindern oft vorkam, wenn ein Kind irgendwie anders war als die anderen. Dann kam es zu einem gefährlichen Unfall bei dem ein Lehrling schwer verletzt wurde. Ab da wollte kaum noch ein Adept mit ihm zusammen üben. Er

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konnte es niemandem verdenken. Seine Mitschüler hatten wohl Angst, egal, wie sehr die Lehrer beteuerten, dass sie von nun an um Halgrimms Talent und die Gefahr wussten und aufpassten. Ha, Talent – eher ein Fluch. Wieso aber hatten ihn die anderen Adepten auch bei den Freizeitaktivitäten oder in den anderen Unterrichts-einheiten, die ohne Zauberei auskamen, gemieden, als hätte er eine ansteckende Krankheit? Einige der Meister hatten im Laufe der Jahre eine starke Abneigung gegen ihn entwickelt. Aber wieso nur? Ständig traf er im Orden auf einen Hauch des Misstrauens. Oder war es Miss-gunst? Bei den Behütern, warum? Warum nur? Zornig schlug sich Halgrimm mit der Faust auf sein Bein. Heiße Wut über sein Leben überkam ihn wie ein Berghang, der von Lava überspült wird. ‚Ich werde lernen, werde aufsteigen in der Macht und werde die Schöpfungskräfte bezwingen! Ich schwöre, ich ruhe nicht eher, bis ich den höchsten Meister übertroffen habe, koste es was es wolle. Keiner soll mehr auf mich herabsehen. Niemand soll es mehr wagen können, mich unwürdig zu behandeln.’ Die innere Glut kühlte ab und Halgrimm sank traurig in sich zusammen. ‚Und dann werde ich endlich zu etwas nütze sein und werde meine Fähigkeiten zum Wohl der Vierfürstenlande einsetzen.‘ Mit diesen Gedanken legte er sich erschöpft zur Ruhe und versank sofort in tiefen Schlaf. Nicht weit entfernt, beleuchtete immer noch ein vergessener Stein eine Bodensenke. Sein Schein verblasste langsam in den kommenden Stunden. Am nächsten Morgen brach die Gemeinschaft wieder früh auf. Tomas Aussage vom Vortag bestätigte sich. Sie verließen nun die bewohnten Gegenden und fanden statt

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Straßen nur noch Tierpfade vor. Nach wenigen Stunden gelangten sie in das wilde Buschland, welches an den Moranion-Wald angrenzte. Dieser Landstrich war dicht bewachsen und der Boden unwegsam. Die Flüstersteiner kamen nur langsam voran und mussten darauf achten, wo die Pferde ihre Hufe hinsetzten. Es gab nur wenige Bäume, die oft in Gruppen zusammenstanden, dafür aber viele Büsche und hartes, hohes Gras. Wenn sie erhöht auf einem Hügel standen, sahen sie in der Ferne einen Baumwall, der sich in beide Richtungen in die Ferne erstreckte – den Saum des Moranion-Waldes. Es war ein Land der Vögel, so erschien es Halgrimm, so viele sah er von ihnen. Ringsum war ihr Gesang in tausendfacher Variation zu hören, und ganze Schwärme flogen in Wolken über den Hecken auf und ab. Oft erhaschten sie einen Blick auf kleine Erdhörnchen, die bei ihrem Anblick schnell in ein Loch oder das nächste Gebüsch verschwanden. Das Zirpen der Grillen war allgegenwärtig, und die Luft war erfüllt von umher-schwirrenden Insekten. Manchmal stießen sie auf Spuren von Rehen, von den scheuen Tieren selbst sahen sie jedoch nichts. Kev wich nicht von Olagrions Seite und ließ sich von ihm alles erzählen, was dieser über den riesigen Wald berichten konnte. Der Elf gab gern Auskunft, und so ritten die beiden viele Stunden nebeneinanderher. Serenoa, Oenothera und Enyu wechselten sich damit ab, vorauszureiten und die vor ihnen liegende Gegend zu erkunden. Mit ihrer Erfahrung führten die drei die Ge-meinschaft sicher durch das Gelände. Am frühen Abend lenkte Enyu seinen Mustang neben das Pony von Wotan und grüßte ihn.

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„Möget Ihr immer einen sicheren Pfad finden, Erden-bewahrer.“ „Mmm. Habt Dank. Ich grüße Euch auch.“ Verwundert wartete Wotan darauf, was der Elf zu sagen hatte. Enyu ließ sich Zeit und schien die richtigen Worte zu suchen. Dabei zügelte er sein Pferd, damit sie hinter die anderen zurückfielen. „Behüter der Erde, Diener des Behüters Toorn, erlaubt mir bitte, etwas zu Eurer Person zu sagen, das vielleicht …“ „Nun raus damit, Enyu, und bitte ohne Schnörkel. Ihr Elfen redet immer so galant und blumig, dass man am Ende gar nicht mehr weiß, worum es geht.“ „Wotan vom Tiefstahl-Klan, in den letzen Tagen haben ich und meine Gefährten wohl bemerkt, wie zurück-haltend Ihr uns Elfen gegenüber seid. Habt Ihr einen Groll gegen Elfen?“ „Nein, bei den Behütern! Es war nicht meine Absicht, so zu wirken. Das Töten eines Elfen bei der Gefangen-nahme in Flüsterstein ist es, das mich schweigsam macht. Und Euer berechtigter Groll gegen mich wegen dieser Schuld.“ „Viel geben die Zwerge auf die Ehre und die Pflicht-erfüllung. Das ist auch gut, für Euer Volk zumindest. Bei dieser Sache jedoch sucht ihr im Übermaß bei Euch die Schuld. Es ist wichtig für Euch und auch für die Mission, dass Ihr begreift, dass Ihr irrt. Unser Volk lässt sich nicht so sehr von Gefühlen beherrschen, wie dies bei den Menschen oder Zwergen der Fall ist. Wir trauern sehr um unseren gefallenen Freund, sehen aber keinen Mord hinter Eurer Tat. Wäre es so, würdet Ihr nicht mehr leben. Ihr habt aus einer Notsituation heraus gehandelt. Versteht mich nicht falsch, trotzdem fordern wir eine

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Sühne. Mit Eurem bereitwilligen Schwur, der Blauen Rose zu dienen, erfüllt Ihr ihn jedoch schon. Wisset, das wir Euch vertrauen.“ Offen schaute Enyu Wotan an. Auf einem mürrischen Zwergengesicht Ergriffenheit zu sehen war schon ein bemerkenswertes Ereignis; Enyu unterdrückte mit Mühe ein Schmunzeln. „Danke. Danke für die freundlichen Worte. Ich weiß nicht, ob ich oder jemand aus meinem Volk so besonnen gehandelt hätte. Ich hoffe, ich werde mich Eures Vertrauens als würdig erweisen.“ „Da bin ich sicher …“ Enyu hörte auf zu reden und schien auf etwas aufmerksam geworden zu sein. Für Wotan sah es so aus, als lauschte Enyu und der Zwerg schaute sich alarmiert um. Falls Enyu etwas hörte, dann musste es ihm allerdings völlig entgehen, er zumindest vernahm nichts. Mit einem Mal richtete Enyu sein Augenmerk zum Himmel und schrie eine Warnung. Wotan blickte hoch und sah mehrere Vögel, die sich aus dem Himmel auf die vor ihnen reitenden Gefährten stürzten. ‚Das sind doch keine Vögel.‘, blitzte ihm die Erkenntnis durch den Kopf. ‚Seit wann haben die vier Beine und sind so groß wie ein Pony?‘ „Vorsicht! Greifen!“, schrie Enyu. Die sieben Greife waren bereits über den Gefährten und attackierten sie mit ihren Krallen und großen, scharfen Raubvogelschnäbeln. Diese Wesen, die eine Mischung aus Löwe und Adler darstellten, waren Wotan bisher nur vom Hörensagen bekannt. Statt Vorderpranken besaßen sie dolchartige Adlerkrallen, und die Schnäbel der großen Adlerköpfe sahen aus, als könnten sie leicht einen Arm abbeißen.

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Wotan spornte sein Pony an, um den anderen zu Hilfe zu kommen, da hörte er: „Wotan, hinter dir!“ Bevor er zurückschauen konnte, krachte etwas Schweres gegen ihn und riss an seinem Kettenhemd. Sein Pony ging panisch durch, während er zu Boden geschleudert wurde. Geistesgegenwärtig rollte er sich auf den Rücken und nahm seinen Hammer von seinem Gürtel. Er sah noch, wie ein Schnabel auf sein Gesicht herabstieß. Mit beiden Händen haltend, steckte er den Griff quer in das aufgerissene Maul. Der Greif versuchte die Stange durchzubeißen, scheiterte aber am Stahl. Wütend zerrte das Tier am Hammer, und gleichzeitig schlug es mehr-mals mit den Klauen auf den liegenden Zwerg ein. Das Kettenhemd hielt den Krallen stand. Die Stöße waren hart, aber Wotan steckte sie weg, als würde ein Kind auf ihn einschlagen. ‚Meister Enyu hat wohl ein Blümchen zum Betrachten gefunden.‘, schoss es Wotan ärgerlich durch den Kopf. ‚Wo bleibt er denn, beim Abgrund? ‘ Der Greif ließ die Stange seines Kriegshammers nicht mehr los und versuchte weiter, sein Opfer mit seinen Krallen zu zerreisen. Knurrend löste Wotan mit einer Hand den Griff um seine Waffe und zog seinen Dolch. In schneller Folge stach er mehrmals auf jede Stelle ein, die er erreichen konnte. Schmerzerfüllt kreischte der Greif auf, ließ von Wotan ab und flog blutend davon. Enyu hatte kaum seine Warnung Wotan zugerufen, als er sich ebenfalls eines Angriffs erwehren musste. Ein wei-terer Greif hatte den Angreifer Wotans begleitet und stürzte sich auf ihn. Der Elf sah diesen frontal auf sich zufliegen. Augenblicklich kippte er nach hinten, machte eine Rückwärtsrolle über den Rücken seines Mustangs

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und landete auf seinen Füßen hinter dem Pferd. Während Enyu sein schlankes Langschwert zog, sah er, wie sein Mustang scheute und mit seinen Vorderbeinen hochstieg. Mit vollem Schwung prallte der Greif auf die Brust des Pferdes. Laut wiehernd kippte der Mustang nach hinten, direkt auf Enyu zu. Mit einem Hechtsprung zur Seite rettete sich Enyu vor dem Zermalmtwerden. Sein Pferd drehte sich beim Fallen zur Seite und drosch wild mit seinen Hufen durch die Luft. Einer davon traf sein Schwert, und es wurde ihm aus der Hand geprellt. Geschmeidig rollte er sich auf dem Boden ab und wandte sich mit gezücktem Dolch dem Greifen zu. Das Raubtier landete, benommen vom Aufprall, ein paar Meter hinter Enyu. Diesen Augenblick nutzte Enyu, um schnell einen seiner verlorenen Pfeile vom Boden aufzuheben. Sein Schwert konnte er nicht erblicken. Zweifelnd schaute Enyu auf den Pfeil in seiner linken Hand und zuckte mit den Schultern. ‚Besser als nichts.‘ Der Greif fixierte ihn. Jäh sprang er nach vorn, zusätzlich beschleunigt durch einen kräftigen Flügelschlag, und überraschte Enyu mit diesem weiten Satz. Auf den Hinterbeinen landend, schlugen die Klauen zu. Der Elf wich zurück, stach mit dem Pfeil in die erste nach ihm schlagende Kralle, dann mit dem Dolch in die zweite. Mit Erschrecken nahm er wahr, dass der Greif gleichzeitig auch noch mit seinem Schnabel nach ihm hackte. Eilig duckte er sich seitlich weg. Ein scharfer Schmerz schoss über sein Kreuz, als die gekrümmte Schnabelspitze seinen Rücken aufriss. Es folgten weitere schnelle Attacken denen Enyu knapp auswich, und nur seine Beweglichkeit rettete ihn vor weiteren Wunden. Wieder stieg der Greif auf die Hinterbeine und schlug mit beiden Klauen von

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oben auf sein Opfer herab. Diesmal wich Enyu weit zur rechten Seite aus, sodass die entferntere Klaue des Greifen ihn nicht mehr erreichte. In den zubeißenden Schnabel rammte er den Pfeil hinein. Die Spitze traf nicht wie beabsichtigt den Rachen, sondern schrammte zu weit vorn über das Horn an der Innenseite des Schnabels. Mit gewaltiger Kraft schlossen sich die Kiefer und zerbrachen den Schaft. Zugleich zischte die andere Klaue herab. Enyu schwang seinen Dolch, wich dabei einen Schritt zurück und schnitt mit der Klinge in die Klaue. Der Schwung des Hiebs ließ sich nicht aufhalten und die Klaue fuhr so schnell herab, dass sie sein linkes Bein traf. Tief rissen die Krallen seinen Oberschenkel auf. Wild stach der Elf nach den Augen des Tieres, um es am Nachsetzen zu hindern, selbst halb blind vor Schmerz. Der Greif wich zurück. Enyu zog sich ebenfalls ein paar Schritte zurück, langsam und behindert durch sein auf-gerissenes Bein. ‚Ich brauche Hilfe, sonst verblute ich.‘ Der Greif ging lauernd einen Schritt vor, da vernahm Enyu ein Stampfen und Klirren. Hinter dem Untier sah er einen Helm mit Dorn heranrauschen. Der Zwerg sprang hinter dem Greifen hoch, schwang mit beiden Armen seinen Kriegshammer über den Kopf, und brüllte aus Leibeskräften. Dumpf schlug der Stahl auf das Rückgrat des Greifen. Ein widerliches Knacken folgte, und augenblicklich knickten die Hinterbeine des Raub-tieres ein. Der Greif verdrehte die Augen und fiel zu-ckend zu Boden. Halgrimm hörte einen Warnschrei. Auf einmal wieherten angsterfüllt die Pferde, seine Gefährten riefen, irgendet-was kreischte über ihnen, und Schatten verdunkelten die

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Sonne. Völlig verwirrt blickte er sich um. Zu beiden Sei-ten nahm er aus den Augenwinkeln hektische Bewe-gungen war. Vor ihm scheuten die Pferde von Serenoa und Olagrion. ‚Das Pferd von Kev scheut nicht.‘, bemerkte Halgrimm intuitiv. Ein geflügeltes Tier stieß auf Serenoa herab. Rechtzeitig duckte sie sich, spornte ihr Pferd an und gelang aus der Reichweite des Wesens. Ein scharfer Schmerz brandete in seiner Schulter auf. Ein Stoß beförderte ihn aus dem Sattel, und er flog ins hohe Gras. Der harte Aufprall ließ seinen Atem pfeifend entweichen. Hastig rollte Halgrimm sich herum und sah noch, wie ein Greif hinter ihm landete. Er stemmt sich hoch, und wieder schmerzte es. Blut rann aus drei Löchern unter seinem linken Schlüsselbein, und ein roter Fleck breitete sich auf seinem Wams aus. Der Greif wandte sich ihm zu und griff sogleich an. Halgrimm versuchte sich an das Gelernte in den vergangenen Tagen zu erinnern, konzentrierte sich und wob einen Zauber. Die Schöpfungskraft floss hell und lebendig, feurig und schrecklich in ihn hinein. Der Greif sprang und Halgrimm schoss es durch den Kopf: ‚Zu langsam! ‘ Grelle Pein durchfuhr ihn, als die Klauen ihn rechts und links an den Schultern trafen und er zu Boden gestoßen wurde. Seine Konzentration war dahin und der Zauber gebrochen. Das Raubtier war nun über ihm, hielt ihn mit seinen Krallen fest, und der geöffnete Adlerschnabel schoss auf Halgrimm hinunter. Mit beiden Händen ergriff er den Hals des Greifen und seine Kraft reichte gerade so eben, den gefährlichen Schnabel von seinem Gesicht fernzuhalten. Um sich herum nahm er am Rande seines Bewusstseins wahr, wie seine Gefährten um ihr Leben kämpften. Er vernahm nicht weit entfernt ein zorniges Bärenbrüllen. Ein Bärenbrüllen? Das Surren von Bogen-

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sehnen drang an sein Ohr. Voller Hoffnung wartete er auf das Aufheulen seines Angreifers. Der Greif versuchte unbehindert weiter, Halgrimm an die Kehle zu fahren. Anscheinend wurde er nicht beschossen – oder er wurde verfehlt. Die Klauen gruben sich immer tiefer in Hal-grimms Fleisch. Er schrie laut seinen Schmerz heraus und stemmte mit aller Kraft den Kopf des Tiers von sich. Voller Verzweiflung zog er seine Beine an, ruckte hin und her, bis er seine Füße unter den Brustkorb des Raubtiers bekam. Mit aller Macht trat er zu. Der Greif war schwer, aber die Todesangst verlieh Halgrimm ungeahnte Kräfte. Das Tier wurde etwas nach oben gestoßen und hielt irritiert in seinem Angriff einen Moment inne. Den gewonnenen Freiraum nutze Halgrimm, um erneut mit beiden Beinen nachzutreten. Der zweite Stoß schleuderte den Greifen zur Seite. Beide Kontrahenten rappelten sich im wirbelnden Staub wieder auf. Halgrimm ächzte und stand unsicher auf den Beinen. Der Greif duckte sich zum Sprung. Macht durchflutete die Umgebung und Halgrimm spürte wie Kraftlinien verwoben wurden. In der Luft über ihnen erschollen neue Greifenrufe. Es klang nach vielen Stimmen. ‚Oh nein, nicht noch mehr von ihnen! ‘ Der ihm gegenüberstehende Greif blickte in die Luft und krächzte zornig einen Kampfschrei. Halgrimm stutzte ungläubig. Aus dem Himmel flogen weitere Greifen auf das Kampfgeschehen zu und griffen geradewegs die Greifen auf dem Boden an. Das Rudel, welches die Gefährten überfallen hatte, setzte sich vehe-ment zur Wehr. Die Beute war vergessen. Der Kampf dauerte nicht lange an, denn die neue Greifengruppe war deutlich in der Überzahl. Bald floh das erste Greifen-rudel. Die neu hinzugekommenen Tiere kreisten über der

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Gruppe, als würden sie die Wanderer bewachen. Als die Angreifer kaum noch zu sehen waren, verblassten die fliegenden Gestalten über ihnen. Beide Hände auf seine blutenden Schultern gepresst, su-chte Halgrimm nach seinem Ordenslehrer. Der lehnte erschöpft an der Schulter von Olagrion und rang nach Luft. Corsan und Rolfah standen ebenfalls bei Faban, den Rücken zu ihm gewandt und die Schwerter noch bereit zum Kampf. ‚Die drei haben meinen Meister anscheinend in die Mitte genommen und ihn geschützt.‘, vermutete Halgrimm. Laut sagte er: „Das war eine gewaltige Illusion, die Ihr erschaffen habt, Meister Faban.“ Die Antwort vernahm Halgrimm nicht mehr. Es wurde dunkel vor seinen Augen. Grillenzirpen kratzte an Halgrimms Bewusstsein. Tief atmete er kühle Luft ein und öffnete die Augen. Die Nacht war hereingebrochen, als Halgrimm erwachte. Ein Heer aus Sternen blinkte auf die Welt hinab, ab und zu verdeckt durch einige dünne Wolkenschwaden. Bequem war er auf ein Bett aus Gras und Moos gebettet worden, und eine Decke war über ihn gebreitet. Zu seinen Füßen erhellte ein kleines Feuer die unmittelbare Umgebung. Gegenüber hockten Enyu, Faban, Serenoa und die vier Waldläufer zusammen und unterhielten sich. Neben ihm lag Oenothera auf einer ähnlichen Grasmatratze wie der seinen. Wotan kniete neben der Elfe und untersuchte den rechten Arm von ihr. Blutige Bandagen lagen verworren zu seinen Füßen. Bestürzt erblickte Halgrimm eine klaf-fende Wunde im Oberarm von Oenothera. Automatisch griff er sich an seine Schultern und war überrascht, dass er weder Schmerzen hatte noch einen Verband vorfand.

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Er griff unter seinen Wams, suchte nach den Stellen, in die sich die Greifenkrallen gebohrt hatten, fühlte aber nur dicke, verheilte Narben. Er hörte Wotans müde Stimme: „Es tut mir leid, Oeno-thera, dass ich dir erst jetzt Heilung bringen kann. Ich war zu sehr erschöpft.“ „Das ist unnötig, Sohn der Erde. Ich weiß, dass es galt, die lebensbedrohlichen Verletzungen zuerst zu kurieren. Dadurch habt Ihr Enyu und Halgrimm vor dem Ver-bluten gerettet.“ Wotan zögerte kurz, und an der Art, wie er seine Stirn krauste, war zu erkennen, dass er mit etwas in seinen Gedanken rang. „Bei den Zwergen ist es Brauch, dass, wenn man zusammen um sein Leben gekämpft hat, man sich wie Geschwister anspricht. Es sei denn, es wäre ein Oberster.“ „So ist es auch bei den Elfen. Also, Wotan, hast du auch schon den gebrochenen Arm von Toma geheilt?“ „Ja, er ist wohlauf und flucht noch immer über seinen ungeschickten Sturz vom Pferd. Jetzt halt still, ich muss meine verbliebenen Kräfte zusammennehmen und kann keine Ablenkung gebrauchen.“ Die Elfe entspannte sich und blickte in den Himmel. Ganz gefangen von den wohlgeformten Gesichtszügen, starrte Halgrimm eine kurze Zeit lang Oenothera von seinem Lager aus an. Dann bemerkte er, was er tat, und wandte seinen Blick schnell dem Zwerg zu. Wotan er-schauerte kurz und begann ein Gebet. Die kräftigen brau-nen Handflächen begannen bernsteinfarben zu schim-mern und legten sich neben das aufgerissene Fleisch. Sofort begannen die Wundränder zu verwachsen. Rasend schnell wuchs dicker Schorf über die Stelle, platze einige

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Herzschläge später ab und hinterließ eine Narbe, als wären statt wenigen Augenblicken Wochen vergangen. „Es ist das Letzte, was ich heute vollbringen kann. Ich muss mich ausruhen. Du solltest viel essen und schlafen in den nächsten Tagen, denn dein Körper musste bei der Heilung kräftig mithelfen. Solch eine Heilung kostet Kraft.“ Zitternd stand Wotan auf. Wunderschöne Mandelaugen blickten ernst zu ihm auf. „Danke, Wotan, für alles. Enyu berichtete, wie tapfer du gekämpft und ihm aus der Not geholfen hast. Ich bin froh, dass du uns begleitest.“ Der Zwerg brummte etwas Unverständliches und begab sich zu seiner Lagerstatt. „So ein direktes Lob ist nicht die Sache der Zwerge, oder irre ich mich?“, fragte Halgrimm, als er glaubte, dass Wotan ihn nicht mehr hören konnte. Silberhell erklang Oenotheras Lachen. „Nein, ich glaube nicht. Ein Grund mehr, es zu tun. Nein, im Ernst, diese Eigenart macht sie mir sympathisch.“ Eine Zeit lang lagen sie still nebeneinander. Auf einmal schreckte Halgrimm hoch und fragte erschrocken: „Kev! Wo ist Kev? Ist ihm etwas passiert?“ „Nein, es geht ihm gut. Einzig eine lange Schramme im Gesicht hat er davongetragen.“ Oenothera setzte sich auf und richtete ihre Augen hinter sich in die Dunkelheit. „Kev ist dort hinten. Nachdem wir hier unser Lager aufgeschlagen hatten, ist er wieder zum Kampfplatz ge-gangen. Wir sind nicht weit davon entfernt. Er meinte, er muss unbedingt zu den zwei toten Greifen und lernen. Karr hat einmal nach ihm geschaut und erzählte, das Kev einfach neben einem der toten Tiere sitzt und es berührt. Seit Stunden scheint er so ohne Regung zu verharren.“

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Mit einem Mal stand sie auf und grinste. „Ich werde mal schauen, was er macht. Schlaf gut, Halgrimm.“ Ihre Silhouette verschwand in der Nacht. ‚Wer hat gesagt, dass ich schlafen will? War das eine Aufforderung hierzubleiben? ‘ Halgrimm hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm eini-ges entgangen war in den letzten Tagen. Mit Kev, den er gern mochte, suchte er immer wieder während des Reitens das Gespräch. Er hatte nichts davon bemerkt, dass Oenothera ein gesteigertes Interesse an dem Wandler hatte. ‚Elfenfrauen sind genauso wie die menschlichen Frauen – kompliziert und unverständlich.‘ Er raffte sich auf. Mit vorsichtigen Bewegungen schritt er um das Feuer auf die sich leise unterhaltende Gruppe zu. Einen kurzen Moment lang war Halgrimm beim Auf-stehen etwas schummrig. Er fühlte sich erschöpft, aber ansonsten, fand er, ging es ihm erstaunlich gut. Köpfe schauten auf, als sich der Adept näherte. „Da kommt unser zweites Sorgenkind“, klang ihm die wohlklingende Stimme Serenoas entgegen. Ärgerlich schaute Halgrimm die Elfe an. „Mir geht es gut, danke.“ Sehr zu seinem Missfallen sah er, dass alle in der Runde schmunzelten. „Komm, setz dich zu uns, Halgrimm al Noschura“, lud ihn Rolfah ein. „Al Noschura?“, horchte Serenoa auf. „Bedeutet bei den Menschen nicht ein ‚al‘ im Namen, dass die Familie eine bedeutende Stellung innehat?“ „Nicht ganz“, antwortete Corsan. „Jemand aus der Fa-milie hat etwas Ehrenvolles oder Wichtiges vollbracht, und mit dem Zusatz soll die Familie geehrt werden.“

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Halgrimm war etwas peinlich berührt, als er sagte: „Ja, mein Ururgroßvater hat in einem schweren Winter die Hälfte seines Hab und Guts gegeben, um damit Nah-rungsmittel für sein Dorf zu kaufen. Damit wurden wohl einige vor dem Hungertod gerettet.“ Halgrimm ließ sich neben Corsan auf das Gras herab und lenkte ab: „Sind alle wieder wohlauf? Ich habe eben gerade gehört, dass außer mir ihr beiden ernster verletzt wart.“ Er sah dabei Toma und Enyu an. Enyu deutete auf sein linkes Hosenbein, das oben aufgerissen und voll mit getrocknetem Blut war. Darunter sah man undeutlich das Schimmern von weißen Narben auf bronzebrauner Haut. „Das ist alles, was zurück-geblieben ist, den Behütern sei Dank. Außer uns dreien und Oenothera ist niemandem etwas Ernsthafteres als ein paar Schrammen zugestoßen. Der Mustang von Toma ist getötet worden, aber das sollte kein Problem für unsere Weiterreise darstellen. Wir haben genügend Packpferde dabei. Heute sind wir noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Ich hätte nie gedacht, dass die Greifen außerhalb des Moranion jagen würden.“ „Diese Biester waren auf einmal über uns und haben uns völlig überrascht. Wie kann das sein?“, wollte Halgrimm wissen. Rolfah knurrte: „Wir haben einfach nicht mit einem Angriff aus der Luft gerechnet. Dazu kamen die Greifen aus der Sonne, genau die Richtung, in die man es ver-meidet zu blicken. Diese Raubtiere sind geschickte Jäger.“ Ein lautes, abgehacktes Geräusch gellte durch die Nacht. Erschrocken fuhren alle am Feuer auf und sahen in die Richtung, aus der dieses tiefe Dröhnen kam. Kurz darauf lachten einige, andere seufzten erleichtert auf. Wotan schnarchte.

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Faban betrachtete Wotan wohlwollend, während er an den Haaren seines Schnurrbarts zwirbelte. „Endlich ein Abend, an dem uns nicht die Luft durch seine Pfeife verpestet wird. Er hat seinen Schlaf redlich verdient. Ohne seine Heilgebete stünde es jetzt schlecht um uns.“ „Und ohne Euren Zauber ebenfalls, Meister Faban“, fügte Rolfah hinzu. „Ach, na ja … das. Hat ganz gut funktioniert, was? Dank deiner Hilfe und der von Olagrion und Corsan.“ Corsan gab bei diesen Worten ein Brummen von sich und nickte Faban zu. Halgrimm sah fragend zu seinem Lehrer. „Ich dachte nicht, dass man Trugbilder so gut im Kampf einsetzten kann. Offensichtlich funktioniert es gegen Tiere.“ Faban schüttelte seinen Kopf, und sein faltiger, von Altersflecken gezeichneter Hals schlackerte dabei leicht. „Oh, nicht nur gegen Tiere. Illusionen kann man gegen alle Lebewesen einsetzten, die eine zumindest grund-legende Intelligenz besitzen“, entgegnete Faban. Halgrimm machte ein zweifelndes Gesicht. „Aber in einem Kampf? Ich weiß nicht … Das Risiko, dass ein Feind meine Illusion durchschaut und ich Kraft und Zeit umsonst verschwendet habe, ist doch viel zu hoch. Und dazu kann ich damit niemandem schaden. Die Illusion einer Feuerexplosion verbrennt niemanden. Dann er-schaffe ich doch lieber eine echte Feuerexplosion.“ Faban zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. „Oh … natürlich erst dann, wenn ich den Machtkreis anwenden darf – oder unter Eurer Aufsicht.“ „Nuun, Halgrimm, da kommen wir wieder zum klugen Einsetzen von Zaubern. Es gibt sehr wohl Situationen, in denen ein Bann mit Zerstörung unbrauchbar ist. Was glaubst du, wäre mit all unseren Gefährten passiert, wenn

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ich deine Feuerexplosion heute gegen die Greifen ange-wendet hätte? Im weiten Umkreis wäre alles und jeder verbrannt.“ „Na gut, da habt ihr recht. Ihr habt sie klug verjagt. Aber es waren dumme Tiere, die auf das Trugbild herein-gefallen sind.“ „Du verkennst die Macht eines Illusionszaubers. Es stim-mt schon, eine Illusion muss überzeugend sein und so gut wie möglich in die Situation passen. Ansonsten hat sie keine Wirkung und wird als schattenhaftes Bild wahr-genommen. Man könnte sagen, es ist ein Duell des Geistes zwischen dem Magier, der das Trugbild erschafft, und seinem Kontrahenten, der es mit seinem Intellekt durchschauen könnte. Der kleinste Fehler reicht einem klugen Verstand, um eine Illusion zu enttarnen. Trotz dieser Gefahr sind die Möglichkeiten enorm. Man kann je nach Situation flexibel passende Täuschungen erschaf-fen.“ „Wäre es nötig gewesen, die Greifen heute zu töten, hättet ihr aber kein Trugbild benutzen können“, wandte Toma ein. „Das stimmt nicht unbedingt. Ein Trugbild kann höchst gefährlich sein, wenn der andere daran glaubt. Wird eine glaubhafte Illusion erschaffen, in der jemand den Arm verliert, wird derjenige schreiend seinen Arm halten. Na-türlich wäre der Arm noch unverletzt an seinem Körper, der Betroffene würde aber glauben, ihn verloren zu haben und ihn nicht mehr benutzen, solange bis das Trugbild verlischt oder er es durchschaut. Es geht sogar noch weiter: Jemand, der glaubt, unter einer Felslawine zerquetscht zu werden wird augenblicklich ohnmächtig und stirbt meistens. Die Todesursache ist nicht ein zermalmter Leib, sondern Herzversagen.“

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Halgrimm schüttelte sacht den Kopf. „Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, dass eine Illusion solche Aus-wirkungen auf mich haben könnte.“ „So? Dann erkläre mir, warum du gestern Abend beim Kampf gegen das Feuerelementar aufgeschrien hast, als es dich mit einer Feuerkugel traf!“ Verblüfft schwieg Halgrimm für eine Weile. „Ihr habt recht, es war ein Trugbild, und trotzdem spürte ich das Feuer. Bei diesem Kampf hatte ich keine Kon-trolle und war verzweifelt am Überlegen, was ich unter-nehmen könnte. Dabei wurde der Kampf für mich irgendwie zu einer echten Auseinandersetzung. Ja, ich hatte wirklich das Gefühl, verbrannt zu werden. Der heftige Schmerz machte mich wütend und dann … das ist doch einfach unmöglich.“ Faban sah ihn aus stechenden Augen an. „Ja, das war ein gefährlicher Augenblick. Ich war drauf und dran, die Illusion zu beenden, aber dein Zauber kam mir zuvor und brach meine Konzentration.“ „Das hätte ich nie gedacht. So oft wendet der Orden Trugbilder bei Übungen an, und noch nie ist etwas vorgefallen.“ „Weil den Schülern immer vorher gesagt wird, dass es Illusionen sind, und diese auch nicht ernsthaft eingesetzt werden. Die Vorstellungskraft ist eine mächtige Waffe, und sie kann gegen einen selbst verwendet werden. Die Macht von Vorstellungen ist unglaublich groß, egal, ob sie auf Wahrheit beruhen oder nicht. Ganze Völker werden davon gelenkt, und große Umwälzungen ge-schehen nur, weil viele Individuen an etwas glauben. Es soll schon vorgekommen sein, dass Theaterspieler zu Königen gemacht wurden. Nicht wegen ihres großen Wissens um das Land oder ihrer Kriegskünste. Allein ihre

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Sprachgewandtheit und ihr Vermögen, das ausstrahlen zu können, was das Volk sehen wollte, reichte zum Herr-schen aus. Oder denke an das Imperium der Drakaner. Von Kind auf wird jedem der Bevölkerung dieses Reiches mit Lug und Trug beigebracht, dass Freiheit etwas Schlimmes sei und zu Chaos, Hunger, Not und Elend für alle führe. Solange das drakanische Volk dies glaubt, kön-nen wenige viele unterjochen. Auch in unserem Alltag begegnen wir täglich selbst ge-machten Illusionen. Jeder, der ehrlich zu sich ist, weiß, wie oft man sich selbst und andere belügt, um besser dazustehen oder einen Fehler nicht eingestehen zu müs-sen. Dies ist auch eine Illusion, die wir bereitwillig für unser Ego aufbauen und an der wir festhalten. Nur mit Selbstkritik und Ehrlichkeit kann man seine Selbstver-liebtheit durchschauen, und oft braucht man die Hilfe von Freunden, die einem die Wahrheit sagen. Das sind die Gründe, warum Illusionen gerade bei intelligenten Wesen so mächtig sein können, wenn die Vorspiegelung die Schwächen oder das Ego des Individuums nutzt.“ Halgrimm starrte schweigsam ins Feuer. Es war ihm deutlich anzusehen, wie er über das Gehörte nachsann und immer noch zweifelte. „Ich würde gern einen Wettkampf der Illusionen zwi-schen Euch und Olagrion sehen“, unterbrach Enyu den Moment der Stille. „Olagrion?“, verwunderte sich Toma. „Aber er ist doch der Magie nicht mächtig.“ Faban lachte auf. „Nein, so meinte Enyu das auch nicht. Olagrion ist ein Schoo-lark. Er ist der Lehrmeister von Enyu, Oenothera und Serenoa und unser Führer wegen seiner Fähigkeiten in der Wildnis und der tiefen Ver-bundenheit mit ihr. Ich weiß selbst nicht genug über

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einen Schoo-lark. Eine Angelegenheit, bei der unsere elfischen Freunde ganz schweigsam werden …“ Enyu lächelte verbindlich und nickte dem alten Ordens-meister zu. Faban fuhr fort: „Auf jeden Fall bemerkt ein Schoo-lark die kleinsten Änderungen, und es ist schwer, einen Schoo-lark mit einem Trugbild zu täuschen – genauso wie ihn zu überraschen. Er war bei dem Greifenüberfall der Erste, der etwas bemerkte, noch vor deinem Warnruf, Enyu. Er hat mich vom Pferd in Sicherheit gezogen, und ich Narr habe ihn erbost gefragt, ob er Tollbeeren gegessen hat.“ Toma sagte, nicht ohne eine gewisse Bewunderung in der Stimme: „Olagrion hält die erste Wache. Es ist, wie immer bei Euch Elfen, nichts von ihm zu sehen oder zu hören.“ Karr schnaubte. „Trotzdem sind Elfen keine Wunder-wesen. Sie müssen atmen wie wir und genauso wie alle anderen nach ein paar Mahlzeiten die Grube benutzen.“ „Aber beides können wir eleganter als Ihr.“, neckte Serenoa. Corsan hingegen rügte Karr ärgerlich: „Du kannst nicht leugnen, wie viel wir allein in den wenigen Tagen von ihnen gelernt haben. Man nennt uns in Flüsterstein Waldläufer, aber diesen Namen haben hier nur unsere elfischen Gefährten verdient.“ Faban gähnte übermäßig laut und unterbrach damit weitere Reden. „Es war ein anstrengender Tag für uns alle. Unsere Nerven sind angespannt und unsere Körper müde. Ich werde mich jetzt zur Ruhe begeben, und das solltet Ihr auch tun.“ „Ein guter Rat.“, stimmte Rolfah zu. „In zwei Stunden beginnt mein Wachdienst, und ich muss vorher noch etwas Schlaf bekommen.“

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Die Runde löste sich auf, nur Serenoa blieb noch beim Lagerfeuer. Mit angezogenen Knien, die sie mit ihren Armen umschloss, blickte sie in den Nachthimmel hinauf und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Leise flüsterte sie den Sternen zu: „Wie schade, dass so wenige den Zusatz ‚al‘ im Namen haben …“ Leichtfüßig sprang die Elfe über Grasbüschel und Äste. Dabei verursachte sie kaum ein Geräusch, nicht mehr als ein leises Rascheln. Sie genoss die frische Luft des Abends mit den Gerüchen dieses Landes und die An-strengung ihrer Muskeln. Gleichmäßig und fast entspannt bewegte sich ihr wohlgeformter, athletischer Körper. Oenothera orientierte sich während ihres kurzen Spurtes und fand trotz der Dunkelheit direkt den Weg zum Ort des Überfalls zurück. Als sie ankam, sah sie schnell den großen Leichnam des Greifen, der sich durch sein weiß-braunes Federkleid in der Dunkelheit deutlich abzeich-nete. Ein Schemen war über den Kadaver gebeugt, fast schon an den toten Körper geschmiegt. Ein leichtes Frösteln überkam Oenothera bei dieser Szene. ‚Jetzt nimm dich mal zusammen, Mädchen. Seit wann gibt sich eine Elfe ängstlich? Die Angst ist der Feind der Vernunft.‘ Still und reglos lag die Gestalt über der Tierleiche, die nach diesem warmen Tag ersten Verwesungsgeruch aus-strömte. Neugierig trat sie näher, konnte aber ungeachtet aller Vorsätze nicht verhindern, dass sie eine Gänsehaut bekam. Es war Kev, und er atmete noch, ruhig und langsam. Oenothera war erleichtert, im ersten Moment hatte sie befürchtet, dass ihm etwas passiert sei. Still beobachtete sie sein Gesicht mehrere Minuten lang. Deutlich trat die lange Schramme auf seiner Wange

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hervor, die er heute bei dem Überfall der Greifen erhalten hatte. Auf dem Boden neben ihm lagen ein Ring, ein Dolch und ein Schwert mit Scheide und Gurt. Warum hatte er seine Waffen und den Ring abgelegt? Nach einer Weile machte sie absichtlich ein Geräusch. Kev reagierte nicht. „Das ist keine besonders gute Idee, alleine in der Nacht auf einem toten Greifen einzuschlafen. Ich hätte dir mehr Verstand zugetraut. Warte, ich nehme meine letzte Aussage zurück, ich bin mir da nicht sicher.“ Kev lag weiter regungslos da. Etwas enttäuscht, dass ihre Rede nicht mehr Eindruck gemacht hatte, berührte sie seine Schulter und rüttelte sie. Keine Regung war Kev zu entlocken. „Kev? Kev!“ Sie schüttelte ihn heftiger und bekam ein ungutes Gefühl. Ihre Finger fühlten etwas Seltsames, das gerade eben noch nicht vorhanden gewesen war. Das Lederhemd von Kev fühlte sich auf einmal glitschig an. Mit einem lauten Keuchen wich Oenothera zurück. Das Lederhemd schien sich aufzulösen und in Kevs Körper zu verschwinden. Sein Gesicht streckte sich, wurde spitzer, dehnte sich aus. Die Nase verschwand, stattdessen bildete sich etwas Hornartiges. Oenothera verspürte kurz einen Impuls wegzulaufen, war aber zu gefesselt von diesem abscheu-lichen Anblick. Kev richtete sich auf, stützte sich mit seinen Armen und Knien auf die Erde. Rasend schnell formte sich sein ganzer Körper um, gewann an Masse und Gestalt. Federn trieben überall aus der Haut hervor, und aus dem Rücken wuchsen zwei mächtige Flügel. Oenothera erlebte in nur wenigen Augenblicken, wie ein Greif, höher und breiter als ein Pony, vor ihr entstand. Das Raubtier schlug mit

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den Flügeln und kreischte in den Himmel hinauf. Die Elfe machte einen Satz nach hinten und zog ihren langen Dolch. Darauf schritt auch der Greif zurück, sah sie wissend an und schüttelte den Kopf. „Bist du das, Kev?“ Der Greif nickte und stand ruhig da. „Das gibt es doch nicht! Musst du mich so erschrecken?“ Wenn es je einen Greifen gab, der verlegen aussah, dann dieser vor der erzürnten Elfendame. „Du musstest wohl unbedingt angeben, nicht wahr? Ich mache mir Sorgen und denke, es ist was Schlimmes passiert, und du nimmst mich auf den Arm. Auch wenn du mir heute bei dem einen Greifen mutig beigestanden hast, gibt dir das noch lange nicht das Recht, solche Scherze zu treiben!“ Der Greif blinzelte mit großen Augen Oenothera an und ließ die Flügel hängen. Erbost verschränkte sie die Arme, den Dolch immer noch in der Hand. Auf einmal veränderte sich die Haltung von Oenothera. Sie steckte die Waffe weg, und ihre Gesichtszüge wurden ganz sachlich. „Ich wollte nur mal kurz nach dir sehen, da du schon so lange vom Lager weg warst. Hast du die ganze Zeit benötigt, um die Gestalt eines Greifen zu erlernen?“ Kev bestätigte, drehte sich weg und machte einige un-sichere Schritte. Es erinnerte Oenothera an ein Jungtier, das noch unkoordiniert seine Beine gebrauchte. Er ging auf und ab und gewann schnell an Sicherheit. Bald sprang und rannte er hin und her. Oenothera beobachtete ihn interessiert, lies aber ihre Umgebung nie aus den Augen. Schließlich schlug Kev kräftig mit den Flügeln. Zuerst hob er nur wenig vom Boden ab. Daraufhin nahm Kev

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einen weiten Anlauf, sprang ab und schwang sich in die Luft. Die Elfe sah, wie der Wandler einige Flugmanöver dicht über dem Boden ausprobierte und sich dabei sehr geschickt anstellte. Nach einiger Zeit landete Kev wieder vor ihr, und Oenothera erblickte erneut eine Metamorphose. Ohne eine Regung zu zeigen, wartete sie ab, bis sich Kev in seiner normalen Gestalt erhob. Wie vor der Verwandlung war er in seine Lederkleidung gehüllt, und sein Gesicht schien unversehrt und unverändert. „Das Fliegen hast du recht schnell erlernt. So viel Ge-schick hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ Verlegen wischte sich Kev Erde von den Händen und Knien. „Schön wär’s. In Wirklichkeit habe ich ein knappes Jahr gebraucht, bis ich behaupten konnte, fliegen zu können. Der Greif ist nicht die erste Form mit Flügeln, die ich erlernt habe. Ich kann mich seit Langem in eine Schwalbe und in einen Falken verwandeln und in diesen Gestalten habe ich mühsam das Fliegen erlernt. Es ist die schwierigste Bewegungsart, die ich je meistern musste.“ „Sie ohne jemanden der einen anleitet zu erlernen ist bestimmt ziemlich gefährlich.“, meinte Oenothera. „Na ja, irgendwann verlor ich die Angst zu fallen. Be-sonders der Anfang war recht schmerzhaft. Glücklich-erweise gibt es Heuhaufen.“ Die Elfe betrachtete ihn mit seltsamem Ausdruck. „Du bist wirklich erstaunlich. Kannst dich in einen Vogel verwandeln oder wie ich heute erlebte auch in einen großen Höhlenbären. Der Greif sah nicht gut aus, als du mit ihm fertig warst.“ Kev lächelte verschämt den Boden an.

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„Komm, es ist spät, und morgen brauchen wir alle einen wachen Verstand. Wir sollten ausgeruht sein, wenn wir in das Reich des Moranion-Waldes eindringen. Vergiss deine Waffen nicht. Wieso hast du sie überhaupt abgelegt?“ Kev legte seinen Waffengurt an und antwortete: „Wegen der Verwandlung. Ich kann nur organische Dinge mit mir Umwandeln, und deswegen lege ich alle metallischen Gegenstände ab.“ Während sie langsamen Schrittes zurückgingen, fragte Oenothera: „Sag mal, Kev, wo ist der Riss auf deiner Wange geblieben? Vorhin habe ich ihn noch gesehen.“ „Was? Oh, das hängt irgendwie mit meinem Gestalt-wandeln zusammen. Bei der Umformung meines Körpers scheinen kleinere Wunden zu verheilen, und größere schließen sich ein wenig. Ich weiß auch nicht genau, warum.“ „Das heißt, du musst dich nur mehrmals hintereinander verwandeln und heilst damit jede Verletzung?“ „Das stimmt, wenn ich mehrere Tage Zeit habe und eine gut gefüllte Vorratskammer verschlingen kann. Ich darf mich nicht einfach beliebig oft hintereinander umformen. Jede Metamorphose kostet mich viel Kraft, und bei zu vielen Verwandlungen bin ich bald erschöpft. Ein unglaublicher Hunger stellt sich ein, und je mehr ich mich verwandle, umso mehr muss ich danach essen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Frag mich bloß nicht, wa-rum. Ich glaube, ich würde sogar innerhalb eines Tages verhungern, wenn ich oft hintereinander meine Gestalt wechseln würde und dann nicht eine Menge zu essen bekäme.“ „Keine Sorge. Solange Olagrion uns führt wird niemand verhungern.“

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Wieder bemerkte Kev einen Stimmungswechsel bei der Elfe. Sie verfiel plötzlich in einen Laufschritt und rief zu ihm zurück: „Ich habe keine Lust, langsam wie ein altes Weib zu gehen. Was sagst du zu einem Wettlauf mit einer Elfe durch die Wildnis?“ Kev fragte sich, was das nun wieder sollte. ‚Was soll ich denn jetzt machen? Ist es höflich bei den Elfen, die Dame gewinnen zu lassen, oder beleidigend, wenn man sich nicht anstrengt? Mist. Ach, was soll’s.‘ Oenothera war schnell und, was in der unwegsamen Natur noch wichtiger war, eine wendige Läuferin, die ihresgleichen suchte. Sie staunte nicht schlecht, als sie von einem großen Feldhasen locker überholt wurde.

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Welt Tepor, südlich der Vierfürstentümer, Moranion-Wald „Ich glaube, ich habe bis jetzt noch nie einen richtigen Wald gesehen.“ Mit düsterer Miene führte der lange, schlanke Rolfah sein Pferd um einen umgestürzten Baumstamm, dessen Holz unter der Schicht von Moos und Flechten kaum noch zu erkennen war. „Dabei bin ich in den Vierfürstentümern in allen bekannten Gehöl-zen gewesen und auch in den Wäldern des nördlichen Grenzgebietes beim Grauen Turm. Aber das hier …“ Laut fluchend hackte er sich durch einen Haufen von abgestorbenen Ästen und runterhängenden Schlingpflan-zen, die ihm den Weg versperrten. Sein Apfelschimmel, den er hinter sich herführte, schnaubte nervös. „Aber er ist voller Wunder und Schönheit“, schwärmte Serenoa. „Hör auf zu schimpfen, du machst mehr Lärm als ein Wildschwein.“ ‚Sie hat recht.’, stimmt Kev ihr in Gedanken zu. ‚Wir sind zu laut. Man kann hier bei all den Blättern und Ästen kaum gesehen werden, aber Geräusche werden weit getragen.’ Serenoa folgte Rolfah mit ihrem Mustang auf dem frei-gemachten Pfad. Unterholz, Brombeersträucher und die hier vorherrschenden Pappeln standen so dicht, dass man sich ständig den Weg frei schlagen musste. Rolfah machte dies gut, aber er brauchte laute Flüche und derbe Sprüche ebenso sehr, um sich durch das Gestrüpp zu schlagen, wie sein Hackmesser. Die übrigen Gruppenmitglieder konnten dem so entstandenen schmalen Pfad nur hinter-einander folgen. Der Boden war weich und feucht, roch modrig und erschwerte das Gehen. Im grünen Zwielicht tanzten Fliegen und ganze Horden von Mücken und erfüllten das Dickicht mit ihrem Summen. Die Schweife

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der Pferde schlugen unablässig um sich, und immer wieder schüttelten sie die Köpfe, um die Quälgeister zu verjagen. „Autsch, Mistviecher.“ Wotan schlug mit einer Hand auf seine Wange. Missmutig brummte er Olagrion an, der vor ihm herging. „Mussten wir denn unbedingt hier lang-gehen? Es ist hier stickig und heiß. Wir hatten doch einen schönen Pfad gefunden, der auch noch in unsere Rich-tung führte.“ „Ja, wir haben einen Pfad gefunden, fast schon einen Sandweg – keinen Trampelpfad von Tieren. Ein Weg im Moranion! Das ist es ja, was mir Angst macht. Nein, es ist besser, sich durch dieses Feuchtdickicht durchzuschlagen, als eine Gefahr herauszufordern.“ „So? Dafür begegne ich hier der Gefahr des Hitze-schlags.“ Oenothera rief von hinten: „Kein Wunder, bei all den Haaren. Rasier deinen Bart ab, und das Problem ist schon gelöst.“ Wotan knurrte: „Ich finde, hier gibt es eindeutig eine Zunge zu viel in unserer Gruppe. Ich gebe jedem, der mir hilft, diese Zunge rauszureißen, einen Diamanten.“ Ein weibliches melodiöses Kichern erklang von hinten. „Ich muss mich für meine Schülerin entschuldigen, Erdenbewahrer.“ Olagrion blickte mit einem leidenden Gesichtsausdruck zu Wotan zurück. „Bei der Namens-gebung dieser Elfendame ist leider ein Fehler passiert. Eigentlich hätte sie den Namen Serenoa bekommen müs-sen statt Oenothera.“ „Ich finde Atropa noch passender“, rief Enyu halb prustend von hinten. Daraufhin lachten die Elfen mit Ausnahme von Oenothera, die anderen sahen sich nur verständnislos an.

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„Wie ungemein geistreich“, kam es schnippisch von Oenothera. Kev ging etwas schneller und kam dadurch in die Nähe des Ordensmeisters. Leise fragte er: „Könnt Ihr mir erklären, was das zu bedeuten hatte?“ Faban lehnte sich etwas nach hinten und raunte: „So genau weiß ich das auch nicht, junger Mann. Ich meine, es hat etwas mit Pflanzen zu tun. Um mehr zu sagen, müsste ich in einer Bibliothek nachforschen.“ Ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen. „Warum fragst du nicht Oenothera? Sie kann es bestimmt erklären.“ „Was? Nein. Ich bin ohnehin schon eines ihrer Liebling-sopfer. Ich bin doch nicht verrückt und begebe mich bei ihrer jetzigen Laune in ihre Nähe.“ „Zu schade, junger Mann, das Schauspiel hätte ich gern gesehen.“ Erbost, dass sich Meister Faban über ihn lustig machte, ließ sich Kev wieder etwas zurückfallen. Fast hätte er nicht bemerkt, wie der sie führende Rolfah seine Hand hob und die Gruppe anhalten ließ. Seine Gefährten und er verharrten. Lautes Knacken von mehreren zerbrech-enden Ästen und Zweigen ließ die Gefährten zu den Waffen greifen. Die Pferde schnaubten nervös, fingen an zu tänzeln. Ohne nachzudenken legte Kev eine Hand auf die Nüstern seines Pferdes. Augenblicklich stand es still und war vollkommen ruhig. Angespannt verharrten die Flüstersteiner auf der Stelle und machten keinen laut. Rolfah, der dem Krachen am nächsten war, fluchte lautlos. Mehrere Pferdelängen von ihnen entfernt zitterte eine Zusammenballung von Riesenfarnen und langem, höl-zernem Gras. Ein breiter Schädel, größer als der eines Pferdes, schob sich daraus hervor. Es schien, als hätte

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jemand eine Schachtel langer Schiffsnägel willkürlich auf dem Kopf des Tieres verteilt. Die handlangen Stacheln gaben dem Tier ein gefährliches Flair. Dazu wirkte das breite, weiche Maul eher grotesk statt Furcht einflößend. Die Nase bestand aus zwei langen Schlitzen auf einem etwas erhöhten Knochenwulst, der aus der Mitte des Gesichtes herausragte. Wie erstarrt schauten die zwölf auf dieses unglaubliche Haupt. Kurzsichtig blinzelten zwei schwarze große Augen in die Gegend. Sie lagen weit auseinander und waren tief im Schädel eingebettet. Mit einer gemächlichen Bewegung nahm die Kreatur ein gewaltiges Büschel Farn in sein Maul und riss es ab. Dabei entdeckte Kev, dass sich das Haupt auf einem längeren Hals befand. Seine Haut hatte einen dun-kelbraunen Ton, gesprenkelt mit helleren Flecken. Dieses Tier war groß, sehr groß. Kev war begeistert. Was für ein Anblick, diese Kraft, diese Erhabenheit. Er bekam vor lauter Faszination nicht mit, dass keiner seiner Kamera-den seine Meinung teilte. Die Kreatur fraß in aller Ruhe den Farn nach und nach ab. Als es nichts mehr zum Fressen gab, schoss sie in einer plötzlichen Bewegung seitlich davon. Dicke Stämme wurden umschlängelt, alles andere niedergetrampelt. Kev erhaschte zwischen den Pflanzen manchmal einen Blick auf einen langen, gewaltigen Rumpf mit mehreren Beinen und einem langen Schwanz. Auch auf diesen Körperteilen befanden sich dicht an dicht Hornstacheln – massiver und länger als die am Kopf. Bald schon war es außer Sicht, und Kev sah wehmütig dem Tier hinterher. „Das Viech hatte doch tatsächlich acht Beine.“ Toma, der hinter Rolfah gestanden hatte, war immer noch ganz überwältigt und kratzte sich an seinem Bauch. „Mit

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diesem stacheligen Ding hätte ich mich nicht gern angelegt. Was war denn das für ein Tier?“ Die drei Elfenschüler sahen Olagrion an. Der schaute selbst ratlos in Richtung des sich entfernenden Raschelns und Brechens. „Ich weiß es nicht. Dieses Tier ist meinem Volk nicht bekannt, und ich habe es heute zum ersten Mal gesehen. Wir wissen noch so vieles nicht von diesem Wald.“ Rolfah schritt vorsichtig zu den Überresten des abgefressenen Farns und sah sich neugierig um. „Kommt mal her. Diese übergroße Eidechse hinterlässt einen netten Trampelpfad. Ich glaube, der verläuft, soweit ich es sehen kann, ungefähr nach Südwesten. Von der Felsennadel aus müssen wir doch nach Südwesten bis zu einer Schlucht.“ „Sollten wir nicht diesen glücklichen Zufall nutzen, Olagrion?“, fragte Serenoa. „Wir sind heute nicht weit vorangekommen.“ Seufzend schlug sich Olagrion auf den Nacken und schnippte anschließend eine tote Mücke von der Handfläche. „Ja, sollten wir. Falls wir noch mal auf einen dieser … nun … dieser Stachelläufer treffen, dann verlasst sofort den Pfad. Es sind anscheinend Pflanzen-fresser, aber wer weiß, wie aggressiv sie reagieren.“ Wotan feixte: „Ach was, ich werde den Trampelpfad-macher küssen, wenn wir ihm begegnen. Nur weg hier von diesen kleinen Blutsaugern.“ Serenoa lachte. „Hoffentlich begegnen wir einem.“ Leise fing sie an, eine lustige Melodie zu summen. Der späte Nachmittag verging trübe unter grauen Wolken, während sie den Weg des seltsamen Pflanzen-fressers zurückverfolgten. Um sie herum drangen viel-

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fältige Tierlaute aus den Tiefen des Waldmeeres, die Halgrimm noch nie vernommen hatte. Es war eine Symphonie aus seltsamen bellen, neuartigen zwitschern und abnormen blöken. Dieser Ort war fremdartig und pulsierte von Leben. Er wusste nicht, ob er vom Mora-nion fasziniert oder erschrocken sein sollte. Alles wuchs in diesem Wald so dicht, dass Halgrimm das Gefühl hatte, als gingen sie durch einen schmalen Hohlweg, der links und rechts von grünen Mauern begrenzt war, die durchsetzt waren mit Löchern. Selten konnte man durch diese Lücken weiter sehen als einige Pferdelängen. Sie waren der geschlängelten Schneise eine geraume Zeit gefolgt und kamen deutlich besser voran. Nach einer Kurve mündete der Trampelpfad auf einen etwas brei-teren Weg voller aufgewühlter Erde und Sand. „Ha, wenn das mal nicht der Weg ist, den wir vor Stunden gefunden haben“, grummelte Wotan laut. Seine Laune war tiefer gesunken als die untersten Tunnel von Hammerklang. „Jetzt sind wir wieder auf ihn gestoßen und hätten ihn auch gleich nehmen können.“ Kev zeigte auf den Sand. „Sind wir vielleicht im Kreis gelaufen? Anscheinend waren wir hier schon einmal, der Sand ist ganz zerwühlt von Pferdehufen.“ Konnte das stimmen? Nein, unmöglich. Halgrimm konn-te sich nicht vorstellen, wie vier Waldläufer der Blauen Rose und vier Elfen – ein Schoo-lark mit seinen Schülern – sich alle in der Richtung geirrt haben sollten. Karr und Enyu gingen in die Hocke, um den Boden genauer betrachten zu können. Für Halgrimm sah es seltsamerweise so aus, als würden die beiden sich im Spurenlesen messen. Nein, dies ging eher von Karr als von dem Elfen aus.

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Sand und Erde waren aufgewühlt, doch am Rand des Weges erkannte man einige verwischte Hufabdrücke. Es gab nur eine mögliche Erklärung. Halgrimm sprach aus, was er dachte: „Wie wahrscheinlich ist es, das sich alle unsere Fährtensucher verirrt haben? Und wie wahrschein-lich ist es, dass man im Moranion die frischen Spuren irgendeiner Reisegruppe antrifft?“ „Er hat recht, die Drakaner sind wohl vor uns.“ Karr kam aus der Hocke hoch und sein hageres Gesicht strahlte eine freudige Erregung aus, wie ein Kind, das ein unverhofftes Geschenk bekommt. „Das sind niemals unsere eigenen Spuren.“ „Unglück und Verdammnis. Jetzt müssen wir sie einholen und stellen.“ Der alte Zauberer erfasste Karr mit seinem stechenden Blick. „Ja, ein Kampf wird wohl unver-meidlich.“ Einige murmelten ihre Zustimmung; alle bis auf Karr machten besorgte Gesichter. Faban entfernte sich mit ein paar Schritten von dem Ring der Versammelten. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen schaute er den Weg entlang, den die Drakaner wohl schon beschritten hatten. Leise, als spräche er zu sich selbst, fragte er: „Wie viele werden es sein?“ „Schwer zu sagen. Etwa die Anzahl unserer Gruppe, eher etwas mehr?“ Die Stimme von Olagrion klang vorsichtig. „Wenn wir weiter nach Hinweisen suchen, könnten wir das eventuell genauer bestimmen. Das kostet jedoch Zeit, und Zeit ist genau das, was wir jetzt nicht haben. Wir wissen nicht genau, wie weit der Unterschlupf Abusans entfernt ist.“ Olagrion schaute erneut auf die verwischten Abdrücke im Sandboden und runzelte die Stirn. Er erschien Halgrimm besorgt oder irritiert.

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„Ja, wir müssen sie einholen, bevor sie das Versteck erreicht haben“, stimmte Faban zu. „Ich will aber nicht, das wir auf sie raufrennen wie eine Horde Büffel. Olagrion, du bist als Späher der Fähigste unter uns. Geh uns voran und warne uns, sobald du unsere Gegner gefunden hast.“ Der Schoo-lark gab Faban den Elfengruß zur Erwiderung und machte sich umgehend im schnellen Laufschritt an die Erfüllung seiner Aufgabe. Eilig stellte Faban kleine Gruppen zusammen, die verschiedene Aufgaben bei einem Kampf übernehmen sollten. Ideen und Hinweise von anderen nahm er mit auf, und gemeinsam entwickelten sie einen groben Plan, wie man gegen die Drakaner vorgehen wollte. Ein gewisser Stolz durchfuhr Halgrimm, als er seinen verehrten Lehrmeister so bestimmt und sicher auftreten sah. Der alte Mann hatte nicht nur bei seinen jungen Schülern Autorität. Seine Art zu führen gab dem Gegenüber das Gefühl, wertvoll zu sein, anstatt ihn zu dominieren. Dazu war er ruhig und kompetent. „Halgrimm, du träumst doch nicht etwa?“ „Wie …? Äh, nein, Meister Faban.“ „Junge, das gibt es doch nicht – es wird ernst! Du musst dich mit mir gleich noch vorbereiten, sonst gibt es noch eine Katastrophe. Geh schon einmal die Schutzbanne durch, die du gelernt hast.“ „Ja, Meister Faban.“ Nun gut, er konnte mit allen gut umgehen, die nicht seine langjährigen Schüler waren. Bald darauf waren sie wieder unterwegs. Langsam und wachsam gingen sie den Sandweg entlang, die Bögen im Anschlag und ihre Waffen gezogen. Waldläufer wie Elfen waren konzentriert und lauschten. Das war allerdings schwierig, denn eine Stimme, der man anmerkte dass sie

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versuchte verhalten zu sprechen, ratterte energisch Lek-tionen herunter. „Also, Halgrimm, immer daran denken: ruhig und konzentriert. Wenn dein Bann vollendet ist, hast du gegen einen normalen Krieger schon gewonnen, also hab keine Angst.“ „Ja, Meister.“ Halgrimm wusste nicht, womit er das verdient hatte. Meister Faban war besorgt wie die Glucke um ihre Küken. Sehr peinlich, diese Lehrstunde. „Es sei denn, es ist ein Bogenschütze. Ein gut ausge-bildeter Bogenschütze kann verdammt schnell sein und muss nicht erst zu dir rennen. Also, immer Augen auf.“ „Jaa, Meister.“ Oh nein. Oenothera, dieses Biest, sah ihn mitleidig an. „Versuch lieber, schnelle, nicht so mächtige Zauber zu wirken. Wenn dir ein komplizierter Bann misslingt oder du vorher unterbrochen wirst, kann das dein Ende be-deuten.“ „Jaaa, Meister.“ ‚Und piss nicht gegen den Wind, schmuse nicht mit Trollen und iss keinen gelben Schnee! ‘, führte Halgrimm die Belehrung seines Lehrers in Gedanken weiter. „Gut, mein Junge, das wird schon. Mal sehen, du be-herrscht ausgezeichnet den Chamäleonbann, das bringt dich aus der Schusslinie. Den Verkleinerungszauber und den Vergrößerungszauber für Gegenstände kann man nur bedingt in einem Kampf einsetzen. Den Bann der Dunkelheit führst du auch gut aus. Ah ja, du kannst einige Eiskampfflüche. Zeig mir die Verwebung der Kraftlinien für deine Eisdolche. Aber natürlich ohne wirklich Macht anzuziehen, nur ansatzweise. Führ die Verknüpfung ganz langsam aus, sonst kann ich es nicht sehen.“

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Halgrimm seufzte verhalten. Er sammelte sich und schöpfte dann ein Minimum an Energie. Seine Konzen-tration wurde tiefer, und er schloss die Augen. Mit seiner okkulten Wahrnehmung erfasste er die unterschiedlichen Stränge von Macht, formte sie um und verwob sie miteinander. Je nachdem, was diese Kräfte beeinflussten, strahlten die Stränge für ihn in verschiedenen Farben auf; aber es waren keine Farben, die er hätte benennen können. Es gab sie nicht in der Natur, nur auf der okkulten Ebene, die sich nur denjenigen erschloss, die die Macht formen konnten oder sie von den Behütern bekamen. Ebenso fühlten sich diese Energielinien unterschiedlich an, ohne dass man es hätte näher umschreiben können. „Gut, du verwebst sie genau richtig. Und jetzt zeige mir den Erdwallschild und die Lichtexplosion.“ Halgrimm musste noch von zwölf weiteren Zaubern die Verknüpfung der Kräfte vorzeigen. Er fragte sich, wieso sein Mentor ihn ausgerechnet jetzt diesen Anfängermist durchführen ließ. Es waren die Grundübungen für neue Zauber und hatte nur wenig mit der gefährlichen Bindung eines Bannes zu tun. Mit geballter Schöpfungsmacht Kraftstränge zu verweben war ein Überlebenskampf, und anschließend musste man dann noch den Zauber in das Gewebe der Wirklichkeit einbinden, was eine ganz eigene Schwierigkeit darstellte. Meister Faban schien gerade arge Zweifel an seinen Fähigkeiten zu haben, wenn er ihn Grundübungen durchführen ließ. Oder war er nur besorgt? Also wirklich, er war kein Kind mehr. Trotzdem war es … na ja, nett, dass Meister Faban um ihn besorgt war. Solche Fürsorge hatte er im Orden sonst nicht erfahren. Nein, das stimmte nicht ganz. Beim Unterricht

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von Meister Faban hatte er sich eigentlich grundsätzlich wohlgefühlt. Ein leiser Ruf unterbrach weitere Anweisungen vom alten Ordensmeister. Olagrion hockte gut durch seine Klei-dung getarnt am Wegesrand inmitten eines Farngestrüpps und erwartete die Gruppe. Geschmeidig kam er aus der Hocke hoch, als seine Gefährten ihn erreichten. Mit leiser Stimme fing er an zu berichten: „Da vorn öffnet sich der Weg zu einem lichten Platz mit drei Riesenbäumen. Dort ist irgendetwas vorgefallen. Ich konnte ein paar Körper zwischen dem Gras erkennen, die dort reglos liegen. Es riecht nach Blut und Tod. Drakaner habe ich nicht gesehen, jedoch … Da ich keine frühzeitige Entdeckung riskieren wollte, bin ich nicht weiter auf diesen Platz vorgedrungen und konnte mich dementsprechend nur wenig umsehen.“ „Dann auf zur Lichtung“, befahl Faban. „Seid alle wachsam, vielleicht ist das eine Falle, oder sie sind noch in der Nähe. Verteilt euch. Steht nicht geballt in einer Gruppe, sonst kann ein weiträumiger Zauber zu viel Schaden anrichten.“ Die Gruppe verteilte sich und schritt weiter voran. Die Pferde wurden kurzerhand an Bäume gebunden und zurückgelassen. Serenoa ging mit Enyu links vom Sandweg weiter in den Wald hinein. Auf der rechten Seite hatte sich Rolfah mit Oenothera positioniert. Die Elfen sowie Rolfah hatten auf ihren Bögen Pfeile angelegt. Corsan, Karr und Toma trugen jeweils Schwert und Kampfdolch in den Händen. Wotan stapfte mit seinem Kriegshammer und Schild auf dem Sandweg neben Faban und Halgrimm voran. Er machte sich große Sorgen über den weiteren Verlauf des Tages. Auch über den Ausgang dieses Abenteuers mit Abusans Versteck.

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Wie war er nur in diesen ganzen Geröllhaufen von Gefahr geraten? Er musste für sein Volk einen wichtigen Auftrag erledigen, und jetzt war er in Begebenheiten verstrickt, die wer weiß wie lange dauern könnten. „Tunnelbruch und Höhlensturz“, grummelte Wotan. Der junge Adept sah ihn von der Seite irritiert an. Wotan hatte keine Lust, irgendetwas zu erklären, und ging einfach weiter. Es war zwecklos, sich über das Schicksal zu ärgern. Reine Zeitverschwendung. Zudem waren die ganzen Ereignisse so wichtig, dass er mit seiner Teil-nahme an diesem Auftrag indirekt auch seinem Volk half. Denn was nützte es schon, sein Volk von einer Trollplage zu befreien, um dann von den Drakanern versklavt zu werden? Genau das würde geschehen, wenn die Drakaner mehr Macht bekämen. Seit Langem schon wollten sie die Länder jenseits des Felmongebirges besetzten und den Fürstentümern ihre Ordnung aufdrücken. „Alles in Ordnung mit Euch, Erdenbewahrer?“, hörte Wotan die besorgte Stimme von Hallgrimm. „Wir sind Kampfgefährten. Lass dieses ganze Euch-Gedusel. “ „Wie Ihr … du möchtest. Ich wurde so erzogen, dass man Priester immer zu ehren hat. Warum fluchst du die ganze Zeit? Oder übt so ein Erdenbewahrer seine Gebetswunder?“ Bei dem letzten Satz lächelte Halgrimm verhalten. Wotans Kopf ruckte vehement herum. Seine steingrauen Augenbrauen bildeten ein wütendes V auf der Stirn, und Wotans Augen durchbohrten Halgrimm regelrecht. „Oh, verzeiht mir, nein, ich meinte natürlich: Verzeih mir. Ich wollte nicht respektlos sein. Du sahst so düster aus, und ich dachte, ein kleiner Scherz …“ Halgrimms Stimme erstarb.

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„Schon gut. Sei wachsam, da vorn ist, glaube ich, schon die Lichtung.“ Wotan war stolz auf seine schauspielerische Leistung. Innerlich brüllte er vor Lachen über Halgrimms Frechheit und seine anschließende Unbeholfenheit. Der Scherz hätte auch von einem Zwergen kommen können. Fast hätte er losgelacht, aber man musste als Erdenbewahrer eine gewisse Würde bewahren – ha, so ein Quatsch. Es hatte einfach mehr Spaß gemacht, den jungen Magier zum Stottern zu bringen. Der junge Mensch war in Ordnung. Wotan mochte ihn. Er hatte Mut und war sich für keine Arbeit oder Gesellschaft zu fein, obwohl er ein Magier war. Wotan warf noch mal einen kurzen nachdenklichen Seitenblick auf Halgrimm, der den jungen Magier unsicher aufsehen ließ. ‚Auf den muss ich ein Auge haben, wenn es losgeht. Sonst landet er noch bei den Würmern, bei seinem Geschick. Er könnte viel mehr vollbringen, wenn er nur nicht immer so unsicher wäre. Er ist sich seiner selbst nicht sicher, traut sich kaum etwas zu, und das hemmt ihn. Was haben die vom Orden nur mit ihm gemacht? ‘ Froh darüber aus der peinlichen Situation zu kommen zeigte Halgrimm voraus und flüsterte: „Da vorn wird es heller. Das muss der Platz sein, von dem Olagrion erzählt hat.“ „Psst.“ Corsan hatte sich zu Wotan und Halgrimm umgewandt, und die Enden seines Schnurrbartes wackelten noch durch die schnelle Bewegung. Er stand hinter einem dicken Baum und winkte sie zu sich. Wotan trat neben Corsan. Meister Faban und Halgrimm kamen hinzu. Die anderen Gefährten waren in der Nähe, Wotan konnte sie jedoch nicht sehen. Als Wotan nach vorne blickte eröffnete sich ihm eine unheimliche Szene, die ihn

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stark an die Geistergeschichten seiner Kindheit erinnerte. Vor ihnen lag ein größeres Waldstück in dem drei riesige Bäume den Boden überschatteten. Kein einziger Baum erhob sich unter ihren Kronen, nur hohes Gras und Farn wuchsen in ihrer Nähe. In der Mitte erhob sich ein seltsames Dornengestrüpp, welches Wotan instinktiv als bedrohlich und widerlich empfand. Irgendetwas Weißes lag um diesen Busch herum, war aber nicht genauer zu erkennen. Waren das Knochen? Keine zwei Pferdelängen von den vieren entfernt lag ein blutiger, haariger Körper, an dem ein paar Raben und Elstern zupften. Es roch nach Feuer, verbranntem Fleisch und Blut. „Da hinten, seht ihr? Dort inmitten der großen Farnwiese liegen noch mehr Leichen, und es ist alles zertrampelt“, raunte Wotan. „Hier war ein heftiges Gefecht im Gange. Was nun?“ „Wir warten das Zeichen ab, dass niemand in der Nähe ist“, flüsterte Corsan. Die Zeit dehnte sich, während sie warteten. Das Summen der Fliegen und das Gezeter der Vögel, die sich um den Kadaver stritten, zerrte allen an den Nerven. Endlich sahen sie Serenoa aus dem Wald auf die Lichtung treten und winken. ‚Ihr Gesicht ist so bleich wie ein Leichentuch‘, dachte Wotan und wappnete sich vor dem, was noch kommen würde. Er musste nicht lange darauf warten. Die zwölf Mitglieder des Suchtrupps sammelten sich am Rande des Schlachtfeldes und verjagten mit ihrem Erscheinen eine Schar Vögel und einige Füchse. Viele affenartige Körper lagen in ihrem Blut verstreut auf der Lichtung herum. Wotan fiel eine Gruppe mehrerer Kadaver auf, die eng beieinanderlagen und alle starke Verbrennungen an Kopf oder Oberkörper hatten.

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„Was für ein fürchterliches Gemetzel“, japste Halgrimm erschrocken. „Hier sind keine Menschen gestorben, oder habt ihr welche entdeckt?“, fragte Toma. „Das hier scheinen so etwas wie monströse Affen zu sein.“ „Das sind Oger“, widersprach Enyu. „So nannten wir sie, als wir das erste Mal auf sie stießen. Sie haben gewaltige Körperkräfte, sind schlau und besitzen eine eigene Kultur.“ Dabei ging sein Blick zu der Dornenhecke und dem darum herum liegenden Knochenring „Macht nie-mals den Fehler, sie zu unterschätzen und auf eine Stufe mit einem Tier zu stellen.“ Karr schien fast zu lächeln, als er sagte: „Dafür, dass sie so stark und schlau sind, haben sie allerdings ganz schön was eingesteckt. Im Gegensatz zu ihren Gegnern, die bestimmt die Drakaner waren, von denen ich keine Gefallenen sehe.“ Wotan, der neben Karr stand, sah mit einem miss-fallendem Gesichtsausdruck zu ihm auf. „Das muss nichts heißen. Vielleicht haben die Drakaner ihre Toten mitgenommen und begraben.“ „Ja?“, kam es höhnisch von Karr. „Machen Drakaner so etwas?“ Wotan zuckte mit den Schultern. Dann zeigte er auf die Toten mit den Verbrennungen. „Alle anderen Toten haben Wunden von Waffen. Diese scheinen durch Verbrennungen gestorben zu sein. So würden aber keine Verbrennungen von einem Feuer aussehen. Habe ich recht, Meister Faban?“ „Eure Beobachtungsgabe ist hervorragend, Erdenbe-wahrer. Ich glaube, dies hat ein Blitzzauber angerichtet. Ein schwieriger Bann, gefährlich in der Ausführung. Ich

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verstehe nur nicht, wie ein Blitzstrahl eine verstreute Gruppe treffen konnte. Hätten sie alle in einer Linie gestanden, wäre es nachzuvollziehen. Das ist hier aber nicht der Fall. Wie auch immer, dieser Zauber bedeutet, dass sie in großer Bedrängnis waren. Ein solcher Zauber wird nicht einfach so ohne Not benutzt. Könnt Ihr einen Schutz gegen solche Blitze aufbauen, Wotan?“ „Ja, das kann ich. Aber nur für drei bis vier Leute, die zusammenstehen, nicht für uns alle.“ „Das Wichtigste für uns ist, dass wir jetzt wissen: Wir sind kurz hinter den Drakanern“, tat Oenothera energisch kund. „Also sollten wir schnell die Fährte von ihnen aufnehmen und ohne zu zögern weiterverfolgen.“ Olagrion hatte während dieses Gespräches den Waldrand ständig beobachtet und wandte auch als er nun Sprach seine Aufmerksamkeit nicht von ihm ab. „Dem stimme ich zu. Das Problem ist nur, dass schon auf dem Sandweg hierher Spuren waren, die gegenläufig wieder zurück-gingen. Es ist schwierig zu sagen, ob eine Spur älter oder neuer ist, wenn zwischen den Entstehungszeitpunkten der Spuren nur wenige Stunden liegen. Ich bin, ehrlich gesagt, verwirrt. Wieso sollten die Drakaner wieder zurückgegangen sein? Dann hat Rolfah auf der anderen Seite dieser Lichtung weitere Spuren entdeckt, die zu einem langem Erdriss führen. Dort herrscht steiniger Untergrund vor, und die Spuren verlieren sich. Wir können nicht sagen, ob die Drakaner dort weitergegangen sind oder nur nachgeschaut haben.“ „Müssen wir nicht laut den Hinweisen eine Schlucht finden?“, gab Kev zu bedenken. Faban rang zornig seine Hände. „Wenn wir keine Feinde in unserer Nähe hätten, ja. Leider ist das hier zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen geworden. Wir müssen den

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Drakanern nach, selbst wenn sie den falschen Weg genommen haben. Für uns wäre es am schlimmsten, wenn die Drakaner plötzlich hinter uns auftauchten. Sie könnten dann Spuren von uns entdeckt haben und vorbereitet sein. Es kann auch sein, dass sie einen anderen Weg genommen haben, weil sie etwas wissen, was uns nicht bekannt ist. In diesem Falle wäre es ebenfalls das einzig Richtige, sie zu verfolgen, anstatt einen eigenen Weg zu suchen.“ Olagrion schaute traurig zu Boden. „Das ist auch meine Meinung dazu. Aber was soll ich empfehlen, welchen Weg wir nehmen sollten? Es tut mir leid, weder meine Schüler noch ich können die Fährte genauer bestimmen, und es läuft auf ein Raten hinaus. Wenn unsere Feinde zur Erdspalte gegangen sind, kommt der felsige Unter-grund noch erschwerend hinzu. Überhaupt Spuren zu entdecken und zu deuten dauert seine Zeit. Zeit, die wir nicht haben. Das Schlimmste jedoch ist, das wir nur noch höchstens eine halbe Stunde eine Fährte verfolgen können. Es wird bald Nacht. Meister Faban?“ „Du meinst, es wäre der richtige Augenblick für ein wenig Magie?“ Meister Faban starrte nachdenklich zu Boden und strich sich mit seinen Fingern seinen Schnurbart glatt. „Tja, bestimmt gibt es da arkane Möglichkeiten. Wenn wir ein paar Jahrhunderte Frieden hätten und viele Forschungseinrichtungen mit vielen Magiern, dann würden viele Banne erforscht werden. Der Orden des Grauen Turmes beherrscht hauptsächlich Schutz- und Kampfmagie sowie einige nützliche Banne für das Reisen und Bauen. Nein, es tut mir leid. Ich kann nicht helfen. Wir müssen also raten, welchen Weg wir verfolgen wollen.“

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„Nein, müssen wir nicht.“ Elf Augenpaare richteten sich auf Kev, der ein überhebliches Grinsen aufgesetzt hatte. „Es gibt Spuren, die sich zeitlich sehr genau ausein-anderhalten lassen und die man nachts genauso gut verfolgen kann wie am Tag.“ Olagrion schaute außerordentlich erstaunt. „Ach wirk-lich?“ Oenothera trat an Kev heran und gab ihm einen heftigen Schlag auf den Hintern. „Genug angegeben, Kev. Mach schon!“ Erbost und gleichzeitig konsterniert sah er auf eine kleine bezaubernde Elfe, die sich mit den Händen an der Hüfte energisch vor ihm aufgebaut hatte. Kev seufzte und wandte sich wieder den anderen zu. „Wie wir feststellten, haben wir keine Zeit zu verlieren. Folgt mir.“ Kev nahm seinen Waffengürtel und seinen Silberring ab und drückte beides wütend Halgrimm in die Hand. Dann begann seine Gestalt zu verschwimmen, sein Fleisch verschob sich, während er sich gleichzeitig nach unten beugte, um seine Hände auf dem Boden abzusetzen. Menschen, Zwerg und Elfen standen mit offenen Mündern vor diesem Schauspiel. Nur Oenothera lächelte wissend, und Halgrimm hatte Ähnliches schon gesehen. Es sah schaurig aus, wie Kevs Gesicht immer länger wurde, sich Schnauze und Raubzähne formten und Haare wuchsen. Die Umwandlung ging rasend schnell voran. Innerhalb einiger Herzschläge entstand vor dem Such-trupp der Blauen Rose ein hochgewachsener, magerer Grauwolf. Ein Wolf mit einem unnatürlichen Lächeln auf dem Raubtiergesicht. Schwanzwedelnd sprang er davon und beugte seine Nase dicht zum Boden.

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„Kommt schon“, rief Oenothera, während sie dem umherschnüffelnden Wolf folgte. „Ich glaube nicht, dass uns die Drakaner entkommen werden.“

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Welt Tepor, südlich der Vierfürstentümer, Moranion-Wald „Endlich haben wir den beschriebenen Felsen gefunden. Von hier müssen wir nach Südwesten. Hauptmann 23, lass das Lager aufschlagen.“ „Ja, Herr“, kam hart und knapp die Antwort. Der angesprochene trollartige Hüne bellte einen kurzen Befehl. Sein Gesichtsausdruck sowie sein gesamtes Auf-treten wirkten hart wie Stahl. Zwanzig menschliche Soldaten und vier grauhäutige gepanzerte Krieger vom gleichen Schlag wie der Hauptmann verfielen in diszipli-nierte Aktivität. Nur die fünf großen Krieger waren durch eiserne Harnische am Oberkörper geschützt. Die Solda-ten trugen einfache, aus gehärtetem Leder bestehende Brustpanzer, dazu Schilde, Schwerter und Helme. Zunharm und Entelda beobachteten das Abladen der Pferde. Zunharm war menschlicher Abstammung mit einer dürren, hochgewachsenen Statur. Entelda besaß die feinen Züge der Elfen und wirkte drahtig und athletisch. Beide trugen beste Leinen- und Lederkleidung, haltbar und strapazierfähig. Auf dem Wams von Zunharm prang-te das Zeichen eines Urkorr-nors, bei Entelda war dort das Emblem eines Urkorr-gaans. Der Elf nahm sich seinen Weinschlauch vom Pferd und nahm einen tiefen Zug. „Willst du auch einen Schluck Wein? Zur Feier, dass wir den zweiten Wegpunkt in diesem gewaltigen Wald ge-funden haben?“ Zunharm nahm den Weinschlauch entgegen und trank. Nach zwei Schlücken gab er den Schlauch zurück und sagte: „Wir haben mit dem Umherschleichen und Ver-stecken vor Einheimischen zu viel Zeit verloren, bis wir

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endlich den Wald erreichten. Ich würde am liebsten weiterziehen, aber in der Dunkelheit kann man in diesem Wald nicht marschieren. Zu unwegsam und gefährlich.“ „Wohl wahr. Und wir wissen einfach zu wenig von diesem Gebiet. Das, was wir in Erfahrung bringen konnten, klingt wie eine übertriebene Bardengeschichte. Warten wir ab, bis unsere beiden Späher zurück sind.“ Zunharm schloss seinen Umhang gegen die kühler wer-dende Luft. Er versuchte, weiter in den Wald hinein-zuspähen, was im abnehmenden grünen Halblicht des Waldes schwierig war. „Ob die Gruppe von Tlork es wohl auch bis hierher schafft? Es darf einfach nicht passieren, dass sie die Stätte Abusans zuerst finden und den Ruhm ernten.“ „Du machst dir unnötig Sorgen. Ihr Startort war viel weiter vom Moranion entfernt als der unsrige. Dazu müssen sie entweder durch bewohntes Land der Vier-fürstentümer ziehen oder einen gewaltigen Umweg machen. Selbst wenn sie bei dem kürzeren Weg nicht entdeckt würden, kämen sie zu spät. Nur wir beiden haben die Möglichkeit, mit den Schätzen Abusans zurückzukehren. Wir beide werden zu Helden ernannt, und unsere Stellungen werden sich deutlich verbessern.“ „Das will ich stark hoffen. Ich werde nicht zulassen, dass sich uns noch jemand in den Weg stellt.“ Entelda trank einen weiteren Schluck Wein, ehe er den Schlauch wieder an seinen Sattel hängte. In der Nähe der beiden Anführer verfolgte der riesige Hauptmann den Aufbau der Zeltplanen und die Versorgung der Pferde. Die Zeltbahnen wurden als Schrägdach auf den Boden festgepflockt, die offene Seite dem leichten Wind ab-gewandt. Entelda musterte die breite Statur, das Breit-schwert auf dem Rücken und den stählernen Schuppen-

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panzer des beeindruckenden Kriegers. In einem Brustgurt steckten, leicht für den Namenlosen zu erreichen, meh-rere Bündel von spitzen Stahlstiften, die Entelda noch nie bei den Truppen gesehen hatte. „23, stell jetzt schon Wachen auf. In diesem Wald gibt es viele Gefahren.“ „Das ist schon erledigt, Herr.“ Der Hüne zeigte auf zwei Stellen etwas weiter den Wald hinein, an denen jeweils ein Soldat stand und das umliegende Gehölz beobachtete. „Ich bin die dritte Wache.“ „Sehr gut“, kam ein leicht spöttisches Lob von dem Elfen. „Du bist einer der wenigen aus deiner Zucht, die selbstständig mitdenken. Mach so weiter, und du bleibst ein Hauptmann der Namenlosen.“ „Danke, Herr.“ Das Gesicht von 23 ließ keine Regung erkennen. Entelda machte es sich auf dem Waldboden bequem, hielt inne und richtete noch mal das Wort an 23. „Es gibt unter den Namenlosen einige Scharführer, Ûn-Scharführer und Kut Ors. Wie viele haben den Offizierstatus eines Haupt-manns erreicht?“ „Außer mir nur einer, Herr.“ „Nur das Beste für unsere Mission, nicht wahr?“ Nickend gab der Elf einen Wink, der ‚Weitermachen‘ bedeuten sollte. Zunharm hatte sich währenddessen zum gerade ent-fachten Kochfeuer begeben und befahl einem Soldaten, ihm Wasser heiß zu machen. Demütig ging dieser der Aufgabe sogleich nach. Ein karges Essen wurde zubereitet und ausgeteilt. Die vier trollartigen Krieger setzten sich beim Essen schweigsam zusammen, und keiner der anderen Soldaten gesellte sich zu ihnen. Einige Männer unterhielten sich leise bei der Mahlzeit, andere

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spielten nebenbei ein Würfelspiel, das bei drakanischen Heeren weitverbreitet war. Dieses Glücksspiel wurde oft mit Wetteinsätzen gespielt. Ein älterer Bursche mit vielen Narben auf seinen freien Unterarmen verlor einen Wurf und schimpfte laut über sein Pech. Einer seiner Kamera-den hielt ihm den Mund zu. „Leise, Karem. Beim Abgrund, wir haben Befehl, leise zu sein. Willst du etwa, dass wir es mit dem Hauptmann zu tun bekommen?“ Die vier Kämpfer, die zusammen gespielt hatten, schau-ten verstohlen zu dem Ungetüm, welches sie anführte. Karem befreite sich zappelnd. „Ist gut, hast ja recht. Lieber zwanzig Peitschenhiebe als einen Schlag von dem.“ „Er sieht zu uns! So ein Mist.“ Die vier einigten sich darauf, dass man für heute genug sein Glück strapaziert habe, und hörten auf zu spielen. Bald darauf wurde von Hauptmann 23 die Nachtruhe befohlen und die Wachen für die Nacht eingeteilt. Drei der Soldaten machten sich daran, das Lagerfeuer zu löschen. „Nein, lasst das Feuer an. Nur runterbrennen lassen, damit es nicht weit leuchtet“, knurrte Nummer 23. „Aber könnte das nicht irgendetwas anlocken?“, fragte einer der Soldaten zögernd. „Ja.“ Die Männer tauschten verwunderte Blicke aus. Mit einer Hand auf seinen Dolchknauf gestützt, beobachtete ihr Anführer in entspannter Körperhaltung die Bäume. „Ei-nige Raubtiere sehen in der Dunkelheit ausgezeichnet. Könnt ihr blind kämpfen?“ Gruppenführer Wetok kratzte sich den Kopf.

