Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

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DIE TÜRKEI IN IHRER MODERNISIERUNGSPHASE ALS FLUCHTLAND FÜR DEUTSCHE EXILANTEN Inaugural - Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Politischen Wissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin vorgelegt von CEM DALAMAN in Mai 1998

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DIE TÜRKEIIN IHRER MODERNISIERUNGSPHASE

ALSFLUCHTLAND FÜR DEUTSCHE EXILANTEN

Inaugural - Dissertationzur Erlangung des Grades eines Doktors

der Politischen Wissenschaftenam Otto-Suhr-Institut

der Freien Universität Berlin

vorgelegt vonCEM DALAMAN

in Mai 1998

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Erstgutachter: Prof. Dr. Elmar Altvater

Zweitgutachter: Dr. Hubertus Buchstein

Disputation am 10-Juli-1998

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Inhaltsverzeichnis 2

Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL .................................................................................................................... 5

1 BILANZ ................................................................................................................................ 52 VORBEMERKUNG................................................................................................................ 63 EINFÜHRUNG .................................................................................................................... 103.1 MEINE FRAGESTELLUNG AN DAS THEMA ................................................................... 103.2 QUELLENLAGE UND QUELLENPROBLEMATIK ............................................................. 123.3 ZUR PROBLEMATIK DER TERMINOLOGIE .................................................................... 163.4 GLIEDERUNGSPRINZIPIEN............................................................................................ 193.5 ARBEITSWEISE............................................................................................................. 20

ZWEITES KAPITEL ............................................................................................................... 24

1 FLUCHT - KONSEQUENZ DER GESCHICHTE ................................................................... 242 FLUCHTORT TÜRKEI - RUINENLAND DER KULTUREN................................................... 282.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................... 282.2 ÜBERBLICK ÜBER DEN HISTORISCHEN HINTERGRUND................................................ 302.3 DIE TÜRKISCHE REPUBLIK - ONE MAN SHOW ............................................................ 353 DEUTSCHLAND UND DIE TÜRKEI

VON INTERESSEN, KOMPLEXEN UND DIVERGENZEN .................................................... 603.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................... 603.2 WIE ENTSTEHT EINE LEGENDE ? - DIE DEUTSCH-TÜRKISCHE WAFFENBRÜDERSCHAFT

..................................................................................................................................... 613.3 NEUE ZEITEN - ALTE GESCHÄFTE............................................................................... 653.4 INFILTRATION, EIN VERSUCH - HAKENKREUZ IN ISTANBUL....................................... 723.5 DIE TÜRKEI - OBJEKT DER DEUTSCHEN BEGIERDE..................................................... 753.6 DER GRAU-BRAUNE WOLF.......................................................................................... 794 GLÜCK IM UNGLÜCK DEUTSCHE WISSENSCHAFTLER ALS FLÜCHTLINGE IN DER TÜRKEI

........................................................................................................................................... 834.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................... 854.2 DER PROZEß - REFORM DES BILDUNGSWESENS.......................................................... 884.3 DEUTSCHE WISSENSCHAFTLER - HERZLICH WILLKOMMEN IN DER TÜRKEI............ 1004.4 DAS LEBEN - BIERSELIGKEIT, MELANCHOLIE UND MUEZZIN-RUFE........................ 108

DRITTES KAPITEL .............................................................................................................. 129

1 REINE WISSENSCHAFT I - DEUTSCHE FLÜCHTLINGE ALS WISSENSCHAFTLER UNDEXPERTEN IN TÜRKISCHEN UNIVERSITÄTEN UND INSTITUTIONEN ............................ 129

1.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 1291.2 DISZIPLINEN UND LEBENSLÄUFE .............................................................................. 1301.3 FAKULTÄT FÜR SPRACHE, GESCHICHTE UND GEOGRAPHIE IN ANKARA.................. 1571.4 EXPERTEN IN MINISTERIEN IN ANKARA.................................................................... 1621.5 NACHTRAG ................................................................................................................ 171

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Inhaltsverzeichnis 3

VIERTES KAPITEL .............................................................................................................. 173

1 VIER NAMEN................................................................................................................... 1731.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 1732 GERHARD KESSLER - VON DER MÖGLICHKEIT DER POLITISCHEN PARTIZIPATION 1752.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 1752.2 EIN LIBERALES LEBEN............................................................................................... 1762.3 DIE TÜRKISCHEN JAHRE............................................................................................ 1782.4 EIN VERSUCH VON ANTIFASCHISMUS....................................................................... 1842.5 NACH DEM KRIEG...................................................................................................... 1932.6 DAS ARBEITSGESETZ................................................................................................. 1942.7 DIE TÜRKISCHE GEWERKSCHAFT TÜRK-IŞ ............................................................... 1992.8 DER TOD, DER DANK................................................................................................. 2023 PAUL HINDEMITH - MUSIKER! EMIGRANT? ................................................................ 2043.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 2043.2 ZWISCHEN ANPASSUNG UND ANPASSUNG................................................................ 2053.3 DER FALL TÜRKEI ..................................................................................................... 2113.4 DIE ERSTE REISE........................................................................................................ 2133.5 ZWISCHENBEMERKUNG ZUM JANUAR 1936 IM LEBEN VON PAUL HINDEMITH........ 2183.6 ZWEITE REISE............................................................................................................ 2223.7 DRITTE REISE ............................................................................................................ 2243.8 VIERTE REISE ............................................................................................................ 2253.9 ENDE GUT, ALLES GUT ? - WER IST EIN EMIGRANT? ................................................ 2274 RUDOLF BELLING - DREIDIMENSIONALITÄT VS. KONJUKTURKUNST........................ 2314.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 2314.2 EIN PIONIER DER ABSTRAKTEN KUNST..................................................................... 2334.3 LEHRER UND STAATSKÜNSTLER ............................................................................... 2354.4 GELD ALLEINE MACHT NICHT GLÜCKLICH ................................................................ 2394.5 EINE FRAGE ALS NACHTRAG..................................................................................... 2425 CORNELIUS BISCHOFF VERSÖHNUNG UND EIN (VORLÄUFIGES) HAPPY END............ 2455.1 EINFÜHRUNG ............................................................................................................. 2455.2 EIN GESPRÄCH........................................................................................................... 246

FÜNFTES KAPITEL ............................................................................................................. 265

1 REQUIEM - DIE NAMENLOSEN FLÜCHTLINGE ............................................................. 2652 STATT EINER ZUSAMMENFASSUNG: REINE WISSENSCHAFT II - DIE VERFÜHRUNG 275

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ............................................................... 284

1 ARCHIVE ......................................................................................................................... 2841.1 TÜRKEI: ..................................................................................................................... 2841.2 DEUTSCHLAND .......................................................................................................... 2842 ZEITUNGEN / ZEITSCHRIFTEN....................................................................................... 2852.1 TÜRKEI ...................................................................................................................... 2852.2 DEUTSCHLAND .......................................................................................................... 2853 LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................................. 286

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4

Am wohlsten fühle ich mich in den Zügen, in den Fahrten zwischen den Ländern. Bin

ich in einem Land angekommen, möchte ich es eigentlich sofort wieder verlassen.

Überall das gleiche, Heuchelei, Perfidität und Stumpfsinn. Alle Länder, die man

kennt, die man auch dann gut kennt, sind gleich scheußlich. Man sieht mit der Zeit,

daß die Konstruktion überall die gleiche ist. Für den Einzelnen ist im Grunde alles

gleich schauerlich. Auf der Stelle wieder in den Zug steigen und dieses Land

verlassen und im Zug sitzen, das will man eigentlich. Und macht es trotzdem nicht,

bleibt dann doch ein oder zwei Tage und denkt die ganze Zeit daran, das Land so

schnell wie möglich zu verlassen. Erst wenn ich wieder im Zug sitze, geht es mir

besser.

Thomas Bernhard

Wien, Madrid, Rom, Ohlsdorf, Wolfsegg, Grinzing

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Bilanz 5

Erstes Kapitel

1 Bilanz

Die humanistische Utopie des Sieges von “Sein” über “Schein” ist vorerst gescheitert.

Eine letzte ironische Bestätigung dieser Niederlage ist die gegenwärtige,

vorherrschende Indifferenz. Die Aufklärer hatten die Hoffnung, sich in der

wunderbaren Welt des „Seins“ wiederzufinden, in der „Unsterblichkeit“, von der

Hannah Arendt spricht. Heute bedeutet diese Illusion nichts mehr, man ist mehr und

mehr mit der Nullität des „Scheins“ konfrontiert. Die „Apokalypse der Indifferenz“

nennt Jean Baudrillard diese Lage am Ausgang des 20. Jahrhunderts und spricht

von einer „Hyperrealität“, in der das Seiende, die Wahrheit und die Realität immer

schneller an Bedeutung verlieren und schließlich in einem Wechselspiel „leerer“, auf

nichts deutender Zeichen verschwinden. Leere macht indifferent.

In der heutigen Beschleunigung der Indifferenz ist für mich, will ich mich und das

Denken nicht völlig aufgeben, quasi als Überlebenstaktik des Kopfes, eine

verbleibende Möglichkeit: alles zu hinterfragen, alles geschriebene, gesagte und

gemachte mit der größten Aufmerksamkeit und schonungslosester Kritik neu zu

betrachten. Ich entziehe mein Vertrauen in die Urteile anderer. Ich mache mein

eigenes Bild, ich sehe mein eigenes Bild, meine eigene Wahrheit. Dieser Blick

ermöglicht mir, die Beschleunigung der Wirklichkeit nicht als Bedrohung, sondern als

Chance zu begreifen. Die Indifferenz der Umwelt ermöglicht mir, indem ich mein

Denken kritisch und erst dadurch offen halte, die eigenen Möglichkeiten zu

verändern und meine Erfahrungen zu bereichern.

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Vorbemerkung 6

2 Vorbemerkung

Am Anfang war meine eigene Jugend. Ich wurde im Alter von 14 aus meiner

wohlbehüteten und mir bekannten, geliebten Umgebung meiner Geburtsstadt

Istanbul herausgerissen. Meine Eltern, ermüdet aus ihren politischen Kämpfen und

Hoffnungen der 60er und 70er Jahre und beängstigt von dem bevorstehenden

Militärputsch, verließen 1979 mit mehreren Koffern und mit mir die Türkei. Berlin

wurde unser Exil. Die erste Zeit war gekennzeichnet von einer Art Trauerarbeit, die

geleistet wurde. Inzwischen ist davon nichts mehr geblieben, eigentlich fast weniger

als nichts. Aus Exil ist längst Emigration geworden. Es ist nun die endlose Zeit der

Wahrnehmung des Neuen - in der Form des Entschlusses, “hier zu bleiben”.

1989, ein paar Monate nach meinem Diplomabschluß an dem Otto-Suhr-Institut der

FU Berlin, ich war angehender Reporter beim Sender Freies Berlin, bekam ich den

Auftrag, über Fritz Neumark, der über deutsche Emigranten in der Türkei nach 1933

einen Vortrag halten würde, einen Beitrag zu machen. Neumark, zu der Zeit knapp

90 Jahre, erzählte in einem gut gefüllten Saal des Rathauses Wedding / Berlin, unter

den Zuhörern waren übrigens nur zwei oder drei Deutsche, von seiner Zeit in der

Türkei, von seinen Erinnerungen über das Thema und referierte anschließend über

die Wirtschaftsprobleme zwischen Deutschland und der Türkei. Nach seinem Vortrag

wollte ich mit ihm ein Interview führen, doch er war zu müde und lud mich für den

nächsten Tag in sein Hotel ein. Am Tag danach wurde das Interview und das

mehrstündige Gespräch mit dem anschließenden “Kaffee und Kuchen” für mich zu

einem entscheidenden Ereignis. Neumark, die Verkörperung des Ideal-Großvaters:

schwerhörig, nostalgisch, unkonzentriert und sich in Erinnerungen verlierend, hatte

mich durch die Geschichte seiner Flucht aus Deutschland und seine anschließenden

Jahre in der Türkei mit den anderen deutschen Exilanten, auf mehr Informationen

über das Thema neugierig gemacht. Mich interessierten neben den historischen

Begebenheiten, die für ihn mehr Bedeutung hatten, auch die persönlichen Schicksale

der Exilanten. Was hatte sie existentiell und materiell besonders bewegt? Warum

flüchteten sie von einer in die andere Diktatur? Nach welchen Kriterien entschieden

sie sich, dort zu bleiben oder weiter zu emigrieren? Indem die Türkei die

Wissenschaftsflüchtlinge aus Deutschland und dem deutschsprachigen Raum als

eine Art von “akademischen Gastarbeitern“ einsetzte, kam es von Anfang an zu einer

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Vorbemerkung 7

einzigartigen, mehr oder weniger gewollten, geplanten Synthese, die sicherlich

beiden Seiten, der Türkei und den Flüchtlingen, zugute kam. Wie diese Synthese im

Detail verlief, wie die beiden Seiten ihre spezifischen Interessen durchsetzten oder

dies zumindest versuchten und welche oder ob Ergebnisse sich zeitigten, wollte ich

wissen.

Neumark hatte Anfang der 80er Jahre seine Memoiren veröffentlicht, ich hoffte darin

mehr über meine Fragen zu finden. In den Buchläden war jedoch “Zuflucht am

Bosporus”1 von ihm lange nicht mehr in den Regalen, eine Bibliothek wurde zur

Rettung.

Auf Neumark´s Memoiren folgte als Lektüre die einzige Forschungsarbeit über dieses

Thema “Exil und Bildungshilfe” von Horst Widmann2 und die Erinnerungen von Ernst

E. Hirsch3 und Rudolf Nissen4, die darin ihre Zeit als Professoren in der Türkei auch

einarbeiten. Einige wenige Aufsätze und Zeitschriftenartikel, die es in diesem

Zusammenhang gibt und die ich ausfindig machen und lesen konnte,

vervollständigten die erste Recherche. Ich stand aber nun vor einem merkwürdigen

Problem. Alle, Neumark, Hirsch, Widmann und die Anderen, sie sprachen alle die

gleiche Sprache, wollten das Gleiche vermitteln, als ob sie sich verschworen hatten.

Alles lief für mich sehr glatt, zu glatt. Da waren verfolgte Professoren, dann ein Land,

das ihnen Zuflucht, Arbeit und Brot anbot und mehr oder weniger 12 harmonische

gemeinsame Jahre. Diese Autoren gaben mir nicht die Antworten, die ich suchte.

Unzweifelhaft gebührt ihnen der Verdienst, das Thema in Deutschland, wenn auch

nicht für die breite Öffentlichkeit, so aber trotzdem überhaupt bekannt gemacht zu

haben. Ich hatte aber das ambivalente, zwiespältige Gefühl, daß sie etwas

verschwiegen; als ob sie daran arbeiteten, ein Mythos vom wohltätigen Asylland

Türkei herbeizuzaubern. Alle waren sich darüber einig, daß die Reformen, damit der

gesamte Modernisierungsprozeß von Mustafa Kemal richtig und unfehlbar waren. Es

wurde aber dabei vergessen, die durch die Umsetzungsform dieser Reformen

entstandenen Probleme und Widersprüchlichkeiten - deren Konsequenzen bis heute

die türkische Realität bestimmen- herauszuarbeiten oder teilweise überhaupt zu

betonen. Die rassistisch eingefärbte und in Ansätzen gegen die eigenen

Minderheiten umgesetzte türkische Innenpolitik, gerade nach 1938, wurde darin 1 Fritz Neumark, Zuflucht am Bosporus, Frankfurt a.M. 1980.2 Horst Widmann, Exil und Bildungshilfe, Bern 1973.3 Ernst E. Hirsch, Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks. Eine unzeitgemäßeAutobiographie, München 1982.

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Vorbemerkung 8

kaum und wenn dann als Kleingedrucktes erwähnt. Die deutschen Emigranten und

Flüchtlinge hatten ja aus ähnlichen Gründen ihre Heimat verlassen. Noch dazu kam,

daß ihrer Einladung und Arbeit in den Universitäten eine politische und anti-religiöse

Säuberung an der Universität Istanbul vorausging. Warum verhielten sie sich in der

Regel gleichgültig dazu? Wie war es möglich, gegenüber der Parallelität der

Ereignisse, in der sie lebten, gleichgültig zu bleiben? Alle Autoren, die ich las, stellten

fest, daß die Türkei keinen der eingeladenen Wissenschaftsemigranten nach

Deutschland ausgeliefert hatte. Über das Schicksal der sogenannten kleinen Leute,

der flüchtenden Juden, die an den Grenzen abgewiesen und dadurch in ihrer

Mehrzahl in die Vernichtung zurückgeschickt wurden, gab es nichts zu lesen. Auch

über die sehr engen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und die

Überlegungen der türkischen Führung, an der Seite Deutschlands in den Krieg

einzuziehen, war in diesen Büchern und Schriften so gut wie nichts zu finden. Die

Türkei durchlebte seit der Republiksgründung in 1923 einen radikalen

Modernisierungsprozeß, der auch schmerzhafte und zeitweise von der

Bevölkerungsmehrheit nur geduldete, aber nicht wirklich angenommene

Veränderungen mit sich brachte. In den 30er und 40er Jahren wurde dieser

Modernisierungsprozeß oft mit diktatorischen Mitteln und Möglichkeiten dem Volk

auferlegt. Gerade die deutschen Wissenschaftler waren, ob bewußt oder aus der

Ausweglosigkeit ihrer eigenen Situation, Teil dieses Systems.

Wenn man die Logik eines Systems beschreibt, dann ist man gewissermaßen in

diese Logik involviert. Das Problem und die Frage ist, ob dieses unbedingt auch die

Komplizenschaft notwendig macht. Ich denke, daß man soweit wie möglich in die

innere Logik des Systems hineingehen kann, ohne sich selbst ins Spiel zu bringen,

ohne sich mit der Logik des Systems zu identifizieren.

Nachtrag: Nach Baudrillard entsteht die Energie der Geschichte in der Balance

zwischen Gut und Böse5 . Alleine durch die Austreibung des Bösen wird nicht das

Gute befreit. Das Gute kann nicht ohne das Böse existieren, soll die Geschichte sich

bewegen, in welche Richtung auch immer. Das Auslassen oder - bewußt oder

unbewußt- das Unterbewerten von Ereignissen und Zusammenhängen bei dem

Thema der deutschsprachigen Flüchtlinge in der Türkei, erinnert mich an dieses

symbolische Gedankenspiel von Baudrillard. Es wird der Versuch unternommen,

4 Rudolf Nissen, Helle Blätter - dunkle Blätter. Erinnerungen eines Chirurgen, Stutgart 1969.5 Mehr dazu in : Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen : Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992; Insb. abS. 95.

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Vorbemerkung 9

“das Gute und Positive” der ganzen Angelegenheit zu kultivieren - für den Preis, daß

“das Böse” verschwiegen wird. Aber zur Natur dieses Ereignisses wie der Geschichte

an sich gehören auch Antagonismen, Lügen, Kämpfe, Inkompabilitäten,

Gegnerschaften, Haß, Neid, Intrigen, gegenteilige Qualitäten, das Unversöhnliche,

“Skorpione und Schlangen” (Baudrillard)6. Der Versuch, sie zu eliminieren, als ob sie

nicht existieren dürfen, ist zum Scheitern verurteilt. Sie scheinen wieder durch.

Spätestens dann, wenn jemand nach ihrem Verbleib fragt.

Unter diesen Vorzeichen und Überlegungen begann mein Projekt “Die Türkei in ihrer

Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten“.

6 Ebenda.

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Einführung 10

3 Einführung

3.1 Meine Fragestellung an das Thema

Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die deutschen Flüchtlinge, überwiegend

Wissenschaftler, die aus verschiedenen Gründen gezwungen wurden oder sich

gezwungen sahen, Deutschland nach 1933 zu verlassen und für eine kurze oder

lange Periode Zuflucht in der Türkei finden konnten7 . Besonders berücksichtigt wird

dabei die Modernisierungsphase der Türkei, die das Land gerade in der Zufluchstzeit

der Deutschen extrem geprägt hat. So wie manche Materialien besonders geeignet

sind, um damit zu arbeiten, zu basteln, sind manche Dinge besonders geeignet, sich

auf die Suche nach der, nach einer Wahrheit zu begeben und zum Nachdenken

anzuregen. Diese Dinge, die unerwartete Zusammenhänge deutlich werden lassen

und unklare Grenzen definieren können, lassen sich in Mustern anordnen.

Das Thema dieser Arbeit ist für mich eines dieser Dinge. Das Wissen um das Leben

der deutschen Flüchtlinge, die Hintergründe ihrer Flucht in die Türkei, und auch als

ein besonders zu berücksichtigender Aspekt, um ihr Flucht/Exilland findet nicht nur in

politisch-soziologische Muster Eingang - es ist auch tiefe Quelle und endloser Stoff

für weiteres Denken.

Ich betrachte das Schicksal und das Leben der deutschen Flüchtlinge in der Türkei

nicht nur einfach als Dissertationsthema, sondern auch als ein Werkzeug, das ich

verwende, um neue Dinge aufzubrechen und ihr Inneres zu erkunden. Ich begegne

7 Ich klammere bei meiner Arbeit bewußt Flüchtlinge aus Österreich aus und beschäftige mich vordergründig mitDeutschen. Mein Ziel ist thematisch ein kategorial und normativ ein in sich zusammenhängendes Bild wiederzugebenund über die Problematik der deutschen Flucht hinaus auch geschichtlich der deutsch-türkischen Beziehungen dieserZeit nachzugehen. Österreich, bis zu seiner Annexion in 1938 als ein eigenständiges Land zu betrachten, bedarfdeshalb in dieser Hinsicht einer adäquaten Behandlung. Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Flucht ausÖsterreich mehrheitlich nach 1938 einsetzte, während die deutschen Flüchtlinge in der Regel schon 1933 in die Türkeikamen. In dieser Konstellation und den damit zusammenhängenden Problemen würde eine parallele Beschäftigung mitösterreichischen Flüchtlingen den Rahmen meiner Arbeit sprengen und auch über meinen Ansatz hinausgehen. Dabeimöchte ich keineswegs die Bedeutung österreichischer Flüchtlinge (Wissenschaftler und Künstler) für die Türkeiunterschätzen, sehe darin aber ein eigenständig zu untersuchendes und höchst interessantes Thema. Ich möchte indiesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß ein Großteil der österreichischen Flüchtlinge, die in die Türkeikamen, sich politisch der Kommunistischen Partei Österreichs verbunden fühlten und teilweise als Widerstandsgruppenwährend des 2. Weltkrieges in ihre Heimat zurückkehrten und sich auch durch ihr Engagement vom Großteil derdeutschen Flüchtlinge unterschieden. Mehr über die österreichische Flucht u.a. in : Friedrich Stadler (Hrsg.), VertriebeneVernunft - Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1988; Peter Weibel (Hrsg.), Vertreibung derVernunft, Wien 1993. In der Zusammenstellung österreichischer Emigranten von Christine Klusacek „ÖsterreichsWissenschaftler und Künstler unter dem NS-Regime“, Wien 1966, findet sich eigenartiger Weise kein Türkei-Flüchtling.

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Einführung 11

immer wieder auch mir selber, eine Art Spiegelgefängnis. Als Kind einer wegen

politischen Überlegungen und Überzeugungen zuerst im Exil, anschließend seit

langer Zeit in der Migration beheimateten Familie, sowie aus der Filterung dieser

Erfahrung, erscheint mir die Beschäftigung mit ihnen vom selben Nutzen zu sein wie

Logik für einen Philosophen: ich gewinne den Dingen Sinn ab.

Die Besonderheit und dadurch die Unvergleichbarkeit der historischen

Ausgangssituation 1933 ist mir in seiner ganzen Breite bewußt. Doch weiß ich

zugleich, daß jemand, der seine eigene Flucht gemacht hat, in seiner Zeit, aus

seinem Land, ähnliche Gedanken und Gefühle hat und haben wird wie ein deutscher

Flüchtling des Jahres 1933. Emigration, Exil, Flucht, Verlust der Heimat, die Suche

nach einer neuen Heimat, Migration und Fremdheit sind nicht nur Phänomene der

nationalsozialistischen Ära, sondern gehören zu der Erbschaft der Menschheit und

angesichts der weltweiten Situation, auch der Zukunft. Ich gehe davon aus, daß

Hanna Arendt nicht nur die deutschen Flüchtlinge und Emigranten nach 1933 meinte,

als sie davon sprach, daß das Problem, eine neue Identität zu finden, fast so schwer

sei wie die Erschaffung der Welt.

Gerade für die Emigrationsgeschichte signifikante Ereignisse wie

Identifikationsverlust contra Identifikationssuche, Entwurzelung, Brüche,

Diskontinuitäten, Umschichtungen, Assimilation und Integration verdienen angesichts

der aktuellen Debatten größere Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit den

deutschen Flüchtlingen und Emigranten in der Türkei ermöglicht gleichzeitig zu

diesen Phänomenen, auch Verbindungen zwischen Karrieremustern,

Disziplingeschichten und persönlichen Erfahrungen in einer politisch höchst

problematischen und widersprüchlichen Epoche der Türkei herzustellen. Noch dazu

kommt, daß die Türkei nicht nur ein Land ist, das ab 1933 qualitativ einen großen Teil

der deutschen Wissenschaftsflüchtlinge aufgenommen hat; an der Türkei lassen sich

auch vor allem die spezifischen Verhältnisse eines Landes an der Schwelle zu

Europa - übrigens damals wie heute- studieren, das einen besonders produktiven

und zugleich widersprüchlichen Gebrauch von dem brain-drain dieser Zeit machte.

Gleichzeitig eignet sich dieses Thema meiner Meinung nach hervorragend, um

sowohl die deutsch-türkischen Beziehungen in ihrer ewigen Problematik und

Widersprüchlichkeit, auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als auch den äußerst

problematischen Modernisierungsprozeß der Türkei in dieser Zeit zu untersuchen. So

unterhielt das Emigrationsland Türkei fast während der ganzen Zeitspanne die

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Einführung 12

besten wirtschaftlich-militärischen Beziehungen zu NS-Deutschland; obwohl sie sich

vertraglich zu allen Seiten absicherte, plante die Türkei bis Stalingrad an der Seite

der Achsenmächte in den Krieg einzutreten; der Einfluß rassistischer Ideen und

Methoden aus Deutschland war sehr groß, auch die Türkei ging innenpolitisch gegen

die eigenen Minderheiten vor, während sie zugleich ein ganz sicheres Land für die

aufgenommenen Flüchtlinge aus Deutschland war.

3.2 Quellenlage und Quellenproblematik

Die Türkei erfährt in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse in der

Öffentlichkeit und Wissenschaft. So gibt es eine Reihe von Büchern und

Untersuchungen, die auch die Gründungsphase der Türkei behandeln und die für

diese Arbeit zum Teil herangezogen worden sind. Erstaunlich ist unter diesen

Voraussetzungen, daß das Thema der deutschen Flüchtlinge in der Türkei sowohl in

der Emigrations- als auch in der Türkeiforschung relativ unbeachtet blieb. Als die

verspätete wissenschaftliche Aufarbeitung des deutschen Exils nach 1933 begann,

galt das Interesse neben Einzelbiographien, den sogenannten bedeutenden Exil- und

Emigrationsorten wie die USA, England, Frankreich, Tschechoslowakei und

Südamerika, nicht jedoch dem in dieser Hinsicht Randstaat Türkei. Sicherlich war die

Türkei, gemessen an den großen Ländern des deutschen Exils und im

Gesamtzusammenhang der Flucht ein peripheres Land, aber die nicht besonders

große Beachtung dieses Themas grenzt nach meiner Meinung an eine Arroganz. So

ist bemerkenswert, daß die sogenannten Standardwerke zum Thema die Türkei

entweder gar nicht nennen oder sie mit ein paar Worten abhandeln8. Nach beinahe

65 Jahren seit dem Eintreffen der ersten deutschen Flüchtlinge in der Türkei, ist

diesem Thema als einzige eigenständige und sogenannte wissenschaftliche

Untersuchung, die 1973 (!) erschienene Arbeit von Horst Widmann mit dem Titel “Exil

und Bildungshilfe” gewidmet. Bei dieser Arbeit handelt es sich um die

Bestandsaufnahme der biographischen Daten der “akademischen Emigration in die

Türkei mit einer Bio-Bibliographie im Anhang”, wie es im Untertitel des Buches

bezeichnet wird. Horst Widmann, “Exil und Bildungshilfe - Die deutschsprachige

akademische Emigration in die Türkei nach 1933”, Frankfurt a.M. 1973. Zusätzlich zu

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Einführung 13

den Biographien werden von Widmann die Reformierung der alten Universität und

der Modellcharakter der Arbeit der deutschsprachigen Hochschullehrer nach 1933 in

der Türkei als “Bildungshilfe” gesondert behandelt. Die insgesamt 293seitige Arbeit

ist zwar durch seinen informativen Ansatz unverzichtbarer Bestandteil der

Beschäftigung mit dem Thema, vernachlässigt jedoch wichtige und für mich

entscheidende Aspekte wie die Problematik des Kemalismus, die deutsch-türkischen

Beziehungen zu diesem Zeitpunkt und die soziologische Dimension. Zugleich ist

Widmann in seiner Untersuchung zu sehr der Perspektive der Emigranten und der

kemalistischen Reformdoktrin verhaftet und neigt dazu, durch diese vereinfachte und

einseitige Darstellung das Thema zu mystifizieren. Zusätzlich sind natürlich auf die

biographischen Schilderungen von Fritz Neumark, Rudolf Nissen und Ernst E. Hirsch

hinzuweisen. Eine aufschlußreiche Quelle ist die „Notgemeinschaft“ von Philipp

Schwartz, in dem Schwartz ausführlich auf die Arbeit der Notgemeinschaft und deren

Wirkung in der Hochschulreformphase in der Türkei eingeht9. Desweiteren sind in

einigen Zeitschriften Artikel über das Thema erschienen, die auch als Quelle

berücksichtigt werden. Die Untersuchung stützt sich weiterhin auf verfügbare

Nachlässe, Material aus Archiven, Medienberichte und auf persönliche Auskünfte

einiger weniger Emigranten10 und viel mehr ihrer Schüler und anderer Zeitzeugen.

Zur Entstehungszeit dieser Arbeit wird von Anne Dietrichs ein Dissertationsprojekt

mit dem Schwerpunkt „Das deutsche kulturelle Leben in Istanbul der 30er Jahre“

durchgeführt. Dietrichs hat sich in diesem Zusammenhang seit 1988 mehrmals in der

Türkei aufgehalten und an Ort Recherche und Interviews gemacht. Aus

Telefongesprächen, die ich mit ihr geführt habe11, läßt sich für mich in einer

vorsichtigen Einschätzung herauslegten, daß sie in ihrer Arbeit zwar die Flucht der

deutschen Wissenschaftler in die Türkei im Rahmen ihres Themas behandeln, dabei

jedoch die bisherige „offizielle“ Linie fortführen wird. Über die Fertigstellung ihrer

Arbeit ist zur Zeit keine verbindliche Aussage zu machen. Im positiven Sinne 8 So behandelt Kurt Grossmann in seinem eigentlich sehr gründlichen und bis heute als Standardwerk angesehenenBuch “Geschichte der Hitler-Flüchtlinge 1933 - 1945”, Frankfurt 1959, die Türkei und die Flüchtlinge in diesem Land miteiner halben Seite und insgesamt 15 Zeilen.9 Philipp Schwartz, Notgemeinschaft - Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei. Vorw. u.Hrsg. v. Helge Peukert. Stuttgart 1995.10 In erster Linie sind hier Fritz Neumark, Ernst Engelberg und Cornelius Bischoff gemeint. Die in der Türkei lebendenTraugott Fuchs und Robert Anhegger sind aus ihrer gesundheitlichen Verfassung heraus nicht mehr in der Lagegewesen, qualitativ entscheidende oder wichtige Informationen zum Thema beizusteuern.

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Einführung 14

hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Regine Erichsen. Erichsen hat ihren

Arbeitsschwerpunkt in den deutsch-türkischen Beziehungen; sie hat seit 1990 einige

sehr informative Artikel und Beiträge zum Thema des deutsch-türkischen

Wissenschaftstransfers durch Emigration veröffentlicht12. Die 1947 geborene

Sozialwissenschaftlerin hat wegen dem Beruf ihres Vaters einen Teil ihrer Kindheit in

der Türkei verbracht und dann zeitweilig in Bonn bei der Türkischen Botschaft als

Dolmetscherin gedient..

Auf Türkisch ist keine einzige eigenständige Arbeit oder wissenschaftliche

Untersuchung über dieses Thema erschienen; bei den einzigen Büchern, die nur in

Restexemplaren bei Trödel- und Buchhändlern erhältlich und in 1981 zum 100sten

Geburtsjahr von Mustafa Kemal von der Medizinfakultät der Istanbuler Universität in

einer Auflage von 1200 Büchern herausgegeben worden sind, handelt es sich

wiederum um die übersetzten Ausgaben von Widmann, Neumark und Hirsch13.

Dabei ist dieses Thema Teil sowohl der deutschen als auch der türkischen

Geschichte und ein aufschlußreicher Punkt der deutsch-türkischen Beziehungen.

Fritz Neumark benennt auf der Suche nach der Nichtbeachtung der Türkei als Thema

für die Emigrations- und Türkeiforscher das Argument, daß „sich unter den

deutschsprachigen Türkei-Emigranten nicht Träger so erlauchter Namen wie Thomas

und Heinrich Mann, Albert Einstein, James Franck, Fritz und Adolf Busch und Bruno

Walter befanden“14. Daß die Türkei kein klassisches Einwanderungsland war, nur

eine begrenzte Gruppe von Flüchtlingen unter besonderen Vorzeichen aufnahm und

11 Ich muß an dieser Stelle leider betonen, daß Dietrichs mir gegenüber kein Interesse an einem Wissens- undErfahrungstausch gezeigt und so auch das Lesen ihres wie auch meines Manuskripts abgelehnt hat. Ich finde ihreHaltung bedauerlich, da sie durch ihre langen und projektgeförderten Aufenthalte eventuell an andere Informationen undQuellen als ich herangekommen ist. Eine gegenseitige Ergänzung wäre im Interesse des Themas gewesen.12 Regine Erichsen : Deutschsprachige Naturwissenschaftler an der „Istanbul Üniversitesi“, in : Beiträge zurHochschulforschung 1990; Die Emigration deutschsprachiger Naturwissenschaftler von 1933 bis 1945 in die Türkei inihrem sozial- und wissenschaftshistorischen Wirkungszusammenhang, in : Die Emigration der Wissenschaften nach1933, Hrsg. Herbert A. Strauss, München 1991. Weiterhin ist auf ein Interview von Erichsen in der türkischenTageszeitung „Hürriyet“ hinzuweisen, das sich auch mit den geflüchteten deutschsprachigen Naturwissenschaftlernauseinandersetzt, Hürriyet, 16.05.1997.13 In einem Vorwort zu Widmann´s Buch kritisieren die türkischen Übersetzer Kazancigil und Bozkurt, daß das Themain der Türkei zumindest bis zum Datum der Übersetzung, nicht gewürdigt worden ist. Kazancıgil hat dann in seinem1991 erschienenen Buch „Türk Bilim Tarihi Bibliyografyası“ (Türkische Wissenschaftlerbiographien) diesen Mangelwieder angesprochen. Vgl. für die Übersetzung u.a.: “Prof. Dr. Horst Widmann, “Atatürk Üniversite Reformu”, Çeviri(Übersetzt von): Prof. Dr. Aykut Kazancıgil / Dr. Serpil Bozkurt, Istanbul 1981. Im Mai 1997 erschien in der türkischenTageszeitung eine Artikelserie über die Lebensbedingungen einiger deutscher Wissenschaftler, dabei wurden in ersterLinie Anekdoten und Erlebnisberichte von türkischen Zeitzeugen wiedergegeben. Hitler`den Kaçan Almanlar (Deutscheauf der Flucht von Hitler) Sabah 16. - 22. 05.1997.14 Fritz Neumark, “Die Emigration in die Türkei”, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 23, Köln1981.

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Einführung 15

daß sich unter den Flüchtlingen keine “berühmten” Personen befanden, berechtigt

jedoch nicht eine Art von Ignoranz15 .

15 Ich habe am 14./15. 5. 1994 vor dem Haupteingang der Universität Istanbul am Beyazıt-Platz unter 50 zufälligausgewählten Studentinnen und Studenten eine Umfrage durchgeführt. Ich wollte von ihnen erfahren, ob und was sieüber die Flucht der deutschsprachigen Wissenschaftler und ihr Wirken in der Türkei und insbesondere an ihrerUniversität wußten. Bevor ich meine Fragen stellte, vergewisserte ich mich über ihren Status als eingeschriebeneStudentinnen/ Studenten der Istanbuler Universität.Auf meine erste Frage, ob sie schon mal von der Emigration deutschsprachiger Wissenschaftler nach 1933 gehörthaben, antworteten 36 mit “nein”, 14 mit “ja”. Diesen 14 Studenten stellte ich die zweite Frage, wie sie den Grad ihresWissens über das Thema einschätzen würden. 10 antworteten mit “sehr wenig”, 3 mit “genug”,1 mit “viel”. Dieser eineStudent, der den Grad seines Wissens über die deutschsprachigen Mitbegründer der Istanbuler Universität als “viel”bezeichnete, erzählte mir anschließend, daß “Atatürk 1933 Flüchtende aus Deutschland aufgenommen, ihnen Brot undArbeit gegeben und so die Gastfreundschaft der Türken bewiesen hat”.

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Einführung 16

3.3 Zur Problematik der Terminologie

Die Debatte um die richtige Terminologie zum allgemeinen Thema der Flucht aus

dem deutschsprachigen Machtbereich nimmt in der wissenschaftlichen Literatur

einen breiten Raum ein. Vorwiegend werden die Begriffe “Exilant / Exil,

Emigrant/Emigration, Asylant/Asylland und Flüchtling/Fluchtland, -ort” benutzt und

verschieden ausgelegt, wie die folgenden Definitionen als Beispiele zeigen sollen. So

definiert Hans-Albert Walter das Exil als “ein politisch erzwungenes Verlassen des

Heimatlandes, in das man zurückzukehren bestrebt ist, wenn die Umstände dort

wieder anders geworden sind”16. Helmut Müssener bezieht in seine Analyse mehrere

Arbeiten und Forschungsergebnisse über die Definitionsproblematik, sowie eine

Rundfrage unter deutschsprachigen Flüchtlingen/Emigranten/Exilanten, welche

Bezeichnung sie akzeptieren, ein17. Er kommt zusammenfassend zu dem Schluß,

daß “die terminologische Streitfrage komplex ist und es schwer sein dürfte, zu einer

eindeutigen Lösung zu kommen, die für alle Beteiligten akzeptabel ist”18. Arnold

Spitta tritt für eine Unterscheidung zwischen “Exilanten” und “Emigranten” ein. Nach

ihm ist ein “Exilant wegen seines eigenen politischen Handelns bzw. seiner

politischen Anschauungen zur Flucht oder Auswanderung gezwungen worden. Der

Emigrant hingegen mußte aus Gründen, die von seiner eigenen politischen

Einstellung und Aktivität unabhängig waren (z. B. rassische Verfolgung), seine

Heimat verlassen”19. Theo Stammen ist auch für das Heranziehen der beiden

Sprachsymbole, wie er es bezeichnet, “Exil” und “Emigration”. Er erkennt in seiner

Sicht eine gemeinsame Erfahrung der beiden Begriffe, daß “ein einzelner oder eine

Gruppe von einer sozialen oder politischen Gesamtheit oder Einheit gewaltsam

ausgeschlossen und vertrieben wird”20. Stammen sieht jedoch den Unterschied der

beiden “Sprachsymbole” darin, “daß bei Exil die Trennung gänzlich von außen

erzwungen und insofern unfreiwillig ist, während bei Emigration der Betreffende sich

16 Hans Albert Walter, “Die Exilliteratur und ihre Erforschung, in: Akzente, Bd. 5, Frankfurt a.M, 1975, S. 97.17 Helmut Müssener, “Die deutschsprachige Emigration in Schweden nach 1933 - Ihre Geschichte und kulturelleLeistung”, Uppsala 1971, S. 71 - 103.18 Helmut Müssener, a.a.O., S. 103.19 Arnold Spitta, “Paul Zech im südamerikanischen Exil 1933 - 1946”, Berlin 1978, S. 9.20 Theo Stammen, “Exil und Emigration”, in: Exilforschung - Ein internationales Jahrbuch, Bd. 5, München 1987, S. 14.

Page 18: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Einführung 17

letztlich selbst dazu entscheidet, aus dieser sozialen / politischen Einheit

wegzugehen”21.

Ich betrachte es nicht als die Aufgabe dieser Arbeit, die Debatte um diese Begriffe

weiterzuführen, da dies über mein Anliegen hinausführen würde. Ich verweise in

diesem Zusammenhang auf die angeführten Autoren und die Diskussionen, die

innerhalb der Emigrationsforschung, vor allem in der letzten Dekade aus dem Kreis

um die “Gesellschaft für Exilforschung” ausgehend, entwickelt und weiterverfolgt

werden. Ich muß jedoch auf ein Problem im Zusammenhang der spezifischen

Situation der Türkei aufmerksam machen. Die Menschen, die in den

nationalsozialistischen Jahren Deutschland und den deutschsprachigen

Machtbereich verließen und in die Türkei gingen, müßten nach den dargestellten

Definitionen eigentlich sowohl als “Exilanten” als auch als “Emigranten” bezeichnet

werden. Die zumeist wissenschaftlichen Flüchtlinge in der Türkei mußten nach 1933

in der Regel Deutschland verlassen, weil sie politisch und/oder rassisch unerwünscht

waren und physisch bedroht und verfolgt wurden; es gab aber auch eine große

Anzahl von Flüchtlingen, die aus persönlichen Gründen und aus freier Entscheidung

oder, weil sie nicht unter einem nicht demokratischen Regime leben wollten,

beschlossen, nicht mehr in Deutschland zu bleiben und zu wirken. An dieser Stelle

stoße ich aber auf ein Problem, das die herkömmliche Bezeichnung für diese

Gesamtgruppe im Falle der Türkei noch komplizierter macht: Eine Emigration setzt

nicht nur eine gewisse Freiwilligkeit voraus, sondern auch ein Land, in das man

beabsichtigt zu emigrieren, mit dessen Kultur, Sprache, Geschichte etc. man sich

länger oder kürzer beschäftigt hat22. So gesehen kann die Türkei für die betreffende

Gruppe nicht als ein Emigrationsland angesehen werden. ”Zu der Zeit wußten die

meisten von uns über die Türkei nicht mehr, als sie aus den Karl-May-Romanen ihrer

Kindheit behalten hatten”23 sagte dazu Fritz Neumark. Aufgrund der vorhandenen

Quellen wie auch meiner Recherche ist davon auszugehen, daß die Absicht, freiwillig

in die Türkei zu emigrieren, dort sich niederzulassen und zu leben, vor 1933 bei

keinem der deutschsprachigen Flüchtlinge vorhanden war, die nach 1933 wegen der

Gegebenheiten in die Türkei gingen. Die wichtigste Gegebenheit auf der türkischen

21 Theo Stammen, a.a.O. S. 15.22 Ähnliches gilt auch natürlich für das Schicksal der Flüchtlinge in Shangai, Indien oder anderen peripheren Ländernder Flucht. Hingegen werden Fluchtländer wie Frankreich, England, Schweden, Italien, die USA, aber auch die SUschon alleine wegen der kulturellen Verwandtschaft, teilweise auch wegen der sprachlichen Bekanntschaft, für dieMehrzahl der Flüchtlinge viel leichter zugänglich gewesen sein.23 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark, Berlin 09/10.10.1989.

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Einführung 18

Seite waren die sogenannten “Reorganisationspläne der Istanbuler Universität”. Die

alte Universität sollte nach dem Willen des türkischen Präsidenten Mustafa Kemal

geschlossen, ihre Mitarbeiter entlassen und durch ausländische Lehrkräfte ersetzt

bzw. neu besetzt werden. Die Vorbereitungen für diese Maßnahmen liefen jedoch

schon seit 1928 und wurden 1932 zu Ende geführt. Wenn die Pläne zur

Reorganisation, zu deren Einzelheiten und Inhalten ich im Laufe dieser Arbeit näher

eingehen werde, früher beendet und die Schließung der Istanbuler Universität etwa

1931 erfolgt wäre, wären die nach 1933 in der Regel von deutschsprachigen

Flüchtlingen eingenommenen Lehrstühle und -stellen schon zu dieser Zeit von

anderen ausländischen, eventuell vielleicht wieder von deutschsprachigen

Lehrkräften besetzt gewesen. Bei der vorhandenen Literatur zum Thema entsteht der

Eindruck, daß die Aufnahme deutschsprachiger Flüchtlinge ein politisch-humanitärer

Akt der türkischen Seite war. Dies trifft nur bedingt und in wenigen Fällen zu. Für die

Türkei resultierte die Aufnahme aus der Notwendigkeit der eigenen Situation um die

Universität in Istanbul und den anderen hochschulähnlichen Einrichtungen in Ankara

heraus. Das Land begriff sich zu keiner Phase als ein Emigrations- oder

Einwanderungsland; das Fehlen von Gesetzen in dieser Richtung belegt diese

Tatsache.

Parallel dazu ist festzustellen, daß ein Flüchtling an sich nicht die Wahl eines

bestimmten Landes hat. Er sucht sich nicht ein Land aus, sondern flüchtet in das

nächst mögliche sich anbietende Land. Das Entscheidende für den Flüchtling ist, daß

er überhaupt flüchten muß und kann.

Die Türkei bot nach ihren eigenen Kriterien und Entscheidungsfaktoren einer

bestimmten Anzahl von Flüchtlingen mit einer bestimmten Qualifikation die

Möglichkeit, in das Land zu flüchten und hier für eine zunächst begrenzte Zeit zu

arbeiten. Ansonsten blieben die Grenzen des Landes für andere, nicht eingeladene

und dadurch nicht privilegierte Flüchtlinge, schwer zu überbrücken, wenn nicht völlig

verschlossen.

Gleichzeitig muß hinzugefügt werden, daß die Türkei sich nicht etwa als nazi-

und/oder deutschlandfeindlich begriff, sondern bis zu der letzten Kriegsphase sehr

intensive außenpolitische, wirtschaftliche und auch militärische Kontakte mit dem

nationalsozialistischen Deutschland pflegte und parallel zu den „Flüchtlingen“ auch

sogenannte „Reichsdeutsche“ in Universitäten und staatlichen Betrieben

beschäftigte.

Page 20: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Einführung 19

Zusätzlich ist auch die Problematik der Integration nicht zu vernachlässigen. Ein

“Flüchtling” oder “Exilant” wird erst zum Emigranten, wenn er sich in das Land

integriert - zumindest belegt die aktuelle Problematik der türkischen Emigration in

Deutschland diese Realität. Bei den deutschsprachigen Flüchtlingen in der Türkei ist

die Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration, vielleicht aus den besonderen

Gründen der Zeit und des Landes, eher nicht vorhanden. Neben zahlreichen

Flüchtlingen, die die Türkei nach relativ kurzem Aufenthalt wieder verließen und in

andere Länder weiter flüchteten, trennten sich die meisten über die Kriegszeit in der

Türkei gebliebenen Flüchtlinge mit dem Ende des Krieges, oder sobald sich eine

Möglichkeit anbot, von der Türkei. Den wenigsten gelang es, sich über ihr Arbeitsfeld

hinaus mit ihrem Fluchtland als solches zu identifizieren. Die abgeschnittenen

politischen Artikulationsmöglichkeiten und die Fremdheit der Kultur mögen diese

Entwicklung beeinflußt haben. Ich möchte eher als eine Randbemerkung hinzufügen,

daß es in dem ganzen Zeitraum, nach meiner Recherche zu zwei Eheschließungen24

zwischen Flüchtlingen und türkischen Staatsangehörigen kam!

Auf der Basis dieser widersprüchlichen Situation und der eigenen Überlegungen

sehe ich im Zusammenhang mit der Türkei keine verbindlichen Kriterien für eine

klare und endgültige Definitionsmöglichkeit, weder für die Flüchtlinge noch für das

Land. Deswegen werden die deutschsprachigen Menschen, die Deutschland und

seinen Machtbereich verlassen und in die Türkei kommen konnten, in dieser Arbeit in

der Regel als “Flüchtlinge” bezeichnet; das Heranziehen anderer Begriffe wie

“Emigrant” und “Asylant” ist nicht bindend und eher ein Ergebnis der

Begriffsverwirrung. Für die Türkei benutze ich unter diesen gegebenen Umständen

den Begriff “Fluchtland /-ort”.

3.4 Gliederungsprinzipien

Die Arbeit besteht aus vier Hauptabschnitte. Das erste Kapitel der Dissertation ist der

Geschichte des Fluchtlandes Türkei gewidmet, wobei die außenpolitischen

24 Dies waren der Chemiker Hans Marchand und der Botaniker Alfred Heilbronn. Ich halte die Institution “Ehe” bzw.“Heirat” persönlich für das Maß weniger Dinge, aber sie wird in soziologischen Debatten um Migration und Integrationimmer wieder als ein Gradmesser angesehen und interpretiert. So weist die Ausländerbeauftragte von Berlin, BarbaraJohn, in ihrem Jahresbericht von 1995 besonders darauf hin, daß “es in der Stadt immer mehr Mischehen gibt, dieAnzahl von Eheschließungen gerade zwischen Türken und Deutschen als Resultat einer erfolgreichen Integrationslinieüberproportional zunimmt”, Pressekonferenz Barbara John, 15.10.1995, Beitragsmanuskript Cem Dalaman, SFB-Türk.Red/ 16.10.1996.

Page 21: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Einführung 20

Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei besonders berücksichtigt

werden. Ein weiteres Ziel ist es aufzuzeigen, wie und warum es zur Aufnahme von

deutschen Flüchtlingen und Emigranten in der Türkei kam und kommen mußte.

Im zweiten Kapitel erfolgt neben den Gründen und Hintergründen der

Universitätsreform ein biographischer Abschnitt über mehrere in die Türkei

gekommene Wissenschaftler und ihre Fach- und Arbeitsgebiete.

Für jeden Bereich stehen exemplarische Lebensläufe. Auf einen ausführlichen bio-

bibliographischen Überblick verzichte ich, da die umfassende wissenschaftliche

Arbeit von Horst Widmann gerade diesen Aspekt im Anhang vollständig abdeckt und

ich nicht eine Wiederholung dessen betreiben will. Mein Anliegen im dritten Kapitel ist

es, von mir bewußt ausgesuchte Personen und ihre Zeit in der Türkei zur Diskussion

zu stellen. Diese Personen sind der Sozio-Ökonom Gerhard Kessler, der Komponist

Paul Hindemith, der Bildhauer Rudolf Belling, und der Übersetzer Cornelius Bischoff.

Dabei strebe ich an, Fragen nachzugehen, die ihre persönliche Geschichte und die

politische Lage zu kombinieren erlauben, um so über die Einzelbiographien

hinausgehende Einsichten zur Emigration in der Türkei offenzulegen.

Der letzte Abschnitt ist den auch in der Wissenschaft sogenannten namenlosen

Flüchtlingen gewidmet. Die Türkei hat seit dem Ende des 2. Weltkriegs immer auf

ihre besondere Situation als Zufluchtsland für deutsche Wissenschaftler

hingewiesen. Daß jedoch andere Flüchtlinge, wenn überhaupt, nur unter sehr

schwierigen Bedingungen in die Türkei kommen konnten, wird verschwiegen. Dabei

geht es auch darum, ein Defizit der türkischen Geschichtsschreibung offenzulegen.

Die Suche nach der vollen Dimension des Themas erfordert die Beobachtung der

Emigranten und des Fluchtlandes nicht wie sie sein sollten, sondern wie sie

tatsächlich waren. Eine Bedingung dafür ist, die vorangegangenen Urteile und

Bezeichnungen in Frage zu stellen, wenn nötig aufzulösen und im gleichen Zuge

neue Punkte, unerwartete Zusammentreffen und unwahrscheinliche Kontinuen zu

konstituieren. Ein Ziel: die Befreiung des Stoffes vom Mythos zu leisten und dadurch

einen neuen Zugang zu schaffen.

3.5 Arbeitsweise

Die Geschichte geht mich in ihrer vollen Wahrheit an. Deshalb finde ich es

notwendig, sich gegenüber der Geschichte allgemein und gegenüber der Geschichte

Page 22: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Einführung 21

der deutschen Flüchtlinge in der Türkei im besonderen aufrichtig zu verhalten. Das

ist auch erforderlich, wenn ich den epigonalen, die Indifferenz beschleunigenden

Formen gegenübertreten will. Darunter verstehe ich: die objektiven Ereignisse und

positiven Merkmale unterstreichen, dabei aber nichts verschweigen, auch jeden

Irrtum zugeben, sobald er erkannt ist, sich dem vollen Umfang der Ereignisse stellen.

Beim Schreiben dieser Arbeit war ich mir dieser Voraussetzung und

Verantwortlichkeit bewußt, um so mehr, als es hier um ein Ereignis der politischen

Geschichte geht, die keineswegs jedem gegenwärtig ist, die grob gesagt, unbekannt

ist.

In meinem Arbeitsnetz gibt es nicht unbedingt Zentren und Spitzen, die man

beobachten könnte, um daraus Schlüsse auf alles andere zu ziehen. Die Spitze ist

überall, die Information ist über das ganze Netzwerk verteilt. Wenn man wissen will,

was womit kommuniziert und was wohl als nächstes geschieht, muß man der

Information folgen. Und man muß wissen, daß man sie voneinander unterscheiden

muß. Jedes einzelne Kapitel der Arbeit steht für sich, trägt einen selbstständigen

Sinn. Zusammen betrachtet ergeben diese Einzelteile eine Gesamteinheit. Diese

Einheit ist auf der organischen und thematischen Verbindung der einzelnen Bereiche

basierend, nach der sie sich zusammenfügen. Ich will gerade diese Logik in eine

Überlogik treiben, um dann zu sehen, was daraus entsteht. Es geht darum, in und mit

diesem Netz hin und her zu rasen. In meiner Vorgehens- und Denkweise bediene ich

mich an einem Koordinatensystem, das ich mir aufgebaut habe. Manchmal auch mit

spekulativen Gedankengängen. Auch deshalb, weil ich zwar ein Ziel, aber keine

fertigen Konzepte habe, eher Hypothesen und Metaphern, die in Spiralen ablaufen.

Ich verstehe in meiner Arbeitsweise das Forschen als Projekt - Experimentieren und

Ausprobieren von Hypothesen, Verfolgen und Dokumentieren, ohne vorher genau zu

wissen, wie es sich entwickelt, also der Gang des chemischen Prozesses. Ich halte

mich an die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens. Ich kenne nun eine Wahrheit

der Geschichte der deutschsprachigen Flüchtlinge in der Türkei, die ich unter

wissenschaftlichen Regeln und Voraussetzungen gesucht habe. Ich bin ihr und ihnen

lange genug nachgereist, ich habe sie durch Archive und Bibliotheken verfolgt. Doch

all das hilft mir nicht, wenn es mir nicht gelingt, meine eine Wahrheit, das, was ich

erfahren habe, in einer verständlichen Sprache mitzuteilen. Also ohne zu vergessen,

daß hinter trockenen Fakten und Zahlen sich sehr oft farbige Geschichten und

menschliche Einzelschicksale verbergen. Sie lassen sich sehr schwer in rationellen

Page 23: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Einführung 22

Kategorien zwingen, ohne an Wirklichkeitssubstanz einzubüßen. Gerade der Gefahr

dieser Austrocknung zu entgehen, ist das Ziel meiner Sprache und meiner Form. Die

nicht mitteilbare Sprache fängt gar nicht an zu existieren. Sprachen mit Aussagen nur

für Eingeweihte sind nicht interessant. Deshalb ist es mein Anliegen, die wichtigen

Sachverhalte so darzustellen, daß sie verstanden werden, daß aus den Wörtern

eines Satzes der gemeinte Sachverhalt gewissermaßen für sich selber hergestellt

wird25. Neben einer lebendigen Sprache sollen der Einbau von mehreren Exkursen,

neuen, aber auch geschichtlichen und themenbezogenen Zitaten den aktuellen

Bezug des Themas suchen und das Bild vervollständigen. Das Experimentieren mit

ihnen ersetzt letztlich das Interpretieren. Die Bezugsautoren und -quellen sind Teil

meines Denkens.

25 Ohne Übermittlung ist Kommunikation nicht möglich. Oder sie ist zumindest nicht sinnvoll. Wissenschaftlich fundierteArbeiten können auch so umgesetzt werden, daß sie, wie so oft, nicht in einer Schublade verstauben, sondernzumindest von den Freunden und vielleicht von einigen anderen auch, zu Ende gelesen und verstanden werden. Hiersehe ich Ludwig Wittgenstein als eine Unterstützung für meine Gedanken. Er schrieb: “ Alles, was überhaupt gedachtwerden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen”. (LudwigWittgenstein, Tractatuslogico-philophicus. Logisch-philosophische Abhandlung; Frankfurt a.M. 1969, S. 112.)

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Einführung 23

Gehen wir, etwas besseres als den Tod werden wir überall finden

Bremer Stadtmusikanten

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Flucht - Konsequenz der Geschichte 24

Zweites Kapitel

1 Flucht - Konsequenz der Geschichte

Am 30.01.1933 eröffnete die Ernennung Adolf Hitlers zum Kanzler eines

Koalitionskabinetts den Weg zur Machtübernahme der NSDAP in Staat und

Gesellschaft. Für weite Kreise der deutschen Bevölkerung versprach der

Regierungswechsel zunächst Hoffnung auf wirtschaftliche Sicherheit und

außenpolitische Stärke. Für Menschen, die aufgrund ihrer Rolle in der Weimarer

Republik sich einen Ruf als Gegner des Nationalsozialismus erworben hatten oder

intellektuell und rassisch nicht in die nationalsozialistische Ideologie paßten,

bedeutete der Machtwechsel hingegen eine akute physische Gefährdung. In den

ersten Monaten nach der Machtergreifung wurden willkürlich in erster Linie

kommunistische oder sozialdemokratische Parteimitglieder terrorisiert, mißhandelt, in

Schutzhaft genommen oder in schnell aufgebauten Konzentrationslagern

eingesperrt1. Drohungen, Terror und Brutalität beherrschten den Alltag dieser

Menschen. Für die meisten der Gefährdeten gab es zwei Alternativen: Flucht oder

das Risiko des Bleibens. Die persönliche Entscheidung zwischen den beiden

Alternativen wurde neben der tatsächlichen Lebensbedrohung auch von den

nationalsozialistischen Maßnahmen und Gesetzen mitbestimmt, die die

Entmündigung kritischer, politisch oder rassisch unerwünschter Menschen

bezweckten. Schon ein Tag nach dem Reichstagsbrand2 unterzeichnete Präsident

Hindenburg die ’Notverordnung gegen Verrat am deutschen Volk und

hochverräterische Umtriebe’; die Verordnung erklärte die “Beschränkungen der 1 Die Ereignisse nach der Machtergreifung erfordern, gerade im Hinblick auf die Forschungsergebnisse der letztenJahre, eine differenzierte Betrachtungsweise. Auch wenn im Gesamtüberblick über den deutschen Nationalsozialismusdie Barbarei an den Juden im Vordergrund bleibt und zu bleiben hat, muß trotzdem festgehalten werden, daß diepolitische Wirklichkeit nach 1933 in erster Linie und zuerst linke Intellektuelle und Politiker als zu vernichtende Feindeanvisierte und nicht Juden als solche. Daß ein Großteil der Intellektuellen und Linken jüdischer Abstammung waren,ändert nichts an dieser Tatsache. Die ungeheuerliche Behandlung der Juden als Juden setzte erst nach derAusschaltung der Intellektuellen und Linken ein. Der jüdische Intellektuelle Gad Beck sagte mir in diesemZusammenhang, daß vor allem viele apolitische und konservative Juden sich bis zum Reichsbürgergesetz nichtunbedingt als Hauptfeinde Hitlers gesehen haben und seine Aversion gegen Marxismus sogar mitgeteilt haben.Gespräch mit Gad Beck, Berlin 14.10.1994. Gad Beck ist Pressesprecher des Jüdischen Gemeindehauses in derFasanenstraße in Berlin, hat den 2. Weltkrieg im Untergrund überlebt und konnte durch illegale Transporte mehrerenjüdischen Kindern das Leben retten. Seine Memoiren sind erschienen als: Gad Beck, Und Gad ging zu David -Erinnerungen des Gad Beck 1923 - 1945, Berlin 1995. Zusätzlich möchte ich auf die Forschungsergebnisse des jüdisch-amerikanischen Historikers Mark Rigg hinweisen, der nachweisen konnte, daß sogar tausende Soldaten jüdischerAbstammung bis in die 40er Jahre in der Wehrmacht dienen konnten. Die Ergebnisse seiner Untersuchung sind alsDossier in Zeit erschienen : Byran Mark Rigg, Riggs Liste, Die Zeit, 04.04.1996.

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Flucht - Konsequenz der Geschichte 25

persönlichen Freiheit, des Rechtes der freien Meinungsäußerung, einschließlich der

Pressefreiheit” für zulässig. Bei den Reichstagswahlen am 05.03.1933 erhielt die

NSDAP 44 % der Stimmen. Josef Goebbels wurde Minister für Volksaufklärung und

Propaganda. Am 09.03.1933 wurden die Reichstagsmandate der KPD annulliert, der

Reichstag wurde am 23.3.1933 aufgrund des ’Ermächtigungsgesetzes’ aufgelöst, die

Länder mit dem Reich gleichgeschaltet; am 02.05.1933 wurden die Gewerkschaften

in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert; am 22.06.1933 erfolgte das Verbot der

SPD und am 14.07.1933 das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien, also die

formelle Besiegelung der nationalsozialistischen Alleinherrschaft. Am 07.03.1933

hatte der ’Börsenverein deutscher Buchhändler’ eine Liste mit „undeutschen“

Büchern veröffentlicht, diese Bücher wurden am 10.05.1933 von Studenten und SA-

Angehörigen öffentlich verbrannt. Die Gründung der „Reichskulturkammer“ am

22.09.1933 verpflichtete Künstler und Schriftsteller, in ihrer Arbeit nur noch

nationalsozialistische Ideale und Ideologie zu berücksichtigen.

Die entscheidende Legitimation für die Entlassung von politischen und rassischen

Gegnern der nationalsozialistischen Ideologie aus dem Staatsdienst gab das „Gesetz

zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums“ vom 07.04.1933. Das Gesetz

besagte: §1 „Zur Wiederherstellung eines nationalen Berufsbeamtentums und zur

Vereinfachung der Verwaltung können Beamte nach Maßgabe der Bestimmungen

aus dem Amt entlassen werden, auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür

erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen“ und §4.3 „Beamte, die nicht arischer

Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen“3. Mit diesem Gesetz war die

rechtliche Legitimierung für die Vertreibung aus den deutschen Universitäten

geschaffen4. Mit diesen Maßnahmen, Verordnungen und Gesetzen wurden innerhalb

von einigen Monaten fast alle Gegner auf gesetzlichem Weg ausgeschaltet. Diese

Gesetze bezweckten zugleich die beruflich-gesellschaftliche Zurücksetzung der

vermuteten und tatsächlichen Gegner des Nationalsozialismus und die Eliminierung

ihres „weltanschaulichen“ Einflusses im öffentlichen Leben. Flucht aus dem Dritten

Reich war in den ersten Jahren noch relativ ungehindert möglich, sofern man über

einen gültigen Auslandspaß verfügte oder mutig genug war, illegal aus dem Land zu

2 Am 27.02.1933 brannte der Berliner Reichstag. Der Brand wurde den Kommunisten zur Last gelegt.3 Ausführlicher über das Gesetz und seine Folgen auch in: Wolfgang Scheffler, Judenverfolgung im Dritten Reich, Berlin1960.4 15 Prozent des Lehrkörpers der deutschen Hochschulen wurden in der Folge aus politischen und rassischen Gründenaus ihren Stellungen entfernt, verfolgt oder zur Flucht aus Deutschland gezwungen.

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Flucht - Konsequenz der Geschichte 26

gehen5. Um die Jahreswende 1933/34 hatten an die 80 000 Menschen Deutschland

verlassen, weil sie sich dem nationalsozialistischen Regime nicht beugen wollten -

dadurch hatte ihr Entschluß, aus Deutschland zu flüchten, auch eine politische

Dimension.

Zentren der Flucht waren nach 1933 zuerst umliegende europäische Länder wie

Frankreich, Holland, die Schweiz und die Tschechoslowakei. Ende 1933 hielten sich

30 000 der deutschen Flüchtlinge in Frankreich auf. Durch die Verlagerung der SPD

nach Prag entwickelte sich auch die Tschechoslowakei bis zu ihrer Besetzung in

1939 zu einem wichtigen Fluchtland6. Den Flüchtlingen in diesen benachbarten

Ländern ging es um eine enge Teilnahme an den Entwicklungen in Deutschland und

die Verbindung zur Heimat. Gleichzeitig wurde mit der Nähe auch die Hoffnung

wachgehalten, daß das Regime in Deutschland nach kurzer Zeit zusammenbrechen

würde. Langfristig gesehen wurden jedoch die Vereinigten Staaten mit über 120.000

Menschen das wichtigste Aufnahmeland für Flüchtlinge aus Deutschland und seinem

Machtbereich. Auch skandinavische Länder und Staaten in Südamerika und Asien

wurden zu Fluchtländern.

Insgesamt 500.000 Menschen verschiedenster Sozialisation und Herkunft und

verschiedenster politischer Überzeugungen sahen sich zwischen 1933 und der

Verhängung der Auswanderungssperre im Oktober 1941 gezwungen, ihre Heimat zu

verlassen. Eine halbe Million Flüchtlinge, der größte Teil von ihnen Juden, die in alle

Welt gingen und sich dadurch vor dem Nationalsozialismus und seiner Barbarei

retteten. Eine halbe Million Schicksale.