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„Nein, natürlich nicht, Hauptmann. Hab nicht daran ge-dacht, wie stockfinster es in einem Wald wird. Feuer bleibt an, Männer. Wir gehen schlafen, Hauptmann, wenn Ihr keine weiteren Befehle habt.“ Nummer 23 nickte, und die Soldaten entfernten sich. Er verfolgte, wie die Männer sich nervös etwas zuraunten und dem Saum der Bäume finstere Blicke zuwarfen. Wie-so konnten diese ausgesuchten Männer nicht im Dunkeln kämpfen? Das hatte er schon vermutet durch Beo-bachtungen in den letzten Tagen. Gehörte das „blinde Kämpfen“ nicht zur Ausbildung für Elitetruppen, nur zur Ausbildung der Namenlosen? Das bedeutete, er musste seinen Namenlosen neue Instruktionen für Nacht-gefechte geben. Als er auf die Lager der vier anderen Krieger seiner Art zuschritt, erblickte 23 seinen Herrn Zunharm, wie dieser gerade eine Schriftrolle zusam-menfaltete. Ja, er konnte im Dunkeln kämpfen, aber Lesen hatte nicht zur Ausbildung der Namenlosen gehört. Das wurde den Namenlosen aus gutem Grund nicht gestattet. Jäh bildeten sich tiefe Zornesfalten auf Stirn und Nasenrücken des Hauptmannes. Mit den kräftigen Eckzähnen bekam sein Gesicht starke Ähn-lichkeit mit dem einer fauchenden Raubkatze. Erbittert schritt er weiter zu seinen Leuten. Zunharm stand ärgerlich vor seiner Schlafstatt und starrte noch eine Weile in das grüne Gewirr des Waldes hinein, die gerade zusammengefaltete Karte noch in den Händen. Die Schatten wurden dunkler und länger in der Abend-dämmerung. „Wo bleiben denn unsere beiden Späher? Sie sollten schon lange zurück sein. In diesem Wald wird es nachts

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so finster, da wird es selbst für deine Elfen schwer, zu uns zurückzufinden.“ Entelda lag bereits in seine Decke gehüllt unter einer Zeltplane. „Ich weiß es nicht. Es wäre zu ärgerlich, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre. Ohne fähige Kundschafter wird es schwieriger, sich hier zurechtzufinden. Noch einen Schluck Wein?“ „Nein! Geh mir nicht mit deinem Wein auf die Nerven! Ich brauche einen klaren Kopf zum Denken. Und wenn es zu einem Kampf kommen sollte auch zum Formen der Macht. Du nimmst das alles zu leicht, Entelda.“ „Und du nimmst alles zu ernst. Wir sind sechs Tage lang jeweils fünfzehn Stunden marschiert. Niemand hat uns gesehen, wir haben den Moranion ohne Verluste erreicht und müssen nur noch etwas gefährliches Gebiet durch-queren. Grund genug, darauf anzustoßen. Wer immer angespannt ist, macht Fehler.“ „Etwas gefährliches Gebiet, pah! Das ist kein normaler Wald mit normalen Tieren.“ „Mit unseren Namenlosen und unser beider Macht sollten wir gegen ein paar Tiere keine Probleme haben, egal, wie besonders sie sind. Natürlich wird es ein paar Verluste geben, na und? Unsere Soldaten sind dafür da, uns mit ihrem Leben zu schützen. Das Einzige, was wir zu fürchten haben, sind die Sicherheitsvorkehrungen Abusans.“ „Oder ein Trupp aus Flüsterstein.“ „Ja, doch deswegen wird ja auch ein Angriff auf Flüsterstein unternommen, um sie festzusetzen und abzulenken. Selbst wenn sie etwas von diesem Versteck Abusans ahnen, werden sie viele Tage zu spät kommen.“

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Zunharm verzog ärgerlich seinen Mund. „Wir werden trotzdem wachsam sein. Man weiß nie, was auf einen zukommt. Diese Sache ist zu wichtig für das Imperium … und vor allem für uns. Wieso ist denn das Feuer immer noch an? Hat dieser Narr von Hauptmann etwa vergessen, es löschen zu lassen? Will er, dass uns irgendjemand sieht?“ „Beruhige dich, Zunharm. Er hat im Gegenteil befohlen, das Feuer brennen zu lassen, und das ist eine kluge Entscheidung.“ „Was?“ Zornesfalten bildeten sich in Zunharms Gesicht. „Hast du nicht bemerkt, wie dicht hier die Bäume stehen? Ich glaube kaum, dass selbst der Schein eines großen Lagerfeuers weiter als dreihundert Fuß zu sehen wäre. Er hat aber nur ein kleines mit trockenem Holz errichten lassen, welches weder raucht noch stark leuchtet. Vorhin hörte ich, wie ein Scharführer unseren Hauptmann infrage stellte, als dieser ihm befahl, das Lagerfeuer brennen zu lassen. Ich war ziemlich erstaunt, dass Nummer 23 ihn nicht gleich zu Brei geschlagen hat. Stattdessen fragte er den Scharführer nur, ob er ebenso wie Raubtiere im Dunkeln kämpfen könnte. Das ist im Augenblick tatsächlich die größte Gefahr, der wir begegnen können.“ Zunharm grunzte und verschränkte seine Arme. Seine Augen suchten die große Gestalt von 23 und fanden sie neben einer der Wachen am Rand des Lagers stehen. Der Hauptmann gab wohl noch Anweisungen aus. „Du meinst, er hat das alles allein bedacht?“ „Ziemlich ungewöhnlich für die Zucht, nicht wahr? Und er hat ohne Gewalt seine Autorität vor den Soldaten gewahrt, vielleicht sogar gestärkt.“

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„Na, so großartig war seine Leistung nun auch wieder nicht. Er ist anscheinend etwas klüger als die anderen. und wir können ihn umso besser einsetzen. Das ist gut zu wissen.“ Zunharm wandte seine Aufmerksamkeit wieder den sie umgebenden Bäumen zu. „Verdammt, die Späher sind noch immer nicht zurück.“ Entelda ließ sich zurücksinken und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. ‚Ich weiß nicht, wie gut ich einen Namenlosen, der nachdenkt, finden soll. Mir ist es lieber, wenn meine Befehle nicht infrage gestellt werden, wenn ich jemandem einen gefährlichen Auftrag erteile.‘ Laut sagte Entelda: „Leg dich schlafen, Zunharm. Wir können nichts tun, um sie zu finden.“ Die Nacht war während dieser Unterhaltung herein-gebrochen. Das Blätterdach des Moranion war dicht, und selbst tagsüber drang nur wenig Licht bis zum Waldboden. Jetzt versank alles unter den alten, dicken Bäumen in undurchdringlicher Finsternis. Der kleine Bereich, den das Lagerfeuer erhellte, ließ die umgebende Schwärze wie eine bedrohliche Mauer des Nichts wirken. Die Nachtlaute eines Waldes erklangen, immer wieder vermischt mit Schreien und dem Gebrüll von Tieren, die keiner der Drakaner je gehört hatte. Die elfischen Kundschafter waren nicht zurückgekehrt. Das Licht des Morgens erschuf unter dem dichten Blät-terdach wieder das trübe grüne Zwielicht des Vortages. Beim ersten Tageslicht weckte die letzte Wache das Lager und erstattete dem Hauptmann Bericht. Die Nacht war ruhig verlaufen, obwohl die Wachhabenden von unheim-lichen Geräuschen und leuchtenden Augen in der Nähe des Lagers erzählten. Zunharm fluchte, als der draka-nische Trupp nach einer Stunde abmarschbereit war und

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die Späher immer noch nicht zurückgefunden hatten. Wütend befahl er den Aufbruch in Richtung Süden. Dorthin waren auch die Kundschafter am Vortag ent-schwunden. Die folgenden Stunden waren ein mühsamer Marsch zwischen alten Bäumen, Farn und dichtem Unterholz hindurch. Reiten war in diesem Dickicht undenkbar, die Pferde wurden geführt. Ab und zu mussten die Drakaner dichtes Unterholz umgehen, da es für die großen Pferde zu unwegsam war. Gegen Mittag, nach ihrer ersten Verschnaufpause, kreuzte eine weitläufige Dornenhecke ihren Weg. Ähnlich einem Rosenstrauch hatte sie tiefrote vielblättrige Blüten. Der Geruch, den diese verbreiteten, stank allerdings nach Fäulnis. Die Dornen waren länger und stabiler als bei Rosensträuchern und die Ranken dicker und zäher. Zunharm wollte sich gar nicht erst damit aufhalten, sich durch diese Dornenmauer durch-zuhacken, und befahl, sie weitläufig zu umrunden. Die meisten Soldaten waren froh darüber. Der schlimme Geruch der Blüten hatte sie alle abgeschreckt und bei manchen eine unbestimmte Erinnerung geweckt, die sie frösteln ließ. Nur Hauptmann 23 und die anderen vier gewaltigen Krieger zeigten keine Gemütsregung. Stunden verstrichen, und sie gelangten immer tiefer in den Moranion hinein. Dort trafen sie auf vereinzelte Baum-titanen von unbekannter Art, die breite Blätter mit ge-zackten Rändern besaßen und eine rotbraune Rinde hatten. Lange Flechten hingen an einigen dicken, knor-rigen Stämmen herab, die so gewaltig gewachsen waren, wie keiner der Drakaner es je gesehen hatte. Der Umfang eines dieser Urbäume konnte ein kleines Haus aufneh-men, die Höhe der Stämme hingegen schien die gewöhn-licher Bäume kaum zu überschreiten. Die Baumkrone

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eines solchen Riesen war ein kleines Reich für sich mit seinen unzähligen großen und kleinen Ästen, die sich weit um den Hauptstamm erstreckten. Zwischen diesen breiten Titanen wuchsen weniger Bäume normalen Ausmaßes. Lücken im Blätterdach gab es nicht, jeder Lichtstrahl wurde genutzt und aufgefangen. Die Soldaten machte es nervös, dass man nie weit spähen konnte. Immer versperrte ein Blatt, ein Ast, ein hochgewachsener Farn oder ein Stamm einem die Sicht nach wenigen Mannslängen. Ununterbrochen raschelte es – bei einem Windstoß, bei jedem Schritt durch trockenes Laub oder wenn Blätter sich von Zweigen lösten. Es war später Nachmittag, und sie hielten für eine kurze Rast. Entelda atmete tief die feuchte Luft des Moranion ein, die ein reichhaltiges Aromagemisch bot. Er roch am deutlichsten modrige Blätter, verschiedenste Blütendüfte, Harz und Rinde um sich herum. ‚Wenn es je ein Bollwerk der Natur gegeben hat, dann den Moranion-Wald. Ohne genaue Angaben würden wir in diesem Urwald niemals das Labor von Abusan finden.‘ Der Elf wandte sich an Zunharm, der neben ihm stand. „Findest du es nicht seltsam, dass es überhaupt eine genaue Beschreibung von einem Versteck Abusans gibt? Der Imperator war doch bekannt dafür, wie vorsichtig und klug er vorging.“ Der Urkorr-nor schnaubte. „Doch, natürlich. Vielleicht ist es eine falsche Fährte, die absichtlich gelegt wurde. Sollte es aber ein oder mehrere Laboratorien im Mora-nion geben, muss Abusan auch seine Gerätschaften hergebracht haben. Bei all seiner Macht hat er das wohl nicht allein bewerkstelligt, und ich denke, bevor er alle Helfer umgebracht hat, ist dieser Plan eines Aufen-thaltsortes entstanden. Bestimmt wollte jemand aus dieser

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Information Gewinn schlagen. Das ist eine Erklärung die mir plausibel vorkommt. Wie auch immer, in jedem Falle kann es sich der Eiserne Thron nicht leisten, diesem Hinweis nicht nachzugehen.“ Entelda lachte auf: „Es wäre ein Witz, wenn die vielen Bemühungen und Opfer zweier Reiche durch einen falschen Hinweis im Nichts endeten.“ „Besser so, als dass der Feind stark wird und unsere Heimat überwältigen kann.“ Zunharm bemerkte Scharführer Wetok, der auf ihn zulief. Bei ihm angelangt, ging er auf ein Knie herunter und meldete: „Herr, die Vorhut hat etwas weiter süd-westlich von uns zwei Leichen entdeckt. Sie sind ziemlich zerfleischt worden. Die Gesichter sind nicht mehr zu erkennen. Nach der Bekleidung zu schließen, könnten es unsere Späher gewesen sein.“ „Nein“, schrie Zunharm auf, „diese Dummköpfe haben sich wirklich töten lassen!“ Entelda befahl Wetok: „Führ uns hin!“ Zu Zunharm gewandt, meinte der Elf: „Vielleicht können wir anhand der Spuren sehen, was geschehen ist, und für uns wichtige Hinweise gewinnen. Hauptmann 23, die Männer sollen uns folgen und uns absichern. Die Pferde bleiben erst mal hier. Einer der Männer soll hier bleiben und die Pferde bewachen.“ „Verstanden, hoher Urkorr-gaan.“ Bellend kamen von 23 die Anweisungen: „An alle, Schilde vom Rücken, Waffen bereit. Gruppe eins linke Flanke, Gruppe zwei deckt die rechte Flanke. Ich mache die Nachhut. Weitläufig die Leichen umstellen und nach außen sichern. Niemand nähert sich den Toten. Wenn einer von euch Spuren ver-wischt, werde ich ihm eine Sonderbehandlung zukommen lassen.“

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‚Interessant.‘, sinnierte Entelda, während sie von Schar-führer Wetok zu den Toten geführt wurden. ‚Mit dem Befehl, die Spuren nicht zu verwischen, hat er wieder einmal mitgedacht. Dieser Namenlose handelt, seitdem er uns unterstellt wurde, klug und umsichtig. Der Eiserne Thron wollte mächtige Krieger mit der Regeneration von Trollen, die jedoch nicht so dumm wie Trolle sind, damit man sie in einer Armee gebrauchen kann. Jetzt haben sie bei der Zucht etwas bekommen, was intelligenter ist, als es sein sollte. 23 könnte der Anfang von etwas sein, was vielleicht Probleme bereiten wird.‘ Die Pferde wurden in einem Hain junger Birken zusam-mengestellt und an die Stämme gebunden. Nach kurzer Zeit erreichten sie einen der Baumtitanen, an dessen Wurzeln deutlich ein Kampf stattgefunden hatte. Zwi-schen teilweise niedergetrampelten Farnen und Waldgras lagen zwei zerfetzte Körper. Das meiste Fleisch war gefressen worden, sodass man überall die Knochen durch die Überreste schimmern sah. Boden, Waldgras und Blätter waren mit getrocknetem Blut besudelt. Entelda ging in die Hocke und betrachtete Umgebung und Lei-chen genau. Währenddessen schirmten die drakanischen Krieger den Ort kreisförmig ab. Entelda winkte Zunharm zu sich heran. „Der Scharführer hatte recht, es sind unsere Kundschafter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus meinem Volk von einem Raubtier überrascht wird, und sie waren zu zweit. Eher glaube ich, sie wurden von mehreren Wesen verfolgt. Weiter hinten ist der Boden aufgewühlt und Äste sind zerbrochen. Von dort, vermute ich, sind sie gekommen und wurden hier gestellt.“ Zunharm beugte sich gewichtig zu den Stellen, die Entelda ihm zeigte, herunter, konnte aber rein gar nichts

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Ungewöhnliches entdecken, was ihm wie eine Spur vor-kam. „Ah ja, ich sehe, was du meinst. Was könnte es gewesen sein, was die beiden getötet hat?“ „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Die Abdrücke sind zu undeutlich, ich kann nur vermuten, dass mehrere Kreaturen zusammen gejagt haben.“ Einige Augenblicke sah sich Zunharm besorgt die Kadaver an, dann entschied er: „Ich will nicht etwas im Rücken haben, was uns dann in der Nacht überfällt. Wir verfolgen die Spuren zurück.“ Wie zuvor nahmen die Soldaten die beiden Urkorrs in die Mitte. Entelda suchte immer wieder den Boden ab und führte die Gruppe dabei einige Zeit nach Süden. Die Spuren gaben Entelda Rätsel auf. Hin und wieder entdeckte er einen undeutlichen Abdruck auf dem Boden, der anzeigte, dass etwas Schweres mit Krallen hier entlanggelaufen war. Hätte er nicht viel mehr finden müs-sen? Mehr zerrissenen Farn und gebrochene Zweige. Oder waren es doch nur ein bis zwei Wesen, die seine Späher gejagt hatten? Der zerwühlte Platz, an dem sie die Kadaver gefunden hatten, wies eher auf viele Kreaturen hin. Sie trafen auf einen Sandweg, nicht breit, aber mehr als ein Trampelpfad. Die Spuren wiesen deutlich in eine Richtung, nach Südwesten. Wenige Minuten später öffnete sich der Weg zu einer Lichtung. Der vorderste Soldat Karem war erschüttert stehen geblieben. „Bei den Dämonen des Abgrunds, was ist das?“ Andere Soldaten gingen vor und erstarrten mit weit geöffneten Augen. Entelda schob sich an einigen hoch-gewachsenen Farnblättern vorbei, die ihm die Sicht versperrten. Vor der drakanischen Gruppe war der Wald

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etwas lichter geworden. Drei Titanenbäume reckten sich Türmen gleich in den Himmel, so versetzt, dass man ein Dreieck bilden konnte, an dessen Spitze sich jeweils einer der Bäume befand. Zwischen ihnen wuchsen keine Bäume, nur hohes Gras und Farn. In der Mitte wucherte ein dichtes Dornengestrüpp mit blutroten Blüten – wie die Hecke, auf die sie am Mittag gestoßen waren. Zwischen den Dornenranken befand sich der Grund für das Entsetzen der Soldaten: Unzählige Knochen verschiedenster Lebewesen lagen innerhalb und um die ganze Hecke herum verstreut. Die Schicht der bleichen Gebeine, welche die Hecke einkreiste, war knöchelhoch, so viele waren es. „Verdammnis“, entfuhr es Zunharm. „Das da machen doch keine Tiere.“ Lautes Kreischen hinter ihnen schreckte die Drakaner aus ihrer Erstarrung. „Seht!“ Scharführer Wetok hatte sich umgewandt und zeigte auf einen Riesenbaum, an dem sie vor kurzem vorbeige-gangen waren. Aus den Ästen des Baumes sprangen mehrere mit dunklen Pelzen behaarte Gestalten herunter. Noch ehe jemand reagieren konnte, kamen auch aus den Baumkronen über den Drakanern Schreie. Gleich darauf fiel eine Handvoll breite, massige Körper mitten in die Gruppe. Völlig überrascht wurden einige Soldaten zu Boden gerissen. Entelda fuhr entsetzt zurück, als direkt vor ihm eine ungeschlachte, massige, humanoide Gestalt einen Soldaten unter sich begrub. ‚Ein Affe? ‘ Voller grässlicher Faszination sah er, wie dieses Monstrum von einem Affen sein breites Maul voll spitzer Zähne aufriss und dann der bullige Kopf auf den

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drakanischen Krieger hernieder fuhr. Blut spritzte auf, und ein grässliches Schreien ertönte. Wild schlugen die Arme und Beine des Soldaten um sich. Die Schläge prallten wirkungslos an dem kräftigen Körper ab, wurden schwächer und hörten auf. Wie gelähmt starrte Entelda das Tier vor sich an, das einen Siegesschrei hinausbrüllte, das Maul voller Blut. Aufgerichtet war es so groß wie ein hochgewachsener Mensch, aber viel breiter gebaut. Dicke Muskelstränge bedeckten den ganzen Körper. So wie dieses Ungetüm den Soldaten zu Boden gedrückt hatte, war Entelda sofort klar, dass es ihm an Kraft weit über-legen war. Seine Hände endeten in vier Fingern, die kurze dicke Hornkrallen besaßen. Heftig schüttelte Entelda seinen Kopf, riss sich zusam-men und konzentrierte sich. Der Körper des Urkorr-gaan leuchtete auf als er die Mächte der Archonen anrief. Grüne Flammen schossen aus seinem Körper, vermehr-ten sich, umhüllten ihn, bis sein ganzer Leib von einer grünen Feuerlohe umgeben war. Jetzt bemerkte das Scheusal seine Anwesenheit. Blutunterlaufene schwarze Augen sahen ihn an, aus denen eine bösartige Intelligenz strahlte. Bestürzt erkannte der Elf: ‚Das sind keine einfachen Tiere, die das Feuer fürchten.‘ Die Affenbestie griff nach unten, riss mit beiden Händen den kurz zuvor getöteten Krieger in die Höhe und schleuderte ihn auf Entelda. Der Aufprall fegte ihn zu Boden; er hatte zu spät reagiert. Ein scharfer Geruch verbrannten Fleisches erfüllte die Luft. Die Kleider des Toten gingen augenblicklich in Flammen auf, wo sie den Urkorr-gaan berührten. Entelda versuchte sich so schnell wie möglich von der Leiche zu befreien. Ein Schatten flog auf ihn zu. Der Tote wurde durch ein zusätzliches

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Gewicht unglaublich schwer, und Entelda sackte wieder zu Boden. ‚Es nutzt den Toten als Schutz gegen meinen Feuerschild.‘, begriff der Elf. Die Bestie beugte sich herab, um ihn zu beißen. Voller Angst versuchte sich Entelda loszustrampeln, doch die Last war zu schwer. Kreischend zuckte der monströse Kopf zurück, als der Feuerschild seine Schnauze ver-brannte. Wieder nahm Entelda ein Funkeln in den Augen über ihm war. „Oh nein.“ Eine Klauenhand suchte und fand einen dicken abgebrochenen Ast in der Nähe. Mit einem Triumph-geheule schwang das Ungeheuer die natürliche Keule mit beiden Händen hoch über seinen Kopf. ‚Das war’s. Hätte gern noch einen Schluck Wein vorher … ‘ Deutlich nahm Entelda alles wahr, als wäre die Welt verlangsamt: das Toben der Kämpfe, die Schreie und Schläge sowie den Ast, der sich auf seinen Kopf herabsenkte. Etwas zischte durch die Luft. Die Arme der Bestie flogen über seinen Kopf hinweg, und Entelda wurde mit Blut bespritzt. Über ihm sah das Scheusal verständnislos auf seine beiden Armstümpfe. Dann spaltete ein Breitschwert seinen Kopf. 23 trat den Affenkorpus von Entelda weg und knurrte: „Wir brauchen Euch.“ Sogleich war er wieder aus seinem Sichtfeld verschwun-den. Mühsam drückte sich der Elf vom Boden hoch und sah sich um. Einige Soldaten lagen reglos auf dem Boden. Erstaunt stellte Entelda fest, dass beträchtlich mehr Affenkreaturen gefallen waren als Soldaten. Aus dem Augenwinkeln nahm er wahr, wie einer der Namenlosen ein paar Soldaten zur Hilfe kam, die sich in starker

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Bedrängnis befanden. Kurz darauf lagen vier weitere Monster blutend auf dem Boden, die Überlebenden flohen. Eilig suchte er Zunharm und bemerkte dadurch, dass gerade die Bestien ankamen, die Wetok hinter ihnen entdeckt hatte. Da schallte laut die steinerne Stimme von Hauptmann 23: „Bei mir sammeln. Schildwall bilden.“ Entelda fand Zunharm, der neben 23 und vier Kriegern stand, und lief auf die Gruppe zu. Laut rief er beim Rennen: „Zunharm, das sind keine dummen Tiere. Wir müssen alles geben.“ Hauptmann 23 und die drakanischen Soldaten, die sich schon bei Zunharm gesammelt hatten, warfen sich gegen die neue Flut von Schreckensaffen, andere Soldaten kamen nach. Zunharms Gesicht war blutverschmiert, zerkratzt und strahle kalte Wut aus. Er streckte den neuen Angreifern beide Hände entgegen und sagte stumm einige Worte. Kurz verharrte er, bis Entelda ihn erreicht hatte, dann rief er: „Manöver Kettenblitz!“ Alle Soldaten, ob sie nun gegen die neuen Angreifer kämpften oder gerade zu dem Gefecht rannten, ließen sich bei diesen Worten sofort fallen. Gleichzeitig begann etwas zwischen den Händen Zunharms hell zu erstrahlen und die Luft begann zu knistern. Ein gleißender Ball aus Blitzen entsprang seinen Händen und zuckte auf den vordersten Unhold zu. Rasend schnell zischte und hüpfte ein Licht umher. Innerhalb von zwei Herzschlägen sprang der Kugelblitz von einer Bestie zur anderen, bis keine mehr stand. Beim letzten Opfer zischte der Kugelblitz gleich weiter auf einen in der Nähe liegenden Drakanerkrieger herab und erhob sich von Neuem in die Luft. Zunharm rief etwas. Der Kugelblitz drehte auf halbem Weg ab und sauste nun auf Zunharm zu. Entelda

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trat vor Zunharm, nicht mehr in Flammen gehüllt, sondern diesmal in eine blau metallisch leuchtende Aura. Der Blitzball schlug in seine Brust ein und verging. Schwelende Affenleiber mit zuckenden Gliedern befan-den sich nun vor den liegenden Soldaten, einschließlich des Körpers des unglücklichen Kriegers, den der Blitz als Letztes versengt hatte. Schweigend standen die über-lebenden Soldaten auf. „Es ging zu schnell“, keuchte Zunharm, „ich konnte es nicht verhindern.“ Die Kleider des drakanischen Magiers waren durchnässt von Schweiß. „Dieses Manöver war schon immer gefährlich. Aber besser einer als alle. Es war die richtige Entscheidung“, tat Entelda seine Meinung kund. „Natürlich war es die richtige Entscheidung.“ Der Elf lächelte sarkastisch, als er das hörte. Er wandte sich ab und kümmerte sich um die Arbeiten, die nach einem Kampf entstanden. Es dauerte eine Weile, bis man die verwundeten Krieger gesammelt und untersucht hatte, und die Soldaten brauchten eine Erholungspause. Hauptmann 23 kam auf die beiden Urkorrs zu und meldete: „Drei Männer tot, fünf schwer verletzt. Drei weitere leicht. Uns Namenlose habe ich nicht mitgezählt, wir werden morgen keine Verletzungen mehr haben. Im Moment sind keine Feinde in Sicht, es könnten sich aber noch mehr in den Bäumen befinden, die sich bisher zurückgehalten haben.“ Zunharm nickte. „Gut gemacht, 23. Wir sollten hier nicht länger verharren als nötig. Entelda, du musst dich später um die Verwundeten kümmern. Abrücken – und nehmt unsere Toten mit!“ Entelda zog fragend seine Augenbrauen hoch. „Warum sollen wir uns mit den Gestorbenen belasten?“

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Leise zischte Zunharm: „Sind denn deine Stellung und dein Wein alles, was dir wichtig ist?“ Dann erhob er laut seine Stimme, dass es alle hören konnten: „Unsere Krieger haben zwar nur ihre Pflicht getan, trotzdem sind wir ihnen die Ehrenbezeugung schuldig, dass wir sie begraben. Ich werde niemanden meiner Mannen Teil von dem da werden lassen.“ Der Urkorr-nor zeigte auf die Knochenansammlung, die um die Hecke lag und die von den Drakanern weiträumig gemieden wurde. Einige der Soldaten nickten beifällig. ‚Nicht schlecht, Zunharm.‘, dachte Entelda sarkastisch, ‚Nicht schlecht. Bleibt nur die Frage, ob du es wirklich ernst meinst.‘ „Zurück zu unseren Pferden.“, befahl Zunharm. „Mein Herr“, grollte es im tiefen Bass von 23, der für einen Moment zur Seite getreten war. „Ein Soldat berichtete gerade, dass der andere Weg, der von hier wegführt, auf einen Erdriss oder eine schmale Schlucht stößt.“ Die beiden Urkorrs blickten sich triumphierend an, als sie diese Nachricht hörten. Zunharm bleckte seine Zähne. „Hauptmann, wir müssen die Pferde abholen und dann so schnell wie möglich zur Schlucht. Alles, was uns diesmal in die Quere kommt, wird augenblicklich niedergemacht.“ Die drakanische Truppe verließ den Kampfschauplatz, der mittlerweile grausig nach Blut und verkohltem Fleisch roch. Sie gingen in enger Formation mit gezogenen Waffen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Diesmal ließen sie bei ihrer Wachsamkeit nicht die Kronen der Bäume über ihnen außer Acht. Sehen konnten sie keines dieser Affenscheusale mehr. Das Blätterwerk der Bäume war dicht gewachsen und für Blicke undurchdringlich. Unnatürliche Stille umfing sie.

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Kein Geraschel verriet, dass sich noch jemand in den Ästen befand, und selbst die normalen Tiergeräusche waren nicht mehr zu vernehmen. Die Drakaner wurden nicht mehr angegriffen und kamen unbehelligt zu ihren Pferden.

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Welt Tepor, südlich der Vierfürstentümer, Moranion-Wald Ein Birkenuhu ließ mehrmals seinen klagenden Ruf durch den Wald hallen. Halgrimm sah nicht viel in der Fin-sternis des Waldes, doch dafür hörte er umso deutlicher die vielfältigen Geräusche um sie herum. Vielleicht lag es daran, das seine Sicht so eingeschränkt war, aber Hal-grimm hatte den Eindruck, dass im Moranion während der Nacht viel mehr Lebewesen aktiv waren als tagsüber. Es krauchte und raschelte fortwährend um sie herum und immer wieder vernahm er ein klatschendes Flattern, welches nicht danach klang als käme es von einem Vogel. Einzig das immer wiederkehrende Schnüffeln, dem sie nun schon so lange folgten, beruhigte seine Nerven. Nicht lange nachdem sie die Lichtung verlassen hatten, war die Abenddämmerung hereingebrochen. Je mehr der Tag verblasste, umso langsamer kamen sie voran und bald wurde es unmöglich weiterzukommen. Nun erhellte ein fahles dunkelblaues Licht am Ende von Halgrimms Stab sowie ein zweites, ebenso schwach leuchtendes Glimmen aus der Hand seines Lehrermeisters am hin-teren Ende der Gruppe den Weg. Mit voller Absicht schienen beide Lichtquellen schwächer als der Schein einer Fackel, denn Meister Faban fürchtete am meisten eine frühzeitige Entdeckung. Doch das mangelnde Licht erschwerte das Wandern und oft stolperte jemand über eine Wurzel oder einen Stein. ‚Nur Kev bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit.‘, stellte Halgrimm bewundernd fest. ‚Ohne ihn könnten wir die Drakaner nie in der Nacht verfolgen. Wir haben wahrlich einen leibhaftigen Wandler bei uns! Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass die Geschichten über die Wechselbälger tatsächlich wahr sind. Wie

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es wohl ist, ein Wolf zu sein? Und merkwürdig – die Pferde verhalten sich trotz Kevs Raubtiergestalt vollkommen ruhig.‘ Halgrimm versuchte, die hagere Wolfsgestalt, die vor ihnen hertrabte, im Dunkeln zu erspähen, doch konnte er ihre Silhouette nur erahnen. Im trüben Licht seines Sta-bes verwischte sie zu einem tanzenden Schatten zwischen schwarzen Baumstämmen und dunklen Gebüschen. Unvermittelt traten sie unter den Bäumen hervor und erblickten den Nachthimmel über sich. Sie hatten den Erdriss erreicht, der ohne jedes Vorzeichen plötzlich quer vor ihnen auftauchte und ihnen so den Weg abschnitt. Diese Spalte musste irgendwann einmal durch ein Erdbeben entstanden sein und war zumindest so breit, dass Halgrimm in der Dunkelheit nicht den Rand der ihm gegenüberliegenden Seite erkennen konnte. Der Grau-wolf führte sie rechts an der Schlucht entlang und schien sich nicht einen Moment lang unsicher zu sein, welchen Weg er einzuschlagen hatte. „Wir sollten unsere Lichter zum Schluchtrand hin ab-schirmen, mein Junge“, wisperte Faban von hinten. Natürlich, warum hatte er nicht selbst daran gedacht! Halgrimm ärgerte sich über seine Gedankenlosigkeit und übergab Toma die Zügel seines Pferdes. Mit der Linken zog er seinen Umhang nach vorn und bildete damit eine Stoffwand, die er zwischen der leuchtenden Spitze seines Stabes und dem Erdriss hielt. Meister Faban hielt einfach seine leuchtende rechte Hand neben seinen Körper, um den gleichen Effekt zu erzielen. Schweigsam und so leise wie möglich folgte die Gruppe ihrem vierbeinigen Führer. Nach fast einer Stunde er-reichten sie einen natürlichen Weg, der steil und schmal in die Erdspalte hinabführte. Kev schritt diese Schräge hinab, und die Flüstersteiner folgten ihm so gut sie es

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vermochten, wenn auch nicht ohne einige Flüche auf den Lippen. Die Pferde fanden den abschüssigen Pfad nicht im geringsten attraktiv und sträubten sich, ihn hinabzu-steigen. Die Wangen Halgrimms wurden heiß als er einige Ausdrücke hörte. ‚Oenothera flucht schlimmer als ein Fuhr-mann. Ich hätte nie gedacht, dass Elfendamen so etwas von sich geben würden.‘, dachte Halgrimm fassungslos. In Gedanken abgelenkt setzte Halgrimm seinen Fuß auf loses Geröll, rutschte weg und konnte gerade noch sein Gleichgewicht bewahren. Links von ihm war gähnende Schwärze, welche die Tiefe der Schlucht verbarg. Bedrohlich schien der scheinbar unendliche Abgrund Halgrimm entgegen-zuspringen. Entsetzt zuckte er vom Rand zurück. „Vorsichtig, Halgrimm“, hörte der Adept die tiefe Stimme Wotans hinter sich. Eine schwielige Hand voller Kraft hielt ihn am Arm „Wenn du da runterstürzt, kann ich dich auch mit Heilungsmagie nicht mehr zusammen-flicken.“ „Und wie immer weißt du ein paar aufbauende Worte des Mutes zu sagen, Erdenbewahrer.“ „Halgrimm, meine Sorge um dich war nicht sarkastisch. Wir brauchen dich und deine Fähigkeiten im bevorste-henden Kampf. Und bei Abusans Unterschlupf. Davon abgesehen, wäre es schade, wenn ausgerechnet der einzi-ge nicht arrogante Magier, den ich kenne, stirbt.“ Verdutzt schaute Halgrimm Wotan an und erwartete, ein hämisches Grinsen in dessen Gesicht zu sehen. Statt-dessen blickte er in ein ernstes Antlitz, welches nicht im Mindesten Belustigung ausstrahlte. Halgrimm wusste nicht, was er darauf entgegnen sollte, und so nickte er Wotan nur kurz zu. Es schien Halgrimm eine Ewigkeit zu dauern, wie sie langsam den steinigen und brüchigen Pfad nach unten

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krauchten. Die Wände der Schlucht ragten immer höher über ihnen auf und schluckten das wenige Licht, das vom leicht bedeckten Himmel kam. Ein kühler Wind umwehte sie hier, und der junge Magier begann zu frösteln. Endlich erreichten sie den mit Steinen übersäten Grund. Kev zog einen größeren Kreis, die Nase dabei immer knapp über dem Boden, und wandte sich einige tiefe Atemzüge später wieder nach rechts, die Schlucht entlang. Es ging nun eine Weile über ein Geröllbett mit wenigen verkümmerten Büschen und Sträuchern. Nur Flechten schienen hier prächtig zu gedeihen und waren auf fast allen Steinen vorzufinden. Olagrion lies die Gruppe nach einer Weile haltmachen, und jeder suchte sich einen Platz zum Sitzen. Halgrimm war dankbar für die Pause. Wie die meisten seiner Gefährten nutzte er die Zeit, um etwas zu trinken und sich einige Stücke Dörrfleisch in den Mund zu stopfen. Ihm ging ein Gedanke nicht aus dem Kopf, der ihn schon seit Tagen beschäftigte. Die Gruppe saß nah beieinander, und es schien ihm nicht gefährlich, eine leise Unter-haltung zu führen. „Meister Faban, ich frage mich schon des Längeren, wie es dazu kam, dass dieser Hexer Abusan so machtgierig wurde. Zu einem bösen Übel für alle freien Völker.“ „So? Wieso fragst du dich das?“ „Es erscheint mir zu einfach. Wie in einer Sage, wo einfach etwas als böse betitelt wird. Ich versuche mir ein Bild über denjenigen zu machen, dessen gesichertes Laboratorium wir wahrscheinlich bald betreten müssen. Kenne deinen Feind, und du bist auf ihn vorbereitet, so ist doch eine Lehre des Grauen Turmes.“ „Ah ja. Ein guter Gedanke, Halgrimm. Ja, ich bin deiner Meinung, es ist gut, sich noch mal Gedanken über

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Abusan zu machen. Nuuuun …“ Halgrimm zuckte zu-sammen. „… alles hat einen Antrieb. Es ist nur nicht leicht, aus Geschichtsaufzeichnungen, die meistens nicht sehr neutral geschrieben wurden, die Wahrheit heraus-zufinden. Natürlich hatte Abusan seine guten Gründe, warum er so gehandelt hat. Macht über andere zu besit-zen ist ein sehr verlockender und ausreichender Grund für viele, um Leid zu verursachen.“ Olagrion, der interessiert zugehört hatte, meinte: „Ich denke, das ist nur der oberflächliche Beweggrund bei dem Hexer. Schlechte Antriebe wie Neid, Eifersucht, Hab-sucht, Missgunst können uns zu schlimmen Taten ver-leiten. Bei Abusan, denke ich, war es Angst.“ „Angst?“, echote Corsan und schob seinen blonden Haarschopf zur Seite um Olagrion besser ansehen zu können. „Angst, mmh?“, sinnierte Wotan, „Das klingt interessant. Weiter.“ „Ja, unbändige Angst“, wiederholte Olagrion und schien in sich zu blicken. „Alles, was ich über Abusan gelesen oder gehört habe, spiegelt das wider. Er wird immer wieder als paranoid bezeichnet. Eifersüchtig wachte er über seine Geheimnisse, damit ja niemand sein Wissen gegen ihn verwenden konnte. Ständig fürchtete er sich vor Verrat‚ befürchtete, dass jemand stärker als er werden, ihn beherrschen könnte. Angst in Maßen ist eine gute Sache. Sie bewahrt uns davor, zu viel zu wagen, übermütig zu werden, und lehrt uns, vor unseren Hand-lungen nachzudenken. Abusans tiefe Furcht indessen führte dazu, dass er alles und jeden verdächtigte, ihm Arges zu wollen. Seine Lösung war, alles zu kontrollieren. Abusan musste der absolute Herrscher sein, um seine

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Angst zu stillen, obwohl letzten Endes auch dies dann nicht reichte.“ Wotan stimmte Olagrion zu. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Dass ein Gefühl wie Angst so etwas auslösen kann, ist wahr, und ich würde es als Priester Toorns noch weiter führen: Ich denke, dass nicht nur niedere Einstel-lungen wie Neid und Missgunst, sondern auch Tugenden wie Liebe, Ehre, Pflichterfüllung, Treue oder Instinkte wie eben Angst und Selbsterhaltung zum Übel werden können. Je nachdem wie man sie auslebt oder sich von ihnen beherrschen lässt, können sie gute oder schlechte Auswirkungen haben. Ein Heerführer, der in einer aussichtslosen Schlacht nicht die Flucht befiehlt, um damit seine Untergebenen zu retten, sondern um der Ehre willen weiter den Kampf sucht, handelt selbst-süchtig und stellt die Ehre über das Leben selbst. Es wurde schon viel Schindluder mit der Ehre betrieben.“ „Für diesen Ehrenwahnsinn scheinen besonders männ-liche Wesen anfällig zu sein“, schnaubte Oenothera. Karr verzog mürrisch sein Gesicht. Kev schielte zu der Elfe und ließ ein leises Wolfsjaulen vernehmen. Olagrion ignorierte Oenotheras spitze Bemerkung und führte Wotans Gedanken weiter aus: „Das Schlimme ist: Je weiser und mächtiger ein Wesen ist, umso fataler sind die Auswirkungen, wenn es einer üblen Begierde, einem verdrehten Antrieb verfällt.“ Dazu nickte Wotan vehement. „Wie sollten sonst die Dämonen zustande gekommen sein?“ Meister Faban meinte: „Ein Wesen, das Jahrhunderte oder gar Jahrtausende seinen Neid oder Hass genährt und gesteigert hat, muss wahrhaft fürchterlich sein. Den Schrecken würden Klauen und Hörner, wie wir sie oft bei der Darstellung von Dämonen finden, kaum steigern

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können. Abusan ist ebenfalls sehr alt geworden. Lasst uns besonders vorsichtig in Abusans Versteck vorgehen. Es wird mit Sicherheit voller ausgeklügelter Fallen sein, so-wohl magischer als auch weltlicher Natur. Es war gut, dass du mich daran erinnert hast, Halgrimm, denn ich habe nicht daran gedacht, dass wir uns viel Zeit nehmen müssen, um lebend durch Abusans Sicherheitsmaßnah-men zu kommen.“ Der alte Ordensmeister erhob sich mit einer Hand im Kreuz von seinem Stein und rieb sich den Rücken. „Ein Konflikt mit den Drakanern wäre des-wegen wohl kaum zu vermeiden gewesen. Gut – nein, günstig, dass wir sie jetzt stellen können. Kommt, wir müssen weiter.“ Die zwölf überließen dem Grauwolf wieder die Führung und mühten sich eine weitere Stunde auf dem steinigen Grund der Schlucht ab. Mit einem Mal stoppte Kev, drehte sich zur Schluchtwand links von ihnen und lief darauf zu. Halgrimm konnte bald darauf einen Einschnitt in der Wand erkennen, der unwegsam und krumm wieder nach oben führte. Corsan und Enyu machten sich auf, in diesen Einschnitt einzudringen. Der Wolf stellte sich ihnen in den Weg und knurrte. Verdutzt hielt die Truppe an und sah auf Kev. Das Raubtier verformte sich, die Haare verschwanden, die Beine wurden dicker, und dann kniete Kev in seiner menschlichen Gestalt vor ihnen. „Nicht weitergehen. Zu dumm, dass ich nicht reden kann, wenn ich verwandelt bin. Die Geruchsspur wurde mit der Zeit immer intensiver. Ich glaube, die Drakaner sind nicht mehr weit von uns.“ Olagrion schaute den Einschnitt hinauf. „Sie könnten oben gelagert haben. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Kraft genug haben, sie schon heute Nacht anzugreifen.“

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„Auf jeden Fall. Jetzt können wir sie überraschen.“, sagte Karr so schnell, als hätte er geahnt, was Olagrion fragen würde. Inbrünstig fügte er noch hinzu: „Das liegt doch auf der Hand.“ „Was sagen die anderen dazu?“ Faban sah betont alle bis auf Karr an. Corsan gab mit einem Zeichen sein Einverständnis. Enyu nickte. „Ich bin zwar etwas müde, fühle mich aber einem Kampf durchaus gewachsen“, sagte Toma, und Rolfah folgte mit: „Dem schließe ich mich an.“ Serenoa sagte überzeugt: „Wir sind als Gruppe zusam-mengewachsen und haben schon einiges überstanden. Ich weiß, wir werden die Drakaner besiegen.“ Einer nach dem anderen bestätigte sein Einverständnis für einen sofortigen Angriff. „Zuerst muss ich etwas essen.“ Kev hatte sich schon Brot und Käse aus der Packtasche seines Pferdes genommen. „Jede Verwandlung strengt mich an und macht mich unsagbar hungrig. Bevor ich mich noch weitere Male umforme oder kämpfe, brauche ich Nahrung.“ „Also gut. Sobald Kev etwas gegessen hat, gehen wir auf die gleiche Weise vor wie heute Nachmittag.“, sagte daraufhin der Ordensmeister. „Lasst uns alle kurz ausru-hen, und danach klettern wir erst einmal nach oben und suchen das Lager. Wenn wir es umstellt haben, wartet unbedingt ab, bis die Zauber von mir und unserem Erdenbewahrer ihre Wirkung zeigen. Die Bogenschützen unter uns sollten den Rest erledigen. Möget ihr alle bewahrt bleiben.“ Olagrion nahm Dolch und Schwert zur Hand und sprach zu seinen Elfengefährten: „Dann sollten wir jetzt unsere Waffen vorbereiten.“ Auf sein Wort hin nahm jeder der

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Elfen einen Holztopf aus seinem Rucksack, und diejenigen, die ihre Lederhandschuhe abgestreift hatten, zogen sie wieder an. Neugierig beobachteten die anderen die langsamen, vorsichtigen Arbeitsschritte der Elfen. Stofflappen wurden in eine bräunliche Paste getunkt, die sich in den Töpfen befand, und die Paste wurde auf die Schneiden der Waffen aufgetragen. Schließlich fragte Toma: „Was macht ihr mit euren Schwertern?“ „Unser Volk nutzt die Waffen der Natur“, erklärte ihm Enyu und hörte mit seiner Arbeit während des Redens auf. „Du weißt sicher, dass einige Pflanzen und Tiere starke Gifte besitzen. Wir haben Verfahren gefunden, um diese haltbar zu machen und sie auf Waffen aufzutragen. Da die Waffen nach einer solchen Behandlung für einen selbst tödlich werden und das Gift an der Luft schnell an Wirkung verliert, tragen wir die Paste nur kurz vor einem Kampf auf. Es wirkt meistens nur gegen den ersten Gegner.“ Wotan war bei der Erklärung der Mund aufgegangen, und sein Gesicht strahlte Ablehnung aus. „Was höre ich da, ihr benutzt tatsächlich Gift? Ich dachte, dass wäre nur üble Nachrede gegen die Elfen gewesen. Das ist absolut unehrenhaft.“ „Ehre ist ein Begriff der sehr unterschiedlich gesehen wird. Wir denken, dass ehrenhaftes Gebaren in einem Kampf auf Leben und Tod nichts zu suchen hat“, entgeg-nete Olagrion ruhig und besonnen. „Es ist nur vernunft-gemäß, im Krieg jede Möglichkeit zu nutzen. Ein Gefühl wie Ehre hindert einen daran zu überleben.“ „Es ist eine schreckliche Art, ein Leben zu beenden. Es ist nicht richtig.“

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„Deswegen wird so ein Mittel nur dann eingesetzt, wenn jegliche Verhandlungen oder Friedensgesuche gescheitert sind und wir uns in großer Not befinden. Unser Volk ist nicht leichtfertig, nur konsequent.“ Faban versuchte zu beschwichtigen. „Wir wissen alle, wie unterschiedlich die vier Völker im Denken und Handeln sind, und es braucht Toleranz für ein Zusammenleben. Denkt daran, dass die Behüter auch bei den Elfen ihre Priester erwählen. Sie würden das nicht bei einem bösen oder grausamen Volk machen.“ Wotan war sichtlich aufgebracht. Seine Augen funkelten, und er verschränkte seine Arme. „Ich könnte so etwas nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Es muss auch im Krieg eine Moral geben, ist meine Meinung. Doch will ich mich nicht zu einem Richter über die Elfen machen, ich bin nicht weise genug dafür. Solange ich kein Gift benutzen soll, werde ich treu zu euch stehen.“ Rolfah meinte dazu: „Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist, Gift zu verwenden. Wenn es uns hilft, gegen die Drakaner zu gewinnen, werde ich es in diesem Fall benutzen.“ „Verzeih, Rolfah, einem Uneingeweihten händigen wir unsere Giftsalbe nicht aus.“ Serenoa lächelte Rolfah bedauernd an. „Wenn ein Unfall passieren sollte, wissen wir nicht, ob unser Gegengift bei Menschen genauso wirkt wie bei uns.“ Verständnisvoll nickte Rolfah ihr zu und wirkte zugleich erleichtert. „Nun gut, dann sollten wir aufbrechen.“ „Könntest du nicht als Falke vorausfliegen und das Lager suchen?“, erkundigte sich Oenothera bei Kev. „Was, das kann er auch?“, polterte Toma dazwischen. „Ja, ich kann mich in einen Falken verwandeln. Ich glaube aber nicht, dass es uns jetzt viel nutzen wird. Ein

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Falke kann nicht durch Baumkronen blicken und sieht bei Nacht eher schlecht. Ich werde euch wieder als Wolf führen und zum Lager bringen.“ „Ich bin froh, dass du mit uns gekommen bist, Kev“, bedankte sich der Ordensmeister bei dem Wandler. „So-bald wir Zeit haben, musst du uns unbedingt erzählen, in was du dich sonst noch verwandeln kannst. Das hätten wir schon längst fragen sollen. Entschuldige, ich habe dich viel zu wenig einbezogen.“ „Das macht nichts, Meister Faban. Ich bin nach den vielen Jahren bei den Drakanern froh, nicht so viel Auf-merksamkeit zu bekommen.“ „Ach, ist das so?“, fragte Oenothera samtweich. Sie ruhten eine halbe Stunde aus und machten sich dann an den Aufstieg aus dem Erdriss. Die Pferde hatten sie unten in der Schlucht gelassen. Die Gefahr, dass eines der Tiere einen verräterischen Laut machte, war ihnen zu groß. Wie zuvor folgte die Truppe Kev in seiner Wolfsgestalt. Vorsichtig schlichen sie den Nebenarm der Schlucht hinauf, immer darauf bedacht, möglichst wenige Geräusche zu verursachen. Die beiden Magier mussten wieder ihr Licht beschwören. Es war schlichtweg zu dunkel in dem engen Erdriss, und sie hätten viel mehr Lärm gemacht, wenn sie nicht hätten sehen können, wo sie hintraten. Es bildete sich eine Reihe, bei der zwei bis drei Gefährten nebeneinandergingen. Am hinteren Ende vernahm man ein leises Klirren sowie deutliches Fuß-stampfen. „Wotan, du machst Lärm.“ Oenothera blickte den Erdenbewahrer vorwurfsvoll an. „Vermaledeit, ein Zwerg ist einfach kein heimlichtuer-ischer Leisetreter“, fuhr Wotan erbost auf.

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„Schscht. Hier, nimm diese Stoffstreifen und umwickle deine Stiefel damit. Und versuch mal, beim Gehen nicht herumzustolzieren. Wenn du so mit den Schultern wackelst, klirrt dein Kettenhemd.“ „Was? Ich wackle nicht …“ „Schscht!!“ Wutschnaubend erstarb der Protest Wotans. Der Zwerg, fand Halgrimm, war wirklich der Lauteste von ihnen, allerdings würde er sich hüten, das auszusprechen. Über-haupt schien es eine gute Idee, etwas Abstand zwischen den kochenden Wotan und sich selbst zu bringen. Gleichzeitig kam er dadurch von Oenothera weg. Hal-grimm setzte sich in eine sturmfreiere Zone ab und gesellte sich zu Kev nach vorn. Die Dunkelheit hellte sich allmählich auf, je näher sie dem oberen Rand des Einschnittes kamen. Die letzten Meter waren weniger steil und mehr mit Gras bewachsen. Einige große Findlinge lagen verstreut am Ausgang. Meister Faban hob seine Hand zum Halt. „Halgrimm, lass dein Licht verlöschen. Kev, riechst du Drakaner in der Nähe?“ Der Grauwolf schüttelte verneinend den Kopf. „Dann geh allein voraus und versuche ihr Lager zu finden.“ Ein Klackern von mehreren Steinen, die zu Boden fielen, hallte durch die Luft. Die versammelte Mannschaft schaute alarmiert auf. Kev sah mit seinen Wolfsaugen vorzüglich in der Nacht. Sofort entdeckte er die Gestalt, die von einem Felsen am rechten Rand des Erdrisses heruntersprang. Das konnte doch nicht wahr sein, die dem Wind abgewandte Seite! Deshalb hatte er nichts gerochen. Ohne zu zögern, teilte er seine Entdeckung seinen Gefährten mit.

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„Hör auf zu knurren, Kev“, zischte Karr. „Er will uns etwas mitteilen. Hat wohl was gesehen?“, erklärte Wotan. Der Wolf jaulte kläglich auf und rannte los. Er hatte gerade mal zwei Sprünge zurückgelegt, da hörte er laut einen Ruf durch die Stille der Nacht schneiden: „Alarm. Posten bei der Kluft hat Feindkontakt. Alarm.“

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Welt Tepor, Felmongebirge, Scheidepass Auf seinem Schlachtross beobachtete Heerführer Laukim von seinem erhöhten Standpunkt aus, wie sich sein Heerestross zum Scheidepass hinaufbewegte. Es würde nur noch einige Stunden dauern, dann hätten sie den Übergang erreicht. Laukim war ungehalten. Etwas verlief nicht nach Plan. „Soldat!“ „Mein hoher Urkorr-gaan?“ „Reite nach vorn zum Stoßtrupp und frage nach, wo der Bericht der Vorhut bleibt!“ „Ich höre und gehorche.“ Der Meldereiter machte sich unverzüglich auf den Weg, froh aus dem Dunstkreis seines beängstigenden Herrn zu kommen. Er hätte schwören können, dass sich vor Kurzem eine Art Schatten mit seinem Heerführer unterhalten hatte. Oder bekam er vor lauter Kälte schon Wahnvorstellungen? Während er sich entfernte, kam ein neuer Meldereiter zum Hohepriester geritten und stellte sich in respektvollem Abstand vom Heerführer bereit. Diese Selbstverständlichkeiten nahm Laukim nicht wahr. Seine Gedanken kreisten um den bevorstehenden Feldzug. Die Vorhut hätte gemäß seinem Befehl schon seit über einer Stunde zurück sein müssen. Hatten sie etwa getrödelt, sich eine Extrapause genehmigt? Er konnte sich nicht vorstellen, dass noch jemand seiner Soldaten wagen würde, seinen Zorn herauszufordern. Laukim fragte sich, ob sein Plan, den Scheidepass kampf-los zu durchziehen, gescheitert war. Ein Trupp musste vorgeschickt werden, um Antworten zu liefern.

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„Mein Ûn-Scharführer, die Kut is’ vollständig und bereit vorzurücken.“ Ein schwer gerüsteter Drakaner salutierte lässig vor sei-nem Offizier. „Ist gut, Vosgar. Deine Schar wird die linke Flanke decken, wenn wir auf den Pass vorrücken. Irkut soll mit seinen Jungs die rechte Seite schützen. Die Vorhut ist immer noch nicht zurück, und das macht mir ein schlechtes Gefühl. Also seid wachsam.“ „Meint Ihr, die hatten schon einen Zusammenstoß mit ’nem feindlichen Trupp? Wie soll das denn passiert sein?“ „Eigentlich gar nicht. Du hast ja selbst mitbekommen, was es für ein Aufwand es ist, ein Heer hier hinauf-zuverlegen. Jedenfalls warst du ganz schön am Stöhnen, und das den ganzen Weg lang. Die hätten schon vor Wochen losmarschieren müssen, um uns ebenfalls so viele Kämpfer entgegenzuwerfen. Allerdings … die Vorhut ist überfällig.“ „Wir werd’n schön langsam vorrücken, Ûn-Scharführer, für die Glorie des gerechten Imperiums.“ Der Ûn-Scharführer verzog sarkastisch seinen Mund. „Wir haben beide zu lang miteinander gekämpft, um vom anderen so einen patriotischen Ausruf ernst zu nehmen. Gerechtes Imperium …“ „Stimmt, ich glaub nich’ dran. Gleichermaßen glaub ich auch das Freiheitsgerede der anderen Seite nich’. Wir kennen ja die Parolen und Beeinflussungsreden; das werden die da drüben nich’ anders machen. Zum Schluss is’ es wohl egal, wer da über einem auf dem Thron sitzt, kommt aufs selbe raus. Wir Kleinen haben keine Wahl.“ Morktan nickte, und die beiden Veteranen gingen zu der wartenden Einheit schwer gepanzerter Schildträger zu-rück. Morktans Kut aus dreihundert Kriegern hatte sich

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vierzig Pferdelängen vor der Schlucht gesammelt, die der erste Abschnitt des Scheidepasses war. Seine schwere Infanterie bildete den gepanzerten Kopf des Heerwur-mes, und sie hatten den Befehl, den Kriegszug nach vorn hin zu sichern. Eigentlich kein problematischer Auftrag, denn außer ein paar Greifvögeln und Murmeltieren sollten sie hier nichts vorfinden. Die verschiedenen Trup-penteile ihrer Armee hatten sich durch den schwierigen Aufstieg auf dem schmalen Gebirgsweg weit auseinander-gezogen. Für einen Heerhaufen bei ungünstigem Gelände immer eine gefährliche Situation. Morktan sollte mit seinen Männern am Scheidepass einen Hinterhalt verhin-dern, wobei das diesmal eigentlich eine reine Routine-übung sein sollte. Nachdenklich wischte sich Morktan seine Stirn und stellte sich schließlich vor seinen Kriegern auf. „Also, Männer, es geht los. Denkt daran, wir haben keine Bogenschützen und Plänkler in unserer Einheit als Fernkampfunterstützung. Wenn es zu einem massiven Beschuss kommen sollte, dann Schilddachformation und Rückzug. Vorwärts.“ Der drakanische Stosstrupp bildete ein längliches Recht-eck, das so breit war, wie es der Weg zuließ. Der Ûn-Scharführer, ebenfalls mit einem Schild ausgerüstet, begab sich in die zweite Reihe. Die mannshohen Schilde wurden von den Soldaten am Rand zur Außenseite ausgerichtet und sahen aus wie metallbeschlagene dicke Türen, waren jedoch nur wenig breiter als ein Mann. Diese Schutzvorrichtung war schwer. Deshalb gab es für den besseren Halt eine Armschienenvorrichtung, mit der diese Großschilde fest an den Arm geschnallt wurden. Ein Lederriemen, der um den Hals lag und den man mittig in den Schild einhaken konnte, half beim Tragen.

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Kettenhemd und Helm boten weiteren Schutz, und als Bewaffnung besaßen sie ein Kurzschwert und einen Rabenschnabel, um schwere Rüstungen zu durchschla-gen. Eine solche Einheit konnte sich aufgrund der schweren Ausrüstung nur mühsam bewegen, und so rückten sie langsam Schritt für Schritt in die Schlucht ein. Zerklüftete Wände ragten mit leichter Schräglage mehrere Pferdelängen über ihnen auf. „Halt!“, befahl Morktan. Die Schildträger hielten überrascht an. „Scharführer Vosgar, siehst du die braun gefleckten Steine da vorn?“ „Gesehen, Ûn-Scharführer.“ „Die Hälfte deiner Schar soll vorrücken und feststellen, was das ist.“ „Ûn-Scharführer?“ „Stell fest, ob das getrocknetes Blut ist oder ob ich nervöse Muttergefühle für euch entwickle.“ „Ich hoffe doch auf die nervösen Muttergefühle, Ûn-Scharführer.“ „Ab mit dir, Vosgar.“ Mit einigen Ordern von Vosgar lösten sich von der linken Seite des Trupps fünfundzwanzig Männer. Diese bildeten ein kleines Quadrat. Die Schilde wurden so ausgerichtet, dass jede Seite gedeckt war, und die Männer in der Mitte bildeten mit ihren Schilden ein Dach. Die Schar von Vosgar rückte vorsichtig vor, bis sie einen Steinhaufen erreichten, der brusthoch einen Teil des Weges ver-sperrte. „Das sieht nach Blut aus“, rief Vosgar seinem Anführer zu. Die Drakaner hörten über sich ein geschrienes Wort: „Jetzt!“

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Ein Hagel von Pfeilen, kleineren Steinbrocken und gebrüllten Hasstiraden kam über beide Mannschaften der Drakaner hereingebrochen. Trotz ihrer Vorsicht wurden sie von der gewaltigen Vielzahl der Geschosse überrascht, und vier Krieger gingen verletzt zu Boden. Dann schloss sich das Schilddach dichter zusammen. „Rückzug, sofort zurück!“, befahl Morktan schleunigst. „So eine verdammte Schweinerei.“ Vosgars Schar beeilte sich, den Anschluss an die Haupttruppe zu bekommen. Die Schildformation ver-hinderte, dass weitere Geschosse Schaden anrichten konnten. Morktan befahl seiner Gruppe, langsamer zurückzuweichen, und kurze Zeit später vereinigten sich beide Mannschaften wieder. Gemeinsam näherten sie sich dem Ausgang der Kluft. Neben Morktan krachte es fürchterlich. Sein Nebenmann verschwand unter einem Felsblock, der die Ausmaße eines Wagenrades hatte. Kurz darauf hörte er einen weiteren Einschlag hinter sich und dann die entsetzten Rufe seiner Soldaten. Gleich-zeitig sah Morktan, wie durch die entstandene Lücke neben ihm mehrere Geschosse einen Soldaten schräg vor ihm trafen. „Zusammenbleiben und laufen. Wenn jemand aus der Formation bricht, werde ich ihn persönlich hinrichten. Haltet das Schilddach.“ Disziplin und Angst hielten die drakanischen Krieger beieinander. Sie fielen gemeinsam auf Morktans Befehl in einen koordinierten, langsamen Militärlauf, und keiner ließ dabei seinen Schild sinken. Morktan zählte bang die lauten, heftigen Einschläge. Eins, nein, zwei hinter ihm, noch einer links neben ihm. Weitere Männer schrien auf, als sie von Pfeilen getroffen wurden. Es wurde heller – die Wände rückten auseinander. Der Geschosshagel

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verebbte unvermittelt. Morktan jubelte innerlich – seine Jungs hatten sich aus der Falle der Schlucht gerettet; sie hatten es überstanden. Die Verluste waren verhältnis-mäßig gering, zumindest war es die inbrünstige Hoffnung des Ûn-Scharführers. Leider war die Gefahr noch nicht ganz überstanden, denn jemand musste dem Heerführer noch Bericht erstatten.

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Welt Tepor, Felmongebirge, Scheidepass „Denen haben wir es gegeben! So schnell werden die sich keine weitere blutige Nase holen wollen!“ Der junge Ritter Pledor sah hochzufrieden den fliehenden Draka-nern hinterher und entspannte seinen Bogen. Er und viele andere Ritter und Krieger der Flüstermark standen zusammen auf einem schmalen Plateau, welches sich auf der einen Seite der Schlucht über dem Hohlweg befand. Nur wenige Kämpfer waren die gegenüberliegende Schluchtwand hochgeklettert. Dort gab es keine größere Fläche auf der man stehen konnte. Es war schwierig, einen Halt zu finden, der es einem erlaubte, mit dem Bogen zu schießen. „Diesmal haben wir sie aufgehalten.“ Jotar runzelte gar nicht erfreut die Stirn. „Ich hoffe, Ihr als Offizier könnt unsere Lage richtig einschätzen, Pledor al Wallmaut. Die Schildträger sind erst der Anfang gewesen. Wir haben vermutlich jetzt schon ein Zehntel unseres Pfeilvorrates verschossen.“ Das glatte, fast jugendlich wirkende Gesicht von Ritter Pledor verlor seinen fanatischen Glanz. Leicht verlegen wischte er sein halblanges blondes Haar aus seinem Gesicht. „Wir sind nur zweihundertfünfzig Männer mit wenig Ausrüstung und sollen eine ganze Armee auf-halten.“ Jotar klopfte seinem jungen Scharführer auf den Rücken. „Nur für einige Tage, Ritter. So lange, bis die Truppen von Flüsterstein ankommen. Es ist nicht unmöglich. In dieser Engstelle nützt es nichts, Tausende von Kämpfern zu haben, das habt Ihr gerade in kleiner Ausführung gesehen. Die ersten Stunden sind bereits gewonnen, denn

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die Drakaner können nicht so einfach in den Gebirgs-wegen ihre Truppen neu zusammenstellen.“ Pledor versuchte, ein verwegenes Grinsen aufzusetzen. „Ihr meint, sie stehen sich jetzt selbst im Weg.“ Jotar umfaste mit einer Hand die Schulter des jungen Mannes. „Ja. Hoffen wir, dass sie bei den Manövern ein paar Wagen und Männer verlieren.“ Jotar sah nach unten und suchte die Steinhaufenbarriere, die seine Pferdereiter gestern bis zur Brusthöhe eines Mannes aufgeschichtet hatten. Es war nicht wirklich eine Mauer, allerdings verhinderte der Steinhaufen, dass ein Trupp einfach durch den Hohlweg durchstürmen konnte. Der Rittmei-ster überprüfte noch einmal seinen Plan. ‚Die Unglücklichen, die über die Steine hinüberklettern, haben keine Deckung und werden von unseren erhöhten Stellungen be-schossen. Auf der anderen Seite steht Kregor mit seinen Schwert-kämpfern bereit. Es werden nicht viele Feinde gleichzeitig über die Barriere nachdrängen können. Damit haben wir verhindert, dass Kregors Männer durch nachdrängende Massen langsam in das Tal zurückgedrängt werden. Die wenigen Drakaner, die vom Stein-haufen unverletzt herunterkommen, sollten es schwer haben. Ja, so können wir eine Zeit lang die Schlucht halten. Wir bräuchten für Kregors Leute Speere …‘ Jotar nickte Pledor noch einmal zu und verließ ihn. Er ging ein paar Schritte den natürlichen Sims des Plateau-randes entlang, bis er einen einäugigen kleinen Mann erreichte. Fest klopfte er ihm auf den Rücken. „Burteg, hab die nächsten zwei Stunden ein Auge auf die Schlucht.“ „Zu Befehl, Rittmeister“, antwortete der Soldat mit einem breitem Grinsen. Jotar verließ den Rand des Plateaus und ging zur Wand, die über die Steinfläche aufragte. Er wollte zu einer

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Nische, in der er Quarus und Ordensmeister Dukarran während des Kampfes zurückgelassen hatte. Die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten. Vielleicht auch mehr erregt als angeregt, entschied Jotar, als er die Gesichtsfarbe von Magier Dukarran bemerkte. Die schwarz gelockten Haare hingen dem Zauberer wirr vom Kopf herunter, als hätte er daran gezogen. „Ich dachte, der Kampf wäre vorbei, verehrte Berater“, lächelte Jotar die beiden an. „Ah, Ritter Jotar, entschuldigt unseren kleinen Disput.“ Immer noch etwas violett im Gesicht, hatte sich Du-karran dem Befehlshaber der Pferdekämpfer zugewandt. Sein kleiner Kinnbart zitterte noch leicht vor Erregung. „Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen, ich weiß wie … aufregend Quarus sein kann.“ „Hey, das ist nicht meine Schuld“, beschwerte sich der Gnom. „Ich habe nur eine Idee vorgetragen und ver-teidigt. Ihr Menschen seid immer so erregbar.“ Dukarran räusperte sich gekünstelt und fragte Jotar: „Wie ist der Kampf gelaufen?“ „Wie erwartet. Wir haben die erste Einheit vertrieben. Hat nicht lange gedauert, dass sie ihre Späher vermisst haben und mal nachschauten. Leider waren es schwer gepanzerte Schildträger. Wir konnten ihnen nur geringe Verluste zufügen. Damit sie es nicht so schnell wieder versuchen, habe ich einige der großen Steinbrocken auf sie runterwerfen lassen. Von denen haben wir jetzt nur noch sechs, dann sind alle, die wir hier oben gefunden haben, verbraucht. Glücklicherweise wissen die Drakaner das nicht.“ „Wenn ihr noch weitere Findlinge braucht, kann ich dafür sorgen, dass ihr welche aus dem Tal zum Plateau

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transportieren könnt. Es gibt da einen Windzauber, der macht so etwas wie ein Polster aus Luft.“ „Wie … ein Polster? Egal, das ist großartig! Dann können wir die Findlinge, die wir runtergeworfen haben, auch wieder benutzen. Warum habt Ihr mir nicht früher etwas davon erzählt?“ „Ich wusste bisher nicht, dass Ihr so etwas braucht. Ihr habt nicht gefragt, und ich bin kein Militärstratege.“ Jotar rang kurz mit sich, dann sagte er mit ruhiger Stimme: „Macht nichts, wir haben noch Zeit genug, um weitere Steinblöcke zu beschaffen. Leider werden je mehr die Drakaner angreifen auch unsere Vorräte an Pfeilen zur Neige gehen. Wenn wir nichts mehr haben, um sie von oben zu beschießen, werden wir uns nicht mehr lange halten.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Heerführer der drakanischen Armee so lange warten wird. Ich möchte nicht die Kampffähigkeiten Eurer Mannen anzweifeln, jedoch werden Eure Pläne nur aufgehen, wenn keine okkulten Kräfte angewandt werden.“ „Nun, dafür seid Ihr ja hier, nicht wahr? Ein schlauer Zug von Fürst Aldan, Euch als schwer erkrankt auszugeben. Damit rechnen unsere Feinde wohl nicht mit magischer Gegenwehr.“ „Das war keine Idee des Fürsten. Ich war tatsächlich erkrankt. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wird der öffentlich bekannte Wachmagier, der Flüsterstein be-schützen soll, handlungsunfähig. Dies alles muss vom Eisernen Thron sehr sorgfältig geplant worden sein. Hütet Euch vor dem Heer und seinem Führer, dem ihr gegenübersteht. Es werden ausgewählte Veteranen sein.“ „Aber wie kommt es, dass ihr jetzt gesund seid?“

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„Der Zufall oder die Behüter brachten einen Erden-bewahrer nach Flüsterstein. Eigentlich sollte ich zum Grauen Turm oder nach Grünwasser zu dem dort residierenden Himmelspriester gebracht werden, denn es ging mir immer schlechter. Fürst Aldan reagierte sofort und ließ zum Schein einen falschen Kranken zum Orden bringen. Er fragte den Erdenbewahrer, ob er helfen könnte, wo die Heilkundigen versagten. Der fand heraus, dass ich vergiftet und nicht erkrankt war, und heilte mich, den Behütern und dem Schöpfer sei Dank.“ Quarus fuhr erschrocken hoch, seine spitzen, abge-knickten Ohren stellten sich auf. „Vergiftet? Das heißt, es müssen Schleicher in der Festung sein, die dort arbeiten! Wie haben die das geschafft?“ Der Magier ächzte frustriert auf. „Wie ich schon sagte, alles sorgfältig geplant und ausgeführt. Der Fürst hat schon Maßnahmen wegen der Schleicher getroffen. Wir stecken in etwas drin, was die Nachwelt einmal als gewichtige Geschichtsereignisse betiteln wird.“ „Na toll“, quäkte Quarus, „genau das, wovon ich immer nur lesen, es aber nie selbst erleben wollte!“ Aus Jotar brach es vorwurfsvoll hervor: „Ich für meinen Teil werde alles dafür tun, dass man dieses Ereignis auch zukünftig in den freien Vierfürstentümern lesen wird.“ Kurz blitzte er die beiden anderen energisch an. „Und dafür brauche ich meine zwei Berater, die hoffentlich trotz ihres Selbstmitleides noch denken können. Also, ich brauche Ideen! Was tun wir, außer den Fürsten zu warnen, wenn die Drakaner frühzeitig durchbrechen? Ich will ihnen das Leben so schwer wie möglich machen.“ Der gnomische Gelehrte und der Ordensmagier blickten einander an, und gleich darauf begann sich das Antlitz von Dukarran erneut zu verfärben.

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Vorsichtig begann Quarus: „Es gäbe da eventuell einen Vorschlag von mir …“ „So was kann nur von einem wahnsinnigen Gnom kommen!“, platzte der Ordensmeister dazwischen. „… der etwas delikater, sozusagen drastischer wäre …“ „Mit solchen Kräften spielt man nicht herum!“, geiferte Dukarran. „… und auch eine gewisse Gefahr mit sich brächte …“ „Man könnte auch Selbstmord dazu sagen.“ „… und wenn es funktioniert, hätten die Drakaner ganz schön zu tun …“ „Wenn, wenn! Wir wissen aber nicht, ob es überhaupt funktionieren kann!“ „… dafür bräuchte es etwas Vorbereitungszeit, bis es zur Ausführung kommt.“ „Bis ich, ich es ausführe, du zu kurz geratener Unglücksbringer! Und in dieser Zeit wären unsere Krieger ohne arkanen Schutz!“ Jotar stand mit verschränkten Armen da und betrachtete belustigt seine beiden Ratgeber. „Bravo. Wenn Ihr vorhattet, mich neugierig zu machen, habt Ihr es geschafft. Ich will den ganzen Vorschlag erfahren, mit allem Drum und Dran.“ Dukarran raufte sich fluchend seine schwarze Haar-mähne.

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Welt Tepor, Fellmongebirge, Scheidepass Stunden nach dem Hinterhalt auf die drakanischen Schildträger am Scheidepass zogen ausgewählte Einheiten hinauf zum Bergsattel. Ein schwieriges Unterfangen bei einem engen Gebirgspfad, der mit Wagen und Soldaten verstopft ist. Mühsam mussten sich die Krieger an anderen Einheiten vorbeidrängeln und sich Platz verschaffen. Angeführt wurde der Verband aus Bogen-schützen, Pikenieren, Speerwerfern und Schildträgern von der Urkorr-nor Tarote. Ungeduldig trieb sie ihr Kommando an. Sie schrie und drohte, wenn ein Wagen nicht schnell an den Rand des Weges geschoben wurde, und sorgte dafür, dass es wenigstens den Umständen entsprechend schnell voranging. Sie bemerkte ihren eigenen Eifer und ärgerte sich über den Grund und gleichzeitig über sich selbst. Heermeister Laukim hatte deutlich gemacht, was er von ihr erwartete, und dieser Hohepriester der Archons war einer der wenigen Perso-nen, die ihr Angst machten. Ungeachtet ihrer Maß-nahmen dauerte es weitere vier Stunden, bis ihre Soldaten die Klamm erreicht hatten. Der Abendwind strich eisig über ihre Leiber, als sie die vor dem Hohlweg wachenden Schildträger von Ûn-Scharführer Morktan erreichten. Die Luft roch nach Schnee. Die Sonne verschwand hinter dem Gebirge, als Tarote übellaunig auf den Ûn-Scharführer zuritt. ‚Vier weitere Stunden, in denen unser Heer nicht weiterkam. Vier Stunden für die ich mich bei Laukim verantworten muss. Für diesen ganzen Ärger werden diese dummen, anarchistischen Flüstersteiner zahlen müssen.‘ Bei dem Gedanken, einige der feindlichen Krieger als entmannte Sklaven zu nehmen, besserte sich ihre Laune sofort. Man musste sich selbst eben immer etwas Schönes

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gönnen, auf das man sich freuen konnte. Dann wurde alles gleich viel leichter. ‚So, erst die Arbeit, dann das Vergnügen.‘ Mit dieser Selbstermahnung zügelte sie ihren Braunen vor Morktan und musterte ihn mit ihren eisig blauen Augen. Mit vor der Brust gekreuzten Armen verbeugte sich Morktan tief vor Tarote. „Willkommen, edle Urkorr-nor.“ Er hoffte inständig, dass sein zuckendes Augenlied nicht weiter auffiel und damit seine Nervosität verriet. „Diese gut ausgerüsteten Männer waren also nicht fähig, sich gegen eine Vorhut von undisziplinierten Bauern-tölpeln durchzusetzen?“, waren ihre ersten Worte. Morktan schluckte langsam. Seine Adern an der Stirn traten hervor. Doch was konnte ein Veteran, der wusste, wie man überlebt, darauf schon antworten? „So ist es, meine Herrin. Wir brennen darauf, diese Schmach wieder zu beheben.“ „Sehr gut. Ich hatte vor, euch diese Gelegenheit zu geben, wenn deine Antwort angemessen ausfallen würde. Wie ist die Lage in dem Gebirgsdurchgang?“ „Vermutlich kein Heer, nur eine Einheit, um uns aufzuhalten, was ich bisher gesehen habe. Der Feind hat sich in den Felswänden auf beiden Seiten der Klamm festgesetzt und hat somit ein gutes Schussfeld. Sie haben auch ein paar große Felsen auf uns runterrollen lassen. Schwer zugänglich und stark zerklüftet, die Wände. Sie da zu vertreiben wird viele Leben kosten. Wir bräuchten bewegliche Schutzdächer aus Baumstämmen.“ „Dummkopf, es würde Tage dauern, die zu bauen! Wir müssen so schnell wie möglich über den Pass!“ „Das ist … bedauerlich. Weiter den Hohlweg hinunter ist ein loser Steinwall aufgeschüttet worden, so hoch wie meine Brust.“

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„Gut, sie haben sich also eingerichtet. Ihre gute Position wird ihnen allerdings nichts nützen, denn ich werde im nächsten Kampf eingreifen. Ich werde gleich mit allen Ûn-Scharführern meine Pläne durchsprechen. Sorg dafür, dass deine Männer, sobald es dunkel wird, kampfbereit sind, und komm zur Versammlung.“ „Ich höre und gehorche.“ Morktan verbeugte sich und ging zu seinen Schildträgern. Wie sollte er seinen Männern schonend beibringen, dass sie für einen Fehler, den sie nicht begangen hatten, nun besonders hart rangenommen wurden? Er machte sich Sorgen um seine Leute, egal, wie optimistisch sich diese hochmütige Urkorr-nor gab. Dieser Weg war eine Todesfalle, die diese ach so dummen Bauern zu nutzen wussten. Das würde eine schlimme Nacht werden. Eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang stellten sich Tarotes Sturmtruppen auf. Vorneweg war Morktans schwere Infanterie, diesmal mit Speerwerfern durchsetzt, die sich mit unter dem Schilddach bewegen sollten. Dahinter kam eine Abteilung Bogenschützen. Jedem Bogenschützen wurde ein Schwertkämpfer mit einem kleinen Drachenschild zugeteilt, ein Kompromiss zwi-schen Schutz, Beweglichkeit und noch genügend Frei-raum zum Schießen. Die leichteren Schilde, sagte man den Soldaten, machten es möglich, schnell die Deckung nach oben zu öffnen und gleich wieder nach einem Schuss zu schließen. Die meisten der Ûn-Scharführer, hatte Morktan beobachtet, schüttelten darüber verstohlen den Kopf. Es waren diejenigen, die schon das Toben und Durcheinander einer Schlacht miterlebt hatten. Keiner wagte jedoch zu widersprechen. Die letzte Einheit war kleiner von der reinen Anzahl der Leute, jedoch von der

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Körpergröße umso beeindruckender. Gewaltige Krieger in dicken Plattenpanzern – eine Einheit Namenlose. Tarote hob ihre Hand, und sechshundert Kämpfer setzten sich in Bewegung. Sie hatte sich hinter die erste Einheit gestellt – mit nur vier Namenlosen als Leib-wächtern, die noch größere Schilde trugen als die schwere Infanterie. Morktans Männer drangen in den Hohlweg ein, diesmal gleich die Schilde zum Schutz nach oben erhoben. Laut hallten die schweren Stiefelschritte durch die Klamm und verkündeten deutlich den Angriff. Die Drakanersoldaten erwarteten angespannt das bösartige Zischen von Pfeilen in der Luft. ‚Trotz der Nacht kommt noch genug Licht aus dem wolkenlosen Himmel, dass man Umrisse erkennt, auf die man zielen kann.‘, schätzte Morktan. Als die erste Abteilung sich komplett in der Kluft befand, ging der Beschuss los. Ein Getöse von Metallspitzen, die auf Holz oder Stahl aufprallten, hallte von den Wänden wieder. Steine wurden ebenfalls geworfen. Stur schritten die Drakaner unter dem tödlichen Regen weiter, und nur wenige Soldaten wurden unter dem Schilddach der schweren Infanterie getroffen. Hinter der ersten Abtei-lung fingen nun die drakanischen Bogenschützen an, den Pfeilhagel zu erwidern. Sie mussten im hohen Bogen nach oben schießen und hatten nicht viel Zeit zum Zielen. Kaum ein drakanischer Pfeil traf mehr als Felsen. Indes erreichten sie zumindest, dass die gegnerischen Schützen nun selbst immer wieder in Deckung gehen mussten, und der Beschuss verminderte sich. Die Ant-wort der Flüstersteiner war, dass die drakanischen Bogen-schützen nun stärker beschossen wurden – und dies mit weit größerem Erfolg als bei den Schildträgern zuvor. Morktan hörte deutlich viele Schmerzensschrei hinter

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sich. ‚Das war zu erwarten. Die Soldaten, die mit ihren Drachen-schildern immer wieder die Deckung für die Bogenschützen öffnen sollen, haben dieses Manöver nie geübt. Und ihre Schilde bieten viel weniger Deckung als unsere.‘ Die Urkorr-nor wurde von den vier Namenlosen gedeckt. Bisher hatten ihre Schilde allerdings nicht einen Kratzer erhalten, denn auf wundersame Weise wurden alle Geschosse über Tarote zur Seite weggelenkt. Morktan konnte gerade undeutlich den aufgeschichteten Geröllwall erkennen, da kam ein steinernes Krachen von oben die Wand entlanggepoltert. Ein länglicher Findling schlug, sich um die eigene Achse drehend, mitten in die dicht gedrängten Infanteristen ein und begrub fünf Männer unter sich. Viele Drakaner wichen zurück, einige sprangen regelrecht in Sicherheit. Augenblicklich wurden weitere Soldaten von Pfeilen niedergestreckt, die durch das sich ausbreitende Loch im Schilddach getroffen wurden. Morktan fluchte laut. Davor hatte er Tarote gewarnt, und natürlich hatte es sie nicht interessiert. Die Wände und der Steinwall waren auf einmal in rötliches Licht getaucht. Der Schein hatte seinen Ur-sprung hinter ihm. Reflexartig schaute Morktan zurück und sah über seiner Urkorr-nor einen Feuerball ent-stehen. Wie von einem Katapult abgeschossen, stieg er plötzlich in einem leichten Bogen nach oben, weit in den Himmel hinauf und stürzte wieder hinab, genau auf das Plateau, auf dem sich die meisten Krieger der Vier-fürstenlande befanden. Auf dem Flug dehnte sich die Feuerkugel immer weiter aus, und der Ûn-Scharführer spürte trotz der Entfernung die Hitze der Flammen. Das wurde auch Zeit, dass die Urkorr-nor endlich etwas unternahm. Warum fühlte sich die Luft auf einmal so trocken an? Er hörte zeitgleich mit dem Fall des

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Flammenballs ein seltsames Knirschen aus der Richtung des Plateaus. Er traute seinen Augen kaum, als in Sekun-denschnelle eine Eiskuppel über den Flüstersteinern entstand. Sie schloss sich, bevor die orangerot leuchtende Kugel ohne einen Laut einschlug. Kurz spürten die Drakaner eine Hitzewoge über sich hinwegfluten, dann zischte es so laut, das es in den Ohren schmerzte. Eine Dampfwolke breitete sich explosionsartig aus. Mit einem mal war die ganze Schlucht in festen warmen Nebel gehüllt. Man konnte gerade noch seinen Nebenmann erkennen, so dicht war der Dunst. ‚Beim Abgrund, die haben einen Urkorr-nor!‘, erkannte Morktan entsetzt. ‚Unser Vormarsch ist durch die Verwirrung zum Stehen gekommen, und wir sitzen hier wie die Rebhühner.‘ Vereinzelt kamen wieder Pfeile von oben herab. Es war jedoch deutlich zu merken, wie ungezielt sie waren und dass sie auf gut Glück durch den Nebel geschossen wurden. Eine magisch verstärkte weibliche Stimme befahl: „Sturmangriff! Sofort!“ Morktan knurrte wütend. „Also los, ihr habt es gehört. Zum Wall!“, schrie er. Mit einem Kampfschrei lief seine Einheit im leichten Trab los, um die restlichen dreißig Pferdelängen zum Hindernis zurückzulegen. Während des Spurts kamen wieder mehr Geschosse von den Felswänden herunter, indes längst nicht so viele wie zuvor. Ein weiterer Felsblock schlug zwischen den Schildträgern ein. Der Wall tauchte vor ihnen aus dem Nebel auf. Morktan brüllte: „Mitte frei machen!“ Seine gut ausgebildeten Soldaten teilten sich auf und drängten an die Wände zu beiden Seiten der Klamm. „Gasse gebildet, Herrin!“, rief Morktan nach hinten.