Unter diesen 500 000 Flüchtlingen war neben den rein politisch agierenden

Flüchtlingen eine große Anzahl der bedeutendsten und kreativsten

deutschsprachigen Künstler, Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler und

Intellektuelle. Stellvertretend, und völlig subjektiv ausgewählt seien genannt: Hannah

Arendt, Max Reinhardt, Berthold Brecht, Kurt Tucholsky, Otto Dix, Stefan Heym,

Hanns Eisler, Peter Lorre, Robert Musil, Erika und Klaus Mann, Oskar Kokoschka,

Peter Weiss, Elias Canetti, Lisa Meitner, Paul Klee, Walter Gropius, Erwin Piscator,

Ludwig Marcuse, Albert Einstein.

5 In der ’Enzyklopädie des Holocaust’ wird festgestellt, daß “die Regierung sie (Hier sind die deutschen Juden gemeint/Anm. C. Dalaman) zur Ausreise ermutigte”. Vgl.: Enzyklopädie des Holocaust - Die Verfolgung und Ermordung dereuropäischen Juden, 3 Bde., Bd. 1, S. 464.6 Die Tschechoslowakei wurde am 15.03.1939 besetzt.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 27

Viele blieben aber auch in Deutschland, paßten sich wie Ernst Barlach, Gottfried

Benn und Gustaf Gründgens an oder gingen in die sogenannte “Innere Emigration”

wie Erich Kästner oder Karl Hofer.

Es gilt in diesem Zusammenhang zwischen diesen sogenannten anerkannten und

berühmten Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Professoren oder Medizinern

und namens- und vor allem mittellosen Flüchtlingen zu differenzieren. Brecht,

Tucholsky und viele andere nahmen ihre berühmten Namen mit über die Grenze und

hatten es infolgedessen leichter, sich in einem anderen Land niederzulassen und,

wie sehr oft, neue Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Die anderen blieben aber auch in

der Flucht namens- und mittellos. Viele Flüchtlinge verzehrten ihre Kräfte dabei, sich

in der Fremde eine neue Existenz zu schaffen. Manche wandten sich ganz von

Deutschland ab, einige begingen aus Verzweiflung oder Angst Selbstmord.

Das Verlassen der Heimat ist eine entscheidende Zäsur.

Der Weg in die Emigration bedeutete für die Menschen zugleich den Verlust der

Heimat für eine sehr lange Zeit, aber auch Trennung von Familie, Freunden, Arbeit

und Gewohntem. Trotzdem, trotz der Entbehrungen, war die Flucht für die meisten

ein Privileg, weil sie mehr oder weniger das nackte Überleben sicherte. Für

zahlreiche deutschsprachige Menschen aus der Wissenschaft, aus deutschen und

deutschsprachigen Universitäten, wurde die Türkei zum Fluchtort.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 28

2 Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen

2.1 Einführung

Die Türkei ist ein rätselhaftes Land: sie wollte eine so lange Zeit zu Europa gehören,

als ein europäisches Land angesehen werden. Für die meisten Politiker des Landes,

und zwar seit der Gründung der Republik vor beinahe 75 Jahren, war und ist Europa

das Maß aller Dinge. Europa, stellvertretend für alles westliche, wurde mit einem

diffusen Begriff der Zivilisation gleichgesetzt. Klarheit, Logik und Intelligenz wurden

Europa zugeschrieben, alles Eigene, von der bunten, anatolischen Geschichte bis

zur östlichen Mystik, im Laufe der letzten Jahrzehnte, so oft es geht, unterdrückt,

verneint oder zumindest bestritten. Die eigene Andersheit, die Einzigartigkeit wurde

auf dem Altar des Westens geopfert und dann zu Grabe getragen. Europa wurde

zum absurden Fetisch des türkischen Staates, der türkischen Eliten des 20.

Jahrhunderts. Jeder Fetisch unterdrückt den Menschen, der an ihn glaubt. Die

Menschen erschaffen Götter und Götzenbilder, die dann sie unterdrücken. Der

Fetisch ist anthropologisch immer überlegen, denn er basiert auf Unsicherheit und

Labilität des Anderen. Zum Identitätsverlust führt nichts leichter als ein Fetisch.

Fetisch ersetzt die Identität, sie wird zur Scheinidentität. Noch dazu häufen sich seit

spätestens Auschwitz die Fragen zu Fetisch Europa: inwiefern ist Europa überhaupt

das Maß aller Dinge? Ist es nicht in sich zerstritten und von der Metastase

Zivilisationskrankheiten und -katastrophen zerfressen? Und hat Europa nicht all seine

Geheimnisse längst verloren, als es mit der Kolonisation seine Werte für universell

und allgemeingültig erklärte und dadurch ihren Mythos aufs Spiel setzte?

Die Türkei gehorchte lange dem System der Werte und den Zielen des westlichen

Projekts. Seit der Mitte des 19.Jahrhunderts, als das Osmanische Reich zu bröckeln

anfing, suchten Machthaber immer wieder die Lösung an einer Orientierung des

Landes am Westen. Der Höhepunkt dieser Ausrichtung war zusammen mit der

Gründung der Türkischen Republik die Präsidentenschaft von Mustafa Kemal

Atatürk. Das Land sollte nach seinen Vorstellungen von seiner Vergangenheit in

einem radikalen Modernisierungsprozeß Abschied nehmen und sich in kürzester Zeit

als ein Teil der westlichen Zivilisation definieren. Dieser Prozeß ist in der Türkei noch

immer nicht beendet bzw. vollendet. Es wird im Gegenteil, im Zusammenhang mit

den politischen Entwicklungen im Land immer klarer, daß die Türkei, trotz und

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 29

vielleicht gerade wegen der künstlichen Verwestlichungsbestrebungen außerhalb

des westlichen Systems geblieben ist, weil ihre Andersheit, die Andersheit ihrer

Kultur und Menschen in der Unterfläche (im Gegensatz zur Oberfläche der

politischen Elite) überlebt hat. Das in den westlichen Ländern so befürchtete

Phänomen einer neuen islamischen Identität in der Türkei ist eigentlich nur die

natürliche Folge eines gescheiterten Experiments und ein Phänomen der

Umkehrung. Wenn sich der Mensch nicht mehr dem anderen aussetzt, dann

begegnet er sich wieder selbst. Neben der jüngeren Geschichte der türkischen

Republik, die mit der Staatsgründung im Jahre 1923 ihren Anfang nahm, rückt dabei

auch die weitere Vergangenheit der türkischen Nation ins Bewußtsein, da sich aus

ihr viele Ursachen der uns hier im Westen permanent erscheinenden Dauerkrise der

Türkei ableiten lassen. Ich kann in diesem Abschnitt nur den Versuch unternehmen,

vor allem jene historischen Fakten und Bewegungen im Aufriß darzustellen, die vor

allem mein Thema direkt und indirekt betreffen und zugleich auch heute noch ihren

Einfluß in den deutsch-türkischen Beziehungen geltend machen. Es kann jedoch

nicht die Aufgabe dieser Dissertation sein, ein lückenloses Bild der türkischen

Geschichte mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen

aufzuzeichnen7 Das bedeutet konkret, daß ich in erster Linie in Abrissen die Zeit vor

und während der Gründung der Türkischen Republik und ihre ersten 20 Jahre

aufzeichne. Diese Zeit mit ihrer widersprüchlichen Entwicklung liefert auch die

Gründe, weshalb deutsche Wissenschaftler Zuflucht in der Türkei gefunden haben

und finden konnten.

7 Trotz der zeitlichen und thematischen Begrenzung möchte ich folgendes erwähnen. Will man Verständnis für dieheutigen, allgemeinen Problematiken in der Türkei finden, so bietet die neuere Geschichte der Türkei nicht alleAntworten. Eine Reihe von Problemen der heutigen Türkei reicht weit, viel zu weit zurück. Man kann die Türken und dieTürkei nicht beurteilen, ohne ihren Werdegang seit ihrem Übertritt zum Islam vor beinahe 1000 Jahren einzubeziehen.Die vordergründige Dominanz der arabisch-islamischen Kultur gegenüber dem Türkischen, später die Kriege derOsmanen gegen Byzanz, dann die Epoche der großen Siege und Landgewinne und parallel dazu die ewige,internationale Isolierung, wie man es heutzutage im politischen Jargon ausdrücken würde, und zum Schluß die Rolledes “Kranken Mannes am Bosporus” sind nur einige Stichpunkte in diesem Zusammenhang.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 30

2.2 Überblick über den historischen Hintergrund

2.2.1 Zusammenbruch eines Experiments

An der Wende zum 20. Jahrhundert, am fin de siècle, machten sich im sozio-

ökonomischen Leben der Türkei große Veränderungen bemerkbar, die von nun an

großen Einfluß auf die letzte Zeit des Osmanischen Reiches nahmen. Die Türkei war

seit 1875 nicht mehr in der Lage, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber den

Gläubigerländern wie Frankreich und England nachzukommen und hatte den

Staatsbankrott erklärt. Das Land wurde, zumindest in ökonomischer Hinsicht, von

einer internationalen Finanzkommision geleitet. In dieser Zeit, in der Sultan

Abdülhamid II. (1876- 1909) herrschte, wurde die seit 1838 gültige Verfassung außer

Kraft gesetzt und das politische System wieder als autokratische Herrschaft

begriffen. Die Opposition aus Intellektuellen, Offizieren und hochrangigen Mitgliedern

der Administration strebte zwar eine grundlegende Veränderung der inneren Struktur

des Reiches an, war aber am Anfang sehr klein und erfolglos. Erst als es

verschiedenen oppositionellen Persönlichkeiten und Gruppen 1907 gelang, sich

zusammen zuschließen8 und mit Unterstützung von Teilen der Armee zu revoltieren,

blieb dem Sultan nichts anderes übrig, als den Forderungen der sogenannten

Jungtürken nachzugeben und ab diesem Zeitpunkt zuerst als konstitutioneller

Monarch zu regieren, um dann bald bei einem zweiten Aufstand aufgehängt zu

werden. “Alle, die Türken, die Araber, die Juden, die Armenier und die Serben

umarmten sich auf den Straßen. Es war so, als ob alles neu anfing” weiß Lenin von

diesen Tagen und Ereignissen zu berichten9. Doch die Euphorie, die durch diese

Revolten von 1908 und 1909 anscheinend aufgekommen war, hielt nicht lange an. In

kürzester Zeit wurde klar, daß auch die aus ihren Exilorten zurückgekehrten

Jungtürken nicht unbedingt grundlegende, revolutionäre Maßnahmen planten,

sondern in erster Linie den Zerfall des Osmanischen Staates verhindern wollten, in

8 Die oppositionellen Türken dieser Zeit lebten meistens im selbstgewählten Exil in Paris oder Genf. Der Widerstandgegen den Sultan wurde deshalb, wie sehr oft, von außen aus organisiert. Der Name der ganzen, aber an sich sehrzerstrittenen Bewegung war zugleich der Name ihrer wichtigsten Publikation, einer in Paris erscheinenden Zeitung. Siehieß ‘La Jeune Turce’, was nichts anderes bedeutet als “Junge Türken”; daher kommt der allgemein gültige Begriff fürdie Bewegung “Jungtürken”.9 W.I.Lenin, Werke, Bd. 15, Berlin 1968, S. 240

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 31

dem sie aus dem Osmanischen einen rein türkischen Staat machen wollten. So

verboten sie als erste Handlung sämtliche Streiks in Betrieben von öffentlicher

Wichtigkeit wie Eisenbahn, Wasserwerke und Kohlenreviere. Politische

Organisationen durften nur durch die ausschließliche Erlaubnis der Regierung

zugelassen werden. Da sich die Autonomiebestrebungen der Minoritäten im Reich im

Zuge des Ersten Weltkrieges sehr verstärkten, wurden sie, des Zusammenhalts des

Reichs wegen und unter der Ideologie eines rigorosen und hochgezüchteten “Pan-

Türkismus”, hart unterdrückt. Dabei ging es darum, eine durchdachte und ideologisch

verankerte Türkifizierung des Rest-Reiches durchzusetzen. Das nationale

Bewußtsein sollte sich auf die mystische Urheimat Turan und die große

Kulturgemeinschaft aller Turkstämme der Erde richten10 . Neben dem auch heute

noch virulenten Kurdenproblem erlangte dabei die Armenierfrage hohe Publizität und

Resonanz. Die Gewährung von Sonderrechten für die christliche, vor allem für die

armenische Minderheit in der Türkei auf dem Berliner Kongreß von 1878 und die

Tatsache, daß die Armenier das zaristische Rußland unterstützten, ließ die

Jungtürken gerade ihre Autonomiebestrebung hart niederschlagen11.

Die Machtübernahme durch die Jungtürken konnte jedoch den ökonomischen

Niedergang und schließlich die militärische Niederlage im Ersten Weltkrieg an der

sogenannten Seite der Achsenmächte nicht aufhalten12. Am Ende des Krieges

mußte das Reich im Waffenstillstand von Mudros13 bedingungslos und vollständig

kapitulieren. Die einst so mächtigen Osmanen waren nun gezwungen, ihre Armee zu

demobilisieren und bis auf ein kleines Gebiet um die Kleinstadt Ankara, das Restland

einer Besetzung durch die alliierten Armeen zu öffnen. In weiten Teilen des Landes

herrschte zu dieser Zeit Hunger, der Krieg ging über die letzten Kräfte des sowieso

ausgemerzten Reiches; nur 47% der Anbaufläche konnten noch bestellt werden, der

Bestand an Zugtieren war um 85% verringert.

Mit dem Vertrag von Sevres, unterschrieben am 10. August 1920, wurde das

Kerngebiet der heutigen Türkei unter französischer, englischer, italienischer und

griechischer Besetzung aufgeteilt. Gleichzeitig sollte wieder ein internationales

10 Vgl. dazu: Udo Klever, Das Weltreich der Türken, Bayreuth, S. 365ff.11 Die Hypothek der Folgen, dieser zum Teil rassistisch gefärbten Ideologie, sind bis heute nicht überwunden undbestimmen die Politik der Türkei gegenüber ihren Minoritäten, wie das Beispiel der Kurden zeigt.12 Über die Deutsch-Türkische Freundschaft, die in der Zeit der Jungtürken eine der bestimmenden Faktoren war, ausder sich die sogenannte Deutsch-Türkische Waffenbrüderschaft ergab, gehe ich mit ihren weiteren Aspekten ab S.76dieser Arbeit ein.13 Der Vertrag war auf den 30.10.1918 datiert und bestimmte, daß die Ententestaaten und -truppen jeden Teil derTürkei besetzen konnten; ihnen wurde auch die Kontrolle der Meerengen und des Verkehrsnetzes übertragen.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 32

Finanzkonsortium gegründet werden; diese Organisation sollte weitgehende

Kompetenzen in der zukünftigen Innen- und Wirtschaftspolitik haben. In Fragen des

Haushaltsplans, Bankwesens, der Innen- und Außenverschuldung, Zölle und der

Ausnutzung der Bodenschätze hatte das Konsortium die alleinige

Entscheidungsmacht. Die innere Ohnmacht der Dynastie Osman, die Schwäche der

Istanbuler Regierung, die ohne jeglichen Widerstand die Diktate der westlichen

Siegermächte akzeptierte und nicht zuletzt die Besetzung des Landes durch

christliche Armeen, ließen den Kern einer neuen national-religiösen Bewegung

entstehen. Verschiedene regionale Widerstandsgruppen mit teilweise höchst

unterschiedlichen politischen und ideologischen Grundsätzen und Zielen wurden von

Mustafa Kemal zusammengefaßt, unter ein militärisches Kommando gestellt und

operierten sowohl gegen die Istanbuler Regierung als auch gegen die Besatzer

erfolgreich.

2.2.2 Mustafa Kemal

Mustafa Kemal, geboren 1881 in Seloniki, stand ideologisch der “jungtürkischen”

Bewegung nahe; er kämpfte in den unruhigen Jahren vor Ausbruch des Ersten

Weltkrieges an den Fronten, an denen die letzten Bastionen des einstigen

Osmanischen Reiches stürzten: 1911 in Nordafrika gegen die Italiener, 1912 in den

Balkankriegen gegen die Serben und Griechen. Im Ersten Weltkrieg war er der

einzige türkische Befehlshaber, dem es als General gelang, ohne den Makel einer

Niederlage zu bleiben. Schon zu dieser Zeit hatte er einen gewissen Ruhm als

unbesiegbaren Soldat erreicht. Eigentlich von der Istanbuler Regierung mit der

Aufgabe entsandt, die in Anatolien fortbestehenden Truppen aufzulösen, landete er

am 19.05.1919 in Samsun am Schwarzen Meer14. Er erklärte sich von all seinen

Verpflichtungen gegenüber Istanbul frei und stieß von dort aus in den Osten der

Türkei vor. In zwei Nationalkongressen gelang es Mustafa Kemal15 verschiedene

Widerstandsgruppen zusammenzubringen; sein politischer Führungsanspruch wurde

14 Dieses Datum symbolisiert in der offiziellen türkischen Politik die Wiedergeburt der Türkei. Da Mustafa KemalsGeburtsdatum nicht bekannt war, bestimmte er später diesen Tag, also den Geburtstag der neuen Türkei, auch zu demseinen. Der Tag wird übrigens bis heute als “Tag der Jugend” als offizieller Festtag begangen.15 Der während der Okkupation unter seiner Führung entstandene Nationalpakt ‘Misak-i Milli’ schrieb die Ziele dernationalen Bewegung fest: das Recht auf nationale Selbstbestimmung, die Öffnung des Bosporus und der Dardenellenfür die internationale Schifffahrt unter türkischer Kontrolle und die Abschaffung der Kapitulationen, also der früherenwirtschaftlichen Verbindlichkeiten des Osmanischen Reiches gegenüber westlichen Ländern.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 33

zugleich in diesen Kongressen von Sivas und Erzurum untermauert16. Im April 1920

wählte die Große Nationalversammlung, das neue Parlament des nationalen

Widerstands in Ankara, Mustafa Kemal zu ihrem Präsidenten. Die Regierung des

Sultans verurteilte Kemal und weitere Aufständische in Abwesenheit zum Tode.

Inzwischen waren, von den Alliierten ermuntert, die griechischen Truppen noch

weiter nach Anatolien eingedrungen, fast bis vor die Tore Ankaras. In der Folgezeit

gelangen der Nationalbewegung in einer Reihe von Operationen wichtige militärische

Erfolge. Als eine der ersten Mächte erklärte sich 1921 Italien bereit, die von ihm

besetzten Gebiete zu räumen. In mehreren großen Schlachten wurden auch die

Griechen aus Anatolien zurück-, und im Herbst 1922 in Izmir buchstäblich “ins Meer”

getrieben. Die siegreichen Türken wandten sich danach drohend gegen die übrigen

Alliierten. Unter deren Schutz floh Sultan Mehmet Vahdettin ins Exil17, die

Regierungen von England und Frankreich, die sich nicht in einen langwierigen und

verlustreichen Partisanenkrieg mit den Türken einlassen wollten, beschlossen, auch

ihre Truppen zurückzuziehen. Die Bestimmungen des neuen Friedens wurden nun

im Vertrag von Lausanne18 zugunsten der Türkei erheblich modifiziert. Die staatliche

türkische Souveränität wurde wieder anerkannt, Teile Ost-Thrakiens gingen auf die

Türkei über, die wirtschaftlichen Verpflichtungen (Kapitulationen) wurden auch formal

beseitigt, die Zahlung der Reparationen erlassen und die Kontrolle der Meerengen

wieder der Türkei überlassen.

16 Mustafa Kemal hatte mit einem Aufruf am 21.06.1919 zu den Kongressen in Erzurum (23.07.1919) und Sivas(04.08.1919) eingeladen.17 Ironie des Schicksals : der letzte osmanische Sultan flüchtete auf ein vor Istanbul liegendes englisches Schlachtschiffund verließ mit ihm die Türkei, um sich an die französischen Mittelmeerküste abzusetzen. Wenn man die Rolle Englandsund Frankreichs beim Zusammensturz des Osmanischen Reiches bedenkt....18 Die Verhandlungen für den Vertrag zogen sich vom November 1922 bis Juli 1923; er wurde am 24.07.1923abgeschlossen.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 34

Kein Mensch hat von der Natur das Recht erhalten, den anderen zu gebieten. Die

Freiheit ist ein Geschenk des Himmels, und jedes Individuum von derselben Art hat

das Recht, sie zu genießen, sobald es Vernunft besitzt. Wenn die Natur irgendeine

Autorität geschaffen hat, so ist es die elterliche Macht; aber diese Macht hat ihre

Grenzen, und im Naturzustand würde sie aufhören, sobald die Kinder in der Lage

wären, sich selbst zu leiten. Jede andere Autorität entspringt einer anderen Quelle

als der Natur. Man untersuche sie genau; dann wird man sie immer auf eine der zwei

folgenden Quellen zurückführen können: entweder auf die Stärke und die Gewalt

desjenigen, der sie an sich gerissen hat, oder auf die Zustimmung derjenigen, die

sich ihr tatsächlich oder angeblich durch einen Vertrag zwischen ihnen und

demjenigen, dem sie die Autorität übertrugen, unterworfen haben.

Die Macht, die durch Gewalt erlangt wird, ist nur eine Usurpation und dauert nur so

lange, wie die Stärke des Gebietenden die der Gehorchenden übertrifft. Wenn die

letzteren also ihrerseits die Stärkeren werden und das Joch abschütteln, so tun sie

dies mit dem gleichen Recht und der gleichen Gerechtigkeit, mit denen der andere es

ihnen auferlegt hat. Dasselbe Gesetz, das die Autorität geschaffen hat, hebt sie dann

auf: es ist das Gesetz des Stärkeren.

Manchmal ändert die auf Gewalt beruhende Autorität ihr Wesen. Das ist der Fall,

wenn sie mal mit der ausdrücklichen Zustimmung der Unterworfenen fortdauert und

aufrechterhalten wird.

Denis Diderot

Paris, St. Petersburg, Sèvres

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 35

2.3 Die türkische Republik - One Man Show

Am 23.10.1923 wurde die Türkei zur Republik erklärt und Mustafa Kemal zu ihrem

ersten Präsidenten gewählt.

Es gibt in der türkischen Historiographie seit Jahrzehnten einen Streit darüber, ob

man die Republiksgründung der Türkei und die davor liegende Phase als eine

Revolution bezeichnen kann. Aus diesem Streit lassen sich grob zwei

entgegengesetzte Strömungen herauskristallisieren: die marxistische Interpretation

und die kemalistische Interpretation. Die marxistischen bzw. ehemaligen

marxistischen Autoren bezeichnen diese Phase als eine bürgerliche Revolution, die

hauptsächlich von den Mittelschichten, den jungtürkischen Offizieren, sowie von

wirtschaftlichen Gruppen, die in einer neuen Türkei neue Marktchancen sahen,

getragen worden ist. Die sogenannte Revolution sei, bedingt auch durch die

Okkupation des Landes, eine notwendige nationalistische und anti-imperialistische

Phase der türkischen Geschichte gewesen, aber keine tatsächliche revolutionäre

Erhebung gegen die Klassenstrukturen. Gemäß der zweiten Strömung der

Interpretation, die auch noch die offizielle Staatsdoktrin bildet, war die Gründung der

Republik von den Ideen des Positivismus geprägt und zwar im Sinne einer Stärkung

der Rolle des Staates; in diesem Sinne folgten dann Reformen, die die Gesellschaft

grundlegend reformierten und revolutionäre Eigenschaften besaßen19.

Auf jeden Fall stimme ich der These von Bernd Rill zu, wenn er schreibt: “Hier stand,

um es in der Sprache unserer Tage zu sagen, die Dritte Welt gegen die

Vergewaltigung durch Europa zum erstenmal auf”20. Dieses Ereignis hat sicherlich

viel zum Selbstbewußtsein anderer kolonisierter oder semi-kolonisierter Länder

beigetragen, die dann im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der

europäischen und/oder weißen Herrschaft Schluß machten. Um so trauriger ist es,

19 Die wichtigsten Vertreter der ersten Interpretation sind in der Türkei Dogan Avcıoğlu und Yalçın Küçük, derenreichhaltige Literatur zum Thema leider nicht ins Deutsche übersetzt ist, Vgl.: Doğan Avcıoğlu, Türkiye´nin Düzeni -DünBugün Yarın (Die Gesellschaftsordnung der Türkei - Gestern Heute Morgen), Ankara 1969, Yalçın Küçük,: AydınÜzerine Tezler (Thesen über die Intellektuellen), Istanbul 1980-88. Ernst Werner und Walter Markow bezeichnen inihrem Buch “Geschichte der Türken - Von den Anfängen bis zur Gegenwart” die Anfänge der kemalistischen Republikals den “Sieg der nationalrevolutionären Bewegung” und fahren fort: “Er (der Sieg) demonstrierte, daß mit der GroßenSozialistischen Oktoberrevolution auch der anti-imperialistische Befreiungskampf der kolonialunterdrückten Völker undabhängigen Länder in eine neue Phase eingetreten war”. Vgl.: Werner/Markow, Geschichte der Türken, Berlin 1979,S.250 ff. Hakkı Keskin, derzeit türkischstämmiger Abgeordneter in einem Landesparlament (Hamburger Bürgerschaft),vertritt in seiner Dissertation von 1976 “Die Türkei, Vom Osmanischen Reich zum Nationalstaat” auch Thesen in dieserRichtung. Diese Arbeit ist 1981 in Berlin als Buch erschienen.20 Bernd Rill, Kemal Atatürk, Hamburg 1985, S. 59.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 36

daß wiederum die Türkei als erstes Land nach der sogenannten Befreiung dazu

überging, Europa, seine Macht und Ökonomie- und Unterdrückungsmittel zu

kopieren, zu imitieren.

2.3.1 Modernisierung -Verwestlichung durch Entislamisierung ? Reformen und die Folgen

Die Aufgabe, den Neuaufbau der Türkei einzuleiten, war angesichts der

wirtschaftlichen Rückständigkeit des Osmanischen Reiches zu Beginn der 20er

Jahre sicherlich ein kompliziertes Unterfangen. So waren die Produktionsverhältnisse

in der Landwirtschaft nach wie vor sehr stark feudalistisch strukturiert, rund 80% der

Bevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig, soziale Versorgung und

Bildungsmöglichkeiten existierten in ländlichen Gebieten noch nicht einmal in

Ansätzen. Die Technischen- und Verkehrseinrichtungen waren im Aufbau21.

Angesichts der wirtschaftlichen und infrastrukturellen Rückständigkeit und des in

seinen politischen Fundamenten zerstörten Osmanischen Reiches galt es für die

Gründer der Republik, den türkischen Staat und die Gesellschaft gleichermaßen zu

transformieren. Zur Initiierung dieser Entwicklung wurden in den Folgejahren nach

der Republiksgründung eine Reihe tiefgreifender, aber von “breiten

Bevölkerungskreisen”, wie es genannt wird, nicht immer mitgetragener Reformen

durchgeführt. Dabei griffen diese teilweise in die Bereiche ein, die bis dahin in einem

islamischen Land als unantastbar galten. So wurde das Kalifat, die oberste religiöse

Institution des Islam, 1924 abgeschafft; bis dahin war der sogenannte Vertreter des

Propheten Mohammed, der Kalif, gleichzeitig immer auch der osmanische

Staatsoberhaupt gewesen und zugleich der geistige Führer der ganzen islamischen

Welt. Seine Abschaffung war eine scharfe historische Zäsur. Es folgte die Auflösung

der Medresen, der Religionsschulen, denen auch die allgemeine Erziehung

untergeordnet war. Der Religionsunterricht wurde aus den staatlichen Schulen

21 Vergleicht man etwa das türkische Straßennetz jener Zeit mit dem dieses Teils des Römischen Reiches, so warletzteres erheblich umfangreicher und besser ausgebaut, siehe dazu Tabelle in : Milliyet, 13.8.1992

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 37

verbannt. Die Dervischorden22 wurden verboten; das Prinzip einer laizistischen

Republik wurde zur tragenden Idee. Die Frau, bis dahin durch islamisches Recht

dem Mann untergeordnet, wurde ihm rechtlich gleichgestellt und die Mehrehe

verboten. 1926 erhielten die Frauen das Stimmrecht. Ein neues bürgerliches

Gesetzbuch trat auch 1926 nach Vorbild des Schweizer Zivilrechts in Kraft. Die

Einführung der lateinischen Schrift anstelle der bis dahin gebräuchlichen arabischen

Schrift in 1928 war gesellschaftlich eine der entscheidenden Reformen in diesem

Zusammenhang. Weiterhin wurde die Zeiteinteilung geändert und der gregorianische

Kalender übernommen.

Es ist aber außerordentlich wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Reformen die

soziale und politische Entwicklung der Türkei betrafen, nicht aber die grundlegenden

wirtschaftlichen Verhältnisse. Es ging nicht darum, die Produktionsverhältnisse zu

revolutionieren. Nicht nur deshalb konnte das Regime, das für die arme Masse keine

materielle Verbesserung brachte und noch dazu ihre jahrhundertealten religiösen

Werte und traditionelle Vorstellungen radikal austreiben wollte, keinen Enthusiasmus

entfachen. Im wirtschaftlichen Bereich stand der Begriff Etatismus für eine gemischte

Wirtschaftsform, in der privates Kapital neben Staatsunternehmen eine je nach

Sektor und den vom Staat definierten ökonomischen Prioritäten, unterschiedliche

Rolle spielte. Diese Politik resultierte aus notwendigen inneren Gründen, aber nicht

etwa aus einer Zielorientierung auf eine nicht-kapitalistische Entwicklung. Es

mangelte einfach an einem funktionsfähigen und investitionsbereiten

Unternehmertum, das gerade in zentralen Wirtschaftsbereichen wie Montan-,

Zement- und Textilindustrie Aktivitäten entfalten sollte. Noch dazu befanden sich

weite Teile des Handels in den Händen von Minoritäten23; dies stand im krassen

Widerspruch zur Politik der nationalistischen Gesinnung. Inwieweit der Etatismus

umgesetzt werden konnte, scheint eine Frage der Interpretation zu sein. Steinhaus

bewertet dies so: “Angesichts der realen politischen Gegebenheiten, zu denen auch

die pro-kapitalistische Einstellung der kemalistischen Bewegung gezählt werden muß

22 “Bei der Islamisierung der Türken spielten die mystisch ausgerichteten Derwische (Arme), die ein mönchartigesDasein führten, eine große Rolle. Sie lebten einzeln oder in klösterlichen Bruderschaften und übernahmen viele alteheidnische Vorstellungen des Volksglaubens.(...) In ihren volkstümlichen religiösen Vorstellungen lebten vieleheidnische Relikte der Wanderzeit, abergläubische Bräuche und Riten fort”, (Ernst Werner / Walter Markow, Geschichteder Türken, a.a.O., S. 15). Derwische sind in ihren religiösen Handlungen und Lebensformen mit buddhistischenMönchen und Franziskaner vergleichbar; bei ihnen kommt hinzu, daß sie wie die Derwische des Mevlevi-Ordens inekstatischen Tänzen die mystische Einigung mit Gott suchen.23 Ein Erbe des Osmanischen Reiches war die Tatsache, daß 1923 weniger als 10% der Handels- undIndustrieunternehmen unter türkischer Führung stand.

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und angesichts des Fehlens einer starken, produktionsorientierten

Industriebourgeoisie, wird man nicht umhin können, den Etatismus als eine

weitgehend sachadäquate Entwicklungskonzeption zu bezeichnen. Er sicherte die

nationale Unabhängigkeit und leitete die Integration des Landesinnern in die

Gesamtgesellschaft ein”24. Er erwähnt jedoch nicht, daß gerade in den zwanziger

Jahren die entstehende türkische Industriebourgeoisie unter dem Mantel des

Nationalismus und der Reformen die Situation für eigene Vorteile nutzbar gemacht

und mißbraucht hat; anstatt Industriebetriebe zu gründen, nutzten sehr viele Türken

die Privilegien für Export-Import-Geschäfte aus, um schnell und vor allem viel zu

verdienen25. Noch heute spricht man in der Türkei von diesen Jahren als “die Phase,

in der Individuen durch die Hand des Staates reich gemacht wurden”26. Daß viele

sogenannte tonangebende Persönlichkeiten des Befreiungskrieges und der

Republiksgründung zu diesem Kreis der Neu-und Schnell-Reichen-Türken der

Zwanziger Jahre gehörten, dürfte nicht überraschen. Zusätzlich änderte die

Regierung ab 1929 die Bestimmungen und leitete neue Maßnahmen zur

“Industrialisierung” ein; so wurde Interessenten kostenlos Boden zur Verfügung

gestellt, es gab Zollerleichterungen, Steuerbegünstigungen und

Herstellungsmonopole für die Großkaufleute von Istanbul, Großgrundbesitzer

Anatoliens, die militärischen Kader des Befreiungskrieges und die Abgeordneten des

Parlaments. An dem Schicksal der anatolischen Bauern änderte sich nicht viel, es

fand keine Agrarreform statt27, Bildungsmöglichkeiten wurden nur zögernd und erst in

den Vierziger Jahren erweitert, soziale und gesundheitliche Dienste waren nur für

städtische Bewohner Begriffe. Gleichzeitig verhängte die Regierung ab 1925 harte

Steuermaßnahmen und -gesetze, die die verarmten Bauern in die Arme der

Großgrundbesitzer trieb, da wieder diese ihnen die notwendigen Kredite

24 Kurt Steinhaus, Soziologie der türkischen Revolution, Frankfurt a.M. 1969, S. 167.25 Dabei war der üblichste Trick, von den sogenannten Subventions-Förder-Gesetzen Gebrauch zu machen,Vertretungen ausländischer Firmen zu übernehmen und einen Scheinhandel zu betreiben!26 Auf türkisch heißt der Satz “devlet eliyle fert zengin etme dönemi”.27 Noch heute herrscht in weiten Teilen Anatoliens das System der „Agas“, also der Großgrundbesitzer, die ganzeDörfer und Landschaften besitzen und sie auch im gewissen Sinne bürokratisch und finanziell verwalten. Landflucht istmeistens die einzige Möglichkeit für bodenlose Bauern, um sich diesem System zu entziehen. Mehr darüber u.a. In :Reiner Werle, Ein Land wird kaputtsaniert, Hamburg 1983, Bes. ab S. 19.

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verschafften28. Wie ich vorhin schrieb, ist die kemalistische Wirtschaftspolitik

sicherlich nur eine Frage der Interpretation29.

An dieser Stelle muß betont werden, daß diese komplette Umkrempelung des

ganzen Staats- und Sozialwesens nur durch die Installierung einer de facto-Diktatur

durch Mustafa Kemal und seine 1923 gegründete Republikanische Volkspartei (CHP)

möglich wurde. Überzeugte Kemalisten, dazu zähle ich auch einige deutsche

‘Türkeiexperten’ wie Udo Steinbach30 und Klaus-Detlev Grothusen, bezeichnen diese

Phase als eine “notwendige Erziehungsdiktatur”31 und versuchen dadurch die

Anwendung tatsächlich diktatorischer Mittel zu legitimieren bzw. als notwendig

darzustellen. Dabei wird leicht vergessen, daß es nach 1923 in der Türkei nicht

einmal Ansätze einer demokratischen Entwicklung gab und das System bis in die

Anfangsphase der 50er Jahre um eine alles bestimmende Staatsdoktrin aufgebaut

war. Es gab keine demokratischen Wahlen32, keine Opposition und die öffentliche

Meinung war sehr stark eingeschränkt.

Zuerst um Mustafa Kemal, später um seinen Nachfolger Ismet Inönü entstand ein

Führerkult. Sowohl Kemal als auch Inönü waren alleinige unumschränkte Herrscher

über Land und Leute. Zusammen mit den beiden ersten Präsidenten der Republik 28 Der türkische Schriftsteller Yaşar Kemal setzt sich in seinem weltberühmten Roman “Memed mein Falke” mit derLage und den Enttäuschungen der Bauern in den 20er Jahren auseinander. Yaşar Kemal, Memed mein Falke, Berlin1979. Yaşar Kemal hat 1997 für sein Gesamtwerk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen.29 Im Übrigen möchte ich hier auf die Dissertationsarbeit von Hakkı Keskin hinweisen, die dieser Problematik sachlichund informativ nachgeht, Hakkı Keskin, a.a.O., besonders ab S. 70.30 Prof. Udo Steinbach, Vorsitzender der Deutschen Orient Gesellschaft in Hamburg, vertrat im Mai 1997 bei einerVeranstaltung der „Türkischen Akademiker in Europa“ die Ansicht, daß die Türkei endlich wieder einen Führer wieAtatürk bräuchte. Hier folgt die Zusammenfassung eines Artikels über seine Rede, erschienen in der türkischenTageszeitung „Hürriyet“ am 09.05.1997, S. 13: „Die Türkei braucht einen Führer wie Atatürk(Titel) - Professor UdoSteinbach, der an der Konferenz mit dem Titel „Wohin geht die Türkei“ in Essen teilnahm, sagte bei seiner Rede, daßdie Probleme der Türkei nur durch eine Führerpersönlichkeit wie Atatürk gelöst werden können und das Land dringendwieder so einen Führer braucht. Prof. Steinbach sagte, daß die Türkei seit dem Tod von Turgut Özal in einer tiefen Krisesteckt; die Erfolglosigkeit der Politiker hat nach seiner Meinung den Erfolg der Refah-Partei möglich gemacht. Steinbachbetonte in seiner Rede, daß die türkische Armee Garant des Laizismus ist“.31 Ich bin dem Begriff “Erziehungsdiktatur” nachgegangen. Mir waren Begriffe wie “Erziehungsberechtigte”“Erziehungsmaßnahmen” oder “Erziehungsmethodik” geläufig, “Erziehungsdiktatur” habe ich aber merkwürdigerweisenur im Zusammenhang mit der Türkei gehört. Wie auch immer, der Begriff “Erziehungsdiktatur” wurde in derÖffentlichkeit das erste Mal höchstwahrscheinlich von Grothusen auf dem Godesberger Türkei-Symposium derSüdosteuropa-Gesellschaft am 07.12.1981 im Rheinhotel Dreesen verwendet. Das Symposium fand damals anläßlichdes 100. Geburtsjahres von Mustafa Kemal statt.(Vgl.: Südost-Europa-Mitteilungen, München 4/1981, S. 81ff.) In einemArtikel in der gleichen Zeitschrift beschreibt Grothusen Mustafa Kemal mit folgenden Sätzen: ”Ich sehe keine anderegroße historische Persönlichkeit im Sinne Hegels aus der Geschichte, nicht nur des 20.Jh, sondern der letztenJahrhunderte überhaupt, bei der die positive Gesamtbewertung so eindeutig im Vordergrund steht.”, Vgl.: Südost-Europa-Mitteilungen, 2/1983, München S. 13.

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hat die Republikanische Volkspartei (CHP), die einzige zugelassene Partei, bis zum

Ende des Zweiten Weltkrieges die legislative, exekutive und zum Teil auch indikative

Gewalt in einer Hand, und zwar in der eigenen, vereinigt. Mustafa Kemal und Ismet

Inönü haben, unterstützt und gedeckt durch die CHP, in der Türkei über 25 Jahre nur

das auf das Volk übertragen, was sie allein für richtig hielten33. In diesem

Zusammenhang ist eine Rede von Mustafa Kemal vor der Großen

Nationalversammlung äußerst bemerkenswert; die Rede wurde einen Tag nach der

Erhängung von zehn sogenannten “Verschwörern” gehalten, die angeblich Kemal

durch ein Attentat töten wollten34: “Ich habe die Armee erobert. Ich habe das Land

erobert. Ich habe die Macht erobert. Warum darf ich nicht auch mein Volk erobern?

Die Männer, die diese Nacht umgekommen sind, hatten die Absicht, mir das zu

untersagen. Sie wollten mich von dem trennen, was mein einziger Lebensinhalt ist:

dem türkischen Volk. Ich habe ihre Köpfe rollen lassen, und so werde ich jedesmal

handeln, sobald man wieder versucht, sich zwischen mich und das Volk zu drängen.

Ich bin die Türkei, mich vernichten wollen bedeutet: die Türkei selbst vernichten

wollen. Sie atmet nur durch mich, und ich lebe nur durch sie”35.

2.3.2 Exkurs: 75 Jahre Kontinuität: Kurdenpolitik

Der bedeutendste Widerstand gegen die Entwicklung entstand damals übrigens in

kurdischen Gebieten der Türkei, in Südostanatolien. Im Februar 1925 zettelte die

kurdische Stammesaristokratie unter Scheich Said einen Aufstand für die Bewahrung

ihrer in dem Vertrag von Sevres festgeschriebenen Sonderrechte an. Die Türkei

berief sich aber auf den Vertrag von Lausanne, auf dem die Gründung der türkischen

Republik basiert. Da dort von der Existenz einer kurdischen Minderheit nicht die

32 Sowohl die „Völkische Republikspartei“ (Terakki Cumhuriyet Fırkası), die 1924 entstand, als auch die „FreiheitlicheRepublikspartei“ (Serbest Cumhuriyet Fırkası), 1930 entstanden, wurden jeweils nach kurzer Zeit verboten bzw. löstensich auf „Empfehlung“ der Behörden freiwillig auf. Die „Republikanische Volkspartei“ (Cumhuriyet Halk Partisi) vonMustafa Kemal trug praktisch über zwei Jahrzehnte die alleinige, aber nicht durch Wahlen legitimierteRegierungsverantwortung.33 In diesem Zusammenhang weise ich auf eine Unterredung zwischen Mustafa Kemal und dem scheidendensowjetischem Botschafter am 4 Juli 1934, ein paar Tage nach der Erschießung Ernst Röhms, hin: “Kemal sagte, daß ergroße Bewunderung für den Führer und Deutschland hege. Die Beseitigung der alten Mitkämpfer sei nötig, wenn sieSonderstellungen erstrebten. Dies zeige sich nach allen Revolutionen. In Deutschland mache die Beseitigung der altenKämpfer, die auch in Italien, der Türkei und Rußland erfolgt sei, den Kanzler unabhängiger “;, Vgl.: Heinz Glaesner,Das Dritte Reich und der Mittlere Osten, Würzburg 1976, S. 28.34 Mehr zu den Einzelheiten dieses Ereignisses und zu den Schauprozessen gegen einige alte Weggefährten vonKemal in: Bernd Rill, a.a.O., S. 9235 Diese Rede wurde am 08.08.1926 gehalten, der vollständige Text befindet sich in : Bernd Rill, a.a.O., S. 93.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 41

Rede ist, konnte und kann es nach offiziell-türkischer Logik eine Kurdenfrage in der

Türkei auch nicht geben. Allerdings ist hier besonders zu betonen, daß die

kurdischen Revolten der zwanziger und dreißiger Jahre unter religiösen Vorzeichen

stattfanden, sie als revolutionäre Handlungen zu beschreiben, würde nicht den

Tatsachen entsprechen. So ist zu bemerken, daß der Führer der Kurden Scheich

Said, Oberhaupt des Nakşıbendi-Ordens, einer ultrakonservativ - religiösen

Gemeinschaft, war.

Zur Unterwerfung des Aufstands schickte Ankara neun Divisionen in das kurdische

Gebiet und beendete den Aufstand mit brutaler Härte. Nach Robinson wurden in

diesem Zusammenhang mindestens 231 kurdische Freiheitskämpfer erhängt36,

darunter Scheich Said. Heinz Gstrein spricht sogar von einer halben Million

kurdischer Opfer, ohne jedoch Quellen für diese, nach meiner Meinung, übertriebene

Zahl zu zeigen37. Klar ist auf jeden Fall, daß auch alle nachfolgenden kurdischen

Aufstände und Freiheitsbewegungen grausam und brutal niedergeschlagen wurden.

Einer der ganz großen kurdischen Aufstände fand in den Jahren 1937/38 in Dersim

statt. Die Provinz Dersim sollte als Beispiel der türkischen Assimilierungspolitik

Schule machen. Nach Plänen der Regierung sollte der Großteil der kurdischen

Bevölkerung von hier deportiert und an ihre Stelle ethnisch türkische Einwanderer

angesiedelt werden. Die Bevölkerung galt hier als besonders autonom und hatte

auch nicht an dem türkischen Befreiungskrieg teilgenommen. Nachdem der

Militärgouverneur im Frühjahr 1937 die Kurden aufforderte, ihre Waffen an die

Behörden abzugeben und sich für die Massendeportationen vorzubereiten, kam es

zu dem Aufstand. Die Einwohner kämpften mit einer Guerillaarmee gegen die

türkische Militärmacht; trotz des massiven Einsatz von insgesamt drei Armeecorps,

der Luftwaffe und Giftgas konnten die Kurden bis Ende März 1938 durchhalten,

mußten sich jedoch dann geschlagen geben. Ankara ließ wieder die Galgen

aufrichten; kurdische Quellen und Augenzeugenberichte bescheinigen eine

gewalttätige Repression, die dann folgte. Demnach wurden Menschen in Höhlen

ausgehungert, ganze Dörfer bombardiert und der Ort Dreist vollständig verwüstet38.

Das Thema der türkisch-kurdischen Problematik ist nicht Gegenstand dieser Arbeit.

Es ist jedoch Teil der Geschichte, auch in der Phase, in der deutsche Flüchtlinge in 36 Vgl.: Richard Robinson, The First Turkish Republik, Cambridge 1963, S.88.37 Heinz Gstrein, Volk ohne Anwalt, Nürnberg 1974, S. 41.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 42

der Türkei Zuflucht fanden. Die Auseinandersetzung des türkischen Staates mit der

kurdischen Minderheit im Land hat besonders ab den 30er Jahren, als Folge der

nationalistischen Politik, eine andere Qualität bekommen. Ich weise auf diese

historisch erwiesenen Aufstände der Kurden, vor allem auf den Aufstand von Dersim,

hin, weil er fast vier Jahre nach der Emigration der meisten deutschen Flüchtlinge in

die Türkei stattfand. Leider ist mir keine einzige Stellungnahme seitens der

deutschen Flüchtlinge zu diesem Thema bekanntgeworden. Wenn man die

demokratische Gesinnung der Großzahl der Emigranten bedenkt und eine Parallelität

der Ereignisse, zumindest in ihren Ansätzen erkennt, bleibt mir nichts anderes übrig,

als dies mit erstaunlich zu bezeichnen.

2.3.3 Feindbild Islam, 1923

Die Ansätze der Reformen von Mustafa Kemal mögen, aus westlicher Perspektive,

gutgemeint sein, sie entsprachen aber nicht der Realität der Türkei und vor allem

nicht den tief verwurzelten religiösen Empfindungen der Bevölkerung. Alleine die

Problematik der Einschränkung der Religionsfreiheit zeichnet das Dilemma des

Kemalismus39 auf. Zuerst ist festzustellen, daß Mustafa Kemal einen verinnerlichte,

allerdings nicht begründbare Abneigung gegen die islamische Religion empfunden

hat; in einem Interview mit einem französischen Journalisten hat er seine Gedanken

über den Islam so zusammengefaßt: “Seit mehr als 500 Jahren haben die Regeln

und Theorien eines alten Araber-Scheichs und die abstrusen Auslegungen von

Generationen von schmutzigen und unwissenden Pfaffen in der Türkei sämtliche

Zivil- und Strafgesetze festgelegt. Sie haben die Form der Verfassung, die geringsten

Handlungen und Gesten eines Bürgers festgesetzt, seine Nahrung, die Stunden für

Wachen und für Schlafen, den Schnitt der Kleider, den Lehrstoff in der Schule, Sitten

und Gewohnheiten und selbst die intimsten Gedanken. Der Islam, diese absurde

Gotteslehre eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser

38 Die Ereignisse vom Dersim werden noch heute von der türkischen Politik abgestritten, zugleich mehr oder weniger inähnlicher Weise weiterhin praktiziert. Über diese Revolte mit seiner grausamen Niederwerfung mehr u.a. in: CemalNebez, Kurdistan und seine Revolution, München 1972, Basile Nikitine, Les Kurdes, Paris 1956, Heinz Gstrein, a.a.O..39 Der Begriff Kemalismus, der auch bei dieser Arbeit oft genug verwendet wird, definiert die noch heute gültigeStaatsdoktrin der Türkei: Der Kemalismus faßt Prinzipien wie Etatismus, Laizismus und nationale Unabhängigkeit und istseit 1937 in der Türkischen Verfassung festgeschrieben. Der Kemalismus und die damit zusammenhängenden Ideenwerden als Beweis für die Richtigkeit der Politik einzelner und an sich sehr unterschiedlicher Parteien hergehalten. Mehrzu Kemalismus an verschiedenen Stellen dieser Arbeit.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 43

Leben vergiftet”40. K. Atatürk betrachtete den Islam als eine finstere Religion, die das

türkische Volk daran hinderte, in die politische Moderne der „zivilisierten Welt“

hinaufzusteigen. Seiner Meinung nach war die Einheit von Religion und Staat im

Osmanischen Reich für die Rückständigkeit des Landes verantwortlich. Im Rahmen

der Reformen sollte der Einfluß der islamischen Religion auf alle gesellschaftlichen

Bereiche total abgebaut werden. Deshalb wurde die religiöse Gerichtsbarkeit

abgeschafft und 1928 der Islam aus seiner Stellung als Staatsreligion zurückgestuft

auf ein reines Glaubensbekenntnis. Was sich so anfänglich als eine Anpassung des

Islams an eine neue türkische Gesellschaft andeutete, wurde jedoch in kurzer Zeit

zur Diskriminierung. Nach 1928 wurde der Bau von neuen Moscheen inoffiziell nicht

mehr geduldet, religiöse Gruppen und Orden wurden verboten, Klöster und religiöse

Hochschulen geschlossen. Der Islam wurde in der Schule, wie ich mich selbst an den

Unterricht erinnere, bis in die siebziger Jahre, neben dem Kommunismus, als der

Grund aller Übel dargestellt und etwas, wozu sich „nur Analphabeten und anatolische

Bauern bekennen“41 würden. Außerdem gehörte es bis in die 90er Jahre zum guten,

arroganten Ton der Kemalisten, sich über religiös denkende oder empfindende

Menschen lustig zu machen. Es ist davon auszugehen, daß hier der Laizismus und

der Sekulärismus bewußt durcheinandergebracht wurden. Der türkische Laizismus,

wie er von Mustafa Kemal konzipiert und durchgesetzt wurde, entwickelte sich „in

eine ähnlich autoritäre „Religion“ wie der Islam. Beide wollen die jeweilige andere

Lebensauffassung ausschließen“42.

Dabei ist besonders wichtig, daß es weder Mustafa Kemal noch seinen Nachfolgern

gelungen ist, vor allem der Landbevölkerung gegenüber, die Notwendigkeit der

Reformen deutlich zu machen und dann vielleicht aus dem Verstehen heraus eine

Massenbewegung für eine gesellschaftliche Umstrukturierung zu bilden. Die

angestrebten Ziele wurden bei weitem nicht erreicht. Es ist auch die Frage zu stellen,

ob die breite Masse überhaupt anvisiert war oder ob die Reformen nur für das

Selbstwertgefühl einer sowieso westlich orientierten Elite vorgesehen waren.

Immerhin gab es bis in die 50er Jahre keine Ansätze einer Interaktion zwischen

Führung und Volk. Eine gesunde Kommunikation zwischen den beiden Seiten hätte

40 Mustafa Kemal Atatürk - zitiert und übersetzt aus: Jacques Benoist-Mechin, Mustafa Kemal ou la mort d´und empire,Paris 1954, S. 352.41 Originalton meiner Geschichtslehrerin in der Grundschule. Dabei ist besonders auffällig, daß sie als Istanbulerin von„anatolischen Bauern“ wie von Fremden spricht.42 Daniel Cohn-Bendit, „Cohn-Bendit meets Refah“ ,in: Eurospeed - Informationsbrief für Europaabhängige, Nr. 5, März1996, S. 1-3.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 44

ein demokratisches Verständnis gefordert, damit auch die Zulassung von Parteien,

Oppositionsgruppen, aber auch die freie und uneingeschränkte Religionsausübung.

An diesem Punkt muß man feststellen, daß der ganze Modernisierungsprozeß, oder

um es anders zu nennen, der Verwestlichungsprozeß, in keiner Phase auf ein

Mehrparteiensystem als Ergebnis einer politischen Willensbildung von unten nach

oben zielte, sondern höchstens darauf, und das bei einer entgegenkommenden

Betrachtungsweise, bestimmte soziale Voraussetzungen für eine allmähliche

Demokratisierung von oben nach unten zu schaffen. Die neu entstandene Elite,

hauptsächlich aus Militärs und Verwaltungsfachleuten, geriet mit ihrer ausgeprägten

positiven Einstellung zum Westen in einen starken ideologischen Gegensatz zu der

Masse der Bevölkerung, an der die Reformen gewissermaßen wirkungslos

vorbeigingen, vor allem, wenn der religiöse Aspekt in den Vordergrund gestellt wird.

Die Bevölkerung fügte sich den sogenannten Reformen im traditionellen Sinne: unter

Androhung von Strafe, aber nicht aus Überzeugung. Die Idee der Modernisierung in

der Türkei ist so gesehen vielleicht nichts anderes als der Versuch, aus dem Nichts

eine ”Neue Nation” zu schaffen und dadurch die Geschichte zu täuschen. Die

türkische Staatspolitik wird bis heute noch von einem linearen Modell geleitet, für das

Modernisierung und Aufklärung einer Gesellschaft identische Begriffe sind.

Widersprüche, die im Prozeß der Modernisierung selbst angelegt sind, werden

ausgeschaltet. Religiosität und religiöser Fundamentalismus werden nicht als ein

Bestandteil der Moderne begriffen, sondern als Teil einer von ihr überwundenen

Epoche. So entsteht in der Türkei seit Jahrzehnten eine Zweiteilung der Gesellschaft

in “moderne Kemalisten” und “rückschrittliche Islamisten”. Dieses zu einfache

Weltbild verhindert das Verständnis für die Komplexität der türkischen Gesellschaft.

Die kemalistischen Eliten, d.h. in erster Linie die Bourgeoisie der Großstädte und die

Armee, sind nun um so überraschter, daß eine tatsächlich religiös orientierte Partei in

der Türkei an die Macht gelang. Die Bevölkerung ist nach 75 Jahren Kemalismus

noch immer für islamische Parolen und Inhalte sehr empfänglich. Ich überlege in

diesem Zusammenhang, ob die sich immer wiederholenden Militärdiktaturen oder

ihre dauerhafte Existenz als Bedrohung vielleicht als ein Teil eines gesteuerten und

irgendwie endlos erscheinenden Demokratisierungsprozesses im gewissen Sinne

vorprogrammiert sind? Wenn die türkische Gesellschaft wie in den 60ern und 70ern

Jahren den vorgeschriebenen Konsens verläßt, eine politische Polarisierung eingeht

und den Demokratisierungsprozeß selber steuern will, wird die parlamentarische

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 45

Phase durch die sogenannten Beschützer des Kemalismus, dem Militär,

unterbrochen. Genauso verhält sich das Militär zum Phänomen der islamischen

Wohlfahrtspartei (Refah Partisi); da der Islam als politischer Faktor in der

kemalistischen Doktrin keinen Platz hat, wird ihr als die stärkste Partei das Recht zur

Willensbildung als Regierungsbeteiligte verwehrt; das Militär droht andauernd mit

einem neuen Putsch und zwingt die anderen Parteien zur Gegenkoalition, zu einer

Front gegen die Islamisten.

Zur Abschlußzeit dieser Arbeit gelang es dem türkischen Generalstaatsanwalt, die

Refah-Partei wegen diverser angeblicher Vorstöße gegen die kemalistischen

Leitlinien des Staates zu verbieten. Dieser Fall ist eine Tat höchster juristisch-

politischer Verirrung und zeigt, daß die kemalistische Bürokratie des Landes noch

immer nicht einwilligen will, daß in einem islamischen Land wie der Türkei eine

islamische Partei selbstverständlich Existenzrecht hat und eine Rolle spielen kann,

wie eine christliche Partei in einem christlichen Land. Wie sie dies tut, liegt nicht

zuletzt an dem Vermögen oder Unvermögen anderer Parteien.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 46

Beleidigend für Atatürk - Türkische Behörden beschlagnahmen den “Kleinen Prinzen”

Istanbul (Ap/ps). Die türkischen Behörden haben eine neue Übersetzung der

Geschichte “Der kleine Prinz” von Antoine de Saint-Exupery wegen angeblicher

Beleidigung des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk beschlagnahmt. Das gab

der Verlag Nehir, der das Buch herausgab, in Istanbul bekannt; eine entsprechende

Anordnung sei am 15. April ausgesprochen worden.

Der 1943 verfaßte “Kleine Prinz” ist jahrzehntelang unbeanstandet in mehreren

türkischen Ausgaben erschienen. Dabei soll die inkriminierte Stelle gekürzt und

entschärft worden sein, die in der neuen Ausgabe ausführlich erscheint. Dort geht es

um die Bedeutung, die Erwachsene Äußerlichkeiten beimessen. Ein türkischer

Astronom habe 1909 auf einem Kongreß die Entdeckung des Planeten B 612

bekannt gemacht, heißt es in der Geschichte. “Aber niemand hatte ihm geglaubt,

einfach seines Anzugs wegen. Die großen Leute sind so. Zum Glück für den Ruf des

Planeten B 612 befahl ein türkischer Diktator seinem Volk bei Todesstrafe, nur noch

europäische Kleider zu tragen. Der Astronom wiederholte seinen Vortrag im Jahre

1920 in einem sehr eleganten Anzug. Und diesmal gaben sie ihm alle Recht.”

Atatürk wurde 1920 Vorsitzender der Großen Nationalversammlung und übernahm

die Exekutivgewalt.

Der Tagesspiegel, 23.04.1996

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 47

2.3.4 Dem Tod folgt nicht immer Neugeburt

Mitten im allgemeinen politischen Aufmarsch zum Zweiten Weltkrieg verstarb

Mustafa Kemal43 am 10. November 1938. Während er durch die Personalisierung der

Geschichte in der Transformationsphase des Osmanischen Reiches zur Republik

Türkei und durch seinen relativ frühen Tod (am Alter gemessen) eine in der Türkei

und auch im Ausland bis heute währende Legende wurde, hinterließ er ein Erbe -

nämlich die Zentralisierung der Macht und einen populistisch-autoritären Führungsstil

- das bis heute das türkische politische System bestimmt. Der erste Politiker, der den

von ihm vorgelegten Weg weiterging, war Ismet Inönü.

Hinter Inönü standen die Offiziere, die für einen starken Staat mit einer starken

Armee plädierten und sich für die neu entstehenden kapitalistisch angehauchten

bürgerlichen Kräfte einsetzten. Auch Inönü hatte nie darauf besonderen Wert gelegt,

die CHP zu einer Massenbewegung zu entwickeln. Darin lag auch eine der

wesentlichen Besonderheiten der spezifisch türkischen Staatsideologie jener Jahre,

deren Wurzeln in den positivistischen Einflüssen des letzten Jahrhunderts44, aber

auch in gewissen Ansätzen des italienischen Faschismus und des deutschen

Nationalsozialismus zu suchen sind. Diese Staatsideologie nahm sicherlich einige

Elemente der beiden politischen Gebilde ein, jedoch möchte ich mich davor hüten,

das ganze türkische System jener Jahre als faschistisch zu bezeichnen. Ich will nicht

Vergleiche herstellen. Mein Ziel ist lediglich die innenpolitisch relevanten

Entscheidungen und Veränderungen in der Türkei nach Mustafa Kemals Tod, in der

Zeit der Anwesenheit von deutschen Flüchtlinge in der Türkei, einigermaßen zu

klären. Der populistische Stil der spezifisch türkischen Diktatur wurde auf der

ideologischen Ebene, zuerst angefangen in den 20er Jahren durch den Personenkult

um Mustafa Kemal, später nach seinem Tod um Inönü konsolidiert. Gleichzeitig

sollten durch den populistischen Stil von Mustafa Kemal und Inönü eine direkte

Beziehung zwischen politischer Führung und Volk herstellt werden ohne die

Vermittlung von organisierten Gruppen, also anderen Parteien, Interessenverbänden

und vor allem sicherlich Gewerkschaften. Mustafa Kemal wie auch Inönü strebten im

43 Mustafa Kemal erhält nach der Einführung von Familiennamen in 1934 durch die Nationalversammlung den NamenAtatürk. Dies bedeutet “Vater aller Türken”.44 Mustafa Kemal hat immer wieder darauf hingewiesen, daß er seine politischen Gedanken Durkheim und derpositivistischen Schule verdankt.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 48

Gegensatz zu Hitler oder Mussollini keine Massenbewegung an, um ihre Macht zu

legitimieren. Die Legitimation der sogenannten Kemalisten erfolgte eher durch die

konsequente Anwendung einer autoritären Modernisierungsstrategie

nationalistischer Prägung, die von den Militärs und den bürokratischen Kadern

getragen wurde.

Ismet Inönü wurde auf dem außerordentlichen Parteitag der Republikanischen

Volkspartei CHP am 26.12.1938 zum Nationalen Führer gewählt. Während dieses

Parteitages wurde die Satzung der Partei in einigen, aber entscheidenden Punkten

verändert. So legte der Artikel 3 der geänderten Satzung fest, daß “Inönü zum

unabänderlichen, lebenslangen Vorsitzenden der Partei und zum Nationalen Führer

erklärt und gewählt worden ist”. An dem Parteitag beteiligten sich 375 Abgeordnete

und 216 Delegierte der Partei, dieser Entschluß wurde ohne Gegenstimmen, d.h.

einstimmig angenommen. Mete Tunçay schreibt dazu, daß “die Republikanische

Volkspartei aus Grundsatz nach dem Einparteien und -führersystem strebte. Es gab

in ihren Reihen gar keine Bedenken dagegen”45. In der neu formulierten Satzung der

Partei wurde auch festgeschrieben: „Die CHP ist keine politische Partei in engerem,

klassischen Sinne, sondern die Dachorganisation der ganzen Bevölkerung. Deshalb

ist der Vorsitzende der Organisation einer solchen Partei naturgemäß auch der Chef

und Führer der ganzen Bevölkerung”46. Die Aufgaben des „Nationalen Chefs“ wurden

darin folgendermaßen beschrieben: „Normalerweise besteht eine Bevölkerung aus

Gruppen mit verschiedenen politischen Überzeugungen. Gesünder ist es aber, diese

ganzen politischen Gruppen zu einer einzigen, übergeordneten politischen

Überzeugung, d.h. zu einer einzigen homogenen Gruppe zu bewegen; diese

Aufgabe kann nur ein charismatischer nationaler Führer meistern; er, der Chef des

Volkes, kann verschiedene Überzeugungen und Meinungen in seiner und durch

seine Führerpersönlichkeit integrieren. Verschiedene Ansprüche und Aspekte

betrachtend und abwägend, kann er die richtigen Regeln für das ganze Volk

bestimmen. Gleichzeitig erzieht er als Vorbild die Bevölkerung. Sie lernt von ihm und

durch seine Vorbildhaftigkeit, daß seine Regeln Allgemeingültigkeit besitzen und die

richtigen sind”47. Warum sollte aber dieser Nationale Chef lebenslang regieren? Die

Satzung beantwortet diese Frage auch: “Der häufige Wechsel an der Spitze des

45 Mete Tunçay, Türkiye Cumhuriyeti´nde Tek-Parti Yönetimi´nin Kurulması (Die Errichtung des Eiparteienregimes inder Türkei), Ankara 1981, S. 13.46 Ulus, 26.12.193847 Ebenda.

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Volkes beschädigt die Autorität der Partei. Noch dazu darf nicht alle paar Jahre die

Person und das Werk eines Menschen, der ja ein nationaler Führer ist, in Frage

gestellt werden. Eine Diskussion in dieser Richtung schadet dem Ansehen der

Person. Deshalb muß ein nationaler Führer ein unabänderlicher, ewiger,

lebenslanger Führer sein. Die Politik, die der Nationale Führer vorgibt, ist die einzige

Richtige und den Interessen der Türkei dienende; mit seiner Stellung steht er aber

zugleich außerhalb jeder Verantwortung und kann nicht belangt werden. Es wird nur

dann ein neuer Nationaler Führer gewählt, wenn der bisherige stirbt, oder so krank

wird, daß er die Nation nicht führen kann oder selber zurücktritt”48.

Ismet Inönü regierte bis zum Ende der 40er Jahre eigentlich nur auf der Grundlage

dieser Satzungsänderung mit diktatorialen Vollmachten die Türkei. Die Phase des

“Nationalen Führers” ist als die Krönung einer im Jahre 1923 begonnenen

Entwicklung zu bezeichnen. Aber sie bedeutete mehr als nur die Durchführung

autoritärer Maßnahmen und die Machtzentralisierung, denn die Staatsmacht

konzentrierte sich wie zu Mustafa Kemal´s Zeiten in den Händen eines Führers, der

als alleiniges Zentrum der gesellschaftlichen Integration verstanden wurde.

Kurz nach dem Parteitag erschien in der von der CHP gesteuerten Zeitschrift Ülkü

(Heiliges Ziel) ein Leitartikel, der diese Legalisierung der Diktatur rechtfertigte und

begründete: “Der Nationale Führer ist der wache Kopf der Nation. Er wird mit seinem

allgegenwärtigen Wissen nicht nur unser nationales Leben repräsentieren, sondern

es auch bestimmen und leiten. Er wird dadurch zum Zweck und Ziel des Lebens und

des Todes, all unserer geistigen Werte und unserer glorreichen Geschichte”49.

48 Ebenda.49 Ülkü, 5.1.1939

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2.3.5 Antisemitismus a la Turca

Wohin diese unkontrollierbare, unkontrollierte und diktatorische Macht in der Türkei

führen konnte, zeigt die Praxis der „Körperschaftssteuer“ am besten. Diese Steuer,

die in den Kriegsjahren eingeführt und in erster Linie gegen die eigenen Minoritäten

eingesetzt wurde, hat sowohl im gesellschaftspolitischen als auch im

außenpolitischen Leben der Türkei noch bis heute spürbare Wunden hinterlassen.

Zuerst möchte ich an dieser Stelle feststellen, daß zu Anfang der 20er Jahre keine

andere Nation als die türkische je einen jäheren, abrupteren und solchermaßen

tiefgreifenden Bruch mit Vergangenem, mit der eigenen Geschichte durchlebte.