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Er wartete einige bange Sekunden auf die Gewalten, die Tarote entfesseln würde. Eng drückte er sich an seinen Hintermann. Etwas Großes rauschte durch die Luft, un-sichtbar im Dampf und nur durch den Sog, den es bildete, zu spüren. Es hörte sich so an als käme niemand seiner Mannen durch den Zauber zu Schaden, stellte der Ûn-Scharführer erleichtert fest. Tarote hatte angekündigt, das sie einen Felsblock als Ramme einsetzen würde. Er konnte kaum glauben, auf welche Geschwindigkeit sie einen dieser großen Brocken beschleunigt hatte. Donnernd hallte der Einschlag die Schlucht entlang. Morktan vernahm das Bersten von vielen Steinen. Splitter fegten durch die Klamm und schlugen in die Schilde seiner Truppe ein. Er schmeckte Staub in der Luft. Der nächste Befehl wurde von seiner Truppe bereits fiebrig und nervös erwartet: „Angriff! Angriff! Speer-werfer mit nach vorn!“ Die Krieger stürmten vor, und Morktan beeilte sich hinterherzukommen. Sie passierten die Stelle des einstigen Hindernisses ohne Probleme. Von dem Stein-wall war bis auf zersplittertes Geröll nichts mehr übrig. ‚Wir sind durch! Vielleicht geht der Plan der Urkorr-nor auf, und wir drängen sie bis zum Tal zurück. Dann haben wir sie! ‘ Ohne großen Widerstand drängten die schweren Schild-träger vor. Dabei zog sich der Trupp auseinander, und Morktan befand sich ganz am Ende seiner Einheit. Ein Horn wurde geblasen. Morktan hörte gleich darauf Kampfeslärm vor sich, den er schon viel früher erwartet hatte. Über ihm aus den Wänden vernahm er Schreie und Keuchen – Lärm, den Männer bei schwerer Arbeit machen. Sehen konnte er wegen des Nebels jedoch nichts. Er bekam ein ganz schlechtes Gefühl. „Männer, halt!“

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Die Krieger in seiner Nähe, eine Schar seiner Einheit, hielten an und sammelten sich um ihn. „Was ist los, Ûn-Scharführer? Vorn kämpfen …“ Erneut kam das schon bekannte schwere Krachen von oben herab. Diesmal war es aber um ein Vielfaches verstärkt und schien gar nicht mehr aufzuhören. Vor dem anhaltenden Trupp donnerte und polterte es, als würde der Berg zusammenstürzen. Zahlreiche Einschläge folg-ten, der Boden erzitterte. Abprallende Steinbrocken feg-ten durch den Dunst. „Zurück! Zurück!“, befahl Morktan. Voller Wut trat er mit der einen Schar seiner Männer den Rückzug an. Sie trafen schnell auf die nachrückenden Einheiten, die von Tarote angeführt wurden. „Herrin, halt, wir können nicht weiter! Der Weg ist mit einem wahren Steinschlag von Findlingen versperrt wor-den.“ Die meisten Krieger kamen nur langsam zum Halten, einige stürmten weiter vor. „Nein! Verflucht sollen sie sein!“ Tarote war außer sich vor Zorn und schweißnass vor Anstrengung. „Wir müssen durch!“ „Bitte glaubt mir, es kamen so viele Steine runter, dass wieder ein Wall vor uns liegt. Ihr müsst ihn noch einmal wegrammen.“ Mehr Pfeile kamen auf sie heruntergeschossen. Einige Schützen der Flüstersteiner hatten sich anscheinend über ihnen positioniert. Die Namenlosen deckten die Urkorr-nor augenblicklich mit ihren Schilden. Mit einem fauchenden Kreischen entlud sich Tarotes Frustration. Gleich darauf fasste sie sich wieder und begann mit einigen Gesten einen Zauber. Morktan erschrak. ‚Sie wird uns alle umbringen, wenn sie jetzt einfach einen Felsen zwischen uns

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hindurchfliegen lässt! ‘ Stattdessen sah er, wie die Pfeile, die in ihre Nähe kamen, wie am Anfang des Angriffes abgelenkt wurden. Dann hörte er ihre magisch verstärkte Stimme, die anordnete: „Rückzug! Sammeln beim Ein-gang der Klamm!“ Nur dem überall hörbaren Befehl war es zu verdanken, dass sich die Einheiten der Drakaner nicht in völligem Chaos auflösten. Disziplin und Drill der Drakaner griffen, und alle Krieger traten den Rückzug an. Dabei begann der Spießrutenlauf unter Schwärmen von Pfeilen erneut und forderte weitere Opfer. Der alles verdeckende Nebel verhinderte Schlimmeres. Die zerschundenen Überle-benden sammelten sich an der Mündung der Klamm, verfolgt von den Siegesrufen der Flüstersteiner. Viele Kämpfer wurden vermisst. Von Morktans Einheit waren nicht einmal mehr drei Scharen von insgesamt acht übrig. Der Rest lag begraben unter Steinen oder war abgeschnit-ten worden. Verzweifelt nahm Morktan die Verluste seiner Männer wahr. Scharführer Vosgar gehörte eben-falls zu den Vermissten. Morktan hatte seine Jungs nicht retten können, weder vor Tarotes Anordnungen noch im Kampfgeschehen. Er war machtlos gewesen. In ihm brodelten die Gedanken und ließen ihm keine Ruhe. In einem Anfall von Lebensmüdigkeit trat er auf Tarote zu, die sich etwas abseits von den sich sammelnden Truppen befand und fiebrig nachzudenken schien. „Herrin, fast meine gesamten Schildträger sind abge-schnitten worden! Warum habt Ihr den Wall nicht erneut beseitigt? Wir hätten vielleicht noch etwas für sie tun können!“ „Du wagst es, mich infrage zu stellen? Du solltest das Denken den Wissenden überlassen. Du kannst dankbar sein, dass ich deine Subordination deinem Schmerz durch

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die Verluste bei deinen Männern zuschreibe! Du darfst gehen!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgte sie den trotzigen Abgang des Ûn-Scharführers. ‚Wie kann er es wagen! Er hat keine Ahnung, in welcher Gefahr ich … wir alle schwebten. Ich habe schon viel meiner Energie durch die Abwehr der Pfeile und die beiden anderen Zauber eingebüßt. Der gegnerische Urkorr-nor hat dagegen nur einmal seine Kräfte gegen meine Feuerkugel eingesetzt. Hätte ich einen weiteren Bann gewirkt, wären meine Kraftreserven vielleicht nicht mehr ausreichend gewesen, um mich und die Soldaten gegen einen magischen Angriff zu verteidigen. Wo kommt auf einmal dieser Urkorr-nor her? Der Eiserne Thron war sich doch sicher, alle Machtträger in Flüsterstein ausgeschaltet zu haben. Was soll ich nur Heermeister Laukim berichten, damit er mich nicht für diese Tragödie verantwortlich macht? ‘

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Welt Tepor, Fellmongebirge, Scheidepass – östlicher Zugang Quarus rieb sich erschöpft seine Augen. War da eben ein umherhuschender Schatten gewesen? Er war eindeutig zu übermüdet. Es war mühselig für ihn gewesen, die erhöhte Stellung über die Strickleiter zu erreichen, zumal seine recht kurze Nachtruhe ihn nicht erholt hatte. Kurze Beine waren einfach ungerecht. Müde suchte er die Gestalt von Jotar unter den vielen Männern, die sich auf dem schmalen Plateau zusammendrängten. Eine kaum wärmende Sonne war vor zwei Stunden aufgegangen, und die Hälfte der Soldaten schlief noch auf dem Felsboden. Andere vertrieben sich die Zeit, indem sie ihre Ausrüstung und Waffen überprüften oder sich unter-hielten. Ein Kochfeuer war in Gang gebracht worden, das erste, seitdem die Pferdekämpfer unterwegs waren. Die Stimmung war euphorisch. Zweimal schon hatte man die Drakaner zurückgetrieben, und nun gab es sogar warme Hafergrütze. Der Gnom fragte sich, wie lang die positive Stimmung anhalten würde, denn der Proviant ging zur Neige. Er fand Jotar wieder einmal am Rand des Plateaus stehend. Der Ritter beobachtete die Kluft, schien dabei abzuwägen und mit sich selbst zu ringen. „Zum Gruße, oh größter aller Ritter. Darf ich es wagen, den Kriegsherren und Bezwinger zu stören? Zufrieden mit den Erfolgen der vorletzten Nacht?“ „Könntest du so Kämpfen, wie dein Schandmaul redet, wärst du der beste Ritter aller Zeiten.“ Jotar wandte sich dem Gnom zu und blickte auf die zierliche Gestalt herunter. „Was deine Frage angeht: Ja, ich bin zufrieden. Wir haben die Drakaner schon drei Tage aufgehalten. Dass sie seit dem letzten Gefecht nicht

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mehr versuchen, den Hohlweg zu stürmen, ist ein wahres Glück.“ Quarus streckte ermahnend den Zeigefinger hoch. „Sie werden sicher etwas vorbereiten. Ihr nächster Angriff wird gut durchdacht sein. Zumal sie nun wissen, dass wir einen Magier haben.“ „Ja, das wird er. Das macht mir auch große Sorgen. Die Schützen in der gegenüberliegenden Wand habe ich zurückgerufen, damit sie nicht vom Schutz Dukarrans ausgeschlossen sind. Ich versuche die ganze Zeit, mich in die Lage unseres Feindes zu versetzen und zu erkennen, was er machen könnte.“ Missmutig zuckte Jotar mit den Schultern. „Wie steht es mit den Vorbereitungen von dir und Dukarran? Ich befürchte, wir werden deinen Vor-schlag umsetzen müssen.“ „Deswegen bin ich hier. Soweit wir konnten, ist alles getan. Dukarran hat sich schlafen gelegt, damit er bei vollen Kräften ist, wenn es losgeht.“ „Gut. Dann bleibt uns nur noch zu warten.“ Quarus verbeugte sich und wies mit beiden Händen zu dem großen Kessel in der Mitte des Lagers. „Dann komm, mein großer Freund, und lass uns etwas Essen. Es gibt da eine eklig grauschleimige Paste, die man warm gemacht hat. Eine gute Idee von euch Kriegern, dieses widerliche Essen. Bei dem Geschmack kann man nur rasend werden. Sicherlich nützlich in der Schlacht.“ Jotar lachte und rief zur Feuerstelle: „Trebor, eine dreifache Portion deiner Hafergrütze für diesen tapferen Gnom.“ Der Nachmittag brach herein, und es blieb weiterhin ruhig. Seit dem letzten Versuch der Drakaner, die Schlucht zu besetzen, hatten keine weiteren Angriffe

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mehr stattgefunden. Jotar fragte sich, warum sich die Drakaner so viel Zeit ließen. Die letzten Stunden waren zäh dahingeflossen, ereignislos bis auf die Beschwerden einiger Männer, die über Gliederschmerzen klagten und Husten bekamen. ‚Das lange Warten in der Kälte fordert langsam seinen Tribut.‘, sorgte sich Jotar. ‚Wir sind für diese eisige Gebirgsluft nicht richtig ausgerüstet.‘ Ein Hornsignal hallte mit tiefem Ton zwischen den Berggipfeln und brachte Erlösung. Jotar sprang auf. „Endlich!“ Augenblicklich wurde es hektisch im Lager – wie in einem Bienenschwarm. Die Soldaten bezogen selbstständig ihre Posten. Lederrüstungen knarrten und Bogen knirschten, als die Sehnen aufgezogen wurden. Pledor rief seine Einheit zusammen und sammelte sie bei den letzten Findlingen, die sie noch auf der Plattform hatten. Alle anderen Felsblöcke waren für die Ver-schließung des Hohlwegs benutzt worden und bildeten dort einen mannshohen, kreuz und quer liegenden Steinhaufen. Ein Posten, der nah beim Eingang der Schlucht postiert war, meldete laut: „Eine Menge schwere Schildträger kommt. Hinter ihnen folgen umgebaute Wagen, auf die jeweils ein Dach aus Brettern gezimmert wurde. Die Dächer sind sehr breit, aber nicht so dick wie bei Belagerungswänden. Oben drauf haben sie nasse Leder-häute genagelt.“ ‚Also keine beweglichen Schutzdächer für Belagerungen. Die hätten einem langen Beschuss mit Pfeilen und Steinen standgehalten. Da wollte wohl jemand Zeit sparen.‘, analysierte Jotar das Gehörte. Er winkte dem Ordensmagier zu, der etwas verschlafen und mit wirren Haaren den Soldaten im Weg stand. „Meister Dukarran, kommt zu mir. Ich brauche Eure Hilfe.“

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„Was? Oh … komme schon.“ Dukarran schlurfte mit hängenden Schultern zu dem Rittmeister. „Ihr müsst wach werden, der Kampf steht unmittelbar bevor. Ist alles mit Euch in Ordnung? Ihr seht, mit Verlaub, nicht gut aus.“ „Na, vielen Dank für das Kompliment. Ich fühle mich tatsächlich ziemlich erschöpft, obwohl ich geschlafen habe. Vielleicht habe ich mich bei einigen der kranken Soldaten angesteckt. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Was kann ich für Euch tun?“ „Es werden gleich einige Wagen mit Schutzdächern den Weg entlangkommen. Damit wir sie nicht mit Brandpfeilen entzünden, haben die Drakaner nasse Lederhäute obendrauf befestigt. Da wir kein Brandöl haben, sehe ich keine Möglichkeit sie mit Feuer zu zerstören. Bestimmt haben sie die Wagen regelrecht mit Wasser getränkt. Könnt Ihr die Wagen aufhalten?“ „Ich kann es versuchen. Denkt jedoch daran, dass mein Zauber ebenso abgewehrt werden kann, wie ich es beim letzen Kampf mit dem Feuermeteor getan habe. Und wenn Ihr noch andere Möglichkeiten habt, solltet Ihr meine Kräfte sparen. Besonders, wenn ich noch …“ Die Stimme Dukarrans wurde bei den letzten Worten sehr leise und erstarb. Jotar runzelte sorgenvoll die Stirn. „Ja, dafür müsst Ihr auf jeden Fall noch die nötige Kraft aufbringen. Also gut, schont Euch und haltet Euch für die Abwehr von arkanen Angriffen bereit.“ Dukarran setzte an, etwas zu sagen, bestätigte dann stumm und ging zur Mitte des Lagers. Jotar schickte ihm noch drei Krieger hinterher, die ihn mit Schilden vor verirrten Pfeilen schützen sollten. ‚Es hängt so viel von ihm ab. Wenn er, wodurch auch immer, ausfällt, müssen wir fliehen.‘

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„Sie sind gleich in Reichweite!“, erschallte eine Warnung. Jotar stürzte zur Kante, um den Vormarsch zu beobachten. Er sah die ersten Reihen einer Abteilung Krieger mit riesigen Schilden. So gewaltige Schilde hatte er noch nie gesehen. Die Krieger, die diese trugen, waren nicht minder beeindruckend. Ungewöhnlich groß und mit Vollrüstungen geschützt, machte diese Einheit einen gefährlichen Eindruck. Der Rittmeister fragte sich, wie diese Krieger das ganze Gewicht tragen und dann noch kämpfen konnten. Neue Sorgen keimten bei ihrem Anblick in ihm auf. „Achtung, auf mein Zeichen! Pledor, haltet die Steine erst einmal zurück und versucht mit ihnen die Schutzwagen zu zerschlagen.“ Jotar erhob den Arm und warf einen schnellen Blick in die Runde, ob alle seine Männer bereit waren. Drei Schritte von ihm entfernt hustete ein junger Bogen-schütze so heftig, dass er seinen Bogen nicht mehr gespannt halten konnte. ‚Sogar die jungen Männer erkranken. Wenn das so weitergeht, werden wir uns allein deswegen nicht mehr halten können. Hoffentlich geht es den Rittern hinter dem Geröllwall nicht ebenso.‘ Aufmerksam suchte er weitere Zeichen von Schwäche bei anderen Schützen. Erschrocken stellte er fest, dass die meisten schwitzten und elendig aussahen. Immer wieder schüttelte ein Hustenanfall einen seiner Pferdekämpfer durch. ‚Das darf nicht wahr sein! Heute Morgen waren es doch nur einige wenige. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass so viele geschwächt sind.‘ Unter ihm hörte man die Drakaner in einen Laufschritt fallen. Er ließ seinen Arm sinken. „Gebt es ihnen!“ Zu diesem Zeitpunkt stieg eine Flammenkugel über den Felswänden auf und sank auf sie herab. Diesmal war der

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Magier nicht in den Reihen der ersten Angreifer. Jotar wunderte sich, dass schon wieder versucht wurde, sie mit diesem Flammenmeteor auszulöschen, da dies schon einmal abgewehrt wurde. Schon hörte er ein Knistern und frostiges Knacken in der Luft um sie herum, und es wurde unglaublich kalt. Dukarran war also wachsam und schützte sie. Die Luft wurde trocken, verlor jegliche Feuchtigkeit. Eine Eiskuppel entstand, und die Flüster-steiner mussten mit ihrem Beschuss innehalten. Die meisten blickten furchtsam nach oben, wo durch die milchige Eiswand ein immer stärker werdendes glutrotes Leuchten drang. Flammen trafen auf das Eis. Dampf explodierte, hüllte alles in dichtes Weiß, und Kälte wich warmer, feuchter Luft. ‚Natürlich, der Nebel! Damit haben sie nicht nur unsere magische Abwehr geprüft, sondern gleich noch gezieltes Schießen unmöglich gemacht.‘ „Schießt weiter! Los, los, los. Pledor, jetzt die Fels-brocken!“ Das sie umgebende Weiß wurde orange. Eine weitere Feuerkugel kam herab. Es wurde wieder unerträglich kalt. Der sie umgebende Wasserdampf verschwand, wurde rasend schnell aufgesogen, als ginge ein heißer Wüsten-wind durch die Schlucht. Erneut bildete sich eine Eiswand und verhinderte damit den Steinschlag von Pledor und weiteren Beschuss. ‚Nein! Verdammt! Damit schalten sie uns hier oben aus.‘ Ein weiteres Mal wartete Jotar auf den Zusammenprall von Hitze und Kälte. Die Sekunden flossen dahin. Jotar wurde nervös, sah nach oben und dann hinüber zu Dukarran. Immer noch stand die Eiskuppel und verhinderte, dass sie in den Kampf eingriffen. „Verflucht! Dukarran, was ist hier los?“

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„Sie haben uns genarrt. Die zweite Feuerkugel wurde viel höher in die Lüfte geschossen. Das konnte ich durch den Nebel nicht sehen. Die Eiskuppel kam zu …“ Es zischte fürchterlich, und einen Herzschlag später war die Welt wieder hinter Dampfschwaden verborgen. Mit dem Verschwinden der Eiswand hörte man auf einmal Kampfeslärm, gedämpft durch den Nebel. „Herr!“, rief ein Soldat entsetzt. „Sie sind schon über den Wall! Herr Kregors Mannen sind bereits im Gefecht!“ „Wie sind die so schnell über die Felsbrocken gekom-men?“, keuchte eine andere, fiebrige Stimme. Unter sich hörten sie weitere Truppen des Feindes nachdrängen. Jotar schloss die Augen und rang einige Augenblicke mit sich. Laut schrie er: „Es ist vorbei, Männer! Wir ziehen uns über den vorbereiteten Weg zurück. Ab jetzt heißt es: versuchen zu überleben und zu unserem nachrückenden Heer entkommen. Senub, blas das Zeichen zur Flucht! Abmarsch!“ Die Pferdekämpfer ließen alles außer ihren Waffen stehen und liegen und liefen zum westlichen Ende des Plateaus. Jotar begab sich sofort an die Seite des Ordensmagiers. Der Nebel färbte sich ein drittes Mal orange. „Meister Dukarran, spart Eure Kräfte. Wir sind bald ein Stück vom Einschlagspunkt entfernt. Und führt unseren letzten Gegenstoß aus.“ „Seid Ihr sicher? Es könnte eine Katastrophe für uns alle werden.“ „Macht es!“ Am westlichen Teil des Plateaus hatten die Flüstersteiner einen groben Felsabsatz gefunden, der in Höhe des Plateaus unregelmäßig die letzten fünfzig Pferdelängen

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der Schlucht entlanglief. Er war an den meisten Stellen nur einen Fuß breit, eine Abbruchkante, die vor langer Zeit entstanden war. Entlang dieses Absatzes hatten Pioniere ein Seil in Bauchhöhe an der Steilwand befestigt. Die Lücken, bei denen der Felsabsatz nur noch zu erahnen war, wurden ebenfalls mit Seilen für die Füße überbrückt. Über diesen provisorisch angelegten Pfad hangelten sich die Pferdekämpfer einer nach dem an-deren entlang, um zum Tal zu gelangen. Hinter ihnen schien glühend rot eine zweite Sonne aufzugehen. Der Nebel leuchtete intensiv auf, und eine Hitzewelle holte sie ein. Die letzten Krieger brüllten gequält auf. Die Glut des einschlagenden Flammenzau-bers verwandelte jeden, der sich noch auf dem Plateau befand zu einer lichterloh brennenden Fackel. Selbst die hintersten Männer auf dem Steinsims erhielten noch Verbrennungen. Jotar trieb seine Leute weiter rücksichtslos zur Eile an. Unter ihnen stiegen Schreie und Waffengeklirr empor. Sie passierten die Einheiten Kregors, der als letztes Hindernis zum Tal den Drakanern mit Waffengewalt den Weg versperrte. Diesmal gereichte den Fliehenden der alles verdeckende Wasserdampf zum Vorteil, versteckte ihre Flucht und die Schlacht unter ihnen gleichermaßen. ‚Kregor, halte durch! Verschaffe uns noch etwas Zeit!‘, sandte Jotar seine Gedanken nach unten. Die ersten Flüstersteiner erreichten den Schlussteil des Absatzes und damit das Ende der Schlucht. Von dort kletterten sie über eine Strickleiter hinunter zum Tal. Dort warteten schon einige Wächter mit Pferden auf sie. Kaum waren die Letzen angekommen, ließ der Ritt-meister augenblicklich aufsitzen und vor dem Hohlweg Stellung beziehen. Es war keine Sekunde zu früh.

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Kregors Männer tauchten aus dem hier sehr dünnen Nebel auf, flohen vor den riesigen drakanischen Kriegern, die durch ihre schweren Rüstungen nicht so schnell folgen konnten. Gleichwohl hörte man einige Todes-schreie. Nicht alle hatten sich aus dem Kampf lösen können und wurden niedergemacht. Jotar schob die Trauer beiseite und konzentrierte sich auf die Rettung derjenigen, die ihre Flucht bisher überlebt hatten. Er hob sein Schwert empor. „Für die Freiheit!“ Wie ein Mann antworteten seine Pferdekämpfer: „Und für die Flüstermark!“ Jotar streckte seinen Waffenarm auf die massigen Silhouetten der Verfolger und ließ seinen Fuchs nach vorn preschen. Aus dem Geklapper der Hufe seines Pferdes wurde bald das Donnern der ihm folgenden Rosse. Im vollen Galopp stürmten die Reiter auf die Front der Flüchtenden zu. Ihre Formation veränderte sich, ordnete sich von einem wirren Haufen zu mehreren Linien. Zwischen ihnen entstanden freie Gassen, die dankbar von Kregors Kriegern angesteuert wurden. Der Schutz der heranjagenden Reiterei verlieh den Gejagten neue Kraft. Ihr Lauf wurde schneller, der Abstand zum Verfolger größer, und schließlich durchliefen sie die sicheren Freiräume der Reiter. Und weiter eilten Kregors Männer, bis zu dem Platz, an dem ihre Pferde warteten, die eine Flucht ermöglichten. Derweil erreichten Jotars Pferdekämpfer die ersten der gewaltigen und stark gerüsteten Hünen. Die vordersten Drakaner, die schnellsten Läufer, wendeten beim Anblick der stampfenden Flut, die auf sie zukam, und flohen nun selbst. Jotar feuerte seine Männer an. Er geriet in Kampfrausch, seine Sicht verschärfte sich, und deutlich sah er die ersten beiden der Hünen von schweren

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Streichen getroffen niederfallen. Der dritte Riese drehte sich um seine Achse, ging dabei in die Knie und schlug zu. Sein langes Breitschwert durchtrennte glatt beide Vorderbeine des ihn verfolgenden Pferdes. Sein gleich-zeitig hochgerissener Schild deckte seinen Kopf vor dem niedersausenden Schwert ab. Pferd und Reiter stürzten zu Boden, wirbelten übereinander, dann war Jotar vorbei. Ernüchtert schaute er wieder nach vorn. Die Gewandt-heit und Kraft dieses Manövers waren erschreckend, mit nur einer Hand am Schwert und dazu noch in Vollplatte. Vor ihnen sammelten sich die schwer Gerüsteten und bildeten rasch und geübt einen Schildwall. ‚Exzellent ausgebildete Eliteeinheiten. Normalerweise würde Reiterei Fußtruppen, die nicht mit Speeren ausgerüstet sind, ziemlichen Schaden zufügen. Doch bei denen? Wir haben erreicht, was wir wollten, und sie zum Anhalten gezwungen.‘ Er setzte sein Horn an und hoffte inbrünstig, dass er es bei diesem wildem Ritt zum Klingen bringen würde. Mit der Stimme würde er sich bei dem Tumult nie Gehör verschaffen können. Zittrig verkündete ein Tuten den Rückzug zum Sammelplatz, und ein erleichterter Ritt-meister wendete sein Pferd. Die Einheit der Pferde-kämpfer machte nur fünfzehn Pferdelängen vor dem drakanischen Schildwall in einem großen Bogen ihre Wendung. Die Hünen stierten verdutzt auf ihre Feinde, unsicher, ob dies eine Finte war. Ein gutturaler Befehl ließ sie verharren und den Schildwall halten. Jotar bemerkte voller Freude, dass sie nicht sogleich verfolgt wurden. ‚Wieder etwas Zeit gewonnen.‘ Linker Hand ritten sie an den zwei Drakanern vorbei, die sie kurz zuvor gefällt hatten. Beide waren aufgestanden und rannten zum Schildwall. Sie waren aufgestanden? Jotar wurde regelrecht schlecht, als ihm dies bewusst

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wurde. Wie konnte jemand nach einem Schwertstreich, der so gewaltig durch einen schnellen Ritt verstärkt worden war wieder aufstehen? Die Verletzungen solcher Schläge waren oft fürchterlich. Die meisten Soldaten wären allein durch den Aufprall längere Zeit benommen gewesen. Mit dieser Eliteeinheit wollte sich Jotar nicht einmal unter günstigen Bedingungen anlegen, und günstig war gerade gar nichts mehr. Viele seiner Männer waren zudem noch durch eine Krankheit geschwächt. Sie muss-ten hier weg. Aber wie, wenn ihnen die Drakaner dicht auf den Fersen waren, die Männer ausgelaugt und sie auf dem schmalen Gebirgspfad nach unten nicht reiten konnten? Auf einmal wurde der gefährliche Vorschlag von Quarus überlebenswichtig. Ihre einzige Chance, das hier noch zu überleben. ‚Dukarran, mögen dir die Behüter Kraft geben.‘ Dukarran war Jotars Kriegern bis zu den Pferden gefolgt. Dort nahm er sich das nächste Pferd und stieg auf. Eine quäkige Stimme neben ihm sprach ihn an: „Wartet, oh Beherrscher der Gewalten. Ihr sollt nicht allein gehen.“ Quarus hielt die Zügel eines Pferdes und winkte dem Ordensmeister zu. „Ah, der Gnom. Es gibt wohl kein Entkommen vor dir.“ „Natürlich nicht. Ich kann nicht verantworten, dass Ihr ganz allein geht. Es war meine dumme Idee, und ich will Euch unterstützen, wo ich nur kann.“ Ein Lächeln erwärmte Dukarrans Antlitz. „Danke, Quarus. Es ehrt dich, und ich freue mich über dein Angebot. Allerdings wäre es selbstsüchtig von mir, es anzunehmen. Du hast mir die wichtigen Stellen gezeigt und mich beraten. Alles andere ist jetzt eine Sache der

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Magie, und die beherrscht du nicht. Es ist vollkommen unnötig, dass du mit in Gefahr gerätst.“ „Ich empfinde es als ungerecht, dass ihr nun dieses Wagnis allein eingehen sollt. Ich leiste Euch moralische Unterstützung – wenn schon nichts anderes.“ „Nein, Quarus, das macht keinen Sinn. Unser Rittmeister sollte nicht beide Berater verlieren, wenn es ein Unglück gibt. Bleib an der Seite deines Freundes und diene ihm. Danke für dein Angebot, Gelehrter Quarus.“ Der Magier beugte achtungsvoll sein Haupt zu Quarus und schnalzte mit der Zunge. Der Schimmel gehorchte, und im ansteigenden Trab ritt Dukarran davon. Er trieb sein Reittier weiter an, ließ es laufen, damit er eiligst zur nördlichen Seite des Tales kam. Das Tal war nicht sehr breit, und daher dauerte es nicht lange, bis er sein Ziel erreichte. Vor ihm türmte sich eine Gebirgswand auf: einer der zwei Gipfel, die diesen Sattelpass umrahmten. Das letzte Stück musste er gehen, zu viel Geröll sowie Bodenverwerfungen waren am Rand der immer steiler werdenden Felsen. Seinen Mustang hatte er zurück-gelassen, die Zügel mit einem schweren Stein befestigt. Dukarran schaute zu den schneebeladenen Höhen über ihm auf und suchte die Markierungsstäbe, die er und Quarus vor vielen Stunden gesetzt hatten. Der Ordensmagier schluckte nervös. Am liebsten hätte er sich jetzt schweben lassen wie den Gnom beim Einsetzten der Stangen. Leider brauchte er viel Konzentration, um diesen Luftzauber aufrechtzuerhalten, und bei dem, was er jetzt vorhatte, konnte er sich das nicht leisten. Die Entfernung zu den Stäben war verflixt weit. Es würde ihn alle Kraft kosten, und es war trotzdem nicht sicher, ob und was passieren würde. Mit Pech gab es rein gar keine Auswirkungen, schließlich waren da träge Massen zu

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bewegen, von denen weder er noch Quarus eine Vorstellung hatte. Dukarran entschloss sich, eine kurze Meditationsübung zu machen. Er hatte Angst und musste sich beruhigen. Tief atmete er ein und aus, versenkte sich mehr und mehr in die umgebenden Energien und öffnete seinen Geist. Sein inneres Auge für die arkane Welt öffnete sich, erblickte die Kraftlinien und Energien der Umgebung, die Macht der Schöpfung. Am Rand seiner Wahrnehmung glitt etwas Dunkles dahin. Vehement richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf diese Bewegung und sah … nichts. War da nicht eben ein Schatten gewesen? Seine Ängste spielten ihm Streiche, ganz eindeutig. Der Magier schaute wieder zu dem Gipfel über sich. Voller Entschlossenheit sog er die Macht in seinen Körper, verwob sie mit einem Teil der Atmosphäre auf den Bergflanken und ließ die Bestandteile der Luft vibrieren. Noch mehr Energie verwob er in den Prozess. Reibung und Hitze entstanden, bis es nur noch eine Auswirkung geben konnte. An den schwer beladenen Hängen über Dukarran begann die Luft zu leuchten, zu glühen, und entlang der Stäbe entstand eine Wand aus glimmend heißer Luft. Die Markierungsstäbe, die vor dieser Hitzewand standen, entflammten augenblicklich. Eis ver-dampfte, wurde hinweggeschmolzen bis auf den Fels-grund, und ein Graben entstand. Die heiße Luftwand flimmerte, dann begann sie sich aufzulösen. Dukarran ging ächzend in die Knie. Über diese Entfernung war der Bann zu anstrengend, um ihn länger aufrechtzuerhalten. Außer Atem suchte er in den Schneemassen über ihm eine Regung. Bis auf sich verflüchtende Wolken aus Dampf bewegte sich nichts. Er raufte seine Haare.

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‚So, mein allerliebster Quarus, das hat ja einfach toll funktioniert! Jetzt knie ich hier wie der letzte Dorfdepp und schaue die Berge an ‘ Vom einen Ende des Tales hörte er Pferdehufe donnern und das Brüllen von zahlreichen drakanischen Stimmen. Dem Ordensmagier war klar, dass es mit dem Aufhalten des drakanischen Heeres vorbei war. Ihre Möglichkeiten waren erschöpft, und Fürst Aldan war mit seinem Heer noch nicht hier. Fieberhaft dachte Dukarran nach. Quarus hatte ihm ausführlich von unterschiedlichen Schneeschichten und der Gefahr von bedeckten Berg-hängen erzählt. Mit dem Schwebezauber hatte er Quarus in die weißen Höhen gehoben. Der Gnom hatte dort was auch immer am Schnee untersucht und dann an verschiedenen Stellen Stäbe in die Eisdecke gesteckt. Hatte Quarus nicht auch erzählt, das angeblich ein lautes Donnern von einem Gewitter schon Lawinen ausgelöst haben soll? Mit seinen letzten Kräften wob er einen Zauber, kniend zwischen Steinen und Frost. Er wählte eine Punkt in der Mitte des neu entstandenen Grabens und löste seinen Bann aus. Es krachte, ein Knall rollte zwischen den Gipfeln und Felswänden hin und her, nahm ab und verhallte. Nicht einmal ein Eisbrocken regte sich. Ent-täuscht erhob sich der Magier. Vielleicht war es besser so. Ein Knirschen, als würde langsam ein Riss in einem Felsen entstehen, ließ ihn wieder aufblicken. Genau unterhalb des Gipfels begann sehr langsam eine Schnee-scholle nach unten zu sacken. Ein selbstgefälliges Grinsen breitete sich über die Wangen Dukarrans aus. Das würde ausreichen, um die Talebene so weit zu bedecken, dass die Drakaner sich etliche Stunden durch eine Schnee-schicht kämpfen mussten. Lauter werdend, weitete sich das Knirschen aus. Dukarran stellte fest, das die langsame

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Schneeplatte den benachbarten Schnee mitzog, der wiederum andere Schichten und Eisplatten anschob. Auf der gesamten Breite der Bergflanke begannen die weißen Massen zu rutschen, und es schien auch benachbarte Hänge mit zu erfassen. Mit einem Mal war der Punkt des langsamen Gleitens überschritten. Ein Brodeln und Donnern entstand mit der herabstürzenden Lawine. Dukarrans wildes Grinsen gefror zu einer Grimasse. Er stürzte zu seinem Pferd zurück, welches versuchte, sich angsterfüllt wiehernd zu befreien. Gerade noch recht-zeitig konnte er die Zügel erfassen, die das Pferd mit einem heftigen Ruck gelöst hatte, und hievte sich schwerfällig in den Sattel. Er hatte keine Kraft mehr für einen Zauber und nicht einmal für normales Gehen. Somit hing es jetzt an seinem Pferd. Das ließ sich nicht lange bitten, jagte panisch los, und Dukarran blieb nichts anderes übrig, als sich am Hals des Tieres festzu-klammern. Der Boden begann zu beben. Das Brodeln erfüllte die gesamte Länge des Tales, verschluckte jedes andere Geräusch. Die Welt vor Dukarran schwankte auf und ab. Sein Pferd war nicht mehr zu halten und ging durch. Undeutlich erkannte er einen kleinen Haufen Reiter, nicht weit entfernt, die zum Talausgang flohen. Voller Inbrunst dankte Dukarran dem Schöpfer für den Herdentrieb, als sein Schimmel den Reitern folgte. Der Untergrund sprang Pferd und Reiter zitternd ent-gegen – die Lawine hatte den Grund des Tales erreicht. Seine Ohren summten von dem Krach der nachdräng-enden Schneegewalten. Sein Reittier legte seine ganze Kraft in den Lauf. Es holte auf, kam näher an die Gruppe vor ihnen heran. Dukarran erkannte einige Pferde-kämpfer aus dem Trupp von Jotar – und nicht mehr weit entfernt das Ende des Tales.

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Eine weiße Wand fegte an ihm vorbei. Dukarran wurde vom Pferd gerissen und vom wirbelndem Chaos aus Schnee und Eis verschluckt. „Schildwall halten! Halten habe ich gesagt, ihr Schwach-köpfe!“ Ûn-Scharführer Nummer 342 ging brüllend hinter seinen Namenlosen auf und ab, Befehle bellend. Misstrauisch beobachtete er den gerade abgebrochenen Angriff der Reiterei des Feindes. Das konnte ein Versuch sein, seine Truppen zu verleiten, ihnen nachzustürmen und die Schildformation aufzubrechen. „Lasst sie ruhig auf und ab reiten. Die kommen gleich wieder.“ Kamen sie aber nicht. Nummer 342 staunte nicht schlecht, als nach einigen Augenblicken klar wurde, dass die Reiter zum anderen Ende des Tales preschten. ‚Diese Feiglinge. Ich hatte mich schon so gefreut.‘ Kurz entschlossen brüllte der Ûn-Scharführer: „Im leichten Laufschritt hinterher zum Ausgang des Tals. Dort halten und sichern.“ Seine Namenlosen trabten los, leichtfüßig trotz ihrer Rüstungen, was Nummer 342 mit Stolz erfüllte. Trotz-dem würde es einige Zeit dauern, bis sie den Pass durchlaufen hätten. Ein Knall hallte durch das Tal. Nummer 342 suchte nach der Ursache und ließ seinen Trupp anhalten. „Wer etwas sieht, Meldung machen.“ Figuren aus Schatten, wabernd und beängstigend, erhoben sich ohne Vorankündigung aus dem Boden vor der ersten Reihe der Namenlosen. Trotz der unheim-lichen Bedrohung reagierten die Hünen automatisch, schlossen die Reihen und fügten ihre Schilde zu einer Wand zusammen. Die seltsam langgliedrigen Schemen

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gingen aufeinander zu und verschmolzen zu einer Ein-heit. Ein neuer Schattenriss entstand, wurde zu einem schwarz-weißen Bild – das Abbild ihres Heerführers. Die kühle Stimme ihres Herrn klang ihnen aus der Erscheinung entgegen. „Nummer 342, ich befehle den Rückzug! Lasst Schilde und Waffen fallen! Rennt zum Hohlweg zurück! Jetzt!“ Das Bild verblasste. Nummer 342 brauchte keine weitere Order zu geben. Der höchste Befehlshaber hatte gesprochen, und die Namenlosen setzten seinen Wunsch auf der Stelle um. Noch während die Waffen und Schilde zu Boden prasselten, umfing sie ein tiefes Dröhnen. Niemand zögerte und schaute sich um. Sie rannten, und das ohne die Last von Waffen und Schilden be-eindruckend schnell. Das Brodeln steigerte sich, der Untergrund fing leicht zu zittern an. Unbeirrt liefen die Namenlosen weiter, ohne Schrecken oder Furcht – verlorene Gefühle in den Tortouren ihrer Jugendzeit. Der Hohlweg war zum Greifen nah, kaum fünfzig Pferdelängen voraus. Das Brüllen des weißen Todes war ebenfalls nicht fern. Nummer 342 warf einen prüfenden Blick zur Seite und sah eine Lawinenwand in rasendem Tempo auf sie zukommen. „Sturmlauf!“, brüllte er aus Leibeskräften. Die Namenlosen versuchten ihre Geschwindigkeit zu erhöhen, rannten ohne Rücksicht mit aller Kraft. Mit den schweren Plattenpanzern war dies eine körperliche Üb-erforderung, die Folgen hatte: Einige brachen einfach zusammen, weitere holten sich Zerrungen, wurden lang-samer, unfähig, ihre zerrissenen Muskeln zu weiteren Bewegungen zu zwingen. Das Tal verengte sich vor ihnen. Die Wände des Hohlweges ragten schützend neben ihnen auf, und sie liefen in die rettende Kluft. Die

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Lawine rauschte ohrenbetäubend am Eingang der Kluft vorbei. Explosionsartig drang wie bei einer Flut eine Schneewelle hoch wie ein Berg in den Hohlweg ein, geschoben vom gewaltigen Druck der gefrorenen Was-sermassen. Die Namenlosen, die zuletzt und damit nur wenige Pferdelängen in die Schlucht gerannt waren, wurden unter meterhohem Schnee begraben. Die Überlebenden gingen ausnahmslos in die Knie und japsten wie Erstickende nach Luft. Nummer 342 gönnte ihnen jedoch keine lange Erholungspause. Kaum konnte er wieder reden, zeigte er auf die Ausläufer der Schneeberge. „Ausgraben!“ Ritter Pledor, Quarus und Jotar standen mit einigen Pferdekämpfern vor einem Ausläufer eines Feldes aus Schnee. Bitterkeit und Trauer machte sich unter den An-wesenden breit. Einige der Pferde, die an den Zügeln gehalten wurden, schnaubten unruhig aufgrund der Stimmung, die sie spürten. Was einst einmal der Scheide-pass gewesen war, konnte jetzt nur noch als Meer des Winters bezeichnet werden. Sie standen auf der Anhöhe, die vor Kurzem noch zum Tal hinuntergeführt hatte. Jetzt gab es kein Tal mehr, nur noch Schnee, in den man einsackte, unpassierbar für Mensch und Pferd. Hier und da ragten Hügel auf, Zeugen dafür, welch unglaubliche Mengen an gefrorenem Wasser heruntergekommen waren. „Dukarran ist nicht bei der Abteilung weiter unten, nicht wahr?“, fragte Quarus elend. Ein Krieger neben ihm schüttelte nur den Kopf. „So wie die Nachhut, die unseren Rückzug decken sollte“, fügte Pledor bitter an.

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„Wenn wir wenigstens wüssten, das sie schon in der Nähe der Anhöhe gewesen waren. Dann würde ich mich eigenhändig mit meinem Helm durch den Schnee schaufeln – selbst wenn es noch so hoffnungslos ist, sie lebend zu finden, ja überhaupt zu finden.“ Quarus lies seine Schultern hängen. „Das ist meine Schuld. Hätte ich bloß nicht vorgeschlagen, eine Lawine auszulösen.“ „Hör auf, Quarus“, schnitt Jotar dem Gnom weitere Worte ab. „Ohne diese Lawine wären wohl die meisten von uns jetzt tot oder gefangen und die Drakaner auf dem Weg nach Flüsterstein. Die höchsten Verluste haben wir außerdem durch die Verteidigung der Kluft erhalten. Mögen ihre Seelen beim Schöpfer Frieden finden. Kommt, hier können wir nichts mehr tun.“ Pledor räusperte sich. „Rittmeister, viele unserer Männer haben hohes Fieber. Wir werden nicht weit kommen, wenn wir jetzt aufbrechen.“ Jotar verzog sein Gesicht. „Wir müssen aus den kalten Höhen des Gebirges rauskommen, sonst werden wir alle krank. Wie steht es mit Euch, Pledor? Könnt Ihr reiten?“ „Bisher scheint der Pesthauch an mir vorbeigegangen zu sein.“ „Dann reitet Fürst Aldan entgegen und überbringt ihm die Botschaft, dass der Scheidepass bis zu seiner Ankunft gesichert ist. Zumindest solange er noch vor dem Hochsommer hier ankommt.“ Eine Versammlung der Hauptmänner des Heeres umgab Laukim. Auf seinem Ross sitzend, betrachtete er die kalte weiße Mauer vor ihm, die den Hohlweg zum Pass hin verschloss. Unterwürfig und mit gesenktem Kopf stand

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Urkorr-nor Tarote neben ihm und hielt ein Silbertablett mit einem Weinkelch bereit. Diese Demütigung war eine ihrer Strafen, die der Heerführer über sie verhängt hatte, als sie erfolglos vom Scheidepass zurückgekehrt war. Sie konnte es nicht fassen, wie man sie, eine Urkorr-nor, behandelte. Voll ohnmächtiger Wut malte sie sich aus, wie sie ihren Heerführer marterte. Sie hatte jedoch zu viel Angst, um ihren Hass auf Laukim zu zeigen und ihr war ebenfalls klar, wie dumm dies ohnehin gewesen wäre. Hauptmann 342 lief auf die hohe Versammlung zu und grüßte seinen Heerführer. „Mein hoher Urkorr-gaan, ich melde mich wie befohlen zurück. Ihr hattet recht, acht Namenlose fiebern, Herr. Sie sind eindeutig schwer erkrankt. Ich kann mir nicht erklären, wie das sein kann.“ „Weil sie mit Flüstersteinern gekämpft haben, die meinen Pestfluch in sich trugen. Die überlebenden Verteidiger sollten die Krankheit zu dem Heer Aldans tragen und es schwächen. Leider ist dies nebensächlich geworden. Die Erkrankten sollen heute Abend zu meinem Zelt kommen. “ Laukim sprach ruhig und leise zu Dorgwer, seinem Hauptmann der Zwergenlegion. „Dorgwer, was schätzt du, wie lange es dauert, sich hier durchzugraben? Ist es möglich, einen Tunnel anzulegen?“ „Herr, einen Tunnel? Nein, Herr“, schnaufte der alte Zwerg als Antwort. „Das ist kein harter Felsen, sondern unregelmäßig fester Schnee. Ein Tunnel würde zusammenbrechen. Und wenn wir alles mit Balken abstützen, ist der Sommer eher da, als wir fertig sind, verzeiht Herr.“ „Schon gut, ich dachte es mir bereits. Selbst wenn ich und Tarote die Grabungen unterstützen, würde es noch

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Wochen dauern. Der gesamte Pass ist vom Schnee verschüttet.“ Tarote witterte eine Chance, aus ihrer Dienerschaft zu entkommen. „Mein Herr und Hohepriester, erlaubt mir mein Versagen im Kampf mit dem feindlichen Urkorr-nor auszugleichen, indem ich mich durch den Schnee brenne. Ich werde keine Anstrengung scheuen.“ Ein grausames Lächeln stahl sich auf die wohlgeformten Züge Laukims. „Du wirst nicht wegen eines verlorenen Gefechts bestraft, Tarote. Deine Züchtigung erfolgt, weil du sinnlos das Leben der Soldaten unseres Imperiums geopfert hast. Du hattest die Verantwortung für ihr Leben. Statt dich sogleich zurückzuziehen, als du er-kanntest, dass der Feind einen Urkorr-nor zur Verfügung hatte, hast du deine Arroganz gepflegt und weiter angegriffen.“ Tarote wurde es heiß und kalt. ‚Wegen des Lebens der Soldaten? Woher weiß er überhaupt, was bei diesem Kampf geschehen ist? Beim Abgrund, er meint es wirklich ernst. Er ist ein wahrer Anhänger des Imperiums. Ich muss sehr vorsichtig sein.‘ Laukim sah auf sie herab. Kalte, harte Augen zogen Tarote in ihren Bann, ließen sie erschaudern. „Dein Anerbieten ist ebenso durchsichtig wie unüberlegt. Selbst mit unseren vereinten arkanen Kräften und denen der Soldaten – wie lange würden wir brauchen, um uns einen Weg zu bahnen? Vielleicht vier Wochen, wenn alles gut läuft? Fürst Aldans Heer wird uns dann längst erwarten. Auf der anderen Seite des Tales, wieder an einer strategisch günstigen Engstelle. Nein, unser Ziel, die Flüstermark abzuriegeln und den Pass für unsere Such-truppen offen zu halten, ist gescheitert.“ Laukim wendete sein Pferd. „Macht alles bereit für unseren Abmarsch. Zwei Späher sollen hier verbleiben

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und Meldung machen, sobald der Pass wieder frei wird. Wir kehren zurück.“

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Welt Tepor, südlich der Vierfürstentümer, Moranion-Wald Der Warnruf des drakanischen Wachtpostens verhallte. Bestürzung und Schreck lähmten die Suchtruppe der Vierfürstenlande. Dann kam ein weiterer Warnruf: „Alarm! Feindkontakt an der Schlucht! Alarm!“ Wotan bleckte die Zähne und knurrte: „Auf jetzt! Es nützt nichts, hier herumzustehen. Lasst uns nicht noch den letzten Vorteil verlieren!“ Mit diesen Worten stürmte er los. Wie in Trance folgten ihm seine Kameraden, mehr wie Rinder ihrem Leitbullen. Schnell waren sie aus dem Seitenarm der Kluft herausgelaufen und wurden wieder einmal von dichtem Baumbestand umfangen. Halgrimm und sein Mentor hatten ihre magischen Lichter nach einem kurzen Verständigungsblick gelöscht. Als die Gruppe tiefer in den Wald eindrang, wurde es so dunkel, das sie die Stämme auf Armeslänge kaum erkennen konnten. Das Rennen kam damit ins Stocken und wurde zu unsicherem Gehen. Trockene Äste, Laub vermischt mit Tannen-zapfen und Eicheln, die allesamt unsehbar in der Fin-sternis lagen, knackten und knisterten unter ihren Füßen. Selbst die erfahrenen Elfen konnten nicht vermeiden, deutlich hörbaren Krach mit jedem Schritt zu machen. „Halt, bleibt stehen!“, erklang die Stimme Fabans be-stimmt. Die Gefährten kamen seiner Aufforderung nach und sammelten sich um ihn. „So hat das keinen Sinn. Wir machen so viel Lärm, dass unsere Position deutlich verraten wird. Zugleich kommen wir in dieser Finsternis kaum voran. Wir müssen unseren Plan ändern.“

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„Hier dürfen wir ebenfalls nicht lange verweilen, Meister Faban“, warnte Enyu. „Die Drakaner werden nicht an ihren Lagerfeuern sitzen bleiben.“ Toma schlug vor: „Dann lasst uns so leise wie möglich einen anderen Standort suchen, weg vom Lager der Drakaner, das wahrscheinlich voraus liegt.“ „Meister Faban?“ Halgrimm klang unpassend erfreut. „Wie wäre es jetzt mit einer ablenkenden Illusion? Eine Täuschung aus lauten Geräuschen, die unsere Bewegung decken.“ „Gute Idee, Junge. Wartet einen Augenblick. Das sollte ich sofort umsetzen.“ Kurz darauf wurde es laut um sie herum. Es stampfte und dröhnte, als würde eine ganze Kompanie durch den Wald marschieren. Olagrion musste schreien, um sich noch Gehör zu verschaffen. „Fast euch an den Händen! Ich gehe voran!“ Geschickt erspürte Olagrion einen relativ gangbaren Weg durch den dunklen Wald für die Gruppe. Sie entfernten sich zusehends von dem Lärm, und Olagrion ging so lange weiter, bis der Krach so leise wurde, dass man sich wieder flüsternd unterhalten konnte. Die Gruppe sammelte sich und bildete einen Kreis. „Diese Strecke sollte erst mal genügen. Jetzt sollten wir zügig besprechen, wie es weitergehen soll.“ Karr ließ sich nicht lange bitten: „Natürlich ihnen auflauern! Es werden bestimmt bald einige Soldaten nachsehen, was das für ein Krach ist. Wir schleichen zurück und überfallen sie von hinten.“ Nach kurzem Schweigen meinte Corsan: „Da wir nicht genau wissen, wo das Lager der Drakaner ist, und deren Feuer sicher längst gelöscht sind, scheint dies unsere einzige Option zu sein.“

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Oenothera zischte: „Das gefällt mir nicht. Die Drakaner sind gewarnt und werden vorsichtig sein. Sollten wir den Angriff nicht abbrechen und versuchen, vor ihnen Abu-sans Versteck zu erreichen?“ Faban klang besorgt, als er erwiderte: „Wenn wir einige Tage vor ihnen das Laboratorium erreichen könnten, würde ich sofort zustimmen.“ Karr schnalzte mit der Zunge. „Leider ist das nicht der Fall. Wir benötigen Zeit, um in das Versteck einzudring-en, und können keinen Feind im Rücken gebrauchen.“ Rolfah flüstere: „Dann ist der Vorschlag von Karr wohl der beste Plan, den wir haben, oder?“ „Hah, es ist unser einziger Plan!“, knurrte Wotan. Etwas kam leichtfüßig auf sie zugelaufen. Waffen wurden bereitgemacht in Erwartung eines Angriffes. Ein Winseln ertönte und gleich darauf die seltsamen Geräusche, wenn der Wechselbalg sich verwandelte. „Kev.“ Serenoa schien Hoffnung zu schöpfen. „Wir haben gar nicht bemerkt, dass du nicht bei uns warst. Hast du die Drakaner gefunden?“ „Wolltest du nicht ein Auge auf ihn haben?“, raunte Corsan Wotan zu. Ein Grummeln war die einzige Erwiderung. „Ja, ich konnte sie hören. Ein Haufen geht nicht weit von hier durch den Wald in Richtung des Lärms, glaube ich. Sehen konnte ich sie nicht, dafür ist der Wald zu dicht bewachsen.“ „Kannst du uns so zu ihnen führen, dass wir in ihrem Rücken sind?“, wollte Faban wissen. „Ja, ich glaube schon.“ „Dann greifen wir an. Ich werde die Geräuschillusion weiter aufrechterhalten, damit wir nicht gehört und sie nicht misstrauisch werden. Das strengt mich allerdings

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an, ich möchte den Bann so bald wie möglich lösen. Ansonsten gehen wir so vor, wie wir es beim Lager der Drakaner machen wollten.“ Oenothera begab sich an Kevs Seite und legte sanft eine Hand auf seine Schulter. „Wir können kaum etwas sehen. Du musst uns führen. Wir werden in einer Reihe hinter dir hergehen müssen, eine Hand auf der Schulter des anderen. Ich werde mich an deinem Schwanz festhalten, damit wir dich nicht verlieren.“ „Ähm …“ Kev stutzte, und sein Gesicht fing an zu glühen. „… ja, natürlich.“ „Was denn? Los, verwandele dich, wir müssen uns be-eilen.“ ‚Es muss ihr ja unheimlichen Spaß machen, mich in Verlegenheit zu bringen.‘, ärgerte sich Kev still und ergab sich in sein Schicksal. In Wolfsgestalt führte er seine Mitstreiter durch die Schwärze des Waldes. Vorsichtig schlichen sie durch den Wald, gedeckt durch Lärm und Nacht. Eine kurze huschende Bewegung, ein Schemen am Rand seiner Wahrnehmung, ließ den Grauwolf innehalten. Er gab mit einem Schwanzzucken Oenothera ein Zeichen, welches sie sogleich nach hinten weitergab. Waldläufer und Elfen verteilten sich, während Wotan und Faban zu Kev aufschlossen. Halgrimm sollte sich nach dem Willen seines Lehrers erst einmal weiter hinten halten und er fügte sich wiederwillig. Wotan ging neben dem Wolf in die Hocke und nahm vor sich nur undeutlich ein Stück steinigen Waldboden war. An einigen Stellen brachen aus dem Boden bemooste Felsen hervor, und die Bäume standen hier weit weniger zahlreich. Rechts von ihnen befand sich ein Tannenhain, der durch zahlreiche tief hängende Äste besonders unwegsam und düster war.

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Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Wotan mehr zu erspähen. "Bei den Steinen sind noch weitere Silhouetten.", murmelte er mürrisch zu sich selbst. "Aber bei dieser Dunkelheit erkennt man etwas erst dann, wenn es nah ist und sich bewegt." Vorsichtig zupfte er am Ärmel Fabans und machte ihn auf die Schatten aufmerksam. Faban hob die Hand, und Wotan machte sich bereit. Leider musste der Zwerg sehen, wohin er zaubern wollte, und würde deshalb gleich nicht mitkämpfen können. Das war der wackelige Stütz-balken an dem Plan, und es machte ihn nervös. Wotan rief die in ihm ruhende Kraft ab, gleichzeitig dankte er stumm Toorn und dem Schöpfer für dieses Wunder. Der Lärm vor ihnen erstarb unvermittelt. Eine unheimliche Stille legte sich über den Wald, die einen veranlasste, den Atem anzuhalten. Darauf hatten die Gefährten gewartet. Wie besprochen schlossen sie fest die Augen und beugten ihre Köpfe zu Boden. Grelle Lichtblitze strahlten vor den Flüstersteinern auf, so hell, dass sie die Nacht für eine Sekunde vertrieben und die Welt in stechendem Weiß erstrahlte. Wotan erblickte in diesem Augenblick mehrere Soldaten, die mit dem Rücken zu ihnen lauernd nach vorn schauten. Dann kehrte die Dunkelheit zurück, und ein weißes Flimmern blieb vor seinen Augen. Wotan hoffte, dass die Drakaner ebenso wie er geblendet waren. Halgrimm bekam trotz der geschlossenen Augen die kurze blendende Helligkeit mit. Als sie verschwand war Halgrimm mit dem Verweben einer anderen Realität fast am Ende. Er schaute auf und setzte eine sanft scheinende Lichtkugel auf einen Baumstamm. Dabei steckte er eine gewisse Energiemenge in den Zauber, sodass die Kugel

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eine Weile leuchten würde, ohne dass er sich darum kümmern musste. Fünf drakanische Krieger schälten sich aus den Schatten hervor, die völlig überrascht umher-tapsten, als wären sie blind. Mehrere Bogensehnen surr-ten, und die Krieger fielen von Pfeilen getroffen zu Boden. Neben Halgrimm legte Enyu einen weiteren Pfeil an und blickte dabei umher. „Nur fünf? Wo sind die anderen?“ Hinter ihnen raschelte es. Halgrimm wandte sich um und erfasste mehrere Soldaten, unter ihnen ein riesiger, schwer gerüsteter Krieger, die auf sie zugestürmt kamen. Enyu verschoss seinen gerade aufgelegten Pfeil. Ein Drakaner ging hinter seinem Schild in Deckung und fing den Pfeil damit ab. Corsan und Karr hatten die Bögen fallen gelassen und ihre Schwerter und Dolche gezogen. Erschrocken ging Halgrimm mehrere Schritte zurück und zuckte zusammen, als er neben sich aus dem Tannenhain stampfende Geräusche vernahm. Weitere Soldaten kamen aus dem dichten Gewirr der Äste hervor, direkt bei Oenothera und dem Grauwolf. Kurz stockten die Drakaner, als sie den schimmernden Baum und die Szene vor sich sahen. Einer bemerkte Oenothera neben sich, die ebenso überrascht zu ihm zurückstarrte. All dies wirkte auf Halgrimm in dem weichen fahlgrünen Licht wie ein Traum, ein Albtraum. Eisen prallte gegen Eisen, und der helle Ton zerriss Traum und Verwirrung. Oenothera schwang ihr Schwert zu dem ihr gegenüber-stehenden Soldaten herum, während dieser zeitgleich in Kampfposition ging und schrie: „Feinde!“ Ein weiterer Drakaner wandte sich der Elfe zu und fing an, sie zu umkreisen. Geschickt wich Oenothera einem Schwertstreich aus und versuchte ihrerseits erfolglos den

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Angreifer am Waffenarm zu treffen. Kev knurrte wild den Drakaner an, der versuchte in Oenotheras Rücken zu gelangen. Der Soldat stoppte, richtete allerdings nur seinen Schild gegen den Wolf aus und griff dann aus-schließlich die Elfe an. Ein dritter Soldat mischte sich in den Kampf ein und brachte die Elfe in starke Bedrängnis. Zwei weitere Soldaten und ein kolossartiger Krieger brachen aus dem Tannenhain hervor. Halgrimm, von niemandem beachtet, handelte. Er riss seine Wasser-flasche von seinem Gürtel und goss einen Schwall Wasser in seine hohle Handfläche. Kälte wallte auf, als sein Zauber zu wirken begann und seine Hand nach vorn schoss. Einer der drei Drakaner schrie abgehackt auf, als mehrere Eissplitter und gefrierendes Wasser ihn trafen. Dann stand er still und erstarrt, eingefroren und von Rau-reif bedeckt. „Ein Urkorr-nor! Den müssen wir sofort erledigen, bevor er noch mehr anrichtet.“ Mit einem Mal war Oenothera vergessen. Angstschweiß entströmte Halgrimms Stirn, als sich die vier verbliebenen Drakaner ihm zuwandten. Von Oenothera und Kev konnte er keine Hilfe erwarten. Der Hünenkrieger griff sie an und teilte mit einem gewaltigen Kriegshammer Schläge gegen die Elfe und den Grauwolf gleichzeitig aus. Die anderen seiner Gruppe kämpften mehrere Pferde-längen entfernt kaum sichtbar hinter einigen Bäumen. Halgrimm wusste: Selbst wenn er noch rechtzeitig einen Zauber wirkte, er konnte nicht vier Gegner auf einmal ausschalten. Was blieb ihm also noch an Möglichkeiten? So schnell er konnte, rannte er planlos in die Dunkelheit, nur weg von den auf ihn zulaufenden Soldaten. Die Drakaner nahmen die Verfolgung auf.

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Schreie umfingen Wotan. Um ihn herum klirrten Waffen, tobten Kämpfe, und er konnte nichts von alldem sehen. Geblendet stand er hilflos da und verfluchte sein Un-glück. Welch eine Schmach, sich wehrlos wie ein Kanin-chen abschlachten zu lassen. Irgendwo vor ihm hörte er Karr schreien: „Endlich, ihr Bastarde. Kommt nur, ich habe hier was für euch.“ Ein Schlag auf sein Haupt ließ ihn zur Seite taumeln, und Schmerz brandete in seinem Kopf auf. Etwas hatte ihn getroffen, doch sein Helm hatte Schlimmeres verhindert. Wild schwang er seinen Hammer hin und her – vielleicht traf er ja zufällig. Es war wohl momentan seine einzige Chance. Sein Gegner war jedoch nicht voreilig losge-prescht, und das Einzige, was Wotan zerhieb, war Luft. ‚Gut, dass niemand von meinem Volk erfahren wird, wie schmählich ich gestorben bin.‘ Hitze schlug ihm auf einmal entgegen – und Schreie voller Qual. Sein Angreifer entfernte sich mit gellendem Gebrüll und hinterließ einen Gestank von verbranntem Haar. „Das war knapp“, hörte der Zwerg Faban hinter sich. „Geht weiter zurück, solange Ihr nichts sehen könnt, Erdenbewahrer!“ Wotan ging geduckt mehrere Schritte rückwärts, bis sein Hintern an einen Baum stieß. Den Schild vor sich haltend, wartete er ab. Sein Sehvermögen kehrte un-deutlich zurück, und er versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Toma, Corsan, Karr und Enyu waren in Einzelgefechte verstrickt, nicht weit von ihm entfernt. Linker Hand hatten sich drei Drakaner auf Serenoa und Rolfah gestürzt. Olagrion stand vor Faban und blockte einen dieser Riesenkrieger ab, der offensichtlich zu dem Ordensmeister durchdringen wollte. Die Luft pfiff von

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den Hieben des Hünen mit seinem schweren Breit-schwert. Olagrion dachte gar nicht daran, solche Schläge zu parieren. Immer wieder wich er vor und zurück, war blitzschnell mit seinen Konterattacken und blieb immer in Bewegung. Sein Kampfdolch und Schwert stachen und schlugen ohne Unterlass auf den Hünen ein, der ohne seine mächtige Rüstung zahllose Wunden eingesteckt hätte. Unter der Achsel des Kolosses floss Blut hervor, Olagrion dagegen war unverletzt. Voller Respekt gewann Wotan den Eindruck, dass der Elf diesem Elitekämpfer ebenbürtig war. Eine harte, herrische Stimme schallte hinter den Kampfherden aus dem nicht beleuchteten Wald und gab Befehle, die für Wotan zu undeutlich waren, um sie zu verstehen. Es war zwar die gleiche Sprache, die Drakaner hatten allerdings eine leicht andere Aussprache der Wörter. Ein weiterer dieser trollartigen Krieger tauchte aus dieser Richtung auf und nahm Kurs auf Faban. Der Magier bemerkte diese Gefahr für Olagrion und sich selbst nicht, da er gerade in den Kampf von Serenoa und Rolfah, die sich kaum gegen ihre drei Gegner behaupten konnten, mit einem Zauber eingreifen wollte. Es sah so aus, als könnte er sich bei dem alten Ordensmeister für seine Rettung revanchieren und würde ihm nichts schuldig bleiben. Wotan grinste erfreut und lief auf Faban zu. Der zweite Hüne erreichte Olagrion und griff in den Kampf mit ein. Der erste Gegner des Elfen fiel ge-schwächt auf die Knie. Aus mehreren Schwachpunkten seiner schweren Rüstung floss ein wenig Blut, es waren jedoch weder gefährliche noch große Wunden. Aus dem Mund des Hünen floss schäumender Speichel, und er

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hatte Krämpfe, trotzdem versuchte er noch, aus kniender Position Olagrion zu treffen. Wotan hatte gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt, da spürte er, wie Energien gesammelt und verknüpft wur-den, die nicht vom Ordensmeister ausgingen. Wotan schrie eine Warnung hervor. Es blitzte und donnerte gleichzeitig, als wäre mitten im Wald ein Gewitter aufgezogen. Entsetzt sah Wotan, wie Olagrion brennend zusammensackte. Seine Kleidung hatte Feuer gefangen, und seine ehemals langen silbernen Haare rauchten verkohlt auf seinem Kopf. Für den zweiten Hünen war der Weg jetzt frei. Langsam, als wäre er vom Einschlag benommen, wandte er sich Faban zu. Wotan versuchte es, aber er konnte einfach nicht schnel-ler laufen. Faban dröhnte der Donnerhall in den Ohren nach. Aus den Augenwinkeln bekam er mit, wie Olagrion von einem Blitz niedergestreckt wurde. Nur seiner jahrelangen Praxis war es zu verdanken, dass der Bann, den er gerade verwebt hatte, nicht zerfiel. Geistesgegenwärtig verzö-gerte er die Auslösung des Zaubers. Umgehend richtete er sein magisches Muster neu aus, ohne es zu verlieren, und zeigte damit seine Meisterschaft in der arkanen Kunst. Hinter dem Hünen ertönten stampfende Schritte und das Klirren einer Kettenrüstung, so als stürmte jemand im vollen Lauf heran. Der Drakaner drehte sich blitzschnell um und erhaschte gerade noch, wie ein Elfenkrieger mit beiden Händen eine schlanke, spitze Klinge in Richtung seines Halses stieß. Mit unglaublichen Reflexen griff der Riese mit seiner linken Hand aus der Drehung heraus in das Schwert. Er lenkte die Spitze gerade noch so weit um,

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dass sie statt sich in seinen Hals zu bohren seitlich über den Wangenschutz des Helmes hinweg schrammte. Die Kraft des Vorstoßes wurde am Körper des Drakaners vorbeigelenkt. Der Hüne knurrte auf, als die Schneide die lederne Innenseite seines Panzerhandschuhs aufschnitt und seine Handfläche darunter. Der Schmerz verzögerte nicht im Mindesten seinen Rückhandschlag, den er fließend mit der Weiterführung seiner Drehung gegen seinen Kon-trahenten ausführte. Geschmeidig fing der Elfenkrieger den eigenen Vorwärtsdrall ab, zog mit einer flirrenden Bewegung sein Kurzschwert am Gürtel und parierte diesen schnellen und gewaltigen Angriff mit einer Hand. Der Gigant stutzte, als das Kurzschwert die Masse seines Breitschwertes und die Kraft seines Schwunges aufhielt. Kurz fasste er den Elfenkrieger scharf ins Auge und drehte ihm dann einfach den Rücken zu. Hinter ihm verblasste Fabans Illusion. Dem alten Magier wurde klar, dass er mit der letzten Parade einen Fehler gemacht hatte. Dieser unglaubliche Krieger hatte mitten im Kampfgewirr in einem kurzen Augenblick seine Illusion durchschaut. ‚Hoffentlich hat Halgrimm meinen letzten Fehler in dieser Welt gesehen, und es ist ihm eine Lehre.‘, dachte er, als er den Hünen auf sich zuspringen sah. Kev bekam einen gepanzerten Stiefel in seinen Wolfs-körper gerammt und wurde durch die Wucht gegen eine Eiche geschleudert. Ohne Regung blieb er zwischen den Wurzeln liegen. „Kev, nein!“ Oenotheras Dolch wurde bei der kurzen Unaufmerk-samkeit, in der sie sich um Kev sorgte, aus ihrer Hand geschlagen.

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Die darauf folgenden Schläge von Oenothera fing der Koloss fast spielerisch mit dem langen Stiel seines gewaltigen Kriegshammers ab. Er hielt dabei seine Waffe mit beiden Händen leicht schräg vor sich. Seine Rechte war nahe dem Eisenkopf, die Linke am Ende des Stiels. Dadurch hatte er den schweren Hammerkopf gut unter Kontrolle und konnte mit kurzen, schnellen Bewegungen mit dem mittleren Teil seines Hammerstiels parieren. Mit kühlem Verstand versuchte Oenothera eine andere Taktik und attackierte nun mit einer Angriffsserie die Hände des trollartigen Kämpfers. Aufgrund seiner Waffenhaltung waren diese die am nächsten gelegenen Körperzonen, die sie treffen konnte. Zusätzlich achtete sie darauf, sich möglichst nah bei ihm zu halten, damit er die große Reichweite seiner Zweihandwaffe nicht ausspielen konn-te. Die ersten Schwinger trafen nur die Stange. Der Krieger war zu geschickt, um sich einfach auf die Finger schlagen zu lassen. Oenothera kreiste zwei Schritte um ihn herum und ließ ihr Schwert beim nächsten Angriff nur leicht auf das Pariereisen prallen. Sie hielt den Kon-takt mit der Stange, ergriff ihren Schwertgriff zusätzlich mit der zweiten Hand und zog kräftig mit der Schneide den Stiel entlang nach unten, einer haltenden Hand des Kriegers entgegen. Ihre Klinge rutschte ins Leere. Der Gigant hatte das Stielende losgelassen, drehte seine Hüfte und rechte Schulter nach vorn und stieß mit einer geraden Bewegung einhändig den Hammerkopf in Oeno-theras Gesicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ihre Nase brach. Ihr Blick verschwamm und kurzzeitig sah Oenothera ausschließlich weiße Punkte . Sie stolperte mehrere Schritte zurück und kämpfte um ihr Gleich-gewicht. Den nächsten Hieb erahnte Oenothera mehr, als dass sie ihn sah. Sie wankte weiter zurück und schmet-

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terte ihr Schwert gegen den Hammer. Der Zusammen-prall betäubte ihre Arme und prellte ihr die Waffe aus den Händen. Hilflos wich sie nach hinten weg, um wenigstens einem weiteren Schlag zu entkommen. Ein riesiger Schatten wuchs hinter dem Hünen empor. Der Krieger spürte die Gefahr und schwang seinen Kriegshammer wuchtig um seine Achse nach hinten. Der Eisenkopf prallte mit einem dumpfen, leisen Laut gegen etwas Weiches, Massiges. Während seine Waffe aufprallte, sah der Drakaner trotz seiner Körpergröße direkt auf einen Brustkorb. Ein gewaltiger Körper füllte sein Gesichtsfeld aus, dicht mit zottigem Fell bewachsen. Er suchte den Kopf seines neuen Feindes und blickte fast drei Fuß über ihm in die kleinen gelben Augen eines aufgerichteten Höhlenbären, die ihm aus einem Schädel, so groß wie ein Fassdeckel, entgegenfunkelten. Ein lautes Brüllen begleitete den ersten Prankenhieb, den der Drakaner mit antrainierten Reflexen mit seinem linken Arm blockte. Die Rüstung bewahrte ihn vor den Krallen, die Wucht ließ jedoch die Knochen des Kriegers zerbersten. Die zweite Pranke schoss sogleich von der anderen Seite heran und erwischte seinen Kopf, während er vom ersten Treffer herumgewirbelt wurde. Mit lautem Krachen brach das Genick des Hünen. Oenothera kniete mit blutender Nase und geschwollenem Gesicht vor der massigen Bärengestalt, erschauerte bei der neben ihr liegenden zerschlagenen Leiche und sagte leicht verunsichert: „Danke, Kev.“ Ein leises Knurren kam ihr entgegen. „Du bist es doch, oder, Kev?“ Sie sah sich nach ihren Gefährten um, der Kampf hatte sie jedoch weit vom anfänglichen Ort des Geschehens abgetrieben. Sie war allein.

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Der Bär verzog sein Maul zu einem unnatürlichen, nicht tierhaften Grinsen, was die Elfe nicht gerade beruhigte. Behäbig ließ er sich auf alle viere sinken. Mit einem Brummen begann er sich die Seite zu lecken, die von dem Kriegshammer getroffen wurde. Oenothera holte tief Luft und ging auf den Bären zu. Zärtlich streichelte sie den großen Kopf: „Danke, Kev, du hast mir schon wieder aus der Patsche geholfen.“ Ein auflodernder Feuerschein brach zwischen den Ästen hervor, verstärkte sich und war drei Herzschläge später wieder erloschen. Der Bär schreckte hoch. Oenothera keuchte auf. „Das ist bestimmt Halgrimm. Als er uns half, musste er vor mehreren Drakanern fliehen“, erinnerte sich die Elfe. Sie musste nicht nach weiteren Zeichen suchen. Ein ganzes Waldstück schien auf einmal in Flammen aufgegangen zu sein und wies deutlich den Weg zum Ort des Geschehens. „Los, beweg deinen dicken Hintern. Halgrimm braucht unsere Hilfe.“ Oenothera lief auf die Feuer zu. ‚Das hast du ja wieder toll hinbekommen, Halgrimm al Noschura.‘ Halgrimm jagte durch einige Büsche wild in den Wald hinein, unentwegt von Ästen gepeitscht, durch die er sich seinen Weg brach. Feuchte, kalte Nachtluft kühlte sein erhitztes Gemüt. Der grün dämmernde Lichtschein ver-blasste zusehends, umso weiter er sich entfernte. Irgend-wo hinter sich hörte er seine Verfolger durch das Geäst stolpern.

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‚Wenigstens können sie ebenso schlecht sehen wie ich. Aber ich bin genauso laut, und sie müssen nur dem Lärm den ich verursache hinterher.‘ Gehetzt und der Panik nahe, wurden Zweige für ihn zu greifenden Händen und Nebelschwaden zu geduckten Drakanern. Jedes Rascheln ließ sein Herz schneller schla-gen. Er konnte nicht ewig davonlaufen. Seine Häscher würden nicht lockerlassen. Fieberhaft dachte Halgrimm nach, was er denn unternehmen könnte. Sich einfach in einem Busch zu verstecken und leise zu sein schien ihm nicht besonders Erfolg versprechend. Dafür waren sie zu nah hinter ihm. Wenn die Drakaner ihn nicht mehr durch den Wald krachen hörten, würden sie halt machen und ausschwärmen. Binnen kurzem hätten sie ihn bestimmt aufgestöbert. Also gegen sie kämpfen. Aber wie, ohne dabei zu sterben? Sie würden zu schnell an ihn her-ankommen. Der Nahkampf und die Zeit waren das Problem. Als er an Nahkampf dachte, flackerte eine Erinnerung in ihm auf: Die Soldaten hatten keine Bögen dabei. Halgrimm fasste einen Entschluss. Sein Stab erstrahlte schwach, und er suchte mit diesem Licht einen Baum, den er einigermaßen gut erklettern konnte. Auf einer sanften Erhebung fand er eine junge Eiche, die eine tief sitzende Astgabel und weitere Klettermöglichkeiten besaß. Es war ihm klar, dass die Soldaten durch sein Licht genau wussten, wo er sich befand, und er nicht viel Zeit hatte. Schnell war er in der Astgabel, zog sich an zwei weiteren Ästen höher hinauf und bemerkte gar nicht die Schrammen, die er sich dabei holte. Seinen Stab ließ er unten liegen. Er brauchte beide Hände, wenn er schnell sein wollte. Ein Drakaner stampfte heran und entdeckte ihn. Laut rief er die anderen zu sich, die bald darauf zu ihrem Kameraden aufschlossen. Langsam näherten sie

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sich der Eiche. Halgrimm hatte darauf gehofft, dass sie sich Zeit ließen, wenn sie sahen, dass er auf dem Baum in der Falle saß. Konzentriert nahm er Macht in sich auf und formte seinen geplanten Zauber. Ein kleiner Flammenkreis hüllte den Stamm der Eiche ein. Das Feuer leckte an der Rinde, stieg höher und wurde intensiver, bis schließlich die Rinde selbst anfing zu brennen. Da sollten sie mal versuchen hochzuklettern! Die Soldaten wichen zurück. Dann fing einer an zu lachen, stupste die anderen an und lief in die Dunkelheit zurück. Halgrimm fluchte. Gerade hatte er angefangen einen ersten Angriffszauber zu weben. Um jemanden mit einem Bann zu belegen, musste er ihn allerdings sehen können, und das wussten diese Soldaten anscheinend. Er hätte sich denken können, dass der Eiserne Thron nicht irgendwelche Krieger auf solch eine wichtige Mission schickt. Sie würden sich verstecken und warten, bis er runterkletterte. ‚Oh, runterklettern …‘ Halgrimm sah zum brennenden Stamm hinunter und erkannte, dass er ein weiteres Problem erschaffen hatte. Was sollte er jetzt machen? Weiter hinaufklettern und dann versuchen, an einem langen Ast neben das Feuer zu springen? Lächerlich. Selbst wenn er sich nicht den Fuß verknackste, seine Häscher wären schneller über ihm, als er „beim däm-lichen Halgrimm“ sagen konnte. Sie werden so nah wie möglich außerhalb des Lichtscheins stehen. Wieso passierte den Helden aus den Sagen im Eifer des Ge-fechts niemals so etwas? ‚Halt, du bist ein Dummkopf! Es gibt doch Zauber, die man benutzen kann, ohne dass man seinen Feind sehen muss. Allerdings …‘ Halgrimm besah sich wieder die Flammen, die langsam höher krochen, und durchdachte noch einmal seine Mög-

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lichkeiten, einfach davonzulaufen. Unbändige Wut loderte in ihm auf. ‚Allerdings wird der strikten Einhaltung der Machtkreise die man beherrschen kann, bei Weitem zu viel Bedeutung beigemessen! ‘ Mit diesem Entschluss öffnete er seinen wutentbrannten Geist für die arkanen Energien und begann mit ver-schlungenen Fingerbewegungen. In der Theorie wusste er, wie er die Wirklichkeit verändern musste. Er öffnete sein drittes – das geistige – Auge und suchte bestimmte Stränge, die Natur und Materie miteinander verbanden und damit Raum und Naturgesetze erzeugten. Macht brodelte in ihn hinein, und mit dieser formte er kurzzeitig bestimmte Kraftmuster um, damit sein Feuerbann sich entfachen konnte. Teile der umgebenden Luft wurden zusammengeballt. In diese Verdichtung lenkte er den Großteil der gesammelten Energien. Eine rot schimmern-de Kugel entstand knapp über seiner Hand. Halgrimm hatte indessen das Gefühl, auf einem Vulkan zu stehen, den er allein mit seiner Willenskraft davon abhielt auszubrechen. Welch ein Rausch der Macht unter seiner Kontrolle! Was sollte ihm nicht möglich sein? Mit jedem Herzschlag wurde die Kugel intensiver in der Leuchtkraft, wechselte ihre Farbe zu Orange, dann zu Gelb und schlug schließlich in ein intensives Blau um. Zu spät fiel ihm ein, dass er ja die ganze Zeit die geballte Luftmasse mit Energie füllte. Eilig entließ er die Kugel und stieß sie davon – dorthin, wo er seine Feinde hatte verschwinden sehen. Ein gleißend hellblauer Ball flog in einem Bogen in den Nachthimmel hinauf. Die Kugel senkte sich schnell wieder herab und fing an, sich auszudehnen. Mit einem Mal hielt nichts mehr die komprimierte Luft gefangen.

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Rasend schnell breitete sie sich aus und gab ihre Hitze frei. Keiner der vier Drakaner hatte je so einen Flammen-zauber gesehen. Verunsichert wandten sie sich zur Flucht. Ein heißer Wind holte sie nach wenigen Schritten ihres Rückzuges ein, versengte leicht Kleidung und ihre nicht bedeckten Hautpartien. Dann folgte eine Feuersturm, der Bäume, Büsche, Gräser und sie selbst auf der Stelle in lodernde Fackeln verwandelte. Voller Freude verfolgte Halgrimm die Folgen seiner Machtausübung, bis er erkannte, dass sich die Hitze immer weiter ausbreitete, sein Inferno einen immer größer werdenden Kreis vereinnahmte. Seine Lächeln verblasste ebenso wie seine Erleichterung. Zwar glaubte er zu erkennen, dass die Feuerwand sich abschwächte, allerdings nicht genug. Die Feuerkugel sollte nie ein solches Volumen verbrennen, nie bis zu seinem Baum heranreichen. An die fünfunddreißig Pferdelängen war der Feuerball entfernt gewesen, bevor er seine Glut entlassen hatte. Bei der Ausführung des Zaubers hatte er sich wieder mal gründlich verschätzt. Ein so großer Bereich, wie konnte das nur sein? Er sammelte seine übrig gebliebenen Kräfte und versuchte, einen Eispanzer um sich zu weben. Die Hitzewand hatte fast die Eiche erreicht und brach zusammen. Ein letzter abgeschwächter Gluthauch schwappte weiter und fegte über den Baum hinweg. Die Kleider von Halgrimm begannen zu schwelen, fingen aber kein Feuer. Die Schmerzen der Verbrennungen reichten jedoch aus, um Halgrimms Konzentration zu stören. Sein Zauber brach unvollendet zusammen. Das war ihm allerdings egal, er besaß sowieso keine Kraft mehr. Er hatte überlebt, zwar durch schieres Glück, doch er hatte überlebt. Und er hatte einen

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mächtigen Zauber nicht nur gemeistert, sondern über die bekannten Ausmaße hinaus gesteigert! Ein Hauch des Stolzes wallte in Halgrimm hoch. So fühlte es sich also an, Macht zu besitzen. Eine lästige Stimme in seinem Inneren, die immer im unpassendsten Moment aufzutauchen schien, fragte ihn, ob es richtig sei, sich über eine Macht der Zerstörung zu freuen. Er ärgerte sich über diese Stimme, dieses unan-genehme Gewissen, das ihm seine Siegesfreude verdarb. Was war denn an ein wenig Freude so falsch? Aufsteigende Hitze lenkte seine Aufmerksamkeit wieder in die Wirklichkeit zurück. Unter ihm hatte sich das Feuer mittlerweile den Stamm seiner Eiche hochgearbeitet und die unteren Hauptäste in Brand gesetzt. Heiße Luftschwaden trieben ihn weiter nach oben. Das konnte doch nicht wahr sein, zu guter Letzt erwischte es ihn doch noch! Er fühlte sich schwach, jede Bewegung war anstrengend für ihn. Das Zaubern hatte ihn ausgelaugt, und die nächsten Stunden würde er nichts Magisches mehr zustande bringen. Halgrimm suchte nach einem Ausweg. Überall, wo sein Infernozauber gewütet hatte, brannten Büsche und Sträucher oder schwelten die alten Baumriesen. Die vielen prasselnden Fackeln erleuchteten hell die Umgebung, nur unterbrochen von dahinziehen-den Rauchschwaden. Es war überraschend, dass nicht ein regelrechter Waldbrand ausgelöst wurde. Der Moranion war sehr feucht, und die alten Urbäume hatten dicke Rinden, die anscheinend schlecht brannten. Dieser Wald wusste sich gegen Feuer zu wehren. Trotzdem wurde es in seiner Nähe heiß und stickig. Er musste nicht nur eilig von diesem Baum, sondern auch von diesem Platz verschwinden. Er fand nur eine Lösung, um das zu erreichen. Halgrimm suchte sich in dem Wipfel einen

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ausladenden Ast und hangelte sich an ihm entlang bis zum Ende. Die Äste waren hier oben schon erschreckend dünn, sein Halt wippte bedenklich auf und nieder und bog sich durch sein Gewicht leicht nach unten. Schließlich traute sich Halgrimm nicht mehr weiter. Es knirschte schon bei jeder Bewegung. Der Boden unter ihm sah leider sehr weit entfernt aus. ‚Wenn ich mir das Bein breche, bin ich geliefert! ‘ Unentschlossen hing er lächerlich wippend an seinem Ast in der Luft. Seine innere Stimme raunte ihm zu: ‚Na, fühlst du dich jetzt auch noch so wunderbar mächtig? ‘ In diesem Moment kam jemand angerannt, war den Geräuschen nach zu urteilen schon ganz in der Nähe. Na, wunderbar! Er hing hier wie ein nasser Sack, und ausgerechnet jetzt kamen weitere Probleme. Er konnte nur hoffen, dass die Drakaner sich totlachen würden, bevor er herunterplumpste. Eine aufreizende, nach verstopfter Nase klingende Frauenstimme rief ihn belustigt an: „Was für ein niedlicher Anblick! Unser junger Magier macht ein paar Körperübungen. Hast dir dafür einen schön warmen Ort ausgesucht.“ Halgrimm stöhnte auf. Wären es doch Drakaner gewesen, die ihn so gefunden hätten! „Lustig, Oenothera. Ich bin sicher, diese Peinlichkeit wirst du niemanden vergessen lassen! Wärst du so gütig, mir zu helfen?“ Etwas Großes tauchte unter dem jungen Magier auf. „Was ist …? Verdammt, wo kommt denn dieser riesige Bär auf einmal her?“ „Du wolltest doch Hilfe. Lass dich einfach fallen, der Bär wird dich auffangen.“

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Halgrimm konnte seinen Augen kaum trauen, als der Höhlenbär sich aufstellte und seine Arme ausbreitete. Serenoa schrie triumphierend auf, als ihre Finte gelang und der darauf folgende Stich ihres langen Kriegsdolches den Hals ihres Gegners durchbohrte. Etwas erleuchtete hell und kurz ihr Umfeld und es donnerte, doch Serenoa musste ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden. Neben ihr fiel eine weitere Person zu Boden. Es war Rolfah. Die anderen zwei Drakaner hatten ihn in die Zange genommen und überwältigt. Der dritte hatte sie von Rolfah getrennt und beschäftigt. Sie konnte nicht erkennen, ob Rolfah noch lebte, und es blieb ihr auch keine Zeit, lange danach zu schauen. Die beiden Soldaten umstellten sie. Einer versuchte immerfort, hinter sie zu gelangen; sie drehte sich mit, um beide ständig im Auge zu behalten. Eingespielt griffen sie gleichzeitig von beiden Seiten an. Serenoa warf sich nach vorne auf den Boden und entging gerade noch den beiden Einhandäxten. Ohne Schwung zu verlieren, rollte sie sich ab und kam wieder auf die Beine. Dabei vernahm sie, wie etwas durch die Luft wischte. ‚Einer hat sich gleich an mich geheftet! ‘ Sie wirbelte zuschlagend herum und ging gleichzeitig einen Schritt zurück, damit sie bestmöglich einem Axt-hieb entkam. Ihr Schwert verfehlte knapp die nach ihr geworfene heranwirbelnde Axt. Rotierend flog die Waffe über ihren Arm hinweg. Mit dumpfem Ton schlug die Stahlschneide in ihre Brust.