Jahrhundertelang nannten sich die Herrscher des Osmanischen Reiches nach dem

ersten Sultan des Reiches Osman. Der Begriff “Türke” war nicht bestimmend,

“Osmane” oder “osmanisch” wurde als ein integrativer Begriff, unabhängig von ihren

ethnisch-religiösen Herkünften, für alle Bewohner des Reiches verstanden und

verwendet. „Türke“ waren nur die anatolischen Bauern; es war ein Begriff für die

einfachen Leute im Reich. Trotz der Übernahme des Kalifats im 16. Jahrhundert und

der damit verbundenen Dominanz des sunnitischen Islams haben im Rahmen der

Herrschaftshierarchie moslemische, christliche und jüdische Gemeinschaften eine

gemeinsame Zivilisation hervorgebracht. Man darf nicht vergessen, daß die Völker

Balkans und des Nahen Ostens sich mit diesem multinationalem Gebilde, dem

Osmanischen, mehrere Jahrhunderte lang identifizierten. Erst am Ende der langen

Phase der Aufklärung und der entstehenden Nationalismen, versuchten vor allem

christliche Völker, sich vom Reich zu trennen. Sogar in dieser Phase lehnten die

osmanischen Herrscher das nationale Bewußtsein als Türken ab und distanzierten

sich auch so von “Türkisten”; die auch als “Jungtürken” bekannte Bewegung wurde in

ihrer Entstehungsphase als eine für das Reich gefährliche und rassistische

Bewegung und deshalb als verachtenswert abgestempelt. Der Türkismus konnte nur

mit dem siegreichen Aufstand der Jungtürken und dann mit der Republiksgründung

hoffähig werden und beeinflußte in den zwanziger und dreißiger Jahren die

Staatsdoktrin. So wurde aus dem unterdrückten Begriff Türke der Begriff der

Unterdrücker, die Demütigung verwandelte sich in der Macht in Arroganz und

Verachtung für die Nichttürken.

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Das Osmanische Reich startete von Anfang an eine intensive territoriale Expansion,

die mit der Eroberung von Byzanz (1453) nur scheinbar den Höhepunkt erreichte, die

Expansion wurde bis ins 17. Jahrhundert in Richtung Balkan und Nordafrika

fortgesetzt. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erstreckte sich das Osmanische Reich

von den Toren Wiens bis nach Jemen. Wie jedoch bekannt ist, hielt der Höhepunkt

der territorialen Ausdehnung des Osmanischen Reiches nicht ewig; infolge innerer

Entwicklungen im Reich und durch das expansive Aufkommen westeuropäischer

Mächte folgte ein ebenso schneller Niedergang. Gerade der wirtschaftliche

Niedergang wurde beschleunigt durch die Besonderheit der Osmanen; im Reich war

beinahe das ganze ökonomische System in der Hand und unter der Kontrolle der

christlich-jüdischen Minderheiten50. Das lag in erster Linie daran, daß eine

Militärlaufbahn Türken eher eine höhere gesellschaftliche Stellung und einträglichen

Gewinn sicherte als die Investition von Kapital in Handel. Gleichzeitig sahen es die

osmanischen Herrscher unter ihrer Würde, sich mit Handel und Handwerk zu

beschäftigen. Dazu waren nicht sie, sondern die Ungläubigen bestimmt.

Das Konzept der „ethnisch-ökonomischen“51 Arbeitsteilung ging aber mit dem

Entstehen von Nationalismen und Nationalbewußtsein zu Bruch: “In einer Zeit, in der

sich in Westeuropa das Barvermögen in Kapital zu wandeln begann, konnte die

türkische Mehrheit im Osmanischen Reich dieselbe Entwicklung nicht

nachvollziehen”52. Vor allem die christlichen Minderheiten waren nun nicht mehr

Freund, sondern Feind. In Städten wie Istanbul, Izmir und Saloniki baute die von

Minderheiten besetzte Handelsbourgeoisie wichtige internationale Verflechtungen

auf. Nach Angaben von Yuluğ Kulat beherrschte die christlich-jüdische Minderheit um

die Jahrhundertwende mindestens ein Drittel des türkischen Kapitalverkehrs, an den

Schlüsselpositionen der vorhandenen Industriebetriebe und der Banken saßen in der

Regel Nicht-Mosleme53. Die Osmanen hatten in den vergangenen Jahrhunderten die

Produktion eigenhändig den Minderheiten überlassen und bezichtigten diese nun der

Schuld, dadurch den Verfall des Reiches verursacht zu haben.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem erfolgreichen

Befreiungskrieg verkündigte Mustafa Kemal, daß “der wirkliche Kampf jetzt erst 50 Zusätzlich kam das Problem, daß angesichts des fortschreitenden, wirtschaftlichen Verfalls und der politischenOhnmacht im 19. Jahrhundert Versuche einsetzten, den Staat zu modernisieren; britische, französische und preußisch-deutsche Kapitalgesellschaften erhielten vorteilhafte Konzessionen in fast allen Wirtschaftsektoren.51 Gerhard Melinz, Vom osmanischen Mosaik zur türkischen Staatsnation - Aspekte der Nationstaatsbildung und desNationalismus im mittleren Osten, in : Nationalismus. Hrsg. u.a. v. Sepp Linhart, Wien 1994, S. 51 - 75.52 Niyazi Berkes, Türkiye´nin Ekonomi Tarihi (Die Wirtschaftsgeschichte der Türkei), Istanbul 1969, S. 304 ff.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 52

anfängt”54. Was er damit meinte und was dieser Satz vor allem im wirtschaftlichen

Bereich bedeutete, und zwar auf der ganzen Breite, sollten die folgenden Jahre vor

Augen führen. Noch vor der Ausrufung der Republik wurde unter der Leitung von

Kemal vom 17.02. bis 04.04.1923 in Izmir ein Wirtschaftskongreß abgehalten, an

dem 1135 Delegierte teilnahmen. Am Ende des Kongresses einigten sich die

Teilnehmer u.a. auf folgenden Beschluß: “Es wird eine nationale Wirtschaftspolitik

betrieben, sämtliche Wirtschaftszweige sollen nationalisiert werden. Die Rolle,

welche die nicht national türkischen Unternehmer bisher im türkischen

Wirtschaftsprozeß gespielt hatten, soll die nationale Bourgeoisie übernehmen. Da sie

aber für diese Aufgabe noch zu schwach ist, soll sie vom Staat geschützt und

unterstützt werden”55. Der Grundgedanke dieses Beschlusses bestimmte die

Wirtschaftspolitik der nächsten 20 Jahre der türkischen Republik. Unter dem

Deckmantel einer nationalen Wirtschaftsgesinnung ging es letztlich darum, die

Minderheiten zu entmachten und vor allem die gewinnbringenden Export-Import-

Geschäfte von Nicht-Moslemen zu übernehmen. Dabei sollte die Kapitalakkumulation

in der Hand einer rein türkischen Schicht gesammelt werden. Daß es jedoch

zwischen Zielen und Realitäten große Diskrepanzen geben kann, mußten die

Republiksgründer auch im wirtschaftlichen Bereich erst einmal lernen. Obwohl die

Wirtschaftspolitik der zwanziger und dreißiger Jahre die Kapitalakkumulation bei

Individuen zum Nachteil der Masse förderte und mit mehreren Subventions-Förder-

Gesetzen das Primat der staatskapitalistisch-türkischen Wirtschaftsinitiative festigte,

konnte, wie Şevket Süreyya Aydemir feststellt, “in dieser Periode die Ansammlung

vom nationalem Kapital trotzdem nicht gelingen”56. Neben der Weltwirtschaftskrise

von 192957 und der Unerfahrenheit der Türken in wirtschaftlichen und vor allem

internationalen Geschäften, spielte sicherlich auch eine Rolle, daß die sogenannten

Minderheiten nicht so leicht auf ihr Anteil am Kapitalmarkt verzichten wollten und

zuerst weiterhin die wirtschaftlichen Geschicke mitgestalteten. Die Regierung

versuchte auch in den dreißiger Jahren mit besonderen gesetzlichen Maßnahmen,

eine ethnisch-türkische Industrie zu etablieren. Türkischen Interessenten wurde

53 Yuluğ Kurat, Ekonomik ve Sosyal Araştırmalar (Sozioökonomische Untersuchungen), Ankara 1985.54 Atatürk´ten Düşünceler (Atatürk´s Gedanken), Enver Ziya Karal, Istanbul 1969, S. 48. Der türkische Satz lautet “Asılsavaş şimdi başlıyor”.55 Die vollständige Liste der Beschlüsse und mehr über den Wirtschaftskongreß in: Cahit Kurt, Die Türkei auf dem Wegin die Moderne: Bildung, Politik und Wirtschaft vom Osmanischen Reich bis heute, Frankfurt 1989, S. 195f.56 Şevket Süreyya Aydemir, Inönü´nün Dar Günleri (Die schwierigen Zeiten von Inönü), Istanbul 1979, S. 133.57 In jenem Jahr betrug das Außenhandelsdefizit der Türkei 101 Millionen Lira, also die Hälfte der Gesamteinnahmen.Als Maßnahme entwertete die Regierung mehrmals die türkische Währung.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 53

kostenlos Boden zur Verfügung gestellt, es gab Zollerleichterungen,

Steuerbegünstigungen, Prämien und Herstellungsmonopole für moslemische

Geschäftsleute. Diese wiederum waren die sogenannten tonangebenden

Persönlichkeiten des Befreiungskampfes und ihre um sie hofierende Clique; die

meisten waren selbst Großgrundbesitzer und besaßen genügend Kapital, um zu

investieren. So konnten sie die Möglichkeiten mißbrauchen und sich bereichern. Das

Volk selbst jedoch konnte keine finanzielle oder soziale Verbesserung im Alltag

feststellen. Der „Nationale Chef“ Inönü resümierte am 01.11.1942 in einer

Grundsatzerklärung vor dem Parlament rück- und vorblickend, daß die türkische

Wirtschaft nicht wie erwünscht große Erfolge verbuchen konnte und nannte den

„Schuldigen“ beim Namen; es waren vor allem die nationalen Minderheiten, die den

Erfolg der nationalen Wirtschaft verhinderten: „Sie versuchen mit ihrer frechen Art,

sich unter der Fahne der Freiheit versteckend, unsere wirtschaftliche Entwicklung zu

unterhöhlen”58. Er warf ihnen vor, „auf Kosten der Türken sogar am Krieg zu

gewinnen, hohe Profite zu erzielen und das Kapital nur für sich zu benutzen“, und

fügte hinzu: „Wir sind Türken und türkische Nationalisten, wir werden immer von

diesem Standpunkt ausgehend handeln. Für uns gilt ab jetzt, die Frage der

Blutzugehörigkeit und der geistig-kulturellen Identität festzustellen und

dementsprechend zu handeln“59. Wer mit diesen Sätzen gemeint war, stellte sich

einige Wochen später mit dem neuen Steuergesetz endgültig heraus. So wurde am

11.11.1942 ein Vermögenssteuergesetz erlassen. Der zuerst verunsicherten

Öffentlichkeit wurde diese Steuer mit den erschwerten Bedingungen des Krieges

begründet und als eine einmalige, aber notwendige Maßnahme beschrieben. Es

wurde auch gesetzlich festgeschrieben, daß die Lasten der neuen Steuer auf alle

58 In: Çetin Yetkin, Türkiye´de Tek Parti Yönetimi (Ein-Parteien-Regime in der Türkei), Istanbul 1983, S. 200-21459 Ebenda.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 54

wohlhabenden und gutverdienenden Bürger gleichermaßen verteilt werden würden60.

Demnach mußten alle steuerpflichtigen Bürger, deren Jahreseinkommen die 2500-

Lira-Grenze überstiegen, diese Zusatzsteuer bezahlen. Für Neumark war das

Vermögensabgabegesetz “eines der entscheidendsten und bedauerlichsten

Maßnahmen, die die türkische Regierung auf wirtschafts- und finanzpolitischem

Gebiet während des Krieges ergriff: „Was das Gesetz bezweckte und in nicht

geringerem Maße auch faktisch erreichte, war, die Minoritäten, insbesondere

Armenier, Griechen und Juden unverhältnismäßig stärker zu der Abgabe

heranzuziehen als in vergleichbaren Umständen lebende “eigentliche” Türken. In

nicht wenigen mir bekanntgewordenen Fällen, die ausnahmslos Angehörige der

Minoritäten betrafen, überstieg die verlangte Steuer das gesamte Vermögen des

Pflichtigen um ein Mehrfaches, mit dem Ergebnis, daß dieser gezwungen war, sein

Geschäft zu ungünstigen Bedingungen zu verkaufen und sich außerordentlich zu

verschulden. Sie (die Vermögensabgabe) hat einen nicht geringen Teil des von dem

Republiksgründer Atatürk im In- und Ausland geschaffenen Vertrauenskapitals auf

längere Zeit hinaus zerstört”61. Gleich nach der Verabschiedung dieses Gesetzes im

Parlament wurden die öffentlichen Steuerbehörden beauftragt, Listen über die

Besitzverhältnisse und jährliche Einkommen der in Gemeinden registrierten

Minderheiten zu erstellen und sie binnen kürzester Zeit nach Ankara weiterzuleiten.

In dem Gesetzestext war von vier Steuergruppen die Rede, den Moslimen, den nicht-

moslemischen Minderheiten, den Konvertierten und den Ausländern. Die regierende

Volkspartei begnügte sich jedoch mit den von den örtlichen Steuerbehörden

erstellten Listen nicht und beauftragte die Parteibüros in den betreffenden

Ortschaften, eigene Recherche zu machen und eigene Listen über Vermögen und 60 Es gibt in der deutschen Fachliteratur fast keine Hinweise auf diese Sondersteuer; eine der wenigen Ausnahmenbildet Dietrich Gronau mit seinem Aufsatz “Ein Lehrer und Kaufmann in Deutschland”, in dem er detaillierter auf dieProblematik eingeht: “Für türkische Staatsbürger jüdischen Glaubens, aber auch für die griechischen und armenischenMinderheiten, brachte die am 11. November 1942 erhobene einmalige Vermögensabgabe, die das durch dieVerteidigungsausgaben entstandene Defizit ausgleichen sollte, plötzlich und unvermutet eine Existenzbedrohung mitsich, denn der Abgabesatz betrug meist das Vielfache ihres Besitzes und lag höher als für andere vergleichbareEinkommensgruppen islamischen Glaubens. Die Folgen waren Zwangsverkäufe von Läden und Kleinbetrieben, staatlichorganisierte Schwerarbeit in Ostanatolien, um die fehlende Summe zu verdienen und Massenauswanderungen ( vorallem nach Australien, Argentinien und Brasilien). Diese Vermögensabgabe, die auch von türkischer Seite als Härteempfunden und als schlecht durchdacht kritisiert wurde, verursachte somit auf indirekte Weise eine erheblicheVerringerung der jüdischen Bevölkerung. Der Grund für die gezielt ungerechte Taxierung lag offensichtlich, wie inEuropa, in einer verstärkten nationalistischen Strömung, die keine Minderheiten duldete. Für die Türkei ergab sichdaraus letztlich ein großer Verlust an qualifizierten Handwerkern, Kaufleuten, Ärzten und Juristen, von denentraditionsgemäß viele jüdischer, griechischer und armenischer Herkunft waren”, Dietrich Gronau, Ein Lehrer undKaufmann in Istanbul, in: Das Exil der kleinen Leute / Hrsg. v. Wolfgang Benz, München 1991, S. 127.61 Fritz Neumark, a.a.O., S. 216. Neumark hat mir gegenüber die Vermögenssteuer als den wahren Grund für diespätere Auswanderung des großen Teils der türkischen Juden bezeichnet, Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 55

Einkommen der Armenier, Juden etc. zu erstellen. Auf einer sogenannten

Geheimsitzung sagte Ministerpräsident Saraçoğlu: “Endlich wissen wir, wie wir

unsere türkische Wirtschaft von Fremden säubern können, endlich wird die türkische

Wirtschaft den Türken gehören”62. Gleichzeitig ist festzustellen, daß diese

Maßnahme auch in der Öffentlichkeit fast gar keine Proteste auslöste, sondern auf

breiter Basis getragen wurde. Im Parlament hatten sowieso nach einer kurzen

Unterredung 350 Abgeordnete das Gesetz mit ihren Stimmen durchgebracht63.

Bemerkenswert ist, daß sehr viele türkische Händler und Kleinunternehmer,

wahrscheinlich aus Neidgründen, aber auch aus nationalistischem Eifer heraus,

eigene Rapports erstellten und dadurch letztlich ihre jahrelangen Nachbarn und

Freunde denunzierten64.

Der Umgang der türkischen Presse mit dem Thema zeigt die Dimensionen der

Minderheitenfeindlichkeit zu dieser Zeit in der Türkei. Ministerpräsident Şükrü

Saraçoğlu lud zwei Wochen vor der Verabschiedung des Vermögenssteuergesetzes

die Chefredakteure der wichtigsten türkischen Zeitungen nach Ankara und erläuterte

ihnen die Einzelheiten und den Zweck der neuen Steuer; er forderte sie auf, in

diesem Zusammenhang nur zustimmende Artikel und Kommentare zu veröffentlichen

und vor allem die moslemischen Leser nicht zu beunruhigen65. Tatsächlich hielten

sich fast alle Zeitungen an diese Empfehlung und berichteten über den Inhalt und die

Folgen der Steuer durchgehend positiv. So schrieb der Kolumnist Zekeriya Sertel66

von der Tan (Morgendämmerung), daß “die Vermögenssteuer für die soziale

Gerechtigkeit und politische Neuorientierung der Türkei nur positive Konsequenzen

bringen wird”67. In einem nicht unterschriebenen Kommentar mit der Überschrift

“Unsere Identität68 verteidigen” schrieb Cumhuriyet (Republik), daß “die Steuer die

Türkei in diesen schwierigen Zeiten finanziell entlasten wird und bestimmte Kreise

62 Bir Bakanın Anıları, (Erinnerungen eines Ministers), Milliyet, 19.1.199263 Es gab keine Gegenstimmen, 76 Abgeordnete fehlten bei der Abstimmung.64 Die Stimmung ausnutzend, ging die türkische Regierung einen Schritt weiter; am 16.11.1942 verbot dieGeneraldirektion für Propaganda allen Theatern in Istanbul, Stücke aufzuführen, in denen jüdische oder armenischeDialekte gesprochen wurden, „durch diese Maßnahme wird versucht, die Mißhandlung der türkischen Sprache zubeenden“, Cumhuriyet, 17.11.1942.65 Çetin Yetkin, a.a.O.66 Zekeriya Sertel wurde in den 50er Jahren Marxist, kam ins Gefängnis und konnte nach Paris fliehen, wo er bis zuseinem Tod in 1984 lebte.67 Zekeriya Sertel: “ Varlık Vergisi´nin ilk neticeleri” (Die ersten Ergebnisse der Sondersteuer) Tan, 18.12.194268 Das türkische Wort “varlık” meint zugleich Identität und finanzielles Vermögen. Die Überschrift benutzt sicherlichbewußt dieses doppeldeutige Wort, um einen Zusammenhang zwischen türkisch-moslemischer Identität und demVermögen der Minderheiten herzustellen.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 56

nun, sich selbstopfernd, ihren Beitrag dazu zu leisten haben”69. Wer hier mit

“bestimmten Kreisen” gemeint ist, braucht nach vorangegangenen Erläuterungen

nicht mehr wiederholt zu werden. In der regierungstreuen Tageszeitung Ulus (Nation)

vom 27.12.1942 ist zu lesen, daß “das Vermögenssteuergesetz erlassen wurde, um

die Gerechtigkeit in diesem Lande wiederherzustellen und die Türken sich nun wie

ergebene Soldaten für die Umsetzung der Steuer stark machen sollten”70. Die

deutschsprachige, nationalsozialistisch gesteuerte Tageszeitung “Türkische Post”

richtete sogar in ihrer Istanbul-Seite eine Sonderkolumne ein, wo im

denunziatorischen Stil die Namen von jüdischen und armenischen Steuerpflichtigen

und -flüchtigen veröffentlicht wurden. Die Zeitung richtete diese Kolumne ab

22.01.1943 kontinuierlich bis Ende September 1943 ein; dabei wurden neben den

Namen der Juden und Armenier auch ihre Berufe und Wohnviertel angegeben. Es

ging der ferngesteuerten nationalsozialistischen Zeitung sicherlich auch darum, die

Judenverfolgungen in Deutschland zu rechtfertigen bzw. zu zeigen, daß auch in der

Türkei mit Juden ähnlich vorgegangen wird. Und die türkische Regierung machte es

mit ihrem Vorgehen nicht nur dieser Zeitung leicht.

Die einzige „Kritik“ gegenüber der Steuerpraxis kam von der Zeitung Vatan (Heimat),

die dann in der zweiten Hälfte der 40er Jahre zum Sammelbecken der liberalen

Kräfte wurde. Während alle anderen wichtigen Zeitungen die Vermögenssteuer

lobend darstellten, wurden in Vatan über das Thema gar keine Kommentare

veröffentlicht, wie der Inhaber Emin Yalman in seinen Memoiren beschreibt, “als

stiller Protest”71. Sogar dieser Protest wurde von der Regierung vereitelt, die

militärische Ausnahmestandsverwaltung von Istanbul verbot auf Anweisung der

Regierung das Erscheinen der Zeitung für drei Monate72.

Nach Angaben von Faik Ökte erbrachte die Steuerabgabe insgesamt 300 Millionen

Lira ein, diese Summe entsprach etwa einem Drittel des gesamten 69 “Varlığımızı Korumak” (Unsere Identität wahren) Cumhuriyet, 18.12.1942.70 Falih Rıfkı Atay, “ Devlet bizden vazife istediği zaman” (Wenn der Staat zur Pflicht ruft),Ulus, 27.12.1942.71 In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß der Inhaber der Zeitung Ahmet Emin Yalman griechisch-jüdischer Abstammung, und deshalb von der ganzen Thematik letztlich direkt betroffen, war. In seinen Erinnerungenbezeichnet Yalman die Vermögenssteuer als einen “gnadenlosen Fehler der türkischen Bevölkerungspolitik” und führtaus, daß “die Steuer völlig willkürlich und gegen die Minderheiten eingesetzt wurde. Es war klar, daß die türkischeRegierung mit diesen Maßnahmen Nazimethoden nachahmen, eigene Minderheiten unterdrücken, politische Gegnereinschüchtern und politische Freunde begünstigen wollte”; Vgl.: Ahmet Emin Yalman, Yakın Tarihte - Gördüklerim veGeçirdiklerim ( Letzte Zeit -Was ich sah und erlebte), Istanbul 1970, S.375.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 57

Einnahmevolumens des Staates in 194173. Entscheidender als diese Summe war

jedoch, daß nun sehr viele Betriebe und Sektoren von Minoritäten „befreit“ und in die

Hände von rein-türkischen Unternehmern zugeführt wurden74 - das Ziel von 1923 war

20 Jahre später Realität geworden. Die Vermögensabgabe wurde auf der Basis der

erstellten Listen, aber ganz willkürlich gehandhabt. Es wurden nicht nur reiche oder

wohlhabende Mitglieder der verschiedenen Minderheiten mit dieser rassistischen

Steuer belegt, sondern fast alle Menschen, die eine andere Religionszugehörigkeit,

aber die türkische Staatsangehörigkeit besaßen. Genauso wurden Menschen, die

sich nach dem Familiennamensgesetz von 1934 nicht islamische oder nicht rein

türkisch klingelnde Namen gewählt hatten, auch mit hohen Steuern belegt, während

Geschäftsleute mit ausländischem Paß soviel (oder sowenig) Steuern wie die

Moslems zu bezahlen hatten75. Der türkische Journalist und Großverleger Nadir Nadi

schreibt in seinen Erinnerungen, daß es auch unter den Minderheiten nicht nur

wohlhabende Menschen gab, sondern auch Bauarbeiter, Dreher, Schneider, “die

jedoch viel mehr Steuer bezahlen mußten, als türkische Großgrundbesitzer oder

Textilfabrikanten”76. Wie ungerecht die Steuer festgelegt und wie leichtfertig dadurch

menschliche Existenzen zerstört wurden, belegt schon dieses eine Beispiel: der

jüdische Schreiner Ligor Kardan, der ein Monatseinkommen von 25 Lira hatte, mußte

5000 Lira Steuern nachzahlen. Nachdem er sich beschwert hatte, wurde ihm ein

Strafverfahren angedroht; es wurde ihm vorgeworfen, daß er seit Jahren Blumen aus

dem städtischen Garten klauen und sie für teures Geld weiterverkaufen würde.

Gleichzeitig wurde auch sein Vater mit Sondersteuern belegt, obwohl er seit Jahren

keine Arbeit mehr hatte. Für ihn galt die Begründung, daß “er auch von den

ungesetzmäßigen Blumenverkäufen seines Sohnes in der Vergangenheit profitiert 72 In der offiziellen Begründung des Verbots wird der Zeitung vorgeworfen, ein Bild von Charlie Chaplin als Hitler ausdem Film “Der große Diktator” veröffentlicht, zusätzlich in einer Karikatur Hitler als Esel gezeigt und dadurch dieBeziehungen der Türkei zu Deutschland gefährdet zu haben. Vgl.: Örfi Idare Komutanlığı, Istanbul, Nr. 16 866 / 8.12.42.Für Yalman war “das Verbot jedoch eine klare Strafaktion wegen unserer Haltung in der Steuerfrage”, s. Yalman,a.a.O.73 Faik Ökte, Varlık Vergisi Faciası (Die Katastrophe der Vermögenssteuer), Istanbul 1951. Faik Ökte war alsOberfinanzdirektor in den Jahren 1942 und 1943 mit der Einziehung der Steuern in Istanbul beauftragt und distanziertesich nach dem Krieg in seinen Memoiren von der ganzen Geschichte. Während er sich durch seine Veröffentlichungmehr oder weniger entschuldigte, hat bis jetzt keine einzige türkische Regierung Stellung zu diesem Kapitel der eigenenGeschichte genommen.74 Der DDR-Autor und Türkei-Experte Glasneck interpretiert das Ganze aus seiner Sicht :“ Um die Herrschaft desausländischen Kapitals über die türkische Wirtschaft durch die des nationalen Kapitals zu ersetzen (...), drängte sie ( dieRegierung) durch gesetzgeberische Maßnahmen und durch den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch auchden Einfluß der griechischen, armenischen und jüdischen Händler und Gewerbetreibende zurück.”, Vgl.: JohannesGlasneck, Türkei und Afghanistan - Brennpunkte der Orientpolitik im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1968., S. 160.75 Ausländische Hochschullehrer waren für den Gültigkeitsraum ihrer Verträge von steuerlichen Verpflichtungen befreit.

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Fluchtort Türkei - Ruinenland der Kulturen 58

hatte”77. “Die Vermögenssteuer führte für viele zum wirtschaftlichen Ruin, zu

Gefängnis, Lager und Zwangsarbeitsdienst. In diesem Zusammenhang wurden

Güter, Immobilien, Einrichtungsgegenstände und andere Waren von jüdischen und

christlichen Minderheiten, die ihre Steuern nicht bezahlen konnten, gepfändet und in

eiligst eingerichteten Versteigerungslokalen meistbietend, aber nur an moslemische

Anbieter verkauft. „Es war dies eine nach dem Kriege nicht mehr gern erinnerte

Maßnahme Ismet Inönüs gewesen zur Turanisierung und -angesichts der gähnend

leeren Kassen- zur Sanierung des von ihm und seiner Halk Partei, der “Volkspartei”,

der jede Opposition erspart wurde, diktatorisch geführten Staates”78. Diejenigen

Menschen aus den religiösen Minderheiten, die ihre Steuerschulden nicht

ausgleichen konnten, wurden zwischen April und September 1943 verhaftet und in

Istanbul zusammengebracht - insgesamt 2057 Menschen79. Der größte Teil der

verhafteten Menschen waren jüdischer Religionszugehörigkeit. In vier Zügen wurden

1400 von ihnen im September 1943 deportiert. Das Ziel hieß Arbeitslager Aşkale, in

der Nähe von Erzurum. Die inhaftierten Juden wurden als Straßenarbeiter eingesetzt,

sie waren verpflichtet, ihre Schulden durch Arbeit abzuzahlen. Das Arbeitslager

wurde parallel zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland im

Herbst 1944 aufgelöst. Für David Özmizrahi von der Jüdischen Gemeinde Istanbul

war diese „politisch wie auch menschlich unkluge Handlung Grund dafür, daß nicht

nur die freigelassenen Juden, sondern der Großteil der jüdischen Community die

Türkei in Richtung Palästina oder die USA verließen“80. Die Mitgliederzahl der

Jüdischen Gemeinde betrug zu Anfang der Republiksgründung ca. 200.000. Heute

leben in der Türkei etwa 18.000 Juden81.

76 Nadir Nadi, Perde Aralığından (Hinter dem Vorhang), Istanbul (o.Datum), S. 178.77 Ekonomik Panaroma Dergisi (Zeitschrift für wirtschaftliche Perspektive), 4/1988, Nr. 2, S. 23.78 Herbert Rittlinger, “Geheimdienst mit beschränkter Haftung - Bericht vom Bosporus”, Stuttgart 1973, S. 174.79 Die Türkische Post berichtet am 23.01.1943 bezugnehmend auf ein Interview, daß das Ministerium für ÖffentlicheArbeiten bereit war, bis zu 100.000 Juden zu verhaften und als Zwangsarbeiter einzusetzen.80 Gespräch mit Özmizrahi,Istanbul,30.05.1994.81 Vgl.: Istatistik Göstergeler (Statistisches Buch der Türkei), Ankara 1991, S. 38.

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ANGST

Ich kenne das Gefühl der Angst sehr gut, weil ich ständig Angst habe. Ich habe

Angst, weil ich Pessimist bin, weil ich eher eine unangenehme Vision der Zukunft

habe, sie ist sehr einfach: ein schwarzes Loch. Ich weiß nicht, was passieren wird.

Ich fürchte immer das Schlimmste, meist habe ich leider Recht.

Krzystof Kieslowski

Lodz, Paris, Masuren

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

60

3 Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

3.1 Einführung

Deutschland ist dasjenige europäische Land, dem in der Türkei sehr lange Zeit am

meisten Bewunderung und Sympathie entgegengebracht wurde. Die Entwicklungen

im deutsch-türkischen Verhältnis während der letzten Jahre, besonders seit den

Anfängen der 90er Jahre82, haben an diesem Bild zwar äußerlich einiges geändert,

(man sollte vielleicht jetzt nicht mehr von einer “blinden Liebe”, sondern von

“Haßliebe” sprechen), aber an sich ist die Germanophilie der Türken noch immer

ungebrochen. Die aktuellen und besonderen Beziehungen der Türkei und der

Bundesrepublik ergeben sich natürlich durch die Tatsache, daß beinahe 2,5 Millionen

Menschen aus der Türkei in Deutschland leben. Sie stellen die größte Gruppe der ca.

5 Millionen Ausländer. So wird seit Jahren in der Diskussion um die Ausländerpolitik

das “Ausländerproblem” in erster Linie als ein “Türkenproblem” gesehen. Gleichzeitig

ist es eine ehrwürdige Tradition, vor allem bei sämtlichen politischen Anlässen, die im

Grunde doch einseitige naive Freundschaft zwischen den beiden Ländern seit dem

letzten Jahrhundert anzuführen83. Vor allem bei offiziellen Anlässen wird die Türkei

auch als Fluchtland für deutsche Wissenschaftler erwähnt und diese Zeit in den

Vordergrund gestellt84. Dabei ist dies jedoch nur ein Teilaspekt der ganzen

Geschichte.

82 Türkenfeindliche Brand- und Mordanschläge in der Frühphase der Wiedervereinigung und die aus der türkischenSicht nicht konsequent genügende Haltung von Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber dem erklärten Erzfeind,der PKK, führen im Laufe der 90er Jahre immer wieder zu Spannungen zwischen beiden Ländern. Vor allem dietürkische Presse schürt mit teilweise hetzerischen Artikeln in der Türkei eine Abkühlung gegenüber Deutschland. Diedeutsche Bundesregierung muß sich vorwerfen lassen, die türkische Minderheit in Deutschland nicht genügend vorAngriffen der türken- und ausländerfeindlichen Gruppen geschützt zu haben.83 Die`Deutsch-Türkische Waffenbrüderschaft` des Ersten Weltkrieges bildet in diesem Zusammen-hang denargumentativen Höhepunkt in den zwischenstaatlichen Beziehungen.84 Vgl. dazu: die Ansprache des Ex-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 30.05.1986 zur Enthüllung einerGedenktafel für die deutschen Flüchtlinge; Bulletin der Bundesregierung, Nr. 62 v. 04.06.1986, S. 524.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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3.2 Wie entsteht eine Legende ? - Die Deutsch-Türkische Waffenbrüderschaft

Für die türkische Geschichtswissenschaft beginnen die Beziehungen zwischen den

Deutschen und den Türken praktisch nach der Zeit der Napoleonischen Kriege,

eigentlich erst mit der deutschen Reichsgründung im Jahre 187185. Zumindest die

türkische Seite nimmt die Zeit davor nicht wahr, da das Osmanische Reich bis zu

dieser Zeit keinen direkten Kontakt mit den deutschen Feudalherren und -staaten

hatte. Die Ausrufung des Deutschen Reiches wurde als eine positive Entwicklung

bewertet, weil es im Gegensatz zu Rußland und einigen westlichen Ländern keine

territorialen Ansprüche an das Osmanische Reich stellte. Dabei wurde übersehen,

daß gerade Reichskanzler Bismarck bestrebt war, während der sogenannten

Orientkrise (1875-1878), die Spannungen zwischen den Großmächten der Zeit (d.h.

England, Frankreich, Deutsches Reich und Rußland) vom Zentrum aus an die

Peripherie Europas, in den Balkan zu verlagern. So ist auch bekannt, daß Bismarck

dem Hegemonialanspruch Rußlands auf die türkischen Meerengen immer

Wohlwollen entgegengebracht hat86.

Die Bismarck´sche Politik wurde zuerst von Kaiser Friedrich III.87 und dann

konsequent von Kaiser Wilhelm II. fortgesetzt, der in der außenpolitischen

Konstellation neue Chancen für das Reich erkannte. Aus kaiserlicher und dadurch

deutscher Sicht war das Gebiet des Osmanischen Reiches die einzige Region in der

Welt, in welche Deutschland ökonomisch und politisch expandieren konnte88. Denn

die übrigen in Frage kommenden Regionen waren bereits kolonisiert und die

verspäteten Versuche der Deutschen, in China, Persien oder Afrika Fuß zu fassen,

blieben angesichts der starken Konkurrenz der klassischen imperialistischen Länder

85 Es wird auch ignoriert, daß die Deutschen schon seit der Zeit der Kreuzzüge im Orient mit den Türken zu tun hatten.86 Ich beziehe mich dabei auch auf meine Gespräche/Interview mit Prof. Ernst Engelberg am 11.08 und 17.08.1993 inBerlin. Der Historiker Engelberg, selbst Emigrant in der Türkei, gilt als einer der renommiertesten Bismarck-Experten.So fand seine umfangreiche Bismarck-Biographie, die 1985 unter dem Titel “Bismarck - Urpreuße und Reichsgründer”in der DDR erschienen ist, im deutschsprachigen Raum breite Beachtung. Den zweiten Band seiner auf 1600 Seitenangelegten Bismarck-Biographie (“Bismarck - Das Reich in der Mitte Europas”) legte Engelberg 1990 vor. Mehr überEngelberg und seine Tätigkeit ab S.185 dieser Arbeit.87 Als Mehmed Ali, ein osmanischer Statthalter in Ägypten, der sich für unabhängig erklärt hatte, mit seiner Armeeernsthaft die Macht des Sultans bedrohte, entsandte König Friedrich Wilhelm III. um 1883 Militärberater in die Türkei, umdem Osmanischen Reiches beizustehen.88 Über die Wende in der deutschen Außenpolitik nach Bismarck und die Haltung des neuen Kaisers dazu in: WernerKonze, Die Zeit Wilhelms II. und die Weimarer Republik, Tübingen 1964, S. 11 ff.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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ohne Erfolg89. Deutsche Präsenz in Anatolien, in welcher Form auch immer, wurde

zugleich als ein wirksames Hindernis für die Verbindungswege Großbritanniens nach

Indien und in Bezug auf die Expansionspläne Rußlands verstanden. Schließlich galt

das Gebiet schon damals als zukunftsträchtiges Erdölgebiet.

Auf der anderen Seite war ein Engagement des Deutschen Reiches in der Region

auch türkischerseits sehr erwünscht. Die türkische Öffentlichkeit war damals wegen

des Vorgehens Frankreichs in Nordafrika und wegen der Besetzung Ägyptens durch

Großbritannien aufgebracht - beide imperialistische Mächte, die als Rivalen des

Deutsche Reiches galten. Die Tatsache, daß die Engländer Ägypten praktisch dem

Osmanischen Reich entrissen hatten, trieb den Sultan in die Arme Deutschlands, und

er ließ seine Armee von deutschen Offizieren ausbilden. Der osmanische Sultan war

ein Bewunderer alles Deutschen, für ihn waren die Deutschen die wertvollsten

Menschen“90. Die osmanische Seite stellte bei jeder Gelegenheit die gewünschte

Präsenz der Deutschen heraus. So ging auch die Entsendung einer deutschen

Militärmission in die Türkei (1882/83) auf die Initiative des Sultans zurück. Die

osmanische Armee deckte, bedingt durch intensive Handelsbeziehungen, seit den

achtziger Jahren auch ihren Waffenbedarf grundsätzlich auf dem deutschen Markt91.

Die Annäherung zwischen den beiden Reichen fand in einer symbolisch

bedeutsamen Geste seinen Ausdruck: im Jahre 1889 stattete Wilhelm II. als erster

christlicher Herrscher in der Geschichte des Osmanischen Reiches einen Besuch in

Istanbul ab. Bei einem erneuten Besuch in 1898 erklärte Kaiser Wilhelm II. in

Damaskus: “Möge der Sultan und mögen 300 Millionen, die auf der Erde verstreut

leben, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der

deutsche Kaiser ihr Freund sein wird”92. In einem Brief an den Zaren schrieb Wilhelm

gar, wäre er nicht als Christ nach Palästina gekommen, hätte er sicherlich längst den

Islam angenommen. Diese Zuneigung des Kaisers für die Türken kam an der ‘Hohen

Pforte’ sehr gut an; zwei Monate nach dem Besuch vom Kaiser beauftragte die

osmanische Regierung deutsche Stellen, die millionenschweren 89 Wilhelm II.-Biograph Michael Balfour betont auch diese These und schreibt, daß der Kaiser gar keine andereAlternative hatte als sich im Nahen Osten zu etablieren. Vgl.: Michael Balfour, Der Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit,Berlin 1967, besonders S. 104 f.90 Gerhard Müller, Türkei, München 1986, S. 196.91 Detaillierter zu diesem Themenkomplex in: Colmar Freiherr von der Goltz -Ein Kämpfer für den militärischenFortschritt, Berlin 1957, besonders die Seiten 37 - 48. Von der Goltz, Feldmarschall der Preußischen Armee, dientezwischen 1883 - 95 als sogenannter Reorganisator der türkischen Armee und war dann während des ErstenWeltkrieges Oberbefehlshaber der 6. türkischen Armee und militärischer Berater des türkischen Hauptquartiers. Er hatsowohl politisch als auch militärisch den Einfluß des Deutschen Reiches in der Türkei ausgebaut und verfestigt.92 Kayzer Wilhelm´in Türkiye Gezisi (Die Türkeireise des Kaisers Wilhelm), Tarih ve Toplum, Nr. 53, Istanbul 1988.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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Elektrifizierungsarbeiten in Istanbul zu übernehmen, gleichzeitig sollten deutsche

Firmen auf der asiatischen Seite der Stadt einen Hafen und einen Zentralbahnhof

bauen. Die Bahnverbindung zwischen Berlin und Bagdad, nach Whittle “der britische

Alptraum”93,rückte nun seiner Verwirklichung nahe, die Deutsche Bank erwarb die

notwendigen Konzessionen, ab 1903 begann dann der Bau der Bahn. In diese

politische Linie paßte auch der Plan des Sultan Abdülhamid, den Strom deutscher

Auswanderer von Amerika nach Anatolien umzulenken. Der Sultan erhoffte durch

Deutsche als Siedler, Handwerker und Arbeiter in Anatolien, eine noch verbindlichere

Verpflichtung Deutschlands gegenüber dem Osmanischen Reich. Der deutsche

Kaiser war von der Idee einer großzügigen Erschließung Anatoliens durch deutsche

Siedler angetan. Die Revolution der Jungtürken 1908 und die explosive Entwicklung

im Balkan verhinderten jedoch die Realisierung dieses Plans und beeinflußten die

gegenseitigen Beziehungen negativ. Die Jungtürken94, die sich politisch-ideologisch

eher Frankreich verbunden fühlten, distanzierten sich zuerst von den Deutschen und

verhielten sich ihnen gegenüber betont kühl. Gleichzeitig schien der Elan der Südost-

Expansion Deutschlands vorerst gebrochen zu sein, da die gesamte Kolonialpolitik

des Kaisers, gemessen am Krafteinsatz, nur geringe Erfolge brachte. Die türkisch-

deutschen Beziehungen gelangten im Frühjahr 1914 an ihren Tiefpunkt. Dabei

spielte die sogenannte Ägäis-Frage (wieder einmal) eine entscheidende Rolle. Es

ging um den Status jener Inseln, die 1913 von Griechenland besetzt worden waren.

Das Deutsche Reich ergriff in dieser für die Türken sehr wichtigen Angelegenheit

offen Partei für Griechenland und trug dadurch zur Schwächung der türkischen

Position in der Ägäis wesentlich bei. Angesichts dieser Sachlage gewinnt die Frage,

wie es dann zu der viel gelobten deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft im Ersten

Weltkrieg kommen konnte, besondere Brisanz. Deutschland war wiederum das

einzige Land, das sich bereit erklärte die Integrität des Osmanischen Reiches am

Kriegsende anzuerkennen und keine Forderungen an sie zu stellen, während alle

anderen Großmächte jegliches Bündnis mit Istanbul ablehnten. Gleichzeitig hatte

eine starke Gruppe unter den Jungtürken, allen voran ihr Führer Enver Pascha (er

wurde auch Enver der Deutsche genannt), in der Regierung die Oberhand gewonnen

und drängte von Anfang an, an der Seite der Deutschen in den Krieg einzutreten,

weil sie erhoffte, die Verluste der Balkankriege wieder auszugleichen und vor allem

93 Michael Tyler Whittler, Kaiser Wilhelm II.- Eine Biografie, München 1979, S. 214.94 Nach einem militärischen Aufstand in Saloniki in 1908, geführt von Enver Pascha, setzten die JungtürkenAbdülhamid ab, ernannten Mehmet V. zum neuen Sultan und errichteten 1909 eine parlamentarische Demokratie.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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am Ende des Krieges die von den Griechen besetzten Ägäis-Inseln

zurückzuerobern95. Unter diesen Vorzeichen und Erwartungen trat die Türkei in den

Ersten Weltkrieg ein.

Die türkisch-deutschen Beziehungen der Kriegszeit endeten durch den am

30.10.1918 zwischen dem Osmanischen Reich und den Ententemächten

abgeschlossenen Waffenstillstandsvertrag. Der Artikel 23 des Vertrages verpflichtete

das Osmanische Reich, alle Beziehungen zum Deutschen Reich abzubrechen96. Die

waren dann tatsächlich nach dem für beide Seiten verlorenen Krieg und dem

Zusammenbruch beider Imperien für mehr als fünf Jahre unterbrochen.

95 Christoph Mühlmann beschreibt in seinem Buch “Das Deutsch-Türkische Waffenbündniß am Weltkriege, 1914-1918”, Leipzig 1940, ausführlich die Interessenlagen der beiden Seiten. Für ihn legten die deutschen Militärs bis zumAusbruch des Krieges keinen besonderen Wert auf eine militärische Partnerschaft mit der relativ schlecht gerüstetentürkischen Armee. Erst nachdem der rasche Sieg über Frankreich scheiterte und man sich auf einen langen Kriegeinstellen mußte, änderte man in Deutschland die Meinung, so Mühlmann. Vgl.: Ebenda., S. 14 ff..96 Die diplomatischen Vertreter wurden gegenseitig im Dezember 1918 zurückgezogen.

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3.3 Neue Zeiten - Alte Geschäfte

Die ersten diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei

wurden 1924 wiederaufgenommen. Mit dem am 30.03.1924 in Ankara

abgeschlossenen Freundschaftsabkommen war ein vorläufiges Konsularabkommen

verbunden. Dem folgte in 1925 ein wirtschaftliches Abkommen und schließlich ein

Handelsabkommen. Deutschland schickte Rudolf Nadolny97 als Botschafter nach

Istanbul, die Türkei Kemalettin Sami als Botschafter nach Berlin. Nadolny stattete am

16. 06.1924 seinen Antrittsbesuch bei Mustafa Kemal ab. Deutschland war auch das

erste Land, das seine diplomatische Vertretung von Istanbul in die neue Hauptstadt,

nach Ankara verlegte (Februar 1925). Das von vielen Türken als ähnlich empfundene

Schicksal beider Länder (Zusammenbruch der Reiche und Aufteilung der Länder

unter Siegern) diente in dieser Phase für eine erneute mentale Bindung der Türken

zu Deutschland. Schon in der Gründungsphase der Republik suchte die türkische

Seite wieder die Annäherung an die Deutschen. So resümierte der Vorsitzende der

“Deutsch-Türkischen Vereinigung“ Ernst Jäckh, während der Konferenz von

Lausanne: “Je mehr man Mitglieder der Delegation spricht, um so mehr hat man den

Eindruck, daß unser Wein im Orient wieder blühen wird, wenn wir durchhalten. Mit

Befriedigung ist festzustellen, daß die technischen Sachverständigen der türkischen

Delegation zumeist nicht neue Männer, sondern bewährte des alten jungtürkischen

Regimes sind. Diese gießen in den Wein der Selbsterneuerung, der in Ankara jetzt

alle Hirne zu benebeln scheint, das nötige Wasser, und mit ihnen können wir

Deutschen uns verständigen”98. Gefestigt wurden die Beziehungen der folgenden

Jahre in erster Linie durch wirtschaftliche Berührungspunkte, die an sich nie

abgebrochen waren. So waren die gesamten Aktien der sogenannten Bagdad-Bahn

bis Ende der 20er Jahre in deutscher Hand und wurden erst 1929 vom türkischen

Staat zurückgekauft. Zwischen 1925 und 1930 entstanden in der Türkei mit

deutscher Beteiligung insgesamt 14 Firmen und Betriebe, die alle in

97 Nadolny war bis 1933 in seinem Amt und wurde im Oktober 1933 von Frederic Hans von Rosenberg abgelöst undals Botschafter nach Moskau entsandt. Die türkische Regierung empfand es als eine besondere Anerkennung, daßNadolny von der Türkei nach Moskau wechselte und betonte gegenüber Deutschland ihr Wohlwollen. Vgl. dazu: JosefAckermann, Der begehrte Mann am Bosporus, In : Hitler, Deutschland und die Mächte, Düsseldorf 1976, S. 489.98 Politisches Archiv des Außenministerium in Bonn, PO 2, Bez. der Türkei zu D, Bd. 1, Jäckh an Rosenberg,7.12.1922.

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Schlüsselindustrien und Wirtschaftssektoren tätig waren99. Anfang der Dreißiger

Jahre war Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei. Das

Gesamtvolumen der Handelsbeziehungen betrug 1930 148 Millionen Reichsmark,

die Türkei kaufte in diesem Jahr für 78 Millionen Reichsmark in Deutschland ein,

Deutschland war mit ca. 21 Prozent der führende Importeur in der Türkei100. Infolge

der engen wirtschaftlichen Beziehungen kamen in den 20er Jahren wieder viele

Deutsche in die Türkei, die beim Aufbau von Industrie und Armee eingesetzt wurden.

So forderte die türkische Regierung einen Monat nach der Wiederaufnahme der

diplomatischen Beziehungen Berlin auf, bei der Reorganisierung und dem

Neuaufbau der Personalabteilung des Außenministeriums behilflich zu sein und

hierfür Spezialisten zu schicken. Aus den Akten geht hervor, daß zwei deutsche

Technokraten (ein Herr Schmid und ein Max Mühl) in die Türkei gekommen sind und

einige Monate im türkischen Außenministerium “reorganisiert und neuaufgebaut”

haben101. Neben weiteren Aufbauhelfern in Ministerien für Gesundheit,

Landwirtschaft und Staatsbetriebe übertrug die türkische Regierung die Leitung der

einzigen Schnellfeuerwaffenfabrik in Kırıkkale und die Modernisierung der türkischen

Polizei wiederum deutschen Spezialisten und Fachmännern. Es ist wegen fehlender

Akten und ungenügender Quellen türkischer Herkunft nicht möglich, eine genaue

Anzahl der deutschen “Aufbauhelfer” zu benennen, da gerade im

Gesundheitsbereich anscheinend eine große Fluktuation stattfand. Es ist davon

auszugehen, daß zwischen 1925 und 1932 ungefähr 180 Deutsche mit offiziellem

Auftrag in die Türkei gekommen sind102.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ebbten die türkischen Sympathien

für Deutschland keineswegs ab. Deutschland war bemüht, die guten vorhandenen

Beziehungen zur Türkei zu übernehmen. Das sogenannte Hugenberg-

99 Vor allem in den Bereichen Energiegewinnung, Bodenschätze, Bau und Bankwesen. Vgl.: Gündüz Ökçün, 1920-1930 Yılları Arasında Kurulan Türk Anonim Şirketlerinde Yabancı Sermaye (Fremdkapital in türkischen Betrieben derJahre 1920-1930), Ankara 1971, S. 22.100 Diese Zahlen basieren auf Angaben von Köksal, der die bisher ausführlichste Untersuchung zur Wirtschaftspolitikder republikanischen Ära vorgelegt hat: Bilge Köksal, Türkiye´de Iktisadi Politikanın Gelişimi (Die Entwicklung dertürkischen Wirtschaftspolitik), Ankara 1973.101 Ich halte es zumindest für fragwürdig, gerade den Aufbau des Außenministeriums ausländischen Spezialisten zuüberlassen und sehe darin einen Widerspruch zu der Außenpolitik von Mustafa Kemal, der jegliche Einmischung vonaußen ablehnte. Vgl. wegen der Angabe: Cemil Koçak, Türk-Alman Ilişkileri, (Deutsch- Türkische Beziehungen), Istanbul1991, S. 39.102 Deutsche Geschäftsleute, Angehörige verschiedener in der Türkei ansässiger deutscher Firmen, Schulen, Kirchenund anderer Institutionen sind in dieser Zahl nicht mitgerechnet.

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Memorandum103 sorgte zwar für eine gewisse politische und vor allem diplomatische

Mißstimmung und Abkühlung, aber die Situation entspannte sich spätestens mit dem

Handelsvertrag von April 1934, auf dessen Basis in den nächsten Jahren die

bilateralen Beziehungen sich entwickelten104. Wegen der eigenen Devisenknappheit

hatte der Minister für Reichswirtschaft Hjalmar Schacht ein System auf bilateraler

Basis eingeführt, das im Idealfall den Handel mit Devisen ausschließen sollte.

Deutschland wollte sich aus den wirtschaftlichen Spätfolgen und der Isolierung des

Versailler Vertrages befreien, und zwar zunächst wieder im Südosten Europas. Dabei

spielten die besonderen von Deutschland gewährten Außenhandelskonditionen, wie

die Einführung des Clearing- und Kompensationsprinzips in Verbindung mit der

Gewährung deutscher Abnahmegarantien für Agrarerzeugnisse eine besondere

Rolle. Wenn ein Land Waren an Deutschland verkaufte, erfolgte die Bezahlung

demnach nicht wie üblich in Devisen, sondern durch Verrechnung; das jeweilige

Land mußte sich verpflichten, selber deutsche Produkte zu kaufen105. So bezog

Deutschland in erster Linie Rohstoffe und Nahrungsmittel aus der Türkei und

bezahlte sie im Gegenzug mit Investitionsgütern aller Art. Eine weitere Vertiefung

103 Am 16.6.1933 sprach der damalige Wirtschaftsminister Hugenberg offen über die militärisch-wirtschaftlichenExpansionspläne Deutschlands nach Osten hin, mehr darüber und über Hugenberg in : Eberhard Aleff, Das Dritte Reich,Hannover 1970, S. 30.104 Die wichtigsten Ziele der deutschen Außenpolitik waren: Gewinnung von notwendigen Rohstoffen für die Industriebzw. Kriegsindustrie, Ausweitung des Einflusses deutscher Monopole vor allem in den für die deutschen Interessenwichtigen Gebieten und Ländern, Ausweitung der Einflußsphäre der deutschen Wirtschaft im Rahmen derimperialistischen Konkurrenz zu Lasten der USA und Großbritannien. Die deutsche Außenpolitik ist zwar alsimperialistisch zu bezeichnen, aber in dieser Hinsicht ist sie nicht von der Außenhandelspolitik der USA undGroßbritanniens zu unterscheiden. Deshalb ziehe ich es vor, die deutsche Politik als janusköpfig zu bezeichnen. Auf dereinen Seite verfolgte sie einen gewissermaßen friedlichen Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dendazugehörenden imperialistischen Zielen und auf der anderen Seite investierte sie Geld, Arbeitskräfte und Energie, umdie türkische Außen- und Innenpolitik zu beeinflussen. Ob und inwieweit dieser Einfluß auf eine deutsche Herrschaft inder Türkei abzielte, ist in der Forschung gerade über den Fall Türkei umstritten. Historiker aus der DDR verweisen aufdie kontinuierliche Fortsetzung eines wilheminischen Imperialismus gegenüber der Türkei während der Hitlerzeit. Siereden in diesem Zusammenhang von der Übernahme alter, annexionistischer Ziele der deutschen Großbourgeoisie, d.h.einer im 19. Jahrhundert gerade parallel zum Bau der Berlin-Bagdad-Bahn ausgearbeiteten Konzeption. Außerdemverweisen sie auf die Zusammenarbeit zwischen Nazi-Stellen und türkischen Turanisten (Mehr über Turanismus abS.100 dieser Arbeit) und auf die Wichtigkeit deutscher Propaganda in der Türkei. (Siehe dazu u.a.: Johannes Glasneck,Methoden der deutsch-faschistischen Propagandatätigkeit in der Türkei vor und während des Zweiten Weltkrieges, Halle1966). Die westdeutschen Historiker vertreten demgegenüber die Ansicht, daß die Existenz annexionistischer Plänenicht nachgewiesen werden kann, womit sie objektiv betrachtet auch Recht haben. In diesem Zusammenhang weisensie auf einen Mangel an Strategie in Hinblick auf die Ausnutzung gerade der Turanisten für politische Pläne,unterschätzen hier jedoch, die tatsächliche Situation.(Siehe dazu u.a. Lothar Krecker, Deutschland und die Türkei imZweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M 1964, besonders S. 68 und Heinz Glaesner, a.a.O.) Tatsächlich ist die Existenzpolitischer, zumindest militärischer Pläne in dieser Richtung aus Mangel an Quellen nicht nachweisbar. Man solltedaher, um in der juristischen Sprache zu bleiben, von starken Verdachtsmomenten deutscher Pläne gegenüber derTürkei sprechen und vielleicht daraus versuchen, eine Konstruktion herzustellen.105 Schacht war zwischen 1934-37 Reichswirtschaftsminister und zwischen 1933-39 Reichsbankspräsident. Nacheigenen Angaben trat er wegen Meinungsverschiedenheiten mit Hermann Göring in seiner Funktion als Beauftragter fürden Vierjahresplan 1939 von seinem Amt zurück, in: Hjalmar Schacht, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1953.

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erfuhren die Beziehungen, als Deutschland 1935 anfing, auch Waffen an die Türkei

zu liefern, die die Türkei wiederum mit für die deutsche Maschinen- und

Waffenindustrie sehr wichtigen Chromlieferungen ausglich106. Allerdings brachte der

Überfall Italiens auf Abessinien einen neuen Wandel in den deutsch-türkischen

Beziehungen. Das bis dahin gültige außenpolitische Hauptziel der Türkischen

Republik war die Schaffung eines Sicherheitssystems, das die Türkei von möglichen

Konflikten fern halten sollte. Aus diesem Grund betrieb das Land eine intensive und

sehr abenteuerliche Vertragspolitik. Den ersten sogenannten Nichtangriffs- und

Freundschaftspakt schloß das Land am 27.12.1925 in Paris mit der Sowjetunion.

Sogar mit dem sogenannten Erzfeind Griechenland wurden in den Jahren 1926 und

1930 Freundschaftsverträge vereinbart. Am 09.02.1934 wurde zusammen mit

Griechenland, Jugoslawien und Rumänien der Balkanpakt unterschrieben, bei dem

die Türkei als Initiator auftrat. Spätestens seit 1934 beobachtete die Türkei die

Entwicklung in Italien mit Argwohn107 und wertete den Einmarsch italienischer

Truppen in Abessinien als ein “abgekartetes Vorgehen gegen den Balkan”, wie

Krecker feststellt108. Da Deutschland sich vom Vorgehen Italiens nicht distanzierte,

sondern Mussolini den Rücken stärkte, fing die Türkei in dieser Phase an, sich im

Mittelmeerraum und überhaupt nach anderen Verbündeten umzuschauen, um das

Land gegen vermutete italienische Ambitionen schützen zu können109.

Großbritannien und Frankreich boten sich als Partner an und versuchten gleichzeitig

(und vielleicht vordergründig) die wirtschaftliche Vormachtstellung Deutschlands in

der Türkei zu torpedieren.

Ein erster Hinweis in dieser Richtung war der Londoner Vertrag vom 27.05.1938 über

eine Anleihe von 16 Milliarden Pfund Sterling, wovon 6 Millionen für die

Rüstungsverkäufe vorgesehen waren. Parallel zur wirtschaftlichen Annäherung vor

allem an England, versuchte die Türkei gleichzeitig sich auch politisch in einem 106 Nach Angaben von Prof. Rudolf Naumann bestand in den Jahren 1936 und 1937 die deutsche Chromeinfuhr zurHälfte, 1938 zu einem Drittel aus türkischen Lieferungen. Naumann, mit dem ich am 12.10.1994 in Stuttgart einGespräch führte, war als Archäologe in der Türkei, konnte relativ gut Türkisch sprechen und war zeitweilig beiVerhandlungen zwischen dem Reich und der Türkei als Vermittler tätig. Er verließ 1938 die Türkei. In den 60er Jahrenkehrte er als Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts nach Istanbul zurück. Er verstarb in Mai 1996.107 Mussolini verkündete in einer Rede am 18.3.34 in Rom, daß die historischen Ziele Italiens Afrika und Asien seien,Vgl.: Lothar Krecker, a.a.O., S. 20.108 Ebenda.

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Paktsystem mit England und Frankreich abzusichern. Die türkischen Anstrengungen

in dieser Richtung nahmen nach der Besetzung Albaniens durch Italien zu; damit war

nämlich ein Balkanstaat im Vorfeld der Türkei angegriffen worden und das System

der Verträge zur Sicherung des türkischen Vorfeldes tatsächlich gefährdet110.

Während der deutsche Botschafter in Ankara Franz von Papen die italienische

Vorgehensweise als eine isolierte Aktion darzustellen ersuchte und damit die

türkische Regierung beschwichtigen wollte111, stellte Berlin klar, daß „Italien auch hier

mit der vollen Unterstützung ihrer Mittelmeerpolitik durch Berlin rechnen konnte112.

Papen´s diplomatische Versuche konnten die türkische Haltung nicht ändern; der

türkisch-englische Beistandspakt wurde am 12.05.39 unterschrieben, der türkisch-

französische Pakt folgte am 23.06.39 und hatte den gleichen Wortlaut wie der

erste113. Deutschland reagierte zuerst mit einer wirtschaftlichen Blockade und sperrte

die Lieferung von Kriegsgeräten an die Türkei114. Als Antwort verzögerte die Türkei

ihre Chromlieferungen und unterzeichnete noch dazu mit den USA, England und

Frankreich am 08.01.1940 ein Chromabkommen, wonach diese Länder sich

verpflichteten, die gesamte Chromproduktion der Türkei aufzukaufen115. Die

Zuspitzung der Lage zwischen den beiden Ländern drängte Deutschland zu einer

Umkehr ihrer Haltung. Das Auswärtige Amt gab an den Botschafter von Papen die 109 Der englische Botschafter in der Türkei Knatchbull-Hugessen führte die Entwicklung in der türkischen Politik aufdrei Hauptüberlegungen zurück: die Türkei sei der Auffassung gewesen, durch diesen Schritt das Werk Mustafa Kemalsam besten schützen und erhalten zu können. Zugleich habe sie gehofft, damit gegen weitere italienische Übergriffe aufdem Balkan gewappnet zu sein. Vor allem seien die türkischen Politiker überzeugt gewesen, daß die britisch-französische Kombination wie im Ersten Weltkrieg auch diesmal mit Deutschland fertig werden würde. HugheKnatchbull-Hugessen, Diplomat in Peace and War, London 1949, S. 147ff.110 In einer Rede vor der Großen Nationalversammlung zur Lage erklärt der Ministerpräsident Saydam, daß dieTürkei bis zu diesem Punkt versucht habe, gemäß ihrer Friedenspolitik und ihrer Treue zu Allianzen undFreundschaftsveträgen neutral zu bleiben. Da sich aber der Konflikt durch den italienischen Angriff auf Albanien auchauf den Balkan ausgedehnt habe, sei die türkische Sicherheit im Mittelmeerraum und auf dem Balkan bedroht. Daherglaube die türkische Regierung, daß diese Sicherheit nicht durch eine neutrale und gleichgültige Haltung dem Zufallüberlassen werden dürfe. Cumhuriyet, 11.4.39.111 Ich halte es für erwähnenswert, daß der Posten des deutschen Botschafters in Ankara in dieser heißen Phase desdiplomatischen Krieges zwischen August 1938 und Mai 1939 unbesetzt geblieben ist.. Botschafter von Keller, derRosenberg gefolgt war, war am 10. August in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Der neue Botschafter vonPapen trat erst am 29.04.1939 in Ankara an. Er schreibt in seinen Erinnerungen, daß Rippentrop im Laufe des Wintersihn dreimal mit dieser Aufgabe konfrontiert hat und er erst dann zugesagt hat. Franz von Papen, Der Wahrheit eineGasse, München 1952, S. 50. Krecker sieht in dieser Situation ein generelles Desinteresse des Deutschen Reiches ander Türkei, kann diese Behauptung jedoch nicht vertiefen oder belegen. Vgl.: Krecker, a.a.O., S. 27.112 Johannes Glasneck, Türkei und Afghanistan...a.a.O., S. 163.113 Darin verpflichten sich beide Staaten (d.h. England bzw. Frankreich und die Türkei) zu gegenseitiger Hilfe im Falleeines Angriffes, der zu einem Krieg im Mittelmeer führt. Der vollständige Text in: Krecker, a.a.O., Anhang l, S. 256.114 Es handelte sich, nach Naumann, in erster Linie um Kanonen aus der Tschechoslowakei. Gespräch mit Prof.Naumann.115 Der Vertrag blieb tatsächlich über sechs Monate geheim, bis der türkische Außenminister Menemencioğlu Papendarüber informierte. Nach dem Vertrag durfte die Türkei jährlich nur 250 000 T Chrom fördern, von denen 200 000 T fürEngland und Frankreich und der Rest für die USA bestimmt waren.

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Anweisung, die Beziehungen so schnell wie möglich zu normalisieren. Es gelang v.

Papen zwar sofort, Wirtschaftsverhandlungen mit der türkischen Regierung

aufzunehmen, aber Ankara konnte wegen dem Vertrag mit den Alliierten

Deutschland vorerst kein Chrom anbieten. Durch die Niederlage von Frankreich und

das gleichzeitige Erstarken des Deutschen Reiches änderte aber wiederum die

Türkei ihre Politik ab 1940; nach der Niederlage brach der türkisch-französische

Handelsverkehr zusammen, gleichzeitig befand sich England, zumindest zu dieser

Zeit, in einer sehr defensiven Situation. Aufgrund des Englisch - Französisch -

Türkischen Abkommens wäre die Türkei verpflichtet gewesen, gegen Deutschland in

den Krieg einzutreten. Am 14.06.1940 erklärte aber die türkische Regierung mit

Berufung auf die “Rußland-Klausel”116 des Vertrages, daß sie nicht in den Krieg

eintreten würde. Am 03.06.1940 versicherte der türkische Staatspräsident dem

deutschen Botschafter von Papen, “er wünsche dringend den Abschluß eines

Wirtschaftsabkommens als Zeichen des guten türkischen Willens. Seine Regierung

hat trotz des Beistandpaktes mit den Alliierten stets gewünscht, freundschaftliche

Beziehungen zu dem alten Bundesgenossen aufrechtzuerhalten”117. So wechselte

die Türkei wieder einmal schnell die Seiten und beide Länder unterschrieben am

25.07.1940 ein Sonder- und Zahlungsabkommen118. Wie man an diesem Beispiel

erkennen kann, versuchte die Türkei sich ständig den veränderten Verhältnissen

anzupassen119. Eigentlich entsprach der reaktionär getönten türkischen Innenpolitik

diese chamäleonhafte Außenpolitik, die vor allem auf den widersprüchlichen

Beziehungen zu Deutschland fußte. Die Haltung der nationalistischen Offiziere der

türkischen Armee stand im Einklang mit den Intentionen des Präsidenten, der bis

etwa Oktober 1942 an einen deutschen Sieg glaubte120. Festzuhalten wäre auf

jedem Fall, daß während der 30er Jahre bis zu der letzten Phase des Krieges die

deutsch-türkischen Beziehungen relativ kontinuierlich fortgeführt und gepflegt

wurden. Auch wenn die meisten Autoren in diesem Zusammenhang dazu neigen, der

116 Der Vertrag erlaubte der Türkei, von ihren Verpflichtungen Abstand zu nehmen, wenn diese sie in einenbewaffneten Konflikt mit der Sowjetunion verwickeln könnten. Krecker bezeichnet diese Begründung nicht ganzunberechtigt als “unehrlich”, Vgl.: Krecker, a.a.O., S. 87.117 Krecker, a.a.O., S. 81118 Darin wurde eine Einigung über den Austausch von Agrarprodukten gegen Industrieerzeugnisse vereinbart.119 Von Papen scheint zu dieser Zeit in Ankara relativ großen Einfluß gehabt zu haben; er war mit demGeneralstabschef Çakmak und dem Kriegsakademiedirektor Erden ganz eng befreundet, lud sogar seine “militärischenFreunde zu einem Film in die Botschaft ein, der ihnen ein höchst realistisches Bild von der Technik des modernenTötens vermittelte”. Papen führt in seinen Memoiren weiter aus, daß er sogar den für ihn viel zu englandfreundlichenAußenminister Saraçoğlu stürzen wollte. Vgl.: Papen, a.a.O., S. 521 ff.120 Gespräch mit Prof. Naumann....

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Türkei eine weiße Weste zu verpassen und ihre Position als grundsätzlich anti-

nationalsozialistisch definieren121, sprechen viele Fakten und Ereignisse gegen diese

Annahme. Vor allem denke ich dabei an die gegenseitigen wirtschaftlichen

Beziehungen, Verpflichtungen und Interessen; so war die Türkei nach 1933 eindeutig

in erster Linie über Deutschland mit dem Weltmarkt verbunden, sie konnte auch

Deutschland ihre Rohstoffe und Agrarprodukte zu relativ hohen Preisen verkaufen

(30 % über dem Weltmarktpreis). Der türkische Export nach Deutschland stieg von

37,9 Millionen Reichsmark in 1933 auf 122 Millionen Reichsmark in 1939. Der Anteil

Deutschlands am türkischen Außenhandel stieg in dem Zeitraum von 20% auf

50%122. Parallel zu wirtschaftlichen Verflechtungen erhöhte sich der politische Einfluß

Deutschlands gegenüber der Türkei123. In erster Linie machten die wachsenden

Kriegsmateriallieferungen und die Montage von Fabrikanlagen die Türkei vom

deutschen Know-how, Personal und Ersatzteilen abhängig. Die Anzahl der

deutschen Berater, Spezialisten und Ingenieure stieg bis 1939 auf mindestens 2.000

(diese Zahl umfaßt natürlich nicht die geflüchteten Deutschen)124. Genauso ist es

wichtig darauf hinzuweisen, daß die Lieferung von deutschem Kriegsmaterial in die

Türkei auch eine wichtige Rolle in den wechselseitigen Beziehungen übernahm125. In

einem Bericht teilte Botschafter von Papen an das Außenamt mit, daß die Türkei

allein für das Jahr 1939 in Deutschland Waffen für 124 Millionen Reichsmark bestellt

hatte, weiter zu beachten ist auch der Auftrag der türkischen Regierung an Siemens -

Bau-Union, datiert auf den 21.04.1939,den Marinehafen in Gölcük für dreißig

Millionen Reichsmark zu bauen126. Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der

121 So schreibt z.B. Zehra Önder in ihrer breiten Untersuchung über die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg,daß “die Haltung der Türkei gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland von Anfang an eindeutig ist”. Vgl.:Zehra Önder, Die türkische Außenpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1977, S. 13.122 Gespräch mit Prof. Naumann....123 Das Vorhandensein einer Wechselbeziehung zwischen wirtschaftlichem und politischem Einfluß ist seit denAnfängen des Imperialismus ein ewiges, aktuelles Problem. Während in der Phase bis zum Ende des ZweitenWeltkrieges diese Beziehung zwischen zwei Staaten definiert wird, entstehen in der “Neuzeit des Imperialismus”, in den50er und 60er Jahren Organisationsformen und Wirtschaftsorganisationen, die die Aufgabe der direkten politischenEinflußnahme und Interessenvertretung ausüben wie z.B. der IWF.124 Es sind keine exakten Angaben über die genaue Anzahl der sogenannten offiziellen Deutschen in den DreißigerJahren in der Türkei ausfindig zu machen. Lothar Krecker beziffert ihre Anzahl mit 2000 und bezieht sich in diesemZusammenhang auf die Aufzeichnungen des Leiters der wirtschaftspolitischen Abteilung im Außenministerium Wiehl,Vgl.: Krecker, a.a.O. S. 23. Naumann als Zeitzeuge hat mir gegenüber diese Zahl als “sehr glaubwürdig” bewertet.Gespräch mit Prof. Naumann....125 Vor allem die deutschen Militärs, die an der Istanbuler Kriegsakademie tätig waren, hatten einen direkten Einfluß,sowohl auf die militärische Ausbildung als auch auf die politische Haltung der türkischen Armeeführung. Das Ziel war,die Armeeführung in der Entscheidungsphase der türkischen Außenpolitik dahingehend zu beeinflussen, daß siezumindest nicht gegen Deutschland, wenn möglich sogar für enge Bindungen an Deutschland eintraten.126 Politisches Archiv des...a.a.O., Serie D 1937 - 1945, Bd. VI, Papen an Weizsäcker, 20.5.1939.

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Türkei im militärisch-wirtschaftlichen Bereich ging in diesem Zusammenhang einen

vielschichtigen Weg.

3.4 Infiltration, ein Versuch - Hakenkreuz in Istanbul

Die NSDAP-Auslandsorganisation (NSDAP-AO) und der 1937 der SS-

Volksdeutschen Mittelstelle zugeschlagene “Volksbund für das Deutschtum im

Ausland” hatten die Aufgabe, deutsche Volksgruppen im Ausland für

Propagandaarbeit zu gewinnen. Die Deutschen sollten Mitstreiter des Führers und

natürliche Repräsentanten des Reiches sein. Gleichzeitig sollten sie in ihrem Land

die Sympathie und das Verständnis für die nationalsozialistischen Ideen wecken127.

In der Türkei waren nach 1933 drei Ortsgruppen der NSDAP-AO, in Istanbul, Ankara

und Izmir, entstanden128. Wie in den anderen Ländern verstand die AO als wichtigste

Voraussetzung für ihre Aktivität das Prinzip der Legalität. Bei der Gründung der

Ortsgruppen versicherte sie den türkischen Stellen gegenüber, daß sie sich nicht in

die türkischen Probleme und Politik einmischen würde129. Gleichzeitig war in der

Türkei seit 1926 sowieso jegliche politische Propaganda, natürlich außer der

offiziellen, strikt verboten. Dieses Verbot galt vor allem, trotz der relativ guten

Beziehungen in der ersten Hälfte der 20er Jahre zur Sowjetunion, für

kommunistische, aber auch für islamisch-fundamentalistische Äußerungen.

Obwohl das gleiche Gesetz in der Türkei lebenden Ausländern die Bildung von

politischen Vereinen und solchen, die einer bestimmten Volksgruppe vorbehalten

waren, verbot, wurde die NSDAP-AO als kulturelle Vereinigung angesehen und

erlaubt130. Weiterhin verbot dieses Gesetz den Ausländern jegliches Tragen von

politischen und militärischen Abzeichen. Klar ist, daß die sogenannten Ortsgruppen

in der Türkei versuchten, weitgehend nicht mit dem Gesetz in Berührung zu kommen.

Deshalb hielten sie ihre Parteiveranstaltungen auch meistens im Gebäude der

Botschaft oder der Konsulate ab. Es wurden aber, zumindest in Istanbul in den

Jahren 1934 und 1935, auch Propagandaveranstaltungen außerhalb der

127

Heinz Glaesner, a.a.O., S. 29.128 Ebenda.129 “Es war eine übliche Umgangsform der Organisation, um die zuständigen Stellen nicht unnötig zu provozieren”.Gespräch mit Prof. Naumann....130 Meine Anfrage zu dieser Entscheidung und die angewendete Ausnahmeregelung ist beim TürkischenAußenministerium unbeantwortet geblieben.

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diplomatischen Gebäude organisiert und durchgeführt131. Obwohl diese eindeutig

politische Inhalte hatten132, wurde weder von der türkischen Polizei, noch von den

zuständigen Gerichten etwas unternommen, um sie zum Beispiel aufzulösen. “Die

Veranstaltungen werden von der türkischen Polizei nur argwöhnisch betrachtet” heißt

es in einem Bericht133 der AO an die zuständigen Stellen Berlin.

Am 01.03.1934 reiste der Stellvertretende Reichsjugendführer Nabersberg nach

Ankara, um die Arbeit der NSDAP-AO der türkischen Regierung zu erläutern und ihr

den Aufbau einer deutsch-türkischen Jugendorganisation nahezulegen134. Die

Regierung lehnte dieses Angebot ab. Zugleich vereinbarte man aber eine intensive

Zusammenarbeit zwischen der HitlerJugend (HJ) und der türkischen

Pfadfinderorganisation. So nahm am 29.09.1934 zum elften Gründungstag der

Republik eine HJ-Delegation an der offiziellen Parade teil135. Sie marschierte mit der

obligatorischen HJ-Fahne und in Uniform mit, der Gruppenleiter hielt auch während

der Feierlichkeiten eine Ansprache. Nach meinen Recherche blieb es aber bei

diesem einzigen öffentlichen Aufmarsch.

Der AO gelang es den größten Teil der etwa 2.000 Deutschen in der Türkei für sich

zu mobilisieren136. Nach Angaben von Koçak stieg die Zahl der aktiven deutschen

NSDAP-Mitglieder in der Türkei von 22 in 1933 auf 238 in 1937, der Rest wurde als

zumindest nicht reichsfeindlich eingestuft137. Die Ortsgruppen dienten dazu, sowohl

die sogenannten offiziellen Deutschen als auch die Flüchtlinge in der Türkei zu

überwachen und über sie Berichte zu verfassen138. Betätigten sich offiziell in der

Türkei verweilende Deutsche zu wenig im Sinne der Partei, wurde ihre Rückreise

empfohlen. Als Beispiel sei der Fall des Rektors der Landwirtschaftlichen Hochschule

in Ankara genannt. Professor Dr. Friedrich Falke, der seit 1932 in Ankara diese

Schule leitete und auch dort lehrte, war zwar nach eigenen Angaben deutsch-

national, aber nicht nationalsozialistisch eingestellt und verweigerte deshalb den

Aufbau einer deutschen Kadergruppe an der Schule139. Die Ankaraner AO-

Ortsgruppe warf ihm vor, daß sein Verhalten nicht nur “die deutschen 131 So wurden in angemieteten Kinosälen “Wochenschauberichte” aus Deutschland gezeigt und Vorträge für türkischeSympathisanten des Nationalsozialismus abgehalten.132 Vgl. dazu auch : Heinz Glaesner, a.a.O., S. 30.133 Ebenda.134 Polit. Archiv des...a.a.O., PO 2 Bd. 5, Nr. 206, 14.3.34 Bericht über die Reise des Stabsführers Nabersberg.135 Türkische Post, 30.09.1934136 Cemil Koçak, a.a.O., S. 177.137 Ebenda.138 Gespräch mit Prof. Naumann....

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kulturpolitischen Belange aufs schwerste” schädige, sondern auch einer

“Sabotierung der Partei” gleichkomme. Am 27.02.1937 forderte die AO die

Rückberufung Falkes nach Deutschland140 . Allerdings entschlossen sich das

Außenministerium und das Reichserziehungsministerium nur sehr zögernd, diesem

Wunsch zu entsprechen, um nicht die Beziehungen mit der Türkei zu belasten. Erst

am 17.08.1937 wurde der deutsche Botschafter in der Türkei vom Auswärtigen Amt

angewiesen, Falke klar zu machen, “daß die zuständigen deutschen Regierungs-

und Parteistellen seine Rückkehr nach Deutschland unter Rücktritt von seinem

Vertrag mit der türkischen Regierung verlangten”141. Falke beugte sich dem Druck

und verließ dann Anfang 1938 die Türkei. Die AO versuchte auch massiv auf die

deutschen Flüchtlinge in der Türkei Einfluß zu nehmen. Die Berichte, die die

Ortsgruppen über diese Deutschen und ihre eventuellen Aktivitäten stellten, wurden

später in den Ausbürgerungsverfahren gegen sie verwendet; auch der Bericht des

Oberregierungsrats Scurla142 bietet einen Überblick in die entsprechenden Aktivitäten

der Reichsbehörden in der Türkei143. Oberregierungsrat Herbert Scurla war zwischen

11. - 25. Mai 1939 in Istanbul und Ankara und führte mehrere Gespräche sowohl mit

türkischen Stellen als auch mit dem Großteil der deutschen Wissenschaftler an den

Universitäten. Nach seiner Dienstreise verfaßte er einen 110seitigen Bericht, der

über die Umstände und den Einfluß der deutschen Flüchtlinge im türkischen

Bildungs- und Universitätssystem ausführlich informierte. Der Bericht hatte natürlich

einen starken denunziatorischen Inhalt. Die AO-Ankara schlug schon 1935 vor, aus

den Handelsbeziehungen mit der Türkei in dieser Richtung zu profitieren und das

Land zur Entlassung der deutschen Wissenschaftler zu bewegen: “Man könnte

darauf hinweisen, daß Deutschland auch keine unerwünschten Türken anstelle.

139 Politisches Archiv des...a.a.O., Botschaft Ankara, Bd. 731. Prof. Falke an Botschaft140 Cemil Koçak, a.a.O., S. 171 f.141 Politisches Archiv des... a.a.O.142 Der Scurla-Bericht, Migration deutscher Professoren in der Türkei im Dritten Reich, Hrsg. v. Klaus DetlevGrothusen, Frankfurt/M, 1987. Der Originalbericht befindet sich in : Politisches Archiv des ..., Nr. 732 Akten BotschaftAnkara143 Vor Scurla war 1935 ein anderer deutscher Schulinspektuer, Ministerialrat Dr. Löffle vom WürttembergischenKultusministerium, vom Auswärtigen Amt zu einer Inspektion der deutschen Schul- und Hochschultätigkeit in die Türkeientsandt worden. Während seines Aufenthaltes in Ankara und Istanbul zwischen dem 10. und 23. Juli 1935 besuchte erauch Fakultäten, universitäre Einrichtungen, an denen emigrierte Professoren tätig waren, traf Lehrer der DeutschenSchule und erstellte für die deutsche Seite einen positiven Bericht: “Die zahlreichen Professoren, die an denHochschulen in Istanbul und Ankara in deutscher Sprache lesen, die steigende Anzahl der deutschen Sprachlehrer, diedeutschen Sachverständigen auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Technik und der Kunst ...wirken sich nach meinerBeobachtung überall günstig aus, so daß der geistige und wirtschaftliche Einfluß Deutschlands in der Türkei imWachsen ist”. Statement Löffler in : Türkische Post, 24.07.1935.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

75

Unsere Liste der Unerwünschten enthält 150 Namen”144. Es ist jedoch wichtig zu

betonen, daß weder Berlin konkrete Forderungen nach Ankara stellte, noch die

Türkei auf solche Überlegungen in irgendeiner Weise einging. Die NSDAP-AO

versuchte zwar, die Arbeitsbedingungen der deutschen Wissenschaftler zu

erschweren oder zumindest negativ zu beeinflussen. Es ist jedoch davon

auszugehen, daß der Einfluß ohne größeren Erfolg blieb oder von höheren Stellen

unterbunden wurde. Zumindest liegen keine weiteren konkreten Quellen oder

Erfahrungsberichte vor145.

3.5 Die Türkei - Objekt der deutschen Begierde

“Unter dem Eindruck der großen politischen Ereignisse und im Banne der

militärischen Erfolge hat sich im gesamten deutschen Volke eine bisher noch nicht

erreichte innere Geschlossenheit und enge Verbundenheit von Front zu Heimat

herausgebildet. Alles schaut dankbar und mit Vertrauen auf den Führer und auf die

von Sieg zu Sieg eilende Wehrmacht”146. So beurteilte der Sicherheitsdienst der

Reichsführer-SS, das sogenannte Himmler-Amt, die Lage in Deutschland am

24.06.1940. Zugleich war jedoch England noch immer nicht besiegt und dachte auch

nicht im geringsten daran, die deutsche Herrschaft zumindest auf dem europäischen

Festland anzuerkennen. Gleichzeitig stand das große Ziel, Eroberung von

Lebensraum im Osten, also die Unterwerfung der slawischen Völker, auf dem Plan.

Noch dazu glaubte Hitler, daß Englands Wille zur Fortsetzung des Krieges darin

verwurzelt war, “daß England noch eine Hoffnung auf Rußland hat. Ist aber Rußland 144 Politisches Archiv des...,a.a.O., Bericht über die Emigranten in der Türkei, ohne Datum.145 Deswegen ist auch die Interpretation von Johannes Glasneck, dem Türkeiexperte der ehemaligen DDR, in ihremAnsatz zwiespältig. Glasneck stellt in seiner Untersuchung zur “Deutsch-faschistischen Propaganda in der Türkei” dieWissenschaftsemigranten und -exilanten indirekt als Nutzobjekte der NSDAP-AO dar: ” Die Mehrzahl der deutschenHochschulprofessoren sah ihre Aufgabe darin, auf ihrem Fachgebiet ihr bestes für den friedlichen Aufbau dieses Landeszu geben. Doch eine historische Wertung ihrer Tätigkeit kann nicht bei ihren lauteren subjektiven Motiven stehenbleiben.Das deutsche Finanzkapital verfolgte damit seine eigenen Ziele, was schon allein daraus hervorgeht, wie intensiv sichdie Deutsche Bank mit den deutschen Wissenschaftlern in der Türkei beschäftigte. Bankdirektor Pätzold erklärte am27.10.1933 im Berliner “Deutschen Klub” vor Industriellen und Finanzmagnaten :”Da der Aufbau in der Türkei unterEinfluß der Wissenschaft vor sich geht, muß die deutsche Beeinflussung des türkischen Wissenschafts- undUnterrichtswesens möglichst ausgedehnt werden” (Als Quelle gibt Glasneck : Akten der Deutschen Bank,Generalsekretariat Berlin, Akte Dr. Weigelt betr. Türkei, Anm. v. Cem Dalaman). Unter dem infamen Deckmantel der“Werbung für Deutschland” suchte die faschistische Propaganda auch ihre Arbeit auf ihrem Erfolgskonto zuverbuchen.(...) Die Absicht der deutschen Imperialisten war es, über die Beeinflussung des türkischen Bildungswesensletztlich solche führenden Kader herauszubilden, die in ihren späteren Positionen für eine Zusammenarbeit mit demHeimatland ihrer ehemaligen Lehrer und Erzieher eintreten würden” . Vgl.:. Johannes Glasneck, Methoden der deutsch-faschistischen...a.a.O., S. 24 ff

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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geschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des

Balkans ist dann Deutschland”147. Nach Franz Halders (Generalstabschef des

Heeres zwischen 1939 und 1942) Ansicht mußte sich Deutschland deshalb schon ab

dem Sommer 1940 in zwei Fronten betätigen; den Überfall auf Rußland

vorbereiten148 und gleichzeitig Überlegungen anstellen, wie die Wehrmacht die

militärische Entscheidung gegen England so schnell wie möglich erzwingen konnte,

um nicht später einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt zu sein. Daher wurde das

Oberkommondo Wehrmacht (OKW) im September 1940, also nach dem verlorenen

“Seekrieg“ gegen England beauftragt, neue Optionen auszuarbeiten, wo und wie

man diesen Krieg siegreich beenden konnte149. In dem ausgearbeiteten OKW-Plan

wurde empfohlen, die Nervenzentren des Britischen Reiches, also den Suez-Kanal

und Iran mit seinen Ölquellen anzugreifen und auszuschalten. Der Plan sah dazu

zwei alternative Wege vor: der eine führte von Libyen über Ägypten, der andere von

Bulgarien, über die Türkei und Syrien zum Ziel. Obwohl die zweite Variante eine

längere Vorbereitungs- und Durchführungsphase erforderte, tendierten, nach Halder,

Hitler und die Wehrmachtsführung eher dazu, denn “dann könnten die deutschen

Truppen sich mit den italienischen in Nordafrika vereinigen und England völlig aus

dem Mittelmeer verdrängen”150. Am 26.09.1940 schrieb Halder in sein Tagebuch: “Es

besteht Einigkeit darüber, daß in den Endsieg Bulgarien und die Türkei eingebunden

werden müssen. Wenn nötig, muß auch gegen die Türkei Gewalt ausgeübt werden.

Nur so wird sich der Weg über die Meerengen nach Syrien öffnen lassen”151.

Großadmiral Erich Raeder schaltete sich auch als Oberbefehlshaber der Marine in

die Diskussion ein und plädierte für eine sofortige Besetzung der Türkei; er

verknüpfte die Mittelmeerproblematik mit dem sogenannten anstehenden Ostfeldzug

und betonte, daß die Wehrmacht dann Rußland auch von der türkisch-russischen

Grenze aus angreifen und dadurch an zwei Fronten einkesseln könne152. Anfang

November befahl Hitler 10 Divisionen an die bulgarische Grenze zu stationieren.

Gleichzeitig beauftragte Außenminister Rippentrop den Botschafter in Ankara Franz 146 SD-Bericht vom 24.07.1940, Völkischer Beobachter, 26.07.1940147 Generaloberst Halder, Kriegstagebuch 2 Bde., bearbeitet von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1963,2 Bde., Bd. II.,S. 21148 “Weisung 21” vom 18.12.1940: Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung desKrieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen (Fall Barbarossa), in: Halder,Ebenda., S. 49 f.149 Von Papen, a.a.O., S. 532150 Halder, a.a.O., S.198; Von Papen, a.a.O., S. 532.151 Halder, Ebenda. S. 151

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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von Papen, zu sondieren, ob die Türkei Deutschland Durchmarschmöglichkeit

gewähren würde153. Berlin erwartete anscheinend, daß die Türkei aus Angst oder

Respekt vor der deutschen Übermacht zu einem solchen Vorschlag positiv reagieren,

sich aus ihren weiteren Verpflichtungen lösen und sich dadurch den Achsenmächten

anschließen würde. Anfang November folgte eine Studie des Oberkommandos der

Marine: sie betonte die strategische und wirtschaftliche Bedeutung des nordöstlichen

Mittelmeerraumes und schlug, für den Fall, daß die Türkei den Durchmarsch nicht

einwilligte, einen Angriff für Dezember 1940 oder Januar 1941 vor154. Doch der

Besuch des russischen Außenministers Molotov am 12. und 13.11.1940 in Berlin

veränderte die Lage ganz überraschend und gründlich. Die Gespräche zwischen

Hitler und Molotov endeten wie bekannt in großen Meinungsverschiedenheiten.

Rußland interpretierte die deutschen Garantien für Rumänien und Bulgarien als

Verletzung des Deutsch-Russischen Freundschaftsvertrags und bestand auf seinem

traditionellen Anspruch auf Einfluß in diesem Gebiet, was auch, und vielleicht vor

allem, die taktisch sehr wichtigen türkischen Meerengen anging155.

Die Haltung Moskaus führte zu einer Änderung der deutschen Politik gegenüber der

Türkei. Hitler und seine militärische Führung glaubten nun, daß Deutschland die

Meerengen erst dann besetzen konnte, wenn Rußland in einem Blitzkrieg

geschlagen war. Halder notierte am 24.11.1940 in seinem Tagebuch: “Wenn wir die

Türkei überfallen wollen, müssen wir vorerst Option Rußland verschieben”156. Für die

Führungsriege in Berlin stand fest, daß die schon geplante Aktion gegen die Türkei,

gleich ob als eine diplomatische Initiative oder als Krieg, nun nur unnotwendige Zeit

beanspruchte, Zeit, die man für das „Unternehmen Barbarossa“ brauchte. Aus

diesem Grund erteilte Hitler den Befehl, im Mittelmeerraum sich auf einen Angriff von

Libyen aus auf Ägypten zu konzentrieren und dafür Vorbereitungen zu treffen157. So

ging die Gefahr eines Krieges vorerst an der Türkei vorbei158.

152 Kurt Assmann, Deutsche Seestrategie in zwei Weltkriegen, Heidelberg 1957, S. 231.153 Von Papen, Ebenda. S. 532.154 Zeki Kuneralp, Ikinci Dünya Harbi (Der Zweite Weltkrieg), Istanbul 1982, S. 41.155 Zeki Kuneralp, Ebenda.156 Halder, a.a.O., S. 191.157 Die Pläne des Oberkommandos der Wehrmacht im Zusammenhang mit der Türkei waren nur aufgeschoben, nichtaufgehoben. Hitler verdeutlichte dies in einer Unterredung am 03.12. 1940 mit dem bulgarischen Außenminister : ”Ichmöchte mal sehen, wie die Türken ein paar deutsche Panzerdivisionen angehen würden. Sie wissen genau, daß nureine böse Miene von mir genügt, und Konstantinopel sei gewesen”. Vgl. dazu : Ernst von Weizsäcker , München 1950,S. 152 .158 Erst mit dem Erscheinen der „Halder´schen Kriegstagebücher“ in 1963 kam die Wahrheit über die Ernsthaftigkeitder deutschen Angriffspläne an der Türkei erstmalig heraus.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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3.5.1 Nachtrag

Der am 18.06.1941 von den beiden Außenministern, Franz von Papen und Şükrü

Saraçoğlu, unterzeichnete Deutsch-Türkische Freundschaftsvertrag besagte, daß

beide Seiten sich gegenseitig die Integrität und Unverletzlichkeit ihres Staatsgebietes

garantierten, daß sie keine Maßnahmen ergreifen wollten, die sich direkt oder indirekt

gegen den Anderen richteten und daß sie sich bei allen gemeinsamen Interessen

berührenden Fragen konsultieren wollten. Ein sogenannter Notenwechsel am

gleichen Tag kündigte Verhandlungen zum Abschluß eines neuen

Wirtschaftsvertrages an und gab dem Wunsch Ausdruck, daß sich die Presse und

der Rundfunk beider Länder, vom “Geiste der Freundschaft und des gegenseitigen

Vertrauens” leiten lassen würden159. Obwohl sich die militärische Lage immer mehr

und schneller zuungunsten Deutschlands entwickelte, versuchte die Türkei so lange

wie möglich die Beziehungen mit dem Dritten Reich aufrecht zu erhalten. Mit

fortschreitendem Kriegsverlauf geriet aber die Türkei in eine immer größere

Isolierung gegenüber den Alliierten. England und Rußland warfen dem Land

zunehmend vor, durch ihre Neutralitätspolitik in erster Linie Deutschland zu

begünstigen, das, so der Hauptvorwurf, seit Jahren die Türkei als Propaganda- und

Spionagezentrale benutzte160. Dem Land blieb nichts anderes übrig als im April 1944

den Forderungen der Alliierten nachzugeben und die Chromlieferungen an

Deutschland einzustellen. Die Türkei unterschrieb aber gleichzeitig ein Abkommen

mit Ungarn zur Chromlieferung, was letztlich nichts anderes bedeutete als die

Fortführung des Chromverkaufs nach Deutschland über den Umweg Ungarn161. Auf

eine harte Reaktion der Alliierten stieß auch die Tatsache, daß die türkische

Regierung bis Juni 1944 als Handelsschiffe getarnten deutschen Schiffen mit

Kriegsmaterial die Durchfahrt durch die Meerengen erlaubte. Zehra Önder schreibt in

diesem Zusammenhang, daß dadurch die Beziehungen der Türkei zu den Alliierten

“schwer belastet” wurden und der englische Botschafter Knatchbull-Hugessen 159 Cumhuriyet, 28.07.1941.160 Der Abwehrchef des Deutschen Geheimen Militärischen Nachrichtendienstes in der Türkei, Paul Leverkuehn,beschreibt die Spionageaktivitäten in der Türkei ausführlich in: Paul Leverkuehn, “Der geheime Nachrichtendienst derdeutschen Wehrmacht im Kriege”, Frankfurt 1957. Leverkuehn war nach dem Krieg Gründer der Hamburger CDU undbis 1960 Bundestagsabgeordneter der CDU. Mehr über die Spionageaktivitäten- und affären und u.a. über diegeheimnisumwitterten Spione in der Türkei, wie Cicoro und Hakawaki, in: Herbert Rittlinger, a.a.O., bes. ab S. 224.Rittlinger war innerhalb des Geheimdienstes Chef des “Meldekopfes Ilo”, d.h. verantwortlich für Sofia und Istanbul.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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gegenüber seinem türkischen Kollegen zum Ausdruck brachte, daß “ eine totale

Isolierung der Türkei nach dem Krieg unvermeidlich ist, falls sie jetzt nicht die

Beziehungen zu Deutschland abbricht”162. Erst unter diesem Druck erklärte sich die

Türkei bereit, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland

abzubrechen (am 02.08.1944); das bedeutete aber nicht, daß die Türkei Deutschland

auch den Krieg erklärte, wie vor allem die USA aber auch England es erwartet

hatten. Es gab sogar in dieser Endphase des Krieges Bestrebungen, Deutschland

indirekt zu unterstützen, zumindest ihm keineswegs Schaden zuzufügen. So wurden

zwar Deutsche in der Türkei interniert oder einige deutschfreundliche Turanisten

verhaftet, die Presse nahm außerdem eine alliertenfreundliche Haltung an, aber

zugleich erlaubte das Land englischen Schiffen mit Kriegsmaterial die Durchfahrt

durch die Meerengen oder die Landung von alliierten Flugzeugen nicht. Erst

nachdem auf der Konferenz von Jalta163 beschlossen wurde, daß nur die Staaten zur

UNO zugelassen werden, die Deutschland und Japan den Krieg erklärt haben,

erklärte die Türkei beiden Ländern am 25.02.1945 formell den Krieg.

3.6 Der Grau-braune Wolf

Damals unbekannt und noch heute in der Türkei tabuisiert sind die streng geheimen

Kontakte, die Inönü zum Dritten Reich unterhielt. Erst aus ihnen geht hervor, bis zu

welchem Maß eigentlich die türkische Regierung ihre Außenpolitik mit dem Schicksal

der Achsenmächte zu verknüpfen bereit war. Kurz nach der Amtsübernahme von

Ismet Inönü änderte sich auch die offizielle Haltung zum Turanismus. Ich möchte

sogar behaupten, daß die sogenannte turanistische Idee von Inönü künstlich

wiederbelebt wurde. Sie sollte auch in den folgenden Jahren in den Beziehungen

zwischen Deutschland und der Türkei teilweise entscheidende, zumindest eine

wichtige Rolle spielen.

Die turanistische Bewegung war in den 90er Jahren des 19. Jh. im Osmanischen

Reich als bürgerliche und national-türkische Bewegung entstanden. Der Dichter und

Soziologe Ziya Gökalp wurde der theoretische Vertreter dieser Bewegung, die er

161 Lothar Krecker, a.a.O., S. 249.162 Zehra Önder, a.a.O., S. 231 - 233.163 Die Konferenz fand auf der Mittelmeerinsel zwischen 04.02 und 11.02.1945 statt

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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zuerst “Türkismus” nannte. Die Wiedererweckung der türkischen Sprache164,

Literatur, Kunst, Geschichte, Entwicklung des Nationalbewußtseins und bürgerliche

Reformen waren Gökalps Hauptanliegen. Analog dem Panslawismus trat er für die

Vereinigung aller turksprachigen Völker auf der Basis der Sprache der Türken ein

und propagierte die rassische, historische und moralische Einheit und Überlegenheit

aller Turkvölker. Auf dieser Grundlage sollte später auch ihre politische Einigung

vollzogen werden, wobei die Türkei nach der Vorstellung von Gökalp die Rolle

Preußens zu spielen hatten. Der Pan-Türkismus wurde, nach einem imaginären

mittelasiatischen Stammsitz des Turkvolkes Turan, auch “Turanismus”165 genannt

und lieferte im Ersten Weltkrieg der türkischen Regierung, von der sich mehrere

Mitglieder als Turanisten verstanden, die ideologische Grundlage für die Vertreibung

der armenischen Minderheit in 1915. Gleichzeitig trugen pantürkisch eingestellte

Offiziere und Funktionäre wesentlich zum Sieg der türkischen Armeen beim

sogenannten Unabhängigkeitskrieg bei, da sie vor allem turkmenische Einheiten für

den Wehrdienst mobilisieren konnten. Auch wenn sie nach der Republiksgründung

am Anfang die Regierung entscheidend mitgestalteten und auch die sogenannte

kemalistische Staatsdoktrin weitgehend beeinflußt haben (Walter Markow schreibt in

diesem Zusammenhang, daß der türkische Nationalismus der 20er Jahre die

kemalistisch gemilderte Version des Turanismus war166), wurde der Turanismus im

Laufe der Zwanziger Jahre, vor allem wegen der friedlichen Koexistenzpolitik mit der

Sowjetunion immer mehr unterdrückt. Doch im Dezember 1938, also knapp ein

Monat nach dem Tod von Mustafa Kemal, wurde als eine der ersten offiziellen

Amtshandlungen der neuen Regierung das Einreiseverbot für den Führer der

Turanisten Zeki Velidi Togan aufgehoben. Er war während des Ersten Weltkrieges

Kommandant der turkmenischen Einheiten gewesen und hatte später, zwischen

1927 und 1932, an der Istanbuler Universität Darülfünun Geschichte gelehrt. Er

versuchte, nicht nur in seinen Vorlesungen, die turanistischen Ideale zu verbreiten

und wurde wegen seiner extremen Haltung aus dem Land verwiesen167. 1938 konnte

er dann aus Deutschland zurückkehren und “wurde wie ein Held empfangen”168. Im

164 Im Osmanischen Staat wurde osmanisch, eine Mischung aus arabisch, persisch und türkisch als Staatssprachedefiniert und gesprochen; die Ursprache der Türken, Türkisch wurde über die Jahrhunderte vom Hof verpönt und nurvon einfachen Leuten und Bauern lebendig gehalten.165 Näheres zu Turanismus u.a. in: Tekin Alp, Türkismus und Pantürkismus, Weimar 1915, Charles Hostler, Trends inPan-Turkism, London 1952, Lothar Krecker, a.a.O.166 Walter Markow / Ernst Werner, a.a.O., S. 262.167 Charles Hostler, a.a.O., S. 7.168 Cumhuriyet, 22.12.1938.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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Mai 1939 wurde die Herausgabe der Zeitschrift “Bozkurt” (Grauer Wolf) wieder

erlaubt169. In dieser Zeitschrift und anderen Printmedien konnten die Turanisten nun

offen dafür eintreten, Deutschland aktiv und konsequent zu unterstützen und

gegebenenfalls an seiner Seite gegen Rußland in den Krieg einzutreten. Weiterhin

forderten sie die Vereinigung aller Turkvölker in einer sich an die Türkei anlehnenden

Föderation. Diese Föderation sollte nach der Vorstellung der Turanisten neben der

Türkei, Teile von Iran, Asarbeidschan, Usbekistan, Tataristan und Turkmenistan

umfassen. Vor allem der schnelle Durchmarsch der deutschen Truppen in

Westeuropa und, viel wichtiger, später in Rußland, beflügelte die Turanisten so sehr,

daß ein Teil der bis dahin moderat auftretenden politischen Persönlichkeiten aus der

kemalistischen Bewegung sich auch im turanistischen Sinn äußerten. So weist der

deutsche Botschafter von Papen in einem Bericht an das Außenministerium am

25.07.1941 auf die “mit den deutschen Erfolgen gegen Rußland automatisch

wachsende panturanistische Bewegung in der Türkei” hin170. Er schlug dem

Außenministerium vor, “eine Kampagne zu starten, welche die Gemeinsamkeiten der

Interessen bei der Neuordnung des Russischen Reiches herausstellt, eine

Kampagne, in der betont wird, daß man nicht ernten kann, ohne selbst ein Opfer zu

bringen”171. Er teilte weiterhin mit, daß einer der führenden Köpfe der Turanisten,

Nuri Kıllıgil, nach Berlin kommen und dort mit den zuständigen Stellen

Unterredungen halten wollte. Es gibt zwar keinen stichhaltigen Nachweis für eine

offizielle deutsche Unterstützung der Turanisten, aber eine Menge von Indizien

schließen sie zumindest nicht aus. Es ist davon auszugehen, daß eine

Machtübernahme der Turanisten oder zumindest ihre verstärkte Position innerhalb

der türkischen Politik, den deutschen Interessen bezüglich einer engeren Bindung

der Türkei an das Dritte Reich zugute gekommen wäre, genauso wie den

faschistenfreundlichen Regierungen in Bulgarien, Griechenland oder Ungarn. So

hatte sich am 28.07.1941 im Außenministerium ein “Rußlandkomitee für Fragen der

södostrussischen Völker” gebildet, das vom Unterstaatssekretär Woermann geleitet

wurde172. Das Komitee sollte für die zukünftige Verwaltung dieser Gebiete Konzepte

entwickeln und sich deshalb in erster Linie mit turanistischen Gruppen und Personen

in Verbindung setzen. Am 05.08.1941 meldete von Papen: “In Istanbul (hat sich) ein

169 Auch hier war 1932 ein Verbot vorausgegangen.170 Klecker, a.a.O., S. 210.171 Ebenda.172 Johannes Glasneck, a.a.O., S. 103.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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Ausschuß gebildet, der sich die Aufgabe gesetzt hat, für den Anschluß

Asarbeidschans mit ihrem Ölvorkommen von Baku an die Türkei zu agieren”173. Als

Mitglieder dieser Gruppe nennt er neben einigen Abgeordneten des Parlaments auch

den Außenminister Şükrü Saraçoğlu. Am gleichen Tag, an dem Papen seinen Bericht

zusammenfaßte, erschien der türkische Botschafter Hüsrev Gerede in der

Reichshauptstadt beim Staatssekretär im Außenamt Ernst Freiherr von Weizsäcker

und sprach “ziemlich unverblümt davon, daß sich die Kaukasusvölker zu einem

Pufferstaat zusammenfassen ließen und deutete an, daß auch im Osten des

Kaspischen Meeres ein selbstständiger turanischer Staat entstehen könne”174. Als

von Papen am 28.08.1941 von Inönü eine offizielle Stellungnahme zu solchen

Überlegungen holen wollte, zog es Inönü vor, nicht direkt zu antworten und sagte,

daß “man erst darüber sprechen sollte, wenn der Rußlandfeldzug zu erkennbaren

Abschluß geführt sei”175, also damit alle Möglichkeiten offen ließ. Vor allem

Außenminister Rippentrop scheint in dieser Angelegenheit die Chance erkannt zu

haben, die Türkei dazu zu bewegen, offiziell an der Seite Deutschlands in den Krieg

einzutreten: ”Was das sogenannte Augenblicksinteresse betrifft, so ist es

offensichtlich, daß die Türkei die pantürkischen Ideen nur im Bundesverhältnis mit

Deutschland verwirklichen kann, so daß eine pantürkisch orientierte Türkei

zwangsläufig eine pro-deutsch orientierte Türkei sein müßte”176. Rippentrop plädierte

dafür, im Falle des Kriegseintritts der Türkei sie bei der neuen Raumordnung und -

verteilung im Südostrußland zu belohnen. Nuri Kıllıgil, türkischer Faschist und von

Papens Kontaktmann zu den Turanisten, wurde im September 1941 nach Berlin

eingeladen und traf sich viermal mit Staatssekretär von Weizsäcker. Kıllıgil erzählte

gegenüber Weizsäcker, daß der türkische Ministerpräsident Refik Saydam über

seinen Besuch unterrichtet und mit seinem Anliegen völlig einverstanden sei177. In

diesem Sinne, also mit größter Wahrscheinlichkeit mit Wissen oder sogar auf

Initiative der türkischen Regierung schlug er Weizsäcker vor, eine islamische Legion

zur Unterstützung der Deutschen Ostfront aufzustellen! Nach seinen Vorstellungen

sollten nach dem Krieg pantürkische Staaten entstehen, die nicht von der Türkei

annektiert werden, aber ihre politische Ausrichtung von der Türkei erhalten sollten. Er

173 Ebenda. S. 109.174 Krecker , a.a.O., S. 211.175 Gespräch mit Prof. Naumann...176 Naumann sprach auch von der Existenz dieser Pläne; Glasneck geht auch auf das Thema ein; Vgl.: Glasneck,a.a.O., S. 107.177 Ebenda.

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erklärte, daß auch die Führung der türkischen Armee für diese Ziele eintrat. Kıllıgil

schlug nebenbei vor, selbst als inoffizieller Berater Deutschlands für den Kaukasus

zur Verfügung zu stehen. Rippentrop ordnete als Ergebnis dieser Gespräche an, Nuri

Kıllıgil fest an das Außenministerium zu binden, fragte jedoch davor von Papen, ob

die türkische Regierung Kıllıgil´s Tätigkeit für Deutschland billigen würde. Von Papen

bejahte dies178. In dieser Phase schaltete sich der als äußerst deutschfreundlich

bekannte Generalstabschef der türkischen Armee Fevzi Çakmak ein und teilte von

Papen mit, daß die Türkei eine Reihe von türkischen und kaukasischen Offizieren für

Deutschland zur Verfügung stellen könnte, “wenn die Operationen weiter

fortgeschritten sind”179. Er übergab von Papen auch Informationen über neue

sowjetische Flugzeugfabriken und neu ausgebaute Erdölanlagen. Şükrü Saraçoğlu,

in seiner neuen Position als Ministerpräsident, empfing von Papen am 26.08.1942

und forderte ihm gegenüber Mitspracherecht bei der zukünftigen Verwaltung der

turksprachigen Gebiete der Sowjetunion. Nach seinen Vorstellungen sollte die

dortige Jugend in der Türkei und in Deutschland entkommunisiert werden. Doch das

Außenministerium reagierte trotz des Angebots aus Ankara in dieser Angelegenheit

zurückhaltend und ging nicht darauf ein. Während in der türkischen Hauptstadt die

Planspiele weitergeführt wurden, änderte Berlin seine Politik und distanzierte sich

von den turanistischen Bestrebungen in der Türkei. Die deutschen Truppen waren

ohne besonderen Widerstand und großen Verlusten sehr weit in den Kaukasus

vorgedrungen, brauchten also keine Hilfe. Andererseits hatte das

Wirtschaftsministerium einen Bericht zu den Untersuchungen über die großen Erdöl-

und Erdgasvorkommen im Kaukasien erstellt, in denen die wirtschaftlich-strategische

Bedeutung dieser Region für Deutschland beschrieben wurde180. In Berlin beschloß

man auf die türkischen Angebote nicht mehr einzugehen und einen eigenen Plan für

eine deutsche Zivilverwaltung im Kaukasus auszuarbeiten; in diesem

Zusammenhang bin ich auch auf die interessante Information gestoßen, daß Hitler

vorhatte, dieses Gebiet nach dem Endsieg mit Südtirolern zu besiedeln181. Bei einer

Sitzung im sogenannten Ostministerium am 9.5.1942 betonte der zu dieser Zeit noch

siegessichere Adolf Hitler: “Wir müssen den Kaukasus, wenn wir sein Öl erhalten

wollen, in strengste Aufsicht nehmen. Es ist deshalb ganz falsch, wenn das AA als

178 Ebenda.179 Ebenda.180 Gespräch mit Prof. Naumann...181 Henry Picker, Hitlers Tischgespräche 1941-1942, Bonn 1951, S. 314 ff.

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Deutschland und die TürkeiVon Interessen, Komplexen und Divergenzen

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offizielle Stelle heute bezüglich dieses Raumes irgendwelche Versprechungen

macht, die sich nicht einlösen lassen. Auch von Papen soll mit eventuellen

Sicherungen an die Türkei vorsichtig sein, solange sich die Türkei zu einer Änderung

ihrer gesamtpolitischen Haltung in unserem Sinne nicht bereit findet”182. Spätestens

mit der Weisung vom 17.09.1942 von Rippentrop an von Papen war dieses Thema

für Deutschland endgültig erledigt; darin ließ Rippentrop über von Papen an die

Türkei mitteilen, “daß angesichts der Fortsetzung der türkischen Neutralitätspolitik

deutscherseits, kein Interesse besteht, mit Ankara Verhandlungen über das

Schicksal der türkisch-mohammedanischen Völker Rußlands zuführen”183. Die

baldige Wende im Krieg gegen Rußland erübrigte für Deutschland sowieso die

weitere Beschäftigung mit diesem Thema. So ist es nicht ganz überraschend, daß

der Aktenordner “Turanismus” des Auswärtigen Amtes nach Oktober 1942 nicht

weitergeführt wurde184. Doch die türkischen Turanisten bekamen die politisch-

militärische Wende in der deutschen Außenpolitik nicht mit oder wollten sie vielleicht

so nicht wahrhaben. Auf jeden Fall versuchten sie bis Mai 1944 immer wieder mit

den deutschen Stellen, sowohl in Ankara als auch in Berlin, in Kontakt zu bleiben und

arbeiteten ihnen geheimdienstlich zu. Genauso war der Turanismus als Ideologie in

diesem Zeitraum in der Türkei weiterhin sehr stark präsent. Erst nach dem

Zusammenbruch der deutschen Ostfront gab es Bestrebungen der Regierung, sich

von den turanistischen Bewegungen in- und offizieller Art zu distanzieren. So

verurteilte am 19.051944 der Staatspräsident Inönü die turanistische Ideologie

öffentlich: ”Die Turanisten sind gewissenlose Unruhestifter und Verführer der Jugend.

Solche Gedanken, die uns Unglück bringen können, werden wir mit aller Macht

abwehren”185. Nachdem bald nach dieser Rede einige Führer der Bewegung

verhaftet wurden, kam es im September 1944 zu einem Massenprozeß gegen

insgesamt 23 Turanisten. Die meisten Angeklagten wurden wegen Verbreitung

rassistischer Gedanken zu Zwangsarbeit bis zu 10 Jahren verurteilt. Doch im

Oktober 1945, “als keine Sündenböcke mehr nötig waren”186, hob der

Militärgerichtshof das Urteil rückwirkend auf, weil “die Angeklagten sich in ihrer

Überzeugung eigentlich für eine nationale Angelegenheit engagiert haben”187.

182 Ebenda., S. 80f183 (Ehem.) Deutsches Zentral Archiv, AA an Botschaft in Ankara, RMWEV, Depesche 17.09.1942.184 Johannes Glasneck, a.a.O., S. 111.185 Gothard Jäschke, Der Turanismus und die kemalistische Türkei, Leipzig 1944, S. 26.186 Lothar Krecker, a.a.O., S. 222.187 Cumhuriyet, 26.10.1945.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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4 Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

4.1 Einführung

Mustafa Kemal wollte rigoros die alten, vorherrschenden Denk- und

Glaubensvorstellungen in der Türkei auslöschen, sie sollten den Wissenschaften

nach westlichen Kriterien weichen, mit denen er meinte, den technischen und

zivilisatorischen Fortschritt messen zu können188. Sein Wille zur Modernisierung

schloß von Anfang an das türkische Hochschulwesen ein. Bereits ein halbes Jahr

nach der Proklamierung der türkischen Republik, hatte die Regierung ein Gesetz zur

Vereinheitlichung des Erziehungswesens erlassen189. Dadurch erhielt das

Unterrichtsministerium die alleinige Kompetenz in sämtlichen Erziehungs- und

Unterrichtsangelegenheiten. Die Schüler sollten die neuen Werte und anstehenden

Reformen von Anfang an lernen, um sie später selbst in die Tat umsetzen zu können:

“Die neuen Lehrer sollten kaderartig vorgehen und die kemalistischen Ziele in den

Klassenräumen verbreiten. Die Schulen waren das wichtigste

Propagandainstrumentarium von Kemal”190. Zu dieser Zeit gab es in der Türkei eine

einzige Universität, die ’Darülfünun’, das Haus der Wissenschaften in Istanbul. In der

neuen Verfassung von 1924 wurde die rechtliche Stellung der Universität vorerst

geklärt. Ihr wurde die rechtliche und geistige Autonomie zuerkannt, die akademische

Autonomie war unantastbar und war zugleich eine juristische Person. Nach der

Vorstellung von Mustafa Kemal sollte die Universität sich den Reformen anschließen,

sogar als ein Zentrum die Öffnung nach Westen unterstützen. Zur Mitte der

Zwanziger Jahre hatte die ’Darülfünun’ ca. 90 Professoren und 44 Dozenten. Die

Anzahl der Studenten wurde mit über 2500 beziffert. In weiteren Fakultäten waren

188 Mustafa Kemal´s Konzeption der Moderne setzte bei der Französischen Revolution an. Sein Weltbild warausschließlich positivistisch. Das Licht der Aufklärung wurde in seiner Konzeption wahrgenommen, aber nicht dasDunkle der europäischen Vergangenheit und auch der den europäischen Geist mitbestimmende Katholizismus. Ichdenke, daß Mustafa Kemal die Moderne deshalb völlig mißverstanden und fehlgedeutet hat.189 Am 30. März 1924.190 In: Mete Tunçay, a.a.O., S. 238. Professor Mete Tunçay ist während der 70er Jahre mehrmals wegen seinermarxistisch begründeten Kritik an den kemalistischen Strukturen in der Türkei verhaftet und mit Gefängnis bestraftworden.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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annähernd 1500 Studenten eingeschrieben191. In der Folgezeit zeichnete sich jedoch

ab, daß ein Großteil der Istanbuler Professoren sich nicht so leicht und schnell

politisch und ideologisch von den Kemalisten vereinnahmen und die Universität im

Sinne einer ideologischen Kaderschule funktionalisieren ließen. Als Reaktion

beauftragte Mustafa Kemal schon 1925 das Unterrichtsministerium mit der Gründung

einer neuen Universität nach seinen Vorstellungen, im neuen Machtzentrum der

Türkei, in der Hauptstadt Ankara: ”Wir werden keine Opfer scheuen, um hier die

beste Universität des Landes zu gründen. Wir werden dazu Professoren aus

Deutschland, England und Amerika, die sich auf dem Gebiet der Wissenschaft einen

Namen machten, in das Zentrum der türkischen Republik einladen. Der eigentliche

Blickpunkt ist von nun an Ankara”192. Der Erfolg der Modernisierung in der Türkei

hing für Mustafa Kemal vom richtigen Personal ab. Die neue Führungselite, auch an

den Hochschulen, sollte konsequent westlich orientiert sein und das osmanische

Erbe völlig negieren. Die neue Universität sollte zwar nicht sofort als Ganzes

dastehen, sondern sich rasch entwickeln und verändern. Trotzdem empfanden die

Akademiker in Istanbul diese Absicht von Mustafa Kemal als eine völlige Brüskierung

ihrer Arbeit und der Istanbuler Universität, die sich ja auf die islamische Medresen193

bezog und dadurch immerhin auf eine Tradition von beinahe 900 Jahren

zurückblicken konnte194. Noch dazu hatte die Universität kurz vor dem

Zusammenbruch des Osmanischen Reiches einen für sie bedeutsamen

Reformversuch unternommen.

191 Quelle: Milli Eğitim Hareketleri 1927-1966 (Nationale Bildungsmobilisierung 1927-1966), Devlet Istatistik Dairesi,Ankara 1968.192 Utkan Koçatürk (Hrsg.). Die Aufzeichnungen Atatürks über die Reformen im universitären Bereich, Schriftenreihedes Atatürk-Forschungsinstituts, Bd.1. Nr..1, Ankara 1984, S. 9.193 Die Medresen sind als Bildungseinrichtungen islamischer Prägung zu bezeichnen. Nachdem sie in frühislamischenGegenden wie Arabien gegründet wurden, haben zuerst die Rum-Selcuken, dann auch die Osmanen diese Traditionfortgesetzt. Das geistliche Leben der Osmanen wurde von der islamischen Theologie beherrscht, die an denTheologieschulen, Medresen, gelehrt wurde. Die Medresen waren meistens an eine große Moschee angeschlossen,die Studenten und Professoren wohnten in einer internatsähnlichen Art zusammen. Die Studenten lernten zuerstarabisch, um dann später den Koran zu interpretieren, weitere Fächer waren Mathematik, Historiographie undGeographie. Es gab auch Medresen für Medizin, Astronomie und Mathematik, die meisten aber lehrten Theologie, diezugleich Recht und Philologie beinhaltete, da es das vorrangige Ziel des Unterrichts war, Richter heranzubilden. DieAbsolventen hatten als islamische Gelehrte auch die Rechtsprechung in der Hand. Bis zum Ende des 18. Jahrhundertsblieb Medresen die einzige Hochschulform im Osmanischen Reich. Während der Reformepochen von Tanzimat (ab1839) und des Meşrutiyet (ab 1876) wurden auch sogenannte weltliche Fakultäten gegründet. (Vgl. zu Medresen auch :Ernst Werner / Walter Markow, a.a.O., S. 106f. , Werner Björkmann, Hochschulreformen im Neuen Orient, in:Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Nr. 3, Berlin 1931, auf türkisch: Ismail Hakkı Uzunçarşılı:Osmanlı Devleti Ilmiye Teşkilatı (Osmanische Institutionen für Staatswissenschaft), Ankara 1965, Cemil Baltacı: OsmanlıMedreseleri (Osmanische Medresen), Istanbul 1976)194 Die erste Medresen, theologische Hochschule, auf anatolischem Boden wurde von den türkischstämmigen Rum-Selcuken um das Jahr 1000 eröffnet.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Der türkische Erziehungsminister Emrullah Efendi, der zwischen 1910 und 1914

amtierte, war vom deutschen Bildungswesen sehr angetan und wollte es in ähnlicher

Weise auch im Osmanischen Reich aufbauen. Durch seine Anregung wurde der

Geheimrat Franz Schmidt vom Preußischen Kulturministerium als Beirat in das

Osmanische Unterrichtsministerium nach Istanbul berufen und damit beauftragt,

Verbesserungsvorschläge für das türkische Bildungssystem im Allgemeinen und für

die Universität im Besonderen zu unterbreiten195. In seinen Berichten bemängelte

Schmidt vor allem die Unselbständigkeit der Studenten und kritisierte den

Unterrichtscharakter der Vorlesungen. Der zwischenzeitlich neu eingesetzte

Unterrichtsminister Şükrü Bey regte auf der Basis dieser Vorschläge an, deutsche

Professoren an die Universität zu holen, um die Reform des Hochschulsystems im

deutschen Sinne durchzuführen. Die von Schmidt im Juli 1915 während einer

Deutschlandreise ausgesuchten Hochschullehrer, 19 an der Zahl, lehrten ab dem

Wintersemester 1915 an der ’Darülfünun’. Ihnen wurde in den Verträgen zur

Bedingung gestellt, daß sie spätestens nach einem Jahr in Türkisch unterrichten und

wissenschaftliche Fachliteratur publizieren mußten. Bis dahin sollten sie mit Hilfe von

Übersetzern in Deutsch oder Französisch unterrichten. Die Professoren, darunter

drei Rechts- und zwei Volkswissenschaftler, lehrten in der Regel bis 1918, verließen

jedoch mit dem Ende des Ersten Weltkrieges Istanbul, da durch den Abschluß des

Waffenstillstandes “eine weitere Wirksamkeit der nichtdeutschen Beamten,

Schuldirektoren und Lehrer” nicht mehr möglich war196. In der Zeit ihres Aufenthaltes

wurden mehrere Institute mit Bibliotheken versehen, für die Fachbereiche Botanik

und Chemie wurden sogar neue Institute errichtet. Über weitere konkrete Ergebnisse

und Erfolge dieser Zeit lassen sich kaum Schlüsse ziehen, da die Quellenlage in

dieser Hinsicht nicht sehr ergiebig ist. In einer zeitgenössischen Publikation

bezweifelt der berühmte Turkologe jener Jahre, Carl Heinrich Becker, die

Erfolgsaussichten der Reformen unter deutschen Professoren und bemerkt: “ Die

Türken erstreben eine nationale Bildung. Die kann nur von unten wachsen. Eine

195 Franz Schmidt´s Autobiographie “Ein Schulmannsleben in der Zeitenwende”, erschienen in Marburg 1961,beinhaltet ausführliche Informationen über seine Arbeit, die Reformwünsche der türkischen Seite und über diekulturpolitischen Interessen des Deutschen Reiches in der Türkei. Gleichzeitig lassen sich aber bestimmte Parallelen zuder Universitätsreform und der anschließenden Berufung der deutschen Professoren nach 1933 erkennen.196 Vor dem Ende ihrer Arbeit veröffentlichten die 19 Professoren eine sogenannte Denkschrift über ihre Tätigkeit inIstanbul, in der sie sich neben ihren erschwerten Arbeitsbedingungen, vor allem über das Desinteresse der deutschenStellen an ihrer Arbeit beschwerten. Vgl.: Friedrich Dahlhaus, Möglichkeiten und Grenzen auswärtiger Kultur- undPressepolitik - dargestellt am Beispiel der deutsch-türkischen Beziehungen 1914-1928, Frankfurt a.M.. 1990, besondersab S. 197.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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moderne Universität kann trotz aller nationalen Wünsche noch auf Jahrzehnte hinaus

nicht innerlich türkisch sein. Man kann den bizarren Versuch machen, europäischen

Gelehrten das Türkische als Unterrichtssprache aufzuerlegen, aber damit schafft

man doch keine nationale Universität, man befriedigt bestenfalls die nationale

Eitelkeit, also ein Zug der Schwäche, nicht der Stärke”197. Dahlhaus zieht auch eine

negative Bilanz der Reformbemühungen und führt aus, daß “die Reform während der

ganzen Zeit nicht den Charakter eines “Zufallsprojektes” verlieren konnte, was sich

nach außen deutlich in den äußeren Bedingungen (Geldmangel, fehlende

Koordination der deutschen und türkischen Stellen, sowie der deutschen Instanzen

untereinander, Sprachprobleme) widerspiegelte”198.

4.2 Der Prozeß - Reform des Bildungswesens

Nach der Gründung der Republik hatte die Führung anfänglich kein klares

Bildungskonzept. Das Land stand nach dem gewonnenen Befreiungskrieg an einem

neuen Ausgangspunkt; weder Mustafa Kemal noch andere führende Politiker dieser

Zeit waren über die Vor- und Nachteile verschiedener Bildungsstrategien einig.

Während Mustafa Kemal osmanische Bildungsinstitutionen ablehnte und die Zukunft

des Landes aufs Engste mit einem neuen nationalistischen Erziehungssystem

verknüpfte, bestanden mehrere seiner Mitstreiter darauf, gerade im Bildungsbereich

alte Institutionen zu übernehmen oder sie langsam zu verändern, anstatt mit

voreiligen Maßnahmen das Volk abzuschrecken199. Mustafa Kemal ging auf diese

Überlegungen ein, deshalb waren seine Äußerungen in dieser Richtung zunächst

eher abwartend und allgemein gehalten und betonten nur, daß “durch die

Wissenschaften und Technik, die türkische Nation, die türkische Kunst, die

Wirtschaft, die Dichtung und Literatur sich glanzvoll entwickeln werden”200. Wie das

sich praktisch bewahrheiten sollte, läßt sich in seinen Gedanken eher erahnen: “Wir

können unser Land nicht umzäunen und ohne Beziehungen zur Außenwelt leben. Im

Gegenteil, besonders als hochentwickelte und emporgestiegene Nation werden wir

unseren Platz in der zivilisierten Welt einnehmen. Dies jedoch kann nur mit 197 Carl Heinrich Becker, Das türkische Bildungssystem, Berlin 1916, S. 26.198 Dahlhaus, a.a.O., S. 200199 Zu der Kontroverse zwischen Mustafa Kemal und anderen Politikern dieser Zeit, Vgl.: Atatürk - Sein Leben und seinWerk (auf Deutsch), Ankara 1981, bes. ab S. 214.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Wissenschaft und Technik möglich werden. Wir werden Wissenschaft und Technik

hernehmen, egal wo diese sich befinden, und den Kopf jeden Mitbürgers damit

füllen”201. Bis zur Gründung der Republik und seiner Wahl zum Staatspräsidenten

mußte Mustafa Kemal auch in dieser Hinsicht eher taktieren, um nicht die

Traditionalisten im Parlament und in seiner Umgebung gegen sich in Front zu

bringen202.

Als jedoch am 29. Oktober 1923 die Republik ausgerufen wurde, änderten sich die

Machtverhältnisse sehr schnell203. Die Vorschläge des neuen Präsidenten waren ab

diesem Zeitpunkt zugleich Erlässe, die nur noch formell vom Parlament abgesegnet

werden mußten. In mehreren aufeinanderfolgenden Schritten wurde vor allem die

religiöse Opposition im Parlament und ihre Basen in der Öffentlichkeit ausgeschaltet;

das Kalifat wurde abgeschafft, die Angehörigen des Hauses Osman wurden aus der

Türkei ausgewiesen, die Ministerien für geistliche Angelegenheiten und religiöse

Stiftungen wurden aufgehoben, Derwisch-Klöster geschlossen. Nach einem

gescheiterten Attentatsversuch, der von einem oppositionellen Parlamentarier

geplant war, ließ Mustafa Kemal in mehreren Schauprozessen ehemalige Mitkämpfer

und Vertraute aufhängen oder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilen. “Gehörte der

Kampf gegen die religiösen Orden schon zur Hälfte zum Reformprogramm Kemals,

so mußte dieser erst alle Opposition eliminieren, um quasi als Diktator seine

Modernisierungspläne durchführen zu können”204. 1927 gab es Neuwahlen, an der

nur Kandidaten von Kemals “Republikanische Volkspartei” (CHP) teilnehmen durften.

Spätestens mit der neuen Nationalversammlung hatte Mustafa Kemal jede Form von

200 Aus einer Rede, die Mustafa Kemal 1922 vor einer Versammlung abgehalten hat, Vgl.: Enver Ziya Karal, a.a.O., S.81.201 Ebenda.202 Im Juni 1923 hatte es immerhin eine Wahl für die Nationalversammlung gegeben, wo neben Kemals “Volkspartei”mehrere politische oder religiöse Gruppen und Einzelpersonen den Einzug ins Parlament schafften.203 Bernd Rill interpretiert die Gründung der Republik als einen “Staatsstreich”. Da diese These sehr gewagt, aber inseiner Logik berechtigt ist, gebe ich den betreffenden Text an dieser Stelle wieder: “Als die Debatten über die Bildungeiner neuen Regierung nicht aufhören wollten, bereitete er (Atatürk) insgeheim mit Ismet (Inönü) und anderen Gefährteneine Verfassungsänderung vor und ließ sich daraufhin vom Parlament bitten, seine Meinung zur gegenwärtigenverfahrenen Situation abzugeben. Rauf Pascha und die anderen Oppositionellen waren gerade von Ankara abwesend,diese Gelegenheit wollte er ausnützen. Er sammelte als neue Ministerriege einige seiner folgsamen Anhänger um sichund trat mit ihr vor die Nationalversammlung, die er mit harten Worten anließ: sie habe sich übernommen in ihrerAufgabe, legislative und exekutive Gewalt in einem auszuüben, und daher rühre auch die gegenwärtige Verwirrung.Deshalb sei eine durchgreifende Verfassungsänderung notwendig. Die Türkei sollte eine Republik werden, geleitet voneinem Präsident, der der alleinige Inhaber der Exekutive sei und sich die Minister, die nur ihm verantwortlich seien, ausdem Parlament selbst auswähle. Das war Staatsstreich! 40 Prozent der Abgeordneten weigerten sich, über ihreEntmachtung abzustimmen, aber das war für Kemals Absichten nur von Vorteil. Am 29. Oktober 1923 stimmte der Restder Parlamentarier mit Mehrheit für die Verfassungsänderung. Kemal war autokratischer Präsident der Republik auflegalem Wege geworden.”, Vgl.: Bernd Rill, a.a.O., S. 86.204 Bernd Rill, a.a.O., S. 92.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Opposition getilgt und war alleiniger Herrscher des Landes205. Jetzt konnte er sich

auf sein Reformprogramm konzentrieren, sowie auf die Umstrukturierung des

Bildungsystems nach seinen Vorstellungen und Wünschen. Nach seiner Meinung

mußte nun “der nationalisierten Generation außer dem Wissen, das sich auf

Verstand und Logik aufbaute, ein Verständnis für Politik und eine Anschauung von

der Moral, die mit der Struktur der türkischen Gesellschaft zusammenhing, vermittelt

werden”206.

Dieses Ziel vor Augen wurden die religiösen Schulen aufgelöst, das ganze

Schulwesen dem Unterrichtsministerium unterstellt. Das arabische Alphabet wurde

abgeschafft, statt dessen das Lateinische eingeführt (das Hauptmotiv für diesen

Schritt war die schwere Erlernbarkeit der arabischen Schrift); unter der Leitung einer

“Vereinigung für die Erforschung der türkischen Sprache” wurde mit Bezug auf

vorimperiale Zeiten der Türken im Mittelasien linguistisch aufgeräumt und die

Sprache “re-türkifiziert”207. In den Unterrichtsprogrammen der neuen Schulen wurden

die Fächer Religion, Arabisch, Persisch und Koran gestrichen. Unterrichtsinhalte,

Schulveranstaltungen und Bücher sollten dazu dienen, “bei der heranwachsenden

Generation Nationalbewußtsein zu erwecken”208. Tunçay betont, daß der Großteil vor

allem der Landbevölkerung sich gegen diese radikalen Reformen im Bildungsbereich

stellte und ihre Kinder nicht in die neuen Schulen schickte209. Anstatt für die

verunsicherten Menschen Aufklärungsarbeit zu leisten, reagierte der Staat mit

drakonischen Strafen; so wurden einfache Schulversäumnisse als anti-reformistische

205 “Die komplette Umkrempelung des Staates war nur durch die Installierung einer de facto-Diktatur durch KemalAtatürk und seiner 1923 gegründeten Republikanischen Volkspartei möglich, die bis 1938, dem Todesjahr desStaatsgründers, mehr oder minder legislative, exekutive, und zum Teil auch judikative Gewalt in einer Hand vereinigte.”,Vgl.: Institut für Entwicklungsforschung und Sozialplanung, Geschichte der Türkei, Bonn 1985 S. 26. Mehr zum Themaab Kapitel 2.2. in dieser Arbeit.206 Atatürk, a.a.O., S. 212.207 Während der osmanischen Zeit war das Persische die Hofsprache, das Arabische die religiöse Sprache gewesen,das einfache Volk sprach mehrheitlich türkisch. Die Sprachvereinigung sollte die türkische Sprache der vorislamischen,mittelasiatischen Zeit wiederbeleben; zu diesem Zweck entwickelten die Sprachwissenschaftler eine konfuse Theorieder türkischen Sprache als sogenannte Sonnensprache, sie war die Basis aller Sprachen! “Die mittelasiatischeZivilisation ist der Ursprung aller Sprachen und Menschen in der Welt”, Vgl.:: Necdet Öklem, Atatürk DünemindeDarülfünun Reformu (Die Reform der Universität in der Atatürk-Ära), Izmir 1973, S. 14.208 Ebenda.209 Durch die plötzliche Umstellung des Alphabets sanken in den nächsten Jahren auch die Verkaufszahlen dertürkischen Zeitungen. So geht Acaroğlu für 1931 von insgesamt 60 000 verkauften Tageszeitungen in der Türkei aus,während die Zahl 1922 allein für Istanbul bei 45 000 angesiedelt ist. Da die türkischen Zeitungen durch die Abnahme derLeserzahlen in eine tiefe wirtschaftliche Krise stürzten, mußte der Staat im Frühling 1930 mehrere Zeitungen mitSubventionen stützen. Der Vorwurf, daß durch die Umstellung der Zeitungen auf die neue Schrift breiterenBevölkerungsschichten im Landesinneren die einzige Informationsquelle über die Ereignisse und Entwicklungen inAnkara abgeschnitten wurde, muß an dieser Stelle zumindest vorgetragen werden Zu den Zahlen Vgl.: Türker Acaroğlu,Açıklamalı Atatürk Kaynakçası (Atatürk-Nachschlagewerk mit Erklärungen), Istanbul (Ohne Datum), S. 22 f

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Haltung verstanden und mit erheblichen Geld- und Gefängnisstrafen belegt. Die

ältere Generation wurde ab 1932 bei Strafe verpflichtet, in Volkshäusern an

Propaganda- und Umerziehungskursen teilzunehmen210.