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Faban kam gerade noch dazu, einen Schritt zurück-zuweichen, als der drakanische Gigant auf ihn zusprang. Bei der Schnelligkeit und Reichweite des Drakaners war es eine nutzlose Reaktion. Das schwere Breitschwert fegte beidhändig geführt von der Seite heran, und er war sich sicher, es würde ihn glatt entzweihauen. Etwas sprang laut fluchend von der Seite herbei. Das Breitschwert drosch scheppernd gegen einen Schild, Holzsplitter flogen umher. Verblüfft und dankbar sah der alte Magier, wie Wotan vor ihn gesprungen war und den Schlag abblockte. Die Eisenbänder, die seinen Schild verstärkten, bekamen eine tiefe Delle von dem Einschlag. Ohne sichtbar überrascht zu sein oder innezuhalten, deckte der Hüne nun Wotan mit schweren Schlägen ein. Der Zwerg hatte nicht die Wendigkeit eines Elfen und musste das Breitschwert ein ums andere Mal mit seinem Schild abfangen. Faban war überrascht, wie gut der Erdenbewahrer die heftigen Erschütterungen wegsteckte. Faban wollte Wotan unterstützen, sah sich aber vorher noch einmal um. Entsetzt fand er Serenoa und Rolfah auf dem Boden liegend vor; von ihnen weg liefen zwei Soldaten direkt auf Wotan und ihn selbst zu. ‚Sie sind gleich heran, und ich muss beide zugleich ausschalten. Für zwei Zauber ist keine Zeit – und ein Gebietszauber wird Wotan und mich ebenfalls treffen!‘ Kurz entschlossen nahm er Macht in sich auf und richtete seinen Bann auf einen der Helme der Soldaten. Die Drakaner erreichten ihn. Zeitgleich holten sie mit ihren Äxten aus. Der Zauber wurde vollendet. Beide Waffen wurden mitten im Hieb umgelenkt. Die Schilde, Schließschnallen, Ringe, die Axtköpfe, kurz: alles, was aus Eisen bestand, wurde vom Helm des linken Drakaners angezogen. Die Stahlhaube wurde zu einem Magneten

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mit unglaublicher Anziehungskraft. Zuerst knallten Helm samt Kopf des rechten Soldaten heftig auf die magnetisierte Haube. Dann folgten kurz nacheinander die Axtschneiden und metallverstärkten Schilde. Selbst Faban befand sich zu nahe an dem verzauberten Kopfschutz und wurde durch seine Gürtelschnalle ebenfalls auf ihn zugeschleudert. Dann erlosch seine Veränderung der Realität, und der Helm nahm seinen ursprünglichen Zustand wieder ein. Der Vorwärtsschwung ließ ihn über die zwei Drakaner fallen, die sich glücklicherweise nicht mehr regten. Erschöpft stemmte sich Faban auf seine Knie und sah nach Wotan. Dieser stürmte gerade vor, drängte nah an seinen Feind heran, und drosch mit seinem Kriegshammer nach dessen Beine. Der trollartige Krieger wich zurück und erwischte Wotan mit einer Drehung des Breitschwerts am Waffenarm, als er seinen Hammer nach vorn schwang. Das Kettenhemd platzte zwar auf, verhinderte aber, dass Wotans Arm abgetrennt wurde. Arm und Hammer sanken zu Boden. Kurz verharrte der Hüne und schien abzuschätzen, ob Wotan seinen Hammer tatsächlich nicht mehr schwingen konnte. Dieser Augenblick reichte Wotan für ein schnelles Gebet. Braunes Leuchten um-hüllte seinen lahmen Arm. Faban war bisher nicht bekannt gewesen, dass ein Heilgebet so rasch gewirkt werden konnte. Der Gigant nahm den Zauber mit einem Fauchen zur Kenntnis und entblößte dabei seine kräftigen Eckzähne, die ein weiterer Beleg dafür waren, dass er kein normaler Mensch war. Diese unbekannte, neue Art Halbmensch machte dem alten Magier wach-sende Sorgen für die Zukunft. Als Wotan gleich darauf zu einem neuen Gebet ansetzte, griff der Krieger den Zwerg vehement an. Schlag um Schlag drängte er Wotan zurück,

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der sich ganz auf die Abwehr mit seinem Schild und sein Gebet konzentrierte. Für Faban sah es so aus, als hätte Wotan aufgegeben, den Giganten in einem Waffengang zu besiegen. Der Drakaner versuchte, die Konzentration des Erdenbewahrers zu stören und würde ihn wohl überwältigen, wenn ihm dies gelang. Und Faban konnte nicht helfen, er war schon froh, sich auf den Knien zu halten. Der Schild Wotans ging Stück für Stück zu Bruch, so gewaltig waren die Hiebe, die auf ihn niederprasselten. Wotans Gebet war noch immer nicht abgeschlossen. Schließlich brach das obere Drittel seines Schildes nach hinten weg. Schon kam der nächste Schlag, der diesmal den Schildarm Wotans treffen würde. Der Erdenbe-wahrer verschwamm und tauchte kurz darauf ein Stück weit weg neben dem zuschlagenden Breitschwert wieder auf. Blinzelnd verfolgte Faban die kommenden Momente, die er zuerst weder fassen noch verstehen konnte. Seines Schildes beraubt, wich Wotan den folgenden Schlägen aus, was er wenige Augenblicke zuvor nicht vermocht hatte. Seine Bewegungen waren von einer Geschwin-digkeit, dass es das Auge kaum verfolgen konnte. Mehrmals traf er den Krieger an der Hand, die das Breitschwert führte, während er gleichzeitig der Waffe fortwährend auswich. Erst beim vierten Schlag fiel dem Hünen seine Klinge aus der Hand. Der Drakaner zog mit der Linken einen Dolch. Für Wotan reichte diese Zeit aus, um dem Krieger dreimal gegen sein gepanzertes Knie zu schlagen. Der Riese knickte zur Seite weg. Er stach noch im Fallen mit dem Dolch zu, doch Wotans Gestalt flirrte rasend schnell zur Seite und drosch den Kriegshammer auf den Helm des Hünen. Zuerst ver-schwamm das Auf und Nieder der Hammerhiebe wie bei

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einem Kolibri, dann plötzlich waren sie wieder so langsam, dass Faban sie normal erkennen konnte. Die Veränderung der Realität war immer nur von kurzer Dauer, Wotans Zauberwirkung war abgelaufen. Die Schläge hatten jedoch bereits ihre Wirkung entfaltet. Mit einem letzten Schlag auf den Kopf sackte der Hüne mit zerbrochenem, eingedelltem Helm zusammen. ‚Oh nein, Wotan. Du hast ein Gebet der Schnelligkeit gewirkt!‘ Faban wusste um die Folgen, die ein solches Wunder nach sich zog. Nur als letzter Ausweg wurde dieses Gebet von Priestern benutzt. Es war schon ein Wunder, dass der Erdenbewahrer überhaupt die Konzentration im Kampf so lange hatte aufbringen können, um diesen langwierigen Bann zu wirken. Wotan stand apathisch mit runterhängenden Armen da und hechelte nach Luft, die Augen weit aufgerissen. Langsam kippte er nach vorn wie ein gefällter Baum. Wie Faban erwartet hatte, verkramp-fte sich der ganze Körper des Zwergs, und Schaum quoll ihm aus dem Mund. Der alte Zauberer betete, dass Wotans Körper die Folgen des Schnelligkeitsgebetes überstand, und kroch auf ihn zu. In den kommenden Stunden würde der vollkommen erschöpfte Zwerg nur noch regungslos daliegen können und ein leichtes Opfer für jeden Feind darstellen. Voller Befriedigung zog Karr sein Schwert aus dem Bauch des vor ihm liegenden Drakaners. „Nicht gut genug, Abschaum. Ihr habt hier echte Schwertkämpfer gegen euch.“ Kurz blickte er nach beiden Seiten zu Enyu und Toma. Enyu hatte ebenfalls seinen Gegner niedergestreckt. Das Gift des Elfen war durch den Schaum vor dem Mund des Drakaners sichtbar zum Einsatz gekommen. Für Toma

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sah es auch gut aus, befand Karr. Sein Widersacher blutete stark aus einer Beinwunde und bewegte sich nur noch schwerfällig. Es krachte, dass es Karr in den Ohren gellte, und ein Blitzstrahl schoss an ihm vorbei. ‚Ein Magier! Den Bastard hol ich mir!‘ Karr lief einfach in die Richtung, aus welcher der Blitz gekommen war. Schnell wurde es dunkler um ihn, das fahle Grün des magischen Lichtes von Halgrimm ver-schwamm zu Grau und Schwarz. Seine Augen brauchten einige Augenblicke, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dafür vernahm er vor ihm liegenden Kamp-feslärm, Waffen, die immer wieder einander trafen. Wenige Schritte später entdeckte er einen kleinen Tan-nenbaum, der angesengte, noch rauchende Äste an einer Seite hatte. Dahinter bewegte sich jemand. Es war ein heftig atmender Mann, der gerade einige Gesten aus-führte. Seine Hände begannen zu leuchten und zogen bei jeder Bewegung Lichtschlieren in der Luft nach sich. Seine gesamte Konzentration lag auf dem erhellten Kampfgeschehen hinter Karr. Ihn selbst hatte der Magier bisher noch nicht bemerkt, stellte Karr erfreut fest. Einige Fuß weiter rechts erblickte Karr zwischen Baum-stämmen hindurch zwei Gestalten, eine deutlich die andere überragend, die aufeinander einschlugen. ‚Das ist ja Corsan – gegen einen dieser Stahlriesen!‘ Corsan war sichtlich erschöpft. Karr erkannte, dass sein nächster Angriff viel zu kraftlos ausfiel. Der Hüne glitt, mit seinem Breitschwert beidhändig parierend, in den Schlag hinein und drückte fest gegen das Langschwert Corsans. Mit seinem Gewicht drängte er Corsan gegen einen Baum und blockierte gleichzeitig das Langschwert. So bedrängt, konnte Corsan den Kampfdolch in seiner

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anderen Hand nur wirkungslos gegen die schwere Rüs-tung drücken. Unvermittelt hielt der Krieger in seiner Linken ebenfalls einen Dolch und stach zu. Hilflos musste Karr mit ansehen, wie sein Gefährte starb. Hass überflutete das ganze Denken Karrs. Wie konnte es nur sein, dass diese minderwertigen Kreaturen einen von ihnen töteten? Mit hoch über dem Kopf erhobenem Schwert stürzte er sich auf den zaubernden Magier. Mit zwei Sätzen war er heran, hieb sein Schwert herab und schrie dabei seinen Zorn heraus. Sein Schrei erstarb abrupt, ebenso wie sein Vorwärtsschwung. Karr verstand nicht, was mit ihm passierte, wieso es nicht weiterging. Mitten in der Bewegung erstarrt, stand er vor dem Magier, das Langschwert einen Fuß über dem Haupt des Drakaners schwebend. Ein Knistern ging über den Wald-läufer hinweg. Die Kleidung, der Lederpanzer sowie auch Haut und Haare von Karr schienen von einem einheitlichen grauen Ton überzogen zu werden. Vom Ast einer Buche, ganz in der Nähe des drakanischen Hexers, sprang ein drahtiger Elf herunter. Seine edle Lederrüstung zierte das Symbol eines Urkorr-gaans. „Bei den Dämonen, wo war denn Hauptmann 23 eben?“ Beim Fluchen zog der Elf einen Streitkolben und schlug kräftig gegen die soeben entstandene Steinstatue. Mit lautem Poltern brach deren Kopf ab und rollte auf den Waldboden. „Zunharm, da vorn werden gerade unsere letzten Soldaten überwältigt.“ Der Magier entgegnete laut auf die Feststellung des Elfen: „Manöver Kettenblitz!“ ‚Reiß dich zusammen, alter Mann! Für uns sieht es schon schlecht genug aus!‘

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Mit eisernem Willen erhob sich Faban, hielt sich sein Kreuz und schimpfte über sein Alter. Er spürte eine anschwellende Machtkonzentration, mit der er schon die ganze Zeit gerechnet hatte. Karr konnte er nirgends entdecken. Enyu und Toma hatten die letzten sichtbaren drakanischen Soldaten besiegt und standen zwei Pferde-längen vor ihm in abwehrbereiter Haltung. Sie starrten auf einen Punkt. Jetzt sah Faban ebenfalls, dass sich gar nicht weit entfernt ein Schemen mit leuchtenden Händen aus den Nachtschatten geschält hatte: der gegnerische Hexer! Mit letzter Anstrengung öffnete er sich noch einmal für die Macht, kämpfte um die Kontrolle der in ihm reißenden Energien. Etwas entlud sich und ein summendes Knistern wurde schnell lauter. Ein hell strahlender Blitz in Form einer hin- und herzuckenden Kugel flog auf sie zu. Bevor Faban reagieren konnte, traf sie Toma. Seine Gestalt wurde für den Bruchteil eines Herzschlages zu einem schwarzen Schatten im gleißenden Licht, dann hüpfte der Kugelblitz zu Enyu über und hinterließ einen zuckenden, flammenden Körper. Kurz drauf brach auch Enyu qualmend zusammen. Um Faban herum fing es an zu dampfen. Der Waldboden zu seinen Füßen wurde knochentrocken, ebenso die Luft um ihn herum. Die todbringende Lichtkugel schlug knisternd einen Haken und zischte dann auf Faban und den ohn-mächtigen Zwerg zu. Die Sphäre aus Nebel, die Faban umschloss, schien sich von innen nach außen aufzulösen, der milchige Dunst verschwand. Die gesamtenm, Nebel-tröpfchen sammelten sich zu einer dünnwandigen Blase aus Wasser, die den alten Magier und Wotan umgab. Nur einen Wimpernschlag später schlug der Kugelblitz in die Wasserblase ein. Unzählige sich verästelnde Blitzstränge huschten über die Wasserkugel und erhellten die Nacht

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wie ein Gewitter. Keine der Entladungen durchdrang die Wasserwand. Einen Augenblick später hatte der Blitz seine Energien verloren und war absorbiert. Der alte Magier ging in die Knie, während zugleich um ihn herum ein Schwall Wassertropfen auf den Boden niederprasselte. Er hatte alles gegeben und war am Ende seiner Kräfte. Faban wollte nicht mit hängendem Haupt sterben, und so schaute er auf, seinem Schicksal entgegen. Um ihn herum erblickte er Serenoa und Rolfah, beide verkrümmt auf dem Waldboden liegend, und die brennenden Körper von Toma, Enyu und Olagrion. Er befürchtete, dass auch die Gefährten, die er nicht sehen konnte, den Tod ge-funden hatten. Wenn nicht, sollten sie fliehen, denn der drakanische Hexer hatte bestimmt noch Kraft für weitere Zauber, und es wäre seltsam, wenn es nicht noch einen drakanischen Priester gäbe. Seine guten Wünsche begleiteten besonders seinen Schutzbefohlenen Hal-grimm, obwohl er nicht glaubte, dass der junge Adept eine große Chance hatte zu überleben. Vier Gestalten kamen auf ihn zu. Zwei in edlen Leder-rüstungen, die sie als Hochgestellte auswiesen, und zwei weitere trollartige Halbmenschen in ihren dicken Pan-zern. Der hintere trug ebenfalls eine bessere Ausrüstung und erschien breiter als die anderen Hünen, die Faban bisher gesehen hatte. Sein Gesichtsausdruck schien so hart wie aus Stein gemeißelt. Wie viele dieser gefährlichen Krieger hatte das Drakanische Imperium? Faban schmer-zte es, dass seine Suchtruppe und damit die Vierfürsten-tümer diesen wichtigen Wettlauf verloren hatten. Die Zukunft der Fürstentümer und des Ordens würde dunkel werden. Zehn Pferdelängen vor Faban verharrten die vier Drakaner. Die Krieger und ein Elf sicherten die Um-

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gebung, der Magier trat ein paar Schritte vor und sprach ihn an. „Ich bin Zunharm, der Anführer, und der edle Elf hinter mir ist der Urkorr-gaan Entelda. Ihr habt tapfer ge-kämpft. Bevor ich dich töte, sollen euch diese Worte ehren.“ Was sollte er dazu schon sagen, fragte sich der alte Magier. Allerdings stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass ihn diese Achtungsbezeugung ein wenig freute. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Oenothera zu diesem männlichen Gehabe gesagt hätte. Faban nickte Zunharm zu und erwartete den letzten Zauber, der ihn aus dieser Welt reißen würde. Ein metallisches Bersten schrillte durch die Luft, und etwas Schweres fiel zu Boden. Die beiden verfeindeten Magier wandten aufgeschreckt ihre Köpfe dem Geräusch zu. „Was beim Abgrund …?“, entfuhr es Zunharm. Ver-ständnislos sah der Urkorr-nor, wie der Körper des Namenlosen 243 zu Boden gefallen war. Sein behelmter Kopf flog in hohem Bogen durch die Luft. Haupt-mann 23 fing gerade den letzten Schwung seines Bihän-ders ab und stürmte dabei schon auf Entelda zu, der näher an ihm stand. ‚Ein Trugbildzauber, der diesen Angriff vortäuscht? ‘, fragte sich Zunharm. Dies konnte nicht der alte Mann bewerkstelligt haben, der war deutlich am Ende. Er spürte, wie Entelda einen Bann errichtete, und fing selbst umgehend einen Zauber an. Hauptmann 23 griff, ohne seinen Sturmlauf zu verlangsamen, mit seiner Linken an die Brust. Sein Arm schwang zu Zunharm aus, und der Urkorr sah mehrere Eisenstifte auf sich zufliegen. Zunharm drehte

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sich weg, damit er mit seiner schmalen Seite weniger Trefferfläche bot, und hob schützend seinen Arm zum Kopf. Nur drei Eisenstifte trafen ihn, wovon einer sich leicht durch eine Lücke seines Lederpanzers in den Unterarm bohrte. Es war keine gefährliche Verletzung, der Schmerz und die Abwehr hatten jedoch Zunharms Zauberwirken unterbrochen. Ohne Zögern begann der Urkorr-nor von Neuem, Macht in sich aufzunehmen. Die Kampfausbildung der Urkorr-nors hatte er glanzvoll abgeschlossen, und das kam ihm jetzt zustatten. Er spürte, wie Entelda sein magisches Gewebe fertigstellte. Der Arm des Elfen richtete sich auf den Namenlosen. Hauptmann 23 streckte sich im Lauf, schlug einhändig zu und ließ seinen Arm, so weit er konnte, nach vorn schnellen. Das letzte Viertel der Klinge zerfetzte Enteldas Unterarm. Fließend drehte sich der Hüne mit dem Schwung seines Schlages weiter, fasste seine Waffe mit der anderen Hand nach und vollführte mit ihr eine Kreisbewegung. Die scharfe Klinge schnitt glatt durch Enteldas Bauch und tötete den Urkorr-gaan augenblick-lich. Hauptmann 23 stoppte mit dem Rücken zu Enteldas Leiche, seinen Körper zu Zunharm ausgerichtet. Ohne lange innezuhalten, preschte er weiter auf Zunharm los. Dabei hielt er seine Waffe nun so, dass die Spitze nach unten statt nach oben zeigte. Der Namenlose war zwölf Fuß von Zunharm entfernt, als dieser seinen Zauber vollendete. Sein rechter Arm leuchtete auf, und die geballte Faust schnellte nach vorn. Hauptmann 23 ging in die Knie und rammte seinen Bihänder vor sich in den Boden. Ein Blitz löste sich aus der Faust des Urkorr-nors. Nummer 23 zog seine Hand von der Waffe. Mit einem Knall schlug der Blitz in die Stahlklinge ein und wurde

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gefahrlos in den Boden abgeleitet. Zunharm sah Num-mer 23 mit einem Dolch in der Hand hinter dem glühenden Bihänder aufspringen. ‚Das kann doch nicht sein! ‘, waren seine letzten Gedanken. Verständnislos schüttelte Faban seinen Kopf. Er war zu verblüfft, um irgendeine andere Regung hervorzubringen. Eben noch hatte er mit seinem Leben abgeschlossen, dann griff aus heiterem Himmel einer dieser Koloss-krieger seine eigenen Leute an. Und er besiegte sie auch noch alle, gewann gegen zwei Benutzer der Macht. Faban hatte dem Krieger keine Chancen bei diesem Kampf eingeräumt. Das alles war so unglaublich, dass er ernst-haft erwog, spirituell zu werden und dem Allmächtigen zu danken – etwas, das er bisher noch nie getan hatte. Wotan als Priester eines Behüters, die wiederum die höchsten Diener des Schöpfers waren, konnte ihm dabei bestimmt Rat geben. Faban zögerte bei diesem Gedan-ken. Nun, so weit musste er dann auch wiederum nicht gehen und sich vor dem Erdenbewahrer solch eine Blöße geben. Der drakanische Krieger hatte einen Moment, in Ge-danken versunken, bei seinem letzten Opfer verharrt. Dann zog er seine angeschmolzene Waffe aus dem Bo-den. Mit festen Schritten ging er auf Faban zu, grimmig, mit steinernem Blick, den blutigen Dolch und das noch leicht rauchende Schwert in den Händen. Sein Anblick reichte, um Faban wieder mit seinem Leben abschließen zu lassen und zudem mit dem Schöpfer wegen dieser nur beinahe geschehenen Rettung zu hadern. Kurz bevor der Koloss den alten Magier erreichte, holte er mit dem Schwert aus. Es fuhr hernieder und spaltete

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dem von Olagrion besiegten Hünen den Kopf, der einige Fuß vor Faban niedergestreckt lag. Dann sank der Koloss vor Faban auf ein Knie herab. Mit tiefer Stimme und im Akzent der Drakaner sprach er ernst zu Faban: „Meine Benennung ist 23, Hauptmann der zweiten Bande der Namenlosen, Truppenverband der zweiten Schotahr von Hoch-Urkorr-gaan Laukim. Ich bitte Euch um Asyl.“ Eine Elfe mit blutender Nase und geschwollenem Ge-sicht, ein junger Mann mit Verbrennungen, angeschmor-ten Haaren und Kleidern sowie ein gewaltiger Bär stürmten auf den Schlachtplatz. Sie stoppten abrupt, als sie Faban mit einem der trollartigen Krieger friedlich an einem Feuer sitzen sahen. Der Hüne hängte gerade einen Wasserkessel an drei sich gegenseitig abstützenden Ästen über dem Feuer auf, während sich der Ordensmeister um einen regungslosen Wotan kümmerte. Alle drei gafften erstaunt mit offenen Mündern als sie diese unerwartete Szene erblickten. Faban hörte sie und drehte sich zu ihnen um. 23 erhob sich. „Welch eine Freude! Ich wagte nicht zu hoffen, dass ihr überlebt habt.“ Misstrauisch hielten die drei Abstand und beäugten Faban und den Drakaner. Halgrimm meinte: „Das kann eine Falle sein. Eine Illusion.“ Der alte Magier seufzte. „Halgrimm, setz deinen Verstand ein. Die Drakaner verwenden kaum Illusionen, und selbst wenn dies hier die Ausnahme sein sollte: Was für einen Sinn sollte sie wohl haben? Sie wäre einfach zu zerstören. Frag mich etwas, dass der Schöpfer dieser Illusion nicht

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wissen kann! Was er nicht weiß, kann er nicht in die Illusion einbauen.“ „Nun gut, er klingt zumindest nach meinem alten Leh-rer“, raunte Halgrimm Kev und Oenothera zu. „Welchen Machtgrad kann und darf ich beherrschen?“ „Ich habe vor einigen Tagen gesehen, wie du einen Vakuumzauber des sechsten Machtgrades gewirkt hast. Du darfst aber nur Banne bis zum zweiten Machtkreis benutzen. Und wer ist hier alt?“ „Ja, er ist es. Das ist typisch mein … Meister Faban!“ „Kommt endlich her. Halgrimm, du hast Brandwunden, die müssen versorgt werden. Verzeih, Oenothera, bei deinem Gesicht, fürchte ich, kann ich nichts machen.“ Vorsichtig näherten sie sich dem Feuer. Als sie es erreicht hatten, knurrte der Höhlenbär böse den Drakaner an. Oenothera blickte wie eine Raubkatze zu dem draka-nischen Krieger, was mit ihrem geschwollenem Gesicht recht eindrucksvoll aussah. „Wo sind die anderen und wieso ist dieses Monster hier?“ „Oenothera, hüte deine Zunge“, fuhr Faban auf. Er sah nach 23. Der zeigte keine Regung und starrte mit verschränkten Armen zu Boden. Etwas ruhiger fuhr Faban fort: „Ich möchte euch Hauptmann …“ Faban stockte. „Nun ja – Hauptmann 23 vorstellen. Der Retter meines Lebens, und ich glaube auch der Retter eures Lebens.“ „Der Retter unseres Lebens?“, wiederholte Oenothera giftig. Dann schrie sie auf, denn sie hatte die nebenein-anderliegenden Toten im Dunkeln etwas abseits des Feuerscheins entdeckt. Ohne sich noch um etwas anderes zu kümmern, stürzte sie zu ihnen, um sich Gewissheit zu verschaffen. Ein Schluchzen entrang sich ihrem Mund. Halgrimm sah mit Entsetzen, dass alle anderen aus ihrer

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Gruppe getötet worden waren. Tränen traten in seine Augen, als er zum Zwerg sah, der blass und zuckend auf einem Blätterbett neben dem Feuer lag. „Wie geht es Wotan?“ „Ich bin mir sicher, dass er es schaffen wird, mein Junge. Er wird wohl eine Zeit lang brauchen, bis er weiterreisen kann. Leider sind wir die Einzigen, die den Kampf über-lebt haben.“ „Und dieses Ungeheuer“, flüsterte Oenothera rau. „Es ist schwer zu verstehen, aber bitte vertraut mir. Ohne den Hauptmann wären Wotan und ich jetzt tot. Er ist nicht unser Feind und will dem Drakanischen Imperium entfliehen. Wenn er uns hätte töten wollen, wäre ihm das schon längst möglich gewesen. Bevor wir jedoch dies alles klären, lasst uns zuerst unsere Pferde holen und ein Lager aufschlagen. Wir werden einige Tage Ruhe benöti-gen. Und wir müssen unsere Freunde begraben.“ Erst nach dieser eindringlichen Erklärung verwandelte sich Kev in seine eigentliche Gestalt zurück, und Oeno-thera enthielt sich weiterer Bemerkungen. Halgrimm gra-tulierte seinem Lehrer still. Die Autorität seines Meisters und das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde, entschärften einstweilen die Situation. Nummer 23 war ruhig und gelassen, und nicht einmal Kevs Verwandlung schien irgendeine Regung in ihm hervorzurufen. Kev hielt sich nach seiner Rückverwandlung die Seite und hatte beim Atmen sichtliche Schmerzen. Oenothera wandte sich ihm besorgt zu und legte eine Hand auf seine Schulter. „Kev! Der Schlag des Drakaners hat dich doch schlim-mer verletzt.“ „Ich fürchte, mindestens eine Rippe ist gebrochen.“

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„Du hättest etwas sagen sollen. Nein, vergiss es. Ich weiß, das war Unsinn, was ich gerade von mir gegeben habe. Du hast tapfer ausgehalten, denn wir hätten ja noch in einen Kampf geraten können.“ Kev konnte den Blick aus ihren Mandelaugen, der inten-siv auf ihm ruhte, nicht deuten. „Es ist nicht so schlimm. Du weißt, wenn ich mich verwandle, heilen meine Ver-letzungen immer ein wenig. Bei einem Bruch dauert es nur länger.“ „Komm, ich lege dir einen Stützverband an. Das sollte deine Beschwerden lindern und stabilisiert die Rippe.“ Kurzerhand führte sie ihn zum Lagerfeuer und zog ihm sein Lederhemd aus. Mit Leinenstreifen aus ihrer Gürteltasche legte sie ihm geschickt einen festen Verband um den Brustkorb an. Kev sah etwas hilflos dabei aus, als die Elfe wie eine Naturgewalt über ihn hereinbrach. Faban musste bei dem Anblick schmunzeln und sagte: „Kev, du solltest erst einmal keine schweren Arbeiten erledigen. Schone dich! Also gut, dann lasst uns die Sachen holen!“ Fackeln wurden entzündet, Pferde und Ausrüstung wur-den aus der Erdkluft geholt und ein Lager an einer ge-eigneten Stelle abseits des Schlachtfeldes aufgeschlagen. 23 war dabei eine große Hilfe. Routiniert und bewandert erfüllte er schweigend alle anstehenden Arbeiten. Ein heißer Fleischeintopf wurde von Oenothera zube-reitet, und die Überlebenden ruhten sich dankbar bei der warmen Mahlzeit am Lagerfeuer aus. Bitter dachte Halg-rimm an Toma, der bisher immer ihre Gerichte gekocht hatte. Wotan erwachte beim verteilen des Essens aus sei-ner Ohnmacht, war aber gänzlich unfähig, sich zu bewegen, und musste gefüttert werden. Mit zwei Decken warm eingepackt, lag er mit beim Feuer.

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Oenothera konnte kaum etwas herunterschlucken, ihre Trauer erstickte jeden Appetit. Dahingegen fraß Kev trotz seines sichtbaren Kummers Unmengen von Brot und Fleisch in sich hinein, als wäre er dem Hungertod nahe. Halgrimm betrachtete während des Essens den Wechselbalg. Irrte er sich oder war Kevs Gesicht auf einmal in dieser Nacht hager geworden? Er erinnerte sich an die Worte des Wandlers, dass ihn Verwandlungen ausmergelten. Sein Lehrer erzählte währenddessen, was Wotan, ihm selbst und den anderen im Kampf widerfahren war, wie 23 eingegriffen und ihn zuletzt um Asyl gebeten hatte. Halgrimm horchte bei dem Gefecht des Hünen gegen den drakanischen Magier und Priester auf und wandte sich an 23. „Eine wahrhaftig beeindruckende Leistung, eines Kampfmeisters würdig. Ich frage mich nur, woher du wusstest, dass euer Anführer einen Blitz gegen dich einsetzen würde …“ Zum ersten Mal sah der trollartige, grünhäutige Krieger Halgrimm direkt an. Bei dem fremdartig kantigen, haar-losen Kopf, den dicken Eckzähnen und den grauen harten Augen, die ihn fixierten, bekam Halgrimm ein ganz mulmiges Gefühl. „Das wusste ich nicht. Allerdings reagierte Urkorr-nor Zunharm in Notsituationen immer mit dem Zauber, den er am besten beherrschte. Damit wurde er berechenbar, und ich entschied mich, ihn als Letztes anzugreifen. Für den Fall, dass ich nicht schnell genug beide Urkorrs töten konnte, hatte ich bei ihm die besten Chancen zu überleben.“ „Ich verstehe. Aber wieso hast du das getan und deine Leute verraten?“

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„Meine Leute sind nicht die Drakaner, sondern diejeni-gen, die von den Drakanern benutzt werden wie Werk-zeuge. Konnte ich denn deutlicher zeigen, dass ich mit dem Drakanischen Imperium breche? Wie hätte ich sonst jemals das Vertrauen von jemandem aus den Vierfürsten-tümern gewinnen können? Gleichzeitig ist das Scheitern dieser Mission meine Rache für die vielen Jahre meiner Versklavung.“ Faban strich über seinen gestutzten, fast bis zum Kinn reichenden Schnurrbart und dachte nach. „In der Tat, du hast dich deutlich von dem drakanischen Reich abge-wandt. Einige würden aber gerade wegen dieses Treue-bruchs tiefes Misstrauen dir gegenüber hegen. Was ist dir bei den Drakanern widerfahren, dass du dich dazu entschlossen hast?“ Harsch entgegnete 23: „Ich habe niemals einen Treue-schwur abgegeben und wurde niemals auch nur gefragt, ob ich dem Eisernen Thron als Soldat dienen will. Somit kann ich auch keine Treue gebrochen haben. Von Kind-heit an wurden wir Namenlosen zum Kampf gezwungen, ja, wir sind sogar dafür gezüchtet worden, wenn ich einige heimlich belauschte Gespräche richtig verstanden habe. Viele meiner Art überleben die ersten drei Jahre der Ausbildung nicht. Wir werden absichtlich dumm gehal-ten, nur die Kunst des Kampfes wurde uns in jeglicher Form gelehrt. Nach der langen qualvollen Ausbildung gab es danach nur noch eines in unserem Dasein: das Leben des Krieges, das Leben eines Soldaten. Wir Na-menlosen hatten immer nur eine Wahl: sofort zu sterben oder als Soldat zu dienen. In den Jahren als Krieger habe ich durch Beobachten und Lauschen so viel wie möglich über die Welt gelernt und mir meine eigenen Gedanken gemacht. Ich erkannte, dass die Drakaner mir mein

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Leben gestohlen haben. Und ich hörte von einem Land, in dem die Freiheit und die Selbstbestimmung ein Recht für jedermann sind. Ich entschied mich, mir mein Recht zu nehmen, und wartete nur noch auf eine Gelegenheit.“ Mit einem Schnauben fragte Oenothera: „Wenn das wahr ist, wieso hast du denn die Krieger von deiner Art nicht in deine Pläne eingeweiht? Einen hast du sogar getötet!“ Auch die Elfe wurde von dem steinernen Blick des Kriegers in den Bann gezogen, der durchdringend und Angst einflößend war. In der Stimme von 23 jedoch lag Trauer. „Es war nicht möglich, sie mit einzubeziehen. Nur einige Namenlose denken so wie ich. Die meisten aber haben es nie gelernt … ich weiß nicht, wie ich es umschreiben soll. Ich nenne es: für sich selbst denken, ein Gefühl als Person gewinnen. Wenn jemand seit der frühsten Kindheit nichts anderes kennt und ihm beigebracht wird, dass nur Gehorsam gut und richtig ist, dann wird es schwer, daraus auszubrechen. Viele Namenlose sind wie – es schmerzt mich, das zu sagen –, sie sind wie Hunde, die ihren Befehlshabern treu gehorchen. Die vier Namenlosen in meiner Schar gehörten dazu.“ Oenothera kniff die Augen zusammen. „Das klingt alles sehr stimmig, aber ich glaube und vertraue dir nicht.“ „Dann begehst du einen großen Fehler“, verkündete Kev mit ungewohntem Nachdruck. Staunend sah die Elfe in sein aufgebrachtes Antlitz. „Wieso vertraust du dann mir? Ich bin ebenfalls von den Drakanern jahrelang benutzt worden und habe ihnen den Rücken zugekehrt. Er hat sich genau wie ich danach gesehnt, das Joch des Eisernen Thrones abzuwerfen, nur dass er nicht das Glück hatte, befreit zu werden. Nein, er musste alles allein bewerk-stelligen und hat es nach langer Vorbereitung dann

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geschafft. Das ringt mir höchsten Respekt ab. Du solltest nicht wegen des Todes deiner Gefährten deinen Hass auf die Drakaner auf ihn kanalisieren. Er ist ebenfalls ein Opfer des Imperiums.“ ‚Nur dass er nicht gerade wie ein Opfer aussieht.‘, dachte Halgrimm bei Kevs letzten Worten. Der Mund Oenotheras hatte sich bei Kevs Rede verwundert geöffnet. Nun schloss er sich zu einem dünnen Strich. Grimmig schaute sie in die Flammen und zog ihre Knie zu sich heran, die sie fest umschlang. Kev wandte sich nach einem Moment der Stille 23 zu und sagte mit feierlichem Ernst in der Stimme: „Du bist frei. Und um das deutlich zu machen und die letzten Fesseln des Eisernen Thrones abzulegen, solltest du einen Na-men bekommen. Niemand soll dich länger mit einer Nummer anreden. Du hast Glück: Die meisten können sich den Namen nicht aussuchen, den sie tragen. Wähle dir einen Namen!“ Beifällig nickte der alte Magier zu diesen Worten. „Ja, das ist der beste Anfang. Wenige haben sich einen Namen so sehr wie du verdient.“ Zum ersten Mal zeigte das Gesicht des Hünen etwas anderes als Härte. Erstaunen und dann ein Schimmer von Freude schienen sich darin zu spiegeln. Nachdenklich verharrte er einige Zeit, unschlüssig, welchen Namen er wählen sollte, während die anderen geduldig warteten. Ein heiseres Flüstern durchbrach die Stille. Wotan konnte sich nicht aufrichten und war zu mehr als einem Raunen nicht imstande. „Es wäre mir eine Ehre, jemandem wie dir einen Namen geben zu dürfen, wenn du ihn denn annehmen magst. Ich will dir nach der Tradition meines Volkes in der alten Sprache einen Namen geben, der dich umschreibt. Ich

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will dich Shanntak nennen. Das bedeutet: Kettenbre-cher.“ „Ich danke dir, Zwerg, und nehme an. Von nun an bin ich Shanntak – und von nun an bin ich frei!“

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Welt Tepor, Drakanisches Imperium, Reichshaupt-stadt Erleovant Ein Rabe flog über den Fluss Weisenwasser auf die mächtige Stadt Erleovant zu, die größte Besiedlung so-wohl vom Umfang als auch von der Anzahl der Einwohner her in der gesamten bekannten Hemisphäre des Kontinents Solandra. Unbeeindruckt überflog der schwarze Bote die Stadt der tausend Tore und Türme mit ihrem regen Treiben. Mächtige Schutzmauern mit Zinnen zu beiden Seiten umfassten Erleovant, die breit genug waren, um darauf vier Mann nebeneinander gehen zu lassen. Innerhalb des Ringwalls teilten ebenfalls Stein-wände die Stadt in viele Viertel auf und sorgten für eine wehrhafte Verteidigung, selbst wenn die äußeren Wälle genommen würden. Es gab keine richtige Vorstadt, die um Erleovant heranwuchs. Nur wenige Häuser lagen außerhalb einer Schutzmauer. Ab einer bestimmten An-zahl neuer Gebäude wurde ein weiterer Wall aufgebaut und in die Stadtverteidigung mit eingefügt. Die Knoten-punkte, an denen die Stadtbefestigungen zusammentraf-en, nahmen dicke sechseckige Türme ein, die den Über-gang von einem Wehrgang zum nächsten sicherten und als kleine befestigte Bollwerke dienten. Bei langen Stadt-mauerabschnitten war in der Mitte ebenfalls solch ein Turm. Die Übergänge von einem Viertel zum nächsten Stadtteil waren mit stahlverstärkten Toren und Vertei-digungsanlagen gesichert. Es gab zahlreiche Übergänge, damit man von jedem Stadtteil in einen benachbarten gelangen konnte. So musste man bei einem Rundgang durch die Stadt unzählige Tore durchschreiten und sah in jeder Richtung Türme in die Höhe ragen. Reisende, die

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diesen Anblick erlebten, hatten Erleovant naheliegend die Stadt der tausend Tore und Türme getauft. Dem Raben waren die gewaltigen Anstrengungen, die man zum Aufbau dieser Stadt betrieben hatte, völlig einerlei. Er beachtete weder die Kanäle noch die daran gelegenen gewaltigen Wasserräder, welche Mühlen, Säge oder Hammerwerke antrieben. An die heiße Luft der Hochöfen der Schmieden aus dem nächsten Bezirk, welchen er überflog, hatte er sich schon längst gewöhnt. Er ließ sich von nichts beirren. Seine Gedanken kreisten allein um die leckeren Happen, die es am Ende seiner Reise geben würde, in der Festungsanlage des Eisernen Thrones im nördlichen Teil der Stadt. Er sank tiefer und steuerte einen der vier Türme einer kleinen quadratischen Festung an. Die Festungsmauern ragten einige Fuß über den Stadtwällen auf, und auch die Türme waren höher als die der Stadt. Die Bastion beeindruckte weder mit Größe noch mit einem ausfallenden Festungsaufbau, der aus einem inneren Zwinger und dem äußeren Verteidi-gungswall bestand. Ihre Besonderheit war ihre Substanz, das Baumaterial welches für die Festung verwendet worden war. Metallisch dunkelblau glitzerten Mauern und Türme im Licht der Sonne – der Eiserne Thron, Sitz des Imperialen Rates von Drakanien. Die Legierung, aus der die Bausubstanz der Burg bestand, hatte nichts mit dem gewöhnlichen Eisen zu tun, das für Werkzeuge und Waffen verwendet wurde. Für die Namensgebung war dies nicht relevant gewesen, hierin spiegelte sich nur der Ausdruck von Stärke und Herrschaft wider. Sanft glitt der Rabe zu einer kleinen Plattform, die oben aus der Seite eines Turmes ragte. Endlich würde er von dem lästigen Röhrchen an seinem Bein befreit werden,

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das er so häufig auf dem Weg hierher transportierte. Und endlich gab es leckeres Futter. „Ich habe diese Ratssitzung einberufen, weil wichtige Nachrichten vom Ratsherrn Hoch-Urkorr-gaan Laukim eingetroffen sind.“ Der Sprecher, ein Zwerg in den edlen Roben eines imperialen hohen Ratsherrn in Mitternachtsblau mit silbernen Säumen und dem drakanischen Wappengreifen auf der Brust, blickte in die Runde. In einem Kreis stehend, sahen ihn die mächtigsten Urkorrs des Reiches erwartungsvoll an: der herrschende Zirkel des Imperiums. Die fünfzehn stärksten Urkorr-nors und Urkorr-gaans waren hier versammelt. Fünf weitere Räte fehlten. Sie waren als Kriegsherren im Einsatz und weit von Erleovant entfernt. Fünf Elfen und vier Zwerge waren unter den Urkorr-gaans vertreten, jedoch keine Gnome. Die letzten sechs waren Urkorr-nors, wie immer Menschen. Eine fensterlose Halle, gewärmt durch zahlreiche Kohlebecken und beleuchtet von unzähligen Kerzen in mehrarmigen, mannshohen Lüstern, war der Versamm-lungsort des Imperialen Rates. Er befand sich sicher geborgen in der Mitte des inneren Zwingers. Ein einziger ausufernder Teppich bedeckte den Großteil des ehernen Fußbodens. Die metallischen Wände waren verhüllt mit dunkelroten schweren Stoffbahnen. Trotz der Kohle-becken, des Teppichs und der Stoffbahnen strahlten die Wände eine permanente, in die Knochen ziehende Kälte aus, die nur in den Sommermonaten verschwand. Weder Soldaten noch Diener waren anwesend, und es war diesen bei Todesstrafe verboten, sich in der Nähe der einzigen Tür des Ratsraumes aufzuhalten. Zusätzlich legte der Rat

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bei jeder Versammlung eine magische Geräuschbarriere um die Halle. Zwei Ratsherren wurden dafür abgestellt, ihre Umgebung auf fremde Magiewirkung zu überprüfen. „So sprecht, Grontabar, und spannt uns nicht auf die Folter. Wir alle hatten schon früher mit einer Botschaft von Hoch-Urkorr-gaan Laukim gerechnet“, forderte ein schwarzhaariger Urkorr-nor den Zwerg auf. Grontabar hielt darauf hin ein kleines Stück Pergament in die Höhe. „Vor vier Stunden kam dies zu uns. Ratsherr Laukim ist gescheitert. Er konnte nicht nach Flüsterstein vordringen, und der Scheidepass ist versperrt. Wie auch immer das geschehen konnte, Fürst Aldan hat rechtzeitig seine Armee zum Scheidepass gebracht und ihn blockiert. Wir wissen alle, wie sehr das Gelände dort einen Ver-teidiger begünstigt. Hoch-Urkorr-gaan Laukim wird nicht durchbrechen können.“ „Dann können unsere Sucher nicht ins Imperium zurück“, erzürnte sich ein weibliches Ratsmitglied. „Jedenfalls nicht auf dem kurzen Weg“, fügte ein elfischer Urkorr-gaan an. „Der Wolkenpass weit im Süden müsste schon von der vierten Schotahr unter Ratsherrin Jelara besetzt sein. Die Sucher werden diesen Weg nehmen, sobald sie bemerken, dass Flüsterstein nicht belagert ist.“ Ein ergrauter, betagter Zwerg fuhr erbost auf: „Das wird ein weiter Weg für die Sucher. Viel Zeit, um sie zu jagen und zu fangen. Damit wird unser Erfolg gefährdet.“ Grontabar stimmte zu. „Sehr richtig, ehrwürdiger Torhar. Mein Vorschlag lautet: Lasst uns für den schlimmsten Fall vorsorglich unsere gesamten Schotahrs bereitma-chen. Ich selbst werde mich unverzüglich zu unserer Flotte begeben.“

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Zustimmendes Gemurmel machte sich unter den Versammelten breit. Ein anders Rastmitglied fragte: „Was ist mit Hoch-Urkorr-gaan Laukim? Er ist unser bester Heermeister.“ „Ja, wir werden ihn dringend brauchen.“, stimmten einige zu. „Wenn er nicht über den Scheidepass kommt, soll er zu Hoch-Urkorr-nor Jelara stoßen und mit ihr von Süden aus in die Vierfürstentümer eindringen“, schlug Gronta-bar vor. Der Rat kam schnell darin überein, dass dies die beste Lösung sei. Schriftliche Befehle wurden aufgesetzt und letzte Strategien für die Invasion der Vierfürstentümer besprochen, dann löste sich die Ratsversammlung auf. Bevor die Halle verlassen wurde, streifte jeder der Räte eine weite Kapuze über sein Haupt und setzte eine hölzerne Maske auf, die das Gesicht so sehr bedeckte, dass nicht einmal die Augenform erkannt werden konnte. Niemand im Eisernen Thron oder in Erleovant kannte das Gesicht eines Imperialen Rates.

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Welt Tepor, südlich der Vierfürstentümer, Moranion-Wald Als sie spät erwachten, war der Tag hell und munter, mit fröhlichem Vogelgesang und Sonnenschein, der gedämpft durch das dichte Blätterdach zu ihnen herabdrang. Die allgemeine Stimmung der Flüstersteiner hingegen war so düster wie der Morgen schön war. Die Nacht war für die Gemeinschaft kaum erholsam gewesen. Nur Wotan hatte ohne Unterbrechung wie ein Toter geschlafen. Die Ereignisse des letzen Tages bescherten allen unruhige Träume. Halgrimm hatte allein schon wegen seinen schmerzenden Verbrennungen kaum ein Auge zu gemacht und Kev war aufgrund seiner ge-brochenen Rippen bei jeder Regung erwacht. Oenothera sah zum Fürchten aus. Ihr Gesicht und besonders ihre Nase hatten sich über die Nachtstunden grün und lila verfärbt, und die Schwellungen entstellten ihre schönen Züge. Faban hatten sein schmerzender Rücken und die vielen Sorgen die Nachtruhe geraubt. So sammelten sie sich müde für ein schweigsames, bedrücktes Frühstück, bei dem jeder seinen Gedanken nachhing. Der Schock des Kampfes auf Leben und Tod war gewichen, und bei den Überlebenden entfaltete sich nun ungehindert die Trauer. Den Morgen über waren sie damit beschäftigt, die Gefallenen zu begraben. Faban und Halgrimm hatten mit ihren arkanen Kräften rasch zwei Löcher ausgehoben, allerdings erschufen sie das Grab für die Drakaner abseits der ersten Grube. Währenddessen hatte Shanntak die Toten seiner draka-nischen Einheit an dem entfernten Grab zusammen-getragen. Er hatte vorgeschlagen, dass er sich allein um

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die Drakaner kümmern würde, während die Flüstersteiner ihre Freunde beerdigten. Bei dieser Gelegenheit tauschte er seinen angeschmolzenen, leicht verbogenen Zweihän-der gegen das Breitschwert eines Namenlosen aus. Für Wotan legte er noch einen intakten Schild zur Seite, ansonsten legte er jedem drakanischen Soldaten seine Waffen auf die Brust. Faban wartete respektvoll am Gra-benrand, bis Shanntak die drakanischen Begräbnisriten an den Toten vollzogen hatte. Dann bewegte Faban mit seiner Zauberkunst die ausgehobene Erde über die Gefallenen. Den restlichen Tag verbrachten sie zusammen in ihrem Lager. Kev, Oenothera und Halgrimm brauchten auf-grund ihrer Verletzungen Ruhe, und Wotan war immer noch von seinem Zauber geschwächt. Immer wieder durchbrach jemand die Stille mit einer Geschichte über einen der gestorbenen Freunde, wobei Oenothera das meiste über ihre elfischen Gefährten erzählte und Faban über die vier Waldläufer, die er seit Langem kannte. Kev, Wotan und Halgrimm beschränkten sich auf Erlebnisse der gemeinsamen Reise, die sie für erzählenswert hielten. So saßen sie einander lauschend zusammen, bis es dämmerte. Wotan kam langsam wieder zu Kräften und konnte sehr zu seiner Erleichterung wieder selbstständig essen, ohne auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Gegen Abend zog er seine Pfeife hervor und paffte mit sichtbarem Wohlgefühl Rauchschwaden in die Luft. Meister Faban hustete demonstrativ und wedelte auf ihn zuströmende Rauchwolken weg. Der Zwerg ließ sich davon nicht beeindrucken. Nach längerem Schweigen der Gemeinschaft sprach Wotan Shanntak an, der sich den ganzen Tag still zurückgehalten hatte.

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„Shanntak, hab Dank für den Schild, den du mir mitgebracht hast.“ Der Hüne brachte nur ein knappes Kopfnicken als Reaktion zustande. „Du bist ein gewaltiger Krieger. Die Namenlosen, deine Leute – sind sie alle so gut wie du? Ich war als Krieger einem deiner Art absolut unterlegen. Ich habe selbst eine lange Zeit die den Kampf mit Waffen erlernt, musst du wissen. Aber ich war zu schwach, zu langsam und un-geschickt gegen einen von euch. Als Kämpfer habe ich versagt. Ohne meinen Zauber hätte ich verloren, ohne ihm auch nur eine Wunde zuzufügen.“ „Ich habe euren Zweikampf gesehen.“ Der Hüne mus-terte Wotan eindringlich, bevor er weitersprach: „Du wünscht dir sehr, ein guter Krieger zu sein. Bedenke, dass ein Namenloser nichts anderes in seinem Leben getan hat, als die Kriegskunst auszuüben. Du haderst mit dir, doch schlussendlich hat dein kombiniertes Wissen als Kämpfer und Urkorr-gaan den Sieg erbracht. Es stimmt zwar, nach deinem Zauber warst du kampfunfähig, was für eure Seite taktisch ein schlimmer Verlust war. Doch gewonnen hat, wer am Ende überlebt.“ Faban fügte hinzu: „Dank deines Eingreifens. Wie viele Krieger von euch gibt es?“ „Ich kann euch nicht genau sagen, wie viele Namenlose dem Eisernen Thron zur Verfügung stehen. Der zweiten Schotahr sind fünfhundert Namenlose unterstellt, deren Hauptmann ich war. Ich denke, es gibt mindestens viertausend von uns.“ Die Flüstersteiner warfen sich untereinander besorgte Blicke zu.

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„Was sind die Namenlosen eigentlich?“, wollte Halgrimm wissen. „Euer Volk wurde gezüchtet, sagtest du. Warum? Seid ihr alle besonders kräftig und groß?“ „Ja, offensichtliche Attribute, die allen von uns eigen sind. Aber die wichtigste Eigenschaft, die wir besitzen, ist unsere schnelle Heilung. Solange eine Wunde nicht tödlich ist, verheilen selbst schwere Wunden in einigen Stunden. Jedenfalls wenn wir ruhen können und viel Nahrung zu uns nehmen. Woher wir abstammen, weiß ich nicht.“ Die Blicke, die sich die Flüstersteiner diesmal zuwarfen, waren voller Bestürzung. „Selbst wenn ein Namenloser eines Armes oder Beines verlustig geht?“ „Wenn der Namenlose nicht verblutet und rechtzeitig versorgt wird, kann er sogar ein Glied regenerieren. Es dauert allerdings viele Wochen.“ Ruhig, doch zugleich tiefst besorgt, überdachte Wotan das Gehörte. „Das bedeutet, die Drakaner haben eine Armee, die in Schlachten kaum Verluste zu befürchten hat. Jeder Verletzte wäre nach ein, zwei Tagen wieder einsetzbar, und die Kampfkraft der Streitmacht verringert sich nicht mit der Zeit, wie es sonst geschehen würde. Die Erfahrung eurer Veteranen geht nicht verloren, da es keine Verletzungen gibt, die kampfunfähig machen. Jede in euch investierte Ausbildung wird doppelt wertvoll, da ihr ständig einsatzfähig seid. Nur der Tod eines Namen-losen wird zu einem echten Verlust, aber bei einer Schlacht sterben die meisten erst hinterher, an ihren Verletzungen oder durch Wundbrand.“ Wotans Stirn runzelte sich wie ein gefurchter Acker, als er Faban ansah. „Durch solch eine Streitmacht werden die Drakaner sehr stark. Und sie werden weitere Namenlose heranziehen.“

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Düster nickte Faban dem Zwerg zu. Kev fügte zu dem Gespräch an: „Ich habe in den Jahren, in denen ich dem Imperium gedient habe, nie etwas von den Namenlosen gehört oder gesehen. Der Eiserne Thron hat anscheinend sehr darauf geachtet, dass nichts von euch bekannt wird.“ „Das verwundert mich nicht. Die Ausbildungslager waren weitab jeglicher Stadt oder Straßen, und wir wurden von allem ferngehalten.“ Es wurde ruhig, nur das Knacken der brennenden Holz-scheite war eine Weile zu vernehmen. „Nun, wir müssen uns überlegen, wie es weitergehen soll“, wechselte Wotan das Thema. „Shanntak, du hast deine Freiheit gewonnen und kannst nun dein Leben selbst in die Hand nehmen. Wir werden morgen auf-brechen müssen, um unseren Auftrag zu vollenden, und dich damit verlassen. Wenn du in den Vierfürstentümern leben willst, brauchst du ein Empfehlungsschreiben von Meister Faban.“ „Welches ich mit Freuden ausstellen werde“, schaltete sich Faban in das Gespräch mit ein. „Trotz dieses Schrei-bens solltest du bis zu unserer Rückkehr damit rechnen, dass man dir misstrauen wird. Natürlich würden die Men-schen viel von dir wissen wollen, was das Drakanische Imperium und sein Militär angeht. Wenn du deinen Frieden suchst, solltest du das Fürstentum der Gnome aufsuchen. Dort würdest du am ehesten in Ruhe gelassen werden.“ Wotan fuhr weiter fort: „Eine andere Möglichkeit wäre für dich, zu meinem Volk zu gehen – mit einem Empfeh-lungsschreiben von mir. Ich muss dich allerdings warnen, denn mein Klan liegt in einem verzweifelten Krieg mit einem oder eher mehreren Stämmen von Trollen. Ich bin

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einer der Ausgesandten, die nach Hilfe für meinen Klan suchen. Ich muss gestehen, ein solcher Krieger wie du wäre eine Bereicherung für unser Militär. Als Lehrer wärst du von unschätzbarem Wert. Mit meiner Führspra-che würdest du in Ehren aufgenommen werden.“ Der Erdenbewahrer wandte sich zu Faban. „Ich hoffe, wir werden jetzt unsere Mission bald zum Abschluss bringen. Ihr wisst um die Vision meiner Mutter, die Toorn ihr gewährte. Mein Herz drängt mich, weiter nach Mandrenadol zu suchen und mit seinem Auffinden die Prophezeiung zu erfüllen.“ „Soweit es an mir liegt, werde ich Euch helfen, sobald wir Abusans Laboratorium geräumt und vernichtet haben.“ Leise flüsterte Oenothera mehr zu sich selbst: „Wenn sich denn unsere Mutmaßungen als richtig herausstellen. Ich hoffe, unsere Freunde sind nicht umsonst gestorben.“ Kev schien bei diesen Worten drauf und dran zu sein, aufzustehen und sich ihr zu nähern, meinte Halgrimm zu erkennen. Schlussendlich blieb er jedoch unschlüssig und unsicher, wo er war. „Das hoffen wir alle“, erklang die verhaltene Stimme Fabans. „Morgen werden wir das Gebiet erreichen und dann am nächsten Tag mit der Suche nach dem Versteck beginnen. Hast du dich schon entschieden, wohin du gehen wirst, Shanntak?“ „Ja, das habe ich.“ Shanntaks mächtiger Bass klang immer noch bedrohlich in Halgrimms Ohren. Der Krie-ger strahlte eine ruhige Selbstsicherheit aus, die er sehr beneidete. „Es gibt nur einen Weg für mich, um die Län-der zu beschützen, in denen ich frei sein kann. Ich will euch begleiten und helfen. Euch scheint nicht klar zu sein, in welch einer Gefahr die Vierfürstentümer sich befinden. Ihr habt nicht viel Zeit.“

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Mit dieser Ansprache hatte er die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Fabans buschige Augenbrauen zerknit-terten sich ungehalten. „Was meinst du damit? Warum, glaubst du wohl, sind wir hier und haben unser Leben eingesetzt?“ „Ich schätze, es wird einen Zeitplan geben. Der Eiserne Thron wird in irgendeiner Form eine Meldung von seinen Suchtruppen erwarten. Sobald diese nicht eintrifft oder negativ ausfällt, werden sie davon ausgehen, dass die freien Völker das Wissen oder Artefakte Abusans ge-wonnen haben. Bisher gingen alle Urkorrs, mit denen ich zu tun hatte, davon aus, dass dieses Wissen, sobald es jemand erforscht, einen überlegenen Machtzuwachs für das betreffende Reich bringen wird. Es kann für den Eisernen Thron nur eine mögliche Reaktion auf das Scheitern der eigenen Suchtruppen geben.“ Halgrimm, der gerade seine verbrannten Hände neu ban-dagierte, schreckte hoch. „Oh nein, du meinst, sie werden eine sofortige Invasion beginnen, bevor wir das neue Wissen anwenden können?“ Shanntak schien ihn fast anzulächeln. Für Halgrimm war es das unangenehmste Lächeln, das er je gesehen hatte. „Ich kenne die Pläne des Eisernen Thrones nicht, doch es würde zum Denken der Führerschaft passen. Seit je wird ein Krieg mit den Vierfürstentümern befürchtet.“ „Aber wir wollen doch gar nicht das Drakanische Reich angreifen! Es ging uns bei dem Wettlauf um Abusans Laboratorien nur darum, dass wir uns verteidigen kön-nen“, protestierte Halgrimm. Noch bevor Shanntak zu einer Antwort ansetzte, begann ihm langsam die Trag-weite des ganzen Konfliktes zu dämmern. „Dann solltest du Folgendes wissen: Nicht nur die Na-menlosen, sondern das ganze drakanische Volk wächst in

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dem Glauben auf, dass die Vierfürstentümer das Draka-nische Imperium stürzen wollen. Und zumindest einige der Führer des Imperiums sind davon wirklich über-zeugt.“ „Wie kann ein ganzes Volk so irren? Es muss doch einen Weg geben, unsere friedlichen Absichten zu zeigen!“, er-eiferte sich Oenothera. „Es wird Krieg geben, und das Drakanische Imperium wird alle Krieger senden, die es hat. Es wird diesen Krieg als letzte Gelegenheit sehen, sich gegen die Vierfürsten-tümer zu behaupten. Deswegen müsst ihr Erfolg haben und so schnell wie möglich zurückkehren. Mit mir steigen eure Erfolgsaussichten.“ Betroffen sahen sich die fünf Verbliebenen aus der Such-truppe Flüstersteins an. Faban brach als Erstes das Schweigen: „Wir vom Grauen Turm hätten damit rech-nen müssen, aber wir waren zu verblendet. Selbst Fürst Aldan ist sich nicht bewusst, dass sich das Drakanische Imperium in so einer verzweifelten Lage glaubt. Du hast recht, Shanntak, wir brauchen jede Hilfe, die wir be-kommen können, und für meinen Teil bist du will-kommen. Trotzdem will ich, dass die übrigen Mitglieder ebenfalls einverstanden sind. In Abusans Unterschlupf werden wir uns vollständig aufeinander verlassen müssen. Ständiges Misstrauen könnte sich fatal auswirken.“ Ohne Zögern kam von Kev: „Für mich ist die Sache klar! Er kann kein Spion sein. Die Gegner gewinnen zu lassen, indem man die eigenen Leute tötet, macht bei diesem Wettlauf keinen Sinn.“ „Ganz meiner Meinung. Es wäre mir eine Ehre, dich dabeizuhaben, Shanntak“, schloss sich Wotan knurrig der Meinung an.

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„Kev hat es klar ausgedrückt“, fügte Halgrimm an. „Ich denke, wir können ihm vertrauen – und wir brauchen seine Fähigkeiten.“ Zu guter Letzt lagen die Blicke auf Oenothera, die schweigend in die Flammen starrte, den Kopf auf den angezogenen Knien abgelegt. Nach einem Moment der Stille richtete sie ihren Oberkörper auf. „Kev hatte vorhin recht. Ich habe im Schmerz ungerecht über den drakanischen Krieger geurteilt. Dir vertraue ich, Kev. Ich kann es nicht erklären – es ist ein Gefühl. Bei Shanntak habe ich dieses Gefühl nicht, allerdings auch nicht den gegenteiligen Eindruck, dass er uns verraten würde. Shanntak, das, was die Drakaner aus dir gemacht haben, ist mir fremd und unheimlich. Für all das Leid, das sie verursachen, wünsche ich dem geheimen Rat aus tiefsten Herzen den Untergang. Doch du bist nicht der Rat. Deine Taten sprechen für dich, und du hast recht: Mit dir steigen unsere Chancen.“ Faban nickte dazu erleichtert. „Dieser Führspruch ge-bührt dir zur Ehre, Oenothera. Shanntak, erkennst du meine Befehlsgewalt an?“ „Das tue ich.“ „Dann sei willkommen in unserer Gemeinschaft.“ Sie standen früh mit dem ersten, nur vereinzelt erklin-genden Vogelgezwitscher auf. Dunkelgrünes Zwielicht umfing die Gemeinschaft unter dem dichtem Blätterdach und den alten, knorrigen Stämmen, die eine natürliche Halle bildeten, unendlich weit mit unzähligen Säulen. Tau überzog an diesem Morgen jedes Gebilde, machte das Aufstehen unangenehm und jeden Handgriff feucht. Das Moos, welches auf jedem Stein und jedem umgestürzten, morschen Baumstamm wuchs, war an diesem Tag dick

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und saftig. Es erstrahlte in einem intensiven, unwirklichen Grün. Nebelschwaden krochen hier und da über den Boden und verschlechterten die ohnehin nicht weit rei-chende Sicht. Kaum ein Tierruf war zu vernehmen. Es war, als wäre der Moranion an diesem Tag in einer düsteren Stimmung, und die Bewohner des Waldes ver-hielten sich still. Ein eiliges Frühstück wurde eingenommen, bedrückt durch die Atmosphäre des Waldes. Anschließend rief Wotan die Verletzen zu sich. Der Erdenbewahrer fühlte sich wieder erholt genug, um seine Gabe des Heilens einsetzen zu können. Für jeden sprach er ein Gebet und berührte mit leuchtenden braunen Händen die wunden Stellen. Oenotheras geschwollenes Gesicht bekam wieder eine gesunde Farbe, ihre Nase schrumpfte auf ein normales Maß, und ihre wohlgeformten Züge kamen wieder zum Vorschein. Die verbrannte Haut Halgrimms auf Gesicht und Händen blätterte ab. Glücklich dankte der Adept Wotan für die Hilfe. Kev wollte die Segnung ablehnen, um Wotan zu schonen und weil er durch seine Verwandlungen ohnehin langsam gesunden würde. Faban meinte aber, dass sie ihn dringend unverletzt bräuchten, und so wurde der Wandler ebenfalls von Wotan geheilt. Sie packten ihre Sachen eilig zusammen und machten ihre Pferde bereit für die kommende Wanderung. Nach einer kurzen Wegstrecke erreichten sie eine kreisrunde Lichtung, auf der verkohlte Baumstämme lagen und feuchte Asche fingerdick den Boden bedeckte. In einem Durchmesser von siebzig Pferdelängen war jede Pflanze vernichtet worden. Nur wenige verbrannte Stäm-me ragten noch in den Himmel und waren nicht zusam-mengebrochen.

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„Was ist denn hier passiert?“ Wotan war am Rand der Feuerschneise stehen geblieben und sah sich misstrauisch um. „Hier haben wir Halgrimm gefunden“, antwortete Oe-nothera. „Kev und ich haben eine gewaltige Feuersbrunst aufwallen sehen und vermutetet, dass Halgrimm Hilfe braucht.“ Mit einem Grinsen fuhr sie fort. „Nun, so war es dann auch. Er hing wie ein reifer Apfel an einem brennenden Baum und ließ sich ein wenig braten.“ Halgrimm zuckte zusammen. ‚Ich wusste, sie würde es nicht vergessen! ‘ „Das soll der Feuerball gewesen sein, mit dem du dich gewehrt hast?“ Mit kritischem Blick sah sich Meister Faban zuerst die Lichtung und dann seinen Lehrling an. „Was ist hier passiert? Ein Feuerball kann, wenn er enorm machtvoll ist, höchstens einen Durchmesser von zwanzig Pferdelängen erreichen. Diese Lichtung ist mehr als doppelt so groß! Halgrimm?“ „Es war aber ein Feuerball, den ich versucht habe. Ich weiß, er lag außerhalb dessen, was ich anwenden darf. Es waren aber noch vier Gegner, gegen die ich mich wehren musste, der Baum, auf dem ich saß, brannte, und es war das Einzige, was mir einfiel.“ Zu erzählen, dass sein Fluchtbaum durch sein Verschul-den gebrannt hatte, erschien Halgrimm strategisch un-günstig. „Schon gut. Ich wollte dir keine Vorwürfe wegen eines Zaubers machen, den du in Not in einem Kampf gewirkt hast. Mehr vielleicht wegen der Kraft, die du hinein-gesteckt hast. Ich rate mal: Du warst nach diesem Feuer-ball vollkommen erschöpft, oder?“ Kleinlaut antwortete Halgrimm: „Ja, Meister …“ „Und?“

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„Hätte ich nicht so viel Energie auf diesen Bann verwendet, dann wären mir noch weitere Zauber möglich gewesen. Ich hatte Glück, dass ich keine weiteren Kämpfe ausfechten musste.“ „Gut, dass du es weißt. Handle das nächste Mal danach! Lasst uns weitergehen!“ Sie überquerten die verbrannte Fläche, und Shanntak ging wie zuvor voran. Sein Blick schweifte wachsam umher. Auf Faban wirkte Shanntak wie eine gespannte Bogen-sehne, jederzeit bereit, seine Kraft zu entfesseln, und doch war Shanntak dabei keineswegs angespannt oder nervös. Er war froh, dass dieser außergewöhnliche Krie-ger sie begleitete. Bevor die Bäume die Sicht zurück auf die Lichtung versperrten, schaute sich Faban noch einmal um. ‚Wenn das wirklich ein Feuerball war, dann war es der größte, von dem ich je gehört habe. Der Junge muss lernen, seine Fähigkeiten zu kontrollieren, sonst ist er eine ernste Gefahr für uns alle.‘ Wenn sie wieder zum Grauen Turm kamen, würden ein paar Extrastunden Übungen fällig sein. Danach könnte man dann ein paar Kollegen einladen und mit seinem Schüler ein wenig angeben. Die nächsten Stunden verliefen anstrengend und ange-spannt. Der Moranion-Wald mit seinen Urbäumen und der dichten Vegetation machte es ihnen nach wie vor nicht leicht voranzukommen. Dazu kam ein ständiges Gefühl der Gefahr und der Eindruck, in eine neue, fremde Welt einzudringen. Der Einzige, der viel zu fas-ziniert war, um sich unwohl zu fühlen, war wieder einmal Kev. Seine gute Laune war ein Lichtblick für Oenothera – und ein Dorn im Auge des Zwergs.

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Der alte Ordensmeister klärte die anderen auf, dass sie nach einem Hügel suchen mussten. Er sollte innerhalb einer Tageswanderung in südlicher Richtung liegen, vom Aufgang der Erdspalte aus gesehen, den sie benutzt hatten, um diese zu verlassen. „Na, das ist ja mal eine grandiose Angabe, in einem Labyrinth wie diesem! Da können wir eine lange Zeit einplanen, bis wir den finden!“, schimpfte Wotan. Kev bekam ein spitzbübisches Gesicht. „Zwerge schei-nen von Geburt an mürrisch zu sein. Egal, ob sie aus dem Imperium kommen oder aus den Vierfürstentümern. Das erklärt die vielen Falten im Gesicht bei euch.“ Die Neckerei Kevs zauberte trotz ihrer Trauer ein Lächeln auf Oenotheras Gesicht. Bei Wotan hingegen erschienen ein paar mehr Unmutsrunzeln. „Wieso bist du nur so widerlich gut aufgelegt? Gib mir einen schönen grasbedeckten Hügel mit bearbeiteten Tunneln und Höhlen, und ich werde die ganze Zeit schnurren wie ein Kätzchen. Die Gebirgswälder meiner Heimat wären mir auch recht. Aber dieser Wald hier ist einfach nicht geheuer. Je schneller wir hier raus sind, umso besser ist es.“ „Dann werde ich gleich ein Wunder vollbringen und dein Gesicht von Falten befreien“, grinste Kev. „Wir werden nicht lange suchen müssen. Ich werde mich als Falke in die Lüfte schwingen. Vom Himmel aus erkennt man schnell jede Erhebung, und ich werde euch direkt hin-führen.“ Staunend sah Wotan zu Kev hoch, seine Augenbrauen schnellten in die Höhe, und sein mürrischer Ausdruck war wie weggewischt. Halgrimm, Faban, Kev und Oe-nothera fingen schallend an zu lachen. Etwas verwirrt schaute Shanntak kurz auf die erheiterten Flüstersteiner

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und wandte sich gleich wieder wachsam der Umgebung zu. Als das Lachen verebbte, meinte er: „Wie konntet ihr nur so lange überleben – bei so viel Unaufmerksamkeit?“ Mitleidig sah Oenothera ihn an. „Lachst du denn nie? Es gibt mehr als nur Kampf im Dasein, und eine alte Weisheit sagt: Lache viel und du lebst lang.“ Nach kurzem Zögern zuckte Shanntak mit den Schultern: „Es ist mir fremd. Kann man es erlernen?“ Betroffen sahen sich die Flüstersteiner an. „Ich denke, du wirst etwas Zeit brauchen“, antwortete Faban. „Wenn du Frieden gefunden hast, wird es wohl ganz von selbst kommen. Vielleicht kann ich dir helfen, etwas über die Geschichte des Humors und des lustigen Theaterspiels zu lernen.“ Halgrimm bestätigte seinen Meister. „Ja, das Lachen kommt ganz von allein, sobald du etwas Zeit haben wirst, dein neues Leben zu leben. Allerdings nur, wenn du nicht als Schüler von Meister Faban endest wie ich …“ „Was soll das heißen, du frecher Bengel?“ Diesmal musste auch Wotan grinsen. Shanntak blieb weiterhin ernst. „Für dieses Angebot danke ich Euch sehr, Meister Faban. Etwas anderes als kämpfen gelehrt zu werden ist für mich eine unschätzbare Gabe, da dies uns Namenlosen stets verweigert wurde. Allerdings möchte ich als Erstes lesen lernen.“ „Die Grundlage, um sich weiteres Wissen aufzubauen. Eine gute und kluge Wahl“, unterstützte Faban diesen Wunsch. „Ausgerechnet lesen?“, wunderte sich Kev. „Es gibt doch so viel wichtigere Dinge, die man lernen könnte. Ich kann auch nicht lesen und kam immer gut zurecht.“ „Du kannst nicht lesen?“, fragte Halgrimm erstaunt.

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„Nein, kann ich nicht. Der Großteil der Bevölkerung im Imperium ist nicht des Lesens mächtig, und in den Vier-fürstenländern ist das doch nicht anders. Meine Kindheit ist mir zwar kaum bewusst, aber ich vermute als junger Wechselbalg lernt man andere Dinge. Es gibt eine Un-menge über die Natur und die Tiere an sich zu erlernen, und um eine neue Verwandlungsform zu meistern muss man viel Zeit investieren. In meiner Sklavenzeit bei den Drakanern habe ich nur Lektionen erhalten, die mit der Kunst der Schleicher zusammenhingen.“ „Das wundert mich“, überlegte Halgrimm. „Ich dachte, für einen Schleicher sei es wichtig, aufgeschriebene Informationen lesen zu können …“ „Tja, die Drakaner haben mir das Lesen nicht beige-bracht. Geschriebene Sachen kann man im Allgemeinen einfach mitnehmen. Es gab ein paar Aufträge in denen ich Briefe entwendet und meinen Befehlshabern über-bracht habe. Hauptsächlich wurde ich aber für das Be-lauschen eines Gespräches eingesetzt.“ Oenothera fragte daraufhin: „Du kannst dich nicht an deine Vergangenheit erinnern, aber du hast mir davon erzählt, wie du gelernt hast zu fliegen.“ „Ja, das habe ich auch erst bei den Drakanern erlernt. Sie verlangten von mir, mich in einen Vogel verwandeln zu können. Alle anderen Tierformen und ihre Bewegungsart habe ich anscheinend schon vorher beherrscht.“ Faban sagte: „Ich muss bekennen, dass wir immer wieder vergessen, welche Fähigkeiten du hast, selbst wenn du nicht lesen kannst. Ich hätte gleich sagen sollen, dass wir eine weitere Landmarke suchen müssen.“ Halgrimm legte freundlich seine Hand auf die Schulter Kevs. „Gut, dass du bei uns bist. Spricht etwas dagegen, dass du gleich deinen Erkundungsflug machst?“

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Lächelnd nahm Kev seinen Ring und seine Waffen mit dem Waffengurt ab. Irgendwie war es seit der Verfol-gungsnacht in Flüsterstein Tradition geworden, dass Kev seine Sachen Halgrimm in die Hand drückte. „Wieso muss ich schon wieder deine Sachen nehmen?“ Kev stutze und blickte verwundert Halgrimm an. „Nun, wem soll ich sie denn sonst geben? Es wäre respektlos, Ordensmeister Faban oder den ehrwürdigen Erdenbe-wahrer damit zu belasten, und Oenothera … na ja …“ Halgrimm sah demonstrativ zu dem großen Krieger. Shanntak starrte zurück und verengte nur leicht die Augen. Resigniert hob Halgrimm seine Hände zum Empfang der Gegenstände. Die Umwandlung Kevs begann, die Halgrimm selbst jetzt noch gleichermaßen faszinierte und abschreckte. Ein relativ großer Falke streckte an der Stelle an der kurz zuvor noch Kev gestanden hatte prüfend seine Flügel. Dann erhob sich der Greifvogel in die Luft und ver-schwand über dem Blätterdach. Halgrimm verfolgte den Abflug des Raubvogels, der absolut keinen Unterschied zu einem echten Falken erkennen ließ. „Es ist bei den Fähigkeiten der Wechsel-bälger erschreckend, sich vorzustellen, dass dem Eisernen Thron noch weitere zur Verfügung stehen könnten.“ „Ich habe bisher noch nie etwas von ihnen gehört.“ Shanntak nahm sein Breitschwert vom Rücken und hockte sich mit beiden Händen am Griff hin. „Aber das bedeutet nichts, der Eiserne Thron hält seine Möglich-keiten stets bedeckt. Als wir Namenlosen in die Armee eingegliedert wurden, waren selbst höchste Militärränge wegen unseres Vorhandenseins überrascht.“

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„Die Existenz von Wechselbälgern müssen wir in Zu-kunft in alle unsere Überlegungen miteinbeziehen“, sagte Faban nachdenklich. „Wenn die Sagen stimmen, kommen sie von einer anderen Welt. Das lässt mich hoffen, dass die Drakaner nicht noch weitere Wechselbälger versklavt haben. Dafür ist es viel zu schwer, einen Übergang zu einer anderen Welt zu erzeugen, der dann auch nur für wenige Stunden offen bleibt. Ich glaube nicht, dass der Orden des Grauen Turms genügend Kraft aufbringen könnte, ein Weltentor zu erzeugen. Allerdings wirft es die Frage auf, wie Kev hierherkam.“ Schweigen breitete sich aus, und beim Warten auf Kevs Rückkehr hing jeder seinen Gedanken nach. Es dauerte eine längere Zeit, bevor sie Kev wieder zu Gesicht bekamen. Unvermittelt brach er durch die Blätter über ihnen, landete und verwandelte sich direkt in seine Grauwolfform. Mit einem freudigen Kläffen trottete er los. „Das hieß anscheinend: ‚Folgt mir!‘ “, schloss Wotan. „Bei Toorn, ich hoffe, dass wir die nächste Etappe un-serer Reise erreichen.“ Sie mussten sich einige Stunden durch schwieriges Gelän-de kämpfen. Kev lief locker voran und kam sichtlich gut durch die Wildnis. Für seine Kameraden war es anstren-gend, und sie waren froh, als sie endlich ein Ansteigen des Bodens bemerkten. „Hier muss es sein!“, rief Faban freudig aus und rieb sich wieder einmal sein Kreuz. Schweiß perlte auf seiner Stirn. „Irgendwo auf diesem Hügel muss sich ein Eingang be-finden.“

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Schnaufend und erleichtert schlug Wotan vor: „Dann sollten wir uns aufteilen, so finden wir den Einstieg schneller.“ „Nur zwei Gruppen!“, bellte Shanntak. Er zuckte beim Klang seiner eigenen befehlenden Stimme zusammen und erklärte dann gemäßigter: „Das wäre jedenfalls meine Empfehlung. Selbst wenn wir vermutlich keine draka-nische Suchtruppe Fürchten müssen, ist der Moranion noch gefährlich genug.“ Faban unterdrückte ein Schmunzeln. „Ja, ein wichtiger Einwand. Wenn ihr den Eingang findet, geht nicht in die Nähe von ihm und fasst nichts an. Holt erst die anderen hinzu, und dann sehen wir weiter. Wotan, Halgrimm und Shanntak sollen eine Gruppe bilden und rechts um den Hügel gehen. Ich werde mit Oenothera und Kev links herum gehen. Wir arbeiten uns langsam bis zur Kuppe hinauf. Also los!“ Schwanzwedelnd sprang Kev einige Pferdelängen voraus, hielt an und sah mit heraushängender Zunge ungeduldig nach hinten. Kopfschüttelnd ging Oenothera mit Faban los und raunte dem Magier zu: „Wenn Kev sich in ein Tier verwandelt hat, macht er perfekt die Verhaltensweise dieses Tieres nach. Ich könnte nicht erkennen, wenn ich plötzlich einem Wolf begegnete, ob dies nun Kev oder ein echter Wolf ist.“ „Das meinte Kev wohl damit, dass ein Wechselbalg viel zu lernen hat“, flüstere Faban zurück. „Nicht nur Form und Bewegung, sondern das gesamte Verhalten wird nachgeahmt. Wirklich erstaunlich. Und nebenbei erhalten sie einen ernormen Einblick in die Abläufe der Natur.“ „Was Tiere angeht, meint Ihr.“

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„Nein, nicht nur. Ich glaube, es geht noch tiefer. Tiere erspüren oder erkennen eine Menge, wie zum Beispiel einen heraufziehenden Sturm oder verdorbenes Wasser. Dazu ist es etwas völlig anderes, nur zu wissen, dass bestimmte Tiere erweiterte Sinne haben, wie beispiels-weise die Wölfe, welche offensichtlich viel über Gerüche erkennen, oder diese Sinne selbst zu erfahren und zu nutzen.“ Die Elfe musste unwillkürlich lächeln, als sie die für Faban so typische komplizierte Art zu reden hörte. Faban beendete seinen Gedankengang: „Was kann ein intelligenter Geist mit solchen Möglichkeiten für Er-kenntnisse gewinnen!“ Oenothera bemerkte, wie der Grauwolf vor ihnen beim letzten Satz eine ganz unnatürliche, stolze Haltung einge-nommen hatte. Seine Ohren waren steil nach hinten ge-richtet. „Ja, ich verstehe. Aber was denkt Ihr, wie ist das dann bei Kev?“ Der Wolf trottete knurrend davon und ließ einen verdat-terten Faban und eine lachende Elfe zurück. Die beiden Gruppen trafen nach einer halben Stunde auf der anderen Seite des Hügels aufeinander, ohne etwas entdeckt zu haben. Sie stiegen einige Fuß den Hang hi-nauf, teilten sich erneut auf und suchten den nächst-höheren Abschnitt ab. So erklommen sie Stück für Stück die Anhöhe, bis die Dämmerung hereinbrach und sie gezwungen waren, die Suche abzubrechen. Enttäuscht und ratlos besprachen sie sich. „Bei Toorn, ich hab mir schon gedacht, dass es nicht so einfach wird. Wir sind fast oben und haben nichts gefun-den!“, schimpfte Wotan. „Wir sind schon zu spät dran, um uns einen guten Lagerplatz zu suchen. Das Beste wird

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sein, wenn wir oben auf dem Hügel übernachten. Mit etwas Glück kann man sich dort gut verteidigen.“ „Keine schlechte Wahl für einen Zwerg in der Wildnis“, stichelte Oenothera. Wotan bleckte die Zähne. „Was erwartetest du? Ein Hügel, der aus dem Wald herausragt, und ein Zwerg – was hätte ich anderes vorschlagen können?“ „Etwas Besseres werden wir so schnell nicht finden, und vielleicht ist dort der Eingang. Sehen wir mal, was da oben ist“, beschloss Faban. Müde vom stundenlangen Laufen, brachen sie auf. Shanntak achtete darauf, dass er die vorderste Position einnahm. Der Grauwolf überholte den Krieger, ohne auf dessen Ambitionen zu achten, und schnüffelte prüfend vor ihm her den Hang hinauf. Die Gefährten hatten es nicht mehr weit. Der dichte Baumbestand hörte abrupt auf, und sie betraten im letzten Tageslicht eine steinige Kuppe, auf der nur noch vom Wind niedergedrückte Büsche wuchsen. Halgrimm sah dankbar zum Himmel auf, den er so lange nicht mehr ohne Hindernisse hatte betrachten können. Über ihm erschienen die ersten Sterne im dunkelblauen Firmament, das nur am Horizont von einigen wenigen sanft rot glühenden Wolken bedeckt war. Als er seinen Blick schweifen ließ, breitete sich vor ihm ein Meer aus Blättern und Ästen aus. Nur im Norden störte eine Linie, quer zum Horizont verlaufend, diese grüne Ebene, ein Bruch in dem allgegenwärtigen Bild von Baumwipfeln. Dort musste die Erdspalte liegen, von der sie gekommen waren, vermutete Halgrimm. Er riss sich von dem Ausblick los und bemerkte erst jetzt, dass seine Gefährten auf etwas anderes starrten. Ihren Blicken folgend, entdeckte er rasch den Grund: Hinter den Büschen in der Mitte der Kuppe lag eine kreisrunde

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Marmorplatte. Zwei Bäume rechts und links überdachten den Stein mit ihrem Blättern. Die Platte durchmaß zwei Mannslängen, schätzte Halgrimm, und war glatt poliert, was die schwarzen und weißen Schlieren des Marmors deutlich hervortreten ließ. Seltsame Symbole und arkane Zeichen waren in Abständen in den Rand der Platte hineingemeißelt worden, und weitere verliefen wie Rad-speichen vom Rand zur Mitte. Im Abendlicht schim-merten die Vertiefungen silbern. Ein Unwohlsein, ein ängstliches Gefühl beschlich ihn beim Anblick des Artefaktes. ‚Ah, ein Aversionsbann. Dadurch werden wohl die Tiere ferngehalten.‘ Forschende Neugier ließ ihn seinen sich aufbauenden Widerwillen zur Seite drängen, und entschlossen ging er zum Kreis vor, um weitere Details zu entdecken. „Nichts anfassen, mein Junge! Ab hier müssen wir mit allem rechnen!“, ermahnte Faban. Stirnrunzelnd blickte Halgrimm zurück. ‚Andauernd er-mahnt er mich. Traut er mir denn gar nichts zu? ‘ „Natürlich, Meister Faban, natürlich.“ Durch seinen Ärger abgelenkt und weil er nach hinten geschaut hatte, stolperte er über einen Stein. Halgrimm musste einen Ausfallschritt machen, um nicht hinzufallen. Es gelang ihm nicht, sein Gleichgewicht wiederzuge-winnen. Mit einem Arm rudernd, kippte er nach vorn. „Nein, nicht berühren!“, schrie Faban. Halgrimm stieß seinen Stab, den er in seiner Rechten hielt, vor sich auf den Boden und fing damit seinen Fall ab. Leicht schräg hing er mit beiden Händen an seinem Stecken. „Oh, das war knapp!“, japste er. Dabei fiel sein Blick auf den Boden. Das Ende seines Steckens berührte den Rand der Marmorplatte.

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‚Och nein – warum …? ‘ Bei diesen Gedanken gleißten die Schriftzeichen im Marmor auf. Silbriges Licht drang aus der Steinplatte wie ein Strahl nach oben, kroch am Stab entlang und umhüllte Halgrimm. Entsetzt sah Wotan, wie Halgrimm stolperte. Er stürzte nach vorn, um zu helfen. Shanntak hatte schneller re-agiert und war ihm einen Schritt voraus. Gleißendes Licht umhüllte Halgrimm für einen kurzen Augenblick, dann verlosch es unvermittelt. Halgrimm war verschwunden. Shanntak und Wotan kamen schlitternd zum Stehen und suchten die Gestalt des jungen Magiers. Einige Augen-blicke wusste niemand etwas zu sagen. Dann ertönte ein Wutschrei hinter Wotan. „Dieser ungeschickte Bengel!“, schrie Faban außer sich. Oenothera, die neben Faban stand, fauchte im Affekt: „Wenn Ihr ihn nicht dauernd so bemuttern würdet, wäre das wohl nicht geschehen!“ „Was?“ Die Augenbrauen und der Bart von Faban schienen sich zu sträuben, als er sich voller Wut zu der Elfe umdrehte. Oenothera schien verteidigend zurückzuweichen, und es sprudelte verbindlicher aus ihrem Mund: „Er ist durch Eure Ermahnung doch erst abgelenkt worden! Mit zu viel Besorgnis erreicht man manchmal das Gegenteil von dem, was man eigentlich möchte.“ Energisch unterbrach der Bass Wotans den beginnenden Streit. „Dafür haben wir keine Zeit. Halgrimm braucht unsere Hilfe!“ Kev hatte sich gerade zurückverwandelt und meinte zweifelnd: „Aber wie denn? Wir wissen doch nicht, was geschehen ist“.

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„Wir haben keinen Zugang gefunden, nichts, was auf einen Tunnel oder eine Tür schließen lässt – nur diesen verzauberten Marmor.“ Wotan drehte sich bei seinen Worten um und schritt auf die Marmorplatte zu. „Ich glaube, das ist der Eingang zum Versteck.“ Er sprang auf die Steinplatte und verkündete mit einem sarkastischen Grinsen: „Und die Falle, die dahinter liegt, hat unser Halgrimm bestimmt gerade ausgelöst. Also …“ Grelles Licht umhüllte Wotan, und er verschwand. Faban stand fassungslos da. Oenothera indessen ver-schwendete keine Zeit mehr, sie spannte ihren Bogen. Shanntak schüttelte den Kopf. „Wie konntet ihr nur so lange überleben …?“ Mit vier schnellen Schritten sprang er zur Mitte und verschwand ebenfalls. Faban lief rot an, so außer sich war er. „Dann mal hinterher! Bevor ich an einem Herzschlag sterbe, will ich mich noch an einem gewissen Schüler abreagieren!“ Kev und Oenothera folgten dem alten Magier Seite an Seite, als dieser wutentbrannt auf die Marmorplatte zu-ging. Gemeinsam betraten sie das Artefakt, und ein letztes Mal erstrahlte ein gleißendes Licht. Das Gefühl von unendlicher Weite drang auf Halgrimm ein. Er hatte den Eindruck, sich in einem schwarzen Nebel zu bewegen, in dem er stundenlang dahinschwebte. Seine Kehle schmerzte plötzlich, wurde trocken und durstig, doch gleich darauf verschwand die Empfindung wieder. Dann spürte er, dass er irgendwo angekommen war. Halgrimm war wie erstarrt, traute sich nicht, die kleinste Bewegung zu machen. Seine Haltung, etwas schräg stehend auf seinen Stab gestützt, hatte sich nicht geändert. Er stand auf etwas Hartem, es roch nach trockener, abgestandener Luft, und damit endeten seine

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Erkenntnisse. Um ihn herum war es stockduster und so still, dass er sich atmen hörte. Nicht der geringste Lichtschimmer war zu entdecken. Nach einigen Herz-schlägen, in denen nichts passierte, beruhigten sich seine Gedanken. ‚Also, du kannst die nächsten Jahre hier eine Skulptur mimen oder etwas unternehmen. Vielleicht absichtlich in eine Falle springen, um dem Zugriff Meister Fabans zu entkommen. Warum musste mir das passieren, verdammt noch mal? ‘ Vorsichtig stellte er sich aufrecht hin und erschuf an der Spitze seines Stabes sein übliches sanftblaues Licht. Seine Füße schälten sich aus der Dunkelheit. Sie standen auf einem Marmorblock, der wie der Zwilling aussah, den Halgrimm kurz zuvor auf der Hügelkuppe berührt hatte. ‚Das muss ein Portalstein sein. Eine Erfindung Abusans, die zwei verschiedene Orte in geringer Entfernung miteinander verbindet. Das ist also keine Legende – und es ist tatsächlich möglich.‘ Der Schein enthüllte eine ovalförmige Höhle natürlichen Ursprungs, in etwa doppelt so hoch wie Halgrimm selbst. Tausende von Quarzsplittern im Felsen reflektierten das Leuchten seines Stabes. Das Ende der Höhle war einige Pferdelängen vor ihm gerade noch einzusehen. Dort meinte Halgrimm einen dunklen Türumriss zu erkennen. Auf dem Weg dorthin lagen mehrere Knochen und Schädel, die eindeutig humanoiden Ursprungs waren, vermengt mit verrosteten Waffen und Rüstungsteilen. Es gab einige klobige Schädel mit verdickten Augenwülsten und kräftigen Eckzähnen, bei denen sich Halgrimm fra-gte, ob es Ogerschädel sein könnten. Viele der Gebeine waren zerbrochen. ‚Es scheint hier Fallen zu geben … Natürlich gibt es hier Fallen, Halgrimm! Aber wie sind die in einer natürlichen Höhle installiert

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worden, ohne dass man etwas sieht? Am besten, ich bleibe zunächst auf dem Artefakt.‘ Hinter Halgrimm schrammte laut Stein auf Stein. Er-schrocken drehte er sich um. Nur wenige Schritte ent-fernt stand eine Steinstatue, die einen gut herausge-arbeiteten Mann in Lendenschurz, Sandalen und mit einem Streitkolben darstellte. Der Kopf reichte bis zur Decke, und die Statue war dementsprechend breit. Ihre Machart erschien Halgrimm bei dem kurzen ersten Ein-druck ungewöhnlich, und er war sich unsicher, ob das weißliche Material, aus dem sie bestand, wirklich Stein war. Hinter dem Steinbildnis schloss nach zwei Pferde-längen eine Felswand die Höhle ab. Es gab keine weiteren Türen, Höhlen oder auch nur Spalten. Halgrimm fragte sich, was das Schrammen erzeugt hatte. Da bewegte das Standbild ruckartig ein Bein, und wieder schabte es so, als würden sich zwei Mühlsteine aufeinander reiben. Jetzt erkannte Halgrimm, was ihn an der Statue gestört hatte: Es gab Scharniergelenke an Armen und Beinen, und diese wurden jetzt rege benutzt. Die Statue kam auf ihn zu. ‚Ein Golem!‘, erkannte Halgrimm mit Entsetzen. Fieber-haft überlegte er, was er über Golems wusste, während er zurückwich. Ein Golem war ein mit mächtiger Magie erschaffenes Wächterartefakt, das sehr einfach gehaltene Befehle ausführen konnte. Er war kein Lebewesen mit einem Bewusstsein und konnte daher nur für anspruchs-lose Dinge eingesetzt werden – wie das Zerfetzen von voreiligen Adepten und anderen unbefugten Eindringlin-gen zum Beispiel! Mehr wollte ihm auf die Schnelle nicht einfallen, doch es war ihm klar, dass es noch wichtige Fakten gab. Der Portalstein summte leise, und mit einem Mal stand Wotan darauf und starrte Halgrimm an. Direkt hinter ihm

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erreichte der Golem den Rand des Marmors und holte aus. „Wotan, hinter dir!“ Wotan duckte sich und drehte sich gleichzeitig um, den Drakanerschild zur Abwehr bereit. Viel schneller, als Halgrimm es dem Steinbild zugetraut hätte, schlug der Golem zu. Es folgte ein gewaltiges Krachen, und Wotan wurde durch die Luft geschleudert. Sein Schild hatte eine tiefe Einbeulung, der Metallrand war stark verbogen, das Holz gebrochen. Scheppernd krachte Wotan gegen eine Felswand. Ächzend erhob sich der Zwerg. „Bei den Höllenschlünden, war das ein Schlag!“ Halgrimm konnte es nicht fassen, dass der Zwerg nach diesem Hieb noch aufstehen konnte. Der schwere Golem stapfte mit dröhnenden Schritten weiter vor, direkt auf Halgrimm zu. Ein weiteres Summen ertönte. Schräg hinter dem Golem tauchte Shanntak auf. Die Statue drehte sich ihm behäbig zu. Shanntak reagierte augenblicklich und holte zu einem beidhändigen Streich aus. Sein Breitschwert traf auf den Arm mit der Keule. Funken stoben auf, und es klang, als hätte eine Spitzha-cke auf Granit geschlagen. Das Schwert prallte mit einem Singen ab. Die Wucht des Schlages ließ Shanntaks Arme erzittern, und die Waffe wurde ihm fast aus den Händen geprellt. Eine kaum sichtbare Kerbe war das einzige Resultat seines Angriffs. ‚Ach ja, Golems sind schwer zu zerstören.‘, erinnerte sich Halgrimm. Er öffnete sich für die Energien der Schöp-fung und verwob einen Bann. Trotz der tödlichen Be-drohung freute sich ein Teil von ihm, als der Rausch der Macht in ihn strömte. Endlich konnte er seine Nütz-lichkeit unter Beweis stellen.

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Wotan warnte: „Pass auf, Shanntak, das Ding ist noch viel stärker, als es ohnehin schon aussieht!“ Bei diesen Worten fegte der Streitkolben waagerecht auf den Drakaner zu. Geschmeidig ging Shanntak in die Hocke und entzog sich dem Schlag mit einer Rückwärts-rolle. Ein weiteres Summen des Portalsteins verkündete das Eintreffen von Faban, Kev und Oenothera. Kurz orien-tierten sie sich in dem sanften Schein von Halgrimms Stab. „Oh nein, ein Golem!“, rief Faban aus. Kevs Körper begann sich zu verwandeln, während Oeno-thera sich schützend vor Faban stellte und einen Pfeil auflegte. Der Boden erzitterte leicht unter den verfolgen-den Schritten des Golems, der einen weiteren Keulenhieb gegen Shanntak führte. Rötlicher Schein durchflutete die Höhlenkammer. Ein flammender Strahl löste sich aus Halgrimms ausgestreck-ter Handfläche. Enorme Hitze breitete sich aus, die Luft der Höhle wurde so heiß wie in einer Schmiede. Für zwei Herzschläge wurde die Schulter des Golems in einen Feuerschwall gehüllt. Die Flamen waren heiß genug, dass Shanntak, der dem Golem am nächsten stand, sich ab-wenden musste. Er hatte bereits das Ende der Kammer hinter dem Portalstein erreicht, und somit wurde sein Raum zum Ausweichen knapp. Der Feuerstrahl erlosch und hinterließ eine schwarze Schulter. Dort, wo die Flammen den Stein am längsten berührt hatte, glühte ein kleiner Fleck Granit. Der Zauber hatte nicht einmal die Aufmerksamkeit des Golems abgelenkt, stellte Halgrimm erschüttert fest. Ein Pfeil schwirrte heran und zerbrach am Hinterkopf des Wächters. Abermals musste Shanntak einem Schlag ausweichen, konterte und traf ohne viel

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Wirkung den Golem an der Hand. Die Höhlenwand war keine drei Schritte mehr hinter ihm. Wie in einem regelmäßigen Takt drosch die Statue wieder und wieder mit ihrem Streitkolben auf Shanntak ein und drängte den Krieger die letzten Schritte zum Ende der Felskammer. Shanntak lieferte ein grandioses Rückzugsgefecht und schlug auf unterschiedlichste Körperzonen des Stein-bildes, in der Hoffung, eine Schwachstelle zu finden. Unbeirrbar holte der Golem ein weiteres Mal seitlich aus. Shanntak, mit dem Rücken zur Wand, war in ernster Bedrängnis. „Kev, zurück!“, durchdrang die besorgte Stimme Oeno-theras den Höhlenraum. Der steinerne Unterarm wurde, als er nach hinten schwang, von gewaltigen Kiefern umfangen. Ein Höhlen-bär hängte sich mit aller Kraft und seinem ganzen Gewicht an den Steinarm. Die entstandene Ablenkung nutze Shanntak, um flink auf der anderen Seite des Golems vorbeizuhechten. Ungläubig beobachteten die Flüstersteiner, wie der massige Höhlenbär, der mindes-tens das Gewicht von zwölf Männern aufbrachte, lang-sam in die Luft gehoben wurde. Dann schwang der Granitarm mitsamt dem Bären gegen die nächste Felswand. Kevs Fänge erlahmten, entließen den Arm, und er sank benommen zu Boden. Schwerfällig erhob die Steinstatue ihren Fuß für einen zermalmenden Tritt. Laut rief die Stimme Wotans ein letztes Wort, und seine Stimme hallte mächtig durch die Höhle. Ein graues Leuchten umfing den Golem, doch zu Wotans Schrecken konnte sein Bann den Golem nicht durchdringen. Gei-stesgegenwärtig lenkte er seinen Zauber auf den Boden. Unter dem Golem zerfloss das Gestein, als wäre es ein Brei. Das stehende Bein der Statue sank in den Boden

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ein, und damit verlor sie das Gleichgewicht. Schwer platschte sie in den um sie herum entstehenden feinen Sand. Kev schüttelte seine Benommenheit ab und ver-wandelte sich in einen Feldhasen. Eine riesige Beule lies den Nager bizarr aussehen. Mit einem Satz sprang der Hase Sand verspritzend davon und hüpfte zu Faban. „Mal sehen, wie du gleich mit dem Erlöschen des Zau-bers zurechtkommst!“, keuchte Wotan angestrengt und völlig verausgabt. Der Golem stemmte sich auf seine Hände und Knie, die einen Fuß tief im Sand versanken, ehe sie wieder auf festen Grund stießen. Dann endete die kurze Veränderung der Realität. Der Sand kehrte in seinen ursprünglichen Zustand zurück, wurde wie gefrierendes Wasser wieder zu festem Gestein und schloss Hände und Beine des Golems ein. Kurz darauf knirschte der Felsboden, als der Golem versuchte, sich zu befreien, und erste Risse entstanden. „Meister Faban, unternehmt etwas!“, verlangte Wotan. „Das hält dieses Ding nicht lange auf!“ „Der einzige Zauber, den ich kenne, der einem Golem schaden würde, ist ein Zauber, der Gestein schmelzen kann. In dieser kleinen Höhle würde uns die Hitze lange vorher umbringen, bevor der Golem zerschmelzen würde. Ich kann uns nicht gleichzeitig vor einem solchen Inferno schützen.“ „Verdammt, ich kann auch nicht alle vor solch einer Hitze bewahren!“, schimpfte Wotan. Faban griff Oenotheras Arm und zog sie zum Portalstein. „Wir müssen hier weg! Kommt!“ Er betrat mit der Elfe den Marmor. Kein Summen ertön-te, kein Licht erstrahlte – der Portalstein reagierte nicht.