4.2.1 Die Hinrichtung - Das Ende der Darülfünun

Parallel zu diesen Maßnahmen war für Mustafa Kemal und seinen Vertrauten die

Verwestlichung des Hochschulwesens ein wichtiger Teil des gesamten

Reformkonzeptes im Bildungsbereich. Professor Ernst Hirsch behauptet in seinen

Erinnerungen, daß nach der Republiksgründung kein Thema die türkische

Öffentlichkeit so beschäftigt hat wie der Zustand der Istanbuler Universität211. Diese

Interpretation halte ich für sehr übertrieben, da es gerade in der Anfangsphase der

Republik dominierende Themen wie z.B. die Ausschaltung der Opposition,

Auseinandersetzung mit den religiösen Institutionen oder Durchführung anderer

Reformvorhaben gab. Daß Mustafa Kemal und seine Vertrauten das Thema

Istanbuler Universität, mit dem ehemaligen Namen ’Darülfünun’, sehr lange Zeit in

Ruhe gelassen haben, spricht auch gegen die Behauptung von Hirsch. Widmann ist

der Meinung, daß Mustafa Kemal der Universität mit dieser relativ langen Zeitspanne

eine Möglichkeit angeboten hat, sich selbst zu erneuern212. Wenn jedoch die

Ereignisse in ihrer Verkettung betrachtet werden, entsteht eher der Eindruck, daß die

Umgestaltung der Istanbuler Hochschule das letzte Glied einer organischen Kette

sein sollte - der Schlag gegen die von Mustafa Kemal verstoßene religiös-

intellektuelle Elite von Istanbul. Aus den Reden von Mustafa Kemal geht hervor, daß

er die Istanbuler Bourgeoisie und die Intellektuellen wegen ihrer alliiertenfreundlichen

Haltung für den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches mitverantwortlich

machte und es ihnen nie verziehen hat, daß sie nach dem verlorenen Ersten

Weltkrieg mit den Besatzern kollaborierten. Für Öklem hatte Mustafa Kemal die

Istanbuler Universität “seit den Tagen des Unabhängigkeitskriegs als verlorene und

210 Tunçay argumentiert, daß ein Motiv für die Einführung des lateinischen Alphabets in der Türkei auch in denEntwicklungen der türkischsprachigen Völker in der Sowjetunion zu suchen ist. Im Februar 1926 beschlossen Vertreterder Turkvölker in Baku, nicht mehr auf arabisch zu schreiben, sondern sich das lateinische Alphabet anzueignen. NachTunçay war die Türkei dadurch mit ihren mittel- und langfristigen großtürkischen Hegomonialgedanken und -plänen imtürkischsprachigen Raum zur Veränderung der eigenen Schrift verurteilt, um die kulturelle Identifikation zugewährleisten. Vgl.: Mete Tunçay, a.a.O., S. 230 f.211 Ernst E. Hirsch, a.a.O., S. 242.212 “Erst zehn Jahre nach ihrer Gründung konnte die junge türkische Republik auf dem Hochschulsektor die ihrvorschwebenden, grundlegenden Reformen in Gang setzen”, Vgl.: Horst Widmann, a.a.O., S. 42

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auch identitätslose Institution verachtet”213. Noch dazu kam, daß Mustafa Kemal

selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte, ein Soldat war und sich eher

unter Offizieren und Bürokraten wohl fühlte. Wie viele autokratische Herrscher konnte

er in seiner Umgebung keine Leute dulden, die ihm intellektuell überlegen oder

anderer Meinung waren; die Ausschaltung seiner engsten Mitkämpfer aus dem

Befreiungskrieg steht für sich. Er mied (nach 1919) für acht Jahre die einstige

osmanische Metropole und betrat sie erst vier Jahre nach der Republiksgründung

wieder - Zeit für ihn, in Ankara sein “Gegen-Istanbul” vorzubereiten und aufzubauen;

Rill bemerkt dazu: “Wenn er (Mustafa Kemal) später als Chef der türkischen

Revolution den Regierungssitz in das karge Angora (Ankara) verlegte, fern auf der

anatolischen Hochfläche, dann muß jedoch dabei ein Widerwillen gegen das

prächtige, prunkende Istanbul im Spiel gewesen sein, der auf seine

Jugenderinnerungen zurückzuführen ist, vielleicht ein Widerwillen, der über den

türkischen Nationalisten gegen den kosmopolitischen Charakter

der alten Hauptstadt hinausgeht und auch im Persönlich-Psychologischen hat. Es ist

wohl nicht unähnlich der Abneigung des jungen Adolf Hitler gegen das

kosmopolitische Wien”214. Ohne in die gefährlichen Gefilden des Seelenlebens

überhaupt und von Mustafa Kemal im Besonderen weiter eingehen zu wollen,

erwähne ich an dieser Stelle nur als Zusatzinformation, daß der neunjährige Mustafa

nach einer Schlägerei im Klassenraum, die von ihm provoziert worden war, von

seinem Grundschullehrer, der aus Istanbul stammte, selbst verprügelt wurde und

dann die Schule ohne Abschluß verlassen mußte215. Daß er bei der Eröffnungsrede

der Nationalversammlung im Jahr 1933 das “Haupt und Glied” der Istanbuler

Hochschule forderte, könnte vielleicht in diesem Gesamtbild betrachtet werden216.

Gleichzeitig ist zu betonen, daß die Istanbuler Professorenschaft sich tatsächlich

nicht „vor den kemalistischen Karren spannen“ ließ, die Entwicklungen in Ankara mit

Distanz betrachtete und sich auch wissenschaftlich in den Zwanziger Jahren nicht

besonders hervortat217. Zeitgenössische Quellen bemängeln die mangelnde

213 Öklem, a.a.O., S. 27.214 Rill, a.a.O., S. 23.215 Über die Kindheit und Jugend von Mustafa Kemal mehr in u.a.: Lord Kinross, Atatürk - The Rebirth of a nation,London 1964; Atatürk, a.a.O., Kapitel 1; Ernst Werner/ Walter Markow, a.a.O., S. 237 f.; Rill, a.a.O., bes. ab S. 17.216 Ich weiß wohl, daß dies nur ein Erklärungsversuch über die Vorgehensweise von Mustafa Kemal gegen dieIstanbuler Universität ist; ich halte es jedoch wichtiger, Ereignisse mit gesellschaftlichen Folgen und Konsequenzenzumindest versuchen zu erklären, als sie zu übergehen, wie es in diesem Zusammenhang leider zu beklagen ist.217 Kazancıgil schreibt, daß die “Darülfünun” mit der Gründung der Republik ihr nahendes Ende erkannt und in dieserSituation erstarrt ist. Vgl.: Aykut Kazancıgil, Türk Billig Tarif (Türkische Wissenschaftsgeschichte), Istanbul 1981, S. 21.

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Solidarität und Einheitlichkeit unter den Professoren und die Schwächen der inneren

Organisation218. In einem Zeitungskommentar ist zu lesen:„Die Universität konnte

sich in den letzten Jahren dem Reform - Tempo nicht unterordnen und hat deshalb

ihr eigenes Todesurteil unterschrieben!”219. Es darf aber nicht vergessen werden,

daß die Istanbuler Universität zwar durch das “Gesetz zur Vereinheitlichung des

Unterrichts” vom 03.03.1924 rechtlich autonom war, zugleich jedoch nach diesem

Datum zwischen dem Unterrichtsministerium bzw. der Regierung und der

Universitätsleitung keine Interaktion und Kommunikation mehr stattfand. Dies wurde

von den Professoren und Rektoren kritisiert und die Tatsache zur Rede gebracht,

daß “sie sich wie auf einem Abstellgleis fühlten”220.

Im Zentrum der Überlegungen stand in diesem Zusammenhang, und wegen der

beschriebenen Haltung der Istanbuler Professoren, die Idee eine neue Universität in

der neuen Hauptstadt Ankara aufzubauen221. So wurde 1927 in Ankara zuerst eine

provisorische Juristische Fakultät eröffnet, sie sollte später der Grundstock der

geplanten Universität werden. Im Zuge dieser Planungen wurden einige

ausländische Erziehungswissenschaftler, die sich zu jener Zeit, also in den

Zwanziger Jahren, mit ihren Universitäts- und Bildungskonzepten einen Namen

gemacht hatten, nach Ankara eingeladen222. Parallel dazu berief das türkische

Unterrichtsministerium im Frühjahr 1928 eine deutsche Beratungskommission vom

Preußischen Landwirtschaftsministerium nach Ankara, die den Plan einer

landwirtschaftlichen Fakultät in der Hauptstadt ausarbeiten sollte. Die

vierzehnköpfige Delegation unter der Leitung des Oberregierungsrats Oldenburg

blieb über sechs Monate in Ankara und richtete mehrere Institute und Laboratorien

ein. Nach der Vorstellung der türkischen Seite sollten die deutschen Experten auch

218 Ebenda., S. 37.219 Cumhuriyet, 02.08.33; der Kommentar trug die Unterschrift des Herausgebers Yunus Nadi. Nadi galt als einer derabsolut treuesten Anhänger von Mustafa Kemal. Er gehörte auch zu der offiziellen türkischen Delegation, die anläßlichdes 50.Geburtstages von Adolf Hitler Berlin besuchten und dort auch mit ihm zusammentrafen Vgl.: Cumhuriyet, 16.04.und 21.04.1939.220 Einzelne und detaillierte Äußerungen der Professoren zur Lage der Universität und ihrer Abwicklung in: Öklem,a.a.O., S. 59 ff.221 Wie oben beschrieben, empfand Mustafa Kemal eine unerklärliche und nicht näher untersuchte Antipathiegegenüber Istanbul. Er hatte die Metropole nach 1919 jahrelang nicht mehr betreten, die Kleinstadt Ankara inMittelanatolien zum neuen Machtzentrum erklärt und besuchte erst wieder im Juni 1927 als Staatspräsident die Stadt.Der deutsche Botschafter Nadolny hat über diesen Besuch einen ausführlichen Bericht zusammengefaßt und nachBerlin zum Außenministerium geschickt. Darin beschriebt er, daß der Besuch von Mustafa Kemal in Istanbul als eineVersöhnung zu betrachten ist und die Führung damit signalisiert, daß man Istanbul nicht aufgeben wird. Vgl.: Nadolnyan AA, in : Politisches Archiv des...a.a.O., Abteilung III, Türkei, Po 10 - 1, Bd. 1.222 Unter ihnen war John Dewey (1859-1952), der durch seine Erfahrungstheorie sehr bekannt war; er trat für einStudium ein, indem die Studenten mit ihrer Materie in Berührung kommen sollten. Vgl.: Cahit Kurt, a.a.O., S. 217.

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in der Anfangsphase die Vorlesungen leiten; die Mitglieder der Kommission

zerstritten sich aber untereinander und verließen, bis auf drei, wieder das Land223.

Die ’Landwirtschaftliche Hohe Schule’ nahm ihren Lehrbetrieb im Wintersemester

1930 auf. Sie umfaßte Fakultäten der Naturwissenschaften, Landwissenschaft,

Forstwissenschaft und Veterinärmedizin. Zum Rektor der Hochschule im Aufbau

wurde der Leipziger Geheimrat Professor Friedrich Falke ernannt. Falke sollte die

Hochschule, nach westlichen Kriterien leiten und geeignete Lehrkräfte ins Land

holen224. Schon während der Vorbereitungen zu der Eröffnung dieser Hochschule

wurde mit einem Dekret die landwirtschaftliche Hochschule in Istanbul geschlossen.

Parallel zu den Entwicklungen in Ankara beauftragte das Unterrichtsministerium 1931

den Schweizer Pädagogikprofessor Albert Malche225, die Istanbuler Universität auf

Reformnotwendigkeiten und -möglichkeiten zu überprüfen und gleichzeitig

Reformvorschläge zu unterbreiten. Malche war zu dieser Zeit Pädagogikprofessor an

der Universität Genf und zugleich auch Rektor der ’Pädagogischen Fakultät’. Warum

gerade Malche jedoch diesen Auftrag für die Türkei bekam, läßt sich nicht konkret

beantworten. Er hatte nach meinen Recherche, bis zu diesem Datum sich zumindest

wissenschaftlich nicht im geringsten mit den türkischen Zuständen beschäftigt. Das

türkische Erziehungsministerium hat auf meine Anfrage in diesem Zusammenhang

erklärt, daß die Akten und Dokumente zur Malches Berufung bei einem Feuer, das

1948 das Gebäude des Ministeriums zerstört hat, verbrannt sind226. Nach seiner

Ankunft informierte sich der Dekan aus Genf zuerst in Ankara, was die Machthaber

von ihm konkret erwarteten, bevor er mit der „Aufräumaktion“ in Istanbul anfing: ”Ich

hatte den Eindruck, daß hier weitverbreitet das Gefühl besteht, daß zur

Verbesserung der Universität etwas getan werden muß. Ich glaube, sagen zu

können, daß ich denselben Eindruck gewann bei der Audienz, die Seine Exzellenz

der Ministerpräsident mir am 18.01.1932 in Ankara gewährte, sowie bei den

223 Der damalige deutsche Botschafter Rudolf Nadolny mußte in die Streitigkeiten eingreifen, konnte jedoch diedeutschen Experten und Wissenschaftler nicht zu einem Verbleib in der Türkei bewegen. Vgl.: Politisches Archiv des...a.a.O., ebenda.224 Friedrich Falke blieb zwischen 1932 und 1938 in Ankara und kehrte später nach Leipzig zurück, Vgl. dazu : CemilKoçak, a.a.O., S. 41.225 Malche war zugleich Mitglied des Genfer Städterats.226 Die Dokumente über die offiziellen Gespräche zwischen dem türkischen Unterrichtsminister und Prof. Malche undProf. Schwartz zur Einberufung von deutschen Professoren sind im Archiv des Türkischen. Parlaments aufgehoben. Beider vorhandenen Literatur zum Thema sind jedoch die Berufungsgründe von Malche auch nicht näher untersucht oderdefiniert.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Gesprächen, die ich später mit Seiner Exzellenz dem Unterrichtsminister führte”227.

Nach seinen Gesprächen mit den „Exzellenzen“ in der Hauptstadt besuchte er die

Istanbuler Fakultäten, besichtigte die Labors und andere universitäre Einrichtungen,

führte Fragebogenaktionen und Gespräche mit Professoren und Schülern durch.

Nach Auswertung der Ergebnisse legte er dann am 29.05.1932 seinen

verhängnisvollen Bericht und die Reformvorschläge vor. Der Bericht faßte das Ziel

und die Methode seiner Untersuchungen, die kritische Prüfung der Istanbuler

Universität und die Reformvorschläge zusammen.

Er stellte darin fest, daß die Istanbuler Universität “keinen wissenschaftlichen und

intellektuellen Antrieb hat, der sie bewußt in eine bestimmte Richtung führt”228. In

dem Bericht bemängelte er weiterhin die Unterrichtsmethode (“Die

Unterrichtsmethode beläßt sie (die Studenten) in der Situation mehr oder weniger

passiver Zuhörer”229), die er als hoffnungslos veraltet bezeichnete (“Vorlesungen mit

enzyklopädischen Charakter, wenig Übungen, kaum Seminare”230), das Fehlen

wissenschaftlicher Publikationen und die schlechte Bezahlung der Lehrkörper. Er

wies daraufhin, daß die Fremdsprachenkenntnisse der Schüler unzureichend waren

und die Studenten “nicht genügend zum Nachdenken und zum individuellen

Forschen angeregt werden”. Gleichzeitig stellte der Schweizer Dekan aus Genf

heraus, daß die universitäre Autonomie die Istanbuler Universität von der Regierung

isolierte und betonte, daß in der Zukunft eine enge Zusammenarbeit mit dem

zuständigen Ministerium angebracht sei. Es ist an dieser Stelle anzumerken, welche

Ergebnisse Malches Gespräche mit den Lehrkräften zu Tage brachten. Die Fronten

zu den Professoren in Istanbul waren, gerade durch die Anwesenheit von Malche

zwischenzeitlich so verhärtet, daß die ’Darülfünun’ von der Regierung “als die

konspirative Hochburg der Konservativen und Anti-Reformisten”231 betrachtet wurde.

Malche hingegen bestätigte, ich nehme an für Ankara überraschend, daß weite Teile

der Professorenschaft die wissenschaftlichen Mängel der Universität selbst einsahen

und zur Reformierung an sich bereit waren: “Außerdem haben mir bei meiner Ankunft

der Rektor und später die Dekane und die Professoren, mit denen ich gesprochen

habe, ausnahmslos ihren starken Wunsch versichert, an allen zugunsten der 227 Malches Bericht befindet sich in : Ernst E. Hirsch, Dünya Üniversiteleri ve Türkiye´de Üniversitelerin Gelişmesi (DieUniversitäten der Welt und die Entwicklung der Universitäten in der Türkei), Istanbul 1950, S. 229 f.228 Malche in: Hirsch, a.a.O., S. 243.229 Ebenda.230 Die Darülfünun glich zu dieser Zeit in Fächerkanon und Organisation von Lehre und Forschung einerOrdinarienuniversität nach französischem Muster.

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Universität möglichen Verbesserungen mitzuarbeiten”232. Doch trotz dieser

Bereitschaft und der Zugeständnisse der Professoren fällte Malche das Urteil, das

von ihm erwartet wurde und was er zu fällen hatte: “Die Universität Istanbul ist ein

weitverzweigter Organismus, der nur mit geringem Ertrag arbeitet. Das zu lösende

Problem besteht darin: vielfacher Kräfteverlust muß durch Vereinfachung der

Maschine vermieden werden, nämlich durch Konzentration ihrer Arbeit und durch

Vergabe von Mitteln zur Anwendung geeigneter Methoden an diejenigen, die die

Maschine in Gang halten. Die Lage ist indessen nicht hoffnungslos. Aber sie ist ernst,

das ist alles”233. Ich will Malche nicht unterstellen, daß er einen schlechten oder etwa

unrealistischen Bericht zusammengefaßt hat, auch andere Quellen bestätigen den

wissenschaftlich fragwürdigen Zustand der Istanbuler Universität234. Doch stelle ich

zugleich die Folgen und Aspekte seiner Tätigkeit mit seinem ideologischen

Mißbrauch in Verbindung. Erst sein Rapport ermöglichte den Machthabern und gab

ihnen die Legitimation, die alte Istanbuler Universität auszulöschen, es ging ihnen

dabei nicht um einen wissenschaftlichen Neuanfang, wie Malche eventuell geglaubt

haben mag, sondern um den Bau einer ideologisch angepaßten, politisch korrekten

Hochschule durch die Vernichtung einer anderen.

Bald folgte der letzte Akt für die alte Istanbuler Universität. Mustafa Kemal

verkündete bei der Eröffnungsrede zur sogenannten “Großen Nationalversammlung”

am 23.04.1933, wie es weiterzugehen hatte: “Ich möchte die Bedeutung betonen, die

wir der Einrichtung der Universität beimessen. Es besteht kein Zweifel, daß halbe

Maßnahmen unfruchtbar sind. Wie in allen unseren Vorhaben sind wir auch im

Unterrichtswesen und bei der zu gründenden Universität fest entschlossen, mit

radikalen Maßnahmen vorzugehen”235. Professor Malche, zwischenzeitlich in die

Schweiz zurückgekehrt, wurde wieder nach Ankara gerufen und diesmal mit der

Reorganisation der ’Darülfünun’ beauftragt. Kurz nach seiner Wiederkehr wurde am

31.05.1933 das Gesetz zur Universitätsreform erlassen, wonach die Darülfünun mit

seinen ihm verbundenen Einrichtungen, der Lehrkörper und der Organisation zum

31.07.1933 aufgelöst wurde. Das Unterrichtsministerium wurde beauftragt, am

01.08.1933 in Istanbul eine neue Universität unter dem Namen “Istanbul Üniversitesi”

231 Cumhuriyet, 17.10.1932232 Malche in : Hirsch, a.a.O., S. 229233 Ebenda.234 Öklem, a.a.O., bes. ab S. 20.235

Cumhuriyet, 23.04.1933.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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(Universität Istanbul) zu gründen236. Die Autonomie der Universität wurde mit diesem

gleichen Gesetz auch abgeschafft und die neu zu gründende Universität dem

Unterrichtsministerium unterstellt. Eine fünfköpfige Kommission unter dem Vorsitz

von Malche sollte in der verbleibenden Zeit die notwendigen Maßnahmen

durchgehen und die Eröffnung der neuen Universität vorbereiten. Die Universität

wurde angewiesen, den Lehrbetrieb frühzeitig zum 21.05.1933 einzustellen und ab

dem 01.06.1933 die Prüfungen abzunehmen237. Die Kommission mußte sich vielfältig

beschäftigen: neben eher „ästhetischen“ Diskussionen wie über die Frage, ob es ein

türkisches Wort für “Universität” gibt oder nicht, konzentrierten sich die Mitglieder

zuerst auf die Kündigungsschreiben für den gesamten Lehrkörper der alten

Universität. Am 06. 07. 1933 wurden alle Hochschullehrer aufgefordert, sich in einem

schriftlichen Bericht “zu ihrer Arbeit in dem vergangenen Jahr, über ihre Lehr- und

Unterrichtsmethoden, ihre Ergebnisse und über europäische wissenschaftliche

Bücher, die sie gelesen haben” zu äußern. Über den Inhalt der Berichte und was aus

ihnen geworden ist, läßt sich nichts mehr ermitteln - sie sind nicht auffindbar. Klar ist

jedoch, daß dem Lehrpersonal am 30.07.1933 das Kündigungsschreiben

ausgehändigt worden ist238. Von den insgesamt 240 Hochschullehrern sind 157 mit

sofortiger Wirkung entlassen worden, 83 von ihnen wurden später, vor allem in den

40er Jahren, als Assistenten wieder an die Hochschulen zugelassen. Für den Rest,

darunter 71 Ordinarien und Professoren, endete die akademische Arbeit mit der

Gründung der ’Istanbul Üniversitesi’239.

Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch, daß diese Professoren, aus ihrer

eigenen Sicht berechtigt, nach der Wiederaufnahme des Lehrbetriebes gegen die

deutschsprachigen Professoren Stimmung machten und deren Arbeit torpedieren

236 Veröffentlicht als Regierungsdekret in: Cumhuriyet, 01.06.1933, Vgl. dazu auch: Hikmet Birand, Die Entwicklungdes Hochschulwesens in der Türkei und der deutsche Beitrag dazu, Ankara 1960, S. 25 und Horst Widmann, a.a.O.,S.50.237 Die meisten Mustafa Kemal-Biographien geben wieder, daß der Staatspräsident, mit der Absicht sein Interesse fürdie Studenten zu beweisen, am 02.07.1933 die Istanbuler Universität besuchte, dort Studenten während der Prüfung imFach Staatsrecht überraschte und ihnen mehrere Fragen stellte. Danach ließ er zuerst Malche zu sich kommen undsagte ihm, daß “die Studenten gut sind, aber sich mehr Mühe geben müßten”. Mustafa Kemal soll anschließend unterdem Jubel der Studentenschaft das Gebäude verlassen haben. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, daß MustafaKemal vorher die Universität nicht besucht hatte und ich überlege, ob dieser “Besuch” einem “Siegeszug” gleichkommensollte - zumindest berichteten die Istanbuler Zeitungen am nächsten Tag mit pathetischen Tönen “vom glorreichenKommandant, der an der Spitze der Bildungsarmee das hohe Ziel einnahm”, Vgl.: Öklem, a.a.O., S. 44.238 In den fristlosen Kündigungsschreiben war zu lesen, daß die ’Darülfünun’ nicht mehr existierte und deshalb dasArbeitsverhältnis mit dem Lehrkörper null und nichtig geworden sei. Ebenda., S. 45239 Cemil Bilsel, Istanbul Üniversitesi Tarihi ( Geschichte der Istanbuler Universität), Istanbul 1943, S. 37 ( Obwohldieses Buch vor über 50 Jahren erschienen ist, gilt es bis heute als einer der ausführlichsten Werke gerade über dieEntstehungszeit der Istanbuler Universität).

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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wollten. In Zeitungsartikeln und -kommentaren brachten mehrere ehemalige

Professoren „ihre Sorge zum Ausdruck, daß die vom Ausland herbeigeschafften

Wissenschaftler, weder fachspezifisch noch menschlich die türkischen Studenten

befriedigen würden; es war davon die Rede, daß alles aus dem Fenster

hinausgeworfenes Geld war und der Unterrichtsminister bald auch die Wahrheit

erkennen, die Deutschen entlassen und die alten türkischen Professoren an ihre

Stellen zurückrufen würde. Aber ihre Kritik war trotz allem gemäßigt, sie befürchteten

die sogenannte starke Hand des Staates. Immerhin stand hinter der Entscheidung,

sie zu entlassen und die deutschen Wissenschaftler herzuholen, kein geringerer als

der große Atatürk”240. Die Diskussionen hielten auch in den nächsten Jahren an und

flammten vor allem nach dem Tod von Mustafa Kemal wieder auf 241. So stand 1939

auf der ersten Tagung des Nationalen Erziehungsrats unter der Leitung des

Unterrichtsministers Reit Galopp zur Diskussion, keine deutschen Professoren mehr

einzustellen bzw. auslaufende Verträge nicht mehr zu verlängern. Die Gegner der

deutschen Professoren argumentierten damit, daß seit ihrer Anstellung sechs Jahre

vergangen waren und durch die Etablierung der Universitätsreform ihre eigentliche

Aufgabe beendet sei. Dieses Thema wurde auf der Tagung kontrovers diskutiert, die

Mehrheit der Teilnehmer neigte dazu, die Verträge nicht mehr zu verlängern und die

Professoren sobald wie möglich zu entlassen. “Es kam aber dann gar nicht zu einem

solchen Entschluß, weil der Unterrichtsminister eingriff und die Diskussion über das

Thema für beendet erklärte, ohne jedoch eine Stellungnahme dazu zu formulieren.

So waren damals die Zustände”242. Der türkische Soziologe Murat Belge vergleicht

die Schließung der Universität und vor allem die brutale Entlassung von Professoren

mit den Hinrichtungen im Osmanischen Reich, ich zitiere ihn: ”Bei den Osmanen galt

die Hinrichtung nicht nur als eine Strafe, sondern auch als Beseitigung einer Gefahr.

Wenn eine Person oder eine Anzahl von Personen gefährlich schienen und die

Macht des Herrschers dazu ausreichte, richtete er seine Gegner hin und bannte

240 Gespräch mit Prof. Rauf Inan, 04.05.1994, Istanbul. Inan war in den 30er Jahren, knapp 20jährig, einer derwenigen deutschsprachigen Mitarbeiter der Istanbuler Unterrichtsverwaltung und hatte dadurch mit den deutschenProfessoren zu tun.241 Ein Tag nach der offiziellen Entlassung erschien in der Zeitung Cumhuriyet eine Reihe von Interviews mit einigender Professoren; hier sind die Meinungen kurz zusammengefaßt . Professor Kerim Bey : „Die neue Universität soll Erfolghaben, ich kann nichts anderes sagen“, Prof. Ziya Nuri : „ Ich gratuliere meiner Entlassung und wünsche dem Rest allesGute vom Gott, was soll ich sonst sagen, sie wissen, es ist ein heißes Thema...“, Prof. Ahmet Ağaoğlu : „ Ich habe michgenug dazu geäußert, wir wollten selber Reformen, Nun haben sie uns entlassen, die werden aber noch ihreSchwierigkeiten bekommen“, Prof. Malik : „Sie haben ein Komitee zu uns geschickt und uns nun vertrieben,anscheinend zählen wir nichts...“. Cumhuriyet, 01.08.1933.242 Ebenda.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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somit jegliche Gefahr. Es war unwichtig, ob sie überhaupt etwas verbrochen hatten.

Aber ihre Beseitigung war die sicherste Methode, eine von Gegnern ausgehende

Gefahr von Anfang an zu beseitigen. Dieses Verständnis setzte sich in der

republikanischen Ära auch fort, die Schließung der alten Universität und die

Entlassung von Professoren war nichts anderes als eine intellektuelle Hinrichtung”243.

Erst ihre Hinrichtung ermöglichte das Überleben anderer.

243 Gespräch mit Murat Belge, 3o.o6.1993, Berlin.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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4.3 Deutsche Wissenschaftler - Herzlich Willkommen in der Türkei

Albert Malche hatte zwischenzeitlich versucht, für die neue Universität ausländische

Professoren ausfindig zu machen - deshalb ist es hier notwendig, die Ereignisse um

die Istanbuler Universität aus einer anderen Perspektive zu betrachten und nochmals

zum Frühling 1933 zurückzukehren. Die Frage des neuen Lehrkörpers war eines der

Hauptprobleme für das Entstehen der erwünschten Universität. Wie auch Hirsch in

seinen Erinnerungen schreibt244, wollten Mustafa Kemal und sein Unterrichtsminister

Reşit Galip zumindest in der Anfangsphase der neuen Universität ausländisches

Lehrpersonal als „Ausdruck des Willens einsetzen, und damit dem Westen

signalisieren, daß sich die Türkei rasch verändern und sich baldigst als ein

gleichberechtigtes Land präsentieren wird“245. “Ich habe immer betont, daß es mit der

Schaffung neuer Lehrstühle nach westlichem Muster nicht getan sein wird, es

müssen Professoren gefunden werden, die einen neuen Geist schaffen”246. Neumark

bemerkt dazu, daß “bei der Suche nach geeigneten Kandidaten in erster Linie der

begreifliche Wunsch der türkischen Regierung eine Rolle spielte, nur nach westlichen

Maßstäben angesehene, bekannte Gelehrte für Istanbul und später für Ankara zu

gewinnen. Damit waren grundsätzlich diejenigen jungen Gelehrten ausgeschlossen,

die noch nicht oder gerade erst habilitiert waren und demgemäß noch nicht einmal

den Titel eines, wie es damals hieß, «nichtbeamteten außerordentlichen Professors»

führten”247. Nach Malches Vorstellungen sollten Professoren aus mehreren Nationen

in die Türkei kommen, um kulturelle und politische Einflüsse auszuschließen248.

Malche hatte sich nach seiner Ankunft in der Türkei und seiner Berufung in die

Kommission, Ende Mai 1933 mit dem Mediziner Philipp Schwartz in der Schweiz in

Verbindung gesetzt und von der Universitätsreform in Istanbul mit den personellen

Folgen berichtet. Philipp Schwartz, bis zur Machtergreifung Pathologieprofessor in

Frankfurt249, war Mitbegründer einer Selbsthilfegruppe, die sich „Notgemeinschaft 244 Hirsch schreibt, daß Mustafa Kemal einmal gesagt haben soll, daß nur ausländische Professoren in der Lage seinwerden, wissenschaftlichen Nachwuchs heranzubilden, der wiederum in der Lage sein wird, später seine Ideenumzusetzen. Vgl.: Ernst E. Hirsch, Aus des Kaisers... a.a.O., S. 242 f.245 Horst Widmann, a.a.O., S. 49246 Zitat Philipp Schwartz bei Horst Widmann, a.a.O., S. 9.247 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...248 Malche a.a.O., S 242 und Horst Widmann a.a.O., S. 50.249 Schwartz mußte Frankfurt schon im Februar 1933 verlassen und zu seinen Schwiegereltern nach Zürich flüchten,da er als Kommunist bekannt war.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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deutscher Wissenschaftler im Auslande“ nannte. Solche Hilfskomitees für vertriebene

oder verfolgte deutsche Wissenschaftler entstanden vor allem nach dem

nationalsozialistischen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums“

(07.04.1933) in England, Holland, Frankreich und Belgien250. Die Hilfsorganisationen

bezweckten, vertriebenen und entlassenen Wissenschaftlern oder jenen, die selber

ihren Dienst quittiert hatten, alternative Existenzen in anderen Ländern zu

ermöglichen. Die „Notgemeinschaft“ in Zürich konzentrierte sich auf Länder, in denen

größere und schnellere Unterbringungschancen für emigrationswillige oder schon

emigrierte deutsche Wissenschaftler bestanden als in England und den USA.

Professor Schwartz zählte neben südamerikanischen und asiatischen Staaten auch

die Türkei zu dieser Gruppe. Das Arbeitsprinzip dieser Organisation war, daß jeder

Hochschullehrer, der in ein Land vermittelt wurde, selbst nach neuen Stellen für

weitere Wissenschaftler schauen sollte. Weiterhin verpflichteten sie sich zur Zahlung

eines Mitgliedsbeitrages zur Finanzierung der weiteren Arbeit der

Notgemeinschaft251. Die Vermittlung einer Professorengruppe in die Türkei sollte die

erste erfolgreiche Aktion der ’Notgemeinschaft’ werden.

Philipp Schwartz reiste Anfang Juli 1933 in die Türkei, um sich ein konkretes Bild von

den Erwartungen und finanziellen Möglichkeiten der türkischen Seite zu machen. Er

und Prof. Malche trafen am 05.07.1933 in Ankara mit dem türkischen

Unterrichtsminister zusammen252. An dem Treffen nahmen insgesamt 21 Personen

teil, unter ihnen waren Salis Zeki und Rüştü Uzel, die mit Malche den Bericht zu

Darülfünun zusammengefaßt hatten. Am Anfang hielt der türkische

Unterrichtsminister eine kurze Rede über das Ziel der Universitätsreform und die

Erwartungen der türkischen Seite. Er erzählte, daß die Türkei keine Zeit zu verlieren

hätte und an einem schnellen Engagement von Fachkräften sehr interessiert sei.

Weiterhin überraschte er seine zwei ausländischen Gäste, weil er für viel mehr

Professoren Arbeitsmöglichkeiten anbot als Malche es Professor Schwartz in den

Vorgesprächen angedeutet hatte und machte ihm ein Besetzungsangebot für 30 250 Das Gesetz legte fest, daß “Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, in den Ruhestand zu versetzen (sind)”und “ Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeitrückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, aus dem Dienst entlassen werden (können)”, ausführlicher in: UweBrodelten (Hrsg.): Gesetze des NS-Staates, Berlin 1968.251 Die ’Notgemeinschaft’ erstellte bis 1936 eine Liste unter dem Titel “List of displaced German scholars” mitinsgesamt 1652 emigrierten und emigrationswilligen deutschen Wissenschaftlern. Mehr darüber und über die weiterenAktivitäten in: Philipp Schwartz, Über die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, S. 6 (als Manuskriptim Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, München. 1995 ist es auch unter dem gleichen Titel als Buch erschienen).252 Ankara T.B.M.M Arşivi, Maarif 07-933, Üniversiteler / 05.07 (Archiv des Türk. Parl. Akte : Maarif..., Protokoll desGesprächs zwischen dem Minister und den anderen Anwesenden).

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ordentliche Professoren. ”Können Sie uns einen Professor für.....vorschlagen? Diese

Frage wurde im Laufe des Nachmittags 30 mal gestellt und unter zunehmender

Spannung beantwortet. Ich hatte die Kartothek der ’Notgemeinschaft’ in Kürschners

Gelehrtenkalender eingetragen; so konnte ich (...) Professoren zur Auswahl stellen.

Ich und wohl alle Anwesenden vergaßen Zeit, Komplikationen und Widerstände...Wir

haben sieben unvergeßliche Stunden gearbeitet. Draußen war es noch hell. Wir

verabschiedeten uns. Ich telegraphierte nach Zürich: `Nicht drei, sondern dreißig”253.

Ich halte es an dieser Stelle für erwähnenswert, daß die türkische Regierung,

vielmehr der Unterrichtsminister Galip, bei dieser Unterredung den Schutz der Türkei

für die Inhaftierten unter den Berufenen versprach: „Er (Galip) versicherte, daß jeder,

der die Berufung annimmt, ob frei oder im Gefängnis, im KZ, als Beamter der

Republik betrachtet, unter dem türkischen Schutz stehen wird. Die254 werden uns

keine Schwierigkeiten bereiten. Wir wissen, wie mit ihnen fertig zu werden`“255. Am

Ende der Unterredung wollte sich Prof. Malche bedanken, der türkische

Unterrichtsminister Galip lehnte den Dank ab und sprach: „Wir haben heute einen

Fehler korrigiert. Als wir vor 500 Jahren Istanbul eroberten, flüchteten die hellen

Köpfe des Byzanz nach Italien und ermöglichten dort die Erneuerungen, die

Renaissance. Jetzt muß die Türkei erneuert werden. Bringen Sie ihre

Wissenschaftler und ihr Wissen und zeigen unserer Jugend den richtigen Weg. Ich

danke Ihnen“256.

Die Ergebnisse der Gespräche wurden in einem Vorvertrag festgehalten und zur

Bewilligung Mustafa Kemal vorgelegt. Nach Angaben von Koçatürk war der türkische

Staatspräsident mit den vorgeschlagenen Namen einverstanden, forderte jedoch als

Ergänzung, die Arbeitsverträge zeitlich zu begrenzen und die Professoren zur

Veröffentlichung von wissenschaftlichen Publikationen zu verpflichten257. Als

Eröffnungstag der neuen Universität wurde zunächst der 01.08.1933 festgelegt.

Schwartz fuhr in die Schweiz zurück, um Kontakt mit den in Frage kommenden

Professoren zu nehmen. Am 25.07.1933 kam er, diesmal in Begleitung von Professor

Rudolf Nissen258, wieder in die Türkei zurück und brachte die Liste mit neuen Namen

der Professoren für die Universität in Istanbul und zwei medizinische Institute in

253 Philipp Schwartz, a.a.O.254 Gemeint sind die nationalsozialistischen Behörden.255 Philipp Schwartz zitiert in: Horst Widmann, a.a.O., S. 57.256::Ankara T.B.M.M.., a.a.O.257 Vgl. in: Utkan Koçatürk, a.a.O., S. 3 - 95.258 Mehr über Rudolf Nissen ab S.173 dieser Arbeit.

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Ankara mit. Von den ursprünglich vorgeschlagenen 57 Professoren hatten lediglich

14 Interesse für die Arbeit in der Türkei gezeigt, die anderen 16 Stellen wurden mit

neuen Namen besetzt259. Bei dieser Reise260 handelte Schwartz mit dem türkischen

Unterrichtsminister die endgültigen Vertragsbestimmungen über die Arbeit der

Professoren aus. Demnach verpflichteten sich die Professoren bei der Annahme der

Tätigkeit in der Türkei zu insgesamt sechs Kernbedingungen 261:

- Die Professoren mußten für die türkischen Schüler Lehrbücher,

Studientexte und Skripts (zunächst mit Hilfe eines Übersetzers, aber so

schnell wie möglich eigenständig) auf türkisch verfassen

- Sie waren verpflichtet innerhalb von drei Jahren soweit Türkisch zu

lernen, daß sie anschließend die Vorlesungen in Türkisch halten konnten

- Obwohl sie in ihrer Wahl der Assistenten freigestellt waren, mußten sie

zugleich für die Ausbildung eines türkischen akademischen Nachwuchses

Sorge tragen

- Ihre ganze Kraft war der Universitätsarbeit zu widmen, deshalb durften

sie ohne die besondere Genehmigung der Universitätsleitung keinerlei

Nebentätigkeiten haben

- Gleichzeitig mußten sie bei Bedarf und auf Anforderung der türkischen

Regierung ohne zusätzliche Bezahlung zu ihrem Fachgebiet Gutachten

erstellen

- Die Verträge waren zeitlich zwischen drei und fünf Jahren begrenzt und

eine Verlängerung wurde davon abhängig gemacht, inwiefern der

Professor seine Verpflichtungen erfüllt hatte262.

259 Schwartz hatte für bestimmte Fachbereiche wie Chemie, Zoologie und Rechtswesen teilweise mehr als fünfProfessoren vorgeschlagen, um Alternativen offen zu lassen. Nach seiner Rückkehr nach Zürich mußte er jedochfeststellen, daß viele der von ihm vorgeschlagenen Professoren für die Türkei nicht zur Verfügung standen oderzwischenzeitlich andere Lehrstellen und/oder Zufluchtsländer gefunden hatten.260 Nissen erwähnt in diesem Zusammenhang, daß es während dieser zweiten Reise zu einem Treffen zwischenSchwartz und dem Botschaftsrat Fabricius im Deutschen Generalkonsulat in Istanbul gekommen ist. Offen bleibtnatürlich die Frage, wieso der Sprecher einer Emigrantengruppe sich mit einem Vertreter der nationalsozialistischenRegierung trifft. Noch dazu ist bei Nissen zu lesen, daß Fabricius Schwartz und den Anderen viel Erfolg gewünscht hat!Vgl.: Rudolf Nissen, a.a.O., S. 194.261 Die Zeitung „Cumhuriyet“ berichtete am 18.08.1933 in ihrer ersten Seite mit großen Schlagzeilen über drei Spalten,daß die vertraglichen Bedingungen nun endgültig geklärt sind und 50 ausländische Professoren in die Türkei kommenwürden. In dem Artikel ist auch zu lesen, daß türkische Professoren in Zukunft ein Drittel der ausländischen Professorenverdienen würden.(Cumhuriyet 18.08.1933).262 Gerade dieser Punkt des Vertrages wurde bei späteren Vertragsabschlüssen präzisiert. So bekam z.B. ErnstReuter als Professor für Städtewesen zunächst nur noch einen Jahresvertrag mit einer Kündigungsklausel von einemMonat.

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Nach dem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen kündigte der neue türkische

Unterrichtsminister Hikmet Bayur263 der türkischen Öffentlichkeit gegenüber an: “Die

Auswahl unserer Professoren ist nun abgeschlossen. Die Universität nimmt nun

Gestalt an”264. Zu der Frage, unter welchen Kriterien die Professoren ausgesucht

wurden, antwortete der Kriterium, was für uns bei der Auswahl wichtig erschien, war,

daß die Professoren in den Universitäten ihres Landes selbst als Professor gelehrt

haben müssen und ihre Namen über ihre Landesgrenzen hinaus bekannt sind. Wir

haben beschlossen, die Anzahl dieser Professoren so hoch wie möglich zu halten,

damit in der Gründung, Organisierung und dem Betrieb unserer Universitäten nicht

viel Zeit verlorengeht, damit die Laboratorien, Seminare und der Unterricht nach

wissenschaftlichen Kriterien aufgebaut werden, damit ein wahrer universitärer Geist

sich so schnell wie möglich ausbreitet, damit unsere Universitäten besser werden als

die besten der Welt”265.

Nach der Beendigung der Verhandlungen reiste Professor Schwartz266 Ende August

wieder zurück in die Schweiz, organisierte von hier aus die letzten Vorbereitungen

und setzte sich mit den in Frage kommenden Professoren wegen der

Vertragsunterzeichnung in Verbindung. Die ersten Verträge wurden in Genf am

04.09.1933 in Anwesenheit des türkischen Botschafters in der Schweiz Cemal

Hüsnü, Albert Malche und Philipp Schwartz, von den Professoren Erwin Freundlich,

Richard Honig, Hugo Braun und Fritz Neumark unterschrieben. Die meisten

Professoren, die in Deutschland entlassen wurden oder selbst gekündigt hatten,

konnten zu dieser Zeit Deutschland relativ frei verlassen und ihre Verträge in der

neutralen Schweiz unterschreiben. In den Fällen der inhaftierten bzw.

untergetauchten Professoren wie Gerhard Kessler, Friedrich Dessauer und Alfred

Kantorowicz mußte sich jedoch die türkische Regierung in Berlin für ihre Freilassung

und freie Ausreise in die Türkei einsetzen. Daß dieses für diese Professoren gelang,

263 Kurz nach Ende der Verhandlungen hatte der ehemalige Minister Galip einen schweren Unfall und mußte am13.8.1933 von seinem Amt zurücktreten. Sein Nachfolger wurde einer seiner Stellvertreter, Hikmet Bayur..264 Ulus, 3.9.1933.265 Reşit Galip, Milli Eğitimle Ilgili Demeçler, Ankara 1946, S. 147.266 Schwartz hatte zwischenzeitlich für sich eine Professorenstelle als Pathologe an der neuen Universität in Istanbulangenommen und behielt diese Stelle bis 1953.

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auch später für verhaftete Verwandte einiger Professoren267, lag an den guten

Beziehungen der Türkei nach Deutschland; gleichzeitig ist auch davon auszugehen,

daß Berlin das Verhältnis zu den Türken so stabil wie möglich halten wollte.

Die erste deutschsprachige Gruppe der Akademiker bestand aus insgesamt 52

Personen, 35 von ihnen waren Professoren oder Assistenten, der Rest wurde als

wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angegeben. Folgende Personen

bildeten die erste Gruppe der Emigranten: Heinz Anstock (Lektor), Hugo Braun (Prof.

für Bakteriologie), Leo Brauner (Prof. für Botanik), Eva Buck (Lektorin), Rosamarie

Burckart (Lektorin), Harry Dember (Prof. für Physik), Martin Elsässer

(Architekturdozent an der Akademie der Schönen Künste/Istanbul), Erwin Finlay

(Prof. für Astrophysik), Erich Frank (Prof. für Innere Medizin), Traugott Fuchs (Dozent

für Philologie), Wolfgang Gleisberg (Prof. für Astronomie), Gustav Hatschek

(Assistenz für Medizin), Alfred Heilbronn (Prof. für Botanik), Arthur Hippel (Prof. für

Physik), Ernst Hirsch (Prof. für Jura), Julius Hirsch (Prof. für Mikrobiologie), Richard

Honig (Prof. für Jura), Josef Igersmeier (Prof. für Augenheilkunde), Gerhard Kessler

(Prof. für Wirtschaft), Wilhem Liepmann (Prof. für Gynäkologie), Werner Lipschlitz

(Prof. für Pharmazie), Karl Löwenthal (Prof. für Histologie), Thomas Mendelssohn

(Assistenz für Physik), Richard von Mises (Prof. für Mathematik), Fritz Neumark

(Prof. für Wirtschaft), Rudolph Nissen (Prof. für Chirurgie), Siegfried Oberndorfer

(Prof. für Pathologie), Hans Reichenbach (Prof. für Philosophie), Wilhelm Roepke

(Prof. für Soziologie),Alexander Rüstow (Prof. für Politik), Philipp Schwartz (Prof. für

Pathologie), Leo Spitzer (Prof. für Philologie), Kurt Steinitz (Prof. für Medizin), Karl

Strupp (Prof. für Jura), Hans Winterstein (Prof. für Physiologie)268.

Diese Personen, in Mehrzahl in Begleitung der Ehepartner, Kinder und teilweise der

Eltern, reisten zwischen den 04.10. und 18.11.1933 in die Türkei ein. Die Universität

nahm ihren Betrieb offiziell am 18.11.1933 auf.

267 Beim Chemiker Fritz Arndt und beim Astronomen Hans Rosenberg hat sich die türkische Regierung für dieverhafteten Verwandten eingesetzt und auch sie freibekommen. Der Sohn von Arndt hatte als Soldat bei der polnischenArmee gegen die Wehrmacht gekämpft und wurde 1942 gefangengenommen; Arndt wandte sich an denMinisterpräsidenten Refik Saydam, der seine Angelegenheit im positiven Sinne erledigte und den Sohn aus derGefangenschaft nach Istanbul bringen konnte. Genauso wurden vier Kinder des jüdischen Astronomen Rosenberg vomKonzentrationslager freigelassen und konnten 1939 zu ihrem Vater nach Istanbul reisen. Rosenberg verstarb jedoch imdarauffolgenden Jahr.268 Die Namensliste wurde am 15.09.1933 in der Zeitung „Cumhuriyet“ in der ersten Seite veröffentlicht; der Titel desArtikels lautete: „Fremde Professoren kommen an die Universität - darunter drei Damen Vgl. auch: Istanbul ÜniversitesiAçılış Rehberi (Eröffnungsbuch der Istanbuler Universität), Istanbul 1933-1935, S. 298.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Nach dem vorläufigen Statusvertrag269 für die Istanbuler Universität war der

Jahresetat auf eine Million Lira begrenzt. Da aber neben der Anschaffung

technischer Geräte auch die Renovierung der Gebäude und der Aufbau von Laboren

viel mehr Geld kostete als zunächst angenommen, wurde der Etat im folgenden Jahr

verdoppelt270. Nach Angaben von Cemil Bilsel gab das Unterrichtsministerium bis

Anfang 1941 über vier Millionen Lira für den Aufbau der materiellen Infrastruktur der

Einrichtungen für die Universität in Istanbul aus271. Im zweiten Lehrjahr arbeiteten an

der ’Istanbuler Universität’ insgesamt 365 Lehrkräfte, davon 185 als Professoren und

Dozenten und 180 als Assistenten und Lektoren. Die Anzahl der ausländischen

Professoren, Assistenten und Lektoren betrug zusammengerechnet 71272.In der

Gruppe der emigrierten Lehrkräfte war der jüngste Professor Ernst Hirsch mit 31

Jahren273 und der älteste Wilhelm Salamon-Calvi mit 66 Jahren274. In anderen

Fakultäten und wissenschaftlichen Einrichtungen in Istanbul und Ankara waren im

zweiten Jahr nach der Hochschulreform insgesamt 326 Lehrkräfte (d.h. ausländische

und türkische) beschäftigt; die Angaben über die restlichen Einrichtungen sind leider

nicht präzise und gehen nicht ins Detail, so daß sich hier die Zahl der beschäftigten

Ausländer nicht ganz genau ermitteln läßt. Fest steht nur, daß neben

deutschsprachigen Akademikern einige Hochschullehrer auch aus anderen Ländern

in die Türkei kamen275. So waren unter den ersten ausländischen Lehrkräften an der

neuen ’Istanbuler Universität’ die Schweizer André Naville (Prof. für Zoologie) und

Emil Parejas (Prof. für Geologie), die Franzosen Aimé Mouchet (Prof. für Chirurgie),

Charles Crozat (Prof. für Rechtswissenschaften), Marcel Fuche (Prof. für Physik),

Philip Duquenois (Prof. für Pharmazie), Jan Savard (Prof. für Chemie) und der

Italiener Umberto Ricci (Prof. für Wirtschaftswissenschaften). Genauso ist es wichtig

darauf hinzuweisen, daß vor allem in Ankara, aber auch in Istanbul, eine große

269 Die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Universität wurden auf türkisch als “Statusvertrag” (Muvakkat Talimatnamesi) bezeichnet.. Vgl.: T.C. Maarif Vekâleti Arşivi, Istanbul Üniversitesi 1934 yılı MuvakkatTalimatnamesi.270 Dazu wurde vom Unterrichtsministerium am 11.09.1934 ein neuer Statusvertrag erlassen.271 Cemil Bilsel, a.a.O., S. 45.272 Dozenten waren ausschließlich Türken. Die übrigen Zahlen beruhen auf den Angaben des Personalarchivs derUniversität Istanbul. (T.C. Maarif Vekâleti Arşivi, Istanbul Üniversitesi 1934 yılı Esas Kadrosu).273 Hirsch blieb bis 1952 in der Türkei, kehrte dann nach Berlin zurück und wurde mit 51 Jahren Rektor der FU Berlin.274 Salamon-Calvi gehörte zu den Professoren, die 1934 in die Türkei kamen. Der Geologieprofessor war inDeutschland schon emeritiert und blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1941 im Land und veröffentlichte über 40wissenschaftliche Schriften.275 Dieser Punkt wird in den meisten Publikationen über dieses Thema nicht angesprochen oder bewußt unterschlagen.Ob die Erwähnung dieser Tatsache dem Mythos der deutschen Türkeiemigration schaden würde und deshalb denZugang in die Bücher nicht gefunden hat, muß zumindest als Frage gestellt werden

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

107

Gruppe von offiziell entsandten Hochschullehrern beschäftigt war. So lehrten an der

’Landwirtschaftlichen Hochschule’ in Ankara 1934 insgesamt 13 deutsche

Wissenschaftler. Neun von ihnen waren allerdings von Deutschland beurlaubte

Reichsbeamte276.

Der zahlenmäßige Umfang der Gesamtemigration in die Türkei läßt sich leider nicht

genau feststellen. Ein Problem dabei ist, daß im Zusammenhang mit der Emigration

in die Türkei zwischen einfachen und wissenschaftlichen Flüchtlingen unterschieden

werden muß. Der Grund hierfür liegt an den Statistiken der türkischen Behörden.

Nach Angaben des `Staatlichen Statistik Instituts’ wurden nach 1923 die

Einreisegründe von Fremden nicht festgehalten, alle Einreisen wurden zuerst als

touristische Angelegenheit betrachtet. Bei von der türkischen Regierung offiziell

eingeladenen Experten und Wissenschaftlern sah es natürlich anders aus, sie

wurden in der Statistik besonders erfaßt. Zur Einreise in die Türkei war prinzipiell ein

gültiges Visum erforderlich und genügend. Die Gründe der Einreise wurden erst nach

1953 statistisch erfragt und festgehalten277. Deshalb erfassen die offiziellen Angaben

nur diejenigen, die von den Behörden als eingeladene Wissenschaftler registriert

wurden. Das türkische Außenministerium hat meine Anfrage in Bezug auf eine

konkrete Zahl der wissenschaftlichen Emigranten, die nach 1933 und vor 1945 in die

Türkei einreisten, mit “ca. 150” beantwortet278. Da diese Zahl jedoch nicht zwischen

Professoren und Assistenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter differenziert, muß

ich hier auch andere Quellen hinzuziehen. Zuerst möchte ich feststellen, daß, nach

meinen Recherche, mindestens 114 wissenschaftliche Emigranten mit ihren

Ehepartnern und/oder Kindern in die Türkei kamen oder sie nachholten. Mehrere

Emigranten konnten auch weitere Verwandte wie Eltern, Geschwister und

Schwiegereltern zu sich rufen. Mit den Familienangehörigen muß die Gesamtzahl der

Emigranten mit einem wissenschaftlichen Hintergrund auf 600 - 800 Personen

eingeschätzt werden. Während Widmann von insgesamt 144 deutschen Emigranten

als Mitarbeiter an wissenschaftlich-akademischen Institutionen in Istanbul spricht und

84 davon als Professoren ausweist279, gehen Cremer und sein Mitautor Przytulla von

276 Horst Widmann behandelt den Aufbau der Hochschule durch „offizielle“ deutsche Professoren in einem separatenKapitel, Vgl.: Horst Widmann, a.a.O., „Beteiligung deutscher Professoren am Aufbau des YZE in Ankara“, ab S. 37.277 Hinzuweisen ist hier vor allem auf das Standardwerk der türkischen Statistiken nach der Republiksgründung:Statistical Indicators 1923 - 1990, State Institute of Statistics Prime Ministry Republic of Turkey, Ankara 1991 (inenglischer und türkischer Sprache), besonders S. 271 ff.278 Anfrage an das Türkische Außenministerium, April 1994 (Kopie bei mir).279 Horst Widmann, a.a.O., S. 131 und S. 167.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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82 Professoren und 70 Assistenten aus280, die nach 1933 Zuflucht in der Türkei

fanden. Reinhard Bockhorni rechnet mit einer Gesamtzahl von 220 Professoren, die

nach 1933 an türkischen Universitäten gelehrt haben; bei dieser Angabe ist aber zu

kritisieren, daß sie nicht zwischen emigrierten und offiziell entsandten deutschen

Professoren unterscheidet281. Die genannten Quellen sind auch nicht in der Lage, die

Anzahl der Familienangehörigen festzustellen. Ich möchte jedoch noch einmal

betonen, daß all diese Zahlen nur den Umfang der wissenschaftlichen Emigranten

benennen. Zahlenmäßig stärkere oder aber schwächere Gruppen sind darin nicht

enthalten282. Dazu gehören neben Emigranten, die in staatlichen Betrieben als

Experten beschäftigt waren, auch jüdische Flüchtlinge aus dem deutschen

Machtbereich, Deutsche, die gegen Ende des Krieges, nach dem Abbruch der

diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, nicht

zurückkehrten und in der Türkei blieben und Flüchtlinge, die legal als Touristen

eingereist waren und dann sich für kurz oder lang, illegal im Land aufgehalten haben.

4.4 Das Leben - Bierseligkeit, Melancholie und Muezzin-Rufe

Der Großteil der Informationen in diesem Abschnitt lehnt sich an Gespräche und

Interviews an, die ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit geführt habe.

Verschiedene Quellen/Menschen haben verschiedene Informationen an mich

weitergegeben, so daß ich hier den Versuch einer Zusammenfassung vornehme.

Das Gespräch als eine dialogische Form erweist sich als besonders geeignet,

Erfahrungen, Motive und Erkenntnisse einer Zeitlichkeit erlebbar und in gewisser

Weise sichtbar zu machen. Lebensumstände können nach meiner Meinung nicht

pauschalisierend und generalisierend betrachtet werden, sondern im günstigsten

Fall, stellvertretend. Wenn ich von der Information, die mir Neumark gegeben hat

280 Jan Cremer / Horst Przytulla, Exil Türkei, München 1991., S. 26 f.281 Reinhard Bockhorni, Eine empirische Untersuchung ausgewählter Formen, Bedingungen und Funktionen derkulturellen Außenpolitik der BRD mit dem Peripherieland Türkei anhand einer Fallstudie zum deutschen KulturzentrumAnkara, München 1979, S. 155.282 Ich möchte die genannten um eine weitere Zahl bereichern: es gab unter ihnen mindestens 21 Frauen, die meistenvon ihnen waren wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an Fakultäten oder medizinisch-technisches Personal : ElisabethAdler (Tanzpädagogin), Eva Buck (Romanistin), Rosamarie Burckart (Philologe), Esther von Bülow (Radiologin), FriedelBohm (Musiklektorin), Lieselotte Dickmann (Philologe), Lilly Fränkel (Chirurgie-Ass.), Hilde Geiringer (Mathematikerin), ?Hoffman (Augenheilkunde), Steffi Klein (Gesangslehrerin), Ceciel Leuchtenberger (Chemikerin), Ruth Litz(Psychoanalytikern), Liselotte Loewe (Chemikerin), Sonja Tiedcke (Bibliothekarin), Berta Ottenstein (Dermatologin),Johanna Schnee (Botanikerin), Margarete Schütte (Architektin), Paula Schwerin (Medizinlaborantin), Edith Weigert(Psychiaterin), Wilmanns (Laborantin) und Elde Wolf (Medizinerin).

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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ausgehe und dann sage, die deutschen Flüchtlinge haben, als Beispiel, auf dem

Wochenmarkt von Kadıköy eingekauft, muß ich einkalkulieren, daß es vielleicht nur

Neumark war, der auf diesem Markt eingekauft hat. Die jeweilige Disposition und die

unterschiedlichen beruflichen Möglichkeiten in der Türkei waren in der Regel

ausschlaggebend für Gelingen oder Mißlingen des Lebens und dadurch eines

Modells der Integration. Wenn es so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt, dann

beruht alle mittelbare Wahrheit, natürlich außerhalb des Bereichs der Mathematik,

auf Evidenz. Das bedeutet auf unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung eines

Ereignisses durch einen Einzelnen. Es ist fast alles, was wir wissen oder zu wissen

glauben, auf dieser Erfahrung beruhend. So gesehen wäre es erforderlich, alle

Flüchtlinge über ihr Leben in der Türkei zu befragen, um ein vollständiges Urteil

bilden zu können283. Das ist wegen der Endlichkeit des Lebens nicht durchführbar,

also bleibt nur die symbolische Auswahl. Daraus, aus dem Fluß der Informationen,

läßt sich zumindest ein Bruchteil, ein Bild des alltäglichen Lebens herstellen. Den

emigrierten und exilierten Deutschen in der Türkei blieb das Schicksal vieler

zunächst in anderen europäischen Ländern, wie der Tschechoslowakei, Dänemark

oder Italien, gebliebener Flüchtlinge erspart, da diese, vor allem vom Ende der

Dreißiger Jahre an, unter Lebensgefahr von einem in das andere Land flüchten

mußten, um dem Vormarsch des deutschen Faschismus zu entkommen. Es ist

jedoch auch nicht haltbar, die Situation der deutschen Flüchtlinge in der Türkei als

durchweg positiv zu bezeichnen. Das würde nämlich bedeuten, daß man die

Phänomene der kulturellen, sprachlichen und auch der religiösen Andersheiten

ignorieren würde.

Die meisten Deutschen kamen in die Türkei mit Frachtdampfern, die zu der Zeit

mehrmals in der Woche zwischen Italien und der Türkei verkehrten. Eine andere, oft

wahrgenommene Verbindung war die Eisenbahnstrecke Berlin-Wien-Belgrad-Sofia-

Istanbul. Für die meisten Professoren, die gerade in der ersten Gruppe 1933 in die

Türkei fuhren, scheint der Weg über Italien mit dem Schiff zuzutreffen. Die Flucht in

die Türkei vollzog sich in drei Perioden: Die erste Gruppe kam durch die Vermittlung

der Notgemeinschaft im Herbst 1933. Die zweite Periode begann Ende 1937, und

ging bis Ende 1938. Zu dieser Zeit waren es in erster Linie Österreicher, die nach der

283 Ich halte in diesem Zusammenhang auch sogenannte Untersuchungen über Türken in Deutschland für nurrepräsentativ, aber nicht verbindlich und endgültig. Ich kann Deutschland ganz anders erleben als ein Türke, der inmeiner direkten Nachbarschaft wohnt, aber mit seinem Herzen in der Türkei lebt, während ich mich als ein Teil derdeutschen Gesellschaft definiere. Dadurch ist kein einheitliches Bild mehr möglich.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

110

Besetzung ihres Landes in die Türkei kamen, aber auch Deutsche, die nach der

Reichskristallnacht, Deutschland verließen. Die dritte Periode fing mit dem Ausbruch

des Krieges an. Ab 1939 versuchten viele vor allem deutsche Juden per Schiff in die

Türkei einzureisen, um dann nach Palästina oder anderen Zielen weiterzureisen. So

gesehen sollte die Türkei für sie eine Durchgangsstation sein. Die Türkei nahm in

dieser Angelegenheit eine zwiespältige Position ein, zu der im Laufe dieser Arbeit

noch im Detail eingegangen wird.

In Istanbul war für deutsche Flüchtlinge der erste Anlaufpunkt nach ihrer Ankunft in

der Regel Pension Ehrenstein. Diese Pension im Stadtteil Pera Beyoğlu wurde von

der ungarisch-jüdischen Familie Ehrenstein geleitet, die seit 1920 in Istanbul lebte.

Die Flüchtlinge verbrachten hier die erste Zeit, bis sie eine Wohnung finden konnten.

Bei der Wohnungssuche waren die Flüchtlinge auf sich gestellt. Die Universität bzw.

das Unterrichtsministerium stellten weder vorübergehende Wohnmöglichkeiten noch

bürokratische Hilfe bei der Wohnungssuche zur Verfügung. Die Viertel, in denen sich

die deutschen Flüchtlinge in der Regel niederließen, waren auf der europäischen

Seite Ayazpaşa, Beyoğlu und Tarabya. Auf der asiatischen Seite war Moda

bevorzugtes Wohnviertel für Flüchtlinge. Diese Viertel hatten die Gemeinsamkeit,

schon seit Jahrhunderten in erster Linie von christlichen und jüdischen Minoritäten

bewohnt zu werden und dadurch einen toleranteren Charakter als andere Stadtviertel

zu haben. So waren z.B. in Beyoğlu seit Jahrhunderten neben Botschaften auch

andere ausländische Treffpunkte wie Vereine und Logen beheimatet, es waren dort

auch Cafés, Hotels und Kinos zu finden. Zwei Kinos, die „Şark“ (ab 1934) und „Ar“

(ab 1943) spielten an den Wochenenden Filme aus Deutschland. „Şark“ war zugleich

Konzertsaal, wo unter anderem Wilhelm Kempf 1942 und 1943 als Gastpianist

konzertierte. Beyoğlu, auch Pera genannt, und die anderen zählten zu den besseren

Vierteln der Großstadt. Für die deutschen Flüchtlinge boten diese Viertel letztlich

auch die Möglichkeit, in einem bekannten Umfeld zu leben. Nicht allein, daß sie auch

in der alten Heimat ihr Leben in Großstädten verbracht hatten, sie versprachen sich

einen moralischen Gewinn von der Tatsache, beim ersten Vorwärtstasten in der

fremden und fremdsprachigen Umgebung sogenannte Schicksalsgefährten in der

Nähe zu wissen. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl bildete sich heraus, das ihnen

generell erleichterte, allmählich die neue gesellschaftliche Struktur zu begreifen und

in sie mehr oder weniger hineinzuwachsen. Ich möchte aber an dieser Stelle darauf

hinweisen, daß Istanbul nicht die Türkei war, vor allem zu dieser Zeit.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

111

Nach Neumark erwarben die meisten Emigranten ihre Möbel in der Türkei, da sie ihr

Hab und Gut in Deutschland gelassen hatten284. Die Tätigkeit in der Türkei wurde

meistens als vorübergehend betrachtet und die Mitnahme von schweren

Möbelstücken vermieden. Für viele Emigranten galt auch, daß sie Deutschland

relativ schnell verlassen hatten oder mußten und dabei naturgemäß nicht an das

Schicksal ihres zukünftigen Mobiliars dachten. In einzelnen Fällen wie bei Professor

Marchionini und Professor Hellmann konnten die Möbelstücke aus ihrer Heimat

Deutschland mitgenommen werden, das türkische Unterrichtsministerium übernahm

die Transportkosten. Hier ist jedoch zu bemerken, daß diese Professoren nicht zu

der ersten Emigrantengruppe von 1933 gehörten und mit ihnen

Sondervereinbarungen gemacht wurden. „Schon als Kind lauschte ich mit offenem

Mund, wenn einer erzählte, wie der Muezzin zum Gebet ruft, wie es im Basar

zugeht...All diese Berichte sog ich auf wie ein Schwamm und malte mir in meiner

Phantasie große Abenteuer aus. Das Goldene Horn, die Blaue Moschee... Das

waren damals für alle Jungen Worte, die die Phantasie beflügelten. Ich wußte ja

nicht, daß mein Weg mich einmal dorthin verschlägt. Durch meine Arbeitsmöglichkeit

in der Türkei konnte ich auch letztlich einer ehemals kindlichen Sehnsucht nach dem

Orient, nach dem Abenteuer folgen. Daß der Orient, wie ich ihn mir in meiner Jugend

ausgemalt hatte, sich aus Istanbul weitestgehend zurückgezogen hatte, lernte ich

erst dort“285 .