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Entgeistert starrte Oenothera zu dem Marmor unter ihr. „Gnädiger Schöpfer, das ist eine einzige Falle!“ Splitternder Fels zeugte davon, dass der Golem sich langsam befreite. „Am anderen Ende der Höhle ist eine Tür.“ Halgrimm deutete mit seiner Hand zu der Stelle, die er meinte. Sofort setzten sich Wotan, Shanntak und Oenothera in Bewegung, ein Hase hoppelte hinterdrein. „Berührt sie nicht!“, ermahnte Faban, als er ihnen folgte. Sie sammelten sich vor der schmalen Tür, die aus vernie-teten Eisenplatten geschmiedet war und einem Knauf zum Ziehen besaß. Ihre Oberfläche war rußgeschwärzt, ebenso der Fels um sie herum. Knochen lagen vor der Tür, die meisten schwarz angebrannt, nur einige wenige schimmerten in bleichem Weiß. „Nicht gut. Vermutlich eine an die Tür gekoppelte Feuer-explosion“, grollte Wotan, als er dies sah. „Und wir sind nicht die Ersten, die hier in der Zwickmühle standen.“ „Wie ich es mir schon dachte.“, stellte Faban etwas selbstgefällig fest. Er hob eine Hand zur Tür und berührte sie beinahe. „Leider hat die Tür immer noch arkane Macht gespeichert.“ Ein Laut von berstendem Gestein ertönte hinter ihnen. Oenothera hatte die ganze Zeit die Statue im Blick gehabt und warnte nun: „Unsere Zeit läuft ab! Er ist frei!“ Gehetzt sagte Halgrimm: „Die schwarzen Flecke reichen drei Schritt weit von der Tür. Wenn wir außerhalb dieser Zone bleiben und die Tür mit einem Seil aufziehen, entgehen wir den Flammen.“ „Gut beobachtet.“ Faban blickte zum Hasen hinab. „Kev, kannst du den Golem ablenken? Du bist schnell und klein genug, um ihm eine Zeit lang zu entkommen.“

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Der Hase machte kehrt und lief auf den Steinwächter zu. Augenblicklich reagierte der Golem, als Kev in seine Nähe kam, und versuchte, das Tier zu zertreten. Zwei schnelle Haken brachten Kev zwischen den Beinen der Statue hindurch, bevor diese ihren Fuß herunterstoßen konnte. Flink hatte Oenothera eine Schlaufe gebunden und warf sie über den Türknauf. „Fertig! Hoffentlich ist sie nicht verriegelt.“ Kev hatte den Golem erfolgreich zum hinteren Ende der Höhle gelockt und entging dank seiner Wendigkeit und geringen Größe bisher allen Schlägen und Tritten. Faban machte ein Zeichen, und die anderen folgten ihm bis zur Mitte der Höhle. Gemeinsam drehten sie der Tür den Rücken zu, dann zog Shanntak kräftig am Seil. Ein kollektives erleichtertes Aufatmen ging durch die Gruppe, als ein öffnendes schabendes Geräusch erklang. Gleich darauf brausten Hitze und heiße Luft durch den Raum; Feuerschein erhellte die Kammer, und Rauch wallte auf. Oenothera warnte: „Der Golem!“ Beim Öffnen der Tür hatte sich der Wächter augen-blicklich umgewandt und stampfte nun auf die Gruppe zu. „Durch die Tür! Kev, komm zu uns!“ Faban setzte sich bei seinen Worten schon in Bewegung und lief, so schnell es sein Alter ihm erlaubte. Halgrimm war kurz hinter seinem Mentor und fragte sich: ‚Und was bringt uns das? ‘ Wotan und Oenothera überholten kampfbereit den alten Magier und liefen durch die Tür in einen dunklen Raum. Faban und Halgrimm folgten, und der leuchtende Stab Halgrimms offenbarte einen glatten steinernen Boden. Sie betraten eine lang gestreckte Halle, deren Ende im Dunkeln lag. Als Letzter ergriff Shanntak die Tür und wartete, bis Kev an ihm vorbeischoss. Der Golem er-

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reichte die Tür in dem Moment, als Shanntak sie zu-schlug. Eilig schob er den dicken Eisenriegel zu, den er an der Innenseite vorgefunden hatte. Der Hüne wich zurück, den Blick angespannt zum verschlossenen Ein-gang gewandt. In einem leichten Halbkreis stand die Gruppe vor der Tür, das Schlimmste erwartend. Der Hase war der Einzige, der hinter Faban schnuppernd in die Düsternis der Halle spähte. Nichts geschah. Die Totenstille, die folgte, war nervenaufreibend. Nervös schaute Halgrimm kurz hinter sich in die Dunkelheit. Abgestandene Luft umfing sie, staubig und trocken wie in einer Gruft. Kein dröhnender Schlag erfolgte gegen die Tür, niemand versuchte, sie aufzureißen. „Wieso passiert nichts?“, durchbrach Oenothera das Schweigen. Halgrimm sah nachdenklich zu seinem Lehrer. Er ärgerte sich, dass ihm erst nach dem Kampf sein Wissen über Golems wieder ins Gedächtnis kam. Wieso war er bloß in allem so tollpatschig? „Hat es damit zu tun, dass ein Golem kein richtiges Bewusstsein besitzt? Der Grund für seine Aktivierung ist verschwunden, und er wird wieder passiv?“ „So etwas hatte ich jedenfalls gehofft.“ „Aber das Ding weiß doch, dass wir hier drin sind. Wieso soll es aufhören, uns zu jagen, nur weil es uns nicht sieht?“, wollte Oenothera wissen. „Nuuun, ein Artefaktwächter ist kein Lebewesen und kann keine bewussten Entscheidungen treffen.“ Der Tonfall seines Meisters ließ Halgrimm grinsen. Selbst in einer Gefahrensituation, stellte Halgrimm erstaunt fest, konnte Meister Faban in seinen Vortragsmodus verfallen. „Er ist eine durch Bannsprüche handlungsfähig gemachte Steinpuppe und kann nur einfachste Anweisungen be-

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folgen. Wenn es keine korrigierenden Anweisungen vom Meister des Golems gibt, führt er den letzten Befehl buchstabengetreu immer wieder aus. In diesem Fall, vermute ich, war der Befehl so etwas wie: Jegliches Leben, welches in die Eingangskammer eindringt, soll getötet werden. Dadurch, dass wir nicht mehr in der Höhle sind, gibt es dort kein Lebewesen mehr und somit nach dem Wortlaut des Befehls keinen Grund, weiter zu handeln.“ „Diejenigen, die es im Kampf bis zur Tür schaffen, geraten in die Feuerfalle. Für den Wächter jedoch ist sie völlig ungefährlich, wenn er die Eindringlinge am Ausgang bekämpft. Raffiniert …“, stellte Halgrimm fest. „Wenn der Befehl wirklich lautete, alles Leben zu ver-nichten, müsste der Golem dann nicht bei jedem Insekt aktiv werden?“ „Ich habe auch keine Insekten gesehen.“ Wotan schüttel-te unangenehm berührt den Kopf. „Und das ist ganz schön ungewöhnlich für so eine Höhle, wenn ich das genau bedenke.“ Kev hatte sich unterdessen in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt und brachte einen neuen Gedanken auf. „Das bedeutet wohl, dass wir auf diesem Weg nicht mehr hinauskommen, oder? Der Golem wird sofort wieder aktiv, sobald wir die Höhle betreten.“ Der Zwerg machte eine wegwerfende Handbewegung. „Darüber müssen wir uns keine Gedanken machen. Wir haben vorhin gesehen, dass der Marmorstein in der Höhle nicht in die andere Richtung funktioniert. Man kommt dort nur rein, nicht raus.“ „Was soll das für einen Sinn haben?“ „Einen strategischen“, meinte Shanntak. Seitdem er wusste, dass von dem Golem keine Gefahr mehr drohte,

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hielt er wachsam in die Halle hinein Ausschau, selbst beim Reden. „Ein Eindringling, der den Wächter besiegt und das Feuer überlebt, muss, um wieder hinaus-zukommen, weiter vordringen und sich weiteren Fallen aussetzen. Er kann nicht zurück, weitere Gegenstände oder Verstärkung zur Hilfe holen oder jemandem ver-raten, wo der Eingang liegt.“ „Ist das so, Hauptmann?“, brachte Oenothera ironisch hervor. Sie fragte sich, ob alle Namenlosen diese Art zu denken hatten. Die stoische, harte Haltung von Shanntak mit seinen tödlichen Fähigkeiten war für sie zutiefst abschreckend. „Ihr könnt uns nicht mit einem Zauber hier herausbringen, Meister Faban?“ „Nein, ich fürchte nicht. Kein Benutzer der Macht kann einen Körper woandershin versetzen. Die Herstellung eines Portalsteines, damit meine ich diese Marmorplatte, die uns hierherbrachte, ist gänzlich unbekannt. Sie wer-den in wenigen Schriften erwähnt und galten als Mythos – bis heute.“ „Und wenn wir uns hier rausgraben?“, schlug Oenothera vor. „Durch Gestein? Wenn zwanzig Magier meines Ordens hier wären, könnte man das vielleicht in einer angemes-senen Zeit schaffen.“ „Oder zwanzig Erdenbewahrer“, warf Wotan ein. Faban nickte huldvoll mit dem Kopf und sprach weiter: „Wir wissen jedoch nicht einmal, wie tief wir uns unter der Erde befinden. Ich denke, Shanntak hat die Situation genau erfasst. Es wurde alles so angelegt, dass ein Ein-dringling nicht einfach wieder hier herauskommt.“ Unbehaglich betrachteten die Flüstersteiner ihre nächste Umgebung. Mit einem kleinen Schlenker seiner Hand erschuf Faban ein weiteres, intensiveres Licht, das von

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seiner linken Hand ausging. Die Halle wurde aus der Dunkelheit gerissen. Glatte Granitwände mit eisernen Haltern, an denen Öllampen hingen, säumten links und rechts der Gruppe den Raum. Zwischen den Öllampen hingen verblichene gewobene Bilder, deren Darstellungen kaum noch zu erkennen waren. Die Decke war ebenfalls glatt und hing zwei Mann hoch über ihren Köpfen. Schwarze Rußflecken breiteten sich jeweils über den Öllampen an der Decke aus und eine kaum wahrnehm-bare Staubschicht bedeckte den glatt polierten Boden. Mehrere Pferdelängen vor ihnen befand sich ein drei-stufiges Podest aus schwarzem Marmor, das sich direkt an die hintere Wand anschmiegte. Darauf stand, ebenfalls an die Steinwand gelehnt, ein ausladender Sitz mit hoher Rückenlehne, der bei dem Erleuchten von Fabans starkem Licht aufgestrahlt war – eine goldene Sonne in dem kalten Graubraun des umgebenden Granits. „Ein goldener Thron“, raunte Kev. Vorsichtig ging Wotan einige Schritte vor. Er achtete dabei sehr auf den Fußboden, ob irgendetwas Unge-wöhnliches einen Fallenmechanismus verriet. Langsam folgten ihm die anderen, wachsam und angespannt. Sosehr Wotan auch suchte, es waren keine weiteren Ausgänge zu entdecken, weder Falltüren im Boden noch an der Decke. Drei Schritte vor dem Podest blieb der Erdenbewahrer stehen. „Ein Thronsaal in einem Versteck? Anscheinend hat Abusan hier Leute empfangen.“ Faban schloss zu Wotan auf und erwiderte: „Dann wird die Bedeutung dieses Ortes umso größer, wenn es eine wichtige Residenz Abusans war.“ Wotan nahm seinen Helm ab und kratze sich am Kopf. „Es muss hier irgendwie weitergehen. Entweder sind hier

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fantastisch verborgene bewegliche Wände, oder hinter dem Thron ist ein Durchgang in der Wand versteckt.“ Wotan trat zum Podest vor und klopfte die Stufen mit seinem Hammer ab, das Schild schützend vor sich hal-tend. Als er die Absätze alle getestet hatte und nichts Außergewöhnliches eintrat, stieg er zum Thron hoch. „Shanntak, hilf mir mal!“ „Männer!“, schimpfte Oenothera mit voller Inbrunst. „Wenn der Thron auch nur teilweise aus einer Goldle-gierung besteht, müssen wir alle helfen, um ihn weg-schieben zu können.“ Sie folgte Shanntak auf das Podest und winkte Kev und Halgrimm, ebenfalls zu kommen. „Da könntest du recht haben“, bestätigte Wotan ruhig und legte seinen Hammer und sein Schild ab. „Der Thron ist ganz schön schmutzig.“ Angeekelt untersuchte Oenothera den Sitz genauer. „Irgendeine Schmiere hat den Staub angezogen.“ „Frauen“, stöhnte Kev auf. „Was hast du erwartet – alles geputzt und staubgewischt?“ Er wartete nicht den scharfen Blick von Oenothera ab und machte sich daran, eine Ecke des Thrones probe-halber anzuheben. Geschwind trat Oenothera zu ihm und drückte ihn vom Thron weg. „Wartet. Fasst nichts an.“ Aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte Kev zurück und machte ein verärgertes Gesicht. Wotan und Shanntak hielten inne und blickten interessiert zu der Elfe. „Findet ihr es nicht seltsam, dass sich in der Halle nicht ein Fleck von einer getrockneten Flüssigkeit befindet, nur auf dem Thron ist überall so ein Rückstand vorhanden? Der einzige vorhandene Gegenstand, hinter dem man

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zwangsläufig nachsieht, ob sich dort ein Durchgang befindet …“ „Oh!“, war der verblüffte Kommentar von Kev. „Ein Kontaktgift – eine weitere Falle. Natürlich.“ Faban klang fast begeistert. „Sehr gut, Oenothera.“ „Wir sollten unsere Hände mit etwas bedecken, das wir danach wegschmeißen“, schlug Oenothera vor. „Viel-leicht hat das Gift durch sein Alter gar keine Wirkung mehr, aber wozu ein Risiko eingehen?“ „Damit sollte es gehen.“ Wotan nahm aus seinem Ruck-sack aufgerollte Stoffverbände heraus und schnitt mit seinem Dolch davon Streifen ab, die er reihum verteilte. Jeder bis auf Faban umwickelte damit seine Hände. Mit vereinten Kräften schoben sie den Thron ein Stück zur Seite. Kev schielte hinter die entstandene Lücke. „Da ist eine schmale Tür.“ Daraufhin rückten sie den Thron ganz von der Wand ab. Sein Gewicht war ernorm, und sie mussten zweimal eine Pause einlegen. Anschließend pflückte Oenothera vor-sichtig die Stoffverbände von den Händen ihrer Ge-fährten und umwickelte damit jeweils einen ihrer Pfeile. Missbilligend betrachtete Wotan ihr Tun, hielt sich aber schweigend zurück. Shanntak hingegen wirkte sehr interessiert. „Benutzen Elfen in den Vierfürstentümern öfter Gifte im Kampf?“ Oenothera nickte nur bestätigend, ohne den Drakaner anzusehen, und konzentrierte sich weiter auf ihre Arbeit. „Wie hat Abusan nur dieses Ding vor die Tür bekom-men?“, fragte Kev noch leicht außer Atem von der Anstrengung.

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„Mit einem Luftzauber, mit dem man Sachen schweben lassen kann, denke ich“, antwortete Halgrimm belustigt. Ihm war klar, was gleich folgen würde. „Was? Wieso rackern wir uns hier so ab, wenn du das spielend mit deiner Magie hättest machen können?“ Kev sah ziemlich erschöpft und ausgemergelt aus. Halgrimm erinnerte sich, dass sich Kev an diesem Tag schon mehrmals verwandelt hatte, was seinen Zustand erklärte. Die Beule an seinem Kopf war kaum noch zu sehen. „Weil Meister Faban, Erdenbewahrer Wotan und ich unsere Kräfte schonen müssen. Wer weiß, wann wir einen Zauber dringend brauchen – gerade hier.“ „Wo du gerade von schonen sprichst“, merkte Wotan an und klopfte nebenbei Halgrimm auf den Rücken, „wir wollten eigentlich lagern, bevor es uns hierher ver-schlagen hat.“ Halgrimm wurde augenblicklich betreten, als sein Miss-geschick beim Portalstein erwähnt wurde. Er war der Grund, warum sie unvorbereitet in Abusans Unterschlupf geraten waren. Beschämt starrte er zu Boden. „Ihr habt recht, Erdenbewahrer“, stimmte Faban zu. „Wir müssen neue Kräfte sammeln. Wir müssen ausge-ruht sein, bevor wir weitergehen. Lasst uns etwas essen und schlafen. Die Nachtwachen teilen wir unter uns auf, und morgen sehen wir weiter.“ Damit waren alle mehr als einverstanden, und schnell wurden Decken und Proviant ausgepackt. Es wurde ein kaltes Mahl, denn es gab kein Holz für ein Feuer. Wenigs-tens war die Halle gemäßigt temperiert, und damit fehlte das Feuer nur für die Gemütlichkeit und als natürliche Lichtquelle. Der Thronsaal strahlte eine unangenehme Verlassenheit aus, die bald auf das Gemüt der Gruppen-

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mitglieder schlug. Eng zusammengerückt saßen sie auf ihren Decken und aßen. „Hier ist es totenstill“, beschwerte sich die Elfe. „Der Moranion ist wild und gefährlich, aber er ist voller Leben – ganz im Gegensatz zu hier. Mir fehlen das Windrau-schen und die Laute der Tiere.“ Leicht pikiert beobach-tete sie, wie Kev wie ein Verhungernder Brot und Käse in sich hineinfraß. „Ja, ich finde es auch fürchterlich hier“, grummelte Wotan. Seine Stimme kippte gleich darauf ins Schwär-merische um: „In den Höhlen meiner Heimat hört man ein ständiges Echo von tropfendem Wasser, oder ein Luftzug pfeift um eine Ecke. Fast immer ist leise der Ge-sang von Zwergen zu hören. Aber wenn wir hier etwas hören sollten, wird es wohl etwas Unangenehmes für uns sein. Also werde ich mir lieber nicht wünschen, etwas zu hören.“ „Einen Golem werden wir zumindest nicht überhören“, hörten sie Kev undeutlich mit vollem Mund sagen. Ohne innezuhalten, stopfte er weiter seinen Mund voll. Shanntak regte sich bei der Erwähnung der Wächter-artefakte. „Es wundert mich, dass Golems nicht in großer Zahl vom Imperium und den Vierfürstentümern in Schlachten eingesetzt werden. Sie sind eine mächtige Waffe.“ Faban sah den Drakaner mit einem wissenden Lächeln an. Die Gedanken des Kriegers drehten sich anscheinend oft um strategische Fragen. „Nuuun, das hat mehrere Gründe. Die Herstellung eines Golems dauert Jahre. Nach der Fertigstellung seines Körpers und der nötigen Zauber muss er noch mit Energie gefüllt werden, wozu es mehrere Magier braucht, die sich damit Wochen be-schäftigen und in dieser Zeit keine Kraft für andere

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Zauber haben. Eine Schwäche, die weder der Orden des Grauen Turms noch die Drakaner in den letzten Jahr-zehnten riskieren wollten. Zum Schluss muss derjenige, der den Golem beherrschen soll, einen kleinen Teil seines Geistes in das Artefakt transferieren. Das ist die treibende Kraft im Wächter, die den toten Stein dazu bringt, Befehle auszuführen. Das kann ein Magier nur einmal machen, und demjenigen fehlt dann ein Teil von sich selbst. Sein Körper wird schwächer, und seine magischen Fähigkeiten nehmen ab. Kaum jemand ist bereit, dies auf sich zu nehmen.“ „Freut mich zu hören, dass es etwas gibt, vor dem selbst Magier zurückschrecken.“ Der Erdenbewahrer zeigte mit dem Daumen auf die Tür hinter sich und achtete nicht auf den angrifflustigen Ausdruck Fabans. „Allerdings hatte Abusan bei der Erschaffung dieses Gräuels keine Angst vor den Folgen gehabt.“ „Was macht man gegen einen solchen Gegner, wenn man keinem Hüter dient oder kein Magier ist?“, wollte Oenothera wissen. „Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich hasse es, mich so zu fühlen.“ Kev nickte zustimmend beim letzten Satz, bemerkte Oenotheras Blick und versuchte die Bewegung in ein Kratzen am Hinterkopf umzuwandeln. Vor Schmerz zuckte er zusammen, als er seine Beule berührte. Faban schnaubte bei ihren Worten. „Das glaube ich wohl. Ich fühlte mich genauso, obwohl ich ein Magier bin! Ich weiß es nicht, muss ich gestehen. Einem Golem ist mit normalen Waffen nicht beizukommen. Unsere besten Waffen waren vorhin allerdings unser Verstand und unser Zusammenspiel als Gruppe.“ „Nun, da habt ihr wohl recht. Ich bin müde und werde mich jetzt zur Ruhe legen.“ Oenothera kuschelte sich in

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ihre dicke Wolldecke und schloss die Augen. Bis auf Wotan, der die erste Wache hatte, legten sich die anderen ebenfalls hin. Die Antwort Meister Fabans hatte Oenothera mehr ent-täuscht, als sie zugeben wollte. Zu viel war geschehen, dem sie nicht hatte entgegenwirken können. Ihre elfischen Freunde waren gestorben, die sie schmerzlich vermisste, und ein Krieg drohte ihre Heimat zu vernich-ten. Heute war sie auf einen Gegner getroffen, gegen den sie nichts hatte bewirken können. Alles schien ihr zu entgleiten. Tränen stiegen in ihre Augen, die sie krampfhaft zurückzuhalten versuchte. ‚Lass dich nicht von Verzweiflung übermannen, Mädchen – denk an die Lehren unseres Volkes. Olagrion sagte immer: Gefühle können einem im Weg stehen, die Dinge klar zu erkennen. Die einzige Ausnahme bildet die Hoffnung. Sie ist wichtig für unser Fortbestehen und gibt uns Kraft. Gemeinsam werden wir dies hier überstehen und mit dem Wissen Abusans zu unseren Heimstätten zurückkehren. Halte die Augen offen, und du wirst genügend finden, was du tun kannst!‘ Sie konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, und lautlos beweinte sie ihre Freunde. Neben Oenothera hatte ein alter Mann seine eigenen Sorgen, die ihn nicht schlafen ließen. ‚Ich hätte den Jungen niemals mitnehmen und in Gefahr bringen dürfen. Aber es war für die Mission notwendig.‘ Ein wohlbekannter Schmerz durchzuckte Fabans Kreuz. ‚Bei den Behütern, ich bin zu alt für solche Abenteuer! Oder zumindest mein schmerzender Rücken. Komm schon, du alter Narr, überwinde deinen Stolz! Ein Priester ist von einem Behüter erwählt worden, weil er gern anderen hilft, und das wird bei Wotan nicht anders sein. Ach, Alter schützt vor Torheit nicht.‘

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Faban überwand sich, stemmte seinen liegenden Körper auf die Ellbogen und fragte: „Verzeiht, Wotan, könntet Ihr mir noch einmal Eure heilenden Kräfte zugute-kommen lassen? Am besten wäre gleich ein neues Kreuz! Ich nehme auch das kürzere eines Zwergs.“ Wotan lachte auf. „Das wäre etwas, einen Zwerg aus Euch zu machen! Ich diene Euch gern mit dem Segen Toorns. Und eine Salbe habe ich auch noch, die zusätz-lich helfen sollte. Wartet, ich komme zu Euch.“ „Seid Euch meines Dankes sicher. Schade, dass ihr mein Kreuz nicht wirklich erneuern könnt.“ „Ja, ich hätte Euch zu gern als Zwerg gesehen.“ Dann fuhr der Erdenbewahrer mit ernster Stimme fort: „Eure wiederkehrenden rheumatischen Entzündungen kann ich heilen, den Verschleiß und die Schwäche des Alters leider nicht.“ Eine jammernde Stimme unter einer Decke, die entfernt nach Kev klang, fragte: „Kann ein Erdenbewahrer auch etwas gegen Kopfschmerzen machen?“ Etwas kitzelte Oenothera in der Nase, und der störende Reiz ließ sie erwachen. Schlaftrunken rieb sie ihre Nase und spürte, wie ihre Hand auf dem Weg dahin Fell streifte. Erschrocken riss sie ihre Augen auf. Ein Wolf lag dicht an sie gedrängt mit dem Rücken zu ihr auf der Seite und schlief. So wie sie lag, vermutete Oenothera, hatte sie wohl im Schlaf einen Arm um den Wolf gelegt. Kev hatte sich für seine Wache anscheinend in einen Wolf verwan-delt. Sie setzte sich auf und beobachtete nachdenklich eine Zeit lang das Wolfsgesicht. Schließlich erhob sie sich von ihrem Lagerplatz und sah sich um. Im Licht einer Öllampe erkannte sie Wotan, Halgrimm und Faban, die alle drei noch schlummerten. Um sich besser zu erholen,

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hatten Halgrimm und Faban ihre magischen Lichter nicht mehr mit neuer Energie gespeist und stattdessen auf die mitgeführten Lampen zurückgegriffen. Aufgeschreckt sah sie sich um – wo war die Wache? „Ich bin hier.“ Die kantige Stimme Shanntaks kam aus einer finsteren Ecke des Raumes, die der Schein der Öllampe nicht erreichte. Aus der Dunkelheit trat die Silhouette des Kriegers hervor. Die Rüstung und sein Breitschwert, stellte die Elfe fest, waren mit Ruß geschwärzt worden und hatten deswegen kein Licht wiedergespiegelt. „Du nimmst deine Wache ernst und gehst sachverständig vor. Das ist gut.“ „Hast du etwas anderes erwartet?“, fragte Shanntak ohne Ärger oder Ironie in der Stimme. „Nein, nicht bei dir.“ Bei dem kurzem Wortwechsel erwachten die vier Schlä-fer. Wotan ächzte wie ein ganzer Berg, streckte sich und kam mit einem Satz auf die Beine. Staunend stellte Oenothera fest, das er in seinem Kettenhemd und seinen schweren Stiefeln geschlafen hatte. Das zeigte ihr deut-lich, wie gefährlich der Erdenbewahrer ihre Situation ein-schätze. Kev nahm seine menschliche Gestalt an und ging sofort zu seinem Proviantbeutel. Mit freudestrahlendem Gesicht erhob sich Faban und ließ als Erstes prüfend seine Hüfte kreisen. „Ah, wundervoll. Ein erholsamer Schlaf und ein erwachen ohne Schmerzen. Habt Dank, Wotan.“ Der Zwerg brummte nur und machte sich daran, ebenfalls einige Sachen zum Frühstück aus seiner Tasche zu holen. Kev verhielt sich still und zurückhaltend bei seinem Mahl und blickte bewusst nicht zu Oenothera. Er war noch ganz benommen von seiner Handlung in der

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Nacht. Und er fühlte sich so unsicher. Bitter wurde ihm bewusst, wie sehr ihm die Zeit bei den Drakanern das Einfügen in eine Gemeinschaft schwer machte – und erst recht den Umgang mit Oenothera. Eigentlich hatte er keinerlei Erfahrung in diesen Sachen. Dabei wollte er doch alles richtig machen. Es war zum Verzweifeln. Halgrimm spürte die Stimmung und die Unsicherheit Kevs und setzte sich dicht neben ihn. Ein wissendes Grinsen zeigte Kev, dass der junge Magier mitbekommen hatte, dass er die Nacht bei Oenothera verbracht hatte. „Es ist nichts passiert“, flüsterte Kev ihm zu. „Natürlich nicht!“, lachte Halgrimm verhalten auf. „Du warst ein Wolf!“ Kev stimmte in das Lachen mit ein. Halgrimm ver-wickelte ihn daraufhin in ein belangloses Gespräch, und dafür war der Wechselbalg ihm äußerst dankbar. Nach dem Frühstück wurden die Sachen gepackt und alles für die weitere Erkundung der unterirdischen Behau-sung bereitgemacht. Als alle so weit waren, räusperte sich Faban, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. „Ich weiß, dass meine Ermahnungen ermüdend sind. Trotzdem möchte ich noch einmal warnen: Fasst keine Gegen-stände an, egal, wie harmlos sie euch vorkommen. Wir sollten uns bei der Untersuchung der Räume Zeit lassen.“ Der Blick des alten Ordensmagiers ging zu ihrem näch-sten Ziel. „Die Tür, die hinter dem Thron versteckt war, machen wir am besten so auf wie die Tür vom Portalsteinraum.“ „Eine weitere Feuerfalle?“ Halgrimm fand den Gedan-ken, dass jeder Zugang in dem Versteck mit einem Feuerzauber versehen war, irgendwie einfallslos. Abusan hatte so einen gewichtigen Ruf als genialer Zauberer und Fallensteller, dass er mehr erwartete als das. Andererseits

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war es konsequent und schloss ja nicht andere Hinter-halte aus. „Wer weiß? Wir sollten jedenfalls keinen Zugang hier drinnen auf dem normalen Weg öffnen. Lasst mich aber vorher die Tür einer Prüfung auf arkane Energien unter-ziehen.“ Faban näherte sich der Tür, erschuf ein helles magisches Licht und hob seine rechte Hand zum Durchgang. „Auch diese Tür ist magisch aufgeladen worden. Oenothera?“ Leichtfüßig schritt die Elfe vor, machte eine Schlinge mit dem Strick, den sie in der Hand hatte, und schlang diese um den Türknauf. „Ich hoffe, das es nicht zu viele Türen gibt, sonst habe ich bald kein Seil mehr. Gestern ist mir ein gutes Stück verbrannt.“ „Ein paar Seile haben wir noch“, beruhigte Kev. „Und die werden wir noch brauchen. Es könnte Situa-tionen geben, in denen wir mehrere Seile aneinander-knoten müssen, um weiterzukommen.“ „Da könntest du recht haben. Solange uns aber nichts anderes einfällt, bleibt uns wohl keine andere Wahl.“ Oenothera zuckte mit den Schultern und entfernte sich mit ablaufendem Seil so weit sie konnte von der Tür. Ihre Gefährten folgten ihr. Oenothera wollte schon an dem Seil ziehen, ein erschreckend starker Arm, ganz in Metall gehüllt, hinderte sie jedoch daran. Shanntak hatte ihr Handgelenk ergriffen. „Lass mich an dem Seil ziehen! Wenn etwas bis hierher reicht, bin ich derjenige, der am besten mit Verletzungen zurechtkommt.“ Mit argwöhnischem und zugleich staunendem Gesicht überließ sie ihm das Seil.

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„Geht alle noch weiter zurück.“ Als Shanntaks Gefährten seinem Wunsch nachgekom-men waren, zog er kräftig mit beiden Händen am Seil. Die Tür flog förmlich auf, und Halgrimm hätte ge-schworen, sie wäre auch aufgegangen, selbst wenn sie verriegelt gewesen wäre. Er sah einen winzigen Augen-blick ein orangefarbenes Symbol auf der Türoberfläche erstrahlen, dann verschwand alles unter einer Feuerwolke. Er fühlte die Energiestränge, die zu einem Zaubermuster verknotet worden waren und sich nun entluden, genau wie bei der Tür zum Portalstein. Nein, nicht genauso wie bei der anderen Tür, irgendetwas war anders. Es ging alles viel zu schnell, und Halgrimm war sich nicht sicher, ob sein Eindruck richtig war. Shanntak und Wotan gingen nach der kurzen Feuersbrunst tatkräftig voraus; Kev, Oenothera und Faban folgten ihnen vorsichtiger. Halgrimm stand weiterhin gedankenverloren hinter ih-nen. Faban schaute zurück. „Komm, Junge. Hab keine Angst, wir kommen hier durch.“ „Was? Ich habe keine Angst, Meister Faban. Wie denkt Ihr von mir?“ „Nun, dass du klug gewesen wärst, wenn du Angst gehabt hättest. Ich habe nicht an deinem Mut gezweifelt.“ „Ich war in Gedanken. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, beim Öffnen der Tür ist mehr passiert, als wir gesehen haben.“ Bei diesen Worten stoppten Wotan und Shanntak, die bereits vor dem nun offenen Durchgang standen. „Ich habe nichts gespürt“, meinte Wotan. „Kannst du das genauer beschreiben? Hier ist übrigens eine Treppe, die nach oben zu einer weiteren Tür führt.“

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„Nein, tut mir leid. Ich meinte gespürt zu haben, dass die arkanen Muster anders waren als bei der Tür, die wir gestern geöffnet haben. Mehr kann ich nicht sagen.“ Faban strich sich nachdenklich über seinen Schnurrbart. „Ich habe zwar nichts bemerkt, aber das will nichts heißen. Mal sehen …“ Der alte Ordensmagier trat zu Wotan und Shanntak und besah sich den Treppenschacht. Kleine Gesten, sicher und schnell ausgeführt, vollzogen einen Bann. „Der Junge hat vielleicht recht. Der gesamte Treppenauf-gang scheint mit einem Bann belegt zu sein.“ Ärgerlich fuhr er weiter fort: „Wehe, es fragt mich einer, mit was für einem Bann! Es ist sowieso schon schwer, so etwas herauszufinden, und in diesem Fall werden die Muster verzerrt. Ich kann es nicht sagen, und damit kann ich den Zauber auch nicht lösen.“ Wotan war ebenfalls nicht untätig geblieben. „Ich kann nur bestätigen, was unser ehrwürdiger Ordensmeister sag-te. Ein Priester kennt sich in den Belangen der Magier aber sowieso weit weniger aus. Aber sagt, Faban, ist die Tür am Ende der Treppe nicht mit einem Aversionsbann belegt, so wie der Portalstein auf dem Hügel?“ „Ja, ihr habt recht. Seltsam, sehr seltsam. Solch ein Bann wirkt nicht gegen Personen.“ „Wie geht es weiter?“, fragte Kev. Shanntak nahm von seiner Halterung an der Brust einen seiner Wurfeisenstifte. „Wir sehen einfach mal, was passiert. Geht vom Durchgang weg.“ Hastig zogen sich Faban und Wotan zurück. Der Drakaner warf seinen Eisenstift die Treppe hinauf und entfernte sich ohne abzuwarten vom Eingang. Es erklang mehrmals ein metallischer Laut, sonst geschah nichts. Enttäuscht sah Wotan um den Türrahmen in den Aufgang. Der Ei-

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senstift lag wie erwartet auf einer Stufe im oberen Drittel der Treppe. „Schöne Idee, Shanntak. Hat leider nichts bewirkt. Viel-leicht ist das Wurfeisen zu klein gewesen, um den Zauber auszulösen.“ Weiterhin hinter dem Türrahmen Deckung nehmend, löste er seinen Hammer vom Gürtel und ließ ihn kräftig auf die erste Stufe herunterkrachen. Als nichts passierte, machte er es mit der zweiten und dritten Stufe ebenso. An die vierte kam er mit seiner Haltung nicht mehr heran. „Tja, die ersten drei Stufen scheinen sicher zu sein.“ Kev warf ein: „Vielleicht reagiert der Bann nur, wenn etwas Lebendes den Treppenschacht betritt?“ Halgrimm entgegnete: „Abusan hätte jedes Mal, wenn er die Treppe benutzen wollte, seinen eigenen Zauber auf-lösen und wieder neu erschaffen müssen. Erscheint mir sehr aufwendig und kräftezehrend.“ „Dann hat er sich eben als Lebewesen davon ausgenom-men“, argumentierte Kev. Wotan schüttelte den Kopf. „Nein, dazu hätte er die Lebensessenz eines Wesens erkennen müssen, um dann das Muster seiner Lebensessenz in den Zauber mit einzuflechten. Das ist nur mit der Hilfe der Behüter möglich und gehört zum Bereich des Heilens. Er war kein Priester.“ Faban griff die letzten Worte des Zwerges auf: „Natür-lich, ihr habt recht! Ständig rechne ich damit, das Abusan viel mehr mit Zaubern bewirken konnte als unser Orden. Aber er kann keine Zauber wirken, die mit Lebenses-senzen verbunden werden. Er kann überhaupt keinen Bann wirken, der auf Leben reagiert. Bei einem Golem ist das etwas anderes. Der hat einen minderen Verstand, der

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zwischen toten und lebenden Dingen unterscheiden kann.“ „Sehr gut, edle Gelehrte.“ Oenothera hatte die Arme verschränkt und sah ungeduldig Faban und Wotan an. „Was bringt uns diese Erkenntnis? Das Wurfeisen hat nichts ausgelöst und der Hammer Wotans auch nicht. Dass der Bann nicht mehr funktioniert, ist doch recht unwahrscheinlich, nicht wahr?“ Fabans Freude über seine Erkenntnis verblasste un-vermittelt. „Ja, das ist ein Rätsel das wir lösen müssen. Abusan hat viel Mühe aufgewendet, um arkane Energien in Gegenständen zu speichern. Die Feuerfallen bei den ersten Türen haben trotz seiner langen Abwesenheit funktioniert, also wird der gespeicherte Bann auch hier noch wirken.“ Niemand wusste einen Rat, und ein nachdenkliches Schweigen entstand. Halgrimm sagte unvermittelt: „Es hilft nichts, wir müssen einen vorschicken und ihn so gut wie möglich vor elementaren Kräften schützen. Wotan und Meister Faban, ihr müsstet gegen Hitze, Feuer und Kälte Schutzzauber wirken können, nicht wahr?“ Die beiden Angesprochenen sahen sich an und nickten sich zu. Wotan rückte sich Gürtel und Waffe zurecht, als müsse er gleich in eine Schlacht. „Bleibt nur die Frage, wer der Glückliche sein soll.“ „Auf jeden Fall nicht unser Heiler“, antwortete Halgrimm augenblicklich. „Da ich diesen Vorschlag gemacht habe, werde ich diesen Part übernehmen.“ Dieser Vorschlag ließ Faban aufhorchen, und er schimpf-te innerlich mit sich selbst. Das machte der Junge nur wegen seiner Bemerkung vorhin. Er hatte Halgrimm gesagt, dass er sich nicht Fürchten solle. Jetzt wollte sein Schüler beweißen, dass er keine Angst hatte.

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„Nein, wenn, dann gehe ich. Ich habe die besten Über-lebenschancen“, widersprach Shanntak. Erleichtert holte Faban Luft und schämte sich gleich darauf dafür. Der Hüne sah nicht aus wie jemand, um den man sich sorgte, aber gerade er, glaubte Faban, hatte diese Erfahrung nötig. „Das gefällt mir nicht“, grollte Wotan. „Ich weiß aller-dings keinen besseren Rat. Wir haben keine andere Wahl, als die Treppe zu nehmen. Da ich nicht gehen soll, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen, Shanntak.“ „Wir sollten ihn an ein Seil binden, damit wir ihn aus dem Aufgang ziehen können, falls nötig“, schlug Oenothera vor. „Sein Gewicht macht mir dabei allerdings Sor-gen …“ Oenothera redete absichtlich nicht weiter und wartete mit einem weiteren Vorschlag. „Da kann ich helfen“, verkündete Kev. „Als Höhlenbär sollte ich sein Gewicht halten können. Bindet mir das Seil um, sobald ich mich verwandelt habe.“ „Shanntak, ich habe ein schlechtes Gewissen, dich oder irgendjemand anderen alleine dort reinzuschicken.“ Fa-ban deutete zu der Treppe. „Das ist Euer Problem. Es ist nicht sinnvoll, dass wir uns alle in Gefahr begeben. Macht Euch keine Sorgen. Es ist mein freier Wille und nicht das erste Mal, dass ich mich in Gefahr begebe.“ „Nun gut. Dann lasst uns alles vorbereiten. Wotan, lasst uns kurz absprechen, welche Schutzzauber wir wirken werden.“ Einige Zeit später fand sich Shanntak ohne Rucksack und Breitschwert vor der Treppe wieder, nur mit einem Kampfdolch bewaffnet. Die Rüstung hatte er zum Schutz

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anbehalten. Ein Hanfseil war quer über beide Schultern, den Rücken und die Brust entlang gebunden worden, und die Stränge bildeten damit vorn und hinten ein Kreuz. Das andere Ende war um den breiten Leib des Höhlen-bären geschnürt, der tiefer im Thronsaal stand. Hinter ihm hielten die restlichen Gefährten zusätzlich den Sicherungsstrick fest. Eine dünne Wasserblase umgab Shanntak, die ihn vor Blitzen bewahren sollte. Sein Panzer leuchtete rötlich und war unangenehm warm. Wotan hatte ihm erklärt, dass er aus der Ferne die Hitze regulieren und damit vor Kälte schützen konnte. Ein anderer Gebetszauber vom Erdenbewahrer hatte seine Haut verändert. Sie war zäh und dick wie Leder geworden und sollte ihn vor Feuer bewahren. Die Zauber waren anders als die, welche die Urkorrs des Imperiums verwen-deten. Doch waren die Prozeduren ähnlich wie jene, die er während seiner Ausbildung und bei den Schlachten kennengelernt hatte. Er wusste, dass er für einen Urkorr durch die viele Schutzmagie auf der mystischen Ebene erstrahlen würde wie ein Stadtbrand in der Nacht. Es war ein bedeutsamer Moment für Shanntak. Er war wieder einmal in Gefahr, im Kampfeinsatz, doch er allein hatte sich so entschieden, aus freien Stücken. Und es war das erste Mal, dass er sich auf jemanden verließ, der kein Namenloser war. „Wir sind bereit, Shanntak“, tönte der Bass Wotans. Umsichtig setzte Shanntak den ersten Schritt auf die unterste Stufe. Die mit ihm wandernde Wasserblase machte den Stein nass. Mit höchster Aufmerksamkeit suchte er seine Umgebung nach der geringsten Verän-derung ab. Er wollte die Schutzzauber nicht auf die Probe stellen. Wenn sich der Raumbann auslöste, würde er sich so schnell wie möglich aus dem Treppenschacht her-

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ausbewegen. Sein schwerer Stiefel berührte den vierten Treppenabsatz, und er spannte seine Muskeln. Alles blieb ruhig. Die fünfte und sechste Stufe waren genommen, ohne dass sich etwas regte. ‚Acht, neun, zehn, elf.‘, zählte er in Gedanken mit. Sein Fuß trat ins Leere, versank in der Treppe. Überrascht kippte er nach vorn, griff um sich und fasste nur Luft, fasste durch den Stein der Stufen hindurch. Sein geschulter Verstand erkannte, worum es sich handelte, ohne dass es ihm noch etwas genutzt hätte. ‚Eine Illusion!‘ Das Trugbild der Treppe verschwand, und er sah nun, dass er in eine Grube stürzte, in deren Boden viele spitze eiserne Pfähle eingelassen waren. Kühl kalkulierte er, dass bei der Tiefe der Grube bei einem Aufprall jede Rüstung von den Eisendornen durchschlagen werden würde. Rasend schnell näherten sich die tödlich funkelnden Spitzen. Dann endlich kam der von Shanntak erwartete Ruck, der seinen Sturz aufhielt. Er baumelte am Seil nicht weit von den Pfählen entfernt und hätte nur den Arm ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Langsam wurde er hochgezogen. Die ersten Treppenstufen kamen in seine Reichweite, die nun wie eine Klippe über die Grube ragten. Er erfasste den Rand und zog sich hoch. Als er sicher wieder auf dem kleinen Treppenabsatz stand, sah er sich noch einmal prüfend um. Der Treppenschacht hatte nun ein völlig anderes Aussehen. Elf echte Stufen führten in den Schacht hinauf, dann ging es mehrere Pferdelängen abwärts. An der linken Wand befanden sich weitere schmale Stufen, die nur einen Fuß weit aus der Wand ragten. Diese schmale Treppe war nicht mit dem ersten Treppenabsatz verbunden, sie begann einen Schritt von den anfänglichen Stufen entfernt. Haltegriffe waren an der linken Wand angebracht, ohne die eine Benutzung

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der schmalen Treppe eine gefährliche Angelegenheit gewesen wäre. Am oberen Ende gelangte man auf eine steinerne Plattform und zur nächsten Tür. Die Schutzzauber, die den Krieger umgaben, verschwan-den, und Faban kam aufgeregt auf die ersten Stufen. „Bei allen Behütern und Dämonen, was sind wir doch für Narren gewesen, nur mit elementaren Kräften zu rechnen. Ich bin froh, dass du wohlauf bist, Shanntak.“ Der große Drakaner wandte Faban sein hartes Antlitz zu, der Ausdruck darin undeutbar für den Magier, verborgen hinter Eckzähnen und wuchtigen Knochen. „Dennoch haben wir den Raum überwunden, Meister Faban.“ Ein seltenes kurzes Lächeln erhellte Shanntaks Züge und ließ sie dabei durch seine kräftigen Eckzähne nur bedingt freundlicher Wirken. „Mit einem Seil und Muskelkraft statt mit Magie.“ „Ja, in Abusans Festung entbehrt das nicht einer gewissen Ironie.“ Oenothera schlenderte heran und rollte nebenbei das Halteseil auf. Ein zweites Seil war quer über ihre Schulter aufgerollt. „Du solltest unbedingt abnehmen, Shanntak. Du bist ein ganz schön schwerer Brocken! Ohne Kev hätten wir dich nicht halten können.“ Shanntak zog eine Augenbraue hoch. „Dann wirst du das nächste Mal vorgehen.“ „Ach?“, grinste sie frech und löste den Knoten von Shanntak. „Zu Befehl, Hauptmann. Meister Faban, ist der Treppenschacht noch mit einem weiteren Zauber be-legt?“ „Nein, das habe ich soeben überprüft.“ Flink schlang sie das Seil, welches immer noch mit Kev verbunden war, um ihre Hüften und sprang zu dem schmalen Treppenabsatz. Mit gutem Gleichgewichtssinn

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erklomm sie schnell die schmalen Stufen und benötigte kaum die Haltegriffe. Oben angekommen, schlang sie das mitgebrachte Seil ein weiteres Mal um den Knauf der oben befindlichen Eisentür und kam zurück. Mit einem militärischen Gruß und einem leichten Lächeln drückte sie Shanntak das Seil in die Hand. Ohne Regung sah Shanntak die Elfe an und sagte ruhig: „Auftrag beinahe gut ausgeführt, Soldat. Leider geht die Tür da oben in die andere Richtung auf …“ Zum Beweis zog er am Seil. Verdutzt sah Oenothera zur Tür, die sich nicht regte. Es stimmte, die verflixte Tür öffnete sich diesmal in den nächsten Raum, nicht in den Treppenschacht. „Verdammt!“ Wotan und Halgrimm fingen an zu lachen. Kev stimmte mit ein, was in seiner Bärengestalt sehr seltsam klang, und Faban versuchte mit einem Hüsteln sein Lachen zu verdecken. Mit ärgerlichem Gesicht und den Händen auf den Hüften sah Oenothera zu Shanntak auf. Dann musste auch sie lachen. Schließlich umspielte sogar Shanntaks Mund ein leichtes Grinsen. „Nun gut, der Sieg geht diesmal an dich, Hauptmann.“ Faban räusperte sich und wurde wieder ernst. „Nun denn, wir haben eine weitere Hürde geschafft. Halgrimm, ich muss feststellen, du hast ein sehr feines Gespür. Eine Illusion kann man nicht jahrzehntelang aufrechterhalten. Ich denke, sie wurde mit dem Öffnen der Tür ausgelöst, und das hast du bemerkt.“ Etwas verlegen nickte Halgrimm seinem Meister zu. Der Wechselbalg hatte unterdessen seine menschliche Gestalt angenommen. „Die schmale Treppe komme ich nicht als Bär hinauf“, erklärte Kev auf Wotans fragenden Blick.

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Der Erdenbewahrer kratzte sich am Bart und schaute zu der nächsten Tür auf. „Es hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten, dass sie in die andere Richtung aufgeht. Jetzt bräuchten wir eine Stange, um sie aufzudrücken.“ „Es gibt einen Zauber, der einen Gegenstand wie ein Geschoss beschleunigt“, schlug Halgrimm vor. „Wir schießen die Tür einfach auf!“ „Wenn sie nicht verriegelt ist, reicht auch ein kräftig abgeschossener Pfeil“, sagte Shanntak dazu. „Dann können die Urkorrs ihre arkanen Kräfte bewahren.“ „Einen Versuch ist es wert.“ Oenothera spannte ihren Bogen und überreichte ihn mit einem Pfeil Shanntak. Prüfend spannte der Hüne die Sehne, legte den Pfeil auf und stellte sich auf die ersten zwei Stufen der Treppe. Er zog die Sehne so weit nach hinten, dass der Bogen von der daraus resultierenden Belastung knarrte, und schoss. Der Pfeil schlug mit einem lauten Krachen auf die Vorderseite der Tür, zerbrach und hinterließ eine kleine Delle in der dünnen Eisenplatte. Der Schnappmecha-nismus klickte, und die Tür schwang langsam auf. „Kein Feuer?“, knurrte Wotan. „Das macht mich nervös.“ „Diesmal habe ich nichts gespürt“, informierte Halgrimm seine Begleiter. Shanntak gab den Bogen zurück und machte sich an den Aufstieg. Bevor Oenothera sich den Bogen umhing, untersuchte sie besorgt Holz und Sehne ihrer Waffe. Es hatte den Anschein, als hätte diesmal das Elfenhandwerk den Sieg über die rohe Kraft davongetragen. Trotz alledem würde sie ihm nie wieder ihren Bogen geben! Faban hielt sich bereit, um notfalls mit einem Zauber eingreifen zu können, und wartete angespannt den Aufstieg des Drakaners ab. Kev und Wotan folgten dem

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Krieger. Der war oben angelangt und lugte wachsam an der halb offenen Tür vorbei. „Hier ist eine Treppe, die in eine Kammer hinabführt. Sie ist bis auf einige Tierskelette leer.“ Wotan stellte sich zu Shanntak, stieß die Tür vollends auf, und mit einem Gebet auf den Lippen suchte er jeden Winkel des vor ihm liegenden Raumes ab. „Ich kann keine arkanen Schwingungen ausmachen – mit Ausnahme der gegenüberliegenden Tür. Auf der scheint wieder ein Aversionsbann zu liegen. Kommt rauf, es ist bis hierher sicher.“ Oenothera, Kev, Halgrimm und Faban standen bald darauf auf der Plattform vor der Tür und sahen sich um. Eine quadratische hohe Kammer mit achtzehn Schritt Kantenlänge eröffnete sich vor ihnen. Ein breiter Sims umlief in zehn Fuß Höhe die Wände. Vier Knochen-haufen mit Fell und Haarbüscheln und einige verstreute Gebeine lagen auf dem groben Boden. Gegenüber von ihnen befand sich eine weitere Tür, nach rechts öffnete sich ein schmaler, niedriger Tunnel mit einem zu drei Vierteln hochgezogenem Fallgitter. Der Tunnel war leicht abschüssig. Die Wände waren wie in dem Thronsaal gerade und glatt. „Das sind Skelette von Gorlachs.“ Oenothera schritt langsam, den Boden untersuchend, zu einer der Kno-chenanhäufungen. „Abusan hat sich anscheinend nicht nur auf seine Magie verlassen. Könnt ihr euch noch erinnern, was vor einigen Tagen Olagrion über diese Raubkatzen gesagt hatte? Gorlachs lauern ihrer Beute auf und nutzen ihre fantastische Tarnfähigkeit zum plötz-lichen Zuschlagen. Von dem Sims hätten sie uns ver-mutlich angesprungen. Es ist im Wald eine beliebte Jagdmethode von ihnen, sich vom Geäst auf ihr Opfer

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fallen zu lassen. Das wäre eine böse Überraschung gewesen.“ Sie zeigte auf den Tunnel mit dem Fallgitter. „Der Gang führt bestimmt zu ihren Käfigen, in denen sie die meiste Zeit gehalten wurden. Ihr Herr kam nie zurück, und sie sind verhungert.“ Mit einem letzten Blick auf die Knochen ergänzte sie: „Und haben sich vorher gegenseitig angefallen.“ Halgrimm fiel darauf hin ein: „Und mit den Aver-sionsbannen hat Abusan sie von den Türen fernge-halten.“ Kev schritt zum Tunnel, spähte hinein und fragte sich laut: „Er lässt die Gorlachs raus, wenn er seine Behau-sung verlässt, aber wie kam Abusan dann wieder an ihnen vorbei?“ Halgrimm antwortete: „Abusan wusste, was ihn er-wartete. Wenn ein Magier sich vorbereiten kann, stellt ein Tier kein Problem dar. Er könnte sie allerdings auch dressiert haben.“ Oenothera zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist das möglich. Ich weiß es nicht.“ „Kannst du feststellen, wie lange die Gorlachs hier liegen?“, wollte Faban von der Elfe wissen. „Nur sehr grob. Es gibt hier keine Insekten, die den Verrottungsprozess beschleunigen würden, dennoch sind nur noch Knochen, Haut und Fell vorhanden. Haare und Haut zerfallen nach Knochen am langsamsten, und das Fell ist nur noch teilweise vorhanden. Ihr Tod muss schon viele Jahrzehnte zurückliegen.“ „Auch drei Jahrhunderte?“ „Gut möglich. Sicher bin ich mir da aber nicht.“ Faban gab ein nachdenkliches Summen von sich. „Das ist gut. Lasst uns weiter und sehen, was der nächste Raum für uns bereithält. Wir sollten Vorsicht walten lassen.

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Wotan hat uns schon gewarnt, dass sie mit arkaner Kraft aufgeladen ist, und das wird nicht nur der Aversionsbann sein.“ Oenothera kümmerte sich abermals um die Öffnungs-prozedur. Die Gruppe ging zur Sicherheit bis zum Treppenschacht, bevor die Tür mit dem mittlerweile angesengten Seil aufgezogen wurde. „Nichts passiert“, stellte Halgrimm das Offensichtliche fest. „Es lag kein weiterer Zauber neben dem Aversions-bann auf der Tür.“ Wotan knurrte: „Na, zum Glück. Es ist sowieso schon unheimlich, wie viel Zeit und Kraft dieser Abusan in die Sicherung seines Verstecks investiert hat.“ Halgrimm seufzte auf: „Nach allem, was ich von ihm gehört habe, war nichts anderes zu erwarten gewesen.“ Angespannt machten sich die Gefährten auf, den nächs-ten Abschnitt zu erkunden. Ein kurzer gerader Flur erstreckte sich vor ihnen, dessen hinteres Ende gut von den magischen Lichtern Halgrimms und Fabans erhellt wurde und eine steinerne Tür offenbarte. In der Mitte des Flurs ging rechts eine weitere Eisentür ab. Faban trat vor und prüfte den Gang. „Die steinerne Tür ist mit arkaner Kraft erfüllt, der Flur hingegen scheint mit keinem Bann belegt zu sein. Erkunden wir erst einmal die rechte Tür.“ „Diesmal sollte ich vorangehen.“ Kev drängte sich zwi-schen Wotan und Faban, die den Durchgang versperrten, nach vorn. „Die Tür möchte ich mir erst einmal anse-hen.“ Shanntak folgte ihm und stellte sich mit gezogenem Schwert wachsam neben ihn. Kev besah sich den Riegel, die Scharniere, sah unter den Türspalt und klopfte zuletzt gegen die Eisenplatten.

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„Ich kann keine mechanischen Auslöser erkennen. Ich bin nicht gerade ein Experte, aber ich glaube, man kann sie gefahrlos öffnen.“ Shanntak machte Oenothera ein Zeichen, dass sie ihn mit ihrem Seil festbinden soll, und fragte dann Kev: „Wur-dest du von imperialen Schleichern geschult?“ „Ja, das gehörte zu den Dingen, die man mich zwang zu lernen.“ Shanntak nickte, schob Kev nach hinten und stellte sich neben die Tür. Derweil hatte Oenothera ihn mit einem Seil mit Kev verbunden, und der Wechselbalg verwan-delte sich erneut in die Gestalt eines gewaltigen Höhlen-bären. Er tapste so weit in den Knochenraum hinein, bis das Seil nicht mehr locker auf dem Boden lag. Faban bemerkte erfreut bei diesem reibungslosen Ablauf, dass sich die Gruppe immer besser einspielte. Shanntak zog langsam den Riegel auf und verharrte einen kurzen Augenblick neben der Tür. Da alles ruhig blieb, ging er in die Knie, zog die Tür auf und spähte in den nächsten Raum. Dann klopfte er mit seinem Schwert den Boden hinter der Tür ab. Shanntak überschritt die Türschwelle, und die Flüstersteiner konnten nur noch das Pochen des Schwertes auf dem Boden hören, das sich langsam entfernte. Das Sicherungsseil schrammte über die Kante des Türpfostens. Kev hielt das Seil unter leichter Spannung um bei einem Notfall sofort anziehen zu können. Wotan und Faban wollten dem Drakaner schon folgen, da hörten sie Shanntak schon wieder zurückeilen, und kurze Zeit später stand er wieder vor ihnen. „Ich habe eine Grube gefunden, wie man sie für Raub-tiere verwendet, die oben mit Eisengittern gesichert ist. Ich bin nicht so weit vorgedrungen, dass ich in die Grube

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hinabsehen konnte, aber ich denke, dies ist der Käfig, zu dem der Tunnel bei euch in der Kammer führt.“ „Gut. Also zur nächsten Tür“, entschied Faban. „Nun, das wird nicht so einfach“, stellte Oenothera fest. „Ich sehe keinerlei Griffe oder Riegel, und die Tür geht nicht zum Flur hin auf.“ Die Elfe sah bei ihrer letzten Aussage kurz und intensiv zu Shanntak und ließ einmal ihre Augenbrauen in die Höhe zucken. „Also müssen wir sie wieder aufdrücken, und es ist wohl klar, dass wir diese Steinplatten nicht mit einem Pfeil aufschießen können.“ „Wir werden wieder jemanden mit Schutzzaubern ver-sehen müssen“, stellte Wotan fest. „Ein weiteres Mal kann ich das allerdings nicht mehr machen, wenn ich dann noch Kraft für einen Kampf haben soll.“ „Wir werden sofort lagern, wenn wir zu erschöpft sind“, sagte Faban daraufhin. „Wir sind zwar in der Bedrängnis, unsere Erkenntnisse so schnell wie möglich in die Heimat bringen zu müssen, doch dies geht nur, wenn wir über-leben. Ich will niemanden mehr verlieren.“ Shanntak streifte seinen Rucksack ab. „Ich werde wieder vorangehen. Mit Eurem Einverständnis natürlich, Meister Faban.“ „Ja, du bist die beste Wahl. Ich danke dir.“ Mit Anerkennung in der Stimme sagte Wotan: „Shanntak, es ist mir eine Ehre, einem so mutigen Mann den Segen Toorns zukommen zu lassen.“ Mit diesen Worten begann Wotan seine Gebete. Braunes Leuchten umspielte seine Hände, mit denen er Shanntaks Plattenpanzer berührte. „Dem Lob will ich mich gern anschließen“, sagte Faban ernst und fing seinerseits an, seinen Zauber zu weben.

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„Ich würde mich gern beteiligen und Euch entlasten, Meister Faban.“, meldete sich Halgrimm mit pflichtbe-wusster Stimme. „Nuuun, mein Junge …“ Einen Moment lang zögerte Meister Faban, bis er weitersprach: „Sei mir nicht böse, das muss ich ablehnen. Deine Zauber sind nicht gerade zuverlässig, und das ist das Wichtigste bei Schutzzaubern. Du würdest mir aber helfen, wenn du einen Lichtzauber auf Shanntaks Brust anbringen würdest.“ Halgrimm versucht sich seine Enttäuschung nicht anmer-ken zu lassen, sein Gesicht verriet aber einen kurzen Moment lang seine Gefühle. Wotan knuffte Halgrimm mit dem Ellbogen gegen das Bein. „Du hast deinen Wert schon in der letzten Schlacht bewiesen. Alles Weitere wirst du noch lernen.“ Halgrimm deutete eine Verbeugung zu dem Erdenbe-wahrer an. Als die Aufmerksamkeit von ihm abließ, hörte er auf, die Luft anzuhalten. Verstohlen rieb er sich sein Bein. Shanntak war bald darauf mit Bannen umgeben, die ihn abermals vor Kälte, Hitze und Blitzen schützten. Ein sanfter blauer Schimmer auf seiner Brust würde ihm in der Dunkelheit Licht spenden, ohne ihn zu blenden. Als letzte Vorbereitung überprüfte er wie so oft seine Aus-rüstung, zog Riemen fest, schob seinen Schultergürtel mit den Wurfeisen zurecht und überprüfte den Sitz seines Helms. Dann wandte sich der Drakaner noch einmal dem Ordensmeister zu. „Gibt es weitere Dinge, die ich beachten muss?“ Faban bejahte. „Fass die Tür nicht direkt an. Benutze einen Gegenstand, wenn du sie aufdrückst. Und betritt nicht den Raum, sondern warte auf den Erdenbewahrer und mich.“

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„Verstanden. Könnte wieder eine Illusion ausgelöst wer-den?“ „Vielleicht, obwohl ich denke, dass Abusan nur einmal so etwas vorbereitet hat. Überlebende werden nach der Treppe mit Illusionen rechnen. Aber wer weiß, nimm erst mal nichts, was du siehst, als gegeben an.“ „Verstanden.“ Shanntak nahm sein Breitschwert zur Hand und machte sich zur Steintür auf. Dabei achtete er genau auf den Boden, den er beschritt. Die anderen blieben zur Sicher-heit in der Knochenkammer zurück. Gebannt verfolgten sie den Weg des Kriegers – Wotan und Faban an vorder-ster Stelle – und hielten sich zum Eingreifen bereit. Der Zwerg sah anerkennend zu, wie gelassen und konzentriert sich der Drakaner zum nächsten Durchgang vortastete. Er war äußerst froh, dass Shanntak sich ihnen ange-schlossen hatte. Ohne Neid erkannte Wotan an, dass der Hüne ihnen allen an Kraft und Kampfgeschick überlegen war. Nur ein leises Bedauern lag in ihm, das ihm selbst solche Fähigkeiten fehlten, weil es seinem Vater so wich-tig gewesen war, dass er sie bekam. Als er von einem Be-hüter zum Erdenbewahrer berufen wurde, beendete dies seine Ausbildung zum Krieger, und die Lehren des Priestertums begannen. Seinen Vater, ein angesehener Schlachtenführer bei seinem Volk, hatte dies sehr ent-täuscht. Wotan schob seine Gefühle beiseite, als er sah, dass Shanntak die steinerne Pforte erreichte und sich daranmachte, sie mit seinem Schwert aufzudrücken. Die Tür bestand aus einer dicken Granitplatte und war viel schwerer als die geschmiedeten Türen aus Eisenblech. Shanntak musst sich anstrengen, damit sie sich bewegte. Ohne erkennbare Geschehnisse auszulösen, schwang sie auf, was die Gruppe unangenehm überraschte. Wotan

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knurrte einige Zwergenflüche, Kev räusperte sich nervös, Oenotheras Augen wurden schmal, und Halgrimm kaute auf seiner Unterlippe. „Sei vorsichtig und geh keine Risiken ein!“, rief Faban unnötigerweise hinter dem Drakaner hinterher. „Ein weiterer kurzer Gang“, meldete Shanntak. „Am Ende befindet sich erneut eine Steintür. In der Mitte der linken Wand ist noch eine weitere Tür aus Granit.“ Faban sagte: „Warte, wir schließen zu dir auf.“ Wotan, Oenothera und Halgrimm folgten ihrem Anführer, Kev blieb hinten zurück, damit Shanntaks Sicherungsseil straff blieb. „Sehr seltsam.“ Halgrimm besah sich hinter der halb geöffneten Steintür den weiterführenden Flur und die nächste Steintür. „Warum wurde der Gang noch einmal mit einer Tür in der Mitte abgetrennt?“ Er schaute hinter sich zur großen Kammer, von der sie gekommen waren. „Die Eisentore zum Gorlachraum und der Grube reichen doch, um die Raubtiere auszusperren.“ Faban fing an, nachdenklich vor sich hin zu brummen, und Wotan schimpfte: „Das wird auf jeden Fall nichts Gutes bedeuten. In diesem Abschnitt des Ganges ist ein mächtiger Zauber eingeflochten. Er leuchtet nur so vor arkaner Energie.“ „Und nicht nur der Gang“, schloss sich Faban tief besorgt an. Angespannt zupfte er an seinem Schnurrbart. „Die letzte Steintür hat ebenfalls viel magische Kraft gespeichert.“ Ein tiefes Brummen kündigte von Kev, der ungeduldig hinter ihnen wartete. „Kann man die Türen nicht zerstören und damit den Bann, der auf ihnen liegt, gleich mit?“, fragte Oenothera.

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„Das könnte gehen“, antwortete der alte Ordensmeister. „Wenn ein magisch aufgeladener Gegenstand zerstört wird, werden die Schöpfungsenergien mit einem Schlag frei. Wir sollten dann nicht in der unmittelbaren Nähe sein, dann wird es gehen. Allerdings wird es nicht einfach werden, diese schweren Granitplatten zu zerstören.“ „Aber ihr habt einen Erdenbewahrer bei euch“, erinnerte Wotan sie grimmig. „Toorn ist dem Zwergenvolk zugetan und hat den Erdenbewahrern Macht über das Gestein gegeben. Eine Hilfe für unser alltägliches Leben in den Bergen.“ Faban gab zu: „Natürlich, wie dumm von mir! Die Gabe der Erdenbewahrer wird uns hier sehr nützlich sein.“ „Ich denke, ein Zauber kann die Wirklichkeit nur kurz verändern?“, fragte Kev dazwischen. „So ist das auch.“ Halgrimm war eifrig dabei, die Frage zu beantworten. „Aber die Auswirkungen eines Zaubers können dauerhaft sein.“ „Wie bitte?“ „Einen Feuerstrahl kann man nur für kurze Zeit erschaf-fen, aber die Sachen, die er entzündet, brennen auch nach seinem Verschwinden und werden zerstört. Wotan hatte gestern beim Kampf gegen den Golem den Felsboden unter ihm in Sand verwandelt. Kurze Zeit später wurde der Sand wieder zu Felsen. Hätte man aber den Sand vor Ablauf des Zaubers verstreut, wären bei der Rück-verwandlung viele kleine Steine entstanden – oder, wenn der Sand zusammenhängend gewesen wäre, eine dünne Schicht aus Fels.“ Kurz stockte Halgrimm und runzelte die Stirn. Dann fragte er Wotan: „Wo ich gerade dieses Beispiel erzähle: Warum hast du nicht gleich den Golem in Sand verwandelt?“

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„Das habe ich versucht. Aber irgendwie konnte ich den Bann nicht mit dem Golem verweben. Ich glaube, das Material, aus dem der Golem bestand, war kein Stein. Mein letzter Ausweg war, ihm mit dem Zauber den Boden unter den Füßen wegzuziehen.“ Faban winkte unwirsch ab. „Wir driften vom eigentlichen Problem weg. Die Schutzzauber auf Shanntak wirken nicht mehr lange. Wir sollten sie noch ausnützen und jetzt die erste Steintür zerstören. Lasst uns zurück in den Knochenraum gehen. Dort sollten wir sicher sein. Wotan, könnt Ihr von dort aus Euer Gebet wirken?“ „Ja, das sollte gehen.“ Die Gefährten zogen sich in die Kammer zurück. Nur Wotan stand am Anfang des Ganges. Shanntak stellte sich zum Eingreifen neben ihn und überprüfte wie leichtgängig die Eisentür war, die den Knochenraum zum Gang hin verschloss. Die anderen standen etwas entfernt an der Wand. Wotan öffnete sich für die Macht der Schöpfung und begann das lange Gebet, das er am Vortag schon beim Golem gewirkt hatte. Ein letztes Wort erschallte, dröhnte mit Macht in der Kammer wieder. Shanntak beobachtete, wie ein graues Gleißen die Steintür umgab. Kurz darauf löste sich der Granit auf, und es rieselte mehr und mehr Sand zu Boden. Etwas in der sich auflösenden Tür fing an, in allen Farben zu wabern. Ein hoher, zerreißender Ton entstand, der lauter und lauter wurde. Shanntak sah prüfend zu Wotan, der ein überraschtes Gesicht machte und wie erstarrt das Phänomen beobachtete. Das Wabern wurde hektisch schnell. Der Ton erreichte eine Lautstärke, bei der die Ohren zu schmerzen anfingen. Shanntak griff am Kra-genbereich in das Kettenhemd des Erdenbewahrers und zog ihn kurzerhand von der Türöffnung weg. Gleichzeitig

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schmetterte er mit dem Fuß die Eisentür zu. Ein Rauschen gesellte sich zu dem grellen Ton, dann ein mächtiger Knall. Mit enormer Gewalt wurde die Eisentür aufgestoßen und krachte gegen die Wand, wo einen Augenblick zuvor Shanntak mit Wotan gestanden hatte. Abrupt endete der widerliche Ton. Ein helles Farbenspiel strahlte vom Gang in die Kammer hinein und verwirrte mit seinem Wechselbad der Tönungen Auge und Geist. Ein Wind kam auf, zog von dem Gang in die Kammer, und ein fernes Donnergrollen war zu vernehmen. „In die Ecke, hierher in die Ecke!“, hörte Shanntak Meister Faban gegen den orkanartig werdenden Wind anschreien. Wotan und er rannten zu ihren Gefährten, die sich in eine Ecke in der Nähe des Tunnels zurückgezogen hatten. „Was passiert hier?“, rief Oenothera zu Faban. Bevor Faban antworten konnte, blies der Wind noch stärker, wilder und wurde eisig kalt. Eine Raureifschicht breitete sich rasend schnell vom Gang in die Kammer aus. Die Temperaturen sanken rapide schnell. „Bei den Behütern“, rief Wotan entsetzt, „was habe ich da ausgelöst?“ Beim Sprechen bildeten sich weiße Dampfwolken vor seinem Mund, wie im tiefsten Winter. Der Frost kroch bereits durch die Kleider der Such-truppe, und die Temperaturen sanken weiter. „Wilde Magie!“, antwortete Faban so laut er nur konnte. „In den Tunnel! Dort müssen wir dann einen Schutz gegen die Kälte aufbauen, Erdenbewahrer.“ Sie beeilten sich, in den Tunnel zu gelangen. Außer dem Zwerg mussten sich alle leicht bücken, um ihn zu be-treten. Der Höhlenbär folgte zuletzt. Er versuchte sich in den Tunnel hineinzudrängen, aber selbst als er sich auf den Bauch legte gelang es ihm aufgrund seiner gewal-

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tigen Ausmaße nicht hineinzukriechen. Der Körper des Wandlers begann sich zu verformen und bildete sich zu Kevs Körper um. Ächzend kam er aus der knienden Haltung hoch und humpelte steif in den Gang hinein. Der Wind folgte ihm, drang aber wie erhofft nur ab-geschwächt in den Tunnel ein. Der Frost jedoch ließ sich nicht aufhalten. Es war so bitterkalt geworden, wie es nicht einmal ein schlimmer Winter zustande brachte. An Halgrimms Gürtel zerriss unvermittelt ein voller Was-serschlauch. Oenothera zeigte auf das zerplatzte Leder. „Das Wasser gefriert! In dieser kurzen Zeit!“ Shanntak, noch umgeben von den Schutzzaubern, baute sich vor dem Tunneleingang auf und schirmte damit etwas die Gruppe ab. Er war der Einzige, der nicht unter den Auswirkungen zu leiden hatte. Die Nasen und Ohren der anderen verfärbten sich bereits blau und deuteten Erfrierungen an. Oenothera klapperte erbarmungswürdig mit den Zähnen. Arme umfingen sie, und Kev zog Oenothera an sich und barg sie an seiner Brust. Faban zitterte am ganzen Leib, als er versuchte, sich in eine Trance fallen zu lassen. Die von ihm gewirkten Schutz-zauber auf Shanntak erloschen. „Wotan, es geht nicht! Die Kälte saugt mir alle Kraft aus dem Körper. Ich kann mich nicht für einen Zauber sammeln.“ „Shanntak, nimm Meister Faban in die Arme und drücke ihn an deine Rüstung!“ „Verstanden!“ Wotan zitterte ebenfalls wie Espenlaub. Sein Hitzezauber auf Shanntaks Rüstung war jedoch bereits gewirkt, und er musste nur noch etwas Kraft kanalisieren, um ihn zu verstärken. Fabans Rücken wurde von der Rüstung

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erwärmt und milderte die Auswirkungen des Frosts. Er-neut konzentrierte sich Faban. Halgrimm spürte die Macht, die sich in seinem alten Lehrer aufbaute. Ärgerlich und traurig bemerkte er, dass niemand ihn gefragt hatte, ob er nicht helfen könnte. Seine Gefährten trauten ihm nichts zu – oder hatten Angst vor den Auswirkungen seiner Zauber. Die Luft vor dem Tunneleingang flimmerte, und schlag-artig verschwand die schlimmste Kälte. Ein Hitzevorhang erhob sich und schloss die Gemeinschaft vom Knochen-raum und dem plötzlich entstandenen Wintersturm ab. „Ich hoffe, der Sturm hört auf, bevor mich meine Kräfte verlassen“, seufzte Faban und ließ sich schwach zu Boden sinken. „Ansonsten muss ich eine neue Hitzewand weben, wenn Ihr nicht mehr könnt“, meldete sich Halgrimm. Sein Mentor nickte kraftlos. „Wenn es so weit kommt, setze so wenig Kraft wie möglich ein. Schau nicht so, Halgrimm. Ein zu machtvoller Zauber könnte uns alle das Leben kosten.“ Halgrimm seufzte auf und presste seine blauen Lippen fest zusammen. Oenothera holte ihre Decke hervor und legte sie für Faban als bequemere Sitzgelegenheit auf den Boden zurecht. „Seht euch das an.“ Wotan starrte durch den flimmern-den Vorhang aus heißer Luft in die Knochenkammer. Aus dem Gang, in dem Wotan die Steintür zerstört hatte, peitschten Schneeflocken in die Knochenkammer, als wäre dort ein Schneesturm losgebrochen. Erste Schnee-wehen bildeten sich, und der Felsboden verschwand langsam unter einer weißen Decke. Vor dem Eingang des Tunnels entstanden Wasserlachen, die bei Kontakt mit

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dem heißen Luftvorhang verdampften. Wotan schüttelte den Kopf bei dieser Szenerie. „Was passiert hier, Meister Faban? So etwas habe ich weder erlebt noch je davon gehört.“ Faban schwitzte heftig, und seine Atmung wurde schnel-ler. „Ich bin mir nicht sicher. Dies ist ungezügelte, ungelenkte Schöpfungskraft; im Orden sprechen wir von wilder Magie. Ich kann nur vermuten, das Abusan damit gerechnet hat, dass seine arkan aufgeladenen Gegenstän-de zerstört werden. Irgendwie hat er es bewerkstelligt, dass sich die gespeicherte Macht nicht verflüchtigt, sondern in willkürlicher Magie entlädt. Dieser Wahnsin-nige! Alles hätte passieren können – auch dass sein gesamtes Versteck mit uns zusammen vernichtet worden wäre. Wir hatten noch Glück mit diesem Schneesturm!“ Oenothera lachte auf. „Das muss sich noch herausstellen. Bereits jetzt haben wir leichte Erfrierungen davonge-tragen. Die Konsequenz, die Abusan an den Tag legt, lieber seine Werke zu vernichten, als sie jemand anderem in die Hände fallen zu lassen, ist furchterregend.“ Halgrimm entgegnete: „Aber es passt zu allem, was wir über ihn gehört haben. Ich denke, wir werden wohl keine Türen oder sonstigen magischen Gegenstände mehr zerstören.“ Wotan schaute grimmig zu Halgrimm: „Oh ja, das werden wir schön bleiben lassen! Auf die Art können wir seine Fallen nicht umgehen. Am meisten ärgert mich, dass dieser Dämon von Abusan uns eine Lektion erteilt hat, ohne dabei anwesend sein zu müssen.“ Schweigend sahen sie eine Zeit lang dem Tosen zu, zur Untätigkeit verbannt. Schließlich stöhnte Faban schweiß-gebadet auf und rang nach Luft. „Junge, deine Zeit ist

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gekommen! Ich kann nicht mehr; du musst nun unser Leben schützen!“ Halgrimm machte sich bereit und konzentrierte sich. „Ich werde dir kaum eine Hilfe sein.“, murmelte Wotan beschämt zu ihm. „Ich könnte nur einen Kälteschutz auf jemanden wirken, aber meine arkanen Kräfte reichen nicht mehr für alle.“ Das Hitzeflirren am Eingang des Tunnels verging, und die Kälte sprang sie regelrecht an. „Nein, warte Halgrimm“, sagte Wotan. „Hört, der Wind nimmt ab.“ Halgrimm prüfte konsterniert die Worte des Erdenbe-wahrers. Tatsächlich, der Sturm flaute ab und es flogen keine Schneeflocken mehr aus dem Gang heraus. Es war zwar frostig, aber die tödliche Kälte war verflogen. Ver-zweifelt haderte Halgrimm mit seinem Schicksal. Das wäre seine Gelegenheit gewesen, Anerkennung zu be-kommen, zu zeigen, dass er nützlich war. Es sollte wohl nicht sein. Kev lachte freudig auf, und Oenothera rief begeistert: „Wir haben es überstanden!“ Shanntak knurrte nur: „Knapp.“ Wotan betrachtete den alten Ordensmeister, der sich auf Oenotheras Decke hingelegt hatte. Faban war ganz zittrig und sichtlich erschöpft. Der Schnee begann zügig zu schmelzen, und es bildeten sich ausgedehnte Pfützen. Bald schon würden Wasserrinnsale in den Tunnel abflie-ßen, in den sie sich zurückgezogen hatten. Wotan meinte: „Wir haben zwar heute nicht sehr viel getan aber wir müssen ausruhen. Ich kann nur nach und nach Eure Erfrierungen heilen und werde immer wieder Ruhepausen einlegen müssen. Wir brauchen zudem etwas warmes zu essen. An diesem Tag kommen wir nicht

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mehr weiter.“ Er beäugte den Knochenraum, in dem sich langsam ein flacher Teich bildete. „Hier wird es ziemlich ungemütlich, lasst uns zum Thronsaal zurück!“ Damit waren die anderen mehr als einverstanden. Die Rucksäcke wurden geschultert, und Halgrimm half sei-nem Meister auf. Die Gruppe zog sich in den Thronsaal zurück und schlug dort ein weiteres Mal ihr Lager auf. Halgrimm kümmerte sich liebevoll um seinen Lehrer und machte zu allererst eine Schlafstatt für ihn zurecht. Voller Erschöpfung ließ sich der alte Ordensmeister mit Dan-kesworten darauf niedersinken. Schon wenige Augen-blicke später war Meister Faban in einen tiefen Schlaf gefallen. Ob es nun an den Gesprächen seiner Gefährten bei ihrem Abendbrot lag oder an seinen Sorgen um die Vierfürstentümer – er hatte in dieser Nacht einen intensiven Traum. Seine Ängste manifestierten sich in diesem Traum, die Gefahr für seine Heimat und seinen Orden, die Versklavung der Vierfürstentümer, seiner Freunde und seiner Schüler.

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Welt Tepor, Drakanisches Imperium – nördliche Provinzen, Hafenstadt Inusta Inusta, die größte Stadt der nördlichen Provinzen rückte unverhofft und unwillig in den Mittelpunkt der Politik des Eisernen Thrones. Seit den letzten Wochen herrschte große Aufregung und Geschäftigkeit in Inusta, die den nördlichsten Hafen des Imperiums am Robbenmeer be-herbergte. Obwohl sich hier eine Werft für Kriegsschiffe befand, war der Hafen bisher nie voll belegt gewesen. Einige wenige Galeeren waren zum Schutz in Inusta stationiert, der Rest der Schiffe waren einfache Fischer-boote. Nun war der Hafen überfüllt, obwohl sich kein einziges Fischerboot mehr dort befand, und es gab trotzdem nicht genügend Liegeplätze für die drakanische Flotte. Die Kriegsgaleeren des Imperiums waren breite, lange Ungetüme mit einem großen Mast in der Mitte und einem kleinen vorn, an denen jeweils ein Segel hing. Mas-sig und ungelenk dümpelten sie mit ihren zwei Decks im Wasser. Unzählige Ruder ragten in zwei übereinander-liegenden Reihen vom Ober- und Unterdeck aus den Rümpfen. Die Kriegsschiffe waren mit schweren dreh-baren Geschützen bewaffnet, jeweils eins mittig auf jeder Längsseite und eins auf dem Heck. Vorn vor dem ersten Segel befand sich ein Katapult, mit dem brennende mit Öl gefüllte Tonkugeln abgeschossen werden konnten. Diese wehrhaften Schiffe waren schwerfällig und lang-sam. Dafür blieben sie dank der Ruder auch bei Wind-stille in Bewegung und fassten große Mengen an Ladung. Hundertzweiundneunzig dieser Schiffe waren bei Inusta zusammengezogen worden, und bei dieser Menge musste ein Großteil der Flotte vor dem Hafen ankern. Ein Wald

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von Masten veränderte auf einmal das sonst ebenmäßige Bild des Meeres vor den Molen. Im Hafen selbst konnte man vor lauter Schiffen kaum noch das Wasser sehen. Jeste warf einen letzten Blick auf die überfüllten Kai-anlagen seiner Heimatstadt und rückte seine Stoffmütze zurecht. Es war ein langer Arbeitstag gewesen, ein Tag, den er ausschließlich im Dienst der drakanischen Armee verbracht hatte. Sein Fischerboot lag seit ein paar Wochen ungenutzt vor dem Hafen, und er machte sich Sorgen, dass ein plötzlich aufkommender Sturm es ohne den Schutz des Hafens zerstören würde. Er seufze auf und versuchte seine Sorgen beiseitezuschieben. Es hatte keinen Zweck und würde nichts an seiner Situation ändern. Solange die Armee hier stationiert war, mussten er und die anderen Fischer Dienstarbeiten für das Impe-rium leisten. Jeste wandte sich vom Hafenbecken ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Mit den Galeeren waren viele Veränderungen in die Stadt gekommen. Jeste konnte sich nicht erinnern, dass die Stadt jemals so voll gewesen war. Innerhalb der letzten acht Wochen hatte sich die Einwohnerzahl Inustas bestimmt um mehr als das Doppelte erhöht. Aus und vorbei war es mit dem geruhsamen Leben! Unzählige Handwerker waren ange-reist, und mit ihnen ein Heer Hilfsarbeiter. Darunter war fremdartiges Volk, wie Gnome und Zwerge. In Inusta sah man sonst nur einige Elfen, die aber im Wald lebten und die Stadt ab und zu mit ihren Waren besuchten oder etwas für sich kauften. Am schlimmsten empfanden Jeste und seine Frau die Soldaten, welche gleich nach den Handwerkern eintrafen. Zwei vollständige Schotahrs. Es gab immer Scherereien, wenn Soldaten in großer Zahl anwesend waren. Zwar mussten sich auch Soldaten vor dem Gesetz des Imperiums verantworten, wenn sie etwas

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Unrechtmäßiges begingen, es war jedoch schwierig, solches vor einem Gericht zu beweisen. Oft deckten die Kameraden eines Soldaten seine Tat, und das Wort ein-facher Bürger wog vor den drakanischen Gerichten nicht so schwer wie das von alten Veteranen oder Offizieren. Zum Schrecken der Bürger waren im Gefolge der zwei Schotahrs noch andere Soldaten. Hünenhafte, muskelbe-packte Wesen – ein unbekanntes Volk von Kriegern. Jeste hatte von seinen Freunden die im Lager des Heeres arbeiteten gehört, dass man sie die Namenlosen nannte. Und sie erzählten weiter, niemand wusste, woher sie auf einmal kamen. Man munkelte, dieses neue Volk sei dem Eisernen Thron absolut treu ergeben, und sie würden das Imperium bis zur Selbstaufopferung verteidigen. Seine Frau Jette meinte, dass man von diesen grausamen Ge-sichtern keine Milde erwarten durfte. Die Namenlosen wären bestimmt noch schlimmer als jeder Soldat. Bei diesen Aussichten hoffte Jeste inständig, dass seine Familie und Freunde die kommenden Tage unbeschadet überstehen würden. Er kam an einigen provisorisch errichteten Lagerhäusern vorbei, die eilig für die Armee aus dem Boden gestampft worden waren. Hier lagerten die Ausrüstungsgegen-stände, Waffen, und Trossgüter der beiden Schotahrs, die tagtäglich von ankommenden Karawanen geliefert wur-den. Die Soldaten schliefen zum Glück vor den Toren in einer zweiten Stadt aus Zelten und waren nicht in Inusta untergebracht. Von den Lagerhäusern hatte es Jeste nicht mehr weit zu seinem bescheidenen Heim. Er durchschritt eine kleine Gasse und kam auf einer der breiten Hauptstraßen Inustas heraus. Sogleich verstärkte sich der allgegenwärtige Gestank von Unrat und Menschenmas-sen, den es vor der Ankunft der Schotahrs nicht gegeben

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hatte. Tagsüber herrschte dieser Tage auf den Handels-straßen ein einziges Chaos. Fuhrleute wetteiferten mit Bauern um die Durchfahrt ihrer Wagen und fluchten, was das Zeug hielt. Doch es war Abend, und da waren es eher Soldatentrupps, die sich rigoros durch die Straßen dräng-ten und nach etwas Spaß und Streit suchten. Jeste schaute sich erst einmal um, ob solch ein Soldatenhaufen unter-wegs war. Als ihn jemand von hinten ansprach, fuhr der Fischer gehörig zusammen. „’n Abend, Jeste.“ Als Jeste sich mit schlagendem Herzen umdrehte, erblick-te er seinen Nachbarn, der mit beiden Händen in den Taschen seiner schmutzigen Zimmermannshose vor ihm stand. „Mann, Oltek, hast du mich erschreckt!“ „He, he. Hast wohl gedacht, dass einer der Kampfhunde es auf dich abgesehen hat, wa?“ „Klar, was sonst? Wenn die betrunken sind und kein höherer Rang in der Nähe ist, machen die, was die wollen. Woher kommst du denn grade?“ „Musste auf einer der Galeeren einen Katapultarm austauschen. Hat bis heute Abend gedauert. Mensch, ich komm gar nich’ mehr zu meiner eigentlichen Arbeit! Der neue Dachstuhl für unseren Bäcker wird so nie fertig.“ „Wem sagst du das? Ich war schon lange nicht mehr auf dem Meer zum Fischen. Wenigstens sorgt der Eiserne Thron dafür, dass wir Essen bekommen, solange wir für die Flotte arbeiten.“ Oltek spuckte aus. „Das ist ja auch das Mindeste. Aber nur wegen des Essens allein arbeitet niemand von uns. Das, was wir an Geld in dieser Zeit verlieren, welches uns für Kleidung und andere wichtige Sachen fehlt, ersetzt uns niemand. Ich kenne keinen in Inusta, der diesen dummen Krieg will.“

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„Psst. Wenn dich jemand hört!“ „Ach, ist doch wahr! Krieg ist schlecht fürs Geschäft, weiß doch jeder. Jedenfalls für uns kleine Leute.“ „Aber die Vierfürstentümer lassen uns doch keine andere Wahl! Die versuchen doch dauernd, uns zu erobern. Wenn die an der Macht sind, wird es noch viel schlim-mer. Wir haben wenigstens Gesetzte, die auch uns ein-fachen Leuten Recht verschaffen.“ „Das glaubst du doch nicht wirklich, Jeste, oder? Was ist denn hier mit den Soldaten, die über die Stränge schla-gen? Da drückt die Obrigkeit immer wieder mal ein Auge zu.“ „Ja, stimmt schon. Aber wenn ein Urkorr bei einem Gerichtsverfahren zugegen war, wurde auch schon mal gerecht geurteilt. Also, ich mein, ab und zu mal. Immerhin …“ Oltek schien zu erschauern, als er von den Urkorrs hörte. „Aahh, ich weiß nich’. Gibt schon Urkorrs, die sich an die Gesetzte halten, wenn man den Geschichten glaubt. Aber die Urkorrs sin’ mir nich’ geheuer.“ Jeste nickte zustimmend und machte dann eine ratlose Handgeste. „Ich weiß auch nicht … Jedenfalls behüten die Urkorrs uns vor den Wilden hinter dem Felmon-gebirge.“ „Ja, ja. Wenn’s stimmt, ist’s nett von ihnen. Aber wieso kämpfen unsere Leute dann da drüben, wenn doch eigentlich die Barbaren uns angreifen?“ „Na, hör mal, wartest du so lang, bis das Feuer vom Nachbarhaus auf dein Dach zugreift? Was meinst du, was die Wilden mit unseren Feldern machen würden, wenn die unsere Städte angreifen? Sie würden ungeschützte Dörfer brandschatzen, und es gäbe bestimmt eine Hungersnot.“

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„Mhm, hast auch wieder recht.“ Eine Tür ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Ein Schwall von lautem Krakeelen und schlechtem Gesang schwappte durch den Eingang nach draußen. Ein paar angetrunkene Soldaten verließen eine Schankstube und zogen einen haarlosen Mann mit derben Kleidern und einer umgebundenen Schürze mit sich. Einer brüllte den Mann an: „So, gepanschtes Bier willst du uns also andrehen!?“ „Aber nein, so etwas würde ich nie machen! Es tut mir leid, ich habe kein Starkbier!“, versuchte der Mann sich zu verteidigen. „Oh weh, das ist eine Veteranentruppe“, raunte Jeste leise. „Und ein übler Haufen dazu.“ Jeste und Oltek zogen sich schleunigst in den Schatten der kleinen Gasse zurück, vor der sie sich getroffen hatten. Schwere Stiefelschritte auf Kopfsteinpflaster dröhnten von einem Ende der Straße herauf. Eine Einheit Namen-loser war in die Straße eingebogen und kam auf die Veteranen zu. Die betrunkenen Soldaten schubsten den jammernden Wirt zwischen sich herum und achteten nicht weiter auf ihre Umgebung. Erst als die Namenlosen nicht mehr weit entfernt waren, schaute einer der Vete-ranen auf. Sein Lachen verblasste, als er sah, was da auf sie zukam. Mit einem Ruf warnte er seine Kameraden. Der Rest der Haudegen wurde auf die Namenlosen auf-merksam, und rasch gingen sie dem Trupp aus dem Weg. Einer der Soldaten schleppte den Wirt am Schlafittchen mit zum Straßenrand. Oltek knuffte den neben ihm hockenden Jeste in die Seite und flüsterte: „Dass Veteranen ohne einen Mucks einfach so jemandem aus dem Weg gehen, habe ich auch noch

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nie gesehen. Die Namenlosen müssen ja eisenharte Bur-schen sein!“ Jeste legte nur den Finger auf die Lippen. Die Einheit der Namenlosen war auf der Höhe der Vete-ranen, als sie wie auf Kommando stehen blieben, ohne dass Jeste oder Oltek einen Befehl gehört hätten. Reglos und still standen sie auf der Straße und verzogen keine Miene, die raubtierhaften Gesichter und die harten Augen blickten geradeaus. Der Namenlose, der dem Trupp vor-angegangen war, drehte sich zu den Veteranen. Selbst-sicher drang seine harte Stimme, rau wie rostiges Eisen, auf die Soldaten ein. „Ist das eine angeordnete Fest-nahme, Soldat, oder was macht ihr mit dem Mann da?“ Nervös antwortete der Soldat, der noch den Kragen des Wirtes in der Hand hielt: „Es ist mehr eine inoffizielle Verhörung wegen gepanschten Bieres.“ „Das ist nicht wahr! Ich verkaufe kein gepanschtes Bier!“, wehrte sich der Wirt. „Uns Schankleuten wurde auf An-weisung der Hauptmänner verboten, Starkbier auszu-schenken. Und mit dem normalen sind die …“ Der Mann schielte kurz zu dem Soldaten, der ihn festhielt. „… tapferen Kämpfer unserer Armee nicht zufrieden.“ Mit einem heftigen Ruck wurde der Wirt gegen eine Wand geschleudert. „Halt dein Lügenmaul, Spülratte!“ Der Anführer der Namenlosen knurrte: „Also eine un-rechtliche Handlung an einem gehorsamen Bürger. Ich bin vom Hoch-Urkorr-gaan Grontabar beauftragt wor-den, die Stadt von solchen Läusen wie euch zu befreien.“ Die Veteranen zuckten zusammen, und einer fragte: „Un-ser Heerführer ist hier?“ „Vor wenigen Stunden angekommen.“ Der Scharführer der Namenlosen wischte verächtlich mit einer allumfas-senden Geste in Richtung der Ruhestörer. „Festnehmen!“

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Jeste und Oltek hatten noch nie gesehen, dass Krieger sich so schnell bewegten wie diese Hünen. Die Veteranen waren binnen Kurzem überwältigt und niedergeschlagen, trotz der Gegenwehr, die sie lieferten. Ohnmächtig und mit ihren eigenen Gürteln gefesselt, wurden sie auf den Schultern der Elitekrieger abtransportiert. Ein verwirrter Wirt saß auf seinem Hosenboden und wusste nicht, was er sagen sollte. Der Scharführer der Namenlosen trat vor ihn hin und verschränkte seine muskulösen Arme hinter dem Rücken. Ängstlich schaute der Wirt zu dem Riesen auf. „Bürger, begib dich morgen früh zum Gericht und er-hebe deine Anklage. Fürchte keine Vergeltung von den Soldaten die dir eben Ärger bereitet haben.“ „Ja, natürlich, ich werde da sein. Was wird mit ihnen geschehen?“ „Der Hohe Urkorr hat vierzig Peitschenhiebe als Bestra-fung für jeden Ungehorsam angesetzt.“ „Was? Aber … Also, ich werde morgen meine Anklage erheben. “ Entsetzt kam der Schankwirt auf die Beine, verbeugte sich hastig und verschwand in seine Gaststube. Der Scharführer lief seinem Trupp in lockerem Lauf-schritt hinterher. Jeste raunte Oltek zu: „Vierzig Peitschenhiebe? Das wer-den einige nicht überleben. Die Soldaten haben Strafe verdient, aber nicht gleich den Tod.“ „So is’ es halt, das Gesetz. Immer noch besser als gar kein Gesetz. Freu dich lieber, dass endlich ’n Bürger gegen Soldaten verteidigt wurde.“ Jeste sprang aus der Hocke hoch. „Komm, wir müssen nach Hause und erzählen, dass ein Urkorr in der Stadt angekommen ist! Ich weiß nicht, ob das etwas Gutes für uns bedeutet.“

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Sein Nachbar folgte ihm, als sich der Fischer auf den Weg machte, und meinte: „Na ja, zumindest scheint das ein Urkorr zu sein, der die Gesetze für alle einsetzt.“ Wenige Straßen weiter erreichten die beiden endlich ihre Wohnungstüren und verabschiedeten sich. Die folgenden zwei Tage wurden für Jeste die arbeits-reichsten der letzten Wochen. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht in der Stadt verbreitet, dass ein Urkorr der Stadt ein Besuch abstattete. Als die gesamten Vorräte und Ausrüstungen aus den Lagerhäusern auf die Schiffe verladen werden sollten, war auch dem Letzten klar, dass der Befehlshaber der Flotte eingetroffen war. Der Auf-bruch der Flotte stand unvermittelt und unerwartet be-vor. Die ganze Stadtbevölkerung wurde dazu verpflichtet, die Massen an Fracht zum Hafen zu bringen. Viele Schiffe hatte man überholt und repariert, und die meisten Galeeren waren noch leer. Vor allem Lebensmittel hatte man noch nicht auf die Schiffe verfrachtet. Wegen der Feuchtigkeit und der damit verbundenen Haltbarkeit sollten sie so lang wie möglich an Land lagern. Zuletzt wurden die Soldaten transportiert – die bei Weitem größte Lastmenge, die zu den Schiffen gebracht werden musste. Jeste war von früh morgens bis tief in die Nacht hinein damit beschäftigt, mit seinem Fischerboot Infan-terie zu den Galeeren zu fahren, die vor Inustas Hafen ankerten. So konnten die Drakaner die Schiffe auf dem Meer ebenfalls beladen, statt alle Galeeren nach und nach zu den Piers zu lotsen. Der Heerführer hatte es scheinbar eilig. Am Morgen des dritten Tages nach der Ankunft des Urkorrs stach die Flotte in See. Jeste eilte nach Hause zu seiner Frau und verkündete ihr erschöpft die frohe Bot-

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schaft. Jette umarmte ihren Mann und atmete voller Er-leichterung auf. Und mit ihr die ganze Stadt Inusta.

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Welt Tepor, Moranion-Wald, Abusans Laboratorium Meister Faban schreckte aus seinem Schlaf hoch. Sachte setzte er sich auf, befürchtend, dass sich sein Rücken – wie so oft – mit bösartigen Stichen melden würde. Ver-wirrt starrte er auf seine Decke und nahm nichts um sich herum war. Ein Traum hing noch undeutlich und verblas-send in seiner Erinnerung. Schiffe, ja, viele Schiffe der Drakaner, die unzählige Soldaten geladen hatten. An-scheinend war er deswegen aufgewacht. Sorgen waren etwas Grauenvolles. Sie hielten einen in ihrem eisernen Griff, und oft konnte man nichts gegen sie tun. „Einen wundervollen guten Morgen“, klang ihm die glockenhelle Stimme Oenotheras keck entgegen. „Oder sollte ich lieber guten Mittag sagen? Hier drinnen kann man das nicht so genau abschätzen, aber so lange, wie Ihr geschlafen habt, könnte es auch schon Abend sein.“ Faban sah auf und erblickte Oenothera, die vor ihm am Fußende seines Lagers hockte. Shanntak war einige Schritte neben ihm und machte im Licht einer Öllampe konzentriert Dehnübungen. Alle waren schon wach und hatten ihre Sachen weitgehend gepackt. Ein Blubbern drang an seine Ohren, und ein für die Halle unge-wöhnlicher Geruch von gekochtem Essen lag in der Luft. „Ah, meine liebe Oenothera, guten Morgen. So lange habe ich geschlafen?“ „Liebe Oenothera?“, brummte irgendwo hinter der Elfe der Zwergenbass Wotans. „Ihr seid noch nicht bei Sinnen, Meister Faban!“ „Ja, das habt Ihr“, antwortete Oenothera, den Kom-mentar von Wotan ignorierend. „Wir dachten, es kann nicht schaden, wenn Ihr Euch ordentlich erholt. Wie geht es Euch?“

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„Ja, ich fühle mich gut. Sehr gut! Sogar mein Rücken ist heute Morgen völlig schmerzfrei. Wotan, Eure Heilkunst ist vortrefflich. Ich kann mich für Eure Hilfe gar nicht genug bedanken!“ „Es freut mich sehr, dass Eure Beschwerden gelindert sind. Ich hoffe, dieser Zustand wird noch etwas an-dauern, aber wie ich schon sagte: Er wird nicht von Dauer sein.“ „Jeder schmerzfreie Augenblick ist schon gut genug. Was riecht hier so lecker? Ihr habt gekocht, aber woher habt ihr das Feuerholz?“ Meister Faban erhob sich von seinem Lager. Etwas entfernt vom Lagerplatz stand der Erdenbewahrer vor einem Kochtopf, aus dem Dampf stieg und der einen wohlriechenden Essensduft verbreitete. Ein seltsames Bild in einem düsteren Thronsaal. Halgrimm stand hoch konzentriert neben dem Topf und starrte diesen an. Mei-ster Faban erkannte die arkanen Kraftlinien, die von Halgrimm zum Kochtopf gingen. „Was geht hier vor?“ „Nur die Ruhe“, beruhigte Wotan, ohne mit dem Rühren im Topf aufzuhören. „Ich war schlechter Laune, da wir schon so lange kein warmes Essen mehr hatten. Hal-grimm hatte die glorreiche Idee, einfach mit einem Bann das Eisen des Topfes vorsichtig zu erhitzen. Er meinte, meine Kräfte würden noch gebraucht, und er sollte das machen. Und er hat es sehr gut gemacht, vorsichtig und nicht zu heiß.“ Wotan probierte einen Löffel seines Essens und ließ einen Laut der Entzückung erklingen. „Du kannst auf-hören, Halgrimm. Das Essen ist fertig. Für diese warme Mahlzeit stehe ich für immer in deiner Schuld!“

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Halgrimm freute sich sichtlich über die Worte, obwohl er es zu verbergen suchte. Leicht verwundert meinte Faban: „Nun, da alles gut ge-gangen zu sein scheint, kann ich nur sagen: Ich bin froh über das Essen! Halgrimm, du lernst langsam, deine Kräfte dosiert einzusetzen. Sehr gut! Wo ist eigentlich Kev?“ Oenothera zeigte auf die Tür, die zum Treppenschacht führte. „Er verrichtet seine Notdurft. Da wir hier nicht so schnell rauskommen werden, ist die Grube im Trep-penhaus wohl die beste Möglichkeit dafür.“ Ihr übliches, fast fieses Grinsen erschien. „Bis die voll wird, haben wir noch eine Menge Zeit …“ „Ah, nun. Ja. Eine nötige Überlegung. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, was ich gleich … Dann werde ich wohl mal warten, bis Kev wieder da ist.“ Shanntak beendete seine Übungen und fragte gerade heraus: „Wieso Zeit verschwenden? Der Raum ist doch groß genug für zwei.“ Fassungslos und entrüstet sahen Oenothera und Faban ihn an. Die warme Mahlzeit tat den Gefährten gut und steigerte die Stimmung in der Gruppe beträchtlich. Wotan wurde ausgiebig für seine Kochkunst gelobt und Halgrimm für seine Idee gepriesen. Selbst Shanntak ließ einen wohl-gefälligen Kommentar über das Essen fallen. Ausgeruht und satt blieben sie noch eine Weile sitzen und verdauten das Essen. Entschlossenheit und Tatendrang lagen in der Luft. Faban erinnerte als Erster an die Aufgabe, die ihnen der neue Tag stellte. „Heute werden wir den Gang über-winden. Und das war hoffentlich das letzte Hindernis.

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Dennoch: Selbst wenn wir in den Arbeitsräumen Abusans sind – seid auf der Hut!“ Shanntak fragte: „Werden wir so vorgehen wie gestern, bevor wir die steinerne Tür zerstört haben?“ Faban nickte. „Wenn nicht jemand noch einen beson-deren Einfall hat, denke ich, dass es das Beste ist.“ „Unsere letzte Idee war nicht gerade ungefährlich“, bemerkte Kev. „Wir werden wohl nicht darum herum-kommen, die Falle des Ganges auszulösen.“ „Das befürchte ich“, stimmte Faban zu. „Also auf, heute ist unser Tag! Heute werden wir Abusans Unterschlupf erobern!“ Kurze Zeit später betraten die Gefährten erneut die Kammer, in der sie die Knochen der Gorlachs vor-gefunden hatten. Sie bot ein ganz anderes Bild als einen Tag zuvor. Die Kammer war feucht und der Boden nass. Von den Wassermassen waren nur noch ein paar kleinere Pfützen vorhanden. Das meiste Schmelzwasser war den Tunnel hinunter zu der Gorlachgrube abgelaufen und hatte ne-benbei den Staub und lose Kleinstteile von den Raub-katzenskeletten gewaschen. Am auffälligsten hatten sich die unteren Raumecken und einige Raumkanten der Kno-chenkammer verändert. Die einst exakten Kanten der Ecken waren verschwunden, begraben unter einer unre-gelmäßigen Steinschicht, die aussah wie eine Düne, die der Wind gegen eine Klippe gedrückt hatte. Es waren die Bestandteile der von Wotan zu Sand verwandelten Stein-tür, erkannten die Gefährten. Der Orkan hatte den Sand weggeblasen, etwas davon im Raum verstreut und den größten Teil des Sandes in die Ecken geweht. Als der

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Bann Wotans endete, hatte sich der Sand wieder in Stein zurückverwandelt. Dessen ungeachtet, machten sich die Flüstersteiner bereit, den Gang diesmal zu überwinden. Die Rucksäcke wurden an die Wand gestellt und nur die Waffen zur Hand genommen. Wie am Vortag wurde Shanntak von einem Seil gesichert, welches mit Kev in der Gestalt eines Höhlenbären verbunden war. Wotan und Faban hüllten den Krieger mit ihren Schutzzaubern ein. Bis auf Kev hatten sich die Gefährten am Anfang des Ganges kurz hinter der Tür vom Knochenraum aufgestellt. Der Höhlenbär war weit in die Knochenkammer getrottet und spannte damit das Seil zu Shanntak straff durch den Raum. „Wir sind fertig, Shanntak“, verkündete Wotan. „Zieh dich sofort zurück, sobald irgendetwas ins Rollen kommt!“ Der Drakaner signalisierte, dass er verstanden hatte, und ging langsam den Gang hinab. Ein magisches schwaches Licht auf seiner Brust half ihm beim Sehen. Obwohl hier ein Schneeorkan gewütet hatte, war bis auf einige Haar-risse im Gestein nichts davon zu erkennen. Er schritt an dem rechts abgehenden Gang zur Gorlachgrube vorbei. Die Eisentür war offen und hing schräg und zerbeult in den Angeln. Er ging weiter und passierte zwei dicke eiserne Scharniere, an denen am Vortag noch die Granit-tür gehangen hatte. Halgrimm flüstere eindringlich: „Er ist jetzt in dem Be-reich, der stark verzaubert ist. Aber es passiert nichts.“ Wotan, Faban und Oenothera, die ebenfalls angespannt die Schritte Shanntaks verfolgten, schwiegen dazu. Shanntak verringerte sein Tempo und stieß mit seinem Breitschwert immer wieder prüfend auf den Boden.

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Langsam näherte er sich der nächsten Granittür, die sich in der linken Wand des Ganges befand. „Ich stehe vor einer glatten Steintür ohne Griff oder Schloss. Sie sieht genauso aus wie die, welche wir zerstört haben. Soll ich versuchen, sie zu öffnen?“ Faban entschied nach kurzem Überdenken: „Ja, stell dich aber dabei an die Wand neben der Tür. Kev, halte dich bereit, kräftig zu ziehen.“ Ein hallendes Knurren antwortete dem Ordensmeister. Shanntak tat, wie ihm geheißen. Mit dem Rücken zur Wand, die Tür links neben sich, setzte er seine Schwert-spitze gegen die Granitplatte und drückte fest dagegen. Sie widerstand seinen Bemühungen, sie aufzustoßen. Stattdessen erschienen grün und violett leuchtende Sym-bole auf der Oberfläche. Augenblicklich zog sich Shann-tak ein Stück von der Tür zurück. Halgrimm sah das Lichtspiel auf dem Stein und hörte seinen Lehrer vor sich hin murmeln: „Ein arkanes Schloss versperrt die Tür …?“ Rückwärtsgehend bewegte sich Shanntak auf sie zu, die Tür nicht aus den Augen lassend. Drei Herzschläge nach seinem Öffnungsversuch leuchtete sie violett auf. Wotan, Faban und Halgrimm spürten, dass immense Energien frei wurden. Dann geschahen mehrere Sachen kurz hintereinander. Wotan schrie mit Faban zugleich: „Zurück!“ Gleichzeitig schossen zwei graue Strahlen aus der leuch-tenden Tür. Ein Strahl verband sich mit der Granittür am Ende des Ganges. Der Zweite ging zu der fehlenden Tür im vorderen Stück und prallte gegen die Wand. Halgrimm spürte, dass noch etwas geschah, was nicht zu sehen war, und blickte schnell wieder zu Shanntak. Der Krieger rannte auf sie zu und schien nach Luft zu ringen. Seine

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Augen waren angeschwollen und drohten aus dem Schä-del zu springen. Das Gesicht Shanntaks verriet seine Qualen. In Bruchteilen eines Herzschlages ordneten sich die Fakten in Halgrimms Verstand, und er erkannte, was vor sich ging. „Runter!“, schrie er und ergriff dabei Oenotheras Haarzopf und Meister Fabans Arm. Halgrimm schmiss sich zu Boden und zog zugleich die Elfe und seinen Lehrer mit hinunter. Wotan reagierte instinktiv und ließ sich fallen. Halgrimm berührte gerade den Boden, da pfiff ein gewaltiger Windstoß von hinten in den Gang und zerrte an ihnen. Die Luft brauste nur für einen Augen-blick in den Gang hinein, aber die Sogwirkung war unglaublich. Halgrimm klammerte sich an seine beiden Gefährten, die er umgerissen hatte, und Wotan krallte sich an jeweils ein Bein von Oenothera und Faban. Es half alles nichts: Sie rutschten langsam den Flur entlang, vom gewaltigen Sog getrieben. Shanntak erwischte der Luftstrom bei seinem Lauf zurück mit ganzer Macht. Gewaltig flog er nach hinten weg. Das Seil straffte sich, ein heftiger Ruck ging durch den Körper des Kriegers, und die Kräfte wurden seitlich umgelenkt. Krachend wurde er gegen die Wand geschleudert und fiel zu Boden. Es knallte wie bei einem einzelnen Donnerschlag, und dann war es vorbei. Ächzend erhoben sich die erschütterten Flüstersteiner – Shanntak rührte sich nicht. Kev kam auf allen vieren um die Ecke geschossen, um nach seinen Freunden zu sehen. „Shanntak, oh nein!“ Halgrimm raffte sich auf und lief zu dem niedergeschmetterten Krieger. Die anderen folgten ihm. Bei Shanntak angelangt, ging Halgrimm völlig außer sich auf die Knie und nahm Shanntak vorsichtig den Helm ab.

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Shanntaks graue Augen öffneten sich, und beherrscht sagte er: „Ruhig, Soldat. Es sind nur ein paar Wunden. Ich lebe!“ „Ich würde eher sagen, dein linker Arm ist gebrochen“, berichtigte Wotan. Der Zwerg schob Halgrimm sanft zur Seite und untersuchte oberflächlich den Körper des Drakaners. „Und so wie du gegen die Wand geknallt bist, sollte deine Schulter zumindest schwer geprellt sein, oder ich bin kein Heiler.“ „Das könnte stimmen, Erdenbewahrer.“ Kurz zuckte es im Gesicht Shanntaks auf. „Doch all dies sollte innerhalb eines Tages geheilt sein. Richtet nur meinen Bruch und macht einen Verband, der den Arm ruhig hält.“ „Ich kann dir sofort helfen.“ „Nein. Bewahrt Eure Kräfte. Wir wissen nicht, wie sehr wir sie noch brauchen. Und wir müssen uns beeilen, hier weiterzukommen, und können nicht immer wieder pau-sieren. Wenn wir wieder ruhen und Ihr dann noch die Kraft zu einem Heilgebet habt, könnt Ihr mir helfen.“ „Du bist ein wirklich harter Kerl!“, sagte Oenothera trocken, ohne Ironie in der Stimme. Wotan verband fachmännisch den gebrochenen Arm Shanntaks, und mithilfe von Halgrimm, Faban und Oenothera hievte er den massigen Krieger auf die Beine. Als er stand, prüfte Shanntak vorsichtig seine Beweg-lichkeit und fragte nebenbei: „Was ist hier eben passiert? Ich konnte nicht mehr atmen.“ „Das war ein Bann, der in einem Bereich die gesamte Luft vernichtet und ein Vakuum hinterlässt“, klärte Faban den Drakaner auf. „Der Zauber ist nur von kurzer Dauer, und natürlich strömt Luft von außerhalb des Wirkungs-kreises nach. In diesem Fall war es ein gewaltiger Sog, zusätzlich verstärkt durch den schmalen Gang.“

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Faban umfasste freundlich die Schultern Halgrimms. „Dank dieses aufmerksamen jungen Mannes wurden wir anderen nicht ebenfalls gegen die Wände geschmettert. Gut gemacht!“ Halgrimm errötete leicht. Ein Brummen lenkte die Auf-merksamkeit auf Kev. Der Höhlenbär stand vor der Granittür in der Mitte des Ganges, die alles ausgelöst hatte, und hob eine Tatze zeigend zu ihr. Seine Gefährten kamen hinzu und sahen, dass der Stein der Tür sich mit dem des Ganges verbunden hatte. „Dieser hinterhältige Dämon von einem Zauberer!“, zürnte Wotan, als er dies sah, und lief zu der letzten Tür am Ende des Ganges. „Hier ist die Tür ebenfalls mit dem Gestein verschmolzen.“ Oenothera fasste betroffen zusammen: „Verstehe ich das richtig? Eigentlich wären alle Türen im Gang mit dem Stein verschmolzen, und dann wäre die Luft im Gang verschwunden, ohne dass neue Luft nachströmen kann?“ Faban antwortete nüchtern: „Ja, so sieht es aus. Als Shanntak versuchte die Tür aufzudrücken, erkannte ich ein Zauberschloss auf ihr. Wenn man nicht das richtige arkane Zeichen macht, bleibt ein so verzauberter Gegen-stand verschlossen. Hier geschah aber noch viel mehr. Ich denke, dass sich die erste Tür, die wir zerstört haben, von selbst geschlossen hätte, um dann ebenfalls mit dem Gestein zu verschmelzen. Zum Glück haben wir sie entfernt.“ „Ja, nur sind jetzt leider die einzigen weiterführenden Türen Wände.“, bemerkte die Elfe. Nachdenkliches Schweigen entstand. Kev sah etwas verwirrt den Gang auf und ab, und Wotan sah so zornig die ehemalige Mitteltür an, als würde er sie gleich anspringen wollen. Halgrimm wandte sich dem Gang zu und vollführte

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konzentriert einige Gesten. Dann schlug er vor: „Wotan könnte sich einen Weg durch den Stein bahnen.“ „Hast du vergessen, was das letzte Mal passiert ist, als er das gemacht hat?“, regte sich Oenothera auf. Halgrimm strahlte über das ganze Gesicht: „Das passiert nur bei magisch aufgeladenen Gegenständen.“ Bevor Oenothera zu einer weiteren Schimpftirade anset-zen konnte, bremste Halgrimm sie mit erhobener Hand. „Ja, die Türen sind aufgrund des auf ihnen liegenden Schließzaubers mit arkaner Macht erfüllt. Aber die Wände des Ganges sind es nicht mehr. Der Vakuum-zauber hat die Energien aufgezehrt, was bei einem so mächtigen Zauber nicht verwunderlich ist. Verehrter Erdenbewahrer, wie wäre es mit einem neuen Durchgang neben der Tür?“ „Beim Schöpfer und seinen Behütern, Junge!“, rief Wotan aus. „Das ist eine fantastische Entdeckung!“ Faban untersuchte verwundert mit seiner arkanen Sicht die Wände. Für ihn strahlte überall noch Restenergie von den Wänden ab, die langsam verebbte. Er konnte bei aller Anstrengung nichts Genaueres über den Zustand der Wand sagen. „Halgrimm, wie kannst du dir so sicher sein? Ich kann durch die letzten fluktuierenden arkanen Wirbel des Va-kuumzaubers noch nichts erkennen.“ „Nein?“ Erstaunt sah Halgrimm seinen Meister an. „Es ist doch deutlich zu sehen … dachte ich zumindest.“ Faban sah streng zu seinem Schüler und lupfte eine Augenbraue. „Na ja, die verblassenden Kraftlinien des Vakuumzaubers sind wie dünner Nebel für mich, der einen kaum in der Sicht behindert. Zuvor sah ich die Wände des Ganges

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hell in der arkanen Sicht erstrahlen, jetzt sind sie dunkel wie ein Schatten.“ Faban nickte und sah sich ein weiteres Mal den Gang an. Für ihn war das Leuchten eines magischen Gegenstandes noch nie strahlend gewesen, sondern schwach und matt. Der Junge hatte erstaunliche Fähigkeiten in der Magie! Leider hatte dies Halgrimm immer wieder Neid einge-tragen. Faban nahm sich ein weiteres Mal vor, Halgrimm zu fördern und auf ihn aufzupassen. „Nuuun, ich denke wir warten damit noch etwas, bis ich Halgrimms Aussage bestätigen kann. Nicht dass ich dir nicht glaube, ich will nur ganz sicher sein. Es steht zu viel auf dem Spiel.“ Halgrimm nahm die Entscheidung seines Lehrers gelas-sen hin, als hätte er nichts anderes erwartet. Shanntak holte seinen Rucksack aus der Kammer, kramte sich etwas zu essen heraus und setzte sich. Die anderen nahmen Shanntak als Vorbild und nutzen die Zeit eben-falls, um sich auszuruhen. Kev verwandelte sich zurück und verzehrte mit Heißhunger eine Portion Dörrfleisch und Brot. Nach der kleinen Pause bestätigte Faban die Aussage Halgrimms. „Du hattest vollkommen recht. Deine Sinne sind sehr scharf, Halgrimm. Ab jetzt bist du für die magische Sicht verantwortlich. Du entdeckst mehr als ich oder unser Erdenbewahrer.“ Etwas erschrocken blickte Halgrimm zu seinem Meister. Damit hatte er nicht gerechnet. Zögerlich nickte er und war zwischen der Last der Verantwortung und der Freude des Vertrauens hin und her gerissen. „Solange er nicht säuft, bekommt er was hin“, neckte Kev.

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Wotan stand auf. „Du wirst es gut machen, Halgrimm. So, dann wollen wir uns mal Zutritt verschaffen.“ Kon-zentration erfüllte sein Gesicht, als er sich vor den Wandabschnitt neben der Mitteltür stellte, und er stim-mte ein Gebet an. Ein grauer Schimmer umgab ihn und wurde stärker. Wie beim Golem und der Tür hallte das letzte Wort seines Banns unnatürlich laut durch die Luft, und der graue Schimmer übertrug sich auf einen Abschnitt der Wand. Stein wurde zu Sand, rieselte in einer immer größer werdenden Kaskade zu Boden und hinterließ ein brusthohes Loch. Oenothera trat neben Wotan und beschaute kritisch seine Arbeit. „Für dich hat es die richtige Höhe, um aufrecht durchgehen zu können. Von der Breite her wird es für alle außer für mich knapp.“ „Du hast auch immer etwas zu meckern. Je mehr Stein ich verwandeln muss, umso mehr strengt es mich an. Es wird euch nichts schaden, dass ihr euch kurz bücken müsst.“ Oenothera grinste ihn frech an. Wotan erkannte, dass sie ihn mal wieder auf den Arm genommen hatte. Dann fiel Wotan bei dem Wort bücken siedend heiß etwas ein. „Oh, Meister Faban, wird es gehen?“ „Nur keine Sorge, mit meinem Rücken ist alles bestens.“ Halgrimm trat zum Loch und sagte bestimmt: „Lasst mich erst mal den Raum auf Magie überprüfen!“ Er machte zwei kleinen Gesten mit seiner Hand. Eine grün schimmernde Lichtkugel erschien, die er durch das Loch schweben ließ. „Das gibt’s doch nicht!“, rief Halgrimm voller Staunen aus. „Was?“, rief Wotan besorgt. „Neue Gefahren?“

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„Nein, nein. Zumindest sehe ich keine schlummernde Magie. Ich glaube, wir haben Abusans Schlafzimmer gefunden. Das ist das größte Bett, das ich je gesehen habe. Und was für prunkvolle Decken!“ Oenothera schoss zum Loch vor und wollte sich an Halgrimm vorbeidrängen. Shanntak zog sie zurück und stoppte ihren Enthusiasmus mit einem harten Blick. Er schob Halgrimm zur Seite, klopfte den Boden hinter dem Loch ab und betrat dann vorsichtig und langsam den Raum. Das riesige Bett aus edlem Ebenholz am Kopfende des Raumes zog sogar seinen Blick kurzzeitig an. Seidene verstaubte Laken in einem verblassten Purpur lagen ordentlich gefaltet auf einer dicken Matratze. Schränke und Truhen aus Kirschholz säumten die weiß verputzten Wände, und ein dreieckiger Sekretär mit einem Stuhl davor war in einer der Zimmerecken aufgestellt. Wie im Thronsaal waren Öllampen an den Wänden angebracht, und dazwischen hingen kunstvolle Gemälde. Blattgold überzog die Halter der Öllampen und die hölzernen Rahmen der Ölbilder. Alles wirkte hell, ordentlich – und lange nicht mehr benutzt. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Flüstersteiner und der Drakaner davon überzeugt hatten, dass nichts Gefähr-liches in Abusans Schlafzimmer auf sie lauerte. Zumin-dest entdeckten sie nichts. Gegenüber dem Loch befand sich eine weitere Tür, diesmal aus Holz, welche die Gruppe als Letztes untersuchte. Als sie diese mit aller gebotenen Vorsicht öffneten und in den dahinter liegen-den Raum spähen konnten, folgte von Oenothera ein lauter Aufschrei: „Ein Bad! Ein gewaltiges, richtiges Bad! Oh Behüter, wie sehr habt ihr meine Gebete erhört!“

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Eine Höhlenkammer, bei der nur der Boden glatt behau-en war, eröffnete sich vor ihnen. Am Ende der rechten Wand sprudelte in Kopfhöhe ein kleiner Wasserfall he-rvor und wurde in einem künstlichen rechteckig ange-legten Steinbecken aufgefangen. Von den Rändern des Beckens führten Stufen in die Tiefe bis zum Grund. Kreisrunde, gelbe Flecken bedeckten große Flächen des Steins im Becken, das Wasser aber sah klar und sauber aus. Auf der linken Seite sorgte eine Rinne im Boden für den Abfluss des Wassers und leitete es weiter zur nächsten Höhlenwand, wo ein natürlicher Wasserlauf im Fels verschwand. Vor dem Bassin rundete eine lange, breite Steinbank das Bild eines Bades ab. Der natürliche Raum bekam eine überirdische Wirkung durch violett funkelnde Amethystkristalle, die von den Wänden und der Decke her widerstrahlten. Dazu gesellten sich verein-zelt goldenes Pyrit und rosa angehauchtes Rosenquarz. Oenothera jauchzte. „Was für ein Anblick! Ich werde, egal, was kommt, heute noch gründlich baden!“ Mit einem mitleidigen Ausdruck verkündete sie weiter: „Das würde den Herren auch nicht schaden.“ „Ach ja?“, sagte Kev erstaunt. „Das ist genau so wichtig wie das Reinigen des Schwer-tes“ , stimmte Shanntak der Elfe zu. Oenothera wandte sich vehement zum Krieger, den Zei-gefinger drohend erhoben. „Hey, ich werde beim Baden ebenso wie bei der Erledigung meiner Notdurft allein sein, ist das klar?!“ Shanntak zuckte nur verständnislos mit den Schultern. Bevor es zu dem von einigen ersehnten und von anderen nicht so ersehnten Bad kam, sahen sie sich gründlich um. Das Höhlenbad wurde auf Fallen überprüft. Dabei stell-

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ten sie fest, dass das Wasser aus der Tiefe des Gesteins nicht, wie erwartet, eiskalt, sondern nur kühl, jedoch ge-rade noch angenehm war. Ansonsten gab es nichts weiter von Interesse in der Höhle. Möbel oder Gegenstände fanden sich dort nicht. Der Inhalt der Schränke und Truhen im Schlafraum wurde als Nächstes untersucht, immer auf der Hut vor weiteren bösen Überraschungen, die Abusan eventuell hinterlassen haben könnte. Sie fanden wertvolle Kleidung, Decken, Schmuck aus Gold und Silber, leere Papierbogen und Schreibutensilien, aber nichts, was wirklich von Bedeutung war. Dann meldete Shanntak, dass er in einer der Schubladen des Sekretärs etwas Seltsames gefunden hatte. „Meister Faban, hier ist ein merkwürdiger gebündelter Stapel von Papier!“ Der alte Magier brach sofort die Sichtung der Gegen-stände ab, die sie auf dem großflächigen Bett ausgebreitet hatten, und begab sich zu dem Drakaner. „Ah, du hast ein Buch gefunden. Eine Art Schriftrolle, die man besser lagern oder transportieren kann.“ Faban entnahm der Hand Shanntaks ein in dunkelbrau-nes Leder eingeschlagenes Buch. Es hatte viele Seiten und war so dick wie drei seiner Finger. Nachdem er sich versichert hatte, dass kein Zauber darauf lag, schlug er es neugierig auf. „Endlich etwas Wichtiges. Das ist ein Tagebuch, und es scheint von Abusan zu sein.“ „Hier ist noch ein seltsames Gerät, Meister Faban“, mel-dete Shanntak im militärischen Ton. „Metallbänder, die durchsichtiges Glas halten.“ Er hatte die Schublade zur Gänze aus dem Sekretär gezogen und hielt sie Faban hin. „Ah, ein Sehgestell.“ „Ein Sehgestell?“

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„Man kann es aufsetzen, sodass es vor den Augen ist. Ältere Leute haben oft Schwierigkeiten Dinge, die nah vor ihnen sind, scharf zu erkennen. Besonders beim Lesen ist es dann eine große Hilfe.“ „Es hilft einem beim Lesen?“ Shanntak betrachtete neu-gierig das Drahtgestell, das zwei runde Gläser umfasste. „Habt Ihr es schon überprüft?“ „Das habe ich soeben gemacht. Was ja auch meine Aufgabe seit Neuerem ist.“ Halgrimm hatte sich zu den beiden begeben und blickte vorwurfsvoll seinen Meister an. „Die Sehhilfe ist mit Magie verändert worden, aber ich kann keine gespeicherte Energie feststellen.“ Hal-grimm blickte, um Bestätigung heischend, zu seinem Lehrer. „Dann kann eigentlich kein Zauber ausgelöst werden, nicht wahr?“ „Mhm, eigentlich nicht …“ Shanntak ergriff unvermittelt die Brille, was ein scharfes Einatmen von den beiden Magiern nach sich zog. Kur-zerhand setzte er sie sich auf. Nichts entflammte oder blitzte – es blieb alles ruhig. Faban seufzte erleichtert: „Ich habe nicht gesagt, dass ich absolut sicher bin. Anscheinend muss man sich bei dir klar und deutlich ausdrücken.“ Shanntak blinzelte durch die runden Gläser und sah sich um. „Ich vertraue den Fähigkeiten von Euch und Hal-grimm. Ihr stimmtet beide in Eurer Meinung überein, und das reichte mir als Sicherheit. “ Ein helles weibliches Kichern ertönte vom Bett her. Oe-nothera saß auf einer Kante und sah belustigt herüber. „Was für ein Anblick. Unser Kriegskoloss sieht aus wie ein alter Gelehrter in einer Rüstung.“ Wotan musste ebenfalls grinsen.

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„Verzeiht, darf ich?“, fragte Shanntak Faban und ergriff das Buch in seiner Hand. Verwundert überlies Faban es ihm. Shanntak schlug das Buch irgendwo auf und ver-suchte zu lesen. Behutsam versuchte Halgrimm den Krieger aufzuklären: „Ich glaube, du hast das etwas falsch verstanden. Die Sehhilfe hilft beim Sehen und bringt einem nicht das Lesen bei.“ Shanntak beachtete die Worte Halgrimms nicht und starrte weiter auf eine Seite des Buches. „Es scheint mehrere Organisationen und geheime Bünde zu geben, die um das Geheimnis der Statuetten wissen.“ Der Satz kam zögerlich und stockend von Shanntak. Er nahm seinen Zeigerfinger zu Hilfe und drückte ihn auf die Seite, die er gerade anschaute. Dann las er weiter langsam vor: „Jede von ihnen kämpft darum, diese Arte-fakte vollständig zu erlangen.“ Ungläubig starrten ihn die Flüstersteiner an. Oenotheras Mund stand offen, und Wotan grunzte vor Überra-schung. Keiner konnte im ersten Moment erfassen, was da vor sich ging. „Das gibt’s doch nicht!“, entfuhr es Halgrimm. Fabans Augenbrauen zuckten zusammen, als er wissen wollte: „Du hast uns wohl auf den Arm genommen? Du kannst lesen!“ Shanntak sah auf und blickte Faban starr und ernst in die Augen. „Nein, das ist das erste Mal, das ich etwas gelesen habe.“ „Aber das macht doch keinen Sinn“, fuhr Faban auf. „Wieso sollte Abusan so eine Sehhilfe erschaffen? Er konnte lesen, so sicher wie ich hier stehe.“ Aufgeregt ging der alte Ordensmeister auf und ab und grübelte.

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Fasziniert von Shanntaks Vorstellung, kratze sich Hal-grimm am Kinn und schlug auf einmal spontan vor: „Wir können das noch mal mit Kev ausprobieren. Kev, nimm erst einmal nur das Buch und versuch etwas zu lesen.“ Viele erwartungsvolle Augen schauten auf einmal Kev an. Es war ihm höchst unangenehm plötzlich im Mittelpunkt zu stehen und in seinem Gesicht zeichnete sich Unsicherheit ab. „Du weißt doch, dass ich nicht lesen kann.“ „Eben drum. Dann wissen wir, ob es das Buch oder die Sehhilfe ist!“ Kev nahm das Buch von Shanntak entgegen und starrte auf die aufgeschlagene Seite. „Tja, viele schwarze Linien und Punkte …“ „Und jetzt mit der Sehhilfe!“ Kev setzte die Brille auf und wirkte erstaunt. „Oh ja, ich verstehe die Zeichen auf einmal. Die Sehhilfe bringt einem wirklich das Lesen bei!“ „Das ist nicht der Punkt.“, regte sich Faban auf. „Mo-ment mal. Ja, das muss es sein.“ Hektisch nahm Faban seinen Rucksack und kramte darin herum. Er brachte eine Schreibfeder, ein Stück Pergament und ein Tinten-fässchen hervor und setzte sich damit an den Sekretär. Eilig schrieb er etwas auf das Pergament. „Oenothera, du kannst doch in der allgemeinen Sprache lesen, aber nicht in der alten Sprache. Ist das richtig?“ „Das ist richtig, Meister Faban.“ „Dann komm her, setzt die Sehhilfe auf und versuch den Satz, den ich in der alten Sprache geschrieben habe, zu lesen.“ Oenothera tat, wie ihr geheißen. Nach kurzem Zögern las sie vor: „Aufgeschriebenes Wissen ist gesichertes Wis-sen.“

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„Das ist es!“, sagte Faban triumphierend. „Dieses Ding hilft allgemein, eine geschriebene Sprache zu verstehen, die man nicht gelernt hat.“ Gleich darauf wurde Faban sehr ernst. „Allerdings übertrifft das alles, was wir von Abusans Möglichkeiten bisher gewusst haben. Nach den Theorien ist es mit den Gesetzen der Magie nicht mög-lich, etwas zu erschaffen, was auf den Geist und die Gedanken eines Wesens zugreift.“ Halgrimm fügte hinzu: „Und es funktioniert ohne gespei-cherte Energien.“ „Ja, das ist seltsam“, bestätigte Wotan. „Doch irgend-woher muss es seine Kraft beziehen. Seid lieber vor-sichtig mit dem Einsatz dieser Sehhilfe.“ Shanntak wurde sehr bestimmt, als er sagte: „Es war schon immer mein Wunsch, das Lesen zu lernen. Bis auf Kev kann von euch jeder lesen. Wenn nicht Kev dieses Gerät benutzen will, werde ich es verwenden.“ In diesem Moment wirkte der Drakaner auf Oenothera wieder wie ein Hauptmann, der eine Entscheidung getroffen hatte und Befehle verteilte. Wenn er sich so benahm, sträubte sich alles in ihr. Seine Wirkung fiel Shanntak selbst auf, und er fügte mit einer Verbeugung zu Faban an: „Es sei denn, Ihr haltet das für falsch.“ „Nuun, ich denke, wenn du es in meinem Beisein ver-wendest, ist es in Ordnung.“ Der Drakaner verbeugte sich abermals zum Einverständ-nis, überreichte anschließend das Tagebuch Faban, der es erst einmal einpackte, und fragte dann Kev: „Möchtest du die Sehhilfe haben?“ „Oh nein, bloß nicht! Dieser magische Kram ist nicht meine Sache, und wie du weißt, interessiert mich Lesen nicht.“

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Oenothera war erstaunt, dass Shanntak Kev wirklich die-ses Angebot gemacht hatte, obwohl für ihn das Lesen so wichtig war. Sie gestand sich ein, dass ihre Vorurteile gegenüber Shanntak wohl nicht alle richtig waren. Nun, sie würde den Krieger weiter im Auge behalten. Jetzt war aber erst einmal etwas anderes viel wichtiger. „So, da wir nun hier fertig sind, werde zumindest ich baden!“ Energisch nahm die Elfe ihren Rucksack zur Hand und ging auf die Höhle mit dem natürlichen Wasserlauf zu. Sie stoppte kurz, als sie an Kev vorüberging. „Sag mal, wenn du dich wäschst, bist du dann auch sauber, wenn du eine Tierform annimmst? Du stinkst ganz schön als Bär.“ Das erwischte Kev auf dem falschen Fuß, und er stotterte hilflos: „Ähm … ja … also nein. Schon, aber …“ Verdammt, was sollte das nun wieder? Waren alle Elfen-damen so kompliziert oder noch schlimmer: alle Frauen jeglicher Völker? Kurz sammelte er sich und beantwor-tete ganz sachlich die Frage: „Da es immer noch mein Körper ist, bin ich natürlich auch in einer anderen Form gewaschen. Aber da ich die Tiere so perfekt wie möglich nachahme, werde ich als Bär trotzdem wie ein Bär riechen. Übrigens finden Bären nicht, dass sie stinken. Für die ist es ein Wohlgeruch.“ „Ich bin aber kein Bär“, sagte sie spitzbübisch lächelnd und verschwand in der Höhle mit dem Wasserbecken. Vier Stunden später wartete Faban, missmutig auf dem prachtvollen Bett Abusans sitzend, auf seine Leute. Müßig kaute er sein Stück trockenes Brot. Der unge-plante Aufenthalt passte ihm gar nicht, doch er sah ein, dass er nichts dagegen machen konnte. Shanntak lag neben ihm auf dem Bett. Gut, dass der Krieger mit

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seinem gebrochenen Arm ein wenig ruhen konnte. Jeder, einschließlich er selbst, hatte sich gründlich gewaschen, und Faban musste der Elfe recht geben: Es war dringend nötig gewesen. Es hatte auch die Stimmung in der Gruppe gehoben – bis auf die von Kev. Seit der Bemerkung von Oenothera war der Wechselbalg verun-sichert und nachdenklich. Faban gestattete sich ein in-neres Lächeln über diese Situation. In seinem langen Leben hatte er viele Liebesplänkeleien gesehen, aber diese war schon etwas Besonderes. Es erinnerte ihn an seine Ehe und an seine verstorbene Frau, deren Bild Faban immer liebevoll in seinem Herzen trug. Damals in seinen jungen Jahren war er ebenso wie Kev etwas unbeholfen in den Liebesdingen gewesen. Traurigkeit überkam den alten Magier. Wie sehr vermisste er doch seine geliebte Tarae. Mit den aufwallenden Erinnerungen an vergangene Zeiten nahm sich Faban vor, Kev etwas Zuspruch zu-kommen zu lassen. Vorhin hatte Halgrimm versucht, den Wechselbalg aufzu-muntern, bevor er dann an der Reihe gewesen war, das Bad zu benutzen. Sein Schüler hatte versucht, Kev auf andere Gedanken zu bringen, und meinte, dass Oeno-thera selbst nicht mehr so frisch geduftet hätte. Faban musste bei der Erinnerung noch einmal lachen, leise und verhalten, wie es seine Art war. Der Junge trug das Herz am rechten Fleck! Bei dem Wortwechsel war Faban aufgefallen, das Kev als Einziger in der Gruppe nie unangenehm gerochen hatte, wenn er in menschlicher Gestalt war. Ein interessanter Aspekt, dem er in fried-licheren Zeiten weiter nachgehen wollte. Über die Wech-selbälger war kaum etwas bekannt, und es wäre ein anregendes Forschungsgebiet. Fabans Gedanken wurden unterbrochen, als Halgrimm aus dem Höhlenbad kam –

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der Letzte, der sich gereinigt hatte. Er war bereits fertig angekleidet, seine Decke, die er als Badetuch benutzt hatte, lag noch um die Schultern. Sein kurzes braunes Haar hing in feuchten Strähnen herunter und glänzte wieder, wie es seit Tagen nicht mehr der Fall gewesen war. Glücklich strahlte Halgrimm seinen Lehrer an. „Das tat gut. Das Wasser war durch Euren Zauber noch lauwarm; ich musste es gar nicht mehr anheizen.“ Oenothera, die auf dem Sekretär einige ihrer getrock-neten Kräuter ausgebreitet hatte und begutachtete, sah zu Halgrimm auf und zog einen Schmollmund. „Wie schön für dich, dass du ebenfalls warm baden konntest.“ Halgrimm konzentrierte sich stark, damit er nicht anfing loszulachen. Er trocknete seine Ohren ab, um seine zuckenden Mundwinkel mit dem Tuch abzudecken, und meinte: „Du hättest nachfragen können. Du warst so begierig darauf, ins Bad zu kommen. Und so vehement, wie du Shanntak klargemacht hast, dass du allein sein willst, wäre niemandem im Traum eingefallen, dich zu stören.“ „Ihr hättet einfach durch die Tür rufen können. Nein, schon gut, ich hab verstanden! Es war ein großer Spaß für euch, mich kalt baden zu lassen.“ Die fünf Männer sahen sich unschuldig an, und das brachte Oenothera zum Lachen. Faban unterdrückte sein Grinsen und klatschte zweimal in die Hände, um die Aufmerksamkeit zu erheischen. „Meine Freunde, wenn alle so weit gegessen haben und trocken sind, würde ich gern mit euch weiter das Versteck durchsuchen. Wir sollten uns nur noch mit dieser Auf-gabe beschäftigen. Wir haben nämlich einen weitern Faktor, der unsere Zeit hier drinnen begrenzt.“

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Er nahm ein Stück Brot, das neben ihm auf dem Bett gelegen hatte, und hielt es vor sich. „Kev muss Unmen-gen mehr an Nahrung zu sich nehmen, wenn er sich viel verwandelt. Seit dem Shanntak seine Verletzungen rege-neriert, isst er für zwei. Unsere Vorräte gehen zur Neige, und wir wissen nicht, wie schnell wir hier rauskommen. Wir dürfen nicht mehr säumen.“ „Das hätte mir auch auffallen müssen.“ Shanntak hatte sich erhoben und wirkte zerknirscht. „Ein guter Kom-mandant hätte daran gedacht. Ihr habt recht, wir werden unsere Bemühungen verdoppeln.“ Er sprang auf und machte sich bereit. Die anderen folgten seinem Beispiel. Kev half Shanntak, seinen Ruck-sack aufzusetzen, und dann verließen sie das Schlafzim-mer. Schnell erreichten sie die letzte verbliebene Tür am Ende des Ganges, die ebenfalls mit der Wand verschmol-zen war. Halgrimm sorgte wieder mit einem blauen Licht, welches von der Spitze seines Stabes erstrahlte, für Helligkeit. Er überprüfte noch ein letztes Mal den Gang auf Magie. „Es ist alles noch so, wie wir es verlassen haben. Nur die Tür ist aufgeladen.“ „Seid auf der Hut!“, warnte Faban ein letztes Mal. „Erdenbewahrer, ich denke, ein Loch bei der Kante, schräg an der Tür vorbei, wäre am besten, oder was denkt Ihr?“ „Ja, ich glaube, das wird das Beste sein“, stimmte Wotan zu und begann sein Gebet. Seine Macht baute sich auf, deutlich zu sehen für Faban und Halgrimm. Für den Rest der Gruppe war nur ein leichtes elektrisierendes Kribbeln im Körper zu spüren. Stein verwandelte sich in Sand. Ein Teil der rechten Wand neben der Tür bekam ein Loch. Es war vom

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Umfang gerade groß genug, dass Shanntak sich mit seinen breiten Schultern hindurchquetschen konnte. Halgrimm spähte mit Wotan gemeinsam durch den neuen Durchgang. Wotan nahm seinen Helm für einen Moment ab und kratze sich am Kopf. „Bei meinem Barte, dass ist ja größer als der Thronsaal! Ein nettes Plätzchen hat sich Abusan hier unten erschaffen.“ „Plan nicht gleich deinen Einzug, sondern sag uns lieber, was du siehst!“, forderte Oenothera den Zwergen auf. Halgrimm antwortete stattdessen: „Eine rechteckige Halle, die sich nach rechts weiter erstreckt. Wir sehen vor allem Regale mit Schriftrollen und weitere mit allem möglichen Zeugs. Es riecht hier wie in einer Bibliothek: nach Pergament und Staub. Bisher habe ich keine magischen Ausstrahlungen entdeckt. Einen Moment … Am rechten Ende der Halle ist eine gewaltige Ab-strahlung von Magie!“ Faban rieb sich die Hände, und das erste Mal seit der Wanderschaft erlebte ihn die Gruppe so aufgeregt wie einen Fuchs im Hühnerstall. „Sollten wir es wirklich geschafft haben? Endlich am Ziel, ja? Sieg!“ Gleich darauf besann sich Faban wieder und räusperte sich verlegen. „Trotzdem jetzt nicht nachlassen in der Auf-merksamkeit.“ Halgrimm und Wotan grinsten sich an, ebenso Oenothera und Kev. Wotan steckte seinen Kopf durch das Loch und besah sich den Boden. Mit seinem Ham-mer klopfte er anschließend den Boden ab und grunzte zufrieden, als nichts geschah. „Soweit alles in Ordnung. Shanntak, lass mich diesmal vorgehen und zumindest die ersten Meter sichern. Du brauchst Zeit, bis du mit deinem gebrochenen Arm durch das Loch gekommen bist.“

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„Ein vernünftiger Vorschlag. Wir hätten so schon beim Schlafzimmer vorgehen sollen.“ Wotan nickte. Die selbstkritische Ehrlichkeit des Haupt-mannes empfand er als erfrischend und hielt es als ein Zeichen von Charakter. Nicht viele in einem hohen militärischen Rang hätten einen Fehler zugegeben. Je mehr er Shanntak kennenlernte, desto mehr achtete er ihn. Wotan entzündete seine Öllampe und stellte sie in die Halle. Dann kroch er durch die Öffnung und ver-schwand, mit dem Hammer auf den Boden pochend, aus der Sicht. Halgrimm streckte seinen Stab durch das Loch, damit Wotan mehr Licht bekam, und verstärkte seine Beleuchtung zu einem weitreichenden Schein. „Hier nach rechts geht die Halle noch viel weiter. Im hinteren Teil ist ein riesiges verschnörkeltes Gebilde auf den Boden gezeichnet. Oh, und dort ist ein aktiver Zauber, etwas Mächtiges. Bei den Tiefen der Erde, so eine Ausstrahlung habe ich noch nie gesehen!“ Shanntak war schon dabei, dem Zwerg zu folgen, seine Waffe in der linken Hand bereithaltend. Bald darauf war die Gruppe vollständig in der Halle versammelt. Beein-druckt sahen sie sich um. Der Raum war hoch und fast doppelt so groß wie der Thronsaal. Links von ihnen er-hob sich nach einigen Schritten eine Wand, rechts öffnete sich die Halle so weit, dass Halgrimms Licht nur noch schemenhaft etwas erhellte. Vor ihnen ragten zehn lange Regale aus dickem dunklen Holz zur Decke auf. Sie waren voller Schriftrollen, und es fanden sich sogar einige der seltenen Bücher dazwischen. Weiter rechts neben dieser Bibliothek befand sich ein ausladender Arbeits-tisch, auf dem mehrere Pergamente unterschiedlicher Größe ausgebreitet lagen. Einige von ihnen hatten sich an

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den Seiten leicht aufgerollt. Weitere niedrigere Regale standen in zwei Schritt Abstand um den Tisch herum, die diesmal Tongefäße, Flaschen und Kisten enthielten. Ein dünner Film aus Staub bedeckte die Gegenstände und Pergamente. Es war schon lange keiner mehr hier gewe-sen, nicht einmal Insekten oder anderes Getier, die an Holz und Pergament genagt und weiteren Schmutz ver-ursacht hätten. Die Stille der Verlassenheit drückte auf die Gruppe, als sie sich schweigend umsahen. Ganz rechts am Ende der Halle konnten sie undeutlich etwas Gemaltes auf dem Boden entdecken. Ein Stehpult oder etwas Ähnliches ragte hinter dem Gebilde aus den Schatten hervor. Faban brach als Erster das mulmige Schweigen. „Gut, wir werden uns langsam an der Wand entlang vorarbeiten und uns nach Gefahren umschauen. Halgrimm, Wotan und ich kümmern uns um die Entdeckung von Zaubern. Lasst uns nach links gehen und uns das Gebilde hinten in der Halle zuletzt vornehmen.“ Schritt für Schritt gingen sie zur linken Wand, den Boden und die Umgebung aufs Genaueste untersuchend. Ohne Hindernisse oder Entdeckungen gelangten sie rasch zur Wand, die größtenteils von einem der Regale verdeckt wurde. „Das muss Abusans Hauptsitz sein“, behauptete Faban. Mit schillernden Augen wandte er seinen Kopf von einer Seite zur anderen und konnte sich nicht genug an den ganzen Schriftrollen sattsehen. „Niemand kann zweimal so eine gewaltige Bibliothek aufbauen! Hier sind fast so viele Schriften wie beim Orden des Grauen Turmes selbst!“

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„Unfassbar, welch ein Reichtum an Wissen!“, knurrte Wotan in sich hinein, als sie an den vollen Regalen links und rechts vorüberschritten. „Wir können unmöglich alles mitnehmen.“ Faban hatte hörbar einen Kloß im Hals, und Halgrimm meinte, in seinen Augen die Andeutung eines feuchten Schimmers zu entdecken. „Ich kann es nicht fassen, dass wir das meiste vernichten müssen …“ Shanntak schaute ebenso fasziniert wie Faban in die Regale und fragte: „Meister Faban, könntet Ihr mir etwas aussuchen, mit dem ich anfangen kann zu lesen?“ „Ah, natürlich. Etwas, das nicht zu schwer und gehaltvoll ist – für den Anfang –, denke ich. Sobald wir hier alles gesichert haben, werde ich etwas für dich finden.“ „Habt Dank.“ Für eine Person waren diese Reden völlig unverständlich. Gelangweilt schlenderte Kev an dem gehorteten Wissen vorbei, den trockenen Inhalt, der seiner Meinung nach so wenig mit der Praxis zu tun hatte, missachtend. Für ihn war die Bibliothek wenig beeindruckend. Bald richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, und er fühlte sich sogleich bestätigt, als er als einzig Achtsamer etwas entdeckte. „Da hinten ist eine weitere Tür!“ Das lenkte die Aufmerksamkeit der Gefährten wieder auf ihr Vorhaben, und sie schlossen zu Kev auf. Sie waren am anderen Ende der Regale angelangt. Einige Schritte vor ihnen erhob sich die Hallenwand, und nahe der Raumecke befand sich eine Eichentür. Kev verschränkte seine Arme, als er vor der Tür stehen blieb. „Mann, ich habe es satt, dass wir schon wieder unsere Öffnungsprozedur machen müssen! Ich werde nie wieder eine Tür auf normalem Wege aufmachen können!“

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„Wohl war …“, stimmte Oenothera ihm zu. Die Gefährten brauchten nicht lange, und die Tür war sicher mit einem Seil aufgezogen. Ohne Umstände öff-nete sie sich knarrend, und Halgrimm trat mit seinem leuchtenden Stab vor. „Eine Küche und Vorratsraum.“ Ein einfacher, karger Raum mit einer Kochstelle und Nischen in den Steinwänden, in denen Kisten, Krüge und Gläser lagerten, wurde im blauen Licht sichtbar. Töpfe, Schöpfkellen, Messer und Pfannen lagen in einem Regal und unter einem Arbeitstisch. An einer Wand standen große Fässer aufgereiht, und in einer Ecke waren Kohle-stücke in einem hohen breiten Korb gelagert. Oenothera ging vorsichtig ein paar Schritte in die Küche und prüfte den Inhalt einer offenen Kiste. „Hier ist so etwas wie Erde drin. Wenn das mal etwas anderes war, ist es ist beim besten Willen nicht mehr zu erkennen.“ Kev meinte: „Die Feuerstelle hat einen Abzug. So tief können wir uns also gar nicht unter der Erde befinden!“ Wotan verneinte: „Das hat nichts zu sagen. Es gibt natürliche Kamine, die weit durch das Gestein reichen.“ Kev lugte in den Abzug hinein. „Hier ist es so unheimlich bar allen Lebens. In der gesamten Behausung haben wir nicht ein Insekt vorgefunden, obwohl sie über diese Öffnungen hier eindringen könnten.“ „Aversionsbanne“, war die knappe Antwort Halgrimms. „Wir werden hier nichts finden. Lasst uns weiter!“, sagte Faban bestimmt. Sie verließen die Küche. Kurz sahen sie auf der anderen Seite der Regale das Flackern der Öllampe, die Wotan vor dem Einstiegsloch stehen gelassen hatte. Es war ein einsames, kleines Licht, das wie ein Leuchtturm den Weg zum Ausgang wies. Wachsam schritten sie die Wand

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weiter entlang zur Mitte der Halle. Sie passierten das letzte Schriftrollenregal und kamen zu dem quadratischen massigen Arbeitstisch mit den ausgebreiteten Pergamen-ten. Neugierig sahen sie sich um. Auf dem Tisch lagen viele fein gezeichnete Landkarten, die aufgrund der tro-ckenen Luft und des fehlenden Lichts kaum an Qualität verloren hatten. Halgrimm beugte sich irritiert weiter runter, um die Abbildungen besser zu erkennen. „Meister Faban, die Karten … ich kenne keinen der Landstriche, der auf ihnen eingezeichnet ist. Und dort hinten ist eine, auf der Kontinente dargestellt sind. Wenn das unsere Welt Tepor sein soll, wo ist dann unser Kontinent Solandra?“ „Beim Allmächtigen!“, knurrte Wotan. „Ich kann Solan-dra ebenfalls nicht entdecken. Ist das etwa eine andere Welt?“ Faban nahm die gezeigte Karte zur Hand. „Allein diese Zeichnung ist schon von unschätzbarem Wert. All die Jahre lag dies ungenutzt hier herum. Welch eine Ver-schwendung!“ Oenothera schob einige übereinanderliegende Pergam-ente auseinander. „Hier ist eine Karte unserer Welt. Nach dieser Karte gibt es auf Tepor drei Kontinente. Es sind also insgesamt drei. Na, endlich kann ich bei meinem Volk etwas zur Erweiterung des Wissens beitragen.“ Kev konnte wieder einmal nicht deuten, ob sie dies ernst oder ironisch meinte. Er hatte derweil die Regale inspiziert. Einige Sachen dort hatten sofort sein Interesse geweckt. „Hier liegt alles Mögliche herum. Einige Utensilien sind wohl für die Alchemie. Aber es gibt auch tote Tiere und Pflanzen, die in einer Flüssigkeit herum-schwimmen. Die Tiere habe ich noch nie gesehen. Und da sind noch Knochen und seltsames Gestein.“

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„Seltsames Gestein?“ Wotan ließ von den Karten ab und eilte zu dem Wechselbalg. „Ha, das ist Erz! Oh, und das da könnte ein roher Opal sein.“ Er zeigte auf ein unscheinbares, teilweise noch mit trockener Erde behaf-tetes Stück, das neben anderen Gesteinsbrocken lag. Kev stupste Wotan seitlich an den Arm. „Sieh dir die Steinfiguren da oben an! Die sind sehr fein gearbeitet. Ist das Steinmetzearbeit von deinem Volk?“ „Oh, beim Behüter, was sind das denn für Missgestalten? Darstellungen von Dämonen?“ Faban trat, neugierig geworden, hinzu. „Die klassische Art, sie zu zeigen. Mit Fledermausflügeln und Hörnern auf dem Kopf. Zwei, drei, vier … zwölf. Zwölf ver-schieden aussehende Dämonen, aber die Größen der Statuetten sind gleich und die Sockel identisch.“ Halgrimm meldete sich vom Tisch. „Sie strahlen keine arkanen Energien aus. Ich frage mich, warum Abusan sie hier stehen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Kunstliebhaber war.“ „Ich auch nicht“, ertönte Wotans tiefe Stimme. „Mal davon abgesehen, ist es dazu noch ziemlich hässliche Kunst! Das Material, aus dem die Dinger bestehen, ist auch nichts Besonderes. Gewöhnlicher Speckstein.“ „Nuun, vielleicht steht etwas im Tagebuch von Abusan über die Statuetten“, sinnierte Faban. „Ich denke, für den Augenblick haben wir uns hier genügend Überblick verschafft.“ Fabans Augen richteten sich auf das letzte Drittel der Halle. „Wir sollten uns für den letzten Ab-schnitt wieder vorbereiten. Bei dieser starken magischen Ausstrahlung schwant mir nichts Gutes …“ Shanntak bereitete sich bei diesen Worten schon vor und vollzog ein weiteres Mal seine dauernden Überprüfungen von Rüstungsriemen und Waffengurten. Zuletzt zog er

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die Armbinde fester, damit sein gebrochener Arm fest am Körper anlag. „Ich werde mein Bestes geben. Solange ich aber einen gebrochenen Arm habe, bin ich mit meinen Möglichkeiten eingeschränkt.“ Kev sagte zum Drakaner: „Ich werde wieder das Seil sichern und alles in meiner Macht Stehende tun, um dich aus Schwierigkeiten herauszuziehen. Brich dir nur nicht wieder etwas!“ Bei dem harten Grinsen, welches ihm Shanntak daraufhin zuwarf, hatte der Wechselbalg Mühe, nicht zu schlucken. Wotan sprach zu Faban: „Ich kann nicht erkennen, was uns dort vorn erwartet. Was denkt Ihr, was diese Zeich-nungen auf dem Boden zu bedeuten haben?“ Besorgt antwortete der alte Ordensmeister: „Ich weiß es nicht. Es könnte eine letzte Sicherung sein, aber ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt. Wir sollten Shanntak wieder mit unseren Schutzzaubern einhüllen. Shanntak, sichere nur den Weg und untersuch nichts anderes. Wir werden dir dann erst einmal folgen.“ „Verstanden!“ Inzwischen war die Gemeinschaft so eingespielt, dass die Vorbereitungen nur noch wenige Augenblicke erforder-ten. Gemeinsam gingen sie einige Schritte in die Richtung des Abschnittes mit den Zeichen auf dem Boden. Kev stand weiter hinten als Höhlenbär bereit, mit dem Sicherungsseil für Shanntak umgürtet. Zu Halgrimms Licht gesellten sich ein weiteres von Meister Faban und zwei Öllampen, die Kev und Oenothera entzündet hat-ten. Damit erhellten sie die Halle so weit, dass deutlich ein mehrere Schritte durchmessender Kreis mit Symbolen und Schriftzeichen zu erkennen war. Sie schimmerten ihnen silbern und golden entgegen, als hätte man Edel-metalle für die Aufbringung der Zeichen benutzt. Inner-

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halb des Kreises folgten weitere Symbole, kompliziert miteinander verschlungen, und bildeten ellipsenförmige sich überschneidende Gebilde. Die Luft schimmerte leicht um das prachtvolle Kunstwerk herum. Man konnte mit einiger Anstrengung eine Halbkugel erkennen, die das Gebilde bis zum Boden umschloss. Mittig gegenüber dem Kreis, kurz vor dem Ende der Halle, erhob sich ein wuchtiges Stehpult. Halgrimm meinte zu erkennen, dass die Ecke eines Buches über den Rand des Pultes ragte, aber der Luftschimmer behinderte seine Sicht. „Sieht aus wie eine Schutzkuppel“, meinte Halgrimm und wandte sich zu seinem Lehrer. „Ich kenne so eine Schutzkuppel nur aus Eis, aber nicht aus Luft.“ „Ich auch nicht, Halgrimm.“ Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Zeichnungen. „Ebenso wenig kenne ich die Schrift auf dem Boden. Das sind keine Runen. Jedenfalls keine, die mir je untergekommen wären.“ „Dann könnte uns das Lesegerät helfen“, kam prompt der Vorschlag von Shanntak. Vorsichtig holte er die Brille aus seinem Rucksack, wo er sie weit oben, zwischen Kleidung gepolstert, aufbewahrt hatte. Er setzte sie auf und blickte zu den goldenen und silbernen Symbolen. Nur kurze Zeit später keuchte er auf und riss sich die Brille vom Gesicht. Besorgt fragte Faban: „Ist dir etwas passiert?“ Mit Daumen und Zeigefinger rieb sich Shanntak seine Augen. „Nein, ich denke nicht. Als ich auf die Symbole sah, stürzte so viel Information auf mich ein, dass ich es kaum ertragen konnte! Zahlenkolonnen und so etwas wie komplizierte Rechnungen. Ich habe nichts davon verstanden. Dann schmerzte mein Kopf von der Fülle der Eindrücke, und ich musste aufhören.“

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„Gib mir die Brille für einen Augenblick!“, forderte Faban den Krieger auf. Shanntak überreichte sie, und Faban machte sich sogleich daran, ebenfalls das Gebilde damit zu betrachten. Wenige Herzschläge später zeigte der Großmeister die gleiche Reaktion wie Shanntak und drehte sich weg. „Zu viel, viel zu viel …“, stöhnte er und rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. „Ich habe mathematische Formeln gesehen, die über alles hinausgehen, was wir über Mathematik wissen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein sterbliches Wesen die Fülle an Wissen auf-nehmen kann.“ Faban gab die Brille wieder zurück und sah etwas ratlos zu den Symbolen. „Was immer das auch sein mag, es wurde bestimmt nicht von Abusan oder irgendeinem anderen Magier erschaffen. Tja, nun … wie gehen wir jetzt am besten weiter vor?“ Mit geübter Bewegung zog Shanntak eines seiner Wurfeisen aus dem Haltegurt und zeigte es dem alten Magier. „Soll ich damit prüfen, wie fest diese Kuppel ist?“ Nach kurzem Überlegen antwortete Faban: „Wir gehen erst noch ein Stück weiter nach hinten. Dann versuch es.“ Sie zogen sich bis zum Tisch zurück, und Shanntak warf im hohen Bogen seine Wurfwaffe. Das Ziel war groß genug, und damit war die weite Distanz nicht maßgeblich für einen Treffer. Ohne einen Laut prallte sein Eisenstift an der Kuppel ab und fiel dann, mehrfach aufprallend, mit metallischem Klirren auf den Boden. „So viel dazu …“ Wotan ging wieder vor, die anderen folgten ihm nach. „Der Kreis wird also geschützt.“ Oenothera deutete auf das Stehpult. „Seht, vor dem Stehpult ist so eine Dämonenstatuette, ähnlich den

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Figuren bei dem Kartentisch. Die hier scheint allerdings aus Silber zu sein.“ „Ja, ich sehe sie“, bestätigte Faban. „Shanntak, versuche um die Luftkuppel herumzugehen und bis zu der Statuette zu kommen.“ Shanntak machte sich rechts um die Schutzkuppel herum auf den Weg. Der Steinboden der Halle war auch hier eben und glatt und erschien ihm ungefährlich. Vorsichtig umrundete er weitschweifig die schimmernde Halbkugel. Unbeschadet gelangte er bis zur behauenen, graden Wand, die das eine Ende der Halle markierte. Das Stehpult stand zwei Pferdelängen vor ihm, und er ging nicht mehr näher heran. Er beachtete es kaum, stattdessen ging sein Augenmerk zu dem Objekt, das sich kurz vor dem Pult befand. Es war die silberne Darstel-lung eines breiten, muskulösen Wesens, das vier kleinere und zwei mächtige, geschwungene Hörner in der Mitte auf dem Kopf hatte. Auf dem Rücken waren Flügel zusammengefaltet, die keine Federn besaßen. Shanntak konnte nichts Genaueres erkennen, die Statuette war nur zwei Hand hoch, und er hätte für weitere Details viel näher herantreten müssen. „Die Figur berührt den Kreis und ist innerhalb der Schutzkuppel.“ „Das habe ich befürchtet! Nuun, dieses Rätsel müssen wir lösen, bevor wir hier weggehen. Shanntak, komm wieder zu uns!“ Der Hauptmann setzte sich gerade in Bewegung, als ihm seitlich aus den Augenwinkeln eine Bewegung auffiel. Blitzschnell drehte er sich dem Kreis zu, ging dabei in die Knie und riss sein Schwert kampfbereit ausgestreckt nach vorn. Die Symbole unter der Schutzkuppel begannen zu schimmern, wurden heller, und der Boden selbst schien

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in Bewegung zu geraten. Erst unmerklich, dann immer heftiger hob und senkte sich der Steinboden innerhalb des Kreises. Es erinnerte Shanntak an Wellen im Meer. „Shanntak!“, rief Wotan, als er seinen Schild vom Rücken holte. Mehr Aufforderung brauchte der Drakaner nicht. Er sprang auf und eilte auf seine Gefährten zu. Halgrimm nahm all dies nur nebenbei wahr. Er hatte die ganze Zeit mit seiner arkanen Sicht den Kreis und alles darum herum beobachtet. Als die Symbole angefangen hatten aufzuleuchten, flossen dabei so gewaltige Mengen an arkanen Energien, dass für Halgrimm kurzzeitig alles in einem grellweißen Licht verschwamm. Erschrocken verschloss er sich für die arkane Sicht und versuchte, zu sich zu kommen. Als er wieder zum Kreis aufsah, war dort in der Mitte ein aufrechter schwarzer Riss in der Luft entstanden, der sich langsam verbreiterte. Halgrimm wusste nicht genau warum, doch er war sich sicher, dass sich etwas aus der Schwärze hervorbewegte. „Irgendetwas kommt hervor!“ warnte er. Dann rief er entsetzt: „Ein Negierungszauber! Die Kuppel! Sie wird schwächer.“ Shanntak kam bei ihnen an und stellte sich vor Faban kampfbereit hin. „Ich habe nichts berührt. Ich glaube nicht, dass ich das ausgelöst habe.“ Von hinten kam der gewaltige Höhlenbär heran, richtete sich neben Shanntak auf die Hinterbeine und überragte ihn damit bei Weitem. Wotan trat an die linke Seite von Kev und duckte sich hinter seinem Schild, sodass nur noch seine Augen über den Rand spähten. Oenothera war gerade dabei, aus einem Topf eine braune Salbe auf ihr Schwert und ihren Dolch aufzutragen. Ihr Bogen lag zu ihren Füßen. Der Riss dehnte sich immer weiter aus

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und nahm die Form einer Kugel an, die sich bis zum Rand des Symbolkreises ausbreitete und alles Licht in ihrem Inneren verschluckte. Die Schutzkuppel erstrahlte auf einmal in einem kränklichen Licht, dann bildeten sich dunkle Risse in ihr und mit einem Glockenklang löste sie sich in einzelne Lichtfetzen auf, die alsbald zu einem Nichts erloschen. Gleich darauf brach auch die schwarze Kugel in einem einzigen Augenblick in sich zusammen. Halgrimm zwinkerte und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Innerhalb des Kreises stand auf einmal eine Gruppe von dunkelhäutigen Zwergen in fremdartigen Lederrüstungen. Nein, das waren keine Zwerge, erkannte Halgrimm. Abgesehen von der fast schwarzen ledernen Haut waren die Gesichter zu spitz, und sie waren auch etwas größer als Zwerge. Ihre langen Bärte waren für Zwerge untypisch dünn, fast fransig. Ihre Augen waren viel größer als bei einem Menschen und gaben ihnen ein glotzendes Aussehen. Wie bei einer Katze schimmerten sie leicht im Halbdunkel auf. Zusammen mit ihren fledermausartigen Ohren schienen sie für Halgrimm ihrem Äußeren nach unterirdisch zu leben. Oder waren sie vielleicht nur in der Nacht aktiv und ruhten am Tag, wie es auch bei Eulen der Fall war? Jeder von ihnen war mit einem brachialen Streitkolben bewaffnet, an dessen Kopf gefährliche Eisendornen blitzten. Tellergroße, dicke Schilde wurden an einem Griff in der Mitte in der anderen Hand gehalten. Solche Schilde, die nicht am Arm getragen wurden, hatte Halgrimm noch nie gesehen. Die Arme waren das Auffälligste bei den fremden Wesen. Sie waren so lang, das die Streitkolben den Boden berührten, wenn sie den Arm hängen ließen. Es sah so aus, als könnten diese Kreaturen im aufrechten Stand ihre Hände auf den

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Boden pressen. Kein Halgrimm bekanntes Lebewesen besaß solch lange Extremitäten. Einige Herzschläge lang standen sich die Flüstersteiner und die fremde Gruppe regungslos gegenüber und starrten einander an, jeweils voneinander überrascht. „Uns ist also schon jemand zuvorgekommen, den Schutzwall zu durchbrechen.“, brach eine krächzende, fremdartige Stimme das Schweigen. Die dunkelhäutigen Wesen streckten ihre Arme mit den Schilden nach vorn. „Von wem wurdet ihr ausgesandt das Dämonensilber zu rauben?“, krähte erneut die gleiche Stimme aus den hinteren Reihen. „Hat die Geliebte des Abgrundes einen Weg hierher gefunden? Nein, ihr seht nicht schlimm genug aus – jedenfalls für ihre Diener. Ihr seid von den Verwahrern. Oder seid ihr etwa die Spürhunde der Albinos?“ Kurze Blicke wurden unter den Flüstersteinern ausge-tauscht. Keiner von ihnen konnte etwas mit den Fragen und Behauptungen anfangen. Wotan knurrte leise zu Shanntak rüber: „Kommen die vom Imperium?“ Dabei zählte er schnell die Anzahl der Fremden und kam auf insgesamt zwölf. „Nein. Die hätten uns schon längst angegriffen und erst hinterher gefragt. Ich habe solche Wesen noch nie gesehen.“ „Lasst uns ruhig bleiben“, ermahnte Faban. Der Anführer der Fremden fauchte wütend, als er keine Antwort erhielt. „Wie auch immer. Ihr habt nur eine Chance: Gebt mir die Dämonenstatuette, und ich lasse euch am Leben. Entscheidet schnell!“ Die fremdartige Stimme kippte bei ihrem Geschrei unangenehm ab. Halgrimm musste grinsen. ‚Die steht hinter dir, aber das werden wir dir nicht auf die Nase binden!‘ Spontan fragte er

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sich, ob nicht auf dem Stehpult ebenfalls etwas Wichtiges liegen könnte, besann sich dann jedoch auf die gegenwärtigen Ereignisse. Für Halgrimm war es völlig klar, dass es gleich zu einem Gefecht kommen würde, und so bereitete er sich vorausschauend auf einen Zauber vor. Bedachtsam öffnete er sich für die Schöpfungskraft und nahm sie in sich auf. Der Führer der Kreaturen kreischte schrill: „Einer benutzt die Macht! Zerfetzt sie!“

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Welt Tepor, Felmongebirge, Scheidepass – west-licher Zugang Zweitausend Mann wimmelten auf den Hängen vor dem von Schneegewalten zugeschütteten Scheidepass. Die Soldaten hatten jeden vorhandenen Platz genutzt, der einigermaßen waagerecht war, um ihre Zelte aufzustellen. Eine Gruppe Ingenieure, bestehend aus Zwergen und Gnomen, leitete Soldaten an, eine grobe Mauer in den kurzen Torweg zur Schlucht zu bauen. Die vorhandenen verstreuten Felsbrocken und Steine der Umgebung wurden dafür zu der Baustelle geschleppt. Einzelteile zweier Katapulte wurden hinter der entstehenden Mauer montiert, und in den Felswänden zu beiden Seiten des kurzen Hohlweges installierten Zimmerleute Plattformen aus Holz, auf denen Bogenschützen stehen sollten. Fürst Aldan machte gerade einen Rundgang durch die Lager, sprach hier und da Soldaten an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Einige Male verlangte er, dass Ausrüstung gereinigt und Zelte besser aufgestellt werden sollten. Die Inspektion seiner Mannen machte er allerdings mehr nebenbei. Seine Gedanken waren vor allem mit Problemen beschäftigt, für die er momentan keine Lösung fand. ‚Wenn ich nur Informationen hätte, was die Drakaner auf der anderen Seite machen … Der Pass ist verschüttet und damit erst einmal die feindliche Armee ausgeschlossen. Aber wie reagiert der Feind? Buddeln sie schon fleißig und benutzten die Macht ihrer Zauberer, um den Pass frei zu graben? Es wäre den Drakanern mit ihrem Starrsinn zuzutrauen. Ich hoffe, der Orden schickt mir bald einen Magier, bevor es zum nächsten Gefecht kommt, sonst stehen wir ohne die Unterstützung der Macht da. Unsere Verteidigungsstellung ist zum Glück fantastisch, falls sie versuchen

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sollten durchzubrechen. Wenn sie es überhaupt versuchen. Genauso gut könnten sie gleich abgezogen sein, und meine Truppen stehen hier unnütz herum. Aber ohne sichere Kenntnisse über die Bewegungen der drakanischen Armee kann ich mein Heer nicht abziehen. Verflucht noch mal, ich muss den Scheidepass erst einmal halten.‘ Fürst Aldan schritt weiter einen Ziegenpfad zwischen Felsen und Zelten entlang und erblickte Ritter Jotar, der ihm mit dem jungen Ritter Pledor entgegenkam. Als Jotar den Fürsten sah, schlug er Pledor leicht an die Seite und ging zielstrebig auf Aldan zu. Vor Aldan angelangt, ver-beugten sich die Ritter. Jotar begann leise seinen Bericht. „Herr, die Zahl der Kranken vergrößert sich. Unsere Wundheiler wissen sich keinen Rat und fürchten, dass diese Krankheit weiter um sich greift. Die Kälte hier oben schwächt zudem zusätzlich die Abwehrkräfte unserer Männer, sagen sie.“ Fürst Aldans faltiges Gesicht bekam weitere Furchen hinzu, als er seine Stirn krauste. „Werden die Männer, die Symptome zeigen, von der Truppe isoliert?“ „Ja, Herr. Sie werden sofort in das Krankenlager ge-bracht, und das steht am Fuße des Berges, wie Ihr es befohlen habt. Trotzdem gibt es immer neue Krank-heitsfälle.“ „Zum Abgrund mit der Krankheit!“, fuhr der Fürst auf. Dann verwandelte sich sein Ausdruck ins Nachdenkliche. „Zum Abgrund, sagte ich, nicht wahr. Was ist, wenn das keine normale Krankheit ist? Jotar, Ihr sagtet, Eure Männer bekamen die Krankheit, als Ihr von den Draka-nern angegriffen wurdet?“ „Das ist richtig, Herr.“

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„Ich kann in diesem Fall nicht so recht an einen Zufall glauben. Vor allem, da sich die Krankheit so aggressiv verhält.“ Jotar knurrte ärgerlich auf. „Damit hätte ich nie gerechnet! Was für eine Niedertracht, so etwas Heim-tückisches einzusetzen! Wenn Ihr recht habt, werden wir einen Geweihten der Behüter brauchen, um der Krankheit Herr zu werden.“ „Ja, und der nächste ist erst in Weidenfluss. Es ist zum Auswachsen, dass Flüsterstein schon so lange keinen Priester mehr hat!“ Fürst Aldan verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und starrte zu Boden. „Pledor, nehmt noch einen Getreuen mit Euch und reitet so schnell wie der Wind nach Weidenfluss! Macht dem Geweihten Usandlar unsere Situation klar und schafft ihn hierher!“ Pledor verbeugte sich, lief eifrig los und hetzte über das Geröll des Pfades. Jotar rief ihm hinterher: „Der Befehl schließt mit ein, dass du dir nicht den Hals brichst! Es wird ausreichen, wenn du hier oben nur gehst!“ Amüsiert sahen sich Fürst Aldan und Ritter Jotar an, als Pledor in einer Art Laufschritt verschwand. Rasch wurde Aldan wieder ernst und sah auf die umstehenden Zelte und Krieger. „Jotar, ich mache mir ernste Sorgen. Zwar haben wir den Angriff auf Flüstersein abgewehrt, aber wir sitzen hier fest. Und bis der Priester hier ist, wird ein Großteil der Armee nicht mehr einsatzfähig sein. Wir sind ausge-schaltet worden, und ich sage dir: Das ist verdammt schlecht für die Vierfürstentümer. Es ist noch längst nicht vorbei. Der Kampf um den Scheidepass war erst der Anfang.“

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Welt Tepor, Moranion-Wald, Abusans Laboratorium Bei dem Aufschrei ihres Anführers stürzten die dunkel-häutigen, langarmigen Wesen vor. Sie mussten nur wenige Pferdelängen zurücklegen, um die Flüstersteiner zu erreichen. Schon beim ersten Schritt brach einer von ihnen mit einem Pfeil im Hals zusammen. Oenothera hatte ohne Zögern geschossen. Shanntak, Wotan und Kev stürzten fast zugleich den Angreifern entgegen. Zwei der langarmigen Fremden spalteten sich seitlich von ihrem Pulk ab und rannten auf Oenothera zu. Die Hauptgruppe fächerte sich auf und verteilte sich auf die drei ihnen entgegenkommenden Gefährten. Der Wort-führer der Fremden war als Einziger stehen geblieben. Geduckt stand er da und fuchtelte wirr in der Luft herum. Halgrimm beendete seinen Zauber. Ein Feuer-strahl fauchte von hinten auf Armeslänge an Wotans Kopf vorbei und versenkte ihm einige Haare. Fluchend duckte sich der Zwerg. Der Flammenstrahl Halgrimms schoss auf einen der langarmigen Krieger zu, der gerade Wotan attackieren wollte. Kurz vor dem Auftreffen lösten sich die Flammen auf, als wären sie auf Wasser geprallt. Schockiert registrierte Halgrimm das gackernde Lachen des Anführers der Kreaturen. ‚Ein Gegenzauber!‘ Ein zweiter Feuerstrahl fegte durch die Luft. Völlig verwirrt verfolgte Halgrimm den Verlauf des zweiten Zaubers. Die flammende Lanze traf. Mühelos durch-bohrte sie Panzer und Brust des Anführers der Fremden. Mit einem letzten kichernden Laut brach er tot zusam-men. Der Strahl war von Meister Faban gekommen. Halgrimm erkannte, dass sein Mentor nur darauf gewartet

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hatte, dass der feindliche Magier für einen kurzen Augenblick wehrlos war. Mit einem letzten Laufschritt war Shanntak an die Geg-ner herangekommen. Erleichtert registrierte er nebenbei, dass der gegnerische Urkorr, der für ihn logischerweise vorhanden sein musste, wenn jemand hier eindrang, ver-nichtet wurde. Jemand von den Flüstersteinern hatte mitgedacht und die größte Gefahr eliminiert. Hastig musste Shanntak einen weitreichenden Schwinger parie-ren, mit dem er nicht gerechnet hatte. Ein zweiter lang-armiger Krieger schlug mit seinem Streitkolben auf ihn ein. Shanntaks Beweglichkeit war durch seinen gebro-chenen Arm empfindlich eingeschränkt. Es bereitete ihm Mühe, dem Schwinger auszuweichen, und er stolperte einen Schritt zurück. Auf seine Rüstung wollte sich der Drakaner bei diesen gefährlichen Waffen nicht verlassen. Die Stahldornen der Streitkolben könnten, mit ausrei-chender Wucht geschwungen, selbst durch seine dicke Panzerung dringen. Bei seinen Konterschlägen musste Shanntak die Wirksamkeit der seltsamen kleinen Schilde anerkennen. Sie waren dick und haltbar. Weil sie nicht am Arm hingen, sondern vor dem Körper gehalten wurden, konnten die Kreaturen damit schnell und früh Schläge blocken. Wieder und wieder parierte Shanntak die Angrif-fe seiner zwei Gegner, wich Schlägen aus und suchte eine Lücke in der Deckung.

Indessen musste sich Wotan gegen den Krieger wehren, den Halgrimm eigentlich ausschalten wollte. Der Stachel-streitkolben prallte gegen seinen Schild, und ein Dorn stanzte ein Loch hinein. Die langen Arme des Wesens gaben seinen Hieben eine enorme Reichweite. Wotans

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Schläge wurden durch den ausgestreckten Schild und den langen Arm weit vor dem Körper des Kriegers abge-fangen. Wotan war schockiert, als er merkte, dass seine Kriegerfähigkeiten für diese ungewöhnliche Situation nicht ausreichten. Er kam einfach nicht an diese Kreatur heran. Als ein weiteres der glubschäugigen Wesen sich gegen Wotan stellte, war ihm klar, dass er in Schwie-rigkeiten steckte. Ein Körper flog neben Wotan durch die Luft. Der Höhlenbär hatte zugeschlagen. Der Getroffene über-schlug sich einige Male und rührte sich dann nicht mehr. Vier der schwarzhäutigen Krieger konzentrierten sich nun auf Kev. Mit wilden Schwingern seiner Tatzen versuchte Kev, die Angreifer auf Distanz zu halten. Einer der Langarmigen machte den Fehler, einen Prankenhieb mit dem Schild abfangen zu wollen. Sein kleiner Schild überstand den Schlag zwar mit einer tiefen Delle, Hand und Unterarm dagegen hielten der Wucht des Aufpralles nicht stand und brachen. Bei diesem Angriff unter-schätzte Kev die Flinkheit seiner Gegner. Während der eine unter Schmerzen zusammenbrach, sprangen die anderen drei der schwarzhäutigen Wesen vor. Ein ohren-betäubendes Brüllen hallte durch die Luft, als der Bär an Schulter, Seite und Rücken getroffen wurde. Dornen bohrten sich durch sein Fell und rissen sein Fleisch auf. Shanntak hatte die Folgen für Kev kommen sehen. Mit dem Überblick eines Elitekämpfers der Namenlosen hatte er trotz seines Kampfes seine Umgebung im Blick be-halten. Der Wechselbalg war als Höhlenbär ein gewaltiger Gegner, aber es mangelte ihm an Kampferfahrung. Kev

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stand noch und kämpfte weiter, aber er brauchte Hilfe. Es war Zeit, etwas zu riskieren. Shanntak stoppte seine langsame Rückwärtsbewegung und stürmte auf seinen linken Gegner mit erhobenem Breitschwert zu. Dabei versuchte er, diesen zwischen sich und den zweiten Kontrahenten zu bringen. Dieser passte jedoch auf und beeilte sich, wieder in Schlagreichweite zu gelangen. Der von Shanntak angegriffene Krieger hieb indessen auf seine linke Seite ein. Mit aller Kraft schmet-terte Shanntak ohne innezuhalten sein Breitschwert von oben herab. Der Streitkolben wurde weit nach unten abgelenkt. Der nächste Schritt Shanntaks landete auf der Stange des Streitkolbens und riss damit Waffe und Arm der Kreatur zu Boden. Mit einem weitern Schritt stampf-te Shanntak kräftig auf die Hand, die den Streitkolben hielt. Das Gewicht und die Kraft Shanntaks ließen die Finger brechen. Der zweite Krieger war herangekommen und holte aus. Von den Schmerzen seiner gebrochenen Finger umnebelt, vergaß der erste Krieger seine Abwehr, und Shanntak stach zu. Es war Shanntak klar, das er mit seinem Schwert nicht mehr rechtzeitig die Attacke des zweiten Kriegers würde parieren können. Er ließ es los und ging dem Schlag seitlich entgegen, sodass er den Treffer am rechten Oberarm abbekam. Heftig schüttelte ihn der Aufprall durch und prellte ihm so stark den Arm das er taub wurde. Shanntak fauchte auf, als sein gebrochener Unterarm vor Schmerz explodierte. Seine Rüstung hatte von den Dornen zwei tiefe Dellen mit kleinen Löchern davon getragen, aber sie hatte ihn gerade noch vor schlimmeren bewahrt. Noch während des Aufpralls griff Shanntak das Handgelenk seines Feindes und verdrehte es mit überlegener Kraft nach außen. Die Kreatur hieb wild mit ihrem Schild nach Shanntaks Kopf,

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doch der riss den Arm seines Gegners dazwischen. Die Kreatur kreischte auf, als sie sich selbst traf, und ließ ihre Waffe fallen. Die Ablenkung nutzte Shanntak und drehte sich links um seine Achse und schwang damit das festgehaltene Handgelenk kräftig um sich herum. Die Kreatur wurde über Shanntaks Hüfte gezogen und fiel in einer unkontrollierten Vorwärtsrolle zu Boden. Ein schneller Tritt mit seinem eisenbeschlagenen Stiefel auf den ungeschützten Kopf beendete den Kampf. Als Oenothera zwei der fremdartigen Wesen auf sich zueilen sah, ging sie kein Risiko ein und lies ihren Bogen fallen. Mit Schwert und Dolch stellte sie sich den Kriegern. Wie Wotan bekam sie schnell Schwierigkeiten mit dem Kampfstil der Wesen, der aus den ungewöhn-lichen Schilden resultierte. Nach einem kurzen Schlag-abtausch wurde sie von zwei Seiten in die Zange genommen. Sie wich zurück. Die Krieger griffen beide gleichzeitig an. Mit einem weiten Hechtsprung nach rechts sprang sie aus der Schlagrichtung der beiden Streit-kolben. Der Oenothera am nächsten stehende Wider-sacher versuchte einen zweiten Hieb von oben gegen sie anzubringen, als sie vom Boden hochkam, während der andere nachrückte. Rechtzeitig brachte Oenothera ihr Schwert dazwischen und lenkte den Angriff zur Seite. Ihr Dolch zuckte vor und stach dem Wesen oberhalb der Armschienen in das Fleisch. Der Getroffene zuckte mit schrillem Ton zurück, fing sich jedoch schnell wieder und wehrte den folgenden Schwertstreich der Elfe mit seinem Schild ab. Ein weiteres Mal versuchte der andere schwarzhäutige Krieger, in ihren Rücken zu gelangen. Oenothera ließ sich auf keinen weiteren Schlagabtausch mehr ein und wich den beiden nur noch aus. Nach

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einigen zurückweichenden Manövern hatten die Wesen anscheinend genug: Sie rannten auf Oenothera zu, um sie endlich zu überwältigen. Mit knapper Not entging sie dem ersten Angriff. Dann duckte sie sich weg, sprang und hüpfte und war dabei so schnell, dass es keinem den fremdartigen Kreaturen gelang sie zu treffen. Gewandt und biegsam wie eine Weidenrute entkam sie allen Schlägen. Auf einmal griff nur noch einer der beiden Krieger an. Der andere stand keuchend da und ließ seine Arme hängen. Schaum floss aus seinem Mund. Seine Augen wanderten zur Dolchwunde an seinem Arm. Die Haut um den Einstich herum hatte sich dunkel verfärbt. Mit einem zuckenden Anfall brach er zusammen. Oenothera hatte unterdessen Mühe, den wütenden, immer schneller kommenden Angriffen des unverletzten Wesens zu entgehen. Mit dem Dolch konnte sie die wuchtigen Hiebe nicht parieren, und sie kam mit diesem zu keinem wirksamen Angriff mehr. Selbst mit dem Schwert gelang es ihr nur dürftig die schweren Schläge abzuwehren. Immer wieder musste sie unkontrolliert ausweichen, weil sie einen Hieb nicht weit genug von ihrem Körper ablenken konnte. Etwas zischte durch die Luft. Ein Pfeil schlug in den Körper des langarmigen Wesens ein. Entsetzt blickte es auf seine blutende Brust herab und langte mit der bewaffneten Hand zitternd zum Pfeilschaft. Oenothera schnellte vor und durchbohrte seinen Hals. Als das Wesen tot auf den Steinboden sackte, verschwanden Pfeil, Blut und Wunde. Oenothera drehte sich um und sagte: „Habt Dank, Meister Faban!“ Es donnerte, und die Halle verschwand in grellem weißen Licht.