Zur Gehaltsfrage bemerkte Neumark, daß die Professoren gerade in der Anfangszeit

ihrer Tätigkeit gut bezahlt und deshalb zufrieden waren: „Für mich stellten die

Verträge einen absolut fairen Kompromiß zwischen den Vorstellungen dar, die sich

vor allem die älteren Kollegen unter uns gemacht hatten, und den Vorstellungen, die

die türkische Seite für machbar hielt“286. Die Monatsbezüge, leicht differenziert nach

Familienstand und Kinderzahl, beliefen sich bei Professoren auf 500 bis 800 Lira287 .

Dadurch war ihr Gehalt höher als die der türkischen Abgeordneten, die 300 Lira

verdienten. Der Monatsgehalt türkischer Wissenschaftler betrug zwischen 40 und

200 Lira. Den deutschen Professoren wurde zusätzlich eine einmalige

Umzugskostenvergütung in Höhe von 350 Lira pro Familienmitglied bezahlt. Diese

Summe wurde in den Verträgen als netto angegeben und es wurde festgehalten, daß

284 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...285 Interview mit Ernst Engelberg...286 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...287 Eine Lira entsprach 1933 zwei Reichsmark.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

112

die eingestellten deutschen Wissenschaftler für den Gültigkeitsraum ihrer Verträge

von steuerlichen Verpflichtungen befreit waren. Im Falle einer Krankheit sollte der

Lohn ein Jahr weiter bezahlt werden; beim Todesfall wurde den Ehepartnern die

volle Bezahlung der Löhne für ein weiteres Jahr in Aussicht gestellt.

Im Laufe der Jahre differenzierten sich die finanziellen Bedingungen für die

Deutschen beträchtlich. Während die Professoren viel Geld verdienten und nicht nur

für türkische Verhältnisse fast luxuriös leben konnten, blieben wissenschaftliche

Hilfskräfte Durchschnittsverdiener. Sie verdienten durchschnittlich 150 Lira und

mußten in der Regel zusätzlich arbeiten, in erster Linie als Privatlehrer in ihrem

Bereich. Sie lebten bestenfalls in normalen türkischen Verhältnissen dieser Zeit,

waren vor allem von der Kriegswirtschaft mit der galoppierender Inflation hart

betroffen. Die Flüchtlinge, die in der Türkei ankamen, hatten zum größten Teil keine

Vorstellung davon, welche Sitten es im Land zu respektieren galt und welche

türkischen Gepflogenheiten ihnen zwangsläufig erscheinen mußten. „Sie kannten die

Türkei gar nicht, manche wußten einiges über das Osmanische Reich und hatten als

Kind das eine oder andere Buch von Karl May gelesen, aber mehr wußten die nicht.

Es gab auch damals in Deutschland keine Türkeibücher wie jetzt. Man konnte richtig

sehen, wie erstaunt sie durch die Straßen von Istanbul herumliefen. Jedes Geräusch,

jedes Tongewirr verwirrte sie mehr. Am meisten waren sie über die Zeitungs- und

Simitverkäufer288 erstaunt, das kannten sie nicht von ihrem Land. Leute, die laut

schreiend ihre Sachen auf offener Straße verkauften“289.

Teilweise noch bis heute gültig sind die Erfahrungen der Deutschen, die zwar

anekdotenhaft existieren, aber dennoch ein Bild über das anfängliche Un- und

Mißverständnisse geben. Bei vielen fingen die Schwierigkeiten mit der ihnen völlig

fremden Eßgewohnheiten an. Übereinstimmend haben die von mir Interviewten die

Schwierigkeiten der Deutschen mit dem enormen Gebrauch von Öl in den Speisen,

den hohen Anteil der Meeresprodukte und die extreme Vorliebe der Türken für

Süßes zum Ausdruck gebracht290. Für die meisten war es auch erforderlich, sich auf

Hammel- und Rinderfleisch umzustellen. In den Dreißiger Jahren gab es in Istanbul

einen einzigen Metzger, der Schweinefleisch verkaufte: Horst Schütte. Schütte291,der

288 Simit ist eine Backware in Kringelform und wird auch als Brotersatz gegessen.289 Gespräch mit Prof. Rauf Inan...290 Die Erfahrungen der Emigranten unterscheiden sich darin natürlich nicht von den rührenden Geschichten derdeutschen Urlauber, die heutzutage in die Türkei fahren und, nach ausgiebigem Auskosten der türkischen Spezialitäten,die ersten Tage mit Magen-Darm-Problemen auf der Toilette verbringen291 Gespräch mit Ahmet Semih (Geschäftsführer von Schütte), Istanbul,13.05.1994.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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selbst in den Zwanziger Jahren in die Türkei ausgewandert war und einen

Delikatessenladen aufgemacht hatte, kaufte von Bauern aus der näheren Umgebung

von Istanbul die von ihnen erlegten Wildschweine und bearbeitete sie zu seinen

sagenumwobenen Produkten; das Angebot war jedoch geringer als die Nachfrage.

Er belieferte zuerst diplomatische Vertretungen und ausländische Einrichtungen.

Nach 1933 zählten Flüchtlinge vermehrt zu seinen Kunden. Er hat auch vor allem

Schinken und Würstchen nach Ankara verschickt und die dortigen Deutschen und

Österreicher damit versorgt. Sein Laden, der in einer Seitenstraße der Pera, aber

dafür mitten in einem belebten Blumenmarkt lag, galt nach kurzer Zeit, vor allem an

Samstagen als Treffpunkt der deutschen Flüchtlinge. Heute existiert der Laden

bereits in der dritten Generation und lebt, teilweise als touristische Attraktion, noch

von seiner Legende.

Eines der ersten Probleme, mit denen ein Teil der deutschen Wissenschaftler

konfrontiert wurde, war der gesetzliche Feiertag. Bis 1935 galt in der Türkei als

gesetzlicher Feiertag, wie in islamischen Ländern bis heute üblich, Freitag.

Katholische Lehrkräfte weigerten sich anfänglich an Sonntagen zu arbeiten und

verlangten eine Sondererlaubnis, die ihnen jedoch nicht anerkannt wurde. So

mußten sie, bis der Sonntag 1935 zum Feiertag erklärt wurden, auf den Besuch des

Gottesdienstes verzichten, wenn sie zu dieser Zeit Unterricht hatten.

In Istanbul waren christliche Kirchen und Andachtsmöglichkeiten in genügender Zahl

vorhanden. Neben einer Protestantischen Deutschen Kirche, die aber eng mit der

deutschen diplomatischen Vertretung arbeitete und deshalb von deutschen

Wissenschaftlern und anderen Flüchtlingen gemieden wurde292, bot die St.Georg-

Gemeinde deutsch-sprachige Gottesdienste, Missionsarbeit und ein Krankenhaus

an; weiterhin gab es insgesamt über 60 römisch-katholische, griechisch-orthodoxe

und protestantistische Kirchen293. Genauso war für Deutsche jüdischen Glaubens die

Möglichkeit vorhanden, in zahlreichen Synagogen der Stadt ihre Religion

auszuleben. In Ankara war die Möglichkeit für beide Religionsgruppen jedoch

292 Die in Istanbul erscheinende „Türkische Post“ veröffentlichte Freitags das Programm der Gemeinde für die nächsteWoche; daraus geht hervor, daß Musiker und Orgelspieler aus Deutschland hier regelmäßig auftraten.293 „Wir waren nicht unbedingt verwöhnt, was den religiösen Eifer damals anbelangt. Das war aber nicht überraschend,denn einerseits werden die Menschen nicht frommer, wenn sie ins Ausland gehen, und andererseits war die Beteiligungan unserem kirchlichen Leben mit Schwierigkeiten verbunden, die in der Heimat nicht bestehen würden. Man darf nichtvergessen, daß die Entfernungen in Istanbul weit größer sind als in einer deutschen oder österreichischen Stadt. Da esüberdies noch andere katholische Kirchen in Istanbul gab, die leichter zu erreichen waren und vor allem in den Vierteln,wo sie lebten, so muß man wohl annehmen, daß manche Katholiken am Sonntag dort waren.“, Gespräch mit SchwesterRosalia von der St-Georg-Gemeinschaft, Istanbul 18.04.1993.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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beschränkter, weil in der Bevölkerung an sich der Anteil der Christen und Juden viel

geringer war als in Istanbul. So gab es in der Hauptstadt nur zwei christliche und drei

jüdische Gebetshäuser. Für sogenannte Reichsdeutsche bot jedoch die deutsche

Botschaft jeden Sonntag in ihren eigenen Räumen einen deutschen Gottesdienst an.

Die deutschen Flüchtlinge hatten aus ihrer Situation heraus eine ablehnende Haltung

zum Deutschen Gymnasium in Istanbul und schickten ihre Kinder eher in das

österreichische St-Georg-Gymnasium oder in französische Schulen wie St. Benoit

und St. Michel. Solche fremdsprachigen Schulen, die in der Regel für christliche

Minderheiten oder Kolonien vorgesehen waren, gab es schon seit der Mitte des 19.

Jh. Mit dem Vertrag von Lausanne, der die Gründung der Türkei besiegelte, wurde

auch ihre Existenz unter Garantie gestellt: der türkische Staat verpflichtete sich, die

Schulen in das türkische Bildungssystem einzugliedern und sie auch finanziell zu

fördern294. Im Gegenzug mußten die Schulen jedoch auch Kinder aus den Familien

der anderen Minoritäten und islamische Türken aufnehmen und Fächer auch auf

Türkisch anbieten295. Während die Deutsche Schule gleich mit der Machtübernahme

der Nazis in Deutschland gleichgestellt wurde, blieb St. Georg bis zur Besetzung

Österreichs autark, nach 1938 unterrichteten jedoch neben Lazaristen auch

reichsdeutsche Lehrer an dieser Schule. Im Schuljahr 1934/35 waren auf dem

St.Georg-Gymnasium von insgesamt 264 Schülern nur acht deutsche Staats-

angehörige, 1943 hatte die Knabenschule insgesamt 246 Schüler, neun davon waren

aus Deutschland296.

Das komplexeste Problem für die deutschen Wissenschaftler war die

Nichtbeherrschung der türkischen Sprache. Das türkische Unterrichtsministerium

verlangte zwar vertraglich von den Lehrkräften, daß sie spätestens nach drei

Semestern ihre Seminare in Türkisch halten und in der Regel ihre Lehrbücher auch

in Türkisch verfassen sollten, aber es bot weder für sie noch für die Familien eine

offizielle Möglichkeit zur Erlernung dieser für Deutschsprachige äußert schwierigen

Sprache, an. Nicht nur beruflich, sondern auch privat war es notwendig die Sprache

zu erlernen; doch bereitete es vielen - vor allen älteren Emigranten - große

294 Beim Durchblättern der Akten des Schularchivs des St-Georg-Gynasiums fand ich die Kopie eines Schreibens mitDatum 04.12.1924, in dem die Anzahl der christlichen und jüdischen Schulen in Istanbul mit 50 beziffert wird. Brief anMinisterium für Cultus, Wien, 04.12.1924 (Unterschrift nicht lesbar)295 In diese Zeit fällt aber ein Ereignis, daß einen Teil der betreffenden Schulen für ein Jahr zum Schließen veranlaßte.Im März 1924 wurden den katholischen Schulen nahegelegt, innerhalb einer Woche Kreuze, religiöse Bilder undStatuen aus den Schulgebäuden zu entfernen. Schulen, auch St-Georg, die sich dieser Weisung weigerten, wurdengeschlossen und erst wieder zum Winter 1925 zugelassen, allerdings ohne, daß die Schulen nachgeben mußten.296 Archiv Österreichisches Sankt Georg-Kolleg, Istanbul, Nr. 12/1982, Nationalität der Schüler 1903 - 1981.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Schwierigkeiten, die türkische Sprache zu lernen, wie aus Berichten und Interviews

herausgeht297. In diesem Zusammenhang generelle Aussagen zu machen ist aber

nicht möglich; da es Leute wie Neumark, Hirsch, Rüstow, Reuter, Schwarz etc. gab,

die die türkische Sprache gelernt und auch eingesetzt haben, aber auch Flüchtlinge,

die teilweise, wie Wilhelm Röpke, kein Interesse an der Erlernung zeigten, oder die

wie Gerhard Kessler, einfach sprachunbegabt waren298. Die von den

Wissenschaftlern auf Deutsch gehaltenen Unterrichtsstunden in den Seminaren

wurden mehrheitlich mit Hilfe von Dolmetschern oder Studenten, die Deutsch

sprechen konnten, ins Türkische übersetzt. Es kam auch zu sprachlich bedingten

Mißverständnissen zwischen den Lehrkräften und den türkischen Studenten. So

berichtet Muvaffak Seyhan, ein Student von Professor Fritz Arndt, daß ein falscher

türkischer Ausdruck den Arndt benutzt hat, ihn in eine Schlägerei mit einem der

Studenten verwickelte: „Herr Arndt prüfte den betreffenden Studenten mündlich, er

konnte jedoch die gestellte Frage nicht beantworten und bat ihn, wie bei uns üblich,

darum eine zweite zu stellen. Arndt antwortete, wahrscheinlich an eine

Redewendung aus dem Deutschen denkend, auf Türkisch „Sonst geht es deiner

Mutter gut?“ und lachte, anscheinend wollte er einen Witz machen. Der Student

stürzte sich auf Arndt, ging ihm an den Hals und sagte, er solle nie wieder seine

Mutter beleidigen und verließ den Seminarraum. Arndt hatte auf diese Weise gelernt,

daß so ein Satz auf Türkisch als eine ganz große Beleidigung gilt“299. Neumark galt

als der Professor, der am besten Türkisch sprechen konnte, so sehr, daß er sogar

türkische Studenten in ihrer Sprache korrigieren oder kritisieren konnte: „Er fragte

mich einiges über Haushaltsproblematik. Ich wollte in meiner Antwort eigentlich das

Wort „inhiraf“ (Abweichung) benutzen, dachte aber, daß er das Wort nicht kennen

würde und versuchte es, zu umschreiben. Neumark merkte meinen Trick und stellte

mich zur Rede: „Du wolltest doch ein anderes Wort benutzen, oder?“. Ich sagte, ja

und meinte dann „Inhiraf“. Neumark machte seine beiden Hände auf, so als ob er 297 Eine Interviewserie, die die türkische Journalistin Nüket Büyükyıldırım mit einigen türkischen Wissenschaftlern, allesehemalige Studenten von deutschen Flüchtlingen, anläßlich des 50.Jahrestages der Entdeckung des „Vogelparadieses“durch Curt Kosswig (mehr darüber ab S.177 dieser Arbeit) in der türkischen Zeitung „Sabah“ geführt hat, ist in diesemZusammenhang sehr aussagekräftig und mir hilfreich gewesen. Sabah, 14.04.1997.298 Die Erlernung der türkischen Sprache verursacht Deutschen und anderen westlichen “Schülern” enormeSchwierigkeiten, die man nach meinen jahrelangen Beobachtungen, nur mit einem “heroischen” Eifer überwinden kann.Aufgrund der Tatsache, daß Türkisch eine sogenannte agglutierende Sprache (d.h. eine Sprache, die zur Ableitung undBeugung von Wörtern, Affixe an das unverändert bleibende Wort anfügt) und westliche Sprachen, auch Deutsch,sogenannte flektierende Sprachen ( d.h. eine Sprache, die die Beziehungen der Wörter im Satz zumeist durch Flexionder Wörter ausdrückt) sind, müssen die türkisch lernenden Menschen völlig umdenken.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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beten würde und meinte dann: „Gott sei Dank. Ich dachte, ich bin der Einzige in

diesem Raum, der das Wort „Inhiraf“ kennt“300. Erwähnenswert ist, daß diejenigen

Professoren, die nach Ende der dreijährigen Zeit noch immer nicht Türkisch

sprechen und auf Türkisch unterrichten konnten, keinerlei berufliche Konsequenzen

zu befürchten hatten; der Vertragstext war eher als Aufforderung zu verstehen als

eine Drohung. Von dieser Haltung der türkische Seite zeugen auch die Erinnerungen

von Cemil Birsel, dem damaligen Rektor der Istanbuler Universität: „Wilhelm Röpke

war schon über drei Jahre in Istanbul und konnte noch immer kein Wort Türkisch.

Seine Studenten beschwerten sich bei mir, daß sie Schwierigkeiten hatten, ihm zu

folgen. Er hatte zwar mit Muhlis Ete einen hervorragenden Übersetzer, aber seine

Themen waren zu komplex und forderten dadurch äußerste Aufnahmefähigkeit und

Konzentration301. Also rief ich den Professor zu mir und fragte ihn: „Warum geben Sie

sich nicht Mühe, in Türkisch zu unterrichten?“. „Was ich zu sagen habe, kann ich nur

in Deutsch ausdrücken. Ich kann auf Türkisch nur das aussprechen, was ich für den

Alltag brauche. Das reicht nie und nimmer für eine wissenschaftliche Sprache. Ich

bitte Sie, das so zu akzeptieren“. Ich sagte ihm, daß es wichtiger ist, daß er

unterrichtet, als daß er Türkisch spricht und habe dann weder ihn noch einen

anderen wegen dieser Problematik jemals wieder angesprochen“.

Die Isolation war an sich durch das Fehlen der Sprache zumindest am Anfang

vorprogrammiert. Aus dieser Situation heraus entstanden in Istanbul durch die

Initiative von Fritz Neumark informelle Begegnungen, die vor allem von den

Wirtschaftswissenschaftlern einerseits und den Medizinern andererseits am Leben

gehalten worden sind. Um der geistigen Isolation zu entgehen, gründeten einige

Wissenschaftler diese kleinen Privatakademien mit zwölf bis fünfzehn Mitgliedern der

eigenen Disziplin. Sie hatten jedoch keine Kontinuität und lösten sich in der Regel

nach einigen Treffen auf. Ein Grund für die Erfolglosigkeit solcher Initiativen unter

den Flüchtlingen war sicherlich, daß man unter den anderen Emigranten Beweise für

die Zusammenarbeit mit den deutschen Stellen zu haben glaubte. Befürchtungen,

die sich nach dem Krieg, wie Neumark betont302, in den meisten Fällen als

unzutreffend herausstellte. Ernst Engelberg, der 1940 als Dozent für Deutsch an der

299 Prof. Muvaffak Seyhan`ın Kimyacı Fritz Arndt ile ilgili sözleri, Sabah 14.05.1997 (Prof. Muvaffak Seyhan über denChemiker Fritz Arndt, Text übersetzt von mir).300 Adalet Partisi eski Milletvekili Ihsan Tombuş´un Neumark´la ilgili sözleri, Sabah 14.05.1997, (Ihsan Tombuş überNeumark, Text übersetzt von mir).301 Mehr über den Wirtschaftstheoretiker Wilhelm Röpke ab S.191 dieser Arbeit.302 Neumark, a.a.O., S. 26

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Universität Istanbul zu lehren anfing, wurde von der Gruppe um Kessler und

Neumark verdächtigt, als Agent für die Gestapo zu arbeiten. Dabei war Engelberg

“von der Wiege aus links und rot, niemals auf der falschen Seite. Als ich in Istanbul

ankam, kannte ich keinen und war auf die Freundschaft mit den ganzen anderen

Deutschen angewiesen. Als ich dann Neumark kennenlernte, habe ich auch davon

erzählt, daß ich erst 1934 promoviert hatte. Das war Grund genug für ihn und seine

Freunde, mich der Spionage zu bezichtigen. Es half nichts, daß ich von meiner

Parteimitgliedschaft303 und meiner Verhaftung durch die Gestapo erzählte; im

Gegenteil sie haben wohl gedacht, daß ich von der Gestapo zum Schein verhaftet

wurde, um die letzten Instruktionen für meine geheimdienstliche Arbeit zu

bekommen. So eine Stimmung des Mißtrauens herrschte damals. In den Jahren, die

ich in Istanbul verbrachte, war ich dann die ganze Zeit ziemlich isoliert. Man vermied

mich sozusagen”304. Fritz Neumark wiederum selbst war eine Zeit lang von den

Kollegen verdächtigt worden, weil er im Scurla-Bericht im Gegensatz zu anderen

Professoren nur kurz und nicht unbedingt negativ erwähnt wurde305.

Nach Neumark war ferner Curt Kosswig von den in Istanbul lebenden deutschen

Wissenschaftsemigraten zumindest argwöhnisch empfangen worden. Der Biologe

Kosswig war bis 1936 an der Technischen Hochschule Braunschweig als Professor

für Vererbungswissenschaften tätig und zugleich Mitglied der örtlichen SS. “Aufgrund

seines öffentlichen Eintretens für nonkonforme Kollegen, seiner kollegialen

Beziehung zu jüdischen Wissenschaftlern, seiner Kritik an den parteipolitisch

begründeten Berufungsverfahren und seines Einschreitens gegen Aktivitäten

nationalsozialistischer Studenten an der Universität”306 trat Kosswig aus der SS aus

und verlor auch seine Arbeitsstelle. Durch die Vermittlung des Biologen Alfred

Heilbronn übernahm er ab 1937 an der Istanbuler Universität den Lehrstuhl für die

Zoologie.

Neumark erzählte, daß gerade in der ersten Zeit nach der Ankunft von Kosswig unter

den Emigranten große Skepsis gegenüber seinen Emigrationszuständen geherrscht

hat. Im Gegensatz zu Engelberg konnte jedoch Kosswig die anderen von seiner

Person überzeugen und wurde einer der Mentoren des Emigrantenzirkels in Istanbul.

303 Ernst Engelberg hatte sich 1928 dem Kommunistischen Jugendverband angeschlossen und war seit 1930 Mitgliedder Kommunistischen Studentenbewegung und der Kommunistischen Partei Deutschlands.304 Interview mit Ernst Engelberg...305 „Den Lehrstuhl für Nationalökonomie hat seit 1933 der Nichtarier (Ehefrau ist arisch) Dr. Fritz Neumark inne,geboren 1900. Neumark war früher Professor an der Universität Frankfurt/M. “, Scurla-Bericht, a.a.O., S. 133.306 Vgl.:. Regine Erichsen, Die Emigration ...a.a.O., S. 76.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Nach dem Krieg lehrte er zwischen 1955 und 1969 in Hamburg, kehrte dann wieder

in die Türkei und wurde Lehrbeauftragter an der Universität Erzurum.

Wiederum von Neumark wurde im Winter 1934 ein privater Kreis von Musikern

gebildet, der aus musikalisch begabten Wissenschaftlern bestehen und sich zu

einem Kammerorchester bilden sollte. Zu dem Kreis gehörten neben Neumark, Ernst

Hirsch, Fritz Arndt und Erwin Freundlich. Der Kreis konnte sich jedoch nicht erweitern

bzw. etablieren und löste sich ein halbes Jahr später auf.

Einen Treffpunkt für die emigrierten und exilierten Deutschen bildete das Haus der

Familie Bauer aus Österreich. Herr Gert Bauer war seit den Zwanziger Jahren in

Istanbul ansässig und hatte durch Holzexport und Möbelimport ein großes Vermögen

gemacht. Obwohl er selbst nicht besonders gebildet war, brachte er zu

verschiedenen Anlässen als Gastgeber immer wieder deutsche und österreichische

Professoren in seinem großen Haus zusammen. Er war sehr großzügig und half

auch einigen Flüchtlingen mit Geld und Arbeitsmöglichkeiten.

Eine besondere und nicht mehr klar definierbare Rolle hat der deutsche Club

„Teutonia“ im Leben der deutschen Flüchtlinge gespielt. „Teutonia“ war 1847 von in

Istanbul ansässigen deutsch-böhmischen Glashändlern gegründet worden und

fungierte in den Folgejahren als Anlaufstelle für deutsche Wirtschaftsleute. In den

90er Jahren des 19. Jh. erwarben in Istanbul ansässige Mitglieder dieses Vereins ein

Haus im ehemaligen Ausländer- und Diplomatenviertel Pera. Die engen

wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zwischen dem Deutschen und

Osmanischen Reich hatten zur Folge, daß um die Jahrhundertwende zwei weitere

deutsche Vereine, nämlich „Alemannia“ und „Deutscher Ausflugsverein“, ins Leben

gerufen wurden. Während sich nach der Machtergreifung diese Vereine auflösten,

entwickelte sich „Teutonia“ zum Treffpunkt der sogenannten Reichsdeutschen in

Istanbul. An der Spitze des Vereins waren Bankdirektor Wietmann und Reederei-

Direktor Carsten Mewes zu finden. Beide waren zugleich in der Führung der

Istanbuler Ortsgruppe der Auslandsorganisation der NSDAP zu finden307.

Die Gesetzgebung der türkischen Republik verbot Ausländern die Bildung von

politischen Vereinen, doch kümmerte sich die „Teutonia“-Führung gerade in der

Anfangszeit anscheinend nicht viel um diese Auflage; so wurden unter Leitung des

Ortgruppenleiters der AO der NSDAP Hans Guckes Veranstaltungen der Partei im

307 Mewes, der die bedeutendste deutsche Orient- Reederei, die Deutsche Levantelinie, leitete, scheint überhaupteiner der aktivsten Naziagitatoren in Istanbul gewesen zu sein! Seinen Namen findet man auch im Schulvorstand derDeutschen Schule in Istanbul.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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Vereinshaus abgehalten, man hieß in den Räumen die üblichen Fahnen ein und trug

auch die üblichen Uniformen. Die türkische Polizei griff nicht ein, wie Botschafter

Keller berichtet308, bis das Deutsche Außenministerium diese Veranstaltungen im

Vereinshaus untersagte, um die türkischen Stellen nicht unnötig zu provozieren.

Genauso wurden dann Nazi-Propagandaveranstaltungen in Ankara und Izmir nur in

den Räumen der diplomatischen Vertretungen abgehalten309. Während in Istanbul

Propagandaveranstaltungen auch nur noch in den Räumen des Deutschen

Generalkonsulats abgehalten wurden, gab es in “Teutonia” weiterhin sogenannte

„Kraft durch Freude“-Veranstaltungen. Wie verschiedene Bilder in der „Türkischen

Post“ belegen, wurden zu diesen Anlässen, aber auch an normalen Abenden, die

Hakenkreuzfahnen gehißt, im Hauptsaal war ein riesiges Hakenkreuz als

Wandschmuck angebracht. Um so erstaunlicher finde ich es, daß Fritz Neumark,

Ernst Engelberg und auch Cornelius Bischoff mir gegenüber wiederholt und

unabhängig voneinander erzählt haben, daß „Teutonia“ auch Treffpunkt der

emigrierten Deutschen war! Wie konnte das sein? Wie konnten Nazis und

Antifaschisten, zumindest aus Deutschland vertriebene den gleichen Raum teilen, in

gleichen Gemäuern “Bridge spielen”, wie Neumark sich erinnerte? Wie konnten sie

“in der Bibliothek gemeinsam klassische Platten hören”, wie der Marxist Engelberg,

sich von den anderen distanzierend, über sie erzählte? Dabei war eigentlich der

Zugang zu sämtlichen Veranstaltungen und Abenden in diesen Räumen nach 1936

„nur Reichsdeutschen erlaubt“310. Aus Deutschland vertriebene Menschen teilten im

Ausland, in der sogenannten Emigration, ein - zweimal im Monat, manchmal öfter

den gleichen Raum mit ihren Vertreibern. Ein Phänomen der Fremdheit? Das Gefühl

der Nähe zur Heimat oder zumindest zu heimatlichen Verhältnissen? Neumark´s

Erinnerungen sind da zuverlässiger: ”Man hat die Räumlichkeiten nicht oft benutzt,

und wenn, dann darauf geachtet, daß die offiziellen Vertreter des „Dritten Reiches“

nicht da waren. Wenn sie auch dort erschienen, dann hat man versucht, sich

gegenseitig aus dem Weg zu gehen”. Als Neumark mir das erzählte, war ich noch

nicht in der „Teutonia“ gewesen. Jetzt kenne ich die Räumlichkeiten und ihre Größe,

kann aber leider Neumark nicht mehr fragen, wie “man” sich in diesen engen

Räumen aus dem Weg gegangen ist, weil Neumark nicht mehr lebt. „Teutonia“ bleibt

308 Keller an AA, Politisches Archiv des ...a.a.O., Pol. Türkei, Serie D, Nr. 600.309 Kroll an AA, Politisches Archiv des ...a.a.O., Türkei Serie E, Nr. 539.310 Als ein Beispiel : „Am 10. Januar findet in der Teutonia ein Eintopfessen mit anschließendem Filmabend statt. Zutrittnur für Reichsdeutsche“, Türkische Post, Istanbul 05.01.1943.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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ein unerklärbares Phänomen dieser Zeit. Heute werden die Räumlichkeiten von

„Teutonia“ von dem Deutschen Kulturinstitut / Goethe-Institut in Istanbul für deutsch-

türkische Kulturveranstaltungen und Begegnungen benutzt.

Ähnlich war die einzige deutsche Kneipe dieser Zeit in Istanbul „Fischer“ ein Ort, in

dem Deutsche beider Seiten zusammentrafen. Der Inhaber des Lokals Hans Fischer

war selbst 1926 als Handlungsreisender in die Türkei gekommen und hatte sich dann

in Istanbul niedergelassen. Er eröffnete in der Nähe von Pera eine Kneipe, die halb

in der Kellerebene war. Die Besonderheit der Kneipe war, daß hier, zu der Zeit

einzigartig in Istanbul, Faßbier ausgeschenkt wurde. Fischer ließ die Fässer aus

Ungarn oder Österreich über die Donau und das Schwarze Meer nach Istanbul

transportieren. Seine Kneipe war bis zu einer vorübergehenden Schließung in 1944,

einer der Treffpunkte der Diplomaten, Reisenden, Vertreter deutscher Firmen311,

Österreicher, deutscher Professoren und auch Spionen. „Da waren praktisch rechte

Deutsche, linke Deutsche, englische Matrosen und wer da gerade trank - alles unter

einem Dach“ erinnert sich Cornelius Bischoff312. Fischer hatte jedoch verboten,

politische Konflikte oder Auseinandersetzungen in die Kneipe zu tragen. Durch seine

Beziehungen zur türkischen Polizei gelang es Fischer, auch in der sogenannten

Kriegswirtschaft Bier aus dem Ausland einzuführen und damit seine Kundschaft bei

Laune zu halten. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen

Deutschland und der Türkei mußte die Kneipe jedoch für zwei Jahre geschlossen

bleiben. Nach dem Krieg zog Fischer in ein anderes Lokal um und führte sein

Geschäft weiter. Heute konkurrieren in Istanbul mindestens drei Lokale mit dem

gleichen Namen darum, Nachfolger von „Fischer“ zu sein.

Die Ankunft der Professoren wurde in den türkischen Zeitungen, wie schon erwähnt,

groß angekündigt, genauso wurde die Eröffnung der Istanbuler Universität als

Hauptnachricht behandelt; auch in diesem Zusammenhang wurden die deutschen

Wissenschaftler erwähnt. In der Folgezeit waren jedoch die deutschen

Wissenschaftler kein besonderes Thema der türkischen Zeitungen mehr. Artikel, die

sich mit den Lebensumständen der Flüchtlinge oder ihrer soziopolitischer Lage

beschäftigten, sind nicht fündig zumachen. Die Parteizeitungen „Cumhuriyet“ und

„Ulus“ berichteten hin und wieder über Erfolge der Wissenschaftler in der Forschung,

311 Neben Banken, Reedereien und Exporteuren hatten Firmen wie Krupp, Siemens, Orenstein & Koppel AEG,Carlowitz, IG Farben und der Chromabbauer Palucca in Istanbul Niederlassungen und versuchten vor allem an Waffen-und Munitionsgeschäften zu verdienen.312 Ich habe mit Cornelius Bischoff zwischen 1993 und 1996 zahlreiche Gespräche und Interviews geführt.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

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vor allem in der Medizin. So findet sich in „Ulus“ vom 20.04.1938 ein Gespräch mit

Curt Kosswig über die Fauna der Türkei. Mehrere Artikel in den beiden Zeitungen

beschäftigen sich mit der Problematik der Kindersterblichkeit; dazu ist u.a. in

„Cumhuriyet“ vom 05.06.1939 ein Artikel vom Professor Albert Eckstein über seine

einmonatige Reise durch Anatolien und seine Eindrücke im Zusammenhang mit der

Problematik zu lesen. Das Thema der deutschen Wissenschaftler kam noch einmal

im Frühjahr 1943 öfter in die Schlagzeilen. Der als extrem deutschfeindlich bekannte

Abgeordnete Fahri Kuruluş hielt im Türkischen Parlament eine Rede, in der er die

Regierung aufforderte, sämtliche Verträge mit den Wissenschaftlern unverzüglich

aufzulösen und sie außer Landes zu weisen. Er warf ihnen vor, sich auf Kosten der

Türken zu bereichern, kommunistische Ideen zu verbreiten und sich nicht genügend

der Forschung zu widmen313. Zeitungen griffen das Thema auf und begleiteten die

Diskussion über das Thema. Der Vertrag von Landsberger wurde über 1944 hinaus

nicht mehr verlängert und „er verließ unser Land nach so wichtiger Arbeit wegen

dieser Verleumdungskampagne so sehr gekränkt“314. Die Zeitschriften der türkischen

Rassisten und Panturanisten / Pantürkisten thematisierten auch die Lage der

deutschen Wissenschaftler. Nach Angaben von Türkkan war die einflußstärkste

pantürkische Publikation die Zeitschrift Bozkurt (Grauer Wolf). Bozkurt war in Mai

1939 als Monatszeitschrift gegründet wurden und erschien ab März 1942

wöchentlich. Die Themenpalette der Zeitschrift erstreckte sich von soziologischen

Auseinandersetzungen bis zu ideologischen Artikeln über das angestrebte

Großtürkische Reich315. Die Zeitschrift war betont deutschfreundlich, d.h. in diesem

Fall nazifreundlich, und brachte in mehreren Artikeln zum Ausdruck, daß die Türkei

an der Seite Deutschlands in den Krieg einziehen und die von den Russen

unterjochten türkischen Völker in Asien befreien sollte. So ist in einem Artikel mit der

Überschrift “Die türkische Rasse ist über alles” in der sechsten Ausgabe der

313 Der Abgeordnete warf namentlich Bruno Landsberger vor, russischer Agent zu sein. Verallgemeinernd sagte er, daßein Großteil der Wissenschaftler die Türkei finanziell ausbeuten, „das Land wie ein Kuhstall“ betrachten würden.Cumhuriyet, 16.04.1943.314 Gespräch mit Prof. Rauf Inan,...; mehr zu Landsberger ab Kapitel 3.1.3 dieser Arbeit.315 Die pantürkische bzw. türkisch-rassistische Bewegung verfügte zwischen 1939 und 1944 über mehrereZeitschriften, mit denen sie in der Öffentlichkeit vertreten war. Reha Oğuz Türkkan, einer der führenden Gestalten dieserBewegung und Inhaber von mehreren Publikationsorganen, schrieb in seinen 1950 erschienenen Memoiren (RehaOğuz Türkkan, Milliyetçilik Yolunda (Auf dem Weg des Nationalismus), 1950, S. 143ff.), daß die Bewegung bewußtkeine Zeitung herausgab, sondern sich auf Zeitschriften konzentriert hatte. Als Grund gibt er an, daß die türkischeRegierung eher Zeitungen mit großer Auflage zensierte und Zeitschriften einen größeren Freiraum in ihrerdemagogischen Berichterstattung zuließ. Über die Auflagenstärke der pantürkischen Zeitschriften, dadurch über ihrenWirkungskreis, läßt sich nicht genaues vermitteln. Denn bis in die Anfänge der 50er Jahren waren in der Türkeischriftliche Presseorgane nach dem Pressegesetz nicht verpflichtet, Angaben über ihre Auflagen zu machen.

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Zeitschrift zu lesen, daß “dieser Krieg unseren Kampfgeist entfachen sollte, damit wir

unsere verknechteten Brüder aus ihren Ketten befreien”316. In der gleichen Ausgabe

finden sich Artikel über die anti-sowjetische Haltung der Deutschen und die deutsch-

türkische Waffenbruderschaft während des Ersten Weltkrieges an der sogenannten

Kaukasischen Front. In der Ausgabe vom 05.03.1942 erschien ein Artikel unter der

Überschrift “Die Schwur des Grauen Wolfes”, wo die jüdische Minderheit in der

Türkei angegriffen wurde: ”Die Grauen Wölfe glauben daran, daß die türkische

Rasse viel höher als alle anderen Rassen und Nationen angesiedelt ist. Wenn heute

die Juden die Überlegenheit der türkischen Rasse nicht einsehen, werden sie

morgen das Fürchten lernen”317. In einem Leitartikel von einem der führenden

Pantürkisten der 30er und 40er Jahre, Nihal Adsız, wird, nach meiner Recherche, ein

einziges Mal direkt gegen die Emigranten Stellung gezogen. Darin wurde die

türkische Regierung aufgefordert, “diejenigen Ausländer in der Türkei, die die

natürlichen Feinde der Türken sind, also Kommunisten, Juden und alle anderen

„Speichellecker“ aus unserem Land zu entfernen”318. Ich möchte jedoch an dieser

Stelle betonen, daß man diese Zeitschriften bzw. die als Beispiel angegebenen

Artikel nicht überbewerten sollte. Zum einem ist unklar, wie verbreitet diese

Zeitschriften tatsächlich waren und zugleich wie groß ihre Leserzahl war319;gleichzeitig ist die Aussage zulässig, daß die Ausländerfrage, so auch die

Situation der Emigranten, für die türkischen Faschisten nicht primäre Gewichtung

hatte. Ähnlich wie in Italien fanden antisemitische Parolen auch in der türkischen

Bevölkerung lange Zeit kaum Gehör320, imperialistische, d.h. in diesem Fall auf die

Errichtung eines türkischen Reiches ausgerichtete Pläne und Parolen waren

populärer und wurden auch unter der intellektuellen Schicht offen diskutiert. Das

Erscheinen der pantürkischen Zeitschriften wurde parallel zur vorübergehenden

Zerschlagung der turanistischen Bewegung im Mai 1944 verboten.

316 Bozkurt, Nr. 10/ 1939.317 “Bozkurt und Imanı”, (Der Glaube des Grauen Wolfes), Bozkurt Nr. 3/1942.318 Ebenda, 5/1942.319 Die einzige Untersuchung über die Auflagen der Zeitungen in der Türkei der 30er und 40er Jahre und ihreLeserschaft stammt vom englischen Royal Institute of International Relations. Demnach wurden 1943 in der Türkei 11Tageszeitungen mit insgesamt 95.000 Auflage vertrieben. Daß diese Angaben unvollständig und deshalb auchungenügend sind, beweist, daß nur ein Teil der in Istanbul und Ankara erscheinenden Zeitungen berücksichtigt undandere Zeitungen und Zeitschriften gar nicht mitgerechnet worden sind. Detaillierter in: Bülent Özükan, Basında Tirajlar(Auflagenhöhe der Presse), Istanbul 1975, S. 229.320 Auch über die Lage der Juden in Italien und die nach 1938 von Deutschland erzwungene antisemitische PolitikItaliens in: Zuflucht auf Widerruf, Hrsg. v. Klaus Voigt, Berlin 1995, S. 49 ff.

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Auf der anderen Seite versuchte Deutschland, über eigene Presseorgane die

türkische Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Allerdings muß man hier klar

feststellen, daß erstaunlicherweise in diesen Medien gegen die emigrierten und

exilierten Deutschen kaum polemisiert wurde. Nach Angaben von Arsenian321

finanzierte das Reichspropagandaministerium in Berlin nach 1933 in der Türkei

mindestens fünf Zeitungen und Zeitschriften322. “Beyoğlu” (Name des Istanbuler

Viertels mit hohem Ausländeranteil) und “Istanbul” waren monatliche Zeitschriften,

die auf französisch erschienen und sich an die türkischen Intellektuellen als

Zielgruppe richteten. “Yeni Dünya” erschien auch als Monatszeitschrift, war aber auf

türkisch und hatte eher den Charakter einer Illustrierten. “Signal” wurde wie in

anderen europäischen Ländern auch in der Türkei und zwar auch auf türkisch

vertrieben. Es gab zwei reichstreue deutsche Buchhandlungen „Johann Beyer

Buchhandlung“ und „Kapps“, die Zeitungen, Zeitschriften und Literatur aus

Deutschland vertrieben. Das wichtigste Propagandaorgan war jedoch die täglich in

Istanbul erscheinende “Türkische Post”. Die Zeitung wurde nach der

Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und der

Türkei323 durch den ersten deutschen Botschafter Rudolph Nadolny324 gegründet und

nach der Machtergreifung gleichgeschaltet. Verantwortlicher Redakteur der Zeitung

wurde der ehemalige Befehlshaber des Ersten Türkischen Armeecorps Ali Ihsan

Pascha; Ali Ihsan Pascha war schon seit den 20er Jahren für seine

faschistenfreundliche und gleichzeitig pantürkische Haltung bekannt. Yalman

schreibt, daß die Presseabteilung der Reichsregierung durch die Ernennung von Ali

Ihsan Pascha seine Kontakte zur türkischen Armeeführung für eigene Zwecke

ausnutzen wollte325. Über den direkten Einfluß von Ali Ihsan Pascha zu dieser und zu

späterer Zeit lassen sich kaum Quellen finden. Die Presseabteilung der

Reichsregierung berichtet aber schon am 24. April 1933, daß die Türkische Post

“sehr ersprießliche, aufklärende und werbende Arbeit” leistet326.

321 Seth Arsenian, Wartime Propaganda in the Middle East, London 1948, S. 425 ff.322 Arsenian bemerkt, daß deutsche Diplomaten türkische Journalisten bestochen haben, damit sie in ihren Artikelndeutschfreundliche und alliertenfeindliche Meinungen publizierten. Ebenda.323 Der dazu notwendige Deutsch -Türkische Freundschaftsvertrag wurde am 3.3.1924 in Ankara unterzeichnet. DerBotschafteraustausch fand am 8.5.1924 statt.324 Rudolph Nadolny blieb bis 1933 in der Türkei, wurde dann für neun Monate Botschafter in Moskau, quittierte aberwegen Differenzen zu Hitler´s Rußlandpolitik seinen Dienst und ging frühzeitig in die Rente. Nadolny berichtet auch überseine Zeit in der Türkei in seinen Erinnerungen; Rudolph Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955.325 Emin Yalman, a.a.O., S. 371.326 Zitiert nach: Glasneck, a.a.O., S. 11

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Die Türkische Post, deren Auflage 800 betrug und 5 Kuruş kostete, wie auch die

anderen nationalsozialistischen Zeitungen, konnten übrigens bis zum endgültigen

Bruch zwischen Deutschland und der Türkei ihr Erscheinen fortsetzen und wurden

erst am 03. August 1944 verboten. Auffallend und zugleich merkwürdig ist, daß die

“Türkische Post” die deutschen Flüchtlinge in der Türkei in den ganzen Jahren

definitiv nicht angegriffen oder negativ über sie berichtet hat. In den wenigen Artikeln,

die in diesem Zusammenhang erschienen sind, ist eher eine Zurückhaltung, wenn

nicht sogar ein zumindest äußerliches Desinteresse zu spüren. So berichtet die

Zeitung am 27.10.1933 über die bevorstehende Neueröffnung der Istanbuler

Universität und bemerkt, daß von den 180 Lehrkräften 42 ausländischer Herkunft

sind, “darunter viele namhafte deutsche Wissenschaftler”327. Ausführlichere Artikel

widmet die Zeitung in diesem Zusammenhang den Türkeiaufenthalten von Dr.

Löffler328 vom Württembergischen Kultusministerium und Dr. Scurla329 vom

Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. So ist in der

Ausgabe vom 24.07.1935 zu lesen, daß der Ministerialrat Dr. Löffler eine positive

Bilanz seiner Reise zieht und die deutsch-türkischen Beziehungen als besonders gut

bewertet. Ohne zwischen den emigrierten und offiziell entsandten Professoren zu

differenzieren, wird Löffler mit den Worten zitiert, daß “die zahlreichen Professoren,

die an den Hochschulen in Istanbul und Ankara lesen, (…) sich nach meiner Meinung

überall günstig auswirken, so daß der geistige und wirtschaftliche Einfluß

Deutschlands in der Türkei im Wachsen ist”330.

Von der Seite der Emigranten gab es keine Bestrebungen, eine eigene Zeitung

herauszugeben. Nach der Aussage von Neumark begnügte man sich mit dem

Zeitungsangebot der Deutschen Buchhandlung „Tünel“ in Istanbul. Die

Buchhandlung, die damals „Tünel Kitap Evi“ hieß331, war ein wichtiger Treffpunkt der

deutschen Wissenschaftler und der anderen Flüchtlinge. Hier durften die „offiziellen“

Deutschen einfach nicht hinein und so waren die „anderen“ Deutschen definitiv unter 327 Türkische Post, 27.10.1933.328 Dr. Löffler war vom Auswärtigen Amt beauftragt worden, durch eine Inspektion die Propaganda-tätigkeit derdeutschen Stellen in der Türkei zu beurteilen. Während seines Aufenthaltes in Ankara und Istanbul zwischen dem 10.und 23. Juli 1935 besuchte er auch Fakultäten und Universitäre Einrichtungen, an denen emigrierte Professoren tätigwaren.329 Oberregierungsrat Dr. Herbert Scurla hielt sich zuerst für kurze Zeit in 1937 und dann zwischen 11. und 25. Mai1939 in der Türkei auf. Mehr über Scurla ab S. 94 dieser Arbeit.330 Türkische Post, 23.7.1935.

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sich. Der Inhaber des Ladens Anton Karon war österreichisch-ungarischer Jude und

lebte in zweiter Generation in Istanbul. Sein Büchersortiment umfaßte auch die in

Deutschland verbotenen oder verbrannten Werke. „Viele Flüchtlinge, die nach

Istanbul kamen, fanden dort die Bücher, die es in Deutschland längst nicht mehr in

den Regalen gab“332. Herr Karon konnte durch seine Beziehungen zu

Widerstandsgruppen im Ausland auch die sogenannte Exilpresse in Istanbul

anbieten, so: „Neuer Vorwärts“, „Internationale Literatur/Deutsche Blätter“, „Die Neue

Weltbühne“ und „Das Andere Deutschland“333 . Zusätzlich waren jedoch in seinem

Laden Zeitungen aus dem nationalsozialistischen Deutschland wie „Völkischer

Beobachter“ und „Stürmer“ zu kaufen. Die Buchhandlung hatte daneben auch

regelmäßig einige Zeitungen und Zeitschriften der Exilpublizistik im Angebot. Zur

Verdeutlichung des Pluralismus der Exilpublizistik möchte ich betonen, daß zwischen

1933 und 1945 in insgesamt 30 Asylländern 436 Zeitschriften, Zeitungen,

Pressedienste und Rundbriefe erschienen334. Nach Aussage von Neumark war die

Anzahl interessierter deutscher Leser zu gering, um in Istanbul eine eigene

Exilzeitung- oder zeitschrift herauszugeben.

Nach dem Bruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland im Herbst 1944

entstand eine weitere problematische Situation: auf Druck der neuen, endgültigen

Alliierten der Türkei, England und die USA, beschloß die türkische Regierung alle

beim türkischen Staat angestellten deutschen Experten zu entlassen. Neben den

Experten waren auch Lehrer der deutschen und österreichischen Realoberschulen,

Geistliche, Ärzte, Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Instituts,

Filialmitarbeiter der deutschen Banken und anderer Unternehmen direkt von den

Maßnahmen betroffen; sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder die Türkei binnen

kürzester Zeit zu verlassen oder interniert zu werden. Diese rigorosen Maßnahmen

galten jedoch in der Regel nicht für die emigrierten Professoren oder für die

Deutschen, die in ihren Pässen ausdrücklich als Juden gekennzeichnet waren. Hier

331 „Tünel“ ist die einzige,1885 von Franzosen gebaute ca. 800 m lange Untergrundbahnstrecke in Istanbul. Sie sollteden unten liegenden Hafen „Karaköy“ mit dem auf einem Hügel liegenden Stadtviertel Pera verbinden. DieBuchhandlung lag in direkter Nachbarschaft zum oberen Ausgang der Strecke und wurde deshalb auch danachgenannt.332 Interview mit Ernst Engelberg...333 Robert Anhegger kann sich daran erinnern, daß “diese Zeitschriften, auf die wir mit Ungeduld warteten, nursporadisch ankamen. Vielleicht lag es an der Entfernung der Türkei, vielleicht an den allgemeinen Verhältnissen.Jedenfalls verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft neuer Zeitungen wie Strohfeuer und alle trafen sich in Tünelund verschlangen die Zeitungen”. Gespräch mit Robert Anhegger, Istanbul 21.05.1994.334 Angela Huß-Michel gibt in ihrem Buch “Literarische und Politische Zeitschriften des Exils 1933-1945”, Stuttgart1987, einen umfassenden Abriß über die wichtigen und repräsentativen Blätter der Exilpresse.

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zeigt sich wieder einmal die Absurdität der Ereignisse dieser Zeit. Viele jüdische

Deutsche mußten 1938 sich gefälschte Pässe oder Geburtsurkunden besorgen und

sich als Christen ausgeben, um überhaupt in die Türkei einreisen zu können. Jetzt,

also 1944, wurden die interniert, die kein “J” in ihrem Paß trugen335. Ich konnte eine

der Augenzeugen dieses Ereignisses, d.h. in ihrem Fall konkret der Internierung,

ausmachen; es handelt sich um eine Barmherzige Schwester der Mädchenschule St.

Georg in Istanbul, Schwester Rosalia Schliecher. Schwester Rosalia kam 1939 nach

Istanbul; am 14. August 1944 wurde ihr, genauso wie den anderen Schwestern,

Brüdern und Priestern des Kollegs mitgeteilt, daß sie in ihre Heimat zurückkehren

sollten oder in ein Internierungslager in Zentralanatolien gebracht wurden. Ermuntert

durch den Delegaten in Istanbul Monsignori Giuseppe Roncalli, den späteren Papst

Johannes XXlll., entschlossen sich fast alle, d.h. über 60 österreichische Geistliche,

sich internieren zu lassen. Sie blieben, verteilt in drei Lager in Çorum, Kırşehir und

Yozgat, bis zum 26.12.1945 interniert und versorgten die Kranken, unterrichteten die

Kinder der anderen Internierten und hielten mit ihnen Gottesdienste ab. Schwester

Rosalia´s Erzählungen sind nach meiner Recherche in diesem Zusammenhang nicht

nur einmalig, sondern geben einen aufschlußreichen Einblick zu den

Internierungsbedingungen; deshalb gebe ich sie an dieser Stelle zusammengefaßt

wieder: “Wir fuhren am 23. August 1944 von Istanbul weg. Nach fast zwei Tagen

kamen wir ans Ziel, in einem vollgestopften Auto langten wir in der Nacht in Yozgat

an. Der Gouverneur begrüßte uns in seinem Salon als Gäste…Am nächsten Tag

wurden wir in ein ziemlich großes, aber leeres Haus geführt, mit schönem Garten, mit

Wasser in der Nähe - eine Seltenheit hier. Anfangs hatten wir weder Tisch noch

Bank, wir saßen buchstäblich auf dem Boden, schliefen auf der Erde, aßen nur Reste

vom übriggebliebenen Reiseproviant. Erst nach und nach haben wir uns dort

einrichten können, schafften uns das notwendige Mobiliar an. Wir mußten die

meisten Sachen selbst bezahlen oder zimmerten sie uns aus einfachen Brettern. Wir

kochten für die Anderen, ob reich oder arm - Arme wurden gratis versorgt, Reiche

gegen Bezahlung. In unserem Haus waren ungefähr 50 Leute. Wir übernahmen auch

die Wäsche, teils gegen Entgelt, teils umsonst. Die Schwestern hielten Schule für die

einzelnen Schulstufen; in unserem Haus fanden auch Sprachkurse für Erwachsene

statt...Jeden Sonntag schöner Gottesdienst mit Predigt und Gesang…Das Schwerste

war das gänzliche Abgeschlossensein von allem. Schon nach einigen Tagen wurde

335 Mehr über die jüdische Flucht ab Kapitel 5.1 dieser Arbeit.

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

127

uns der Postverkehr verboten…Wenn man miteinander sprach, dann ging es immer

wieder um den Ausgang des Krieges, die Not und das Schicksal der Heimat und um

die Frage, was uns die Zukunft bringen wird. Es gab Gerüchte, daß die Türkei die

Deutschen an Rußland ausliefern wollte. Man zitterte und bangte bis zu unserer

überraschenden Entlassung am 28.12.1945.”

Die österreichische Oberschule, wo sie tätig war, konnte den Lehrbetrieb erst im

Herbst 1947 wieder aufnehmen. Schwester Rosalia blieb in Istanbul, um die Arbeit

am St. Georgwerk fortzusetzen und ihre Dienste den Menschen in der Türkei

weiterhin zur Verfügung zu stellen und verstarb dort 1995336.

336 Gespräch mit Schwester Rosalia....

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Glück im UnglückDeutsche Wissenschaftler als Flüchtlinge in der Türkei

128

Iphigenie: “ Kann uns zum Vaterland die Fremde werden? ”

Arkas: “ Und Dir ist fremd das Vaterland geworden “

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 129

Drittes Kapitel

1 Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge alsWissenschaftler und Experten in türkischenUniversitäten und Institutionen

1.1 Einführung

Die deutschen Wissenschaftler, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten

in Deutschland in die Türkei kamen und dort an den reformierten universitären

Einrichtungen eingestellt wurden, waren nicht gleichmäßig auf eine bestimmte

Fakultät oder einen Fachbereich verteilt. Gleichzeitig arbeiteten die meisten von

ihnen in Istanbul, in Ankara waren es eher sogenannte Fachexperten, die für

verschiedene Ministerien oder staatliche Institutionen Beratertätigkeiten übernahmen.

Dabei ist jedoch nach meiner Meinung darauf hinzuweisen, daß die deutschen

Wissenschaftler in der Türkei weniger aufgrund ihrer Anzahl oder fachlicher

Konzentration bemerkenswert sind. Ihre Besonderheit resultiert durch eine nicht mit

den anderen Flucht- und Exilländern vergleichbare Ausgangssituation. So konnten

deutsche Wissenschaftler, die etwa nach England oder den Vereinigten Staaten

flüchteten, dort auf existierende und gut funktionierende universitäre Einrichtungen

treffen. In der Türkei mußten sie jedoch in Istanbul und Ankara den Betrieb der

Universität in ihren Fachbereichen ganz neu gestalten. In diesem Abschnitt geht es

darum, Fachbereiche und die deutschen Wissenschaftler, die in diesen Disziplinen

tätig waren, näher zu untersuchen. Die Auswahl der Disziplinen und der deutschen

Wissenschaftler ist jedoch nicht einer kompletten Liste aller nach 1933 in der Türkei

lehrenden oder tätigen deutschen Wissenschaftler entsprechend.

Ich habe versucht, diejenigen Namen besonders zu berücksichtigen, die nach meiner

Recherche für ihre Bereiche ausschlaggebend waren und das Wissenschaftsfeld

bereichert haben - sie stehen stellvertretend für die anderen. Ich möchte an dieser

Stelle noch einmal darauf hinweisen, daß eine vollständige Bio-Bibliographie der

nach 1933 in die Türkei geflüchteten deutschen Wissenschaftler in alphabetischer

Reihenfolge bei Widmann zu lesen ist1.

1 Horst Widmann, a.a.O., ab Seite 252.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 130

1.2 Disziplinen und Lebensläufe

1.2.1 Philosophie

Die Philosophie war an der Istanbuler Universität durch mehrere herausragende

Namen vertreten; neben Erich Auerbach, Leo Spitzer und Richard von Mises hatte

Hans Reichenbach maßgeblichen Einfluß auf die Ausgestaltung der Philosophischen

Fakultät. Zugleich hatte Philosophie als wissenschaftliche Disziplin die größten

Schwierigkeiten von den türkischen Studenten angenommen zu werden. Der

entscheidende Grund dafür war, daß in der vorangegangenen ’Darülfünun’ die

Tradition der Philosophie im westlichen Sinne nicht unterrichtet wurde2. Es gab keine

intensive wissenschaftliche Rezeption des westlichen Gedankenguts. Wenn

Philosophie, wie das griechische Wort meint, die Liebe zur Weisheit darstellen soll,

oder den Weg dorthin, war (und ist) sie für den Islam durch den Koran überflüssig;

der Koran beinhaltet nämlich nach islamischen Grundsätzen die volle und endgültige

Weisheit3. In den „Medresen“ der vorangegangenen Jahrhunderte und der

„Darülfünun“ wurde Philosophie deshalb als der Versuch verstanden, die

Grundgedanken des Korans, von der Allmacht Gottes und der Endlichkeit alles

Lebendigen, wiederzugeben. Das Denken war von religiösen Grundgedanken

bestimmt, Philosophie diente der Rechtfertigung der Theologie. Die ’Philosophische

Fakultät’4 innerhalb der neuen Istanbuler Universität bildete deshalb ein Novum. Das

Institut hatte neben dem Institut für Philosophie weitere Institute für Archäologie,

Asiatische Ursprachen, Geschichte, Geographie, Klassische Philologie, Orientalistik,

Pädagogik, Romanistik und Turkologie. Später wurden auch Institute für Anglistik und

Germanistik in die Fakultät eingegliedert. Unter den Lehrkräften der Fakultät waren 2 Hilmi Ziya Ülken bezeichnet deshalb Schriften und Gedanken von türkischen Philosophen am Ende des 19.Jahrhunderts als “autodidaktische Gehversuche” und weist daraufhin, daß “moderne Philosophie erst nach 1933 ihrenWeg in die Türkei gefunden hat”, Vgl.: Hilmi Ziya Ülken, Türkiye´de Çağdaş Düşünce Tarihi (Geschichte deszeitgenössischen Denkens in der Türkei), Istanbul 1992, S. 364 f.. Das Buch von Ülken gilt, obwohl die erste Auflage auf1966 datiert ist, als das Standardwerk über die Entwicklung der Philosophie in der Türkei. Es ist jedoch anzumerken,daß mehrere Studenten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich in Paris oder Berlin ausgebildet haben.3 Mit diesem Thema beschäftigen sich u.a.: Rudolf Frieling, Christentum und Islam, Frankfurt 1981, besonders ab S. 86;Mustapha Fakhry, A history of Islamic philosophy, New York 1983.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 131

im ersten Semester insgesamt zehn deutschsprachige Professoren, von denen

jedoch nur sieben als Emigranten zu bezeichnen sind, während die drei anderen

schon früher in Istanbul lebten bzw. offiziell aus Deutschland geschickt wurden. In

den Instituten für Geschichte, Geographie und Turkologie waren nur türkische

Lehrkräfte vertreten.

Unter den Lehrkörpern der ’Philosophischen Fakultät’ galt Hans Reichenbach als

“ein zweiter Bernhard Russell”5 und war hoch angesehen. Reichenbach war bis zur

Machtergreifung der Nationalsozialisten einer der wichtigsten Vertreter des logischen

Empirismus, zu dessen Verbreitung in Deutschland er maßgeblich beitrug6.In den

Zwanziger Jahren hatte er sich auch mit Kants Lehre und der Fragestellung von

Raum und Zeit beschäftigt7. Hans Reichenbach verlor wegen seiner früheren

Zugehörigkeit zu sozialistischen Gruppen 1933 seine Professorenstelle für

Naturphilosophie und Physik an der Berliner Universität8 und wurde im gleichen Jahr

durch die Vermittlung der ’Notgemeinschaft’ als Professor für Philosophie und

Mathematik in die Türkei eingeladen. Er kam mit seiner Frau und zwei Kindern und

lebte während der Istanbuler Jahre im gleichen Haus wie Fritz Neumark. Beide

gehörten zu den Initiatoren von wissenschaftlichen Kolloquien und organisierten

1935 und 1936 Skifahrten für mehrere deutsche Emigranten nach Uludağ9.

In seinen Seminaren und Vorlesungen behandelte er das Thema des logischen

Denkens, wobei er die Denkinhalte nach ihrer Form und ihren Beziehungen

zueinander betrachtete. Seine Darstellungen wurden jedoch von den Studenten nicht

genügend verstanden10, aber um so mehr interessierten sich seine Assistenten und

andere türkische Lehrkräfte für seine Theorien. Ob der Grund für die fehlende

4 Der Begriff „Philosophisch“ stimmt nicht mit dem türkischen Namen der Fakultät “Edebiyat” überein, “Edebiyat” meintim Türkischen eigentlich Literaturwissenschaft, wird aber auch als Geisteswissenschaft verstanden. Die gängigeÜbersetzung für “Edebiyat Fakultesi” ist jedoch Philosophische Fakultät. Vgl.: u.a. Langenscheidts Taschenwörterbuch,Türkisch-Deutsch, Berlin 1982, S. 128; Horst Widmann, a.a.O., S. 100.5 Rudolf Nissen, a.a.O., S. 216.6 Siehe zu Einzelheiten über das Wirken von Reichenbach in der Weimarer Republik: Hans Reichenbach, GesammelteWerke, Hrsg. v. A. Kamlah, Berlin 1977.7 Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin 1928.8 Siehe für Einzelheiten seiner Biographie Herbert A. Strauss (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigenEmigration nach 1939,3 Bände, München 1980, Bd. II, S. 951.9 Uludağ ist ein 3000er Berg auf der südlichen Seite des Marmara-Meeres oberhalb der Stadt Bursa. Obwohl Bursa alsKurort bekannt war, galt Wintersport bis in die Mitte der 30er Jahre in der Türkei als praktisch völlig unbekannt. Neumarkund Reichenbach, die beide begeisterte Skifahrer waren, entdeckten diesen Berg als Winterort und können deshalb als“Väter” des Ski- und Wintersports in der Türkei bezeichnet werden. Uludağ gilt inzwischen als St. Moritz der türkischenNeureichen.10 Hilmi Ziya Ülken, a.a.O., S. 464.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 132

Kommunikation zwischen ihm und den Studenten auch daran lag, daß er die

Vorlesungen nicht auf Türkisch abhalten konnte und auf die Übersetzung seiner

Assistenten Macit Gökberk und Vehpi Eralp angewiesen war, muß eher bezweifelt

werden. Es gab genug andere Professoren, die auch nicht in Türkisch unterrichteten,

jedoch trotzdem verstanden wurden. Es ist eher anzunehmen, daß die Logische

Theorie an sich inhaltlich viele Studenten überforderte; für viele galt, daß sie sich

zuerst überhaupt philosophische Grundkenntnisse aneignen mußten, bevor sie sich

in einzelne Kategorien vertiefen konnten. “Der Gewinn seiner Vorlesungen war

vielleicht für die Professoren größer als für die Studenten” bemerkt dazu Rudolf

Nissen11. Reichenbach nahm 1938 einen Ruf nach Los Angeles an und verließ mit

seiner Familie, als einer der ersten Emigranten aus der ersten Professorengruppe,

die Türkei. Reichenbach hat in der Türkei keine neuen wissenschaftlichen

Publikationen veröffentlicht12; Ülken berichtet aber, daß Reichenbach sein Hauptwerk

“Experience and Pretection”, das ein Jahr nach seiner Ankunft in den Vereinigten

Staaten erschien, in Istanbul geschrieben hat13. Reichenbach verstarb als

amerikanischer Staatsbürger 1953 in Los Angeles.

Auch ein zweiter Ordinarius der Philosophie einer deutschen Universität, Professor

Ernst von Aster, lehrte an der philosophischen Fakultät. Der 1880 geborene Aster

hatte in Berlin Naturwissenschaften und Mathematik studiert, dann in München mit

seinen “Untersuchungen über den logischen Gehalt des Kausalgesetzes” 1905

habilitiert; er war seit 1920 Professor an der Universität Gießen. Nach der

Machtergreifung wurde er wegen seiner SPD-Mitgliedschaft entlassen und emigrierte

zuerst nach Schweden. Durch die Initiative seines ehemaligen Schülers Reichenbach

wurde er dann 1936 nach Istanbul berufen. Er lebte anschließend mit seiner

schwedischen Frau, die selbst Schriftstellerin war, bis zu seinem Tode im Jahre 1948

in Istanbul14 und lehrte Philosophiegeschichte, Systematische Philosophie und

Rechtsphilosophie. Aster veröffentlichte im Laufe der 40er Jahre drei Lehrbücher u.a.

über die Philosophie des Altertums und des Mittelalters und die

11 Rudolf Nissen, a.a.O., S. 216.12 Seine “Wahrscheinlichkeitslehre” von Nusret Hızır ins Türkische übersetzt, (Ihtimaliyet Teorisi, Istanbul 1936).13 Hilmi Ziya Ülken, a.a.O., S. 465.14 Verstorben ist er allerdings während einer Vortragsreise in Schweden.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 133

Wissenschaftstheorie15. Er war im Gegensatz zu Reichenbach für Studenten

zugänglicher und auch in seinen theoretischen Diskursen verständlicher16. Aster

zeichnete sich durch die Klarheit und Anschaulichkeit seiner Darstellungen aus und

war dadurch “einer der erfolgreichsten, vielleicht der erfolgreichste Vortragende unter

den ausländischen Professoren der Istanbuler Universität”17. Trotzdem schätzt Ülken

Asters Einfluß auf die türkische Philosophie eher als gering ein18. Ich möchte jedoch

darauf hinweisen, daß Aster der Begründer der türkischsprachigen

Philosophiezeitschrift “Felsefe Arkivi” (Archiv der Philosophie) war und auch im

wissenschaftlichen Nachwuchsbereich seine Spuren hinterließ. “Felsefe Arkivi” galt

bis in die 70er Jahre als die führende philosophische Fachzeitschrift; sie enthielt

Beiträge aus den Forschungsgebieten der Philosophie, Soziologie, Pädagogik und

Rechts- und Geschichtswissenschaft. Ein Hauptmerkmal der “Felsefe Arkivi” war,

daß sie vorrangig türkischen Autoren ein Forum gab und übersetzte Texte nicht

veröffentlichte19. Asters Einfluß auf zumindest einen seiner Schüler sollte auch betont

werden: Macit Gökberk. Gökberk hatte 1939 in Berlin bei Eduard Spranger über den

“Begriff der Gesellschaft bei Hegel und Comte” promoviert; nach seiner Rückkehr

wurde er Asters Assistent und auch Übersetzer20. Während der gemeinsamen Zeit

an der philosophischen Fakultät setzten sich Aster und Gökberk auch mit der

kritischen Opposition gegen die Metaphysik des deutschen Idealismus auseinander,

haben jedoch dazu nichts publiziert. Nach Asters Tod beschäftigte sich Gökberk

hauptsächlich mit den deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts und dem

Positivismus. Logik und Erkenntnistheorie standen aber auch im Mittelpunkt seines

philosophischen Interesses. Gökberk übernahm 1949 Asters Lehrstuhl für

Philosophie und die Leitung der Fakultät, dessen Dekan er dann in den 60er Jahren

15 Ernst von Aster, Felsefe Tarihi Dersleri I - Ilk ve Ortaçağ Felsefesi (Vorlesungen über Philosophiegeschichte desAltertums und des Mittelalters), Istanbul 1943, Hukuk Felsefesi Dersleri (Vorlesungen über Rechtsphilosophie), Istanbul1943, Bilgi Teorisi ve Mantık (Wissenschaftstheorie und Logik), Istanbul 1945.16 Vgl. dazu : Hilmi Ziya Ülken, a.a.O., S. 466.17 Wilhelm Peters, Erinnerungen an Ernst von Aster, In: Felsefe Arkivi, Bd. II, 3/1949, Istanbul. Die philosophischeZeitschrift “Felsefe Arkivi” (Philosophisches Archiv) gab für Aster eine Sondernummer ein Jahr nach seinem Tod heraus.18 Hilmi Ziya Ülken, a.a.O., S. 466.19 Als ein Beispiel unter vielen kann erwähnt werden, daß die Zeitschrift in den 50er Jahren die existentialistischePhilosophiediskussion mit eigenen Texten kommentierte und auf Übersetzungen etwa von Sartre oder Heideggerverzichtete; es gab nämlich andere Zeitschriften wie “Araştırmalar” (Untersuchungen) und “Mülkiye” (Verwaltung), diesich auf Übersetzungen von philosophischen Texten aus westlichen Ländern spezialisiert hatten. Vgl.: Ebenda. S.489.20 Gökberk übersetzte “Wissenschaftstheorie und Logik” und “Philosophie des Altertums und des Mittelalters” von Asterins Türkische.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 134

wurde. Gökberk gilt, trotz einiger Kontroversen um seine Person21, auch nach

seinem Tod als einer der wichtigsten und stilprägensten türkischen Philosophielehrer.

Besonders “erfahren und angesehen”22 war Richard E. von Mises. Obwohl er in

Istanbul am Institut für Mathematik23 lehrte, kooperierte er auch mit der

philosophischen Fakultät. Der in Galizien geborene Mises hatte an der Strassburger

Universität, an der er seit 1909 lehrte, zum ersten Mal überhaupt Seminare über

’Strömungslehre im Zusammenhang mit Flugzeugbau’ gegeben und galt als Pionier

auf dem Gebiet der Flugtechnik und des Flugmotorenbaus. Zwischen 1920 und 1933

war er an der Universität in Berlin Professor für Mathematik und Direktor des Instituts

für Angewandte Mathematik. Er gehörte zu den Berliner Anhängern des “Wiener

Kreises”24 und beschäftigte sich auch mit Wissenschaftslogik und

Grundlagenforschung. Er verlor 1933 seinen Lehrstuhl und die Direktorenstelle in

Berlin wegen seiner jüdischen Herkunft und wurde im gleichen Jahr als Professor für

Mathematik an die Universität Istanbul berufen. Er war für Neumark “eine der

hervorragendsten Persönlichkeiten nicht nur in seinem Fachkreis, sondern im

Gesamtkreis der deutschsprachigen Emigranten”25. Richard von Mises wurde zum

Leiter des Instituts für Mathematik ernannt, mußte jedoch die Stelle mit dem

türkischen Mathematiker Erim Kerim teilen. Kerim hatte bei Einstein promoviert und

galt als Verfechter der Relativitätstheorie. Ülken weist darauf hin, daß Erim und

Mises, trotz verschiedener Auffassungen wegen der Relativitätstheorie, miteinander

sehr gut auskamen und die Beziehung auch nach der Weiteremigration von Mises

anhielt26. Auch Reichenbach arbeitete während seiner Jahre in Istanbul sehr eng mit

Mises; Studenten des Philosophischen Institutes konnten, nach Empfehlung von

Reichenbach, zum Erwerb der Grundkenntnisse der Logistik die Vorlesungen von 21 Wegen seiner Vorliebe für das Denken und Werk von Nietzsche wurde er eine Zeit lang von linken Kritikern als“deutschfreundlicher Schädeltheoretiker” verurteilt, also in anderen Worten als “Rassist”, wie mein Vater, ein Schülervon Gökberk , auch bestätigt.22 Rudolf Nissen, a.a.O., S. 21223 Das Institut für Mathematik war der Naturwissenschaftlichen Fakultät eingegliedert, die Fakultät umfaßte insgesamt14 Institute; neben dem Institut für Mathematik waren diese: Allgemeine Physik, Angewandte Physik, AllgemeineChemie, Industrielle Chemie, Chemie im Nebenfach, Galenische Chemie, Physikalische Chemie, Botanik, GenetischeBotanik, Geologie, Zoologie.24 Der “Wiener Kreis” bestand hauptsächlich aus einigen Schülern des Neopositivisten Moritz Schlick, die 1929 mit derProgrammschrift “Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis” hervortaten und ihre eigene Zeitschrift“Erkenntnis“ gründeten. Hans Reichenbach gehörte, wie Mises, auch zu den Gründungsmitgliedern des Kreises. Mehrzum “Wiener Kreis” u.a. in: Erich Kaiser, Neopositivistische Philosophie im 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1979.25 Neumark, a.a.O., S. 98.26 So hat Erim zusammen mit Mises in 1952 in Istanbul eine internationale Tagung über mechanischeBewegungsvorgänge organisiert, die Tagung wurde von Mises geleitet; Vgl.: Hilmi Ziya Ülken, a.a.O., S. 467.

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Mises besuchen. Während der Jahre in Istanbul schrieb Mises sein “Kleines

Lehrbuch des Positivismus”, indem er sich mit Metaphysik und Kunst beschäftigte.

Das Buch erschien 1939 in Chicago und 1951 in England. Mises verließ 1939 die

Türkei; er hatte in der Universität eine Beziehung mit einer verheirateten

Angestellten, diese Beziehung wurde durch türkische Mitarbeiter aufgedeckt und

Mises wurde nahegelegt, die Universität selbst zu verlassen, da sonst wegen diesem

Vorkommnis sein Vertrag sowieso nicht verlängert würde. So ging er in die USA

weiter, wo er an der Universität von Cambridge Angewandte Mathematik lehrte und

das Institut für Technologie leitete. 1952 wurde ihm der Ehrendoktortitel der

Istanbuler Universität verliehen. Mises verstarb im Alter von 70 Jahren 1953 in

Boston.

1.2.2 Medizin

Im Osmanischen Reich erfuhren die einzelnen medizinischen Disziplinen

unterschiedliche Beachtung. Da selbstständige Forschungen am Menschenkörper

religiös bedingt verpönt waren, konnte sich die Chirurgie kaum entwickeln. Dafür

wurde aber im Laufe der Jahrhunderte der Arzneimittelschatz der islamischen

Gelehrten mit Kenntnissen aus den afrikanischen und asiatischen Bereichen des

Reiches erweitert; das Apothekenwesen gewann eine bis heute anhaltende

Wichtigkeit27. Der Ausbau eines modernen Krankenhauswesens erfolgte erst

während des Krim-Krieges durch die englische Krankenschwester Florence

Nightingale28.

Die deutschsprachigen Mediziner vertraten in ihrer Mehrzahl die damals führenden

Schulen ihres Fachs in Berlin und Wien. Ihr Wirken in Lehre und Forschung hob das

Niveau der türkischen Medizin und erreichte die Einführung europäischer Standards

in der Gesundheitsfürsorge, allerdings meist in den Großstädten. Obwohl das

Gesundheitswesen seit den dreißiger Jahren kontinuierlich ausgebaut wurde, hat die

Türkei nach wie vor einen erheblichen Rückstand gegenüber anderen europäischen

Ländern. Dies zeigt sich z. B. an dem Indikator “Kindersterblichkeit”, der allgemein 27 Wegen der ständigen Beweglichkeit und den langwierigen Kriegen der osmanischen Armee waren sicherlich schnellhelfende Arzneien wichtiger als akademisches Wissen über Krankheiten. Noch dazu blieb Istanbul von großenansteckenden Krankheiten relativ verschont.28 Florence Nightingale kam im Oktober 1854 mit 38 weiteren englischen Krankenschwestern nach Istanbul, um beidem Krim-Krieg verwundete englische Soldaten zu pflegen. Sie entschloß sich jedoch, nachdem sie den Zustand derKrankenhäuser in der Stadt gesehen hatte, in Istanbul zu bleiben und das Krankenhauswesen zu modernisieren.

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als Gradmesser für den Gesundheitszustand eines Landes gilt. Obwohl durch die

Arbeit von Albert Eckstein, zu dem ich noch folgend näher eingehen werde, die

Sterblichkeitsrate schon in den 40er Jahren auf 12 Prozent sank29, betrug sie 1980

immer noch 11,8 Prozent und 1990 noch 6 Prozent30. Neben mangelnder Ernährung,

Überlastung der schwangeren Frauen und schlechter Hygiene ist fehlende ärztliche

Betreuung, vor allem in den südostanatolischen Dörfern, die Hauptursache dieser

sehr hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit31.

Unter deutschen Medizinern, die in die Türkei flüchten und dort arbeiten konnten, ist

als wissenschaftliche Kapazität vor allem Rudolf Nissen zu erwähnen, der im

August 1933 als einer der ersten Emigranten überhaupt in die Türkei kam. 1896 in

Schlesien geboren, habilitierte Nissen 1926 in Chirurgie und ging im nächsten Jahr

als Oberarzt mit Ferdinand Sauerbruch an die Chirurgische Klinik der Charité in

Berlin. Die chirurgischen Leistungen Nissens schlossen sich eng ans Sauerbruchs

Arbeit an, der die Chirurgie des Brustkorbs begründete. So gelang es Nissen 1931

als erster Mediziner die operative Entfernung eines ganzen Lungenflügels wegen

ausgedehnter Lungenvereiterung durchzuführen. Am 30.01.1933 stellte Nissen seine

Professur in Berlin zur Verfügung. Durch die Vermittlung seines Lehrers Sauerbruch

erhielt er den Ruf als Ordinarius für Chirurgie an die Universitätsklinik Kadıköy -

Cerrahpaşa in Istanbul32. “Es war für einen jungen Ordinarius von 37 Jahren, wie ich

damals war, eine höchst attraktive Aufgabe, aus einer nur mit dem notwendigsten

Instrumentarium und den notwendigsten Installationen ausgestatteten

Krankenhausabteilung eine Universitätsklinik zu entwickeln”33. Neben dem Aufbau

einer modernen Klinik widmete sich Nissen auch der Herausgabe einer Zeitschrift für

29 Die Welt, “Türkei als Zufluchtsort für deutsche Mediziner”, 18.10.95.30 Vgl.: Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik 1980 und Türkisches Statistisches Jahrbuch 1991.31 Bei den Sterblichkeitsziffern werden Säuglinge und Kinder bis vier Jahre mitgerechnet.32 Ferdinand Sauerbruch spielte bei der Vermittlung von medizinischem Personal für die neue Universität in Istanbuleine entscheidende, jedoch zwiespältige Rolle. Die türkische Regierung, die Sauerbruch als Leiter der medizinischenFakultät gewinnen wollte, übertrug ihm die Endauswahl der Medizinprofessoren; so wurden in der Regel die von der’Notgemeinschaft’ ausgewählten Medizinprofessoren, noch einmal durch Sauerbruch abgesegnet oder abgelehnt.Schwartz wirft ihm in seinen nicht veröffentlichten Memoiren vor, arische Mediziner bevorzugt und so gegen dieEmigranten und für die Interessen des Deutschen Reiches gearbeitet zu haben: “Deutsche im Dienste Hitlers haben sichals Organe der `Notgemeinschaft` betätigt und Stellen für die Opfer ihres Systems vermittelt.”, Philipp Schwartz zitiert in: Horst Widmann, a.a.O., S. 230. Von Sauerbruch ist auch bekannt, daß er während seines Aufenthaltes im Sommer1933 zwischen der `Notgemeinschaft` und dem Deutschen Generalkonsulat in Istanbul vermittelt und ein Treffenorganisiert hat. Ferdinand Sauerbruch blieb selbst in Deutschland und spezialisierte sich auf die Entwicklung künstlicherErsatzglieder. Seine Autobiographie erschien unter dem Titel “Das war mein Leben”, Marburg 1951.33 Rudolf Nissen in: Jürgen Boettcher, Um uns die Fremde - Vertreibung des Geistes 1933-45, Berlin 1968, S. 13.

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Chirurgie und medizinischer Lehrbücher34. In Istanbul gelang es 1937 Nissen als

erster Chirurg weltweit, eine von Krebs befallene Speiseröhre zu operieren und zu

entfernen. Seine Operationsmethode in diesem Bereich wird seither in der türkischen

Medizinfachsprache als “Nissen Ameliyatı” (Nissen-Operation) bezeichnet. Seine

weiteren Arbeiten galten der in der Türkei sehr verbreiteten Gelenktuberkulose und

Hirnentzündungen. Er blieb jedoch nicht nur in Istanbul, sondern bereiste auch

anatolische Städte und Dörfer, wo er in den meisten Fällen unentgeltlich Operationen

durchführte oder medizinisches Personal schulte. Es ist bemerkenswert, daß in den

dreißiger Jahren viele Menschen aus Dankbarkeit ihren Kindern den Beinamen

“Nissen” gaben35. Unter den türkischen Schülern von Nissen ist Gazi Yaşargil

hervorzuheben, der seit den siebziger Jahren zu den herausragenden und weltweit

gefragtesten Gehirnchirurgen zählt36.

Nissen verließ die Türkei 1939 und folgte einer Einladung zu Gastvorlesungen in die

USA; der Kriegsausbruch verhinderte seine geplante Rückkehr in die Türkei37. Dort

war er zuerst in Boston, ab 1948 als Professor am ’Long Island College of Medicine’

tätig. 1952 übernahm er, bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1967, die Chirurgische

Universitätsklinik in Basel. Seine Erinnerungen erschienen 1970 unter dem Titel

“Helle Blätter - Dunkle Blätter”38. Neben der ausführlichen Beschreibung der zwölf

Jahre, die er mit Sauerbruch zusammengearbeitet hat und der Darstellung der

Anfänge der nationalsozialistischen Ära, ist ein Teil des Buches39 auch der Zeit und

Arbeit in der Türkei gewidmet. Nissen starb 1981 im Alter von 84 Jahren in Basel.

Der 1891 geborene Albert Eckstein hatte nach seinem Medizinstudium während

des Ersten Weltkriegs als Feldoberarzt gedient, zwischen 1925 und 1935 war er

Leiter der Kinderklinik der medizinischen Akademie in Düsseldorf. Nach seiner

34 Türk Cerrahi Mecmuası (Zeitschrift für türkische Chirurgie) erschien nach 1934 unregelmäßig, wurde 1936eingestellt; Lehrbücher: Cerrahi Endikasyonlar (Chirurgische Indikationen), Istanbul 1938; Genel Şirürji Dersleri(Vorlesungen über Allgemeine Chirurgie), Istanbul 1938.35 In einem Nachruf auf Nissen in Milliyet, 28.1.81; im ähnlichen Sinne auch: Fritz Neumark, a.a.O., S. 101.36 Yaşargil lebt und arbeitet in der Schweiz, ist jedoch zur Entstehungszeit dieser Arbeit dabei, in Ankara eine seinenNamen tragende Spezialklinik für Gehirnkrankheiten- und operationen aufzubauen.37 Nissen deutet an, daß er nicht mit der Absicht in die USA gefahren ist, um sich dort niederzulassen, sondernvorhatte, wieder nach Istanbul zurückzukehren. Nach seinen Angaben ist er aus Angst vor einem Einmarsch derdeutschen Truppen in die Türkei, in den Vereinigten Staaten geblieben, Vgl. dazu: Rudolf Nissen, a.a.O. S. 240 f.. SeineEntscheidung löste jedoch in der Türkei Verärgerung aus; der Rektor der Universität Tevfik beschuldigte Nissen, seinWerk unvollendet zurückzulassen, Milliyet, a.a.O.38 Rudolf Nissen, a.a.O. (Nissens zweites Buch “Randbemerkungen”, Bern 1974, befaßt sich mit Ethik und Philosophiein der Medizin).39 Ebenda. bes. S.180 - 245.

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Entlassung wegen seiner jüdischen Religionszugehörigkeit erhielt Eckstein eine

Berufung zum Leiter der Kinderabteilung des sogenannten ’Musterkrankenhauses’ in

Ankara. Während seine Frau Erna Eckstein als Physikerin im gleichen Krankenhaus

arbeiten konnte, wurde Albert Eckstein damit beauftragt, eine flächendeckende

Gesundheitsfürsorge für Kinder auszubauen. Klassische Kinderkrankheiten wie

Masern, Diphtherie und Pocken zeigten unter den hygienischen und klimatischen

Bedingungen der Türkei nicht die in Europa bekannten Bilder; insofern bestand für

Eckstein eine Hauptaufgabe darin, durch Reisen die Gründe und Ausbreitung der

Krankheiten zu erforschen. Er stellte fest, daß die Hauptursache für die hohe

Kindersterblichkeit nicht wie angenommen ernährungsbedingte Krankheiten, sondern

Darminfektion und Malaria waren40. Durch seine Untersuchungsergebnisse und

Diagnosen erlangte er in der Türkei großes Ansehen, denn es gelang ihm, die

Kindersterblichkeit in kürzester Zeit zu reduzieren und gleichzeitig ein

Gesundheitsprogramm für die Kinder auf die Beine zu stellen41. Im Verlauf seiner

l5jährigen Tätigkeit sank die Kindersterblichkeit von 20 auf 12 Prozent42. Die

wissenschaftliche Publizistik von Eckstein umfaßt über 50 Titel, die sich meist mit

Kinderkrankheiten in Anatolien und ihren Heilmethoden beschäftigen43. Nach 1945

wurde er, nach der Gründung der Universität Ankara, Professor für Kinderheilkunde.

Sein Schüler Ihsan Doğramacı baute in den 50er Jahren das erste

Kinderkrankenhaus in Ankara auf und wurde Rektor der Universität Ankara. Nach

dem Militärputsch von 1980 war es wiederum der selbe Doğramacı, der als

Vorsitzender der sogenannten YÖK (Hochschulrat) politisch unliebsame und kritische

Lehrkräfte aus der Universität “entfernte”44 - Ironie des Zufalls. Albert Eckstein verließ

1949, aus Dank für seine Arbeiten mit einer staatlichen Zeremonie, die Türkei und

übernahm 1950 an der Universität Hamburg eine Professur für Kinderkrankheiten; er

verstarb nach kurzer Tätigkeit im Frühjahr 1950.

40 Über die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit berichtete Eckstein regelmäßig in der Parteizeitung “Ulus”.41 Vgl. dazu auch den Kommentar in : Herbert A. Strauss, Biographisches..., Bd. II, S. 234.42 Die Welt, a.a.O.43 Auswahl : Albert Eckstein, Çocuk Hastalıkları Kitabı (Lehrbuch der Kinderkrankheiten), Ankara 1940; Türkiye´deÇocukların Büyüme Sorunları (Probleme des Wachstums der Kinder in der Türkei), Ankara 1947; Les conditions duvilage turc (in franz.), Ankara 1947.44 Doğramacı wurde wegen seiner Vorgehensweise gegen Akademiker von der linken Presse seinem Namen gemäßals “doğramacı” (Schlächter) bezeichnet.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 139

1.2.3 Zoologie

In der alten Darülfünun waren weder Zoologie noch andere Bereiche wie

Physiologie, Botanik oder Genetik als eigenständige Fächer unterrichtet worden.

Dies hatte wiederum mit den islamischen Regeln und Gegebenheiten zu tun.

Demnach galt es als Sünde, die Natur zu hinterfragen, da sie durch den Gott, den

Allah erschaffen war. Ohne diese Vorinformation ist deshalb schwer vorstellbar, daß

das erste Zoologische Institut in der Türkei erst 1937 geschaffen wurde.

Das Institut für Zoologie, das in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät

untergebracht war, wurde nach 1937 von Curt Kosswig geleitet45. Curt Kosswig,

1903 in Berlin geboren, hatte Biologie und Philosophie studiert. Nach seiner

Habilitation wurde er an der Technischen Hochschule Braunschweig Professor für

Vererbungswissenschaften und leitete das Naturhistorische Museum der selben

Stadt. Kosswig war seit den Zwanziger Jahren in nationalsozialistischen Kreisen

aktiv: Nach seiner Gründungsmitgliedschaft bei dem “Deutschnationalen

Jugendbund” trat er 1933 der Braunschweiger SS bei, distanzierte sich aber ab Mitte

der 30er Jahre von seiner politischen Gesinnung. Aufgrund seines öffentlichen

Eintretens für nonkonforme Kollegen, seiner kollegialen Beziehung zu jüdischen

Wissenschaftlern, seiner Kritik an den parteipolitisch begründeten

Berufungsverfahren und seines Einschreitens gegen Aktivitäten

nationalsozialistischer Studenten an der Universität”46 trat Kosswig aus der SS aus

und verlor anschließend seine Arbeitsstelle. Kosswig verließ Deutschland 1937 und

emigrierte durch die Vermittlung des Biologen Alfred Heilbronn in die Türkei. Nach

Neumark war Curt Kosswig von den in Istanbul lebenden deutschen

Wissenschaftsemigranten “zumindest argwöhnisch”47 empfangen worden. Neumark

erzählte, daß gerade in der ersten Phase nach der Ankunft von Kosswig unter den

Deutschen große Skepsis gegenüber Zuständen seiner Flucht in die Türkei

geherrscht hat. Im Gegensatz zu Ernst Engelberg48 konnte jedoch Kosswig die

45 Nach der Gründung des Instituts in 1933 wurde zuerst der Schweizer Zoologe André Naville auf diesen Lehrstuhlberufen; Naville errichtete das Institut in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Botanik. Er starb 1937 in Istanbul.46 Vgl.: Regine Erichsen, Die Emigration... a.a.O., S. 76.47 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...48 Siehe dazu ab S.185 dieser Arbeit.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 140

anderen Emigranten von seiner Person und politischen Korrektheit überzeugen und

wurde „einer der beliebtesten Gestalten des Emigrantenzirkels in Istanbul”49.

Kosswig, der nach kurzer Zeit seine Vorlesungen in Türkisch abhalten konnte, gab

während seiner Tätigkeit vier Lehrbücher über zoologische Themen heraus50 und

veröffentlichte zahlreiche Aufsätze in türkischen Zeitschriften. Er interessierte sich

intensiv für die Probleme der türkischen Schwarzmeerfischer und setzte sich für den

Ankauf eines Forschungsschiffs und die Errichtung einer Beobachtungsstation für

Fischschwärme am nördlichen Ausgang des Bosporus ein. Der Vorsitzende des

’Verbandes Türkischer Berufsfischer Muzaffer Seferoğlu bezeichnet ihn wegen seiner

Verdienste um die türkische Fischerei “als den Vater des modernen Fischereiwesens

in der Türkei”51. Ein Porträtbild von Kosswig hängt noch heute in der

Verbandszentrale der türkischen Berufsfischer, eine Art Berufsgenossenschaft. Die

Entdeckung der Vogelschutzgebiete “Manyas Gölü” und “Kuşadası” gelten auch als

seine Erfolge. „Kosswig fuhr Anfang April 1938 zum ersten Mal zum „Manyas-See“

auf der südlichen Seite des Marmara-Meeres und wollte dort den Urlaub mit seiner

Frau verbringen. Der 13 km2 große See beeindruckte Kosswig sehr, dabei war der

See ganz trüb, schlammig und unruhig. Er fischte gerade, als eine große Anzahl von

Vögeln aus dem hinteren Teil des Sees abhob. Kosswig fragte mich, was denn dort

sei; ich sagte ihm, daß dort immer so viele Vögel nisten würden. Am nächsten Tag

fuhren wir mit einem Boot an die Stelle. Der Professor war außer sich und sagte, daß

wäre ja ein Vogelparadies“52. Kosswig besuchte danach regelmäßig das Gebiet,

durch seine Initiative wurde der „Manyas-See“ zum Naturschutzgebiet erklärt. Wegen

seiner Verdienste um die Entwicklung der Zoologie wurden ihm neben dem

Bundesverdienstkreuz auch der Ehrendoktortitel der Istanbuler Universität verliehen.

Kosswig blieb bis 1955 in Istanbul, lehrte anschließend zwischen 1955 und 1969 an

der Universität Hamburg und wurde dort Direktor des Zoologischen Museums. Nach

seiner Emeritierung kehrte er 1969 wieder in die Türkei zurück und wurde

Lehrbeauftragter an der Universität Erzurum. Kosswig verstarb 1982 in Hamburg.

49 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...50 Curt Kosswig, “Hayvanat Notları” (Notizen über Zoologie), Istanbul 1938; “Hayvanat Hulusası” (Zusammenfassungder Zoologie), Istanbul 1938; “Umumi Zoologie” (Allgemeine Zoologie), Istanbul 1941; “Genel Zoologi” (allgemeineZoologie), Istanbul 1947.51 Telefoninterview mit Muzaffer Seferoğlu, Berlin/Istanbul 15.05.1995.52 Kaşif Kan war Dorfvorsteher und begleitete Kosswig während der Entdeckung des Vogel-paradieses. SeineErinnerungen an Kosswig sind in der türk. Tageszeitung „Sabah“ erschienen. Kaşif Kan´ın Kosswig´le ilgili sözleri,Sabah 14.05.1997. (Kaşif Kan über Kosswig, der Text ist von mir übersetzt).

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 141

1.2.4 Philologie

Die Erforschung von Texten und Kulturen aufgrund ihrer sprachlichen Eigenheiten

wurde in Darülfünun erst ab 1890 als eigenständige Disziplin unterrichtet. Dabei

wurde jedoch in erster Linie Bezug auf französische Philologen genommen, die sich

zugleich mit der antiken Überlieferung und den Traditionen in den Sprachen

auseinandersetzten. Eine Beschäftigung mit türkischen Texten oder dem

osmanischen Kulturkreis blieb aber eher die Ausnahme. Deswegen muß man davon

ausgehen, daß eine emanzipierte neue Philologie erst nach 1933 durch die

Aufbauarbeit von Leo Spitzer stattgefunden hat.

An dem Romanistischen Institut der Philosophischen Fakultäts lehrten Leo Spitzer

und Erich Auerbach als aus dem deutschsprachigen Raum geflüchtete Professoren.

Der 1887 in Wien geborene Leo Spitzer wurde 1925 an der Marburger Universität

Professor für romanische Philologie. In seinen “Aufsätzen zur romanischen Syntax

und Stilistik”53 versuchte er die Stilistik in der Sprache neu zu begründen und gab

damit der Literaturwissenschaft neue Impulse und genoß internationale

Anerkennung. “Er hatte bereits in Marburg und Köln, den Stätten seines Wirkens in

Deutschland, eine große Schar von begabten, aufgeschlossenen Wissenschaftlern

um sich versammelt”54. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er 1933 aus der

Kölner Universität, wo er seit 1930 einen Lehrstuhl hatte, entlassen und kam mit

seiner Frau als einer der ersten Professoren nach Istanbul. Philologie war in der

Türkei eine weitgehend junge Wissenschaft, so daß Spitzer hier ein weites Feld für

seine Arbeit fand. Innerhalb des neugegründeten Instituts für Romanistik hatte er

jedoch mehrere Aufgaben zu bewältigen. Neben dem Aufbau einer Fachbibliothek

wurde durch seine Initiative innerhalb des Instituts eine Fremdsprachenhochschule

errichtet. Durch ihn wurde auch eine Zeitschrift mit dem Titel “Romanoloji Semineri

Dergisi” (Zeitschrift des Romanistikseminars) herausgegeben, die jedoch nach dem

ersten Erscheinen eingestellt wurde. Wegen der Fülle dieser Herausforderungen

konnte Spitzer in Istanbul sich selbst aber wissenschaftlich und intellektuell nicht

weiter entwickeln und zog deshalb vor, sich in die Vereinigten Staaten zu begeben.

Zusätzlich war er wegen der hohen Kosten für den Aufbau der Bibliothek von

türkischen Kollegen kritisiert wurden. Deshalb nahm er 1936 den Ruf an die ’Johns- 53 Leo Spitzer, Aufsätze zur romanischen Syntax und Stilistik, Freiburg 1928.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 142

Hopkins - Universität’ in Ohio an. Als besonderer Verdienst von Spitzer während

seiner Zeit in der Türkei ist anzusehen, daß durch seine Vermittlung sechs weitere

deutschsprachige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Türkei “Zuflucht

und Arbeit” finden konnten55.

Auch Erich Auerbach, der 1936 in die Türkei gekommen war, erhielt in Istanbul die

Möglichkeit, sich wissenschaftlich zu betätigen. Auerbach, 1892 in Berlin geboren,

hatte 1929 über romanische Sprachen habilitiert und lehrte an der Marburger

Universität. Er wurde jedoch 1935 wegen politischer Mißliebigkeit und seiner

jüdischen Frau entlassen. Durch Spitzers Empfehlung fand er den Weg in die

türkische Republik. Er gehörte, nach Neumark, zu den “Spitzer-Jüngern”56 und war

bereit, die frei werdende Stelle von Spitzer zu übernehmen. Er wurde zuerst Leiter

der Fremdsprachenhochschule und verschaffte wiederum selbst drei

deutschsprachigen Sprachwissenschaftlern Lehrstellen an der Schule57. Neben

zahlreichen Artikeln in Zeitschriften, in denen sich Auerbach hauptsächlich mit der

italienischen Literatur beschäftigte58, veröffentlichte er während seines zehnjährigen

Aufenthaltes in Istanbul 1944 ein Lehrbuch über die romanische Philologie, die nach

dem Weltkrieg auch in Frankreich und 1961 in den Vereinigten Staaten erschien59.

Ein weiteres Buch von Auerbach, das auf das Jahr 1946 datiert ist, wird allgemein als

sein Hauptwerk gesehen und trägt den Titel “Mimesis - Dargestellte Wirklichkeit in

der abendländischen Literatur”60. Das Buch “erregte großes Aufsehen und fand

lebhafte Bewunderung weit über die romanischen Fachkreise hinaus”61. Wieder auf

“Spitzers Spuren” verließ Auerbach die Türkei 1947 und emigrierte in die USA. Er

lehrte dort, bis zu seinem Tode in 1957, hauptsächlich an der Yale - Universität

Romanische Sprachen und Literatur. 54 Fritz Neumark, a.a.O., S. 92.55 Es handelte sich in erster Linie um ehemalige Studenten von Spitzer aus Köln: Heinz Anstock, Eva Buck, RosamarieBurckart, Herbert und Lieselotte Dieckmann, Traugott Fuchs und Hans Marchand. Hinzuweisen ist hier vor allem aufHeinz Anstock, der auch nach dem Kriegsende als Lehrbeauftragter in der Türkei blieb und 1961 Direktor der IstanbulerDeutschen Schule’ wurde. Siehe zu Anstock auch: Fritz Neumark, a.a.0., S. 92.56 Damit bezeichnet Neumark die Gruppe von jungen Wissenschaftlern, die Leo Spitzers Theorien teilten und ihmsowohl nach Marburg, als auch teilweise bis nach Istanbul und später in die Vereinigten Staaten folgten.Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...57 Der Turkologe Andreas Titze und Sprachpädagoge Karl Weiner kamen nach der Annexion Österreichs , ErnstEngelberg 1934 nach Istanbul.58 Das Buch “Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie”, erschienen 1967 in Bern, enthältneben den in der Türkei entstandenen Aufsätzen, auch Arbeiten aus den amerikanischen Jahren.59 Erich Auerbach, Roman Filolijisine Giriş (Einführung in die romanische Philologie), Istanbul 1944.60 Erschienen in 1946 Bern; die amerikanische Ausgabe kam 1953 in Princeton heraus.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 143

Ernst Engelberg62, geboren in 1909, stammte aus dem sogenannten “Badischen”

und studierte in Berlin Geschichte, Philosophie und Germanistik. Er wurde mit 20

Jahren KPD-Mitglied. 1934 promovierte er bei Professor Hermann Oncken über “Die

deutsche Sozialdemokratie und die Bismarck´sche Sozialpolitik”; vier Tage nach

seinem Rigorosem wurde er wegen seiner KPD-Mitgliedschaft verhaftet und für

mehrere Wochen festgehalten. Nach seiner Entlassung flüchtete er in die Schweiz

und nahm mit Professor Auerbach in der Türkei Kontakt auf. Durch die Vermittlung

von Auerbach bekam Engelberg zunächst einen Drei-Jahres-Vertrag als Dozent für

Deutsch an der Philologischen Fakultät, sein Vertrag wurde aber bis 1946 immer

wieder verlängert. Engelberg fühlte sich jedoch in der Türkei nicht besonders wohl

und litt darunter, daß er seine Bismarck-Studien aus Materialmangel nicht

weiterführen konnte. Hinzu kam, daß bestimmte Emigranten, allen voran Kessler und

Neumark, ihn verdächtigten, als Agent für die Gestapo zu arbeiten. Dabei war

Engelberg “von der Wiege aus links und rot, niemals auf der falschen Seite. Als ich in

Istanbul ankam, kannte ich keinen und war auf die Freundschaft mit den anderen

Emigranten angewiesen. Als ich dann Neumark kennenlernte, habe ich auch davon

erzählt, daß ich erst 1934 promoviert hatte. Das war Grund genug für ihn und seine

Freunde, mich der Spionage zu bezichtigen. Es half nichts, daß ich von meiner

Parteimitgliedschaft63 und meiner Verhaftung durch die Gestapo erzählte; im

Gegenteil, sie haben wohl gedacht, daß ich von der Gestapo zum Schein verhaftet

wurde, um die letzten Instruktionen für meine geheimdienstliche Tätigkeit zu

bekommen. So eine Stimmung des Mißtrauens herrschte damals. In den Jahren, die

ich in Istanbul verbrachte, war ich dann die ganze Zeit ziemlich isoliert. Man mied

mich sozusagen”64 . Engelberg bezeichnete bei unserem Gespräch die Jahre in der

Türkei als eine für ihn “auferlegte, erzwungene Zeit”. Er verließ die Türkei 1948 und

wurde in Leipzig Professor für “Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung”, wo er

nach 1951 auch das Institut für deutsche Geschichte leitete. 1959 wurde er

61 Fritz Neumark, a.a.O., S. 93.62 Die Informationen über Ernst Engelberg beruhen auf den zwei Gesprächen, die ich in Berlin mit ihm führte. Gesprächmit Ernst Engelberg...63 Engelberg hatte sich 1928 dem Kommunistischen Jugendverband angeschlossen und war seit 1930 Mitglied derKommunistischen Studentenbewegung und der Kommunistischen Partei Deutschlands.64 Gespräch mit Ernst Engelberg, ... Ich möchte jedoch hinzufügen, daß meine beiden Gespräche mit Engelberg nachmeiner Meinung nicht genug fruchtbar waren; ich hatte mir davon mehr versprochen, hatte bei ihm jedoch das Gefühl,daß es sich für ihn um ein abgeschlossenes und schon zu lang zurückliegendes Kapitel handelte. Ein Grund für seineZurückhaltung mag aber auch sein, daß er sich in der Türkei sehr unwohl gefühlt hat.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 144

Vorsitzender des Nationalkomitees der Historiker der DDR. Er gab 1985 und 1990

zwei viel beachtete Bismarck-Biographien heraus.

1.2.5 Wirtschaftswissenschaften

In den Zwanziger und früheren Dreißiger Jahren verfügte die Türkei nicht über eine

genügende Anzahl von ausgebildeten Volks- und Betriebswirtschaftlern. Erste

Versuche der Regierung, nach der Republiksgründung, eine sich selbst

entwickelnde, völlig liberale Wirtschaftsordnung zu etablieren, waren gescheitert, weil

die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen in der Türkei nicht mit den Wünschen

der führenden Kemalisten übereinstimmten65. Beeindruckt von den Erfolgen der

sowjetischen Planwirtschaft versuchte die Regierung ab dem Anfang der Dreißiger

Jahre die Rolle des Staates als Lenker der wirtschaftlichen Entwicklung auszubauen.

Die Nachfrage nach unternehmerisch und volkswirtschaftlich erfahrenen Kräften war

sehr hoch. “Die (christlich-jüdische) Handelselite war zum größten Teil der Schaffung

des homogenen Nationalstaats zum Opfer gefallen”66. Gerade wegen dieser

Ausgangssituation war die Funktionalität einer Wirtschaftshochschule

zukunftsträchtig und besonders bedeutend. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät

nahm seine Arbeit 1933 zuerst innerhalb der Rechtswissenschaftlichen Fakultät auf

und wurde nach intensiven Vorbereitungen 1936 eigenständig. Die Majorität der

Professoren an der Fakultät war von Anfang an aus deutschen Emigranten

zusammengesetzt. Es ist unbestritten, daß diese Professoren die erste Generation

der in der türkischen Republik ausgebildeten Ökonomen entscheidend beeinflußt und

damit die türkische Wirtschaftspolitik direkt mitgeprägt haben. Genauso ist

hervorzuheben, daß das von den emigrierten Professoren verfaßte Lehrmaterial das

Studium bis in die fünfziger Jahre bestimmt hat.

Die Fakultät war im ehemaligen Kriegsministerium des Osmanischen Reiches

untergebracht; durch das riesige Gebäude gehörten die Wirtschaftswissenschaftler

wie die Juristen zu den Glücklicheren, die nicht, wie etwa die Mediziner, mit

Raumproblemen zu kämpfen hatten. Von den insgesamt acht Lehrstühlen wurden

fünf67 durch emigrierte deutschsprachige Professoren, die allesamt durch die

65 Vgl. dazu vor allem: Hakkı Keskin, a.a.O., S. 81 - 91.66 Bernd Rill, a.a.O., S. 110.67 Der Lehrstuhl für Finanztheorie wurde zuerst von Wilhelm Röpke und nach seinem Weggang von dem ÖsterreicherJosef Dobretsberger übernommen.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 145

Notgemeinschaft vermittelt wurden, besetzt. Die Inhaber der Lehrstühle für

Allgemeine Wirtschaftswissenschaft, Geschichte der Wirtschaftsdoktrinen und

Statistik waren türkische Professoren. Neben Gerhard Kessler68 waren Fritz

Neumark, Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Alfred Isaac und Joseph

Dobretsberger Professoren an der Universität Istanbul. Die

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät gehört zu den Institutionen, die durch

emigrierte Akademiker am meisten beeinflußt worden sind. In diesem Institut wurden

die ersten türkischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler ausgebildet, viele

übernahmen nach ihrem Studium selber akademische, oder aber auch

wirtschaftspolitisch relevante Aufgaben. Die deutschsprachigen Professoren führten

auch damals ein Prüfungs- und Habilitationsverfahren nach deutschem Muster69 ein,

das dann von weiteren Fakultäten übernommen wurde und in Teilen bis heute seine

Gültigkeit bewahrt hat.

Der 1885 geborene Alexander Rüstow war vor seiner Flucht aus Deutschland

Grundsatzreferent im Reichswirtschaftsministerium und hatte den ersten deutschen

Kartellentwurf ausgearbeitet. Er galt neben Walter Eucken und Wilhelm Röpke als

einer der Hauptvertreter der neoliberalen Schule70. Rüstow verließ aus politischer

Überzeugung Deutschland nach der Machtergreifung freiwillig, konnte durch die

’Notgemeinschaft’ mit Ehefrau und zwei Kindern in die Türkei emigrieren und

übernahm in Istanbul den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte und

Wirtschaftsgeographie71. Obwohl er während seines sechszehnjährigen Lebens in

der Türkei die Sprache des Landes nicht lernen konnte und sich auch nicht heimisch

fühlte (Neumark bezeichnet Rüstows Leben in Istanbul als “Elfenbeinturm-Dasein”72),

gehörte er zu den wissenschaftlich produktivsten Professoren. Mit dem Beginn der 68 Siehe zu Kessler ab Kapitel 4.2 dieser Arbeit.69 So wird zum Beispiel zwischen einem nicht habilitierten Doktor und dem habilitierten Dozenten unterschieden.70 “Vollkommen wahrheitswidrig ist etwa Scurlas Behauptung, Alexander Rüstow, der bekannteWirtschaftswissenschaftler und Kultursoziologe, sei als “Marxist bekannt” gewesen. Jeder, der diesen außerordentlichenMann und/oder seine Schriften auch nur ein wenig kannte, weiß, daß Rüstow, der einer alten Generalsfamilieentstammte (allerdings befand sich unter seinen Vorfahren auch ein General, der nach 1848 in die Schweiz emigrierte)-ein hundertprozentiger Liberaler war. Als solcher trat er eindeutig allen marxistischen Bestrebungen entgegen, ja ichwage zu behaupten, daß er ein konsequenterer Vertreter einer Marktwirtschaftsordnung war als viele Heutige, die sichals solche bezeichnen”, Fritz Neumark, in: Klaus Detlev Grothusen...a.a.O., S. 49; “Rüstow war einer der ersten, derseinen Antifaschismus zum Antitotalitarismus fortbildete und den sowjetischen Kommunismus als den älteren der zweitotalitären Feinde mit größter Entschiedenheit bekämpfte”, Ernst Nolte, ”Rüstows Rückruf”, F.A.Z., 1.6.1993.71 Katrin Meier-Rust hat 1988 in ihrer Dissertation mit dem Titel “Alexander Rüstow - Geschichtsdeutung und liberalesEngagement” ,Stuttgart 1993 , neben der Analyse des wissenschaftlichen Werks von Rüstow, auch seine Biographieausführlich dargestellt.72 Fritz Neumark, a.a.O., S. 76.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 146

Universitätsarbeit bildete Rüstow mit Wilhelm Röpke und Gerhard Kessler

zusammen eine Arbeitsgruppe, die die Möglichkeit für die Einrichtung eines Instituts

für Wirtschaftswissenschaften prüfen und die Voraussetzungen dafür schaffen sollte

(was 1936 durch die Eröffnung der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät zur

Realität wurde), er veröffentlichte zwei Lehrbücher über die Wirtschaftswissenschaft

und Wirtschaftsgeographie73, schrieb für Fakultäts - und andere Fachzeitschriften

regelmäßig Artikel und beteiligte sich an den von Kessler ins Leben gerufenen

öffentlichen “Universitätskonferenzen”. Auch sein Basiswerk “Ortsbestimmung der

Gegenwart” entstand während der Emigrationsjahre, wurde aber nicht in der Türkei

oder auf Türkisch verlegt, sondern nach Rüstows Weggang in der Schweiz74. Rüstow

gehörte zu den wenigen Emigranten in der Türkei, die trotz des offiziellen

Politikverbots für vertraglich gebundene Wissenschaftler zumindest einen kleinen

Beitrag zur Geschichte des Widerstandes beitrugen. Nissen berichtet in seinen

Erinnerungen, daß Rüstow mit dem Ziel, gemeinsam gegen den deutschen

Faschismus vorgehen zu können, zwischen amerikanischen Abgesandten und

deutschen Illegalen zu vermitteln suchte. Sein Haus auf einer der Istanbul

vorgelagerten Inseln wurde mehrfach Treffpunkt der Verhandelnden - Bemühungen,

die am Ende ergebnislos waren”75. Um so bemerkenswerter ist sicherlich, daß

Rüstow die Türkei und ihre Bevölkerung an sich anscheinend nicht besonders lieben

lernen konnte. Er schätzte das Land als so verschieden vom eigenen Kulturkreis ein,

daß er Westeuropäern von einem Leben in der Türkei abriet und nach seiner

Rückkehr das Land nie wieder besuchte76.Rüstow verließ 1949 Istanbul und kehrte in

die Bundesrepublik zurück; er übernahm den Lehrstuhl für Wirtschafts- und

Sozialwissenschaften der Universität Heidelberg. Als gleichzeitiger Vorsitzender der

’Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft’ zählte er bis zu seinem Tod in 1963 zu

einem der wichtigsten Unterstützer der Sozialen Marktwirtschaft77.

73 Alexander Rüstow, Iktisat Ilminin Esasları (Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft), o.J.; Iktisadi Coğrafya(Wirtschaftsgeographie), 2 Bde., 1939 -1944.74 Im Vorwort des ersten Bandes heißt es: “ Um dieses deutsche Buch schreiben zu können, bin ich 1933 aus dem vonHitler überlagerten Deutschland emigriert, dessen Stickluft mir die Atemluft verschlug. Sich darüber klarzuwerden, wasdenn eigentlich geschehen sei, an welchem weltgeschichtlichen Ort wir uns befinden, schien mir die wichtigste unddringlichste Aufgabe, die die katastrophale Weltlage selbst dem Historiker wie dem Soziologen stellte”, Vgl.: AlexanderRüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, 3 Bde., Zürich 1950-57.75 Rudolf Nissen, a.a.O., S. 21376 Angela Göktürk, Schülerin von Rüstow, zitiert bei: Matthes Buhbe, Wirtschaftswissenschaftliche Emigration in dieTürkei - 40 Jahre danach, Vortrag am Humboldt-Kolloquim, Antalya 1991. (Manuskript bei mir).

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 147

Wilhelm Röpke, in 1899 geboren, hatte an der Universität Jena Soziologie und bei

Walter Eucken Nationalökonomie studiert. Er brachte in den Zwanziger Jahren eine

rasche wissenschaftliche Karriere hinter sich. Nach seiner Promotion in 1921 über

den “Hannoverischen Kali-Bau” und seiner Habilitierung mit 23 Jahren an der

Universität Marburg wurde er als der damals jüngste Professor nach Jena berufen

und lehrte dann an verschiedenen Universitäten Politische Ökonomie78. Um 1930

wurde Röpke Mitglied des Reichskomitees zur Untersuchung der Arbeitslosigkeit, er

versuchte mit seinem viel beachteten Buch “Weltwirtschaft und

Außenhandelspolitik”79 die Regierung zu einer Wirtschaftspolitik zu bewegen, die aus

der Inflation herausführen sollte und die auf internationale Kooperation und auf die

Belebung der Geldzirkulation zielte.

Zu dieser Zeit schon galt er wirtschaftspolitisch als Hauptvertreter der

neoliberalistischen Schule. Er nahm vor der Reichstagswahl 1930 Stellung gegen die

Nationalsozialisten und warnte in einem öffentlichen Aufruf, “wer nationalsozialistisch

wählt, weiß, daß er Chaos statt Ordnung, Zerstörung statt Aufbau wählt”80. Daher

wundert es nicht, daß Röpke nach der Machtergreifung, als einer der ersten

Professoren entlassen wurde und Deutschland mit seiner Familie verließ. Auch wenn

er mit seiner Ehefrau und drei Kindern zuerst in die Türkei emigrierte, “hat er

übrigens wohl nie die Absicht gehabt, sich in der Türkei auch nur auf mittlere Frist

häuslich einzurichten”81. Trotz der kalkulierten Weiteremigration wirkte Röpke, als

Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Volks- und Wirtschaftswissenschaft,

nachhaltig und erfolgreich. In vier Jahren seines Aufenthaltes in Istanbul publizierte

Röpke drei Lehrbücher, u.a. über seine Fachgebiete82 und schrieb für verschiedene

Zeitschriften. Röpke wurde 1936 zum ersten Direktor des von den emigrierten

Professoren gegründeten Wirtschaftswissenschaftlichen Institutes. Sein Schüler und

Übersetzer Muhlis Ete wurde in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem der

führenden türkischen Volkswirtschaftler und amtierte zeitweilig als Finanzminister.

Noch während seines Aufenthaltes in Istanbul stellte Röpke in zahlreichen Artikeln 77 Mehr dazu und zu seiner engen Beziehung zum Kabinett Erhard in : Herbert A. Strauss, Biographisches...., Bd. II, S.1003.78 Graz und Marburg waren seine weiteren Stationen.79 Wilhelm Röpke, Weltwirtschaft und Außenhandelspolitik, Berlin 1931.80 Hans Herbert Götz, Nachruf auf Röpke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.02.1966.81 Vgl.: Fritz Neumark a.a.O., S. 72 ff., Er war mit Röpke schon in Deutschland befreundet gewesen, beide bewohntenin Istanbul benachbarte Häuser.

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der “Neuen Zürcher Zeitung” seine Auffassungen über eine freie Gesellschafts-,

Wirtschafts- und Staatsordnung dar83. In den Jahren zwischen 1933 und 1937

entwickelte Röpke auch seine Konzeption für eine Trilogie, von der das erste Buch

“Die Gesellschaftskrise der Gegenwart” 1942 in der Schweiz erschien. Die beiden

anderen Bände waren “Civitas Humana” (1944) und “Die Internationale Ordnung”

(1945), beide Bücher sind auch in der Schweiz erschienen84. Röpke verließ 1937 die

Türkei und wechselte nach Genf, wo William Rappard ihm am ’Institute Universitaire

de Hautes Etudes Internationales’ (Institut für höhere internationale Studien) einen

Lehrstuhl anbot85. Obwohl Röpke auch nach dem Krieg in der Schweiz weiter lebte,

besuchte er wiederholt die Bundesrepublik, um hier das Thema der deutschen

Wirtschaftspolitik in seinen Grundproblemen zu untersuchen. Anläßlich seines 65.

Geburtstages bezeichnete ihn der damalige Wirtschaftsminister Erhard als den

„Vater der freien Marktwirtschaft“86. Röpke verstarb 1966.

Alfred Isaac gilt als Pionier der industriellen Verwaltung in der Türkei87. Nach seiner

Habilitation in 1926 hatte der 1883 geborene Isaac als Ordinarius an der

Handelshochschule in Nürnberg Betriebswissenschaft gelehrt. 1933 wurde er

82 Wilhelm Röpke, Iktisat Ilmi Nazari Kısım (theoretische Abhandlungen über Wirtschafts-wissenschaft), Istanbul 1934;Ekonomi Ilminin Tekamül Tarihi (Entwicklungsgeschichte der Wirtschaftswissenschaft), Istanbul 1936; CemiyetEkonomisi (Volkswirtschaft), Istanbul 1937.83 Die Mitarbeit von Röpke für die “Zürcher” wird in einem Dossier der Zeitung besonders gewürdigt, Vgl.: Neue ZürcherZeitung, 12.5.1967.84 Auch “Die deutsche Frage” , erschienen in Zürich 1945 und “Die Krise des Kollektivismus”, München 1947, werden indie türkische Epoche von Röpke eingeordnet. Widmann schreibt, daß “die geistigen Wirkungen”, die für Röpke “ vomtürkischen Exil ausgingen und bis in die unmittelbare deutsche Gegenwart hineinreichen, nicht hoch genug veranschlagtwerden können”, Vgl.: Horst Widmann, a.a.O., S. 125.85 Als Nachfolger von Wilhelm Röpke kam durch Initiative von Alfred Isaac, Gerhard Kessler und Fritz Neumark derÖsterreicher Alfred Dobretsberger nach Istanbul. Der 1903 geborene Dobretsberger war seit 1934 Professor fürVolkswirtschaft an der Universität Graz und zwischen 1935 und 1936 als Vertreter der Linken im ParlamentSozialminister in der Schuschnigg-Regierung “Vaterländische Front”. Er wurde nach der Annexion Österreichs verhaftet,konnte jedoch mit Ehefrau, Schwiegermutter und Tochter über Jugoslawien und die Schweiz in die Türkei flüchten. AlsProfessor für Allgemeine Wirtschaftswissenschaft entwickelte Dobretsberger auch eine rege Publikationstätigkeit. Nebenmehreren Zeitschriftenartikeln gab er zwei Lehrbücher über Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftspolitik heraus(Josef Dobretsberger, Iktisat Dersleri Notları (Wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen), Istanbul 1939; EkonomiSiyaseti (Wirtschaftspolitik), 2 Bde., Istanbul 1940 - 43). Obwohl er sich in Istanbul gut und schnell einlebte, verließ erdas Land mit seiner Familie 1941 in Richtung Palästina und anschließend Ägypten, wo er bis 1946 an der Universitätvon Kairo lehrte. Er fühlte sich durch die Anwesenheit von nationalsozialistischen Deutschen in der Türkei, besondersvon dem deutschen Botschafter Franz von Papen, den Dobretsberger aus seiner Wiener Botschafterzeit noch kannte,persönlich bedroht. Nach seiner Rückkehr in 1946 nach Österreich, wurde er in Graz Direktor des Instituts fürWirtschaftstheorie und war bis zu seinem Tod in 1970 in kommunistischen Kreisen und der Kommunistischen ParteiÖsterreichs aktiv. Neumark beschreibt ausführlich die abenteuerliche Flucht von Dobretsberger aus Österreich über dieSchweiz in die Türkei; F. Neumark, a.a.O., S. 84.86 Ludwig Erhard zitiert in : Interpress, 6.10.64.87 Vgl. dazu : Herbert A. Strauss, Biographisches..., Bd. II, S. 552.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 149

zwangsweise beurlaubt und im folgenden Jahr wurden seine Ruhestandsbezüge

gestrichen.

“Er mußte als Jude bald erkennen, daß seines Bleibens in Deutschland nicht mehr

lange war. Der Abschied fiel ihm außerordentlich schwer, da er (...) ein glühender

Verehrer deutscher Kultur war”88. Er zögerte bis 1937, in die Emigration zu gehen,

nahm dann aber den Ruf der Istanbuler Universität doch an. An der

wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in der Türkei war die moderne

Betriebswirtschaftslehre völlig unbekannt, insofern kam Isaacs Tätigkeit ein

besonderes Gewicht zu. Seine Vorlesungen hielt Isaac nach kürzester Zeit in

Türkisch und schrieb mehrere Fachartikel in türkischen Zeitungen und Zeitschriften.

Isaac entwickelte in Istanbul parallel zu seinen Vorlesungen über Betriebswirtschaft

eine sehr intensive “Fachschriftstellerei“89; er erstellte unter seinen wirtschaftswissen-

schaftlichen Kollegen aus Deutschland das umfangreichste Lehrmaterial mit

insgesamt acht Titeln u.a. über Teilgebiete der Betriebswirtschaft wie

Finanzmathematik, Buchhaltung und Versicherungsbetriebslehre90. Die meisten

dieser Bücher wurden bis in die späten sechziger Jahre weiterhin als Lehrbücher,

auch in Handelsgymnasien, benutzt. Insofern dürfte Isaac mit seinem Schrifttum

unter den emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern den größten Einfluß auf mehrere

Studentengenerationen gehabt haben. Isaacs Frau Gertrud Isaac arbeitete in der

Türkei als Klavierlehrerin. Das Paar Isaac verließ die Türkei 1950, Alfred Isaac lehrte

zuerst an der Universität Göttingen und ab 1952 an der Universität Nürnberg. Er

verstarb 195691.

Als Fritz Neumark 1933 in die Türkei emigrierte, hatte er den festen Glauben, “daß

Hitler und sein Regime nicht lange stand hält, ich schätzte höchstens zwei - drei

Jahre, und dann, dachte ich zu dieser Zeit noch, wären die weg”; für ihn war klar, daß

er nach dieser Übergangsphase wieder in die deutsche Heimat zurückkehren würde,

88 Fritz Neumark, a.a.O., S. 80.89Gerhard Kessler über Alfred Isaac, aus einem unveröffentlichten Brief Kesslers an den WirtschaftswissenschaftlerWilhelm Hasenack, Teile abgedruckt bei: Horst Widmann, a.a.O., S. 127.90 Alfred Isaac, Işletme Iktisadı (Betriebswirtschaftslehre), Istanbul 1939, Işletme Iktisadı (Betriebs-wirtschaftslehre), 3Bde., Istanbul 1940-44; Ticari Hesap ve Mali Cebir ( Wirtschaftliches Rechnen und Finanzmathematik), 2 Bde., Istanbul1940-44; Muhasebe Nazariyesi (Buchhaltungstheorie), Istanbul 1941; Hukukçular için Işletme Iktisatına Giriş (Einführungin die Betriebswissenschaftslehre für Juristen), Istanbul 1943; Işletmelerde revizyon ve kontrol (Revision und Kontrolle inBetrieben), Istanbul 1944; Sigorta Işletmesi (Versicherungsbetriebslehre), Istanbul 1946.91 Mehr über Isaacs Biographie in: Wilhelm Hasenack, Nachruf auf Alfred Isaac, BetriebswissenschaftlicheForschungen und Praxis, 8/1956.

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um dort wieder als Akademiker wirken zu können92. Vor seiner Flucht aus

Deutschland hatte er 1925, damals fünfundzwanzigjährig, an der Universität

Frankfurt bei dem liberalen Nationalökonom Wilhelm Gerloff habilitiert und blieb bis

1933 als Professor dort. Nach der Machtergreifung wurde Neumark jedoch

zwangsbeurlaubt, weil er jüdischer Herkunft war. Durch die Vermittlung der

’Notgemeinschaft’ konnte Neumark mit Ehefrau, Mutter, zwei Kindern, Schwester und

Schwager nach Istanbul emigrieren93. Da im Stellenplan der juristischen Fakultät kein

anderer Platz mehr frei war, wurde er (auf dem Papier) Professor für Sozialhygiene

und Statistik. “Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich kannte mich vor allem mit der

Sozialhygenie gar nicht, mit der Statistik sehr wenig aus und trug meine Bedenken

auch den zuständigen Stellen vor. Ich wurde dann aber von türkischer Seite beruhigt

und darin belehrt, es käme im Grunde gar nicht darauf an, wie mein Lehrstuhl

benannt sei, das Entscheidende wäre, daß ich an sich bereit war, an der Fakultät zu

wirken und wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen mit Niveau zu halten. Über den

Rest würde man sich einigen, man wäre ja schließlich in der Türkei“94. Neumark

wurde kurz nach seiner Ankunft, stellvertretend für die emigrierten Professoren,

anläßlich des Republikfeiertages dem Präsidenten Mustafa Kemal vorgestellt: “Er hat

mit mir über seine Zielsetzung gesprochen. Er sagte, daß wir von ihm in die Türkei

berufen worden sind, um dafür zu sorgen, daß wir innerhalb der kürzesten Zeit, so in

einer Frist von ungefähr fünf Jahren, unsere türkischen Nachfolger heranziehen“95.

Neumark, der nach zwei Jahren seine Vorlesungen in Türkisch abhielt, hatte seinen

Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Finanzwissenschaften. Wissenschaftliche

Ergebnisse seiner Tätigkeit in der Türkei liegen auch im großen Umfang vor und

zwar in Form von Monographien und einigen Lehrbüchern. Die Breite der Themen ist

zwischen Außenhandelspolitik und der Einkommensbesteuerung angesiedelt96. Er

gehörte zwischen 1939 und 1949 neben Gerhard Kessler zu den Mitherausgebern

der Fakultätszeitschrift “Revue de la Faculté des Sciences Economiques d´Istanbul”, 92 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...93 Familie Neumark kam mit einem Schiff über Italien in die Türkei. Die meisten Emigranten benutzten dieFrachtdampfer, die zu der Zeit sehr häufig zwischen Birindisi und Istanbul verkehrten. Eine andereVerbindungsmöglichkeit war die Eisenbahnstrecke Berlin-Wien-Belgrad-Sofia-Istanbul.94 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...95 Ebenda.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 151

wurde 1946 Leiter des neugegründeten Finanzwissenschaftlichen Instituts innerhalb

der Istanbuler Universität und beeinflußte über Fachgutachten direkt die türkische

Finanzpolitik. Dabei ist besonders seine Mitwirkung nach dem Ende des Zweiten

Weltkriegs beim Finanzministerium zu betonen; die Einkommensbesteuerung wurde

nach seinen Vorschlägen neu gestaltet, eine Körperschaftssteuer und eine Abgabe

für mittelständische Betriebe nach deutschen Steuermuster wurde eingeführt (das

1950 eingeführte Gesetz ist seither gültig geblieben). Neumark entwarf aber auch

Pläne zur Abwertung der türkischen Währung und zur Rationalisierung in den

staatlichen Verwaltungen97.

Fritz Neumark gehörte zu den sozial aktiven Emigranten in Istanbul. Unter seiner

Regie entstand ein Segel- und Ruderverein, er organisierte auch Treffen für musisch

begabte und interessierte Emigranten und informelle Begegnungen mit vor allem den

Wirtschaftswissenschaftlern einerseits und den Medizinern andererseits: “Um der

geistigen Isolation zu entgehen, rief ich eine kleine Privatakademie mit zwölf bis

fünfzehn Mitgliedern verschiedener Disziplinen ins Leben. Es wurde gelesen,

diskutiert, manchmal hielt einer der Teilnehmer einen Vortrag; es wurden aber auch

die neuesten Nachrichten aus der Heimat ausgetauscht. Die Situation in

Deutschland, der Krieg in Europa, das Schicksal der Verwandten und die eigene

Zukunft beherrschten so manches Gespräch”98. Neumark wurde jedoch nach dem

Besuch von Herbert Scurla in der Türkei für kurze Zeit von den Kollegen verdächtigt,

weil er im Scurla-Bericht, im Gegensatz zu anderen Professoren, nur kurz und nicht

unbedingt negativ erwähnt wurde99; “Die Beunruhigung legte sich aber bald”100.

Durch die Vermittlung seiner früheren Schülerin Marion Gräfin Dönhoff, die später die

Herausgeberin der “Zeit” wurde, kehrte Neumark 1951 nach Deutschland an die

Universität Frankfurt zurück, wo er eine Professur für Finanzwissenschaften

übernahm und auch zweimal Rektor wurde. Seit 1951 war er Mitglied und

96 Fritz Neumark, Dış Ticaret Siyaseti (Außenhandelspolitik), Istanbul 1938; Umumi Iktisat Teorisi (Allg.Wirtschaftstheorie), 2 Bde. 1939-42; Maliye Ilmine Dair Genel Ekonomik ve Sosyolojik Tetkikler (Ökonomische undsoziologische Untersuchungen zur Finanzwissenschaft), Istanbul 1940; Iktisadi Düşünce Tarihi I (Geschichte dervolkswirtschaftlichen Theorien I), Istanbul 1943; Genel Ekonomi Teorisi (Allg. Wirtschaftstheorie), 2 Bde. Istanbul 1944;Ekonomi Politika Dersleri (Vorlesungen über Wirtschaftspolitik), Istanbul 1945; Gelir Vergileri - Teori ve pratik(Einkommensbesteuerung in Theorie und Praxis), Istanbul 1946.97 Neumarks Bericht ist 1949 auch als Buch erschienen: Fritz Neumark, Devlet Daire ve Müesseselerinde rasyonelçalışma esasları hakkında rapor (Bericht über Rationalisierungsprinzipien in staatlichen Betrieben und Ämtern),Ankara1949.98 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...99 „Den Lehrstuhl für Nationalökonomie hat seit 1933 der Nichtarier (Ehefrau ist arisch), Dr. Fritz Neumark inne,geboren 1900. Neumark war früher Professor an der Universität Frankfurt/M“, Scurla-Bericht, a.a.O., S. 133.100 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...

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Vorsitzender der Wissenschaftlichen Beiräte beim Bundeswirtschafts- und beim

Bundesfinanzministerium. Neumark wurde wegen seiner Tätigkeit in der Türkei mit

einem Ehrendoktortitel honoriert. Zudem galt er bis zu seinem Tod in 1991, als der

Türkeiexperte mehrerer Bundesregierungen und begleitete auch deutsche Kanzler

und Delegationen bei ihren Türkeireisen, zuletzt 1985 auch den damaligen

Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er war zugleich Mitglied des

Wissenschaftlichen Beirats des Bonner Zentrums für deutsch-türkische Studien. Fritz

Neumarks Erinnerungen über die Lebensjahre während der Emigration in der Türkei,

die er in seinem Buch “Zuflucht am Bosporus - Deutsche Gelehrte, Politiker und

Künstler in der Emigration” niedergeschrieben hat , sind trotz, oder gerade wegen,

ihrer erzählerisch-autobiographischen Grundzüge eine der wenigen großen Quellen

über die deutschen Flüchtlinge in der Türkei nach 1933.