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Halgrimm hatte sich wieder gesammelt und erfasste schnell die Not Wotans. Es war klar, dass Wotan bei zwei Gegnern zu keinem Gebetszauber kommen würde. Mit Müh und Not hielt er seine Verteidigung aufrecht und wehrte bisher alle Angriffe ab. Wotan benötigte baldige Hilfe. Halgrimm setzte sofort zu seinem Feuerstrahl-zauber an. Dann wurde ihm klar, dass dies keine gute Idee war. Der Kampf wogte viel zu sehr hin und her. Die Feuerlanze könnte Wotan ebenfalls erfassen – oder sogar nur ihn allein, wenn es ganz schlecht lief. ‚Denk nach, Halgrimm! Es muss dir doch etwas einfallen!‘ Auf die Schnelle kam ihm nur eine Idee, und so rannte er etwas bange auf Wotan und seine Kontrahenten zu. Sein Geist öffnete sich zum ewigen Ringen mit der Schöp-fungskraft und sammelte die nötigen Energien. Es war ein gefahrvoller Moment. Er lief, achtete dabei noch auf die Geschehnisse vor sich und konnte sich deswegen nicht ausschließlich um die Kontrolle der Macht küm-mern. Für Halgrimm war es, als würde er in zwei Welten existieren. In der einen rannte er in einer unterirdischen Halle seinem Gefährten zu Hilfe, in der anderen Welt schwebte er in schwindelerregenden Höhen über einer unendlichen glatten Ebene. Ein Sturm fuhr direkt in seinen Körper, wollte ihn zu Boden schleudern und gleichzeitig zerreißen. Auf Halgrimms Stirn und Hals traten die Adern hervor, und sein Schweiß floss in Strömen. Einer der Langarmigen bemerkte den jungen Magier, wandte sich ihm zu und entfernte sich damit von Wotan. Darauf hatte Halgrimm gehofft. Der fremde Krieger staunte nicht schlecht, als Halgrimm aus einem Schlauch Wasser in seine Hand schüttete und ihm dann entgegen-schleuderte. In einem Reflex streckte er seinen kleinen

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Schild vor, doch viele Wassertropfen gingen daran vorbei. Noch im Flug fing das Wasser an, weiß zu glitzern. Eine gewaltige Kälte ging von dem sich zu Eis verwandelnden Wasser aus, viel kälter, als gefrorenes Wasser überhaupt sein konnte, und hinterließ auf seinem Flug einen nebligen Streifen in der Luft. Die Eisdolche Halgrimms trafen das Gesicht und die Schultern sowie einen Teil des Waffenarmes. Raureif überzog augenblicklich die frei-liegenden Körperstellen und ließen das Fleisch blitz-schnell erstarren. Nur ein Teil der Kinnpartie, der Hals und der Schildarm vereisten nicht – dort hatte das Schild die Eispartikel abgehalten. Langsam kippte der Erfrorene zur Seite und krachte auf den Steinboden. Die gefrorenen Partien zersplitterten bei dem Aufschlag. Erleichtert über seine geglückte Aktion, sah Halgrimm nach Wotan. Es sah so aus, als könnte sich der Erden-bewahrer gut gegen einen der Langarme allein mit seinem Schild verteidigen. Als er sich davon überzeugt hatte, dass der Zwerg erst mal nicht in größerer Gefahr schwebte, ging er seinen anderen, spontan gefassten Plan an. Eine Vermutung hatte sich bestätigt, und Halgrimm nahm seine Gelegenheit war. Mit äußerster Konzentration wob er seinen nächsten Bann, dessen Gewebe er besonders sorgsam knüpfte und immer wieder kontrollierte. Erst als er zufrieden war, ließ er seinen Zauber wirken. Erfreut stellte Halgrimm fest, dass der Bann die erwünschte Wirkung hatte. Zufrieden mit sich selbst wandte er sich nun dem letzten Gegner Wotans zu. Er schlich sich hinter den Feind, und das glückte ihm, ohne bemerkt zu werden. Mit Schwung schlug er mit seinem Stab nach dessen Kopf. Der Krieger sprang aber gerade zur Seite, und Halgrimm verfehlte das Haupt. Das Ende seines Steckens krachte stattdessen auf die Schulter. Die

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Lederrüstung fing die meiste Wucht ab, es reichte jedoch aus, um den Krieger überrascht herumschnellen zu lassen. Wotan ließ diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen und schlug zu. Dann nahm ein gleißendes Licht Halgrimm die Sicht, und Donnergrollen fuhr durch die Halle. Ein weiteres Aufbrüllen verkündete Shanntak, dass der Höhlenbär erneut getroffen wurde. Kev hatte sich wild auf einen der Feinde gestürzt, ihn umgerissen und ihm in den Hals gebissen. Während der Höhlenbär sein Opfer hin und her schüttelte, rächten sich die zwei anderen Wesen. Der Rücken des Bären wurde von den Stacheln eines Streitkolbens aufgerissen, und sein Hinterbein be-kam einen schweren Treffer ab. Kev zog sich humpelnd zurück und hinterließ einen blutigen Kadaver mit zerfetzter Kehle. Die Langarme drangen von zwei Seiten auf den Höhlenbären vor. Ein Hagel aus Eisenstiften schlug plötzlich auf eines der Wesen ein. Zwei von ihnen bohrten sich in die ungeschützte Waffenhand. Shanntak lief nach dem Wurf zu seinem Schwert und zog es aus dem Körper des toten Feindes. Die verbliebenen zwei langarmigen Wesen wollten sich zusammen gegen Shann-tak stellen. Kev griff aber trotz seiner Verletzungen wieder an und ging knurrend auf den unverletzten Krieger los. Der verwundete Krieger ging gegen Shanntak in Abwehrhaltung, konnte aber mit seiner durchbohrten Hand kaum noch den Streitkolben halten. Im vollen Lauf prellte Shanntak ihm gleich mit seinem ersten Hieb die Waffe aus den Fingern. Dann krachte seine gepanzerte Schulter in seinen Widersacher. Die Gewalt riss den Fremden von den Füßen. Automatisch streckte er beide Arme nach hinten, um sich abzufangen. Noch während

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das Wesen fiel, kam der Rückhandschlag Shanntaks und spaltete dem Wesen seitlich den Kopf. Als Shanntak zu Kev aufschaute, sah er noch, wie der Höhlenbär einen gewaltigen Schlag gegen seinen Feind landete. Der fremde Krieger flog im hohen Bogen durch die Luft und landete im Symbolkreis, genau neben der silbernen Dämonenstatuette, die vor dem Stehpult stand. Der Fremde bekam große Augen, als er – halb benommen – die Figur erblickte. Als gäbe es nichts Wichtigeres, griff er nach ihr wie eine zustoßende Schlange nach einer Maus. Ein grelle Entladung tauchte die Halle in alles verschlu-ckendes Blauweiß. Shanntak war auf der Stelle geblendet. Gleich darauf grollte ein Donnerschlag durch die riesige Kammer. Jahrelang trainierte Reflexe gewannen die Oberhand, und Shanntak schmiss sich zu Boden. Die Blendung dauerte nicht lange an, und wenige Augenblicke später konnte Shanntak wieder etwas sehen. Vor dem Stehpult lag ein verkohltes, rauchendes Etwas, das kaum noch als humanoid zu erkennen war: ein Haufen Asche, der noch die grobe Form des Wesens nachbildete. Unbeeindruckt von dem Ereignis sah Shanntak um-gehend nach seinen Gefährten. Der Höhlenbär saß auf seinem Hintern und blinzelte noch blind umher. Faban und Oenothera kamen auf ihn zugelaufen, und Wotan blickte auf einen Gegner zu seinen Füßen, der sich nicht mehr regte. Halgrimm stand neben dem Erdenbewahrer und sah zu der verkohlten Leiche. Es waren alle wohlauf, nur Kev war ernsthaft verletzt worden. Shanntak ent-spannte sich, erhob sich, und ein wildes Grinsen stellte sich auf seinem Gesicht ein. Es war ein guter Kampf gewesen, und die Flüstersteiner hatten sich bei diesem ersten Gefecht gegen mehrere Gegner besser geschlagen, als er erwartet hatte.

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Faban wollte etwas Abstand zwischen der Gruppe und der silbernen Statuette haben, bevor sie Kevs Wunden versorgten. So schleppten Halgrimm und Oenothera den zurückverwandelten Kev zum Kartentisch. Oenothera flüsterte dem kaum bei Bewusstsein dahintorkelnden Kev ständig Ermunterungen zu. Faban war vorausgelaufen und leerte den quadratischen Tisch von den Kartenrollen, indem er kurzerhand einfach alles zu Boden fegte. Behutsam legten Oenothera und Halgrimm ihren ver-letzten Freund auf die Platte. Die Umformung des Wandlers hatte eine leichte Besserung für Kev erbracht, dennoch sahen seine Verletzungen schlimm aus. Das Lederhemd war am Rücken nur noch ein zerrissener Fetzen und blutdurchtränkt. Sein linkes Bein wies seitlich am Oberschenkel vier von den eisernen Dornen ver-ursachte Löcher auf, aus denen unablässig Blut quoll. Was bei der Körpermasse des Bären nicht so schlimm ausgesehen hatte, gab bei der Statur eines Menschen ein verheerendes Bild ab. Wotan holte einige Salbentöpfe und Tinkturen aus seinem Rucksack und trat damit zum Tisch, der gerade tief genug war, dass der Zwerg bequem an Kev herankam. Seine Miene verhieß nichts Gutes, als er Kevs Wunden genauer besah. Mit geschickten Fingern schnitt er mit seinem Dolch das Lederhemd entzwei und legte einen mit Löchern übersäten Rücken frei. „Tunnelbruch und Deckensturz, das sind schlimme Ver-wundungen. Ich werde all meine Kraft brauchen, um sie mit dem Segen Toorns zu heilen. Es wird aber nicht nur von mir, sondern auch von Kev viel Kraft erfordern. Sein Leib wird einige Tage Ruhe brauchen.“

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„Hauptsache, du kannst ihm helfen“, kam es mit belegter Stimme von Oenothera. „Wenn wir deswegen nicht so schnell nach Hause kommen, dann ist es halt so.“ Faban legte tröstend einen Arm um die Schulter der Elfe. „Mach dir keine Sorgen. Dank unseres Erdenbewahrers wird Kev wieder ganz genesen, und wir werden nicht eher aufbrechen, bis er wieder wohlauf ist.“ Mit einem Blick zurück auf die verkohlte Leiche bei der Dämonen-statuette fuhr er fort: „Zudem hätten wir so oder so noch einige Zeit hier verbringen müssen – nach dem, was wir soeben erlebt haben. Zum Glück verfügen wir durch den Baderaum über genügend Wasser. Das Essen müssen wir allerdings rationieren.“ Wotan stimmte ein langes Gebet an. Während seines Intonierens breitete sich eine Aura des Wohlgefühls bei den Umstehenden aus und ließ sie erleichtert aufatmen. Mit braun leuchtenden Händen berührte der Erdenbe-wahrer Kevs Wunden, die sich eine nach der anderen schlossen und verheilten. Die Heilung war allerdings nicht vollständig. Die stark verletzten Partien verschorf-ten und wuchsen zusammen, als wären bereits Wochen der Genesung vergangen, nur die leichten Blessuren verschwanden vollständig. Je mehr Fleisch verheilte, desto mehr kam Wotan ins Schwitzen. Seine Hände begannen am Schluss zu zittern, und er sah aus, als hätte er tagelang kein Auge zugetan. Im Gegensatz dazu lag Kev im tiefen Schlummer. „Mehr kann ich nicht tun, es sind zu viele schwere Verletzungen, um sie alle vollständig zu regenerieren. Ab jetzt kommt die gute alte Heilkunst zum Tragen.“ Der Zwerg griff zu seinen Tontöpfen und Flaschen und trug auf die Verschorfungen Salbe und eine ölige, klare Flüssigkeit auf. Als er nach langer Arbeit zufrieden war,

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wies er Oenothera an, den Kranken zuzudecken. An-schließend entfernte sich die Gemeinschaft und begab sich zu den Bücherregalen, um den ruhenden Kev nicht zu stören. Zwischen den beladenen Reihen bildeten sie einen Kreis. Von seinem Heilgebet ausgelaugt, lehnte sich Wotan an einen der Stützpfeiler und fragte den alten Ordensmeister neben sich: „Ihr seid eben die ganze Zeit auf und ab gelaufen und habt über etwas gebrütet. Habt Ihr eine Erkenntnis über das Zusammentreffen mit diesen frem-den Wesen erlangt? Ich kann mir immer noch keinen Reim auf das machen, was der Anführer dieser Kreaturen vor dem Kampf von sich gegeben hat.“ „Ja und nein. Die Anspielungen des Anführers haben mich an etwas erinnert, das ich nicht sofort erfassen konnte. Und jetzt weiß ich endlich, was es war.“ Mit diesen Worten fasste er mit scharfem Lehrerblick Shann-tak ins Auge. „Es waren deine ersten Sätze, die du vorgelesen hast, Shanntak.“ Shanntak hob eine Augenbraue, schien sich dann aber zu besinnen. „Ja, ich verstehe … Ich erinnere mich, dass es bei den Sätzen, die ich vorlas, um verborgene Bünde ging, die nach Statuetten jagen. Und das es ein Geheimnis um diese Statuetten gibt.“ „Und dass diese Organisationen sich wegen dieser Statuetten gegenseitig bekämpfen“, brach es aus Hal-grimm heraus. „Der Anführer hat nach einer Dämonen-statuette gefragt. Es ging ihnen nur um die Figur, nicht um irgendetwas anderes von Abusans Besitztümern.“ Faban verschränkte seine Arme hinter seinem Rücken und sah seinen Gefährten ernst in die Augen. „Genau das denke ich auch. Ihnen war nur die Statuette wichtig,

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nichts anderes! Und das finde ich sehr merkwürdig, um nicht zu sagen: bedenklich.“ Oenotheras Kopf ruckte zum Kartentisch und den umstehenden Regalen herum. „Die zwölf anderen Dämo-nenfiguren aus Stein, die wir in den Regalen neben dem Tisch gefunden haben! Sind das vielleicht Nachbildungen von den gesuchten Gegenständen, und Abusan besitzt eine der echten Figuren? Die Silberne bei dem Sym-bolkreis?“ Wotans Gesicht verdüsterte sich und sah in seiner Erschöpfung besonders grimmig aus. „Was ist hier eigentlich los? Wir sind hier, um zu verhindern, dass die Drakaner sich Wissen und Artefakte von einem der bedeutendsten Zauberer der Geschichte aneignen. Und plötzlich kommen irgendwelche eigenartigen Kreaturen und wollen nichts von alledem – bis auf eine silberne Figur?“ „Genau das ist es, was ich auch nicht verstehe und was mir Sorgen macht“, meinte Faban zu dem Erdenbe-wahrer. „Wir kommen nicht umhin, in den schriftlichen Unterlagen Abusans nach Hinweisen wegen dieser Sache zu suchen. Ich habe das Gefühl, es könnte immens wichtig sein zu verstehen, um was es sich bei diesen Dämonenstatuetten handelt. Wir müssen diese Zeit für eine Untersuchung investieren.“ „Ich frage mich bei unserem letzten Erlebnis noch etwas anderes“, gab Oenothera kund und blickte dabei beunruhigt zu dem anderen Ende der Halle. „Ist euch aufgefallen, dass wir alle Räumlichkeiten untersucht und bisher keinen Ausgang gefunden haben? Wie uns Faban schon erklärt hat: So wie wir reingekommen sind, kommt man nicht wieder heraus! Selbst wenn wir wollten, wir können das Versteck gar nicht verlassen. Ich würde

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sagen, das ist das letzte Hindernis, das sich Abusan für unwillkommenen Besuch ausgedacht hat. Diese lang-armigen Wilden sind allerdings aus dem Symbolkreis gekommen …“ Bedeutungsvoll verstummte ihre klang-volle Stimme. „Ist der Kreis so etwas wie ein Portalstein?“, fragte Shanntak und sah dabei Faban und dann, zum dessen großem Erstaunen, Halgrimm an. Das ermutigte Halgrimm, etwas dazu zu sagen: „Kurz bevor die Fremden aus dem Kreis hervorkamen, fanden sich gewaltige Energiemengen zusammen und entluden sich. Als ich in den schwarzen Riss sah, der sich kurz vor der Ankunft der Fremden gebildet hatte, bekam ich ein Gefühl von unvorstellbaren Weiten. Es muss etwas viel Gewaltigeres als ein Portalstein sein. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, wir haben eines der legendären Weltentore gefunden, die der Sage nach die zwölf Welten der Schöpfung miteinander verbinden.“ „Sehr gut, sehr gut“, hörte Halgrimm seinen Mentor seine Darlegung kommentieren. „Ich habe die Energien ebenfalls gespürt und bin zum gleichen Schluss gekommen.“ „Über solche geschichtlichen Dinge weiß ich leider so gut wie nichts.“ Ohne es selbst zu bemerken, hatte der drakanische Krieger angefangen, die Umgebung nach Ge-fahren abzusuchen, während er seine Frage stellte. „Was für zwölf Welten? Der Eiserne Thron hielt solcherart Wissen für die Namenlosen nicht für nötig.“ Ein Kichern kam von Oenothera: „Oh weh, mach es dir schon mal bequem!“ Ihren eigenen Worten folgend, setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich gegen eines der Regale. Halgrimm warf einen heimlichen resignie-

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renden Blick zu seinem Lehrer und setzte sich ebenfalls hin. Faban holte tief Luft, wie er es meistens vor einem längern Vortrag machte, aber Wotan kam ihm zuvor. „Es kann gut sein, dass die Drakaner bei diesem Thema etwas ganz anderes erzählen, denn es ist eng verknüpft mit dem Glauben, wie alles Leben entstand.“ Ein ärgerlicher Blick von Faban prallte am Zwerg ab wie ein Orkan an einer Felsklippe. Unbeeindruckt fuhr Wotan fort: „Ich will von zwei unterschiedlichen Ansätzen ausgehen und sie erklären. In den Vierfürstentümern gibt es Überlieferun-gen, die besagen, dass die vier Völker von einer anderen Welt fliehen mussten und in diese Welt übergesiedelt sind. Von diesen ersten Siedlern stammen wir und die Drakaner ab. Demnach muss es mindestens eine andere Welt geben, wenn die unterschiedlichsten Quellen über den Exodus nicht lügen.“ Diesem Gedankengang ließ Wotan eine kurze Pause folgen und setzte dann zu einer neuen Erklärung an: „Dem Glauben nach, der in den Fürstentümern herrscht, gibt es einen Schöpfer, einen Erschaffer aller Dinge, der in unserem Kosmos nicht nur zwei, sondern zwölf Welten, die Leben tragen, erschuf. Aus Liebe und Fürsorge heraus rief er vor der Ent-stehung unseres Kosmos weise, machtvolle Wesen ins Leben, die seine Schöpfung schauen und anschließend als höchste Wesen diese Welten bewahren und hegen sollten. Dies sind die Behüter, von denen wir Priester unsere Macht empfangen. Die Sage berichtet, einige Behüter wurden mit der Zeit hochmütig, und dies steigerte sich, je mehr sie die Geschicke der Welten lenkten. Sie wollten selbst Leben erschaffen und die vorhandenen Welten nach eigenem Gutdünken verändern. Die Behüter waren zwar äonenalt und besaßen tiefe Weisheit und Einsicht,

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die allmächtige Voraussicht und die Liebe des Schöpfers besaßen sie dennoch nicht. Chaos und Leid entstanden auf den Welten, und die Behüter, die ihrer ursprünglichen Bestimmung treu geblieben waren, fingen an, gegen ihre Brüder einzuschreiten. Ein Krieg entbrannte zwischen den beiden Parteien, und die abtrünnigen, hochmütigen Behüter erhielten in diesem Krieg einen neuen Namen – man nannte sie Dämonen. Es wird nicht erwähnt, wie lange diese Auseinandersetzung währte, nur dass es den Behütern zuletzt gelang, die Dämonen aus diesem Kosmos zu verbannen. Der Ort, an den die Dämonen verbannt wurden, wird nicht weiter beschrieben, er wird nur als Abgrund oder die Leere bezeichnet. Von sich aus kann, der Sage nach, kein Dämon mehr auf eine Welt einwirken. Allerdings kann jemand, der diese Dämonen anruft und sich als ihr Diener verdingt, Kräfte von ihnen erlangen. Über diese dunklen Priester nehmen die Dämonen, trotz ihrer Verbannung, indirekten Einfluss auf die Welten – einen üblen Einfluss! Ihr Hass und ihre Wut auf alle Schöpfung in unserem Kosmos, aus dem sie ausgesperrt und in dem ihr Wille zunichtegemacht wurde, ist gewaltig.“ Ein ungewöhnlich fest und sicher klingender Halgrimm entgegnete nach dieser Ausführung: „Es ist eindeutig das es die Behüter gibt, alleine schon durch die Macht der Kleriker, aber ich glaube nicht an einen Allmächtigen. Die Verhältnisse in den Welten passen nicht mit einem fürsorglichen Erschaffer zusammen. Was ist das für ein liebender Schöpfer, der machtvolle Behüter über die Welten setzt, aber sie an ihren üblen Taten weder hindert noch sie zur Rechenschaft zieht? Jemand der allmächtig ist hätte so etwas vorhersehen müssen. Statt einzugreifen, überlässt der Ewige es den treuen Behütern die Abtrün-

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nigen zu bekämpfen. Und was kam dabei heraus? Die Dämonen können, obwohl verbannt, immer noch Übles anrichten. Nein, ich sehe keinerlei Einfluss, keinerlei Anteilnahme eines Erschaffers. Die einzige Erklärung dafür ist für mich, dass es ihn nicht gibt.“ Erstaunt sah Wotan nach diesem Ausbruch zu Halgrimm. Faban kratzte sich etwas verlegen am Schnurrbart und hatte dieses eine Mal keine Belehrung oder Antwort für seinen Schüler parat. Oenothera nickte verhalten, als könne sie die Gedanken von Halgrimm verstehen. Wotan ließ sich auf seinen Hintern plumpsen, was ein lautes Klirren nach sich zog, und schaute Halgrimm eine Weile an. Schließlich sagte er: „Es ist eine Glaubenssache, ja. Allerdings weniger unlogisch, als du es gerade so einfach darstellst.“ Wotan nahm seinen Helm vom Kopf und stellte ihn ab „Wie kann man verhindern, das ein Wesen zu etwas Bösem fähig ist? Nur in dem du ihm seinen freien Willen nimmst. Damit wären wir allesamt seelen-lose, tote Puppen, die ein vorherbestimmtes Schema durchlaufen. Echte Liebe, die aus freien Stücken und eigenem Antrieb gegeben wird, gäbe es ebenso wenig. Was wäre das für eine schreckliche, tote Welt? Sobald es aber die Möglichkeit gibt, sich für etwas zu entscheiden, gibt es immer auch den Weg, zum Unglück für andere zu handeln. Und ich schließe mich da nicht aus, schon etwas getan zu haben, bei dem es jemand anderem schlecht erging, weil ich ohne Rücksicht meinen Vorteil durch-gesetzt habe!“ „Wieso greift der angeblich Allmächtige dann nicht vergeltend ein, wenn eine böse Tat begangen wird?“, fragte Halgrimm streng.

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„Was du meinst, wäre ein andauerndes Strafgericht. Ich glaube, es würde ständig Blitze und Feuer regnen, wenn der Schöpfer alles ahnden wollte, was an Ungerechtem und Bösem passiert. Und zwar bei allen Völkern! Dabei sind wir immer schnell dabei, die Verantwortung auf den Schöpfer zu schieben. Die Wahrheit ist aber: Wir tun uns gegenseitig Schlimmes an, und wir sind es, die stattdessen Gutes tun könnten. Das beste Beispiel sind die Dämonen. Wenn niemand sie beschwören und ihnen als Kleriker dienen würde, hätten sie keinen Einfluss mehr über die Welten. Doch siegt immer wieder die Macht-gier.“ Wotan ergriff seinen Rubinanhänger, der ihn als Erdenbewahrer kennzeichnete und betrachtete ihn kurz während er weiterredete: „Und wer sagt, der Schöpfer wäre untätig? Ich will nicht behaupten, dass ich alles verstehe, was er so macht, ganz im Gegenteil. Doch von einem bin ich überzeugt: Es geht ihm darum, jedes Wesen dazu zu führen, aus freien Stücken das Gute zu leben. Mal davon abgesehen, haben wir alle etwas Un-sterbliches in uns – unsere Seele. Vielleicht ist es entscheidend, wie wir unser Leben im Diesseits führen. Ich finde es sinnig, dass die Art und Weise, wie wir unser Leben hier ausrichten, dann auch Auswirkungen auf unser Verhalten im Jenseits hat – vielleicht wie ein Grundstein, den man am Anfang legt und der für das ganze spätere Gebäude wichtig wird. Einer, der viel im Leben gehasst hat, wird dies im Jenseits weiterhin tun und es noch vertiefen. Der Schöpfer duldet nichts Böses in seiner Nähe. Wenn er jedoch die absolute Liebe, das Gute und das Licht darstellt, wie schrecklich sieht es für die Seele aus, die davon verstoßen wird?“

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„Ach ja.“, stieß Halgrimm leicht enttäuscht aus. „Die Drohung, dass nach dem fleischlichen Leben die Strafe kommt. Hat dies nicht etwas von einer schlechten Erziehung von Kindern, die man durch solche Ängstigungen einschüch-tern will? „Nun, lass mich das mit einem Beispiel anders be-leuchten: Sich über die elterlichen Ermahnungen zu beschweren, nicht in das Feuer zu greifen, da man sich sonst verbrennt, wird einen nicht davor schützen, sich zu verbrennen, wenn man dann doch in die Flammen fasst. Es geht nicht um die Strafe, sondern um die Folgen, die ein Leben in Egoismus, Neid, Eifersucht, Habsucht und Machtgier hat. Was macht solch ein Leben aus uns? Ich versuche mein Leben nicht aus Angst auf eine gerechte Weise zu führen, sondern weil ich verstanden habe, dass es für mich und meine Nächsten das Beste ist.“ Halgrimm sann über das nach, was der Erdenbewahrer gesagt hatte, und meinte dann: „Mythen haben ein Stück Wahrheit und viele Irrungen in sich. Ich habe weder den Schöpfer gesehen oder sein Eingreifen erfahren noch irgendein Wirken von ihm gespürt. Dass sich ein Schöpfer um uns kümmert ist für mich nicht ersichtlich. Ich kann an seine Existenz nicht glauben.“ Wotan nickte und antwortete ohne Gram: „Es ist, wie so viele Dinge, nicht beweisbar. Diejenigen, die glauben, haben den Ewigen auf irgendeine Art erfahren. Solange jemand ehrlich nach der Wahrheit und dem Sinn des Lebens sucht, wird sich der Schöpfer ihm auch offenbaren, so heißt es in den Schriften.“ Faban und ebenso Oenothera waren durch die Debatte tief in Gedanken versunken. Der Zwerg wandte sich zu dem Drakaner, der dem Gespräch die ganze Zeit höchst

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konzentriert gelauscht hatte. „Du hast jetzt etwas mehr über unseren Glauben erfahren, als beabsichtigt war. Also, viele in den Fürstentümern glauben, dass es insgesamt zwölf Welten gibt und dass sie als Erstes von den Behütern miteinander verbunden wurden. Diese Verbindung waren die Weltentore, die einst den Völkern das Reisen zwischen den Welten ermöglichte. Im Laufe des Behüterkrieges ging das Wissen um die Standorte dieser Tore verloren. Man kann auch mit der Macht für kurze Zeit einen Weg zwischen zwei Welten erschaffen, sagen die Überlieferungen, und so gelangten die ersten Siedler dann hierher, nach Tepor.“ „Habt Dank, Erdenbewahrer, für diese Belehrungen“, sagte Shanntak voller Ernst. „Bei den Drakanern gibt es ebenfalls Priester. Gehe ich recht in der Annahme, dass man in den Fürstentümern glaubt, dass diese den Dä-monen dienen?“ „Ja, so ist es“, bestätigte Wotan. „Die Kräfte und Zauber der drakanischen Priester sind deutlich anderer, zerstörerischerer Natur als die der Priester in den Vierfürstentümern. Für die meisten wäre das Beweis genug. Dazu kann ich nicht glauben, dass ein Behüter ein Reich wie das der Drakaner unterstützen würde.“ Shanntak sah nachdenklich zu Boden. „Im Imperium wird dies natürlich nicht so gesehen, was wohl für nie-manden hier überraschend ist. Dort wird gelehrt, dass es mächtige Lebensformen, Archons genannt, in anderen Dimensionen gibt und dass manche mit ausgesuchten Persönlichkeiten ein Bündnis eingehen. Einige Archons sind der Lebensweise der Drakaner zugetan. Andere, verfeindete Archons sind der Art der Vierfürstentümer freundlich gesonnen.“ Ein tiefes Grollen entrang sich der Brust des Kriegers. „So vieles ist verschleiert hinter

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verschiedenen Erzählungen und Ansichten. Es ist nicht einfach, sich in diesem Chaos von Meinungen und Manipulationen zurechtzufinden, vor allem für einen einfachen Soldaten wie mich.“ Wotan bekundete sein Verständnis und breitete seine Arme zu einer vielsagenden Geste aus: „Ich habe mich deswegen oft an den einfachen Grundsatz meines Vaters gehalten. Er sagte: ‚Schau dir immer an, was bei einer Sache herauskommt. Etwas Schlechtes bringt Schlechtes hervor, egal, wie es nach außen hin glänzt.‘ “ Oenothera tippte, ungeduldig werdend, mit ihren Füßen auf dem Boden herum. „Also könnte der Kreis da hinten ein Weltentor sein. Kann uns das hier herausbringen? Ich weiß nämlich nicht, wie man so ein Weltentor benutzt.“ Faban ruckte aus seinen Gedanken hoch und sagte: „Die Schutzkuppel, die um den Symbolkreis lag, ist in dem Moment verschwunden, als die langarmigen Kreaturen aus dem Kreis traten. Der Weg wäre also frei, das Tor zu verwenden. Die Schutzkuppel sollte bestimmt nicht nur Eindringlinge von dem Weltentor fernhalten, sondern auch jemanden daran hindern, durch das Weltentor in das Labor zu kommen. Die Fremden haben anscheinend den Schutz neutralisieren können. Doch wie es benutzt wird …“ Faban reckte sich, stemmte seine Hände in sein Kreuz und ließ seine Hüfte kreisen. „Es hilft nichts, wir müssen hoffen, das nötige Wissen in den Schriften Abusans zu finden. Lasst uns zuerst noch mal das Weltentor unter-suchen. Da stand ein Lesepult, auf dem wir vielleicht etwas Wichtiges finden. Danach werden wir uns das Tagebuch Abusans und anschließend die Bibliothek vor-nehmen.“

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Oenothera sprang auf und ließ ihren Blick über die vollen Regale um sich herum kreisen. „Sagtet Ihr, wir müssten ein paar Tage mehr investieren?“ Die fünf gingen zum anderen Ende der Halle und umrundeten das komplizierte Muster des Weltentores. Enttäuscht stellte Faban fest, dass sich auf dem Lesepult, welches so eindrucksvoll vor dem Symbolkreis stand, nichts als gähnende Leere befand. Die Gefährten waren sich einig, dass sie die silberne Statuette erst einmal nicht von ihrem Standort entfernen wollten. Da sie nichts weiter von Interesse fanden und auch aus der Ansicht der fein gearbeiteten Dämonenstatuette nichts ableiten konn-ten, kehrten sie bald wieder zu den Regalen mit den Schriftrollen und Büchern zurück. Shanntak hatte das Gefühl, dass ihm oder ihnen allen etwas bei der Un-tersuchung entgangen war, doch hätte er nicht sagen können, was genau das gewesen sein könnte. Beunruhigt sah er sich immer wieder zum Weltentor um, als er seinen Gefährten hinterdreinfolgte. „Schade, ich hatte sehr gehofft, etwas Entscheidendes zu finden.“ Faban raffte gerade die Ärmel seines feinen Leinenhemdes zurück, als er vor dem ersten der Regale der Bibliothek ankam. „Ich schlage vor, wir nehmen erst einmal eine Bestandsaufnahme vor und finden heraus, wie hier alles geordnet ist. Dann werden wir die für uns interessanten Schriftstücke unter uns zum Lesen auf-teilen. Wenn alle damit einverstanden sind, werde ich mir dabei als Erstes Abusans Tagebuch vornehmen.“ Bis auf Halgrimm machten alle entsetzte Gesichter bei der Fülle der bevorstehenden Lesearbeit.

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Shanntak zeigte sein erschreckendes, bissiges Lächeln. „Dann werde ich wohl nicht so etwas Leichtes zu lesen bekommen, wie Ihr es anfangs geplant hattet.“ „Sagen wir mal: Du bekommst eine Intensivlektion des Lesens, die so noch niemand erhalten hat.“ „Die Lektion wird erst noch warten müssen“, knurrte Shanntak und zeigte mit dem Daumen hinter sich. „Jedenfalls sollten wir die Toten hier nicht so einfach liegen lassen. Der einzige Platz, der mir einfällt, um sie unterzubringen, ohne dass wir bald den Verwesungs-geruch ertragen müssen, wäre der Golemraum. So wie Meister Faban es uns erklärt hat, wird der Golem erst reagieren, wenn etwas Lebendes die Eingangshalle betritt. Also werfen wir die Leichen hinein. Meister Faban, denkt Ihr, dass es so gehen wird?“ Fabans Gesicht wurde aschfahl, und mit einem sicht-lichen Gefühl des Unwohlseins nickte er dem Drakaner zu. Sie brauchten Stunden, bis sie sich einigermaßen in der Bibliothek zurechtfanden und einen groben Überblick über die verschiedenen Inhalte bekamen. Es gab schon eine vorhandene Ordnung, die aber nur mit einzelnen Abkürzungen gekennzeichnet war, deren Sinn sie erst einmal interpretieren mussten. Dabei wurde schnell klar, dass Abusan ein beträchtliches Wissen über Tepor und andere Welten angesammelt hatte. Ihr neues Lager schlugen die Flüstersteiner in der großen Halle mit dem Weltentor auf, direkt bei dem Kartentisch. Sie wollten das Tor im Auge haben, falls noch einmal jemand auf diesem magischen Wege eindringen sollte. Gegen Abend – sie wussten nicht genau, ob draußen wirklich die entspre-chende Zeit war, und nannten es einfach Abend – kamen

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die Gefährten bei ihren Bettlagern zusammen. Man besprach das weitere Vorgehen, und Faban teilte für den nächsten Tag ein, wer welche Schriften lesen sollte. Die Reihenfolge der Wachen wurde festgelegt, und dann legten sie sich nach diesem anstrengenden Tag zur Ruhe. Halgrimm hatte die erste Wache bekommen und stellte sich etwas abseits der Schlafenden an die eine Seitenwand der Halle, sodass er beide Öllampen im Blick hatte, die einmal das selbst erschaffene Eingangsloch in die Halle und das Weltentor beschienen. Er wollte lieber stehen, damit er nicht einschlief. Ohne sein magisches Licht und das seines Lehrers versank der größte Teil der weitläufigen Halle in dunklen Schatten. Die Decke lag so hoch, dass sie in der Dunkelheit verschwand. Kurz hatte Halgrimm das Gefühl, als er nach oben blickte, als stünde er im Freien in einer finsteren, sternenlosen Nacht. Er lauschte in die Stille hinein, die nach und nach durch lautes Atmen und Schnarchen unterbrochen wurde. Meister Faban lieferte sich nach kurzer Zeit mit dem Zwerg ein Schnarchduell, das seinesgleichen suchte. Geduldig wartete Halgrimm ab und ließ die Zeit vergehen. Erst nach fast zwei Stunden, als er ganz sicher war, dass sich alle im tiefen Schlaf befanden, machte er sich auf in Richtung Weltentor. Auf leisen Sohlen bewegte er sich langsam vorwärts und verzichtete auf weiteres Licht durch seinen Stab. Es dauerte seine Zeit, bis er zu dem Symbolkreis geschlichen war. Achtsam umrundete er ihn, bis er endlich am Stehpult angelangt war. Eine kurze Überprüfung auf arkane Fallen erbrachte kein Ergebnis. Mit pochendem Herzen griff er zu dem leeren Brett und nahm etwas in die Hand. Sofort erlosch die Illusion, und ein großes, dickes Buch kam in seiner Hand zum Vorschein. Sein Illusionszauber, den er

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während des Gefechts mit den langarmigen Wesen gewirkt hatte, war erfolgreich gewesen. Seine Gefährten, einschließlich Meister Faban, hatten sich von dem Zauber täuschen lassen. Halgrimm war sich nicht sicher, ob dieses Buch wirklich etwas Wichtiges enthielt. Es war nur eine spontane Vermutung gewesen. Bisher hatten sie keine Aufzeichnungen über Abusans Zauberformeln gefunden, und Halgrimm konnte sich nicht vorstellen, solche Schriften einfach in der Bibliothek eingeordnet zu finden. Als er dieses imposante Stehpult vor dem so besonders aussehenden Symbolkreis gesehen hatte, kam ihm auch das Buch bedeutsam vor. Vielleicht hatte er sich geirrt, doch das Buch sah schon jetzt recht vielverspre-chend aus. Der reich verzierte, rot gefärbte Ledereinband wirkte prächtig und wertvoll und war ungeheuer dick. Goldene Lettern in der alten Sprache waren auf den Buchrücken geprägt, und in das Leder waren ge-schwungene Zierlinien punziert. Sein Lehrer hätte ihn nie in einem von Abusans Formelbüchern lesen lassen. Halgrimm war zwar klar, dass Meister Faban das zum größten Teil aus Besorgnis verboten hätte, aber er wollte eine Chance haben, von einem der bedeutsamsten Magier zu lernen, ohne dass Jahrzehnte vergingen, bis er dies durfte. Die lästige Stimme in ihm meinte unvermittelt: ‚Klar, du willst nur ein wenig lernen. Dass Wotan im Kampf etwas länger auf deine Hilfe warten musste, war schon gerechtfertigt. Hat nichts damit zu tun, dass du besser als alle deine Ordensbrüder werden willst, nicht wahr? ‘ Natürlich hatte es nichts damit zu tun, und Wotan konnte auf sich selbst aufpassen! Wer wusste denn schon, wie sehr sie die Magie Abusans noch brauchen würden? Sein schlechtes Gewissen verdrängend, ging er zu seinen schlafenden Gefährten zurück. Er musste bald Shanntak

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für die nächste Wache wecken, etwas Zeit blieb ihm jedoch noch. Warum sollte er diese Zeit nicht schon einmal für einen kurzen Überblick nutzen? Abrupt hielt er in einiger Entfernung vom Schlaflager an, holte das Buch hervor und setzte sich, mit dem Rücken zu seinen Gefährten, hin. Im sanften, schwachen Schein seines Stabes öffnete er voller Neugier und Wissensdurst die erste Seite des Buches. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Mit einem Satz ruckte Shanntak aus seinem Schlaf. Er kam mit einer Geschmeidigkeit auf die Beine, als hätte er nicht ge-schlafen, und ergriff dabei das neben seiner Schlafstatt liegende Schwert. Oenothera schreckte durch die heftige Bewegung ebenfalls hoch. „Was ist los, Shanntak?“ Der Krieger sah sich um, bemerkte aber keine unmittelbare Bedrohung. „Ich weiß es noch nicht. Wo ist Halgrimm?“ Wotan knurrte und rekelte sich, dann schlug er die Augen auf. „Ah, bin ich mit der Wache dran?“ „Die Wache!“, schimpfte Shanntak. „Ich hätte schon längst die Wache übernehmen müssen! Halgrimm hat mich nicht geweckt!“ Oenothera sprang auf und nahm nun selbst Schwert und Dolch zur Hand. „Jetzt, wo du es sagst: Ich fühle mich so, als hätte ich lange geschlafen. Ich glaube, nicht nur deine Wache ist schon vorübergegangen.“ Wotan war nun ebenfalls besorgt aufgestanden, hatte sich Schild und Waffe gegriffen und trat zu dem noch schla-fenden Ordensmeister. „Aufwachen, Meister Faban!“ Ohne viel Federlesens lies der Zwerg seiner Aufforde-

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rung einen sanften Tritt folgen, der seine Wirkung nicht verfehlte. Faban fuhr hoch und sah empört auf. Währenddessen hatte Shanntak mit seinen Dolch den behindernden Verband seines linken Armes aufgeschnit-ten. Mit einigen kreisenden Bewegungen prüfte er die Beweglichkeit seines verheilten Gliedes. Dann fiel ihm etwas ins Auge, und er spähte zwischen zwei Regal-brettern zum hinteren Teil der Halle in Richtung des Weltentores. „Da ist ein Kleiderhaufen – nein, eine sitzende Gestalt.“ Laut rief der Krieger: „Halgrimm!“ Es kam keine Antwort, und Shanntak sah auch keine Regung bei der niedergesunkenen Gestalt. Es sah so aus, als wäre jemand im Schneidersitz vornübergesunken, ohne dabei die sitzende Position zu verlieren. „Ist etwas passiert?“, fragte Kev. Es war das erste Mal, dass er nach seinem langen Erholungsschlaf wieder ganz bei Sinnen war. Verwirrt blinzelte er seine aufgeschreck-ten Gefährten an. „Warte, Shanntak!“, befahl Faban, der den Krieger damit am Loslaufen hinderte. Der alte Magier war erstaunlich wach und kam ohne Probleme auf die Beine. „Lass uns gemeinsam gehen – und vor allem langsam! Wotan, seid Ihr bereit für unseren Schutz?“ Knapp bestätigte der Zwerg. Gemeinsam umrundeten Elfe, Drakaner, Zwerg und Ordensmagier das behin-dernde Regal, welches ihnen teilweise die Sicht versperrte. Sie erkannten nun eindeutig: Der Kleiderhaufen waren Halgrimms Umhang und seine Hose. Faban hob eine Hand, und gemeinsam hielten sie an. Der alte Magier vollführte einige Gesten, und sein Blick, der die nieder-gesunkene Gestalt erfasst hatte, wurde abwesend. „Ich kann keine aktive Magie erkennen, aber bis vor Kurzem muss die Macht bei Halgrimm gewirkt haben.

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Sein ganzer Körper strahlt von irgendeinem erloschenen Bann. Die Ausstrahlung ist mir völlig fremd, ich kann keine Vermutung abgeben, um was es sich dabei ge-handelt haben mag.“ Wotan war ebenfalls nicht untätig gewesen. „Da ist noch etwas unter seinem Kopf, von dem eine Kraft ausgeht. Aber ich kann nicht erkennen, worauf sein Kopf da liegt. Verdammt, ich werde jetzt hingehen! Halgrimm braucht Hilfe, und so kommen wir nicht weiter!“ „Nein, nicht unser Heiler“, widersprach Faban. „Shann-tak, würdest du das übernehmen?“ Ohne Antwort rückte der Drakaner vor. Als er näher kam, sah er, dass Halgrimm tatsächlich im Schneidersitz einfach nach vorn gesunken war. Sein Gesicht lag auf einem edlen Buch, das er noch mit beiden Händen ergriffen hatte. Shanntak fiel verwundert auf, dass die letzte Seite des Buches aufgeschlagen war. „Er liegt auf einem Buch und regt sich nicht.“ „Stoß das Buch weg, aber berühr es nicht mit deinen Händen!“, riet Faban dem Krieger. „Und bring Halgrimm dann zu uns!“ Ohne Schwierigkeiten schleuderte Shanntak das Buch mit seinem Schwert zur Seite. Mit einer Hand ergriff er Halgrimm am Kragen und wuchtete ihn auf seine Schulter. Unbehelligt lieferte der Krieger seine Last bei seinen Gefährten ab. „Was ist nur geschehen?“, wollte Kev wissen, der sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. „Was schon?“, entfuhr es Faban ärgerlich. „Halgrimm hat mal wieder etwas Dummes getan!“ Wotan war niedergekniet und untersuchte Halgrimm auf Verletzungen. Etwas ratlos sah er zu Faban auf und berichtete: „Also, soviel ich bisher feststellen konnte, ist

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er unverletzt. Er hat auch keine Beule am Kopf, die seine Ohnmacht erklären würde, und sowieso atmet er ruhig und tief, so als würde er schlafen.“ „Es geht ihm also so weit gut, und er scheint zu schlafen?“, vergewisserte sich Oenothera. „Ja, ich glaube schon“, bestätigte Wotan mit leicht unsicherem Brummen. Oenothera beugte sich zu Halgrimm hinab und holte aus. Es klatschte laut, als ihre Handfläche auf Halgrimms Wange traf. „Autsch!“ Auf einen Schlag – im wahrsten Sinne des Wortes – war Halgrimm wach. Er setzte sich auf und hielt sich seine rote Wange. „Was soll das denn? Oh! Ist was passiert?“ „Die Therapie muss ich mir merken“, grinste Wotan die Elfe an, die ungerührt auf Halgrimm hinabstarrte. „Ja, es ist etwas passiert!“ Faban hatte keinen Lehrerton-fall angeschlagen, und das ließ bei Halgrimm die Alarm-glocken läuten, obwohl er noch nicht so ganz bei sich war. Erst langsam kam ihm die Erinnerung, was er getan hatte. Und mit dieser Erinnerung kam eine Flut von vielem mehr. „Was hast du angestellt? Woher kommt dieses Buch und was ist passiert?“ Faban war fuchsteufelswild. „Das Buch? Das Buch!“ Halgrimm stand erschrocken auf und hielt sich den Kopf. „Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte …“, murmelte er vor sich hin. Ein Blick auf Fabans Gesicht lies Halgrimm sich mit seinen Erklärungen beeilen. „Mir war langweilig auf meiner Wache. Ich habe mich etwas umgeschaut und kam bis zum Weltentor. Als ich vor dem Stehpult angelangt war, kam es mir merkwürdig vor, dass dort nichts liegen sollte. Also folgte ich einer inneren Eingebung und tastete die

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Oberfläche des Pultes ab, und da tauchte dieses rote Buch auf. Es war anscheinend unter einer Illusion ver-borgen.“ „Das erinnert mich an etwas“, mischte sich Shanntak in das Gespräch ein. „Gestern hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, etwas übersehen oder vergessen zu haben. Ich erinnere mich jetzt: Ich hatte etwas über den Rand des Pultes ragen sehen, bevor sich das Weltentor aktivierte. Ein schlimmer Fehler, so etwas zu vergessen …“ „Red keinen Unsinn!“, widersprach Wotan. „Wir hatten um unser Leben zu kämpfen! Das Buch war ja dann auch nicht mehr zu sehen. Wir haben alle auf das Pult gestarrt und haben uns narren lassen.“ Faban hatte seine Arme hinter den Rücken verschränkt und lief auf und ab wie ein im Käfig eingesperrter Luchs. „Dass sich ein Zauber beim Stehpult aktiviert hat, ist mir völlig entgangen. Allerdings ist das wohl erst passiert, als die Fremden durch das Tor traten, und da waren wir zur Genüge abgelenkt. Zumal die Aktivierung des Welten-tores sowieso alles überstrahlte. Wieder einmal raffiniert von Abusan eingefädelt …“ Mit einem Ruck kam Faban zum Stehen und fixierte seinen Schüler. „Ich muss dich für deinen Scharfsinn loben, Halgrimm, dieses Buch doch noch entdeckt zu haben. Aber wieso hast du hinein-gesehen? Es muss dir doch klar gewesen sein, dass Abusan es mit einer weiteren Falle abgesichert hat!“ „Natürlich habe ich daran gedacht“, wehrte sich Hal-grimm. „Ich habe es überprüft und nichts, wirklich gar nichts von einem Bann oder gespeicherter Kraft ge-funden. Und dann …“ Halgrimm zögerte einen Moment, bevor er weitersprach: „… dann überkam mich die Neugier. Es tut mir leid. Ich hatte keine arkanen Fallen gefunden und dachte, es wäre ungefährlich.“

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„Lerne daraus!“, schimpfte Faban. Dann, etwas ruhiger, wollte er wissen: „Was ist denn passiert, als du hinein-geschaut hast?“ Unbewusst griff sich Halgrimm an die Stirn, als hätte er Schmerzen. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Als ich die erste Seite zu lesen begann, schien mich das Buch anzuziehen. Oder besser beschrieben: Die Schrift befand sich in meinem Kopf. Ich las Seite um Seite und habe doch nicht gelesen, sondern irgendwie erfahren.“ Hal-grimm schüttelte beim Ringen um Erklärung den Kopf. „Ich weiß, das klingt sehr wirr. Ich kann es nicht besser schildern. Und jetzt schwirrt mir der Kopf von …“ Halgrimm stierte seinen Lehrer erschrocken und erstaunt an. „… von fremden Bannformeln und Handhabungen der Machtaufnahme.“ Noch während Halgrimm anfing, sich über die Bedeutung dessen, was er offenbart hatte, zu freuen, sagte die lästige Stimme in ihm, triefend vor Sarkasmus: ‚Herzlichen Glückwunsch zum erfolgreichen Täuschen deiner Freunde!‘ Halgrimm musste schnell erkennen, welchen Nachteil er sich mit dem Erwerb von Abusans Wissen eingehandelt hatte. Er stand seit Neuestem unter besonderer Beobachtung von Wotan und Meister Faban, und das empfand er als sehr unangenehm. Die beiden hatten ein längeres Gespräch geführt, kurz nach seinen Erklärungen, wie er zu dem Buch kam. Was glaubten sie eigentlich? Dass er sich in ein Monster verwandeln würde? Dazu kam jeden Morgen und jeden Abend eine Ermahnung Fabans, nicht ohne ihn irgendetwas von diesem neuen Wissen auszuprobieren. Selbst wenn Halgrimm gewollt hätte, vieles in seinem Verstand war ihm noch nicht

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einmal annähernd klar. Erinnerungen und Erkenntnisse kamen erst nach und nach, wenn er sich damit beschäftigte. Für eine ausgiebige Besprechung mit seinem Lehrer fand sich bisher keine Zeit, und damit ruhten Halgrimms neue Fertigkeiten erst einmal. Die nächsten Tage verbrachten die Flüstersteiner – bis auf Kev, der sich mit der ereignislosen Bewachung des Weltentores langweilte – ausschließlich mit Lesen. Es war eine mühevolle Aufgabe, die zusätzlich durch einen knurrenden Magen erschwert wurde. Sie hatten nur noch wenig zu essen, und die rationierten Portionen machten niemanden satt. Schon am zweiten Abend rief ein tief entsetzter Faban eine Sitzung bei ihrer Schlafstatt ein. Er hatte einen Großteil des Tagebuches Abusans gelesen, und die daraus gewonnenen Informationen hatten den alten Ordens-meister so bestürzt wie noch nichts in seinem Leben. Ungewöhnlich fahrig forderte der sonst so ruhige Magier seine Gefährten auf, sich zu setzen. Die Stirn ohne Unterlass gekraust, berichtete er seinen Gefährten, was er erfahren hatte. „Ich muss gestehen, meine Freunde, ich wünschte, Abusans Versteck wäre nie gefunden worden – obwohl dies ein kindlicher Wunsch ist, geboren aus dem Ver-langen, die sich verändernde Welt trotz neu gewonnenen Wissens weiterhin in der altvertrauten Weise zu sehen.“ „Meister Faban“, ermahnte Oenothera mit feinem Lächeln, „nutzt Ihr die Chance zu einer langen Rede? Ihr sprecht in Rätseln, statt uns aufzuklären.“ Ungehalten ob der Unterbrechung fuhr Faban fort: „Na gut! Kurz gesagt, weiß ich jetzt, was es mit der Dämo-nenstatuette, oder richtiger: mit den Dämonenstatuetten, auf sich hat.“ Meister Faban konnte es nicht unterlassen,

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eine dramatische Pause einzulegen. „Es handelt sich um mächtige Artefakte, wenn nicht sogar die mächtigsten, die je erschaffen wurden. Die Eingeweihten kennen sie auch unter dem Namen Dämonensilber. Es gibt zwölf von ihnen, und wenn jemand alle Statuetten besitzt, geben sie ihrem Besitzer gewaltige Möglichkeiten in der Magie. Jedenfalls ist das eine Version von Geschichten, die sich um diese Statuetten rankt. Abusan hat einige Sagen zu-sammengetragen und war sich nicht sicher, welche davon stimmen könnte. Vielleicht ist es auch ein Gemisch aus mehreren … Eine andere behauptet, der Ort, an dem alle Artefakte zusammengetragen werden, ist vor allen Krank-heiten gefeit, und den Bewohnern dieses gesegneten Platzes wird ewiges Leben verliehen. Wieder eine andere Erzählung verspricht, diese Statuetten gäben Macht über die Natur. Mit ihrer Hilfe könne man Naturgewalten gegen Feinde schicken und würde jedes Reich bezwingen. Die erschreckendste Überlieferung, welche Abusan fand, war die Erzählung, wie die Dämonen verbannt wurden. Nach dieser Geschichte mussten die treuen Bewahrer den Ort, an den sie die Abtrünnigen gedrängt hatten – wir kennen ihn als den Abgrund –, verschließen. Die Barriere, die sie errichteten, soll von zwölf Macht-fokussen aufrechterhalten werden, die wiederum mit den zwölf Welten eng verbunden sind. Die Dämonen-statuetten sollen diese Fokusse sein. Wer sie zusammen-bringt, hat die Möglichkeit, die Barriere wieder einzu-reißen.“ Eine kurze Stille kehrte ein, in der man nicht mal ein Atmen hörte. Dann polterten mehrere Stimmen erregt los und gaben ihrem Entsetzen Ausdruck. Allein Shanntak blieb ruhig und hielt sich zurück. Schließlich setzte sich eine glockenklare, helle Stimme durch, und alle hörten

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Oenotheras Frage: „Wer sollte denn so dumm sein, die Dämonen befreien zu wollen, falls diese Version stimmt?“ Faban schnaufte ärgerlich, bevor er antwortete: „Ja, wer sollte so närrisch sein? So einfach ist es aber nicht. Wie ihr bereits aus Shanntaks kurzem Vortrag aus Abusans Tagebuch wisst, ist er nicht der Einzige gewesen, der diesen Artefakten nachjagte. Genau genommen, war er die neueste Macht, die in dieses Ringen um die Dämo-nenstatuetten eingetreten ist. Es gibt Parteien, die bereits viertausend Jahre nach diesen Artefakten gesucht haben, und jeder dieser Orden hat dabei seine eigenen Vorstellungen und Ziele. Eine von diesen Parteien wird von einer Person geführt, die Geliebte des Abgrundes genannt wird. Nach Abusans Tagebuch will diese Gruppe die Dämonen befreien und verspricht sich davon, zur Belohnung in einer neuen Weltordnung als unsterbliche Herrscher eingesetzt zu werden.“ Mit traurigen Augen sah Faban die Elfe an. „Du siehst, es ist leider nicht nur Dummheit, die jemanden zu solchen Taten führt.“ „Diesen Namen erwähnte der Anführer der Lang-armigen“, stellte Shanntak fest. „Und er erwähnte weitere: die Verwahrer und die Albinos“ „Ja, diese Namen fand ich ebenfalls in Abusans Auf-zeichnungen. Die Verwahrer machen mir Hoffnung. Sie scheinen sich zum Ziel gesetzt zu haben, die Dämonen-figuren aus positiven Gründen zu sammeln und zu bewachen. Anscheinend hoffen sie auf die Version der Geschichten, in der die Artefakte einem Ort zum Segen gereichen. Falls eine schlimmere Fassung stimmen sollte, wollen sie die Artefakte vor bösem Zugriff verwahren.“

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Wotan stopfte seine Pfeife mit Tabak und sagte dabei: „Es ist gut zu hören, dass nicht alle eigennützige und üble Gründe für das Sammeln haben.“ Faban machte eine ausladende Geste. „Leider ist dies die einzige Vereinigung, die gute Absichten hat, von der ich bisher gelesen habe … Über die Albinos, die Shanntak noch erwähnte, habe ich wenig erfahren. Sie scheinen zu den ältesten Völkern zu zählen, und Abusan beschreibt sie als wissend und machtvoll. Durch irgendeinen Um-stand gibt es nur noch wenige von diesem Volk. Ihre Beweggründe für die Jagd nach den Figuren waren Abusan nicht bekannt.“ Faban unterbrach sich, um demonstrativ zu husten, als eine Rauchfahne aus Wotans Pfeife ihn erreichte. Wotan entschuldigte sich: „Verzeiht, ich vergaß, dass wir ja nicht an der frischen Luft sind. Das Rauchen hat eine entspannende Wirkung auf mich, deswegen habe ich mir ein Pfeifchen angezündet.“ Ohne nachzudenken, machte Halgrimm einige schnelle Gesten, die bei jeder Bewegung die Luft zum Schimmern brachten, und summte dabei einige Worte. Eine sanfte Brise erhob sich und wehte den Rauch hinfort. Halgrimm tauchte aus seinen Gedanken hervor, als er spürte, wie seine Gefährten ihn anstarrten. Verwundert sah er in die Gesichter, dann erst wurde ihm klar, was er soeben getan hatte. Nur Kev warf Halgrimm ein ermunterndes Grinsen zu und streckte verstohlen einen Daumen nach oben. „Oh … das kam eben ganz von selbst. Entschuldigt, Meister Faban, es war mir gar nicht bewusst, das ich einen neuen Zauber ausführte. Es war so natürlich und einfach.“

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Wotan musterte Halgrimm freundlich, als er sagte: „Ich möchte mich nicht beschweren. Durch deinen Wind muss ich meine Pfeife nicht ausmachen. Vielen Dank!“ „Nuun“, meldete sich Meister Faban zu Wort, „ich merke schon, ich muss mich bald mit dir und deinen neuen Kenntnissen beschäftigen, bevor etwas Gefährlicheres aus dir hervorbricht.“ Ein strenger Ausdruck erfasste das Gesicht Fabans. „So angenehm diese Brise auch ist, du solltest deinen Bann unterbrechen. Die Aufrechterhal-tung des Zaubers wird dir mit der Zeit deine ganzen Kräfte rauben, und es kann sein, dass wir sie plötzlich dringend benötigen.“ Kurz sann Halgrimm nach und antwortete dann in fast entschuldigendem Tonfall: „Das ist hier nicht der Fall. Für diesen Zauber benötigte ich nur wenig Kraft. Einen Teil der arkanen Macht habe ich beim verweben der Kraftstränge in den Boden gespeichert. Der Luftzug wird noch eine kurze Weile andauern, ohne dass ich mich weiter darum kümmern muss. Lange genug, dass Wotan seine Pfeife aufrauchen kann, denke ich.“ Wotan lehnte sich gewichtig nach vorn. „Du behauptest, du hättest einfach nebenbei arkane Energie gespeichert? Ein Vorgang, der sonst viele Stunden oder sogar Tage braucht?“ Wotan blickte zu Faban und sah, dass dieser ebenso wie er verblüfft war. Leicht verwirrt hob Halgrimm ratlos seine Hände. „Ich weiß auch nicht. Ja, anscheinend geht so etwas. Wenn es kleine Mengen der Schöpfungsmacht sind. Glaube ich.“ Faban zupfte sich am Schnurrbart, fast als wollte er prüfen, ob er nicht träumte. Scharf fasste er Halgrimm ins Auge. „Nun, wir müssen uns bald zusammensetzen, so viel ist klar. Bis dahin versuche, dich zurückzuhalten.“

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„Meister Faban!“, brachte Oenothera im energischen Tonfall vor, „Wir müssen uns gleich mit diesem Zau-berbuch von Abusan und dem was es mit Halgrimm gemacht hat auseinander setzten. Ist es nicht zu ge-fährlich es nur zu verwahren?“ Sanft schüttelte Faban seinen Kopf. Er seufze leise und blickte Oenothera offen ins Gesicht. Auf einmal wirkte er sehr alt und die Sorgen und die Last seiner Verantwor-tung gruben deutliche Linien in sein Gesicht. „Glaubst du, ich würde mir nicht ebenso um Halgrimm Sorgen machen? Und ja, dieses vermaledeite Buch ist wichtig und gefährlich. Ich habe schon längst überlegt was wir des-wegen unternehmen könnten. Das schlimme ist nur: Wir haben keine Zeit. Unser Proviant geht zu Ende und wir wissen nicht genau, ob noch ein Drakanersuchtrupp Abusans Laboratorium findet. Unsere wichtigste Aufgabe ist Abusans Wissen so schnell wie möglich in unsere Heimat zu bringen und alles andere hier zu zerstören. Und wir müssen alleine schon wegen der von Shanntak befürchteten Invasion so schnell wie möglich zurück. Wir haben einfach keine Zeit für dieses Problem. Wenn Halgrimm etwas schlimmes in nächster Zeit wiederfahren sollte werde ich mit ihm zurückbleiben, aber ihr anderen müsst nach Flüsterstein zurückkehren!“ Oenothera schaute zu Boden und sagte verhalten: „Ihr habt recht, Meister Faban.“ Dann blickte sie Halgrimm intensiv in die Augen. „Gehe verantwortlich mit uns um und halte dich mit deinen Fähigkeiten zurück.“ Eingeschüchtert nickte Halgrimm. „Von welchen anderen Vereinigungen habt Ihr noch erfahren, Meister Faban?“, brachte Shanntak das Gespräch wieder zu seinem Ursprung zurück. Halgrimm war immer wieder über den eisernen Offizierstonfall

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Shanntaks erschrocken, in diesem Fall allerdings dem Drakaner für die Ablenkung von seiner Person dankbar. War da etwa ein verstecktes Augenzwinkern Shanntaks in seine Richtung gewesen? Wollte dieser gewaltige, harte Krieger ihn tatsächlich vor einer längeren Strafpredigt bewahren? Zum ersten Mal betrachtete Halgrimm den Drakaner mit anderen Augen. Faban beantwortete Shanntaks Frage: „Richtig. Nuun, des Weiteren erwähnte Abusan noch die Mondjäger, die Vereinigung der Tiefen, die Gläubigen der Strömung und den Orden des Blutes. Jede dieser Gruppen kommt von einer anderen Welt, und sie setzen sich auch aus uns un-bekannten Völkern zusammen. Die Mondjäger sind wolfähnliche Humanoide, die sehr kriegerisch leben und von der Welt Silva kommen. Sie nennen sich die Korwar. Anscheinend ist das Volk der Korwar in widerstreitende Klans unterteilt, und die Mondjäger wollen mit der Macht der Statuetten alle Klans vereinigen. Wenn ihnen das jemals gelingen sollte, würden sie bald darauf alle anderen Reiche unter ihre Herrschaft bringen, so Abusans Über-zeugung. Die Vereinigung der Tiefen scheint eine geheime Gruppe in einem Reich zu sein, das unter der Erdoberfläche existiert. Das Volk dieses Reiches beschreibt Abusan als langarmige Wesen mit großen schwarzen Augen und bezeichnet sie als Grottenschrate.“ „Unsere Überraschungsgäste von vor zwei Tagen …“, stellte Kev fest. Faban nickte. „Sehr wahrscheinlich. Abusan war sich sicher, dass diese Vereinigung ebenso wie er nach der Macht der Magie sucht. Kommen wir zu den Gläubigen der Strömung. Das ist ein religiöser Orden, der aus einer Welt Namens Aquosus kommt – einer Welt, die

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hauptsächlich aus Ozeanen bestehen soll. Passend dazu beschreibt Abusan die Kreaturen, die diesen Orden gegründet haben, als Wasserwesen, die allerdings auch an Land überleben und sich fortbewegen können. Sie sollen eine Mischung aus Krake, Muschel und Hai sein. Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, wie diese Wesen aussehen könnten, und es gab auch keine Zeich-nungen im Tagebuch. Abusan schreibt, dass sie kräftige Tentakel besitzen, mit denen sie geschickt Gegenstände handhaben und an Land laufen können.“ Faban machte eine kurze Pause. „Über die Bruderschaft des Blutes wusste er so gut wie nichts. Er vermutete, dass sie aus Wechselbälgern besteht.“ „Was sagt ihr?“ Kev war auf einmal hellwach. Hoffnung lag in seinen Augen, als er fragte: „Hat er auch geschrieben, aus welcher Welt diese Gruppe kommt?“ „Es tut mir leid, Kev. Er hat nicht einmal Vermutungen geäußert.“ Enttäuscht atmete Kev tief ein und nickte. Oenotheras Hand ergriff die seine und drückte sie kurz, dann raunte die Elfe ihm zu: „Bestimmt finden wir noch Hinweise.“ Faban kam zum Schluss seines Berichtes. „Soweit zu den Abusan bekannten Mächten, die von den Statuetten wissen und sie in ihren Besitz bringen wollen. Ich schätze, Abusan selbst war mindestens um die vier-hundert Jahre seines Lebens selbst daran beteiligt. Einst entdeckte er dieses vergessene Weltentor im Moranion. Hier war ursprünglich ein natürliches Höhlensystem, welches er dann für sein Laboratorium umbaute. Abusan nutzte das Weltentor, so oft er konnte, und auf einer seiner Reisen auf fremde Welten traf er zufällig auf eine Gruppe Korwar aus dem Klan der Mondjäger. Diese Wolfshumanoiden erfuhren von seinen Reisen auf andere

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Welten. Zu ihrem Pech wollten sie Abusan ergreifen, um ihm sein gesamtes Wissen abzupressen, immer in der Hoffnung, etwas über die Statuetten oder andere Sucher zu erfahren. Abusan ließ sich zum Schein gefangen nehmen, wiegte sie in Sicherheit und erfuhr durch ihre Unvorsichtigkeit eine Menge Geheimnisse. Die Korwar dachten, bei jemandem, den sie bald umbringen würden, müssten sie nicht darauf aufpassen, was sie sagten – zumal sie in ihrer Volkssprache redeten. Sie rechneten nicht mit Abusans Macht …“ Kurz stockte Faban und schien dann mit Grauen weiterzusprechen: „Ich möchte euch die Details ersparen. Es war ein Leichtes für ihn, die Korwargruppe zu vernichten. Einige allerdings ließ er am Leben und benutzte seine magischen Künste, um die letzten Geheimnisse aus ihnen herauszupressen. Diese Wolfskreaturen haben nach Abusans Aussage einen starken Willen. Lange hielten sie seiner Befragung stand. Doch schlussendlich gelangte er mit schrecklichen Methoden zum Ziel. Er erfuhr so, dass der Klan der Mondjäger schon eine Dämonenstatuette besaß und wo sich dieser Klan auf der Heimatwelt der Korwar aufhielt. Er bereitete sich lange vor und verbündete sich mit einem Korwarstamm, der den Mondjäger feindlich gesinnt war. Dann schlug Abusan zu, holte sich die Statuette und vernichtete dabei den Klan der Mondjäger. Viele Jahre später fand er heraus, dass noch Mondjäger existierten und er nur einen Teil von deren Mitgliedern getötet hatte. So begann Abusans Teilnahme an den Dämonensilber-Kriegen.“ Mit diesen Worten fiel Faban in ein schweigendes Brüten. Keiner sagte etwas. Jeder versuchte, die Tragweite dessen zu erfassen, von dem er soeben erfahren hatte. Eine

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ganze Zeit hingen alle ihren Gedanken nach, dann brach Kev das Schweigen. „Ist diese Statuettenjagd für uns überhaupt von Bedeu-tung? Wir sind hier, um die Geheimnisse Abusans mit-zunehmen oder zu vernichten. Niemand braucht etwas von den Dämonenfiguren zu erfahren! Und die Figur schmelzen wir einfach ein!“ Faban fuhr ärgerlich auf: „Hast du vergessen, was passierte, als wir versucht haben, Abusans magische Gegenstände zu zerstören? So etwas ist schon gefährlich genug, selbst wenn sie nicht wie bei Abusan geschützt sind. Glaubst du wirklich, so mächtige Artefakte hätten keinen Schutz vor einfacher Zerstörung? Ich würde es zudem nicht wagen, Artefakte zu vernichten, die von der Macht der Behüter erfüllt worden sind. Wer weiß, was für Energien frei werden? Das könnte einen ganzen Konti-nent zerstören.“ Wotan strich sich seinen Bart und gab zu bedenken: „Wir wissen auch nicht, ob wir mit der Zerstörung einer Statuette nicht dabei helfen, die Barriere aufzulösen, die uns von den Dämonen trennt. Es ist zwar nur eine Version unter vielen, aber eine, die ich lieber beachten will, solange ich nicht genau weiß, ob sie stimmt oder nicht.“ „Schon gut, schon gut …“, grummelte Kev. Schwer atmete er ein und ließ seine Schultern traurig hängen. „Ich hatte gehofft, das Leben wäre jetzt, da ich vom Joch der Drakaner befreit bin, endlich etwas leichter.“ Augen-blicklich hob er die Hand in Richtung Faban. „Ja, sagt nichts, Meister Faban. Ich weiß schon, das Leben ist selten leicht. Das heißt also, wir haben die Statuette am Hals. Denn eines kann ich euch sagen: Wenn die Drak-aner von diesen Dingern erfahren, wird ein ganzes Reich

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in die Jagd auf diese Artefakte eintreten. Der Eiserne Thron wird sich die Möglichkeit, enorme Macht zu gewinnen, nicht entgehen lassen.“ „Und dazu weiß zumindest eine Partei in diesem Krieg, diese Vereinigung der Tiefe, dass sich hier eine Statuette befindet“, fügte Oenothera hinzu. „Wir müssen sie also mitnehmen und verwahren. Am besten halten wir das Ding geheim und erzählen niemandem etwas davon.“ Mit rauer Stimme widersprach Shanntak: „Bei den vielen Machtgruppen, die schon so lange nach den Dämonen-statuetten suchen, wird es eine harte Aufgabe, die Figur zu bewahren. Auf lange Sicht wird uns das zu sechst nicht gelingen. Wir werden Hilfe brauchen – Hilfe in Form von Kriegern und Magie.“ Faban stimmte dem Hauptmann zu. „Ja, das sehe ich ebenfalls so. Wir werden den Orden der Blauen Rose miteinbeziehen. Diese Gruppierung ist schon gut organi-siert und verschwiegen, und ich hoffe, durch die Unter-stützung des Grauen Turmes auch mächtig genug.“ „Und schon sind wir mittendrin – mitten in den Dämonensilber-Kriegen!“, fügte Halgrimm sarkastisch an.

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Welt Tepor, südlich vom Drakanischen Imperium – östliche Seite des Felmonmassivs Ûn-Scharführer Morktan hob seine Hand. „Halt!“ Gehorsam blieb die Abteilung schwerer Infanterie auf dem Erdkamm, den sie gerade erklommen hatten, stehen. Sie befanden sich mitten im wilden Hügelland, welches sich östlich von der Felmongebirgskette erstreckte. Wil-des Gras, hoch wachsend und zäh, war in dieser tro-ckenen Gegend vorherrschend. Zwischen diesen welligen Weiten aus Gras und Sträuchern erhoben sich ab und an kleine Birkenhaine, die wie Burgen des Waldes anmu-teten. Es waren alte und starke Bäume in ihrer ganzen Pracht, doch ein zusammenhängender Wald schien sich hier nicht bilden zu können. Die Grenzen des Imperiums lagen einige Tagesmärsche weit entfernt im Norden. „Ruht euch aus, aber bleibt wachsam!“, bellte Morktan. „Scharführer Resund, teil Wachen ein. Die anderen Scharführer zu mir.“ Dankbar entledigten sich die Krieger ihrer schweren, mannsgroßen Schilder und setzten sich ins hohe Gras. Während sich fünf seiner sechs Scharführer bei ihm sammelten, sah Morktan zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf der Hügelkuppe gab es nur wenige Bäume, und er hatte gute Sicht. Weit zurück sah er den Heerwurm, der ihnen über die Wellen des Landes folgte. Seine schwer gerüstete Infanterie war langsam, doch noch langsamer waren die Wagen des Heeres. So konnten sie immer wieder pausieren, damit sie sich nicht zu weit von der Hauptmasse entfernten. Morktan und seinem Trupp war wieder die Ehre zuteil geworden, die vorauseilende gepanzerte Spitze des Heeres zu bilden. Der Heerführer Laukim persönlich hatte ihm für seine

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Tapferkeit und die seiner Männer bei der Schlacht am Scheidepass gedankt. Laukim hatte verkündet: Solch einer Truppe würde er immer wieder den Schutz des Heeres anvertrauen! ‚Ha, welche Truppe? Von meiner ursprünglichen Einheit haben knapp drei Scharen überlebt. Die anderen drei sind mit jungen Männern aufgefüllt worden, unerfahren, nicht aufeinander ein-gespielt und noch grün hinter den Ohren. Tja, Nachschub für das Totenreich. Verflucht sei diese arrogante Tarote, die meine Männer auf dem Gewissen hat.‘ Bei dem Gedanken an die Urkorr-nor hellte sich die Mine des Ûn-Scharführers ein wenig auf. Sie musste immer noch die Leibdienerin für Laukim spielen, und für ihre Strafe war kein Ende in Sicht. Morktan rechnete es seinem Heerführer hoch an, das er die Urkorr-nor nicht nur für ihre Taten zurechtgewiesen hatte, sondern sie auch bestrafte. Dieser Hoch-Urkorr-gaan stand wirklich für das Imperium und das Gesetz ein, Laukim meinte es ernst und war glaubhaft in seinen Taten. Ihn konnte Morktan respektieren, und Laukim hatte spätestens seit dieser Strafe das Herz und die Treue der einfachen Soldaten gewonnen. Der harte, aber gerechte Heerführer, der sich für seine Männer einsetzt, so war er bei den Kriegern mittlerweile in aller Munde. „Ûn-Scharführer, die Späher kommen zurück“, meldete Scharführer Irkut. Morktan drehte sich um und sah den vertrauten Veteranen nachdenklich an. Irkut war einer der drei Scharführer aus seiner alten Truppe, die noch am Leben waren. Er war ein guter Soldat. Morktan war froh, überhaupt noch einen erfahrenen Scharführer zu haben. „Ist gut. Lass sie nicht zum Haupttross weiterreiten. Erst sollen sie zu unserer Besprechung kommen und berich-ten.“

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„Geht klar, Ûn-Scharführer!“ Irkut verschwand den Hügel hinab außer Sicht und kam kurze Zeit später mit vier Männern wieder, die allesamt braune Lederkleidung trugen. Die Gesichter waren leicht gebräunt, jedoch nicht wettergegerbt, sondern schön und ebenmäßig. Gespitzte Ohren ragten aus langen silbrigen Haar hervor. Das Einzige, was die vier Elfenspäher als drakanische Solda-ten auswies, waren ihre Einhandschwerter von drakani-scher Machart, die an den Gürteln hingen. Nach Morktans Einschätzung trat gerade der Älteste aus der Spähergruppe nach vorn zu der Versammlung der Scharführer. Sein Alter war nicht anhand ergrauter Sträh-nen oder Gesichtsfalten zu erkennen, es waren sein Auftreten und der sichere feste Blick, die seine Lebens-erfahrung deutlich machten. „Mein Ûn-Scharführer“, meldete er sich förmlich und verbeugte sich vor Morktan mit gekreuzten Armen. „Wir haben keine Gefahren entdecken können. Die Trollstäm-me, die hier hausen, haben sich anscheinend zurückge-zogen und weichen unserem Heer aus. Der Weg bis zum Wolkenpass ist frei.“ „Bist du dir sicher?“, fragte Morktan scharf. „Sich zu-rückzuziehen scheint mir ungewöhnlich klug für Trolle. Und dafür sind sie nicht gerade bekannt.“ Wieder verbeugte sich der Elf. „Sie sind auch nicht dafür bekannt, ihre Spuren zu verwischen oder falsche Fährten zu legen. Ich bin mir sicher, mein Ûn-Scharführer. Wir haben zudem die Späher der vierten Schotahr getroffen und uns mit ihnen ausgetauscht. Sie kamen zu demselben Ergebnis wie wir.“ „Wenigstens eine erfreuliche Nachricht! Ist der Pass sicher?“

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„Ja. Wir sollen weitergeben, dass der Wolkenpass voll-ständig unter der Kontrolle der vierten Schotahr ist. Hoch-Urkorr-nor Jelara lässt Hoch-Urkorr-gaan Laukim Grüße ausrichten. Ein Botenrabe hat sie ausfindig ge-macht, und sie erhielt Nachricht über die neuen Pläne des Eisernen Thrones.“ „Ein Botenrabe hat sie gefunden?“, wunderte sich Erfan, einer der neuen Scharführer. „Wie soll das möglich sein? Die Tiere können doch nur zu den Orten zurückfinden, an denen sie aufgewachsen sind.“ Der Elf nickte und hob dann entschuldigend seine Hand an die Brust. „So ist es auch mir bekannt. Ich weiß nicht, wie der Rabe sie finden konnte.“ „Was erwartest du, Erfan?“, bellte Morktan seinen Schar-führer an. „Den Urkorrs ist vieles möglich.“ Zu den Pfadfindern gewandt, fragte der Ûn-Scharführer: „Wie lange, schätzt ihr, brauchen wir noch bis zum Wol-kenpass?“ „Treibt unser Heermeister immer noch den Tross so hart voran und lässt keine Zelte für die Nacht aufbauen?“, wollte der Elfensprecher daraufhin wissen. „Sehen wir etwa so aus, als hätten wir unseren Schön-heitsschlaf bekommen?“, meckerte Scharführer Irkut los und erntete von seinen Kameraden Gelächter. „Dann würde ich schätzen, wenn das Wetter sich hält und es nicht regnet, vielleicht noch um die elf Tage.“ Morktan nickte und entließ die Elfen mit den Worten: „Gut so weit. Reitet weiter und erstattet unserem Heer-meister Bericht.“ Die Pfadfinder kreuzten die Arme, verbeugten sich und machten sich auf den Weg. Nachdenklich blickte Mork-tan ihnen nach. Nicht mehr lange, und zwei Heere schlossen sich zusammen. Morktan hatte immer gehofft,

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dass es zu seinen Lebzeiten im Imperium zu einer Periode des Friedens kommen würde, in der er sich zur Ruhe setzen und eine Familie gründen konnte. Das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte, nämlich ein andauernder, heftiger Krieg zwischen den Vierfürsten-tümern und dem Imperium, schien jetzt einzutreffen. Den hochtrabenden Reden vieler Urkorrs, die immer wieder betonten, dass die anarchistischen Fürstentümer eine Bedrohung seien, vertraute Morktan nicht. Viele der Urkorrs, die Morktan kennengelernt hatte, waren eigen-nützig und versessen auf Macht. Bei Hoch-Urkorr-gaan Laukim hatte er dieses Gefühl nicht. Laukim achtete die Gesetze und setzte sich für das Imperium statt für sich selbst ein. Es gab noch andere Hoch-Urkorrs, die Gerüchten nach einen ähnlich guten Ruf wie Laukim hatten. Wenn diese dem Imperium treu dienenden Anführer eine Gefahr für das Reich fürchteten, war er schon eher geneigt, dem Glauben zu schenken. Und seine Heimat würde Morktan mit aller Kraft beschützen. „Ûn-Scharführer?“ Die Anrede ließ Morktan zu seinen Offizieren schauen. „Also gut, Männer. Das werden noch ein paar anstren-gende Tage. Umso wachsamer müssen wir sein. Kon-trolliert die Wachen, ob sie wirklich aufmerksam sind. Lasst unsere Flankenreiter regelmäßig für Meldungen zurückkehren. Sie sollen nicht auf den Gedanken kommen, sie könnten mal ein Nickerchen in der schönen Natur machen. Die Trolle lassen uns vielleicht in Ruhe, aber wer weiß, was sich die Fürstentumbauern ausgedacht haben. Ein Überfallkommando mit einem feindlichen Urkorr könnte großen Schaden anrichten. Diesmal könn-te es richtig ernst werden, Männer. Erklärt unseren

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Kämpfern, dass es um unsere Heimat geht, die wir be-schützen müssen.“ Alle nickten, besonders die neuen, jungen Scharführer. Mit einem militärischen Gruß entließ Morktan seine Untergebenen, und diese machten sich zu ihren Scharen auf. Ein unbemerkter schwarzer Schemen zog sich von der auflösenden Versammlung in den Schatten eines Baumes zurück. Dunkler Schatten und schwarzer Schemen ver-mischten sich, dann war die dunkle Erscheinung ver-schwunden. In der Mitte des Heerestrosses ritt Laukim, umgeben von einem Trupp Namenloser, langsam dahin. Vor und hinter den Namenlosen waren die Trosswagen, die von großen, fast schon dicken Pferden gezogen wurden. Die schweren Wagen und die vielen Stiefel hinterließen eine Schneise der Zerstörung in der blühenden, unberührten Natur der Hügellandschaft. Für Laukim war die Schönheit der Umgebung allerdings nebensächlich und gegenstandslos. Vielmehr war er über etwas anderes erfreut. Einer seiner Offiziere entpuppte sich als ein treuer Diener des Imperiums. Ein weiterer Offizier, auf den er zählen konnte. Ohne seinen Blick vom Horizont zu wenden, sagte Laukim fordernd: „Mich dürstet, Tarote. Bringe mir Wasser!“ „Ich höre und gehorche“, kam die kühle Antwort von der neben ihm laufenden Urkorr-nor. In diesen Worten schwang ein versteckter Hass mit, doch Tarote war sich sicher, dass ein männliches Wesen dies nicht heraushörte. Trotzdem beeilte sich Tarote, dem Befehl nachzukom-men um keinen Zweifel an ihrem demütigen Gehorsam

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aufkommen zu lassen. Sie lief zum nächsten Wasser-wagen, entnahm aus ihrem Tragebeutel Laukims Kelch und füllte ihn mit dem Wasser aus einem der Fässer. Dabei waren ihre Gedanken nur mit einem beschäftigt, ihre ganze Welt drehte sich nur noch um eines. ‚Dieser Bastard! Widerlicher Elfenhurensohn, ich werde dir alles heim-zahlen! Ich werde mich rächen! Ja, ich werde dich für diese Demütigungen zahlen lassen! Meine Zeit wird kommen! ‘ Sie kehrte mit dem genüsslichen Gedanken an Rache zu Laukim zurück, riss sich zusammen und überreichte ihm mit einem demütigen Lächeln seinen Kelch. Laukim nahm ohne hinzusehen den Kelch entgegen und trank einen Schluck. „Tarote, ich verliere ungern eine so aufmerksame Dienerin wie dich, aber du wirst andernorts dringender benötigt.“ Hoffnungsvoll horchte Tarote auf. War das ihre Chance, dieser entwürdigenden Dienerschaft zu entkommen? „Was soll ich tun, mein Heerführer? Ich brenne darauf, mich Eurer würdig zu erweisen.“ „Einer meiner Ûn-Scharführer hat sich schon des Läng-eren als äußerst fähig erwiesen. Du kennst ihn, es ist Ûn-Scharführer Morktan, der mit dir beim Scheidepass gekämpft hat. Ich werde ihn zum Hauptmann befördern und ihm einige Einheiten verschiedener Truppenarten unterstellen. Ich habe Besonderes mit dieser Zusammen-stellung vor, und dieser Verband braucht deshalb einen Urkorr.“ Tarote lächelte erfreut und verbeugte sich in Laukims Richtung. „Ich werde diese Einheiten gern anführen, mein Gebieter. Ich werde Euch nicht enttäuschen.“ Gleichmütig schaute Laukim auf sie herunter. „Du hast mich falsch verstanden, Tarote. Nicht du wirst diese

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Einheit anführen, sondern Morktan! Du wirst ihm unterstellt sein und auf seinen Befehl hören.“ Ein Schreck durchfuhr Tarote, und sie erbleichte. Die Worte blieben ihr ihm Hals stecken. ‚Das kann er unmöglich ernst meinen! Ich bin eine Urkorr!‘ Laukim beachtete sie nicht weiter und befahl als Letztes: „Du darfst dich zurückziehen, Tarote. Melde dich bei deinem neuen Kommandanten.“ Zitternd verbeugte sich Tarote und entfernte sich. Sie schien sich dabei wie in Trance zu bewegen. Laukim trank seinen Kelch aus und ging in Gedanken seine Pläne durch. ‚Morktan wird mir nicht besonders dankbar sein. Wenn er jedoch mit ihr fertig wird, ist er auch dafür geeignet, wichtige Aufgaben zu übernehmen. Es wird auf jeden Fall interessant, was nun passieren wird.‘ Das wohlgeformte Gesicht Laukims erstrahlte in einem belustigten Lächeln.

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Welt Tepor, Moranion-Wald, Abusans Laboratorium Ein Buch flog durch die Luft und knallte gegen einen der Holzpfosten des Regals. Mit einem satten Platschen landete es mit der flachen Seite auf dem Steinboden und hinterließ beim Aufprall ein kaum wahrnehmbares Widerhallen. Deprimiert verfolgte Halgrimm den Flug des von ihm geworfenen Buches und ignorierte den verwunderten Blick Oenotheras, die unweit von ihm mit einem Stapel Lesematerial auf dem Boden saß. Feindselig starrte Halgrimm das Buch an, welches er eben noch gelesen hatte. Wenigstens konnte man ein Buch richtig werfen und es ging nicht gleich kaputt, was man beides nicht von den Schriftrollen behaupten konnte. Vier Tage waren vergangen, seitdem sich seine Weltanschauung und die seiner Gefährten durch Fabans Entdeckung so radikal geändert hatte. Seitdem machten sie alle nur noch eine einzige Sache: lesen und nochmals lesen. Ihre Arbeit brachte ihnen eine Menge Wissen ein, nur fanden sie nichts über die zwei Themen, um derentwillen dieser Lesemarathon überhaupt angefangen hatte. Selbst wenn man die Auswahl einschränkte, sie waren einfach zu wenig Leute, um eine ganze Bibliothek in wenigen Tagen zu erforschen. Halgrimm wiederholte erneut im Geist die beiden Fragen, um die sich alles drehte: ‚Wie benutzt man das Weltentor? Gibt es Erkenntnisse von Abusan, welche Kräfte die Dämonen-statuette in sich trägt? Wenigstens über eine Sache könnten wir doch etwas finden. Verdammter Mist, stattdessen weiß ich jetzt, dass es auf der Welt Silva eine Art fliegendes Eichhörnchen gibt. Ich könnte schreien!‘

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Halgrimm bekam Bauchschmerzen, als sich wieder sein nagender Hunger meldete, und damit erreichte seine Laune einen neuen Tiefpunkt. „Alles in Ordnung, Junge?“, kam die besorgte Erkun-digung Fabans vom nächsten Regalgang. Zwischen ein paar Schriftrollen hindurch blinzelte der alte Ordens-magier zu Halgrimm hinüber. „Ach, es geht schon wieder. Ich hatte nur kurz den Drang, etwas zu zerstören.“ Sogleich nach diesen Worten hob Halgrimm beschwichtigend die Hand. „Nein, Meister Faban, nicht wirklich. Ich bin nur deprimiert und besorgt. Wir sitzen hier zu lange fest und sind noch kein Stück weitergekommen.“ Wotan, der sich in der gleichen Reihe wie Faban befand, nahm die Worte Halgrimms auf. „Der Junge hat recht. Es kann gut sein, dass wir zu lange brauchen, um etwas zu finden. Vielleicht gibt es noch nicht einmal etwas zu finden. Wir müssen anfangen zu handeln.“ Faban runzelte die Stirn und begann sich an seinem Schnurrbart zu zupfen, wie so oft, wenn er anfing nach-zudenken. Oenothera hörte auf zu lesen und wartete auf das, was Faban dazu sagen würde. „Es ist wahr, wir sind schon eine geraume Zeit hier“, seufzte der alte Magier schließlich. „Ich hatte gehofft, wir würden noch etwas mehr über die eine Statuette erfahren – vor allem Hinweise, wie Abusan sie vor Zugriff ge-schützt hat.“ „Wäre das nicht sehr ungewöhnlich für Abusan gewe-sen?“, fragte Halgrimm. „Eine direkte Beschreibung wäre natürlich nicht Abusans Art. Ich hatte mehr auf indirekte Hinweise gehofft. Nun, wie du und Wotan festgestellt habt, uns läuft die Zeit

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davon.“ Faban verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte finster zu Boden. Wotan missverstand diese Geste „Habt Ihr wieder Rückenschmerzen? Ihr solltet mir schon bei den ersten Anzeichen von Schmerzen gleich Bescheid sagen. Wir brauchen Euch so gesund wie möglich.“ Faban lächelte und winkte ab. „Nein, es geht mir gut, was meinen Rücken anbelangt. Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Nun, ich denke, es bleibt uns nichts anderes übrig: Wir müssen versuchen, die Dämonenfigur an uns zu bringen.“ „Na endlich“, rief Oenothera aus und sprang unter-nehmungslustig auf. „Ich werde Kev Bescheid sagen. Der Arme langweilt sich bei seiner Wache im Thronraum fast zu Tode.“ Halgrimm murmelte leise: „Jedenfalls wenn du ihn nicht besuchst und ihn mal wieder völlig verwirrst …“ Oenothera warf ihm einen stechenden Blich zu und hob eine Augenbraue. Das konnte doch nicht sein, er hatte sich eben selbst kaum verstanden! Hörte diese Elfe denn alles? Und schon öffnete sie ihren Mund zu einem Kom-mentar. Halgrimm zuckte zusammen. „Er ist verwirrt, weil er ein Idiot ist. Wenn ich nicht dau-ernd mit ihm schimpfen würde, hätte er sich schon längst selbst eingeredet, wie nutzlos und wertlos er ist. Je länger wir hier in der Bibliothek nach Antworten gesucht haben, desto deprimierter wurde er, da er nicht helfen konnte. Dieser Ort ist für einen Mann der Natur wie ihn einfach nichts.“ Die Augen Oenotheras nagelten den hilflosen Halgrimm regelrecht an seinen Platz fest, als sie auf ihn zumarschierte. „Ich rücke ihm nur den Kopf zurecht.“ Als sie vor ihm stand, stach sie mit einem Finger gegen seine Brust. „Und du solltest dich nicht in fremde

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Angelegenheiten einmischen und dumme Kommentare abgeben.“ Wutentbrannt stapfte sie von dannen und hinterließ einen verdatterten jungen Magier. Wotan warf ihm ein Grinsen zu, schüttelte den Kopf und rief dann nach Shanntak: „Hey ho, Bücherwurm! Shanntak, hör auf zu lesen und komm zu uns!“ Kurz darauf tauchte der Hüne mit einer runden Nickel-brille auf dem Gesicht auf. Dieses Bild reizte Halgrimm immer noch zum Lachen. Er biss sich auf die Zunge, damit kein Laut über seine Lippen kam, denn er wollte die Gefühle des Kriegers nicht verletzten. Halgrimm war sich zwar nicht sicher, ob so etwas bei diesem harten Kerl überhaupt möglich war, doch seit dem Shanntak sich vor einigen Tagen so kameradschaftlich verhalten hatte, woll-te Halgrimm trotzdem darauf achten. Zu dem musste Halgrimm den intensiven Eifer anerkennen, den Shann-tak bei der Lesearbeit an den Tag legte. Nur er allein hatte sich nie beklagt, wenn er wieder eine Schriftrolle zum Lesen zugewiesen bekommen hatte. „Wir kamen zu dem Schluss, dass wir keine weitere Zeit mit unserer Suche verbringen dürfen“, klärte Faban den Drakaner auf. „Danke für deine intensive Arbeit. Hast du noch etwas Wichtiges gefunden? Oder jemand anders?“ Wotan verneinte, Halgrimm setzte einfach nur eine säuerliche Mine auf und schüttelte den Kopf. „Ja, ich habe etwas zu melden, Meister Faban“, ver-kündete Shanntak für alle überraschend. „In einem Bericht habe ich etwas über die Tore gefunden. Es ist anscheinend so, dass es auf jeder Welt mehrere Welten-tore gibt. Man kann von Tor zu Tor reisen und auf der gleichen Welt bleiben.“

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Wotan riss die Hand hoch und ballte sie triumphierend zur Faust. „Ja, ich hatte es gehofft, war mir aber nicht sicher!“ Faban stimmte mit ein. „Großartig. Ich konnte es mir auch nicht anders vorstellen, aber nun können wir sicher sein.“ „Ich fand noch etwas Weiteres bemerkenswert“, sagte Shanntak weiter. „Die Weltentore waren einst für jeden nutzbar. Ich war bisher davon ausgegangen, nur Urkorrs wäre es möglich, ein Tor zu aktivieren.“ Faban stockte erstaunt. Wotan hingegen brummte ver-stehend und meinte: „Das ist eigentlich zu erwarten gewesen. Die Weltentore sind von den Behütern erschaf-fen worden, damit jede Person die Welten bereisen kann. Es sollte kein Privileg für die Nutzer der Macht sein.“ „Ja, natürlich!“, rief Faban aus und fasste sich an die Stirn. „Daran hätte ich gleich denken müssen. Was bin ich doch für ein Esel! Die Aktivierung eines Tores kann nicht kompliziert sein und braucht keine magischen Formeln, denn jeder sollte sie nutzen können. Und wir suchen uns die ganze Zeit umsonst um den Verstand!“ „Ja, ich habe auch nicht daran gedacht“, gab Wotan mürrisch zu. „Dabei hätte gerade ich als Kleriker eines Behüters darauf kommen sollen. Also müssen wir einfach das Tor betreten, der Rest wird sich von allein klären.“ „Wir müssen nur das Tor betreten?“, ertönte es von dem Loch, das Wotan als Eingang in die Halle gezaubert hatte. Oenothera schob gerade ihren Oberkörper durch die Öffnung. „Heißt das etwa, die ganze Leserei war un-nötig?“ „Nein, ganz und gar nicht“, entgegnete Faban und verfiel in seinen Vortragstonfall. „Wir brauchten sowieso einen Überblick über Abusans Wissen, und über die verschie-

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denen Welten mussten wir auch mehr erfahren. Noch wichtiger war, mehr Informationen über die Statuetten zu bekommen, was uns leider nicht gelungen ist.“ „Schon gut“, kapitulierte Oenothera. „Es war wichtig.“ „Also können wir endlich hier weg?“, wollte Kev hoff-nungsfroh wissen. Er schien kurz davor zu sein, einfach loszurennen. „Ja, bald können wir hier weg.“, kam beruhigend die Antwort Wotans. „Wir müssen nur noch die Dämonen-statuette an uns bringen und danach unseren eigentlichen Auftrag zu Ende führen, also Abusans Laboratorium zerstören.“ Halgrimm meldete sich zu Wort. „Mit dem Problem des Statuenzaubers habe ich mich schon ein wenig beschäf-tigt. Wir wissen, dass es eine Blitzentladung gibt, sobald man das Artefakt berührt. Wenn es noch weitere Ladungen gibt, könnten wir diese doch ableiten, so wie es Shanntak gemacht hat, als er gegen seinen Anführer kämpfte.“ „Nun, ein Versuch ist es wert“, stimmte Faban dem Vorschlag zu. Mit sachlichem Tonfall sagte Shanntak: „Unsere Schwer-ter sollten wir dafür nicht benutzen; die sind nach einer Blitzentladung zerstört. Wir können denselben Effekt erreichen, indem wir einen der toten Grottenschrate gegen die Statuette werfen.“ Entsetzt sahen ihn seine Gefährten an. Halgrimm schluckte hörbar, und Wotan machte ein so grimmiges Gesicht, als hätte er Essig getrunken. Bei Oenothera kam ein Laut der Überraschung über die Lippen. Bevor es jedoch zu Widerworten kommen konnte, sagte Shanntak ruhig: „Eure Pietät gegenüber den Toten wird euch nicht weiterbringen. Sie spüren nichts mehr und sind von

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dieser Welt entbunden. Unsere Waffen brauchen wir noch dringend, und die magischen Kräfte unserer Ur-korrs sollten wir schonen, wann immer es möglich ist. Wenn es weiterhilft, werde ich diese Arbeit allein aus-führen.“ „Wir haben sie aber in den Golemraum geworfen“, gab Halgrimm dem Krieger zu bedenken. „Sie liegen gleich hinter der Tür.“, entgegnete Shanntak. „Bevor der Golem sich von seinem Sockel bewegt hat, habe ich mir schon lange einen geholt und bin schon wieder draußen.“ Wotan hatte die Arme verschränkt und blickte den Dra-kaner finster an. „Das ist absolut unwürdig und eine Ruhestörung der Toten. Ich glaube auch nicht, dass viele Drakaner es genauso sehen würden wie du. Wie dem auch sei, für mich ist es eine Einstellungssache. Mir ist nicht jedes Mittel recht, um meine Ziele zu erreichen. Die Würdigung der Toten ist mir heilig.“ Oenothera legte beruhigend ihre feingliedrige Hand auf die Schulter des Erdenbewahrers und sagte zu Shanntak: „Du nutzt alles, was du kannst, um zu siegen, nicht wahr?“ Der eiserne Blick Shanntaks, der so effektiv sein Inners-tes verbarg, richtete sich auf die Elfe. „So habe ich es gelernt, und es erscheint mir logisch. Was ist daran falsch?“ Einen Augenblick dachte Oenothera nach und antwortete dann: „Ich kann dich verstehen. Mein Volk achtet die Logik über alles und lehrt, dass man den Gefühlen nicht einfach so trauen soll. Doch verstehe ich auch Wotan und stimme ihm zu. Nicht alle Mittel sind recht, um ein Ziel zu erreichen. Sonst unterscheidet man sich nicht mehr von Verbrechern. Ich weiß in diesem Fall nicht, ob

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es eine schlimme Tat wäre. Ich würde nur im äußersten Notfall – wenn es um unser Leben ginge – so etwas machen.“ Kev war sprachlos über das so plötzliche diplomatische Geschick Oenotheras. Das war ja ein ganz neuer Wesens-zug von ihr! „Ja, so sehe ich es auch“, stimmte Faban mit ein. „Shann-tak, für uns ist dein Vorschlag eine schreckliche Tat, aber ich verstehe, dass du durch deinen Werdegang anders darüber denkst. Wir werden erst alle anderen Möglichkei-ten ausschöpfen. Danach können wir immer noch über-legen, was wir weiter machen.“ „Warum nehmen wir nicht die Kochutensilien aus der Küche? Da sind doch gusseiserne Pfannen und Töpfe“, schlug Kev vor. „Ah, stimmt“, brummte Wotan immer noch ärgerlich und stapfte sogleich in Richtung der Küche. „Ein guter Vorschlag. Holen wir die Sachen!“ Seine Gefährten eilten Wotan hinterher. Schubladen und Kisten wurden aufgerissen, und schnell wurden sie fündig. In der Küche waren eine Menge Gegenstände, die aus Gusseisen oder Zinn bestanden. „Warum müssen es metallene Gegenstände sein?“, fragte Kev Halgrimm, während sie in den Küchenutensilien herumstöberten. Halgrimm setzte eine gelehrsame Miene auf und erklärte: „Wenn es eine Blitzladung ist, wird sie immer durch metallene Objekte gehen, wenn möglich. Es ist wie eine Art Straße für den Blitz, auf der man besser vorankommt und deswegen keinen anderen Weg mehr nimmt.“ „Ah, so ist das also. Interessant …“ „Ich habe dieses Wissen übrigens durch Lesen erfahren“, trällerte Halgrimm unschuldig nebenbei.

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Mit säuerlichem Ausdruck wandte Kev sich einer Kiste zu und erwiderte nichts darauf. Ein Freudenschrei kam von Wotan, als er den Inhalt einer Truhe genauer untersucht hatte. „Hier sind Werk-zeuge und einige lange Eisennägel! Ich hoffte, hier Werkzeug vorzufinden, und siehe da, hier ist es. Jetzt haben wir alles, was wir brauchen!“ Der Zwerg nahm energisch den schweren Hammer, die Nägel und eine gusseiserne Pfanne an sich und stapfte wild entschlossen aus der Küche. Oenothera verfolgte den Erdenbewahrer. „Warte auf uns Wotan.“ Halgrimm murmelte beim Hinterhereilen zu sich selbst: „Da will jemand auf keinen Fall, dass es zu dem äußers-ten Notfall kommt …“ Die Gemeinschaft hastete durch die düstere Halle, die sie mit beunruhigend tiefer Stille empfing. Sie ließen die Schriftrollen hinter sich, passierten den in der Mitte stehenden Kartentisch und kamen nach vielen Schritten zum anderen Ende der Halle. Rasch umrundeten sie das Weltentor, vermieden es, den Symbolkreis zu betreten, und hielten am Stehpult an. Faban und Halgrimm sorgten wieder für ausreichende Beleuchtung. Mit dem Auf-leuchten der magischen Lichter wurde das letzte Opfer Abusans sichtbar. Noch immer lag der Aschehaufen des Grottenschrates, der es gewagt hatte, die Statuette zu ergreifen, vor dem Pult. Nach kurzem zögernden Be-trachten der mahnenden Asche nahm Wotan den schwe-ren Hammer und die langen Nägel zur Hand und kniete sich hin. Mit kräftigen Schlägen versuchte er einen der Nägel in den Boden zu treiben. Der erste Nagel drang kaum in den harten Stein ein und verbog. Beim zweiten Nagel hatte er Erfolg und trieb ihn fast bis zum Anschlag

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hinein. Geschickt legte der Zwerg unter den Kopf des Nagels, der im Boden steckte, einen weiteren Nagel auf den Stein. Dann hieb er ein letztes Mal auf den im Boden steckenden Nagel und klemmte damit den liegenden unter dem Kopf ein. „Damit wird die Energie in den Boden abgeleitet“, kom-mentierte Faban das Tun des Erdenbewahrers. „Aber hier ist nur Steinboden. Hoffentlich funktioniert es.“ Wotan nahm die Pfanne und schlug kräftig mit seinem Kriegshammer auf sie drauf. Die Pfanne zerbarst gleich beim ersten Hieb in viele Bruchstücke. Die Teile sam-melte er auf und bildete aus ihnen eine Linie, die beim eingeklemmten Nagel begann. Stück für Stück arbeitete er sich so zu der Statuette vor dem Stehpult vor. Als er noch eine Handbreit davon entfernt war, hörte er auf. „Ja, nun …“, hörten die Gefährten den Zwergen brummen. „Jetzt wird es etwas knifflig. Ich sollte das Metallstück nicht mehr berühren, wenn es Kontakt mit dem Artefakt bekommt.“ Faban räusperte sich und trat zu Wotan. „Darf ich Euch hier ablösen? Ihr anderen tretet schon mal zurück. Wer weiß, ob nicht ein anderer Zauber ausgelöst wird.“ Bereitwillig machte Wotan dem alten Ordensmagier platz. Der holte seine Wasserflasche hervor und goss nahe der Lücke zwischen dem Metallpfad und der Figur einen Schwall Wasser aus. Eine Wasserlache die sich langsam verbreitete entstand. „So, und jetzt weit zurück. Wir wollen kein Risiko einge-hen!“ Faban war erst zufrieden, als er die ihm anvertrauten Personen bis fast zum Kartentisch zurückgetrieben hatte. Gespannt warteten sie dort ab, was gleich passieren würde. Nach etlichen Herzschlägen blickten sie einander

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an. Faban hob energisch die Hand und brachte erstes Gemurmel zum Schweigen. Als nach einiger Zeit immer noch nicht die kleinste Reaktion erfolgt war, trat Faban wieder näher an das Artefakt heran. „Ich verstehe das nicht. Die Wasserlache hat den Raum zwischen dem Metall und der Statuette völlig ausgefüllt. Die Linie der Metallstücke ist nicht unterbrochen. Wir hätten etwas mitbekommen, wenn sich ein Blitz entladen hätte.“ Kev meinte von hinten: „Es war aber nichts zu sehen. Wird die Magie vielleicht nur ausgelöst, wenn ein leben-diges Wesen die Figur berührt?“ „Das kann nicht sein“, entgegnete Wotan. „Das Erken-nen von Leben ist allein Klerikern möglich. Abusan kann solch einen Auslöser nicht in seinen Zauber gewoben haben.“ „Stimmt, dies sagtet ihr schon einmal vor einigen Tagen. Aber es kann doch nicht sein, dass jedes Blatt oder ein Luftzug, der Staub aufwirbelt, den Bannspruch auslöst“, wunderte sich Kev. „Nein, du hast recht.“ Faban drehte sich um und ging zu seinen Gefährten. „Es gibt immer einen Auslöser, eine Bedingung für die Freisetzung der Magie bei solchen dauerhaften Verzauberungen. Das Verrücken eines Ge-genstandes, das Öffnen einer Tür oder das Gewicht beim Betreten eines Zimmers sind Beispiele für solche Aus-löser, ohne dass dabei der Funke des Lebens erkannt werden muss.“ Wotan kratzte sich am Bart und dachte laut: „Der Grottenschrat, der jetzt nur noch ein Häufchen Asche ist, hat die Statuette anscheinend bewegt. Das muss es sein.“ Shanntak ging bei diesen Worten zu einem der Regale beim Kartentisch, holte sich einige der dort liegenden

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Erzbrocken und verkündete bei seiner Rückkehr: „Das ist schnell getestet. Werfen wir die Statuette einfach um. Meister Faban?“ Der alte Magier nickte ihm zu. Als sich der Drakaner dem Artefakt näherte, flüsterte Kev Oenothera zu: „Ich glaube irgendwie nicht, das Shanntak mehr als einen Stein brauchen wird.“ Die Elfe sah ihn fragend an. „Du bewunderst Shanntak?“ Die Mundwinkel Kevs verkniffen sich leicht, und er atmete tief ein. „Er ist so selbstsicher und geht so willens-stark durch das Leben. Er hat sich allein vom Joch der Drakaner befreit. Ich dagegen … was habe ich schon getan, um mein Los zu ändern?“ Mit einem wütenden Funkeln betrachtete Oenothera Kevs Gesicht. Er fragte sich, was er denn jetzt schon wieder Falsches gesagt hatte. Doch statt einer rüden Entgegnung legte sie sanft ihre Hand auf seinen Arm und flüsterte: „Du beurteilst dich falsch. Du standest unter Drogen und wurdest in Stein verwandelt. Er nicht, er hatte im Gegensatz zur dir eine Chance. Seine Härte und Stärke haben ihn zudem viel gekostet. Und zwar sein Mitgefühl, Barmherzigkeit, einfache Freude zuzulassen, Liebe zu geben und zu empfangen. Ich weiß, wie du in Flüsterstein zu Halgrimm gestanden hast, als du glaubtest, er wäre in Gefahr. Das fand ich bewundernswert.“ Diese Worte machten Kev verlegen. Teilweise um von sich abzulenken und zum Teil, weil er Shanntak vertei-digen wollte, sagte er: „Meinst du nicht, dass du Shanntak etwas hart beurteilst? Er steht zu uns und hat sein Leben riskiert. Er lernt täglich im Umgang mit uns dazu und scheint mir vertrauenswürdig.“

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Oenothera machte eine unsichere Geste. „Vielleicht beur-teile ich ihn zu hart. Ja, in gewisser Weise können wir ihm trauen.“ Die beiden hörten ein Klacken und ein nachfolgendes Poltern und wandten sich wieder dem Geschehen zu. Die Statuette war von Shanntaks Wurf nicht nur umgekippt, sie war regelrecht einige Fuß weit von ihrem Standort weggeschleudert worden. „Schon wieder nichts“, knurrte Wotan ärgerlich. „Das Artefakt zu bewegen war es also auch nicht. Aber es liegt noch ein Bann auf dem hässlichen Ding. Womit wird also der Zauber ausgelöst?“ Faban kniff die Augen zusammen, um besser die neue Position der Dämonenstatuette sehen zu können. „Ich denke, Gewicht kann es ebenfalls nicht sein. Dann wäre der Stein unter der Statuette verzaubert gewesen, der dann einen Bezugspunkt gebildet hätte, um eine Verän-derung des Gewichtes festzustellen.“ Bei dieser ausschweifenden Erklärung Fabans sahen sich Oenothera und Kev automatisch an und mussten schmunzeln. „Ich glaube, es ist Wärme“, verkündete Halgrimm auf einmal. „Der Grottenschrat hat die Statuette nur ange-fasst. Es war seine Körperwärme, die den Bann ausgelöst hat.“ Verunsichert tauchte Halgrimm aus seinen lauten Gedankengängen auf und fügte noch an: „Könnte jeden-falls sein.“ Faban stemmte die Hände in die Hüfte und sah nachdenklich zu dem umgeworfenen Artefakt. „Hier ist immer eine konstante Temperatur, keine Schwankungen durch Witterung. Es könnte stimmen!“ Entschlossen streckte sich Faban und atmete tief durch. „Dann lasst uns noch einmal etwas Abstand von diesem

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Ding nehmen, und dann prüfen wir, ob Halgrimm recht hat.“ Faban wartete, bis sich seine Gruppe wieder zum Kartentisch begeben hatte. Er selbst stand nur wenige Schritte vor seinen Gefährten und konzentrierte sich auf die Macht der Schöpfung, die alles umgab und durch-drang. Nur ein kleines Rinnsal der Macht floss in seinen Körper, und damit formte er eine geringe Veränderung. Über der silbernen Statuette erschien ein blau glühender Funke, ein Bereich erhitzter Luft. Der Funke bewegte sich hinab und berührte die Figur. Auf einmal loderte aus dem Artefakt ein Flammenmeer hervor. Fauchend bildete sich ein Ball aus tiefblauem Feuer. Die Flammenkugel hüllte einen weiten Bereich um die Dämonenstatuette ein und verdeckte sie. Langsam wuchs sie an. Der Boden vor der Feuersbrunst begann erst zu glühen, dann sich zu verflüssigen. Die Hitzewellen reichten so weit, dass sich die Gefährten die Gesichter bedecken mussten, und auch Faban wich zurück. Das intensiv blaue Feuer machte keine Anstallten abzuklingen, sondern dehnte sich weiter aus. „Ein anderer Bann diesmal“, erklärte Faban unnötiger-weise. „Dieser Fuchs!“ Halgrimm rief entsetzt: „Die Flammen werden gleich die Symbole des Weltentores erreichen. Es wird zerstört werden!“ „Beim Abgrund, er hat recht“, rief Kev mit panisch werdender Stimme. „Tut was, Meister Faban. Sonst sitzen wir fest.“ Faban sah zu dem Zeichenkreis. „Erdenbewahrer, wir müssen das verhindern.“ Wotan kam zu Faban, stellte sich neben ihn und sagte mit tiefer Inbrunst: „Nein!“

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„Wie bitte?“ Entgeistert starrte Faban auf den Zwerg herab. „Wenn dies wirklich ein Weltentor ist, können wir das jetzt prüfen. Als Kleriker kann ich nur eines glauben: Egal, wie mächtig Abusan gewesen sein mag, etwas, das die Behüter geschaffen haben, kann er nicht vernichten! Die Statuette müsste die Feuersbrunst ebenfalls über-leben. Wenn der Symbolkreis zerstört wird, war er kein Weltentor!“ „Aber es sind schon fremde Lebensformen daraus her-vorgekommen.“ „Deswegen glaube ich auch, dass es ein Weltentor ist und nicht zerstört wird“, wiederholte der Erdenbewahrer. Faban wandte sich kurz zu den restlichen Gruppenmit-gliedern um, als wolle er noch die Meinung der anderen einholen. Er sah ihre erhitzten Gesichter. Das blaue Feuer spiegelte sich in den Mienen, die Vertrauen aus-drückten. Faban nickte Wotan zu und blieb, wo er war. „Seht, es passiert etwas!“, rief Oenothera. Die Flammenkugel hatte die ersten Symbole des Kreises erreicht. Die Zeichen glühten auf, nicht aber der Stein-boden. Ein schwarzer aufrechter Riss entstand in der Mitte des Kreises und gewann an Tiefe, obwohl man dies nur spürte und nicht sah. Ein kurzes, tiefes Dröhnen füllte die Halle, und mit einem Mal erloschen alle Flammen. Augenblicklich nahmen die Hitze sowie das Knacken des erhitzten Gesteins ab. Der schwarze Riss wurde kleiner, als würde er sich unendlich weit entfernen, und verschwand in einem winzigen Punkt. Halgrimm ging fasziniert nach vorn. „Es sah so aus, als wären die arkanen Energien in den Riss abgeleitet wor-den.“

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Ein starker Arm hielt ihn davon ab, weiter zu gehen. Wachsam beobachtete Shanntak den Symbolkreis und die dämonische Figur, die unversehrt auf dem Boden lag. Nicht einmal eine Schmauchspur war auf der silbernen Oberfläche zu sehen. Faban klopfte dem Zwerg auf die Schulter. „Ihr hattet recht! Das war eine wichtige Erkenntnis.“ Misstrauisch schaute Wotan zu Faban auf. „Was? Dass ich recht hatte oder dass ein Weltentor sich schützen kann?“ „Hu, ja, nun …“ Abwehrend hob Faban die Hände. „Das Zweite natürlich!“ Mit barscher Stimme lenkte Shanntak die Aufmerksam-keit der beiden auf sich. „Ist es jetzt sicher, das Artefakt aufzunehmen?“ „Eine gute Frage.“ Seine Gewänder rauschten, als Faban sich eifrig zu Halgrimm und Shanntak begab. Die feinen grauen Haare wehten hinter ihm her. „Es ist kein Zauber mehr auf ihr zu finden“, gab Halgrimm schon die Antwort. Er hatte sich, als Shanntak ihn aufhielt, bereits in die arkane Sicht begeben. Im Nachhinein bemerkte Halgrimm, wie selbstverständlich er dies getan hatte, ohne sich anzustrengen oder darüber nachdenken. Ein wenig Stolz überkam ihn, wurde aber gleich wieder von Ärger verdrängt, als er bemerkte, wie sein Lehrer seine Worte überprüfte. Meister Faban vollzog die Gesten der arkanen Sicht. Die Ausführung des Zaubers und das Öffnen für die Macht dauerten bei Meister Faban viel länger als bei ihm. Das erstaunte Halgrimm. Er hätte bei der gleichen Zauberformel doch auch genauso viel Zeit für die Durchführung benötigen müssen wie sein Lehrer. Oder hatte er etwa nicht die gleiche Formel benutzt?

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„Der Junge hat recht. Nur noch die eigene Macht-resonanz der Figur ist vorhanden.“ Entschlossen schritt der alte Ordensmagier vor. Eine massige Gestalt schoss an ihm vorbei und überholte ihn mühelos. Unfähig, noch irgendwie zu reagieren, hörte Faban noch: „Ihr seid als Anführer zu wichtig.“ Das Einzige, was Faban blieb, war, den athletischen Lauf des Kriegers zu bewundern, der nicht lange brauchte, um die Statuette zu erreichen. Starke Hände hoben die Dämonenfigur auf. Misstrauisch betrachtete Shanntak die Silberarbeit, und als sich nichts Gefährliches ereignete, ging er auf Faban zu. Mit schmalen Augen und gesträub-ten Brauen empfing der Ordensmagier den Drakaner. Die Zornesfalten auf Fabans Stirn waren nach Halgrimms Meinung ein neuer Rekord. Wie immer völlig gelassen, überreichte Shanntak die Statuette. „Vielen Dank, Shanntak.“ Es klang nicht danach, als ob Meister Faban dankbar wäre. „Aber die Risiken für meine Person schätze ich ganz allein ein.“ Ausdruckslos entgegnete Shanntak: „Ihr habt nie einen so lautenden Befehl für Eure Person gegeben.“ „Stimmt“, grummelte Faban. „Und du hast wohlweislich nicht gefragt.“ „Ich ergriff etwas Eigeninitiative – ein Versuch, mich bei Euch einzuleben und meine neu gewonnene Freiheit zu nutzen.“ Obwohl Faban nicht wollte, musste er bei dieser Entgeg-nung lachen und gab sich geschlagen.

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Welt Tepor, Vierfürstentümer – Elfenreich, Grenzlande von Fen-A'Dor Der sanfte Nachtwind umspielte Blätter und Äste der Bäume, ließ Farn, Laub und Gras erzittern und erschuf damit die Melodie des Waldes. Nach dem vor Kurzem herabgefallenen Regenschauer duftete es herrlich frisch. Grillen zirpten ihr Abendlied, und Nachtfalter flatterten in Scharen durch die Luft. Weitere entfernte Tierlaute kündeten von dem reichhaltigen Leben in diesem Wald, der von der Stimmung so anders war als der im Süden angrenzende Moranion. Glücklich drehte sich Remar’entar im Kreis, um alles um sich herum aufzunehmen. Das war seine Heimat, dieses über Generationen nur sanft und vorsichtig veränderte Land liebte der Elf über alles. Freudig schwanzwedelnd umsprang ihn seine Windwölfin und schnappte verspielt nach den Schnürbändern seines grün und braun gefleck-ten Lederhemdes. Auch die Lederhose war in dieser Art gefärbt – die Tarnkleidung der Elfenkrieger. „Ruhig, Osipa, wir sind nicht zum Rumtollen hier!“ Sanft streichelte Remar’entar den Kopf der Wölfin, die sich vor ihn hockte und hoffnungsvoll zu ihm aufblickte. Viele der Grenzwächter besaßen diese schlanken, langbeinigen Raubtiere als Begleiter. Die Welpen wurden immer aus dem Wurf eines wilden Muttertieres genom-men und waren nicht gezüchtet, wie viele aus den an-deren Fürstentümern annahmen. Die Elfen von Fen-A'Dor wollten keine angepassten, domestizierten Arten wie den Hund der Menschen. Auch bei den Tieren, mit denen sie sich umgaben, strebten die Elfen an, sie so wenig wie möglich zu verändern.

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Geschickt rückte Remar’entar Köcher und Bogen auf seinem Rücken zurecht und orientierte sich. Es gab noch ein gutes Stück Weg, das er heute Nacht zurücklegen musste. Seit dem Streit mit den Menschen aus Estraend wurden die Grenzen zu dem Fürstentum der Menschen besonders kontrolliert. Es wunderte Remar’entar immer noch, wie es zu den Ausschreitungen kommen konnte. Seit je her war es bekannt, wie eifersüchtig sein Volk auf das Waldfürstentum achtete. Was war nur in die Bevöl-kerung von Estraend gefahren, sich auf einmal am Holz von Fen-A'Dor bereichern zu wollen? „Komm, wir müssen weiter!“ Gemächlich kratzte die Wölfin sich erst einmal mit einem Hinterbein am Hals, dann erst sprang sie auf und folgte ihrem Herrn. Eine Zeit lang wanderten sie über eine feuchte mit Pilzen übersäte Moosdecke, dann wechselte der Untergrund wieder und war mit Farn und Gras bewachsen. Am liebsten wäre Remar’entar in einen leichten Lauf gefallen. Ihm war danach, sich anzustrengen und seine überschüssigen Energien abzubauen. Leider war es dafür zu dunkel. Weder Mond noch Sterne erhell-ten die Nacht, und er wollte keinen verstauchten Fuß wegen einer übersehenen Bodenmulde riskieren. „Was ist, Osipa?“ Der Windwolf hatte die Ohren steil aufgerichtet und war stehen geblieben. In die gleiche Richtung wie sein Wolf blickend, versuchte Remar’entar etwas zu erkennen oder zu hören. Ein Klopfgeräusch durchdrang den Wald, kaum wahrnehmbar beim Wehen des Windes. Und wieder eins. Nein, es war eher ein Schlag, etwas, das auf Holz ein-schlug. Auf einmal lief Remar’entar los, und es war ihm egal, wie schlecht die Sicht war. Er konnte kaum glauben,

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was er da hörte. Wie konnten sie es wagen die Abma-chungen zu brechen! Die Schlaggeräusche wurden deutlicher und vermehrten sich. Die Wut Remar’entars steigerte sich. Ohne sich von peitschenden Ästen und Gestrüpp aufhalten zu lassen, eilte er auf den Krach zu. Erst als sein Wolf zu knurren anfing, wurde er wieder bedächtig. Eine befehlende Geste ließ die Wölfin verstummen, und er stoppte abrupt seinen Lauf. Mit flinken Fingern holte er einen Holztopf aus seiner Gürteltasche und öffnete ihn. Mit der schwarzen Paste, die das Gefäß enthielt, färbte er seine kurzen silbernen Haare und anschließend sein Gesicht. Ein weiteres Handzeichen bedeutete der Wölfin, ab jetzt zu schleichen. Mit steifem, angelegtem Schwanz duckte sich Osipa und folgte auf leisen Pfoten vorsichtig ihrem Herrn. Viele Pferdelängen krochen die beiden langsam vorwärts. Unvermittelt öffnete sich hinter einem Busch eine kreisförmige Lichtung, auf der viele gefällte Bäume lagen. Einige vermummte Gestalten bereiteten eine liegende Eiche am anderen Ende der Lichtung für den Abtransport vor, indem sie alle Äste abschlugen und Seile an ihr befestigten. Pferde standen bereit, den nächsten Stamm wegzuziehen. Weitere Personen, deren Gesichter ebenfalls mit Tüchern bedeckt waren, hieben mit Äxten ohne Unterschied auf alles am Rand der Lichtung ein, ganz gleich, ob es Büsche oder noch junge, nutzlose Bäume waren. Remar’entar drückte mit einer Hand auf den Rücken seines Wolfes, um ihn ruhig zu halten, und nahm das Bild der Verwüstung in sich auf. Da entdeckte er zu guter Letzt ein schwankendes Etwas in der Dunkelheit neben den Männern, die auf die Pferde aufpassten. An einem Seil hing mit dem Kopf nach unten ein regloser Körper.

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Darunter lag ein Fellbündel, aus dem sich undeutlich ein Wolfskopf abhob. Ein unbändiges Gefühl des Hasses stieg in Remar’entar empor. Sein Verstand wurde kalt und logisch, wie es die Elfen ihre Kinder von klein auf lehrten. Die Gefühle durften nicht zum Hindernis wer-den. Es gab jetzt nur eines, das wichtig war: so schnell wie möglich die nächste Siedlung zu warnen und anschließend Fürst Ascheriun zu berichten, was hier vorgefallen war. Langsam, sehr langsam zog sich Re-mar’entar auf allen vieren zurück. Gleichzeitig achtete er auf seine Wölfin, dass sie nicht zu guter Letzt einen verräterischen Laut von sich gab. Erst nachdem er die Schläge kaum noch vernahm, spornte er Osipa an, nach Hause zu rennen. Er würde sich eng hinter ihr halten, sie sollte ihm in der Dunkelheit ermöglichen, unbeschadet den gesamten Rückweg nach Hause zu laufen. Zwei Stunden nachdem Remar’entar sich zurückgezogen hatte, rief einer der Vermummten einen Befehl. Darauf-hin wurde das Baumfällen eingestellt, und nur noch die bereits vorbereiteten Stämme wurden weggezerrt. Die Mannschaft der Baumfäller verließ zügig den Wald. Am Rand des Forstes wartete eine männliche Gestalt auf die Arbeiter, verhüllt mit einem weiten Umhang, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Der Mann war in der Nacht nur deshalb zu sehen, weil er offen auf einem Weizenfeld stand. Dunkles Grau mit schwarzen Flecken auf der Kleidung hätten ihm dagegen bei einem dunkeln Hintergrund eine perfekte Tarnung gegeben. Der Anführer der Waldarbeiter ging auf den wartenden Mann zu. „Länger konnten wir es nicht riskieren zu fällen.“ „Wurdet ihr beobachtet?“

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„Ich hoffe doch. Aber sicher weiß ich es nicht. Die Elfen sind einfach zu gut auf ihrem eigenen Terrain. Es war nichts zu hören oder zu sehen.“ Der Schwarzgewandete nickte nachdenklich. „Den einen Wächter gestern haben wir nur gefangen, weil er arglos auf uns zugegangen ist. Wie auch immer, es ist egal, ob sie es schon heute Nacht oder erst morgen entdecken. Hauptsache, wir schaffen die Stämme noch vor dem Morgengrauen an den Rand von Estraend. Der Rest er-ledigt sich von allein.“ „Ich höre und gehorche, Nachtmeister.“ Der Schwarzgewandete ließ den vermummten Vorarbei-ter einige Schritte vorausgehen und folgte dann als Letzter in der Gruppe dem Zug von Arbeitern und Pferden. Alles war gut gegangen. Er hatte sich Sorgen gemacht, weil er nicht hier und in Flüsterstein zugleich sein konnte, um beide Operationen zu überwachen. Erst vor einigen Tagen war er in Estraend angekommen und hatte erfreut festgestellt, dass alles nach Plan gelaufen war. Einige der Städter hatten sich anstiften lassen, das nahe und kostenlose Holz aus dem Grenzgebiet der Elfen zu holen. Natürlich gab es dann Schlichtungsbemühungen, der Elfenfürst hatte sogar Friedensrichter bestellt. Mit dieser letzten Aktion heute Nacht sollten die Emotionen endgültig überkochen. Selbst wenn entdeckt würde, dass alles eine geplante Intrige war, der entstehende Konflikt würde Zeit kosten. Zeit, in der die Elfen ihre Krieger zur Sicherung im Elfenreich belassen würden, anstatt sie in andere Länder zu verlegen. Und Zeit bedeutete alles in einem Krieg.

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Welt Tepor, Moranion-Wald, Abusans Laboratorium Kev betrachtete neugierig das silberne Kunstwerk in Fabans Händen. Um Faban herum blickten Wotan, Hal-grimm und Oenothera ebenfalls gespannt auf die etwas unspektakuläre Figur. Sie war außergewöhnlich fein gearbeitet, soweit Kev das beurteilen konnte. Ein wirkli-ches Kunstwerk – wenn man denn auf Dämonen stand. Für ein machtvolles Artefakt, welchem so viele verschie-dene Dinge zugeschrieben wurden, schien es ihm aber nicht besonders spektakulär. Zugegeben, das Silber glänzte ungewöhnlich intensiv und strahlend, und selbst die kleinste Falte der ledernen Dämonenflügel war zu sehen. Aber das konnte es doch nicht schon sein? Kein Leuchten, keine Ehrfurcht gebietende Aura oder auch nur ein Vibrieren in der Luft. Kev war enttäuscht. Ein mehrfaches Räuspern erklang vom Zwerg, wie man es macht, wenn man eine Rede halten möchte. „Also, vielleicht ist es nicht wichtig“, brummte Wotan und achtete darauf, die Aufmerksamkeit von jedem gewonnen zu haben, „aber mir ist eine Legende eingefallen, die vielleicht etwas mit diesen Dämonenstatuetten zu tun hat.“ Unschlüssig fingerte Wotan an seiner Nase herum. Oenothera machte ein Gesicht, das ‚Nun leg endlich los‘ ausdrückte, und so begann er zögerlich seine Erzählung. „Eine alte Mär bei uns zu Hause erzählt von den Tränen der Behüter. Als die Behüter sahen, wie schlimm die Dämonen die Welt gestalteten, beschlossen sie den Krieg gegen ihre Brüder und vergossen bei ihrer Entscheidung bittere Tränen. Die Tränen sollen als reinstes Silber zu Boden gefallen sein und ein wenig der Leben spendenden Macht der Behüter in sich tragen. Wer sie findet,

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bekommt vielfaches Leben, und sein Schicksal wird sich bedeutsam verändern.“ „Vielfaches Leben?“, fragte Kev. „Was soll denn vielfaches Leben sein?“ Wotan machte eine unbestimmte Geste. „Eine seltsame Beschreibung, ja. Doch mit diesem Wortlaut wird sie weitergegeben, ohne weitere Erklärungen.“ „Und Du meinst, die silbernen Statuetten könnten diese Tränen sein?“, folgerte Halgrimm. Wotan zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? In den letz-ten Wochen haben sich so viele Dinge in den Legenden als Wahrheit herausgestellt. Ich traue mich kaum noch, etwas als Märchen abzutun. Die Tränen könnten zu diesen Dämonenfiguren verarbeitet worden sein.“ „Noch eine Geschichte über diese Dinger“, beschwerte sich Oenothera mit einem Schnauben. Ungehalten ver-schränkte sie ihre Arme. „Wer hat sich das nur alles ausgedacht? Was soll man denn jetzt glauben? Und bisher hat anscheinend keine der vielen Parteien, die diese Arte-fakte jagen, einen Beweis in eine Richtung gefunden.“ „Das finde ich nicht verwunderlich“, entgegnete Faban. „Ständig wurden die Figuren bewacht und versteckt. Von Anfang an waren sie über mehrere Welten verstreut, und niemandem gelang es bisher, alle zwölf zusammenzu-tragen.“ Das ließ Oenothera spöttisch aufschnauben. „Also weiß eigentlich keine Partei so genau, ob ihre erwünschte Version der Geschichte richtig ist!“ „Vielleicht stimmen die meisten oder gar alle der Legen-den, und die Artefakte besitzen mehrere Fähigkeiten“, gab Wotan zu bedenken. „Als ich mich an die Geschichte über die Tränen der Behüter erinnerte, dachte ich, wir

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sollten versuchen, den Segen der Tränen zu bekommen. Falls die Sage denn wahr ist …“ Ratlose Gesichter sahen den Zwergen an. „Wie soll das gehen? Nun, raus mit der Sprache!“, forder-te Faban. Nachdenklich strich sich Wotan mit der Hand über Mund und Bart. „Ich weiß es nicht. Einfach anfassen? Oder die Statuette anfassen und die Hüter um Hilfe bitten? Ein Versuch kann wohl nicht schaden.“ Wotan legte eine Hand auf ein Bein der silbernen Figur, die Faban immer noch leicht ausgestreckt zur Begut-achtung in der Hand hielt, und sah seine Gefährten auffordernd an. Sogleich schoss Halgrimms Hand nach vorn und legte sich neben die gräuliche Hand des Zwergs. Faban nahm mit einem Stirnrunzeln Halgrimms spontane Reaktion zur Kenntnis. „Nuuun, wir können jede Hilfe gebrauchen“, stimmte der alte Magier zu, klang aber zu-rückhaltend und ungläubig. Mit der Zustimmung Fabans berührten nun auch Shanntak und Oenothera das Arte-fakt. Als Letztes blieb Kev übrig, der noch immer zögerte. „Ich weiß nicht, ob ich noch einmal von Magie beein-flusst werden will. Das haben die Drakaner zu oft mit mir gemacht. Und ich bin mit meinem Leben, so wie es jetzt ist, zufrieden. Ich brauche kein bedeutsam verändertes Schicksal.“ „So musst du dich nun entscheiden, Kev der Wandler.“ Mit tiefer Stimme, fest und sicher, erklangen Wotans Worte. Zum ersten Mal empfand Kev, dass Wotan wie ein Kleriker sprach, der in das Innerste von jemandem blicken konnte. „Denn dein Leben hat sich in dem Moment, als du von diesem Artefakt und dem Krieg um

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die Artefakte erfahren hast, schon entscheidend verän-dert. Keiner von uns wollte diese Last. Du kannst nun entscheiden, ob du mit uns ziehst und helfen willst oder dich von uns trennst. Aber bleibst du bei uns, wirst du unweigerlich in diesen geheimen Krieg mit hineinge-zogen.“ Die verschiedensten Gefühle spiegelten sich in Kevs Antlitz wider, zeichneten den Kampf in seinem innersten Selbst auf das Gesicht. Zuletzt knurrte er ärgerlich auf und legte seine Hand ebenfalls auf das Artefakt. Der kleine Finger Oenotheras bewegte sich leicht und berühr-te wie aus Zufall seine Hand. Mit geschlossenen Augen begann Wotan ein Gebet. „Ihr Behüter, weise Diener des Schöpfers allen Lebens, ge-währt uns Hilfe und Kraft, das Gute zu bewahren und das Schlechte abzuwenden.“ Halgrimm beobachtete während des Gebetes seine Gefährten. Bis auf Kev blickten sie auf die versammelten Hände auf der Figur. Der Wandler sah unsicher zu Wotan und dann zu ihm. Es gab keine Fanfaren, keinen Donnerhall, nicht mal einen sanften Lufthauch. War da ein Kribbeln? Ja, definitiv war da ein Kribbeln in seinem Arm, weil er ihn so lange ausgestreckt halten musste. ‚Na ja, es war ein Versuch …‘, dachte Halgrimm. Ein Rascheln entstand, als einer nach dem anderen die Statuette losließ. Wotan öffnete die Augen. „Gut, von uns aus haben wir alles getan. Wir werden sehen, ob es eine Wirkung gibt.“ „Vielleicht gibt es auch keine Auswirkungen. Trotzdem war es gut, es zu probieren“, sagte Faban und steckte die Statuette in seinen schmalen Rucksack. „Das Artefakt haben wir, bleibt uns nur noch, diesen Ort nun endlich zu verlassen.“ Traurig ging sein Blick zur Bibliothek. „Vor-

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her bleibt uns allerdings eine bittere Pflicht. Alles, was wir nicht mitnehmen können, müssen wir zerstören.“ Halgrimm trat zu seinem Lehrer und versuchte ein wenig Trost zu spenden. „Wir werden so viele Schriftstücke einpacken, wie es nur geht.“ Dankbar lächelte Faban Halgrimm zu. „Also, dann lasst uns die aussortierten Rollen aufteilen und einpacken. Kev, nimmst du bitte die Landkarten an dich?“ Zügig machten die Flüstersteiner sich an die Arbeit, und die Grabesstille der Halle füllte sich mit Geraschel und Gerede. Viele der Landkarten von anderen Welten wur-den ausgewählt, dazu Schriften über die fremden Land-schaften, Informationen über fremdartige Wesen und Völker sowie Abusans Tagebuch. So nahm das Gepäck jedes Einzelnen schnell gewichtige Ausmaße an. Zu ihrem Glück gab es einige Schriftrollenbehälter in den Regalen, die sie für den Transport verwenden konnten. Halgrimm schlug seinem Meister nebenbei vor, das ein-zige Zauberbuch Abusans, welches sie gefunden hatten, mit in sein Gepäck aufzunehmen. Faban lehnte ent-schieden ab und steckte es selber ein. Es sei besser, meinte der alte Magier, wenn Halgrimm nicht wieder in Versuchung geführt würde, es zu lesen. Die Mitnahme von Gepäck hatte ihre Grenzen, insbe-sondere wenn man zu Fuß eilig ein Ziel erreichen wollte. Das war Faban nur zu deutlich bewusst. Schweren Her-zens beendete der Großmeister das Einpacken weiterer Schriftstücke. Als Nächstes durchsuchte die Gruppe noch einmal akribisch das gesamte unterirdische Versteck und began-nen mit dem Schlafzimmer Abusans. Decken und Kissen sowie die Matratze wurden aufgeschlitzt und Kisten zer-schlagen, um ja nichts zu übersehen. Die mürben Stoffe

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rissen schnell, und sie ernteten als einziges Staub und Federn. Auch der Thronraum, die Knochenkammer und die Gorlachgrube wurde ein weiteres Mal untersucht. Das Einzige, was sie vorfanden, war Stille und Verlassenheit. Und den schlimmen Geruch, als sie den Treppenschacht durchschreiten mussten, den sie zu ihrem Abort gemacht hatten. Nach etlichen Stunden kehrten die Gefährten zur Biblio-thekshalle zurück. Die Mägen knurrten, und sie waren müde, als sie wieder bei ihrem Lager beim Kartentisch angelangten. „So weit, so gut …“, ächzte Faban und lehnte sich gegen die Kante des weitläufigen Tisches. „Jetzt bleibt nur noch der Akt der Zerstörung.“ Shanntak überblickte die vollen Regale der Bibliothek und meinte: „Die beste und die einfachste Methode wäre, alles zu verbrennen. Dann müssten wir den Ort allerdings sicher verlassen können, sonst ersticken wir hier in den Rauchschwaden.“ Angestrengt rieb sich Faban die Stirn, seine Augen waren geschlossen. „Das Dumme ist, dass wir nicht einfach ausprobieren können, ob das Weltentor funktioniert, be-vor wir hier Feuer legen. Nachher kommen wir durch irgendwelche Umstände nicht zurück, und das will ich auf keinen Fall riskieren. Ich bin mir sicher: Früher oder später wird ein drakanischer Suchtrupp diesen Ort finden. Aber ich gebe dir recht: Verbrennen ist die einzig sichere Methode, die Schriften nachhaltig zu vernichten.“ „Wir können heute sowieso nicht mehr losziehen, wenn wir das alles noch zu einem Haufen zusammentragen wollen. Das Feuer legen wir morgen!“, knurrte Wotan missgelaunt und steckte die Hände hinter seinen Gürtel. „Wir sollten nichts überstürzen. So können wir uns noch

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mal das Tor genauer ansehen und sind ausgeruht, wenn wir es beschreiten.“ „Einverstanden“, stimmte Faban zu. „Dann mal los! Die Regale können wir einfach umwerfen. Wenn Kev uns als Bär hilft, brauchen wir dafür nicht lange.“ „Für eine Verwandlung fühle ich mich zu ausgelaugt. Das kostet mich zu viel Kraft, und wir haben seit Tagen kaum etwas gegessen. Ich fürchte, wenn ich mich jetzt in eine andere Gestalt begebe, falle ich vor Erschöpfung und Hunger einfach um.“ Gutmütig klatschte Wotan gegen Kevs Bein. „Dann werden wir mit deinen echten Muskeln vorliebnehmen.“ Nachdenklich krauste sich die Stirn des Zwergen. „Es sind doch deine echten Muskeln, oder?“ Kev lächelte und ging auf die Regale zu, die wissbe-gierigen Blicke seiner Freunde ignorierend. „Kommt schon, es gibt noch einiges zu tun!“ „Hey, ist das nun dein echter Körper oder nicht?“ Kev war mittlerweile beim ersten Regal angelangt und drückte probehalber dagegen. Es war die einzige Ant-wort, die Wotan erhielt.

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Welt Tepor, Robbenmeer – nördlich vom Kontinent Solandra Die üblichen Ost-Frühlingswinde bliesen stark und be-ständig. Das graublaue Wasser des Ozeans wurde von ihnen zu kräftigen, schäumenden Wellen aufgetürmt. Möwen und Tauchgänse stürzten sich furchtlos in die wogenden Fluten, schwangen sich mit ihrer Beute wieder in die Lüfte empor und landeten anschließend zum Ruhen auf den Rahen der vielen Schiffe, die sie seit Tagen begleiteten. Die drakanische Flotte kam bei diesem idealen Wetter gut voran. Die aufgeblähten Segel der hundertzweiundneunzig Kriegsgaleeren standen hart im Wind und füllten weithin sichtbar den Horizont. Auf dem Bug des Flagschiffes stand Hoch-Urkorr-gaan Grontabar grimmig neben dem Kapitän des Schiffes. Hinter ihnen ragte fest verschnürt ein drehbares Katapult auf, das auf drakanischen Kriegsgaleeren üblicherweise vorn angebracht war. Der Kapitän trug eine schwere Öljacke über seinen dicken Wollkleidern und war damit wesentlich zweckmä-ßiger gekleidet als Grontabar in seiner edlen Robe. Genau wie Grontabar stammte der Schiffsführer von einem zwergischen Volk ab, jedoch von einem Klan, der in einem bergigen Küstengebiet lebte und die See in sein Leben integriert hatte. Mit einem einfachen Fernrohr suchte der Kapitän die Küstenlinie im Süden ab, ohne bei dem Auf und Ab des Schiffes aus dem Gleichgewicht zu geraten. Dabei half ihm der untersetzte, schwere Körperbau der Zwerge auf kurzen Beinen, der es auch Grontabar mit seiner man-

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gelnden Erfahrung ermöglichte, einigermaßen sicher auf den Beinen zu bleiben. Herrisch stemmte Grontabar seine Hände in die Hüften und starrte ebenfalls nach Süden. Durch einen diesigen Dunst konnte man mit bloßem Auge gerade noch den Schemen einer Steilküste erkennen. „Also, wo sind wir, Barrtor? Wie lange wird diese unerträgliche Fahrt noch dauern?“ Kapitän Barrtor nahm augenblicklich das Fernrohr herunter und verbeugte sich vor dem Urkorr. „Wir lassen gerade die Felmongebirgskette hinter uns, Herr. Bis zu den Küsten der Vierfürstenländer sollten es bei diesem Wind nur noch sieben bis neun Tage sein.“ Salzige Gischt spritzte über die Reling und benetzte die beiden Zwerge. Die Miene Grontabars verfinsterte sich zusehends, als er sich den feucht gewordenen Bart ab-wischte. „Noch sieben weitere Tage in diesem Elend. Bis dahin ist auch der letzte meiner Krieger seekrank. Sogar die Namenlosen liegen danieder. Wie haltet ihr See-männer das nur aus?“ „Es ist Gewöhnungssache, mein Heerführer. Nichts weiter.“ „Für eine Eingewöhnung ist es jetzt zu spät. Bei den Tiefen der Erde, wenn wir auf See kämpfen müssten, würden wir jämmerlich versagen.“ Man sah Grontabar an, dass er am liebsten etwas zer-stören würde. Jäh wurde Barrtor bewusst, dass er gerade die alleinige Person war, die sich erreichbar in der Nähe des Urkorrs befand. Er sollte besser schnell etwas sagen – irgendetwas Beruhigendes. „Sobald sie festen Boden unter den Füßen haben, Herr, wird es ihnen schnell wieder besser gehen.“

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Es kam keine Antwort, keine Reaktion. Der Blick seines Heerführers schien plötzlich abwesend oder eher auf einen Punkt vor sich gerichtet. Als Barrtor ein schwarzes waberndes Etwas vor dem Heermeister erblickte, schrak er stolpernd zurück. „Was ist, Barrtor? Hat dich ein Wellental überrascht?“ Gleichmütig betrachtete sein Heerführer Barrtor, als hätte er selbst den Schatten vor sich nicht gesehen. Und da war auch kein Schatten. Was war nur los mit ihm? Ein Frösteln überkam den Zwergenkapitän, ein Frieren, wel-ches mehr im Inneren zu spüren war und nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Vielleicht wurde er krank. „Verzeiht, Hoher Urkorr-gaan. Ich habe wohl ein Schwanken des Schiffes nicht richtig eingeschätzt.“ „Wir brauchen unverzüglich einen Flaggenmelder. Und unser Schiff soll sich an die Spitze der Flotte setzen. Ruderer an die Riemen! Jetzt sofort!“ Dieser unerwartet ausgesprochene Befehl überrumpelte Kapitän Barrtor, und sein Mund klappte auf. Diese Urkorrs hatten doch immer irgendwelche Mätzchen auf Lager, mit denen sie sich wichtig machten. Natürlich wollte der Heermeister seinen Willen augenblicklich erfüllt bekommen, wie immer bei einem Urkorr. Barrtor stampfte gereizt zu der nächsten Schiffsglocke, die an einem Seil vom kleinen Vordermast des Schiffes hing, und ließ es kräftig bimmeln. „Ruderer an die Riemen!“, dröhnte sein Zwergenbass wie eine Posaune über das Deck. „Alle Ruderer an die Ruder! Steuermeister, der Flaggenmelder soll zu mir kommen, und zwar schnell, wenn er nicht hinterherschwimmen will! Und bringt die schlafenden Faultiere auf Trab!“ Der angesprochene Schiffsoffizier in der Mitte des Schif-fes klopfte sich als Zeichen, dass er verstanden hatte, an

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die Brust. Gleich darauf brüllte er aus Leibeskräften Befehle durch eine Luke ins Innere des Schiffes. Es dauerte nicht lange, da wimmelte es auf dem Deck von Matrosen und Soldaten, die laut ihre Plätze an den Ruderbänken einnahmen. Jeweils zu viert wurde eine der langen Ruderstangen aufgenommen, die an der Schiffs-wand entlang aufgestapelt waren, und durch ein Loch in der Bordwand gesteckt. Unter Deck geschah das Gleiche auf einer zweiten Ebene. „Ziiiiiiiieht an!“, rief der Steuermeister. Vierzig Ruder auf jeder Seite wurden zugleich in das Wasser gestoßen. Die Männer zogen die Stangen kräftig an sich heran, und man spürte einen kaum wahrnehm-baren Ruck durch den Schiffsrumpf gehen. Ein Soldat mit einem Stab in den Händen, an dessen Ende ein eisernes Gewicht angebracht war, stellte sich in der Mitte des Schiffes auf. Mit ruhigen Schlägen stieß er den Stab auf die Planken und erzeugte so einen gleichmäßigen Takt, der durch das ganze Schiff dröhnte. Die Ruderer unter Deck konnten sich ebenso gut an den vorgegebenen Rudertakt halten wie die Männer auf dem Oberdeck. Ein junger Mann in Ölzeug und mit mehreren bunten Flaggen in den Händen kam auf Barrtor zugerannt. Es war noch ein halber Junge, dem gerade mal ein leichter Bartflaum um Mund und Kinn sprieß. Nervös verbeugte er sich gleich zweimal vor dem Hoch-Urkorr-gaan und noch einmal vor dem Kapitän. „Schon gut, Pev“, beruhigte ihn Barrtor. „Du bist schnell genug gekommen.“ Mit einem fragenden Gesichtsaus-druck zu Grontabar grummelte der Kapitän weiter: „Hör gut zu, was der Heermeister von dir möchte!“

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Der strenge fixierende Blick Grontabars ließ den jungen Mann wie einen Hasen vor der Schlange erstarren. „Signalisiere den vordersten Schiffen, sie sollen nach einem kleinen Schiff, einem Fischerboot, Ausschau hal-ten. Sofort!“ Pev zuckte zusammen und schoss zum Hauptmast davon. Gelenkig wie ein Affe kletterte er an den Halte-seilen den Mast hinauf zum Ausguck und verschwand hinter Segelleinwand. Zufrieden schaute Barrtor ihm beim Aufstieg hinterher. „Herr, wieso wollt ihr auf einmal an die Spitze der Flotte? Es ist nicht der sicherste Platz. Nicht dass ich an Euren Mut zweifle …“ Der Hoch-Urkorr-gaan hatte sich abgewandt und starrte mit zornig gekrauster Stirn nach vorn. „Wir sind zu langsam.“ Bei einem solchen Ausdruck im Gesicht wusste Barrtor, dass es nur eine Reaktion gab: sofort zu handeln. „Takt verdoppeln! Legt euch in die Riemen! Pullt, pullt! Strengt euch an, oder wollt ihr, dass unser Heermeister glaubt, hier wären nur Waschweiber auf dem Schiff?“ Das Klopfen erhöhte sich, und mit ihm das Knarzen der Ruder und das Ächzen der Männer. Langsam schob sich das Flaggschiff an einer Galeere an Steuerbord vorbei und nahm noch mehr Fahrt auf. Abwartend stellte sich Barrtor etwas seitlich hinter dem Heermeister auf. Grontabar drehte ihm kurz den Kopf zu. „Waschweiber, soso …“ Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht. Es verblasste, und schon richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn. „Wir müssen weiter nach links.“ Barrtor fragte nicht nach, woher Grontabar sein Wissen nahm, wohin sie steuern sollten, ohne dass der Ausguck

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etwas gemeldet hatte. Die Stimmung des Urkorrs war ihm zu düster, und schon seine zuvor gestellte Frage war nicht beantwortet worden. Stattdessen schaute er mit nach vorn und versuchte zu erkennen, was den Heermeister so beunruhigte. Der Seegang war rau, aber nicht gefährlich. Anzeichen für einen Sturm waren nicht zu sehen. Das Flaggschiff hatte sich im vorderen Drittel der Flotte befunden, und so konnte Barrtor an den ersten Schiffen vorbeisehen. Mit seinem Fernrohr suchte er das Meer vor der Flotte ab, entdeckte aber nur das eintönige Wogen der Wellen. Wo sollte dieses Fischerboot sein? Bei den vielen Ausguckwachen der ganzen Schiffe konnte sich Barrtor nicht vorstellen, das noch niemand das fremde Boot entdeckt hatte. Er fragte sich, ob sie einer Laune nachgingen. Das Flaggschiff setzte sich nur langsam in Richtung Küste von der Flotte ab, obwohl sich die Schiffsman-nschaft an den Rudern gewaltig anstrengte. Ungeduldig tappten die Finger Grontabars auf das Holz der Reling, während die Minuten verstrichen. „Verdammt!“, fluchte Grontabar und stemmte sich gegen die Reling. „Barrtor, wir müssen links abdrehen, direkten Kurs auf die Küste!“ Barrtor brüllte die entsprechenden Befehle seinem Steu-ermeister zu und suchte dann irritiert ein weiteres Mal das Wasser ab. Dort draußen war kein Boot. Mittlerweile war das Flaggschiff allein. Der Kurs hatte es deutlich von der Flotte entfernt, die hinter ihnen Rich-tung Westen vorbeizog. „Die Schlagzahl erhöhen!“, forderte Grontabar. Wie ein Adler, der seine Beute nicht mehr aus den Augen ließ, stierte er nach vorn auf das Wasser.

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Barrtor konnte seinen Widerwillen nicht unterdrücken, der sich deutlich auf seinem groben Zwergengesicht abzeichnete. Zum Glück sah sein Heermeister woanders-hin und bemerkte nichts. Aber einem Hoch-Urkorr-gaan widersprach man nur, wenn man seines Lebens über-drüssig war. „Taktzahl erhöhen! Gebt noch einmal alles, Männer!“ „Das vordere Katapult und die Ballistengeschütze laden!“ Der Kapitän erstarrte kurz bei diesem Befehl von Gron-tabar, fing sich aber sofort und rief: „Geschützgruppen an die Maschinen! Klarmachen zum Kampf!“ Weitere Seemänner kamen über die Zugangsluke nach oben, und es wurde vor lauter Leuten wahrlich eng auf Deck. Wenige Dutzend Herzschläge später meldete eine Geschützgruppe nach der anderen, dass sie geladen hatte. Überdimensionale Speerpfeile mit breitem Pfeilkopf ruh-ten auf den armbrustartigen Maschinen. Im Geschoss-teller des Katapults lag eine feucht glitzernde Tonkugel, und ein Soldat neben dem Wurfarm hielt eine Fackel bereit. Es erfüllte Barrtor mit Stolz, wie schnell seine Mannschaft die Maschinen klargemacht hatte, und das Einzige, was nicht stimmte, waren die verwirrten Blicke seiner Männer. Die sahen nämlich, genau wie er selbst, auch keinen Gegner, auf den man schießen könnte. Grontabar ging zum Katapult und deutete mit seiner Hand eine Richtung rechts vor dem Schiff an. „In diese Richtung feuern! Entfernung achtzig Pferdelängen!“ Beim ersten Anzeichen von Zweifel brüllte Grontabar die Geschützmannschaft an: „Jetzt! Sofort!“ Wiedernatürlich laut hallt der Befehl über das Deck und ein unerklärliches Echo seiner Stimme lag in der Luft. Voller Schrecken führten die Seesoldaten seinen Befehl aus. Während zwei das Katapult ausrichteten, zündete der

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dritte die Tonkugel an. Der Haltebolzen wurde wegge-schlagen, der Wurfarm zischte nach vorn und schleuderte die brennende Kugel auf das Meer hinaus. Als die Kugel auf das Wasser krachte, zerplatzte sie und verspritzte ihren flüssigen Inhalt. Das Brandöl entflammte, breitete sich aus und hinterließ einen feurigen Teppich auf dem Wasser. „Die nächste Kugel etwas weiter in diese Richtung!“, forderte Grontabar und zeigte erneut mit dem Arm an, wohin das Geschoss gehen sollte. Diesmal taten die Soldaten ohne zu zögern, was er wollte. Seine Machtdemonstration hatte ihnen genügend Angst eingejagt, um jeglichen Widerspruch zu brechen. Ein zweites Tongeschoss wurde verschossen, platze auf dem Wasser auf und bildete einen weiteren Feuerkreis. Barrtor traute seinen Augen nicht. In der Nähe des zweiten Feuers wurde das Wasser seltsam aufgewirbelt. Ein Schimmern entstand über dem Wasser, Farbkleckse bildeten sich mitten in der Luft und fügten sich zu Ein-heiten zusammen. Eine einfache Brigg schälte sich aus dem Nichts. „Was? Wie ist das möglich?“, stöhnte Barrtor. „Der Urkorr hat sein Trugbild aufgegeben“, gab Gront-abar gnädig eine Erklärung ab. „Lass das Boot versenken! Sorg dafür, dass niemand überlebt!“ Barrtor riss sich aus seinem Staunen heraus und verbeug-te sich tief vor seinem Heerführer. „Ich höre und gehorche!“ Laut brüllend begab sich der Kapitän dann in die Mitte des Schiffes: „Steuermeister, sagt dem Kut Or, wir brauchen seine Krieger an Deck. Ballistengeschütze, erst auf das Segel feuern, die zweite Salve geht auf die Wasserlinie der Schiffswand. Wenn sie keine Fahrt mehr machen, klarmachen zum Entern.“

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Grontabar entspannte sich, während es auf der Galeere hektisch wurde und sich der letzte Raum auf Deck mit drakanischer Infanterie füllte. Er hielt sich bereit und achtete auf ein Anschwellen von arkaner Macht. Der gegnerische Urkorr konnte mit einem Zauber noch gefährlich werden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er bei dem großen Trugbild, welches er so lange über das Boot gelegt hatte, noch Kraft für einen Zauber besaß, aber man wusste nie. Der Graue Turm hatte also doch eine Wache aufgestellt. Diese Patrouille würde niemanden mehr warnen! Die Vierfürstentümer blieben ahnungslos, wie nahe ihnen eine Invasion von See aus bevorstand. Wenn sie das Fürstentum der Gnome überraschen konnten, standen die Chancen nicht schlecht, diese Anarchisten endlich in die Knie zu zwingen.

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Welt Tepor, Moranion-Wald, Abusans Laboratorium Wotan murrte vor sich hin, als er erneut die Zeichen betrachtete, die den Kreis des Weltentores umgaben. Nicht weit entfernt schritt Faban mit verkniffenem Mund einen Teil des Kreises ab und suchte nach neuen Er-kenntnissen. Halgrimm stand etwas abseits und hoffte, von den beiden übellaunigen Gefährten nicht weiter beachtet zu werden. „Bei den Tiefen der Erde, ich verstehe nichts. Diese Symbole sind mir ein Rätsel“, beschwerte sich der Erdenbewahrer. „Es tut mir leid, Meister Faban. Ich bin Euch leider keine große Hilfe.“ „Ich bin mir selbst keine große Hilfe“, kam es ärgerlich von Faban. „Wir sind jetzt mehrere Stunden dabei und haben nicht einmal die kleinste Idee, wie das Weltentor benutzt werden muss.“ Faban verschränkte seine Hände hinter den Rücken und hörte auf, den Boden abzusuchen. „Wir erreichen hier nichts. Davor habe ich mich gefürchtet. Jetzt müssen wir es riskieren, das Tor auf das Geratewohl zu benutzen – nachdem wir das Feuer gelegt haben.“ Wotan schaute zur anderen Seite der Halle, wo Shanntak, Kev und Oenothera den Holz- und Bücherhaufen, den sie gestern zusammengeworfen hatten, mit dem letzten Lampenöl der Gruppe übergossen. Alles, was sie in der Halle vorgefunden hatten, türmte sich nun zu einem Berg auf. Kein Büchergestell stand mehr, ebenso waren der Kartentisch und die ihn umgebenden Regale mit all ihrem Inhalt beiseitegeräumt worden. Nackt, leer und kalt war nun der mittlere Bereich der Halle. Mit dem Verteilen des Öls hatten sie aus Sicherheitsgründen bis zum Schluss

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gewartet. Vor einer Viertelstunde hatte Meister Faban frustriert verkündet, dass es an der Zeit wäre, es auszu-bringen. „Es wird funktionieren“, sagte Halgrimm zuversichtlich, als er zum Erdenbewahrer trat. „Wir haben doch schon erkannt, dass die Weltentore für jeden zugänglich sein sollen.“ „Recht so, Halgrimm!“ Wotan schlug Halgrimm wohl-wollend auf den Rücken, was sein Kettenhemd zum Erklingen und Halgrimm zum Stöhnen brachte. „Die Behüter und der Schöpfer werden uns zur Seite stehen!“ Bei diesen Worten verzog Halgrimm ungläubig sein Gesicht. Es waren die üblichen Worte eines Klerikers, und wäre es nicht Wotan, der sie aussprach, hätte Hal-grimm ihnen keinerlei Beachtung geschenkt. „Hey da, wie lange braucht ihr noch?“, dröhnte der Bass des Zwergs durch die Halle. „Wir sind fertig!“, antwortete Kev. „Dann kommt! Wir werden es jetzt versuchen.“ Die Gefährten trafen sich bei den Rucksäcken, die sie hinter dem Weltentor an der Wand gelagert hatten. Jeder schulterte seine Last, und gemeinsam gingen sie vor den Symbolen in einem Halbkreis in Aufstellung. Shanntak entzündete eine Fackel, die er aus einem Holzbein und einem öldurchtränkten Tuch erstellt hatte. Faban hob seine Hand. „Jetzt, Shanntak!“ Der Krieger ging los und legte an verschiedenen Stellen des aufgeschichteten Haufens Feuer. Erst nachdem fünf Brandherde aufflackerten, war Shanntak zufrieden und rannte zur Gruppe zurück. Als sie wieder vollständig waren, ermahnte Meister Faban alle: „Wenn wir gleich in das Innerste des Kreises treten, denkt alle an unsere Welt. Erdenbewahrer Wotan und ich

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sind darüber übereingekommen, es so zu versuchen. Denkt an nichts anderes, nur an unseren Zielort, an Flüsterstein in Solandra. Verlassen wir diesen Ort!“ Wotan zählte an: „Drei, zwei, eins …“ Zeitgleich überschritten alle sechs den Rand des Kreises. ‚Denk an Flüsterstein!‘, versuchte Kev sich zu konzentrie-ren. ‚Nein, nicht an Oenothera. Flüsterstein, Solandra, Flüster-stein, Solandra.‘ Als helles Licht seine geschlossenen Augenlieder durch-drang, öffnete er sie. Die Zeichen und Bilder des Welten-tores erstrahlten in verschiedensten Farben. Alle seine Freunde befanden sich am inneren Rand des Kreises und wurden von dem wechselnden Lichterspiel hell erleuch-tet. ‚Flüsterstein.‘ Die Luft fing an zu wabern; das Atmen fühlte sich schwer an. Die verschlungenen Ellipsen im Inneren des Kreises begannen, sich umeinander zu bewegen. Ein schwarzer Riss entstand im Mittelpunkt, zog sich vom Boden in die Höhe. Rasend schnell klaffte er auf und gab einen Blick in die Unendlichkeit des Kosmos frei. ‚Bei allen guten Mächten – Flüsterstein!‘ Das sich erweiternde Loch erreichte Kev und seine Freunde, verschlang sie, zog sie in die Weite der Unendlichkeit hinein. Eine instinktive Angst stieg in Kev empor, die er kaum zu bändigen wusste. Er fühlte sich von einer unglaublich Kraft mit entsetzlicher Geschwin-digkeit fortgezogen, aber er konnte in der absoluten Finsternis nicht ausmachen, ob er sich tatsächlich be-wegte. Trieb er erst seit einigen Herzschlägen oder schon seit Stunden in der Dunkelheit herum? Er dachte kurz an

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sein Volk und den innigen Wunsch, es aufzusuchen, andere, die wie er waren, kennenzulernen. In seinem Geist stieg auf einmal ein Bild herauf. Kev hatte sofort die Gewissheit, eine Vision zu haben. Um in herum war immer noch absolute Schwärze, aber in seinem Geist hatte er Farben und Licht vor Augen. Es war, als wäre er in einem kaum erhellten Raum. Etwas behinderte seine Sicht, so als würde er durch einen dichten Schleier sehen. Ein Schemen, ein Schatten war ihm gegenüber. Oder waren es mehrere? Er kniff seine Augen zusammen, konnte aber nicht deutlicher erkennen, was da vor ihm war. Plötzlich spürte er wieder festen Boden unter den Füßen, und er stürzte. Seine Vision war verschwunden, stattdes-sen erblickten seine Augen wieder feste Realität. Sie waren angekommen. ‚Flüsterstein? ‘ Kalte Luft umwehte ihn. Es war dunkel. Nicht wie zuvor absolut lichtlos, sondern wie in einer hellen Mondnacht. Sand und Steine füllten das Blickfeld des Wandlers. Kev erhob sich und hörte das Keuchen seiner Gefährten. Es waren alle angekommen und nur leicht von der Wirkung des Weltentores benommen. Erleichtert wandte er sich seiner Umgebung zu. Sie standen in einer kleinen runden Halle, der Boden mit rötlichem Sand verstaubt und mit Gesteinsbrocken über-säht. Eine Kuppel umschloss den Raum, gebaut aus groben Steinquadern. In der Decke gähnte ein Loch, durch das sich sanftes Licht in die Halle ergoss. Hinter ihnen war im Steinboden ein Kreis aus Zeichen, Bildern und Ellipsen eingraviert, genau in der Mitte der kreisrun-den Halle. Alles sah dem Weltentor in Abusans Versteck recht ähnlich. Als er über das Bildnis am Boden hin-

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wegsah, entdeckte er auf der anderen Seite eine breite Toröffnung. In den leeren Angeln hatte wohl einst ein Tor gehangen, nun aber konnte der Wind ungehindert hineinwehen. Über dem Tor stand groß und breit ein einzelnes Wort in den Stein gemeißelt. „Ist das kalt hier!“, beschwerte sich Oenothera. „Wir müssen ziemlich weit im Norden von Solandra gelandet sein.“ Kev deutete zum Wort über dem Tor und fragte: „Dort steht etwas. Ist es vielleicht wichtig?“ Alle blickten hoch, Oenothera aber war es, die es laut vorlas: „Ignis.“ „Aha. Bedeutet dieses Wort etwas?“ wollte Kev wissen. „Mir ist es nicht bekannt.“, antwortete Oenothera und sah zu Meister Faban. „Leider kann ich mit diesem Wort nichts in Verbindung bringen.“, entschuldigte sich der alte Meister. „Aber lasst uns erst mal nach draußen gehen, bevor wir neue Geheimnisse ergründen.“ Entschlossenen Schrittes ging Faban zum einzigen Ausgang, und seine Gefährten folgte ihm dicht auf. Sie traten aus der Halle hervor und wurden von einer eindrucksvollen Landschaft empfangen. Hohe Dünen aus rötlichem Sand umgaben sie bis zum Horizont, hier und da von großen natürlichen Felssäulen unterbrochen. Die Halle selbst stand auf einem solchen Felsmassiv, und sie hatten durch ihren erhöhten Standpunkt einen weiten Blick in die Landschaft. Die Luft war klar und trocken, der Himmel wolkenlos und voller Sterne bis zum Hor-izont. Eine rote Wüste offenbarte sich ihnen in all ihrer Pracht.

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„Das ist nicht gut.“ Oenothera hatte aus ihren Rucksack eine Landkarte hervorgeholt. „In Solandra gibt es nur eine Wüste, und die ist weit im Südosten.“ „Es ist viel schlimmer“, kam es gequält von Halgrimm, der in den Himmel zeigte. „Wir sind nicht auf Solandra, nicht mal auf unserer Welt Tepor …“ Sein drahtiger Arm wies direkt auf die drei Monde, die klar und deutlich über ihnen standen. Majestätisch segelten einige fremdartige Nachtvögel mit seltsam langen Flügeln vor den Gestirnen und vervollständigten das Bild der Fremdartigkeit. Entsetzt sahen sich die Gefährten an. Nur Shanntak blieb stoisch ruhig und betrachtete den Himmel ohne Regung. Völlig außer sich verlangte Halgrimm: „Wir müssen sofort wieder zum Weltentor!“ „Nein!“ Nun sahen alle zu Faban, der so energisch Hal-grimms Vorschlag abgelehnt hatte. „Begreift ihr denn nicht? Wir haben keinerlei Einfluss darauf, wo wir das nächste Mal landen werden. Wir verstehen offensichtlich nicht, wie man ein Weltentor benutzt. Es könnte uns an einen viel gefährlicheren Ort als diesen hier verschlagen. Was ist, wenn wir auf der Ozeanwelt landen, und das Tor ist unter Wasser? Wir brauchen Hilfe.“ Halgrimm stammelte: „Aber … aber wir müssen doch unsere Leute vor der Invasion warnen, von der Shanntak vermutet, dass sie stattfinden wird. Und in dem bevor-stehenden Krieg werden die Vierfürstentümer das Wissen aus Abusans Zauberbuch brauchen, das ich in mir trage. Wir haben keine Zeit!“ „Ich weiß. Es tut mir leid, Halgrimm. Es macht jedoch keinen Sinn, ohne Verstand immer wieder die Weltentore zu benutzen.“

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„Trollkacke!“ Oenothera stellte sich an die Seite von Halgrimm. Kev ahnte bei ihren blitzenden Augen, dass sie gerade für eine ruhige Aussprache nicht zu haben war. „Es ist mir egal, wie gefährlich es sein könnte, Meister Faban. Wir haben keine Zeit, um jahrelang zu forschen oder jemanden in ein paar Wochen zu finden. Wenn Shanntak recht hat, und ich glaube ihm, dann sind schon alle Heere des Drakanischen Imperiums unterwegs. Und ihr wisst, wie stark ein Heer von Namenlosen ist! Es wird die Vierfürstentümer bald nicht mehr geben. Wir müssen es wenigstens versuchen!“ „Diese Diskussion ist nicht mehr nötig“, unterbrach Shanntak den Disput. Irritiert sahen ihn Faban, Oeno-thera und Halgrimm an. „Wie bitte?“ Mit einer fließenden Bewegung zog Shanntak sein Schwert. „Wir sind umstellt!“ Sie blickten sich um und sahen Sand, einige Nachtvögel, Steine und die Steinkuppel, aus der sie gekommen waren. „Ist alles in Ordnung, Shanntak?“, fragte Wotan fürsorg-lich. „Ich habe gar nicht bemerkt, wie du dir den Kopf gestoßen hast …“ Kev hingegen vertraute Shanntaks Fähigkeiten und kon-trollierte noch einmal ihre Umgebung. Um sie herum hatten sich unbemerkt einige der Vögel niedergelassen, die sie am Nachthimmel gesehen hatten. Immer mehr landeten und bildeten einen Kreis um sie. „Wir sind umstellt“, wiederholte Shanntak auf Wotans Bemerkung. Seine Augen bekamen einen gefährlichen Glanz. „Die Vögel …“, raunte Oenothera ihren Freunden zu. Ihre Körperhaltung spannte sich, und mit der Anmut einer Tänzerin zog sie ihre Waffen.

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Bei Oenotheras Warnung zerflossen die Körper der Vögel. Hälse wurden dicker, die Schnäbel zogen sich zurück, die Köpfe wurden größer. Aus Flügeln und Vogelbeinen wurden drahtige Vorder- und Hinterläufe. Das Gefieder wandelte sich in struppiges Fell um. Kurz darauf waren sie von löwengroßen hyänenartigen Raub-tieren umgeben, deren kräftige Kiefer knurrend auf-gerissen waren. Zwischen ihnen erhob sich ein Mann mit dunkelbrauner Hautfarbe. Seine Kleidung bestand nur aus einem ärmellosen Hemd und einer Hose aus weißem Leder. Er hob die Hand zum Gruß. „Fremde, im Namen der Bruderschaft des Blutes nehme ich euch gefangen!“ Scharf holte Faban Luft, Oenothera dagegen keuchte leise auf. Halgrimm sah ruckartig zu seinem Meister, be-vor er den Impuls sich umzuschauen unterdrücken kon-nte. „Ah, ich sehe an euren Reaktionen, dass ihr von der Bruderschaft des Blutes gehört habt. Das kann nur eines bedeuten – und das wiederum ist sehr schlecht für euch …“

Ende des ersten Buches

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Glossar

Abusan: einer der mächtigsten Zauberer der jungen Geschichte Tepors. Er war maßgeblich an der gelunge-nen Flucht der vier Völker nach Tepor beteiligt. Auf Tepor richtete sich – den Historikern zufolge – sein Stre-ben danach, alle Völker als absoluter Imperator zu beherrschen. Durch seine geheimnisvolle Langlebigkeit beeinflusste er lange die Geschichte der Welt Tepor. Abusan wird in den Schriften als genialer Taktiker und als krankhaft paranoid beschrieben. Archon (Plural Archonen): dem Glauben der Drakaner nach alte, mächtige Wesenheiten, die sich unter den nichtmenschlichen Völkern Personen erwählen, die fortan als Kleriker dienen. In den Vierfürstentümer gelten die Archonen als Dämonen, entstanden aus den ab-trünnigen Behütern. Aldan, Nelda al Aldan: Fürst der Grenzmark Flüster-stein. Ein alter, geachteter Militärstratege und einer der Anführer der Geheimorganisation „Blaue Rose“. Aquosus (lat.): Wasserreich. Eine der zwölf Welten. Atropa (lat.; deutscher Pflanzenname: Tollkirsche): ein Elfenname für Frauen. Dämonenstatuetten: Den Mythen nach zwölf magische Artefakte von großer Macht, auch unter dem Namen Dämonensilber bekannt. Um Sinn und Zweck der Arte-fakte ranken sich verschiedenste Legenden. Viele Parteien

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mit jeweils eigenen Motiven versuchen seit Jahrtausenden alle Dämonenstatuetten zusammenzutragen. Ein andau-ernder Krieg entstand zwischen diesen Parteien, in dem bisher niemand einen entscheidenden Vorteil erlangen konnte: Der Dämonensilber-Krieg. Dukarran: der Wachtmagier von Flüsterstein. Beteiligt an der Schlacht am Scheidepass. Entelda: Kleriker des Imperiums. Nach Zunharm zwei-ter Befehlshaber der Suchexpedition, die nach Abusans Unterschlupf sucht. Erdenbewahrer: Der Würdennahme eines Klerikers bei den Zwergen der Vierfürstentümer. Wie alle Diener der Behüter werden die Erdenbewahrer hoch verehrt. Erleovant: Die Reichshauptstadt und mit 38.000 Ein-wohnern die größte Stadt des Drakanischen Imperiums. In Erleovant tagt der regierende Rat der Urkorr. Der Hauptsitz der Urkorr ist die mystische Burg Eiserner Thron. Fen-A'Dor: Das Fürstenreich der Elfen, auch das Wald-reich genannt. Die Elfen haben große Anstrengungen darauf verwandt die Natur weitestgehenst unberührt zu lassen. Die meisten ihre Gebäude und Nutzpflanzen inte-grieren sich mit den natürlichen Begebenheiten des Wal-des. Die Elfen reagieren äußerst aggressiv wenn jemand in ihrem Fürstentum schaden an Flur oder Fauna anrich-tet.

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Fen-A'Tien: Hauptstadt des Elfenreiches Fen-A'Dor und der Hauptsitz des Fürsten Ascheriun. Fen-A'Tien ist eine der wenigen Städte der Elfen in denen es Steinhäuser gibt. Der pflanzenlose steinige Untergrund in der Biegung einer Flussschleife war für die Elfen ideal eine große Stadt aufzubauen, ohne dabei größeren Schaden an der Flur anzurichten. Es leben schätzungsweise 15.000 Elfen in Fen-A'Tien Flüsterstein: Die Hauptstadt des von Menschen be-herrschten Fürstentums Flüstermark. Burg Heilborn in Flüsterstein ist die gewaltigste Festung der Vierfürsten-tümer und der Sitz von Fürst Aldan. Mit den um-liegenden Bauerngehöften beherbergt die Stadt um die 29.000 Einwohner und ist damit eine der größten Städte der Vierfürstentümer. Grontabar: Hohepriester und Ratsherr des Imperiums. Hammerklang: Eine der großen unterirdischen Städte des Zwergenfürstentums und im Besitz des Tiefstahl-Klans. Heimat von Wotan. Ignis (lat.): Feuer. Eine der zwölf Welten. Inusta: Die nördlichste Hafenstadt des Drakanischen Imperiums. Inusta hat an die 7.000 Einwohner und lebt hauptsächlich von Fischerei und Pelzhandel. Jotar: Ritter und Rittmeister im Dienst des Fürsten Aldan und ein enger Vertrauter des Fürsten. Anführer bei der Schlacht am Scheidepass.

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Kut Or: drakanischer Offiziersrang (siehe auch: Schotahr). Morktan: erfahrener Offizier im Heer Laukims. Er führte unter der Urkorr-nor Tarote in der Schlacht am Scheidepass den Hauptangriff. Namenlose: Elitekrieger des Drakanischen Imperiums von außergewöhnlicher Größe und Kraft. Sie bilden eine eigene Rasse, gehören aber nicht zu den vier Völkern, die Tepor besiedelt haben. Für Viele ist ihre Herkunft und Abstammung ein Rätsel. Oenothera (lat.; deutscher Pflanzenname: Nachtkerze): eine elfische Waldläuferin im Dienst des Fürsten Aldan. Sie wird von Olagrion zu einem Schoo-lark ausgebildet. Olagrion: ein hoch geachteter alter Elf im freien Dienst des Fürsten Aldan. Olagrion ist ein Schoo-lark-Meister und bildet die Elfen Serenoa, Oenothera und Enyu in der geheimen Kunst der Elfen aus. Olagrion ist den Men-schen besonders zugetan. Fürst Aldan stand er schon in seinen jungen Jahren bei, als dieser durch den über-raschenden Tod seines Vaters die Regierungsgeschäfte der Flüstermark übernehmen musste. Quarus: ein Gnomengelehrter, gehört zum Hofstaat des Fürsten Aldan und ist ein Freund Jotars. Beteiligt an der Schlacht am Scheidepass. Scharführer: drakanischer Offiziersrang (siehe auch: Schotahr).

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Serenoa (lat.; deutscher Pflanzenname: Stechpalme): Gefährtin von Oenothera und wie diese im Dienst von Flüsterstein. Wird von Olagrion zum Schoo-lark ausge-bildet. Schoo-lark: der Titel eines Elfen, der in der geheimen Kunst des Elfenvolks ausgebildet wurde. Diese Ausbil-dung beinhaltet zu gleichen Teilen Kampf und Wissens-lehre. Ein Schoo-lark hat ein immenses Wissen über die Natur und die Zusammenhänge des Lebens. Seine Sinne und der Verstand werden geschult, sodass selbst kleinste Veränderungen in der Umgebung bemerkt werden. In den anderen Fürstentümern gelten Schoo-larks als Elite-krieger und als die besten Waldläufer. Schotahr: die drakanische Bezeichnung eines selbststän-dig operierenden militärischen Verbandes. Eine Schotahr setzt sich in voller Sollstärke aus 7.200 Soldaten zusam-men, wobei die Truppengattungen und deren Anzahl stark variieren können, allerdings wird besonderer Wert auf schwere Infanterie gelegt. Dazu kommen noch um die achthundert Hilfsarbeiter, Handwerker und Spezia-listen wie Ingenieure, die den Tross des Heeres bilden. Die Gliederung einer drakanischen Schotahr setzt sich wie folgt zusammen: – Sechs Bande bilden eine Schotahr mit einer Sollstärke

von siebentausendzweihundert Soldaten. – Zwei Haup bilden eine Bande von tausendzweihun-

dert Soldaten, angeführt von einem Hauptmann. – Zwei Kut bilden eine Haup von sechshundert Mann,

der ein Kut Or vorsteht. – Sechs Scharen bilden ein Kut mit dreihundert Mann,

kommandiert von einem Ûn-Scharführer.

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– Eine Schar besteht aus fünfzig Kriegern, die von einem Scharführer befehligt werden.

Silva (lat.): Wald. Eine der zwölf Welten. Solandra: ein Kontinent der Welt Tepor. Tarote: ehrgeizige Magierin im Heer von Laukim. Tepor (lat.): milde Wärme. Eine der zwölf Welten. Tränen der Behüter: Nach einer Sage sollen die treuen Behüter beim Krieg gegen ihre abgefallenen Brüder Trä-nen vergossen haben, die als Silbertropfen auf die Welten gefallen sind. Daher wird ein besonderes Silbermetall, welches das Licht stark zurückwirft, auch als Tränensilber der Behüter bezeichnet. Man schreibt dem Silber beson-dere Kräfte zu. Ûn-Scharführer: drakanischer Offiziersrang (siehe auch: Schotahr). Urkorr-gaan: drakanische Bezeichnung eines Priesters, der die Macht nutzen kann. Urkorr-nor: drakanische Bezeichnung eines Magiers. Weitwasser: Eine große Hafenstadt mit 9.000 Einwoh-nern im Fürstenreich der Gnome. Einige sagen, man könnte sie als Hauptstadt der Gnomen ansehen, obwohl es im Reich der Gnome keine offizielle Hauptstadt noch einen festen Regierungssitz gibt. Die Gnome der Vierfür-

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stentümer haben nie einen Alleinherrscher akzeptiert. Gewählte Stadträte regieren die Städte und ihr Umland. Zunharm: Magier des Imperiums, Anführer der Suchex-pedition, die zu Abusans Unterschlupf ausgesandt wird. Parteien, welche an den Dämonensilber-Kriegen beteiligt sind: - Albinos (vermutlich das gesamte Volk der Albinos). Angeblich die älteste Partei, die nach dem Dämonensilber jagt. Einige Geheimorden glauben, dass es nur noch wenige ihrer Art gibt und dass die Albinos mit der Macht des Dämonensilbers den Untergang ihres Volkes ver-hindern wollen. - Die Gläubigen der Strömung (aus einem Volk, das im Wasser lebt – eine Mischung aus Hai, Muschel und Krake). - Die Verwahrer. Ein Orden der es sich zur Pflicht gemacht hat, das Dämonensilber zu einem guten Zweck einzusetzen. Falls dies nicht möglich sein sollte, will der Orden das Dämonensilber sicher verwahren. - Geliebte des Abgrundes. Eine Vereinigung, die angeb-lich die Barriere zerstören will, welche die Dämonen von den Welten fernhält. - Mondjäger (aus dem Volk der Korwar). Die Korwar (humanoide Wolfskreaturen) sind eine kämpferische

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Rasse, die sich von Kriegen Ruhm und Ehrengewinn erhoffen. Vermutlich streben die Mondjäger nach dem Dämonensilber um Macht im Kampf zu gewinnen. - Orden des Blutes (aus dem Volk der Wandler bzw. Wechselbälger). Die Gründe, die den Orden des Blutes dazu bewegten, nach dem Dämonensilber zu suchen, waren Abusan nicht bekannt. - Vereinigung der Tiefen (aus dem Volk der Grotten-schrate). Nach langer Forschung entwickelte dieser Orden einen Bannspruch, der Abusans Schutz um das Weltentor zerstörte. Damit gelang es ihnen in das Labora-torium einzudringen.

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