1.2.6 Rechtswissenschaften

Neben den Wirtschaftswissenschaftlern hatten auch die Juristen besondere

Schwierigkeiten zu überwinden, da für sie innerhalb der Lehre ein völliger Neubeginn

notwendig war. Die Türkei hatte zwar 1926 das Schweizer Zivil-, das italienische

Straf- und das deutsche Handelsrecht eingeführt, aber die Rezeption dieser nicht

gewachsenen Rechtssysteme bildete große Schwierigkeiten. Ein Grund war, daß die

türkischen Richter, Anwälte und juristischen Verwaltungsbeamte mit der praktischen

Anwendung dieser Gesetze, die sie meist ohne fakultären Hintergrund und in der

Sprache der Herkunftsländer gelesen hatten, überfordert waren. Zusätzlich, und das

ist viel wichtiger, kamen sie historisch gesehen eigentlich aus einer ganz anderen

Rechtstradition, der Scharia. Die Rechtsgrundsätze für alle Lebensbereiche

orientierten sich im Osmanischen Reich über Jahrhunderte am religiösen

Rechtssystem des Islams. Die Regeln der Scharia waren aus der Arbeit von

islamischen Gelehrten des 7. bis 10. Jahrhunderts hervorgegangen und beruhten

grundsätzlich auf dem Koran. Das Islamische Recht erhob den Anspruch, keinen

Bereich des Lebens ungeregelt zu lassen. Vom Gebet bis zum Steuerrecht, vom

Kaufvertrag bis zum Kriegsrecht erfaßte die Scharia alle privaten, gesellschaftlichen

und politischen Beziehungen der Osmanen; der Sultan hatte nur die Aufgabe, die

Anwendung der Scharia zu sichern. Es gab auch keine Rechtsanwälte oder Richter

im westlichen Sinne; Religionsmänner übernahmen diese Aufgaben. Es gab zwar

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Ansätze im Laufe des 19. Jahrhunderts die Scharia in einigen Punkten europäischen

Rechtskriterien anzugleichen, Bereiche wie Familien- und Strafrecht blieben jedoch

in der Regel davon unberührt. Insofern kam der Arbeit der deutschsprachigen

Professoren eine besondere Bedeutung zu, die auch darin bestand, eine ganz neue

und junge Juristengeneration, die westliche Gesetze rezipieren konnte,

heranzubilden101. Ein weiteres Problem bestand darin, eine juristische Begrifflichkeit

herauszuarbeiten, “ein Problem, das bis heute nicht in vollem Maße gelöst ist”102.

An der Juristischen Fakultät, die im gleichen Gebäude wie die

Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät untergebracht war, lehrten nach 1933

insgesamt vier deutschsprachige Emigranten als Professoren.

Auf diesem Gebiet ist vor allem der Name Ernst E. Hirsch zu erwähnen.

Ernst Eduard Hirsch, 1902 geborener Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie,

studierte Volkswirtschaftslehre und Rechtswissenschaften an den Universitäten

Frankfurt am Main und München. Nach seiner Promotion in 1924, habilitierte er 1930

in Gießen. Mitte Januar 1931 erfolgte seine Ernennung als Richter auf Lebenszeit

zum Lands- und Amtsgerichtsrat in Frankfurt. Nur dauerte die sogenannte

„Lebenszeit“ in diesem Fall nur knappe zwei Jahre. Am 30. März 1933 mußte Hirsch

nämlich, laut Anordnung des Staatssekretärs im Reichsjustizministerium Roland

Freisler103, auf die weitere Ausübung des Richteramtes verzichten.

Hirsch gelangte im Oktober 1933 mit seiner zukünftigen Ehefrau und zwei

“Geigenkasten im Handgepäck” über Holland flüchtend in die Türkei104. Für ihn war

die Professorenstelle im Handelsrecht an der Juristischen Fakultät vorgesehen, er

unterrichtete jedoch während seiner Istanbuler Lehrtätigkeit bis 1943 auch See- und

Urheberrecht. Nach kurzer Zeit gelang es Hirsch die Vorlesungen auf Türkisch zu

halten; “Hirsch war sehr sprachbegabt; ich bin heute noch darüber überrascht, wie

schnell es ihm gelang, der türkischen Sprache mächtig zu werden. Er war nach

kürzester Zeit in der Lage, zuerst die Prüfungen, alsbald auch die Vorlesungen auf

Türkisch zu halten. er war es auch, der als erster seine Bücher in der Landessprache

101 Vgl. zu den angesprochenen Schwierigkeiten : Hirschs Aufsatz, “Die Rezeption fremden Rechts als sozialerProzeß”, in: Festgabe für Fr.. Bülow, Berlin 1960.102 Ernst E. Hirsch, a.a.O., S. 254.103 Roland Freisler arbeitete nach der Machtergreifung bis 1942 als Staatssekretär, bevor er dann bis zum KriegsendePräsident des Volksgerichtshofes wurde.104 Hirschs Mutter verließ nach der “Reichskristallnacht” Deutschland und flüchtete auch in die Türkei.

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verfassen konnte”105. Hirsch nahm nach dem Verlust seiner deutschen

Staatsangehörigkeit 1943 die türkische Staatsangehörigkeit an, die er auch nach

seiner Rückkehr nach Deutschland bis zu seinem Lebensende behielt106.

Ab dem selben Jahr lehrte er an der Rechtsfakultät Ankara, wohin er sich freiwillig

versetzen ließ, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und juristische Methodenlehre.

In einer Festschrift würdigt Hamide Topçuoğlu ihren Lehrer Hirsch für seine

produktiven wissenschaftlichen Arbeiten und betont: “Durch seine außergewöhnliche

Lehrbegabung bei der Ausbildung unserer Juristen hat er eine große Rolle

gespielt”107. In den beinahe zwei Jahrzehnten seiner Tätigkeit in der Türkei

veröffentlichte Hirsch zahlreiche Lehrbücher und Monographien über Handel und

Wirtschaftsrecht, darunter ein noch immer in den türkischen Universitäten in Teilen

benutztes “Lehrbuch des Handelsrechts”. Die Bibliographie seiner Bücher und

Publikationen auf türkisch, darunter des 1000seitigen “Lehrbuchs zum türkischen

Handelsrecht”, füllt über sieben Seiten108.

An der praktischen gesetzgeberischen Arbeit beteiligte sich Hirsch durch zahlreiche

Gesetzesentwürfe, so für das Handelsgesetzbuch, das Aktiengesetz und das

Urheber- und Erfinderrecht109. Das 1949 erlassene Universitätsgesetz, das die

wissenschaftliche, verwalterische und finanzielle Autonomie der Universität

festschrieb (u.a. auch die universitätsinterne Wahl der Rektoren und Dekane), wurde

auch von Hirsch konzipiert110. Schockiert durch die Tötung vieler Verwandter in

Auschwitz wollte Hirsch ursprünglich nie wieder deutschen Boden betreten. Ernst 105 Fritz Neumark, a.a.O., S. 90 f.106 Hirsch schreibt in seinen Erinnerungen, daß sein Paß 1938 ablief, er aber ihn aus Protest gegen den vorgesehenenStempel “J” und den Namenszusatz “Israel” nicht verlängerte; durch die Vermittlung der Notgemeinschaft bekam er, wieandere sich in ähnlicher Situation befindende Emigranten, vorübergehend einen tschechischen Paß. Die türkischenStellen verlangten von ihm für die Vergabe der türkischen Staatsangehörigkeit, daß er auch zum Islam übertrat, wasHirsch ablehnte. Erst ein früherer Schüler von Hirsch, der Direktor der städtischen Justizverwaltung war, ermöglichteHirsch die bedingungslose Übernahme der türkischen Staatsangehörigkeit. Vgl.: Ernst E. Hirsch, Aus desKaisers...a.a.O., S. 354.107 Hamide Topçuoğlu, Ord.Prof.Dr. Ernst Hirsch´e Armağan (Gewidmet für Herrn Prof. Dr. Ernst Hirsch), Ankara 1964.Hierbei handelt es sich um eine sogenannte Festschrift über Hirsch, die neben einem Lebenslauf, seine Bibliographieund die kurz zitierte Würdigung enthält.108 Monographien und Lehrbücher von Ernst Hirsch (Auswahl): Hukuki Bakımdan Fikri Sayı (GewerblicherRechtsschutz und Urheberrecht), Istanbul 1942; Kara ve Deniz Ticaret Hukuku (Land- und Seehandelsrecht), Istanbul1944; Pratik Hukukta Metod (Rechtswissenschaftliche Methodenlehre), Ankara 1948; Hukuk Felsefesi ve HukukSosyoloji Dersleri (Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie), Ankara 1949.Vollständige Liste in: OrdProf. Ernst Hirsch´eArmağan, a.a.O.109 Das von Hirsch entworfene und 1948 angenommene türkische Urheberrecht ist noch immer gültig. Das Gesetzbuchist von Hirsch ins Deutsche übersetzt und kommentiert 1957 auch in Deutschland erschienen; Ernst Hirsch, Das neueUrheberrechtsgesetz der Türkei, Baden Baden 1957.

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Reuter erreichte 1952 jedoch, daß er die Berufung als Professor für Bürgerliches-

und Handelsrecht an der Freien Universität Berlin akzeptierte. Dort amtierte er

zwischen 1953 und 1955 auch als Rektor111.

In seinen Erinnerungen, die 1983 unter dem Titel “Aus des Kaisers Zeiten durch die

Weimarer Republik in das Land Atatürks - Eine unzeitgemäße Biographie”

erschienen112, hat er auch seiner Zeit als Emigrant mehrere Kapitel gewidmet. Das

Buch faßt das Leben von Hirsch, von der Schulzeit des Jungen aus dem jüdischen

Bürgertum bis zum angesehenen Juristen in der Türkei, zusammen. Hirsch

beschreibt neben dem Eintauchen in die für ihn fremde Welt, den Prozeß der

Verwestlichung der Türkei, vor allem die Veränderungen des Rechtssystems, an

denen er mitwirkte. Hirsch schildert aber auch persönlich Erlebtes, z.B. von den

Schwierigkeiten der türkischen Sprache bis hin zu manchen Intrigen türkischer

Kollegen, denen die ausländische Konkurrenz lästig und gefährlich war.

Ernst E. Hirsch hat nach seiner Rückkehr nach Deutschland bis zuletzt an den

politischen Entwicklungen in der Türkei regen Anteil genommen. So übersetzte er die

türkische Verfassung von 1982 ins Deutsche113. Hirsch verstarb 1985.

Andreas Bertholan Schwarz stammte zwar aus Ungarn und war dort 1866 auf die

Welt gekommen, hatte jedoch vor seiner Tätigkeit an der Juristischen Fakultät in

Istanbul mehrere Jahre an den Universität von Freiburg Römisches Recht und

Zivilrecht gelehrt, wo er 1934 zwangspensioniert wurde. Schwarz wurde, im

Gegensatz zu den anderen Juristen, nicht über die ’Notgemeinschaft’, sondern durch

die schweizerische Regierung in die Türkei weiterempfohlen. Er blieb in Istanbul bis

1953 und lehrte Römisches Recht, Zivilrecht und Rechtsvergleichung. Obwohl

Schwarz mehrere Lehrbücher herausgab, “hat er auf seine türkischen Mitarbeiter,

weniger vielleicht auf die Mehrzahl seiner Studierenden, einen nachhaltigen Einfluß

ausgeübt”114. Unter seinen Assistenten ist Hıfzı Veldet Velidedeoğlu hervorzuheben,

der später als Professor für Bürgerliches Recht an türkischen 110 Hirsch beschreibt sein Konzept ausführlich in: “Selbstverwaltung der Universität - Ein rechts-vergleichender Ausblickauf das türkische Recht”, in: Ernst E. Hirsch, Die Öffentliche Verwaltung, Berlin 1953. Das Gesetz wurde übrigens nachdem Militärputsch von 1980 außer Kraft gesetzt.111 Hirsch übernahm das Rektorat als Nachfolger des Ordinarius für klassische Philologie, Professor Georg Rohde.Rohde war selbst in der türkischen Emigration gewesen. Mehr ab S.205 dieser Arbeit.112 Ernst E. Hirsch, Aus des Kaisers...a.a.O., Auf Türkisch ist das Buch unter dem Titel: Ernst E. Hirsch, “Hatıralarım -Kayzer Dönemi-Weimar Cumhuriyeti-Atatürk Ülkesi - Zaman Sınırlarını Aşan bir Hayat Hikayesi”, in Ankara 1985,erschienen.113 Seine Übersetzung wurde jedoch nicht verlegt.

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Verfassungsänderungen mitarbeitete und als Kolumnist der kemalistischen

Tageszeitung ’Cumhuriyet’ als juristische Instanz des Kemalismus galt. Andreas B.

Schwarz starb 1960 in Paris.

Richard Honig war 1933 mit 43 Jahren Professor für Strafrecht, Rechtsphilosophie

und Kirchenrecht an der Universität Göttingen, verlor jedoch seine Stellung wegen

seiner jüdischen Herkunft. Er übernahm an der juristischen Fakultät in Istanbul den

Lehrstuhl für Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie, nachdem es zuerst wegen

seiner Berufung zu internen Auseinandersetzungen gekommen war. Das türkische

Erziehungsministerium hatte die Stelle ursprünglich für den türkischen

Rechtswissenschaftler Ferid Ayiter vorgesehen, der in Göttingen über

Rechtsphilosophie promoviert hatte. Nach Honigs Ankunft kam es deshalb zwischen

ihm und Honig zu großen Spannungen und Polarisierungen; beide bestanden auf

den selben Lehrstuhl, mehrere türkische Lehrkräfte solidarisierten sich mit Ayıter,

während Hirsch und die anderen für ihren deutschen Kollegen Partei nahmen. Durch

die Entscheidung des Unterrichtsministers bekam letztlich Honig die Stelle, während

für Ayiter im Handelsministerium die Stelle des Chefjustitiärs geschaffen wurde.

Honig verfaßte während seiner Istanbuler Tätigkeit insgesamt vier wissenschaftliche

Publikationen mit Schwerpunkt Römisches Recht. Er verließ vor dem Kriegsausbruch

die Türkei und emigrierte in die USA, wo er in der Universität von Georgia lehrte.

Richard Honig verstarb 1981.

114 Fritz Neumark, a.a.O., S. 89.

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1.3 Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie in Ankara

Die Fakultät für Sprache, Geschichte und Geographie, die 1935 in Ankara gegründet

wurde, war für Mustafa Kemal ein Prestigeobjekt; sie sollte den Mittelpunkt der

geschichts- und sprachwissenschaftlichen Forschungen bilden und stand daher von

Anfang an in engem Zusammenhang mit der Türkischen Sprachgesellschaft (Türk Dil

ve Tarih Kurumu). Beide Institutionen hatten die Aufgabe, die Türkisierung der

Sprache voranzutreiben und gleichzeitig die vorislamische Geschichte und Herkunft

der Türken zu erforschen und wissenschaftlich aufzuarbeiten115. Mustafa Kemal

Atatürk beauftragte am 11.03.1935 den Kulturminister Abidin Özmen in kürzester Zeit

in Ankara ein Fakultät für Geschichte und Geographie zu errichten. Am 14.06.1935

bewilligte das Parlament den Wunsch vom Staatspräsidenten und stellte 150

Tausend Lira zur Verfügung116. Die Eröffnung, an der auch Mustafa Kemal teilnahm,

fand am 09.01.1936 statt, die Eröffnungsrede hielt der neue Kulturminister Saafet

Arıkan: „Wir feiern heute die Eröffnung einer Institution, die für die Kulturwelt der

Türken die Säule bilden wird. Euer Auftrag ist Erfolg. Dieser Auftrag kommt von

unserem Vater Mustafa Kemal. Wir müssen ohne Pause arbeiten, um seinen Auftrag

zu verwirklichen“117 .Die Fakultät war durch ihren eindeutigen Auftrag zweifelsfrei in

die ideologische Konzeption des Staates eingebunden und dadurch für politischen

Mißbrauch am weitesten offen. Nach dem Weltkrieg vereinigte sie sich mit den

naturwissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten, aus der die Universität von

Ankara ausging.

An dieser Fakultät lehrte Walter Ruben zwischen 1935 und 1948 Indologie. Walter

Ruben, 1899 geboren, war vor seiner Emigration in die Türkei Privatdozent für

indische Philologie an den Universitäten Bonn und Frankfurt a.M.. Als die

Nationalsozialisten an die Macht kamen und Ruben sich wegen seiner jüdischen

Frau in Deutschland bedroht fühlte118, verließ er mit seiner Frau Frankfurt und wurde

in Ankara ansässig. Als Professor für Indologie hatte er anfänglich kaum interessierte

115 Mete Tunçay, a.a.O., S. 238.116 TBMM Genel Kurulu Oturum Dosyaları, Arşiv 14.06.1935, (Sitzungsprotokoll des Türk. Parl./ 14.06.1935).117 Kültür Bakanı Saffet Arıkan Bey´in konuşması, Cumhuriyet, 10.01.1936 (Die Rede des Kulturministers, in:Cumhuriyet).118 Interview mit Ernst Engelberg...

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Studenten, konnte jedoch in den vierziger Jahren das Fach durch Veröffentlichungen

populärer machen. Neben mehreren Aufsätzen in der fakultätseigenen Zeitschrift

veröffentlichte er, neben den Texten seiner Vorlesungen das erste türkische Buch

über den Buddhismus119. Ruben verließ 1948 die Türkei, war anschließend für zwei

Jahre als Professor für Indische Kultur in Chile tätig. Er kehrte 1950 in die DDR

zurück, wo er, neben einer Professur an der Humbolt Universität, ab 1960 an der

Akademie der Wissenschaften sich weiterhin mit südostasiatischen Kulturen und

Völkern auseinandersetzte.

Der auch in 1899 geborene Georg Rohde wurde als Professor für klassische

Philologie nach Ankara berufen. Rohde verlor in Deutschland seinen Lehrstuhl für

klassische Philologie an der Universität Marburg aus rassischen Gründen (weil er

sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen) und ging 1935 in die

Türkei. In Ankara trat er neben der Gründung des Instituts für Philologie und dem

Aufbau der dazugehörigen Bibliothek mit einer intensiven Übersetzungsarbeit hervor.

Unter seiner Anleitung wurde die bis heute sehr beliebte Literaturreihe “Dünya

Edebiyatından Tercümeler” (Übersetzungen aus der Literaturwelt) herausgegeben.

Seine Schülerin Azra Erhat hat in den 50er und 60er Jahren die meisten Werke der

griechischen Philosophen ins Türkische übersetzt120. Georg Rohde stand in Ankara

in enger freundschaftlicher Beziehung zu Ernst Reuter und lehrte durch seine

Vermittlung nach 1949 bis zu seinem Tod im Jahre 1960 an der Freien Universität

Berlin als Professor für klassische Philologie. Rohde war in den Jahren 1952 und

1953 Rektor der FU und wurde dann durch einen anderen Türkei-Rückkehrer, Ernst

E. Hirsch, abgelöst.

Hans Güterbock galt trotz seines jungen Alters ( er war 1908 geboren) Anfang der

dreißiger Jahre als einer der erfahrensten Hethitologen. Er leitete seit 1933 im

Auftrag der Deutschen Orientgesellschaft die Ausgrabungsarbeiten an der

hethitischen Stadt Boğazköy. Nach seiner persönlichen Entscheidung, nicht mehr

119 Walter Ruben, “Indoloji Araştırmaları”, (Indologische Forschungen), Ankara 1941; “Budizm Tarihi” (Geschichte desBuddhismus), Ankara 1948.120 Azra Erhat gilt auch als die Pionierin der sogenannten “Blauen Reise” entlang der türkischen Ägäis-Küste; auf derSuche nach griechischen Spuren an der bis in die 50er Jahre relativ unbekannten ägäischen Küste, war Erhat von denNaturschönheiten dieses Landabschnitts so sehr fasziniert, daß sie gegen Ende der 60er Jahre “ausstieg” und sich nurnoch der “Blauen Reise” widmete. Inzwischen wird die “Blaue Reise” touristisch vermarktet und zieht jährlich mehreretausend Touristen an, die mit gecharterten Seglern entlang der Küste fahren.

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nach Deutschland zurückzukehren und in der Türkei zu bleiben, wurde er 1935

Professor für Hethitologie an der Fakultät in Ankara. Nach Angaben von Peter

Neve121 arbeitete Hans Güterbock aber trotz seiner freiwilligen Emigration sehr eng

mit dem in Istanbul ansässigen und semidiplomatischen Deutschen Archäologischen

Institut122 zusammen. Neben einer intensiven Publikationstätigkeit über die Hethiter

und ihre Geschichte123, erarbeitete er mehrere Konzepte zur Errichtung eines

“hethitischen Museums” in Ankara; die Eröffnung des ’Museums für Anatolische

Zivilisationen’ in 1967 war “durch die Ideen und Vorschläge von Güterbock

beeinflußt”124. Hans Güterbock verließ die Türkei 1948 und übersiedelte in die

Vereinigten Staaten, wo er zum Leiter des Orientalischen Instituts an der Universität

von Chicago wurde.

Karl Menges hielt sich, nach seinem Philologiestudium in Frankfurt und Berlin,

zwischen 1926 und 1930 in den turksprachigen Gebieten der Sowjetunion wie

Kirgısien, Turkmenien und Dagestan auf und galt bei seiner Rückkehr nach

Deutschland als Spezialist für ural-altaisch-türkische Sprachen. Er konnte bis 1936

als Forscher an der Akademie der Wissenschaften in Berlin weiterarbeiten, wurde

aber 1936 von der Gestapo wegen angeblicher Spionagetätigkeit für die Sowjetunion

verhaftet. Nach seiner Freilassung in 1937 gelang es ihm durch die Vermittlung des

Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Laussane, über die Tschechoslowakei in

die Türkei zu flüchten. Er wurde als Professor für Russisch an die Fakultät in Ankara

berufen. Menges lehrte dort zwischen 1937 und 1940 neben Russisch auch

russische Literaturwissenschaften, anschließend emigrierte er in die USA. Von

Menges sind keine wissenschaftlichen Publikationen zurückgeblieben.

121 Peter Newe ist Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul.122 Das Archäologische Institut wurde nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischenDeutschland und der Türkei in 1929 eingerichtet, es sollte “als Zweigstelle des Deutschen Archäologischen Instituts inBerlin fungieren, jedoch planmäßige Forschungen zur türkischen Kulturgeschichte und Volkskunde betreiben”, Vgl.:Friedrich Dahlhau, a.a.O., S. 264. Der Leiter des Instituts wurde Professor Kurt Bitte, der zugleich an der DarülfünunProfessor für Vorgeschichte war. Bitte behielt seinen Posten bis zur Schließung des Instituts in 1944. Nach derWiederaufnahme der Arbeit in 1954 wurde Bittel wiederum zum Leiter des Instituts berufen.123 Hans Gustav Güterbock, u.a.: Die historische Tradition und ihre literarische Gestaltung bei Heitern bis 1200,Zeitschrift für Assyriologie, Nr. 44, Berlin 1938; Hethitische Götterdarstellungen und Götternamen, Ankara 1943; IstanbulArkeoloji Müzesinde Bulunan Boğazköy Tabletlerinden Seçme Metinler (Ausgewählte Texte von Tontafeln ausBoğazköy im Archäologischen Museum Istanbul), Istanbul 1944; Kumarbı Efsanesi (Die Legende von Kumarbı), Istanbul1946.124 Gespräch mit Peter Neve, Istanbul, 11.05.1994.

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Nach Neumark war “der hervorragendste Professor an der Fakultät für Sprache,

Geschichte und Geographie Professor Benno Landsberger”125. Landsberger war

Orientalist und galt “in seinem Fach allgemein als dessen hervorragender

Vertreter”126. Der 1890 Geborene hatte nach dem Studium der Orientalistik in

Leipzig, 1915 mit der Dissertation “Der kultische Kalender der Babylonier und

Assyrer” promoviert. Zwischen 1926 und 1935 war er als Professor in Leipzig und

Marburg tätig. Für das renommierte ’Orientalische Institut’ der Universität von

Chicago hatte er um 1930 die Bearbeitung der sumerischen Werke der Babylonier

übernommen, sie kommentiert und herausgegeben; mit dieser Arbeit erlangte er in

der Fachwelt internationalen Ruf. Trotz seiner jüdischen Religionszugehörigkeit

konnte er nach 1933 zuerst weiterarbeiten, weil er als Frontkämpfer aus dem Ersten

Weltkrieg eine Sonderstellung hatte. Er wurde jedoch 1935 entlassen und als erster

Vertreter der Altorientalistik nach Ankara berufen. “Dort widmete er mehrere Jahre

hindurch seine ganze Energie, unter Zurücksetzung eigener Arbeiten, der Förderung

seiner Schüler”127. Tatsächlich sind fast alle seine Schüler und Assistenten später zu

führenden Philologen der Türkei geworden. Landsberger brachte in der Türkei zwei

wissenschaftliche Werke heraus, die sich mit der Geschichte Anatoliens und der

Ausgrabungsstätte Karatepe beschäftigten128. Als ein weiterer Verdienst von

Landsberger ist anzusehen, daß er immer wieder auf die Wichtigkeit der

Sprachbeherrschung hinwies und seine Schüler dazu anleitete, als Wissenschaftler

im kulturellen Bereich mehrere Sprachen, darunter unbedingt Englisch und

Französisch, zu beherrschen. Die Absolventen seiner Abteilung galten daher

zugleich als sehr gute Sprachwissenschaftler 129. Die Sprachen waren für ihn das

wichtigste Mittel, um in die Eigenbegrifflichkeit der Kulturen eindringen zu können.

Während der Tätigkeit von Landsberger wurde aber an der Fakultät auch an

fragwürdigen Theorien gearbeitet, die eine “Kontinuität der anatolischen Zivilisation

125 Fritz Neumark, a.a.O., S. 94126 Hans Güterbock, Benno Landsberger 1890 - 1968, Archiv für Orientforschung 22/ 1968, S. 203.127 Hans Güterbock, a.a.O., S. 205.128 Benno Landsberger, Ön Asya Tarihinin Esas Meseleleri (Die wahren Probleme der Geschichte Vorderasiens),Istanbul 1943; Karatepe Harabelerinin Keşfi ile ilgili Araştırmalar, (Studien zur Entdeckung der Ruinenstätte Karatepe),Ankara 1948.129 Gespräch mit Kadriye Yalvaç, Istanbul 20.04.1994. Yalvaç war nach 1943 Studentin bei Landsberger und wurdespäter am gleichen Institut Dozentin für altorientalische Sprachen.

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auf Sprachbasis” belegen sollten130. Studenten von Landsberger wie Kemal Balkan

oder Füruzan Kınal gehörten zu führenden Wissenschaftlern, die mit ihren

Untersuchungen zu Babylonier, Sumerer und Hethiter eine Zusammengehörigkeit

zwischen diesen anatolischen und mesopotamischen Völkern und den Türken

herzustellen versuchten. Das Ziel war, die osmanisch-islamische Zeit der Türken zu

einer „Zwischenperiode“131 zu erklären, zu negieren132und die Türken als

Nachkommen einer imaginären anatolischen Zivilisation zu definieren133. Inwieweit

Landsberger und seine emigrierten Kollegen sich in diesem Zusammenhang konkret

instrumentalisieren ließen, entzieht sich meinen Kenntnissen134. Es bleibt jedoch

festzuhalten, daß nach 1936 schwerpunktmäßig an dieser Fakultät der Versuch

unternommen wurde, einen bestimmten Teil der türkischen Geschichte, ideologisch

bedingt, systematisch auszulöschen. Dabei wurden u.a. unter der Anleitung von

Experten dieser Institution Unterrichtsbücher gestaltet, die die Osmanische

Geschichte verfälscht oder negativ wiedergaben.

1948 folgte Landsberger einem Ruf an die Universität von Chicago, wo er bis zu

seinem Tod im Jahre 1968, weiter als Professor für Orientalistik und Direktor des

’Orient Institute’ tätig war.

130 Iskender Ohri stellt in seinem 1978 erschienenen Buch “Anadolu´nun Öyküsü” (Geschichte Anatoliens) diesesThema zur Diskussion und würdigt die Forschungen der dreißiger Jahre besonders. Das in der Türkei als Standardwerkbetrachtete Buch gehört übrigens zu den wenigen Büchern, die das türkische Militär mit einem Erlaß für besonderswertvoll erklärt hat. Iskender Ohri, Anadolu´nun Öyküsü, Istanbul 1978.131 Iskender Ohri spricht im Zusammenhang mit dem osmanischen Reich von einer “künstlichen Zeit” in der Geschichteder Türken, Vgl.: Iskender Ohri, a.a.O., S. 125.132 Ebenda.133 Ekrem Akurgal, “Dünya Uygarlığında Yerimiz” (Unser Platz innerhalb der Weltzivilisation), Istanbul 1975.134 Frau Yalvaç meinte zu dieser Problematik, daß Landsberger den gängigen Standpunkt in der Türkei unterstützte.Gespräch mit Kadriye Yalvaç...

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1.4 Experten in Ministerien in Ankara

Celal Bayar, in den 30er Jahren Wirtschaftsminister135, beauftragte 1934 Philipp

Schwartz über die ’Notgemeinschaft’ wirtschaftlich kompetente Fachkräfte für sein

Ministerium zu vermitteln136. Nach meiner Recherche konnten so insgesamt sechs

deutsche Flüchtlinge in der Türkei in staatlichen Institutionen eine Tätigkeit finden137,

die meisten von ihnen blieben nur eine kurze Zeit in Ankara oder Istanbul und reisten

in der Regel noch in 1938 weiter. In diesem Zusammenhang ist jedoch besonders

darauf hinzuweisen, daß eine größere Anzahl von Nicht-Emigranten, also offiziell von

der deutschen Reichsregierung geschickte Deutsche, auch als Experten in

Ministerien und Behörden der Türkei arbeiteten.

Fritz Baade, 1893 in Neuruppin geboren, war SPD-Abgeordneter im Reichstag und

hatte vor seiner Vermittlung in die Türkei als Reichskommisar für die „Deutsche

Getreide-Handelsgesellschaft“ gearbeitet und als Dozent für Agrarwesen gewirkt.

1933 aus allen Ämtern entlassen, emigrierte er durch die Vermittlung von Schwartz in

die Türkei und wurde dort zuerst Agrarsachverständiger im Wirtschaftsministerium

und ab 1939 Chefberater für Agrarwesen im neugegründeten

Landwirtschaftsministerium. Baade wurde wegen seiner Beziehungen zur deutschen

Botschaft in Ankara von Ernst Reuter kritisiert138, stand jedoch auf anderer Seite mit

dem Widerstandskreis um Carl Goerdeler in Verbindung. Während seiner Tätigkeit

veröffentlichte er mehrere Gutachten und Berichte zur Agrarwirtschaft und -

problematik in der Türkei. Er gehörte zu den deutschen Flüchtlingen, die nach dem

Abbruch der Beziehungen zum Dritten Reich interniert wurden; da er sich jedoch

während seiner Internierung in Kırşehir um die landwirtschaftlichen Probleme der

Stadt kümmerte, wurde er nach 1945 zum Ehrenbürger von Kırşehir erklärt. Baade

verließ 1946 die Türkei; nach einem zweijährigen Aufenthalt in den USA kehrte er

135 Celal Bayar gehörte nach 1945 zu den Gründern der Demokratischen Partei und wurde nach den Wahlen von 1950von der parlamentarischen Mehrheit dieser Partei zum Präsidenten gewählt; 1960 wurde er durch den Putsch derMilitärjunta, zusammen mit dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes, gestürzt und verhaftet. Ein Sondertribunalverurteilte Bayar wegen angeblicher Verletzung der Verfassung und kemalistischer Prinzipien zu lebenslanger Haft, erwurde jedoch nach einigen Monaten begnadigt. Menderes wurde jedoch aufgehängt.136 Philipp Schwartz, a.a.O., S. 16.137 Einzig der Weg von Berthold Lichtenberger in die Türkei führte nicht über die ’Notgemeinschaft’.138 Vgl. Reuter´s Äußerungen und Haltung über Baade ab Kapitel 3.1.4 dieser Arbeit.

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nach Deutschland zurück und war als SPD-Abgeordneter zwischen 1949 und 1965

Mitglied des Bundestages. Er verstarb 1974.

Max von der Porten gehörte vor seiner Flucht aus Deutschland zu den

einflußreichsten Personen in der Metallbranche; er war Generaldirektor der

Vereinigten Aluminium Werke (mit über 5000 Angestellten und Arbeitern) und

Vorsitzender des “Gesamtausschuß zur Wahrung der Interessen der deutschen

Metallwirtschaft”; nachdem er wegen seiner jüdischen Herkunft seine Posten verlor,

kam er mit 48 Jahren 1934 in die Türkei. Als persönlicher Industriesachverständiger

des Ministerpräsidenten Ismet Inönü blieb er drei Jahre in der Türkei. Trotz seiner

besonderen Stellung sind weiterführende Informationen über seine konkrete Arbeit in

der Türkei leider nicht ausfindig zu machen. Porten ließ sich nach seiner Abreise aus

der Türkei in den USA nieder, wo er 1943 starb.

Hans Wildbrandt war mit 30 Jahren der jüngste Berater unter den Emigranten. Vor

seiner Emigration war er als Assistent am Berliner Institut für Landwirtschaftliche

Marktforschung tätig und galt als Agrarexperte der SPD. Durch die Vermittlung der

’Notgemeinschaft’ wurde er ab Dezember 1934 Berater der türkischen Regierung für

agrarwirtschaftliche Fragen. Nach 1941 wechselte er jedoch zum Privatsektor und

blieb bis 1952 in Istanbul139. Erwähnenswert ist auf jeden Fall, daß Wildbrandt 1943

in Istanbul ein Treffen mit Helmut James Graf von Moltke140 arrangierte, an dem auch

Gerhard Kessler und Alexander Rüstow teilnahmen141. Nach seiner Rückkehr nach

Deutschland wurde er als Professor für Agrarwesen an die Universität Kiel berufen.

Neben seinem beraterischen Engagement für mehrere internationale Organisationen

139 Wildbrandt wurde 1944 auch interniert und nach Yozgat gebracht.140 Helmut James Graf von Moltke gehörte zu der Widerstandsgruppe, die als „Kreisauer Kreis“ bekannt wurde. Erstammte aus einer Familie des mecklenburgischen sogenannten Uradels, dessen bekannteste Persönlichkeit derpreußische Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke war. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er alsKriegsverwaltungsrat in das Oberkommondo der Wehrmacht, Abteilung Ausland eingezogen. Aus seiner christlichenEinstellung heraus sammelte er ab 1940 im Kreisauer Kreis Menschen um sich, um ein christliches Gegenmodell zumNationalsozialismus zu entwickeln. Er wurde 1944 verhaftet und wegen Hochverrat am 23.Jan.1945 in Berlinhingerichtet. Mehr über ihn und den Kreisauer Kreis u.a. in : Ger van Roon (Hrsg.) „Helmuth James Graf von Moltke -Völkerrecht im Dienste der Menschen“, München 1986.141 Helmut James Graf von Moltke war durch sein Arbeitsfeld im Oberkommondo der Wehrmacht oft in der Lage,teilweise mit offiziellem Auftrag, ins Ausland zu reisen. er nutzt jedoch solche Reisen dazu, um Kontakte mit Exilgruppenaufzunehmen. So kam er im Mai 1943 über Bulgarien nach Istanbul, wo er vier Tage blieb und sich mit Wildbrandt,Kessler und Rüstow zusammentraf. Neumark hat Moltke auch kennengelernt, hat jedoch nicht an den politischenGesprächen teilgenommen, deshalb sind über den konkreten Inhalt dieser Treffen keine weiteren Angaben machbar.

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wie U.N. und FAO verfaßte Wildbrandt für deutsche Regierungen und die (damalige)

EWG mehrere Gutachten über die Agrarprobleme der Türkei142.

Oscar Weigert, 1886 geboren, hatte nach dem Studium der Rechtswissenschaften

und der Teilnahme am Ersten Weltkrieg, im Reichsarbeitsministerium die

Arbeitsvermittlungsstelle geleitet und war Dozent an der Verwaltungshochschule in

Berlin.

Nach der Entlassung wegen seiner jüdischer Herkunft emigrierte er zuerst in die

Vereinigten Staaten. Dort war Weigert als sozialpolitischer Berater für das

amerikanische Arbeitsministerium tätig. Zwischen 1935 und 1938 hielt er sich durch

die Vermittlung von Gerhard Kessler als Berater des Wirtschaftsministeriums in der

Türkei auf. Er arbeitete mit Kessler zusammen an der Arbeitsgesetzgebung, verließ

jedoch die Türkei und kehrte wieder in die USA zurück. Bis zu seinem Tod in 1968

lehrte er an verschiedenen amerikanischen Universitäten.

Berthold Lichtenberger ist als einer der zwielichtigsten Expertenerscheinungen zu

betrachten. Geboren 1887 als Kind einer deutsch-russischen Ehe studierte er

Agrarwissenschaften und wurde nach dem Ersten Weltkrieg Direktor der

’Versuchsanstalt für Milchwirtschaft’ in Kiel. 1934 aus seiner Stelle entlassen,

emigrierte er zuerst in die Vereinigten Staaten und war bis 1938 Leiter einer

agrarwirtschaftlichen Firma. Er ließ sich im selben Jahr durch die amerikanische

Botschaft in die Türkei weiter empfehlen und wurde Berater des

Handelsministeriums; ihm wurde die Aufgabe übertragen, die milchverarbeitende

Industrie zu modernisieren. Die noch heute profitbringenden Staatsbetriebe S.E.K.

und Atatürk Orman Çiftliği wurden unter der Leitung von Lichtenberger neu

organisiert; neben Pasteurisierung wurde auch die Flaschenfüllung als Ergebnis

seiner Tätigkeit eingeführt143.

Obwohl Lichtenberger sich als Emigrant in der Türkei aufhielt, hatte er sehr

intensiven Kontakt zu deutschen Diplomaten und nationalsozialistisch eingestellten

Deutschen. So ist bei Scurla über ihn zu lesen: “Lichtenberger nähme am Leben der 142. u.a.: Hans Wildbrandt, “Die Zitruswirtschaft des Mittelmeerraumes”, 1967 und “Die Landwirtschaft in der Türkei”,Bonn 1974.

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deutschen Kolonie teil und habe sich bei ihm zum Eintritt in die Deutsche Arbeitsfront

gemeldet”144. Lichtenberger kehrte 1939 nach Deutschland zurück und machte hier

während des Zweiten Weltkrieges Karriere in der Milchindustrie, zuerst als Leiter der

Heinrich Lanz AG in Baden, ab 1943 als Direktor der Kühldienst GmbH in Berlin.

1948 trat er dann in die SED ein und wurde an der Humbolt Universität Professor für

Agrarwesen. Berthold Lichtenberger starb 1953.

1889 in Nordschleswig geboren, studierte Ernst Reuter in Marburg, München und

Münster für das Lehramt mit dem Schwerpunkt alte Sprachen. Er war seit 1912

Mitglied der SPD, im selben Jahr hatte er sein philologisches Studium beendet. Zu

einem tief prägenden Erlebnis wurde für ihn die russische Kriegsgefangenschaft

während des Ersten Weltkriegs. Von den Ideen der Oktoberrevolution begeistert,

entschied er sich im post-revolutionären Rußland zu bleiben. Seine Bekanntschaft

mit Lenin ermöglichte ihm, als politischer Leiter für deutsche Angelegenheiten in die

sogenannte “Volgadeutsche Republik” versetzt zu werden145.Nach dem Sturz der

Monarchie in Deutschland, fuhr Reuter im Auftrag Lenins nach Berlin zurück und

wurde 1920 hier zum Generalsekretär der KPD gewählt. Nach

Auseinandersetzungen über den Führungsstil und praktische Politik der

Parteiführung wurde Reuter durch das Politbüro seiner Parteiämter enthoben. Wieder

zurück in der SPD, übernahm Reuter im Jahre 1926 das Magistratsamt für Verkehr.

Unter dem Dach der Berliner Verkehrsgesellschaft faßte er Straßenbahnen, Busse

und die U-Bahnen zusammen. Als Verkehrs- und Kommunalpolitiker sehr erfolgreich

und zwischenzeitlich als internationale Kapazität anerkannt, wurde er 1931 zum

Oberbürgermeister von Magdeburg und im Juli 1932 für die SPD in den Deutschen

Reichstag gewählt. Die Nationalsozialisten verhafteten ihn zweimal und brachten ihn

in das Konzentrationslager Lichtenburg bei Torgau (im August 1933 und im Juni

1934). Aufgrund seines chronischen Bronchialkatarrh aus der Haft entlassen,

beschloß Reuter Deutschland zu verlassen: “Ich bin so lange in Deutschland

143 Süt Endüstrisi Kurumu S.E.K. (Milchwirtschaftsunternehmen) und Atatürk Orman Çiftliği (Atatürk Waldhof) habenbis in die 60er Jahre das Monopol der milchverarbeitenden Industrie in der Hand gehalten; wegen der Gleichsetzung derMilchprodukte mit diesen beiden “Institutionen” haben andere, privatwirtschaftliche Produkte heute nochAbsatzschwierigkeiten. Ich kann allerdings aus eigener Erfahrung berichten, daß die Milch der S.E.K. tatsächlich besserschmeckt (zumindest in meiner Kindheit schmeckte) als andere Milchsorten.144 Klaus-Detlev Grothusen, a.a.O., S. 86.145 In dem Gebiet zwischen Samara und Zarizy, dem späteren Stalingrad, nach 1961 Wolgograd, lebten Anfang der20er Jahre über 600 000 Nachkommen der Deutschen, die Katharina die Große im 18. Jahrhundert ins Land gerufenhatte.

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geblieben, als es nur irgend möglich war, weil ich es für meine Pflicht gegenüber

unserer Vergangenheit und unserer Zukunft hielt, eine absolute und durch nichts zu

brechende Standhaftigkeit ostentativ146 zu zeigen. Ich habe dafür persönlich einen

ziemlich hohen Preis gezahlt, der aber meines Erachtens nicht zu hoch gewesen

ist“147. Reuter flüchtete im Januar 1935 mit seiner Frau und dem Sohn Edzard über

die holländische Grenze nach England. Der ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete

Fritz Baade148 unterrichtete ihn aus der Türkei über die Möglichkeit, als Experte im

türkischen Wirtschaftsministerium zu arbeiten. Reuter nahm das Angebot an und

kam am 04.06.1935 in der Türkei an149; seine Familie folgte ihm später150. “Wir

sollten erst einmal abwarten, ob mein Vater tatsächlich eine Anstellung bekam;

zusätzlich waren wir knapp an Geld”151. Reuter unterzeichnete einen Vertrag als

Sachbearbeiter für allgemeine Tariffragen für das Wirtschaftsministerium in Ankara.

Er war auf eine schnelle Beherrschung der türkischen Sprache besonders

angewiesen, da weder die Beamten im noch die Mitarbeiter der Institutionen, mit

denen er zu tun hatte, deutsch sprechen konnten. “Anfangs habe ich halb verzweifelt

gegen leere Wände, gegen die Sprachschwierigkeiten, gegen alles angekämpft.

Heute weiß ich, daß ich so oder so die Dinge meistern werde. Ich werde Türkisch

beherrschen”152. Tatsächlich gelang es Reuter bis 1938 die türkische Sprache “nicht

völlig fließend, aber sehr selbstsicher und dadurch überzeugend”153 zu sprechen. Zu

den Aufgaben von Reuter gehörte in erster Linie die Planung des türkischen

Verkehrswesens, die Neuordnung der Eisenbahntarife und die Harmonisierung der

tariflichen Beziehungen zwischen Eisenbahn und Küstenschiffahrt. Während seiner

Arbeit für das Wirtschaftsministerium (und ab 1939 für das neugegründete

Verkehrsministerium) verfaßte er über 84 Berichte und Statistiken, u.a. über Aufbau

des städtischen Verkehrsnetzes, Schiffahrtstarife und Tarifkontrolle in türkischen

146 Dieses Wort hat die Bedeutung ´offensichtlich`, ´prahlerisch`; Vgl.: Lutz Mackensen, Deutsches Wörterbuch,München 1982, S. 782.147 Aus einem Brief von Ernst Reuter an Paul Hertz, Ankara 9.2.1937, In.: Ernst Reuter, Schriften/Reden Bd. II, Berlin1973, S. 485.148 Baade war selbst 1934 durch die Vermittlung der `Notgemeinschaft` in die Türkei gekommen, mehr über ihn S. 210dieser Arbeit.149 Reuter und Baade zerstritten sich in der Türkei, da Baade sich auch mit Diplomaten der deutschen Vertretung inAnkara traf ; er bezeichnete ihn deshalb als einen “schandbaren Verräter”, Vgl.: Ernst Reuter, a.a.O., S. 484.150 Frau Hanna Reuter und Edzard ( der spätere Mercedes-Vorstandchef ), kamen im August 1935, Tochter Hella erst1939 nach.151 Gespräch mit Edzard Reuter, Bonn - 10.09.1992.152 Zitiert aus einem Brief von Ernst Reuter vom 6.9.1935, in: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. I, S. 473.153 Gespräch mit Edzard Reuter...

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Häfen154. 1938 erhielt Reuter einen Lehrauftrag für Kommunalpolitik an der

Hochschule für Politische Wissenschaften in Ankara. Er war der einzige Flüchtling,

der ohne eine zurückliegende akademische Karriere gehabt zu haben, in der Türkei

auf einen Lehrstuhl berufen wurde; er wurde zum Professor ernannt, ohne vorher

habilitiert zu haben. Die Hochschule, an der er bis 1946 lehren sollte, war die

Nachfolgerin der Osmanischen Verwaltungsschule in Istanbul; obwohl sie

“Hochschule” genannt wurde, war sie eher eine Ausbildungsstelle für höhere Beamte

und Diplomaten. Reuter selbst bezeichnete sie als eine “Verwaltungsakademie zur

Ausbildung der höheren türkischen Verwaltungsbeamten”155.Sie gilt bis heute als die

Nachwuchsquelle für das Außenministerium. Nachdem der Vertrag mit dem

Verkehrsministerium 1940 nicht mehr verlängert wurde156, konzentrierte sich Reuter

auf seine Hochschultätigkeit in Ankara. “Eine große Anzahl von jungen

Verwaltungsbeamten ging durch seine Hand”157. Ernst Reuter wurde 1939 vom

Direktor der Hochschule Emin Erişirgil beauftragt, ein Institut für Städtewesen zu

gründen. Obwohl Reuter sich konzeptionell sehr intensiv mit diesem Institut

beschäftigte und neben mehreren Berichten auch seine Satzung vorbereitete, konnte

das Institut “wegen der ungünstigen Bedingungen, die der Ausbruch des Zweiten

Weltkrieges mit sich brachte”158, erst 1953, also nach Reuters Tod, eingerichtet

werden. Nach 1942 wurde ihm vom Innenministerium auch die Aufgabe übertragen,

im Rahmen seiner Lehrtätigkeit Landräte auszubilden. Parallel zu seinen

Vorlesungen widmete sich Reuter auch wissenschaftlichen Publikation über seine

Themen. Im Sommer 1940 erschien sein erstes Buch mit dem Titel „Komün Bilgisi“

(Kommunales Wissen)159. Weitere Publikationen über den Nahverkehr (Yakın

Münakele, Ankara 1943) und die Finanzen der Gemeinden (Belediye Maliyesi,

154 Eine vollständige Auflistung der Expertisen von Reuter befindet sich in: Fehmi Yavuz, “Prof. Ernst Reuter”, SiyasalBilgiler Fakültesi Dergisi (Zeitschrift der Politikwissenschaftlichen Fakultät), Ankara 3/1968, S. 190 ff.155 Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 542.156 Die Türkei entließ auf Druck der Allierten die Deutschen aus öffentlichen Stellen, unabhängig davon, ob siesogenannte “Reichsdeutsche” oder Emigranten waren. Hochschullehrer und Ärzte waren von dieser Maßnahme nichtbetroffen.157 Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 456.158 Hilmi Yavuz, Der Professor in der Türkei, in: Erinnerungen an Ernst Reuter, Berlin 1978, S. 30.159 Ernst Reuter, Komün Bilgisi, Ankara 1940. Das 348 Seiten dicke Buch behandelte Themenkomplexe wie daskommunale Verwaltungsrecht, Probleme bei der Finanzierung der Gemeinden und kommunale Kulturpolitik. Es gab vordiesem Buch über solche Themen keine andere türkische Quelle, insofern war das “Komün Bilgisi” besonders wichtigund nachhaltig beeinflussend.

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Ankara 1945) folgten160. Zusätzlich veröffentlichte Reuter an die 40 Artikel in

mehreren türkischen Zeitschriften161. Nach 1944 war er bis zu seiner Abreise

ehrenamtlicher Verkehrs- und Tarifexperte der Istanbuler Schiffahrtsverwaltung und

mußte deshalb zwischen Ankara und Istanbul hin und her pendeln. Edzard Reuter

erzählte mir, daß sowohl Ernst Reuter als auch die gesamte Familie sich in der

Türkei wohl gefühlt haben: “..mit Privatunterricht, Putzfrau, vielen Freunden, einem

Hund und allem drumherum”162. Es ist auch anzumerken, daß Reuter durch seine

besondere Stellung an der für die Regierung sehr wichtigen Hochschule, die ja zu

der Zeit letztlich eine Art von Parteikaderschule war, eine besondere und durchaus

einflußreiche Stellung hatte. Viele von Reuter´s Schülern wurden noch während

seines Aufenthaltes zu Bürgermeistern, Provinzgouverneuren, Stadträten und hohen

Verwaltungsbeamten ernannt. Die privilegierte Situation von Reuter ist auch

sicherlich die Erklärung dafür, daß die türkische Regierung nach dem Abbruch der

diplomatischen Beziehungen mit Deutschland, durch einen Ministerratsbeschluß, für

die Familie Reuter eine Sonderbehandlung zubilligte und sie, im Gegensatz zu fast

allen anderen Flüchtlingen, nicht internieren ließ163. Ernst Reuter war, wie die

Professoren, vertraglich dazu verpflichtet, sich politisch nicht zu betätigen und zu

äußern164. Wie bei Gerhard Kessler, Alexander Rüstow und anderen Professoren der

Istanbuler Fakultät für Wirtschaftswissenschaften barg dieser Vertrag jedoch auch

bei ihm in sich einen Widerspruch. Diese Professoren, auch Reuter, hatten alleine

durch ihre Lehrfächer politische Inhalte zu übermitteln und zu lehren - wie kann man

sich mit der Wirtschaft beschäftigen, ohne ihre politischen Aspekte einzubeziehen?

Bei Reuter kam hinzu, daß er in seinen kommunalpolitischen Vorlesungen und bei

seiner Mitarbeit für die Ministerien konkret mit zukünftigen Politikern des Landes zu

tun hatte. Insofern ist anzunehmen, daß dieser Artikel eher gegen politische

Organisationsformen und -erscheinungen unter Emigranten zielte. Allgemein hielten

160 Yakın Münakale” (Nahverkehr) wurde aus für mich nicht erklärbaren Gründen nicht gedruckt und blieb nur alsManuskript Studenten der Hochschule zugänglich. Dabei legte Reuter auf sein Erscheinen besonders Wert, weil er“seine Erfahrungen mit der Berliner Verkehrsgesellschaft” hier einarbeitete. Vgl.: Silke Brügel, Leben und Wirken ErnstReuters in der Türkei, Istanbul 1991, S. 46.161 Die Artikel befassen sich mit Fragen der türkischen Gemeinden - von Elektrisierungsproblemen bis zu denGrundlagen des Verkaufs von Trinkwasser; die vollständige Liste der Veröffentlichungen ist bei Silke Brügel, a.a.O., S.79 ff. abgedruckt.162 Gespräch mit Edzard Reuter...163 Hilmi Yavuz sieht darin einen Vertrauensbeweis der türkischen Regierung gegenüber Reuter und fügt hinzu, daß er“ein aufrichtiger Bewunderer von Atatürk” war; Vgl.: Hilmi Yavuz, a.a.O., S. 30.164 Der dritte Artikel seines Vertrages stellte fest, “Während seines Aufenthaltes in der Türkei wird sich Prof. Reuternicht mit der Politik und dem Handel beschäftigen”; der Vertrag befindet sich im Archiv der Hochschule der PolitischenWissenschaften, Ankara. Eine Kopie ist im Anhang von Silke Brügel ,a.a.O., S. 84 abgedruckt.

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sich auch die meisten Emigranten an diesen Artikel, vielleicht auch aus persönlichen

Gründen oder auch aus Desinteresse gegenüber den Geschehnissen in Deutschland

(nicht jeder Emigrant war zugleich ein politischer Widerstandskämpfer, weder in der

Türkei noch anderswo), zeigten sie keine Neigung, sich politisch zu betätigen und zu

äußern. Ernst Reuter gehörte zu einer kleinen Gruppe von Emigranten (u.a. Gerhard

Kessler), die sich mit der Lage in Deutschland beschäftigten und auch nach einer

politischen Orientierungsmöglichkeit suchten165. Sowohl sein Briefwechsel mit

Thomas Mann aus dem Jahr 1943, als auch die Bemühungen einen “Deutschen

Freiheitsbund” in der Türkei ins Leben zu rufen, zeigen166, daß Reuter an der

Entwicklung und an einer Sammlung politischer Kräfte für den Wiederaufbau

Deutschlands interessiert war. Seine Mitarbeit für die Istanbuler Filiale des

“International Rescue and Relief Committee” (I.R.R.C) muß auch in diesem Kontext

betrachtet werden. “Wir haben mit bescheidenen Mitteln vielen Menschen, die auf

merkwürdigen verschlungenen Wegen durch die Türkei kamen, geholfen, haben sie

weiterleiten können, haben ihnen Pässe besorgt, haben ihnen Reisemittel besorgt

und haben uns dafür eingesetzt, daß sie das Land der Freiheit erreichen konnten”167.

Die I.R.R.C unterstützte die deutschen Emigranten, auch nach ihrer Internierung in

drei anatolischen Städten, mit finanziellen Mitteln, Medikamenten und Literatur.

Trotz seines politischen und beruflichen Engagements war Reuter mit seinen

Gedanken immer in Deutschland, handelte immer mit Blick auf Deutschland und sah

auch seine Zukunft dort. Deshalb ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß er großen

Wert darauf legte, “mit Stolz sein Deutschtum zu behaupten”168, die deutsche

Staatsbürgerschaft auf jeden Fall zu behalten und die ihm 1942 und 1944

angebotene türkische Staatsangehörigkeit nicht anzunehmen: “Er konnte und wollte

mit seiner patriotischen Einstellung die türkische Staatsbürgerschaft nicht annehmen.

Er hätte sich lieber internieren lassen”169. Obwohl Reuter offen gegen das Deutsche

Reich Partei nahm, agierte und „betont hier auf die Bande nie die geringste

165 Während seiner Jahre in Ankara bildete sich zwischen Ernst Reuter und Ernst Hirsch, Andreas Schwarz, Carl Ebertund Ernst Prätorius eine feste Gruppe. Neben gemeinsamen Leseabenden und philosophischen Akademien, wurde inder Regel jeden Sonntagnachmittag zusammen Skat gespielt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß bei diesen Treffen das“Thema Deutschland” ausgesperrt wurde. Trotzdem ist bei Reuter zu lesen, daß er sich in Ankara “im wirklichen Sinndes Wortes vollständig allein fühlte”, Vgl.: Ernst Reuter, a.a.O., S. 55.166 Beide Faktoren werden ab Kapitel 4.2 dieser Arbeit ausführlich behandelt.167 Ich nehme an, daß Reuter mit “Land der Freiheit” die USA meinte; Ernst Reuter zitiert bei: Willy Brandt/RichardLöwenthal, Ernst Reuter - Ein Leben für die Freiheit, München 1957, S. 325.168 Leyla Kudret Erkören, “Familie Reuter in Ankara”, in: Erinnerungen an Ernst Reuter, Berlin 1977, S. 25.169 Gespräch mit Edzard Reuter...

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 170

Rücksicht”170 nahm, wurde sein deutscher Paß immer wieder verlängert171. Wie seine

Briefe belegen, galt nach der Invasion der Alliierten sein Hauptgedanke nur noch

dem Wunsch, so schnell wie möglich die Türkei zu verlassen, er bezeichnete diesen

Wunsch als “Leitmotiv” seiner weiteren Zeit in der Türkei. Er nahm unter anderem

Kontakt mit der amerikanischen Botschaft in Ankara auf und bot an, “ihn

bevorstehenden Niederlage Deutschlands als einen der ersten nach Deutschland zu

schaffen”172. Durch die ablehnende Haltung wurde ihm jedoch bald klar, daß “die

Alliierten von einer Rückführung politischer Flüchtlinge offenbar noch nichts wissen

wollten”173. Trotz weiterer Bemühungen um eine schnelle Rückreise, erhielt er die

notwendige Erlaubnis erst im Juli 1946. Im November 1946 verließ Familie Reuter

die Türkei. Über Frankreich und Hannover174 nach Berlin zurückgekehrt, wurde er

Anfang 1947 von der Berliner Stadtverordnetenversammlung wieder zum Stadtrat für

Verkehr und Betriebe gewählt. Im Juni 1947 wählte ihn die Versammlung zum

Oberbürgermeister von Berlin. Die Sowjetische Militäradministration verhinderte

jedoch seinen Amtsantritt und warf Reuter vor, in der Türkei von der deutschen

Botschaft gedeckt worden zu sein; erst nach der Spaltung der Gesamtberliner

Verwaltung und den Wahlen im Dezember 1948 konnte Reuter das

Oberbürgermeisteramt von Westberlin übernehmen175. In der Zeit der sogenannten

“Berliner Blockade” (Sept. bis Nov. 1948) stärkte er mit teilweise leidenschaftlichen

Reden das Durchhaltevermögen der Bevölkerung176. Aufgrund der neuen

Verfassung von Berlin wurde er im Januar 1951 zum Regierenden Bürgermeister der

Stadt gewählt. Nach seiner Rückkehr konnte Ernst Reuter die Türkei nicht mehr

170 Brief von Ernst Reuter, datiert auf den 14.5.1939 aus Ankara, In: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 501.171 Die Pässe von Emigranten, die wie Kessler, Hirsch oder Neumark politisch Reuter nahe standen, waren in derRegel seit 1942 nicht mehr verlängert worden.172 Helmut Holscher, “Das war Ernst Reuter”, Welt am Sonntag, 8.11.1953. Mehr über die Kontakte von Reuter zu deramerikanischen Botschaft und andere Stellen in: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 579.173 Hans Reichardt, in : Ernst Reuter, a.a.O., S. 467.174 In Hannover befand sich das sogenannte Schumacher - Büro, wo sich die meisten aus der Emigrationzurückkehrenden Sozialdemokraten zuerst hinwandten. Mehr dazu auch bei : Willy Brandt/Richard Löwenthal, a.a.O., S.356 ff.175 Reuter wurde unterstellt, daß er in geheimen Kontakten mit dem Botschafter Franz von Papen gestanden hätte unddeshalb seinen Paß verlängern konnte, Vgl. dazu auch : Willy Brandt/Richard Löwenthal, a.a.O., S.312 ff. Reutererklärte 1947 schriftlich, daß er “weder Herrn von Papen jemals gekannt, noch gesehen” habe. Gespräch mit EdzardReuter...176 Historisch unvergessen ist sein leidenschaftlicher Appell am 09.09.1948 vor mehreren hunderttausend Berlinern vordem Reichstag an die “Völker der Welt”: “Schaut auf diese Stadt und erkennt, daß ihr diese Stadt nicht preisgeben dürft,nicht preisgeben könnt”.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 171

besuchen177, hatte aber weiterhin Kontakte, vor allem zu den dort gebliebenen

Emigranten. So vermittelte er 1949 für Georg Rohde und 1952 für Ernst E. Hirsch

Professorenstellen an der FU. Ernst Reuter bezeichnete die Türkei während seiner

letzten Lebensjahre in Berlin als seine “zweite Heimat”, wie Edzard Reuter es mir

erzählte. Reuter verstarb am 29.9.1953 an Herzmuskellähmung in seiner “ersten

Heimat” Berlin.

1.5 Nachtrag

Traugott Fuchs und Robert Anhegger sind die letzten beiden Flüchtlinge, die noch in

der Türkei leben. Robert Anhegger hatte 1934 in Berlin sein Studium als Turkologe

beendet und ging eigentlich aus Liebesgründen in die Türkei. Er lernte die Schwester

des berühmten türkischen Malers Bedri Rahmi, Mualla, während ihres Besuches in

Berlin kennen und folgte ihr nach Istanbul. Nach der baldigen Heirat mit Mualla

wurde er Teil der Istanbuler Intellektuellenschicht, da die Familie von Mualla als die

tonangebenden Intellektuellen galt. Dichter und Schriftsteller wie Yahya Kemal

Bayatlı, Behçet Necatigil und Orhan Veli Kanık wurden seine besten Freunde. Er

konnte fließend Türkisch sprechen und kannte sich besonders gut mit der

osmanischen Literatur aus. Er wurde Mitglied der Istanbuler Freimauerloge

„Humanitas“, die in deutscher Sprache arbeitete und ließ sich sogar zum Meister

dieser Verbindung schlagen178. Er gehörte zu den Herausgebern der „Istanbuler

Schriften“, einer Zeitschrift, die naturwissenschaftliche, technisch - medizinische

Beiträge veröffentlichte. Während und nach dem Ende des Krieges betätigte er sich

als Deutschlehrer und wurde dann 1953 von der Deutschen Botschaft beauftragt, die

Wiedereröffnung der Istanbuler Deutschen Schule zu organisieren. Anhegger wurde

zugleich der erste Direktor des 1953 eröffneten Gymnasiums und behielt diesen Titel

bis 1978. Heute lebt der 92jährige Anhegger mit seiner Frau Mualla in Istanbul, ist

schwer krank und konnte im Gespräch mit mir qualitativ entscheidende oder wichtige

Informationen zum Thema nicht mehr zur Verfügung stellen. Mit Traugott Fuchs hatte

ich eine ähnliche Erfahrung. Wer über einen Zeitraum eine wissenschaftliche 177 In einem Artikel, der in der ’Neuen Zeitung’ unter dem Titel “Die Türkei im Brennpunkt” erschien, berichtete Reutervon seinen Erfahrungen in der Türkei, prangerte jedoch das Fehlen der Demokratie an. Er verwies darauf, daß “dieTürkei zur Weiterentwicklung wirtschaftlichen Aufschwung und Hineinwachsen in eine echte, organische, sich von untenentwickelnde Demokratie bräuchte”, in: Die Neue Zeitung, Nr. 32, 21.4.1947.

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Reine Wissenschaft I - Deutsche Flüchtlinge als Wissenschaftler und Experten in türkischen Universitäten und Institutionen 172

Untersuchung durchführt, die über 60 Jahre zurückliegt, wird zwangsläufig mit der

Endlichkeit des Lebens konfrontiert. Während Ernst Engelberg, der auch 96jährig ist

und in Berlin lebt, trotz angegriffener Gesundheit für zwei Interviews zur Verfügung

stand, konnte ich mit dem sehr kranken 96jährigen Herrn Fuchs auch nicht mehr ein

weiterbringendes Gespräch führen. Er war einfach aus Alters- und

Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage, sich klar an die Zeit und Ereignisse zu

erinnern. Ich aber mußte mich in diesem Zusammenhang immer wieder an das

Gedicht „Die Letzten“ Hans Sahl erinnern, das mit den Versen endet: „Greift zu,

bedient euch. Wir sind die letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig“. Sahl war nach

1933 nach Brasilien geflüchtet179. In den beiden Fällen war es für mich letztlich zu

spät.

178 Es gab in den dreißiger und vierziger Jahren 31 Freimaurerlogen in der Türkei, wovon 25 auf türkisch, sechs infranzösisch und eine in deutscher Sprache arbeiteten.179 Hans Sahl: „Die Letzten“, In: Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Texte u. Dokumente Hrsg. von Michael Winkler.Stuttgart 1977. S. 15.

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Vier Namen 173

Viertes Kapitel

1 Vier Namen

1.1 Einführung

Das vorangegangene Kapitel untersuchte mehrere deutsche Wissenschaftler, die

nach 1933 in der Türkei als Flüchtlinge in den Universitäten, Hochschulen oder

anderen staatlichen Institutionen gearbeitet und gewirkt haben. Durch die Fülle der

Personen war eine Konzentration auf die wesentlichen Informationen notwendig. In

diesem Abschnitt geht es nun darum, vier von mir bewußt ausgesuchten Personen,

ihrer Zeit, ihrem Wirken in der Türkei und ihrem Verhältnis zur Türkei ausführlicher

nachzugehen. Diese Personen sind in der Reihenfolge der Sozio-Ökonom Gerhard

Kessler, der Komponist Paul Hindemith, der Bildhauer Rudolf Belling und der

Zimmermannssohn Cornelius Bischoff.

Kessler hat beinahe 20 Jahre seines Lebens in der Türkei verbracht. Kessler hat sich

über seinen universitären Beruf hinaus, zwar in seinem geographisch beschränkten

Rahmen, aber immerhin aktiv gegen den deutschen Nationalsozialismus engagiert

und sich für die Rechte der türkischen Arbeiter eingesetzt. Die Spuren seines

Wirkens im sozialrechtlichen Bereich sind bis mindestens in die siebziger Jahre

verfolgbar. Seine Zeit und sein Wirkungskreis sind auch für die Beschäftigung mit

dem Thema, ob aus der Flucht Emigration, wenn nicht sogar Migration entstehen

kann, sehr aufschlußreich. Paul Hindemith hat die Türkei in den Jahren zwischen

1935 und 1938 in mehreren Reisen besucht und dort im schulmusikalischen und

musikpädagogischen Bereich gewirkt. Er wird von der Literatur schon zu dieser Zeit

als Emigrant bezeichnet. Nach meiner Auffassung hat jedoch Hindemith durch seine

Tätigkeiten in der Türkei versucht, seine berufliche und private Existenz im

nationalsozialistischen Deutschland zu verbessern bzw. fortzuführen. Sein

widersprüchliches Verhalten läßt die Frage zu, ob unter dem Mantel der Emigration

auch Mißbrauch derselben getrieben werden kann. Rudolf Belling steht wie kein

anderer für die Tragödie des Künstlers, für das Scheitern des Lebensweges durch

einen unvorhergesehenen politischen Umstand und bestätigt die alte These, daß das

Private und das Politische doch nicht zu trennen sind. In den Zwanziger Jahren in der

Avantgarde und in anarchistischen Künstlerkreisen in Berlin beheimatet, wird er

Page 175: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Vier Namen 174

durch die Machtübernahme der NSDAP von seinem künstlerischen Weg gebracht,

muß in die Türkei flüchten und wird dort, um zu überleben, zum zweitklassigen

Staatskünstler. Cornelius Bischoff ist der unbekannteste unter diesen Namen; ihn,

auch seinen Vater, der als Zimmermann von Hamburg-Harburg nach Istanbul flieht,

kennt man nicht. Er ist der namenlose, aber hunderttausendfache Flüchtling. Um so

bedeutungsvoller ist seine Biographie, weil er Zeit seines Lebens die Verbindung zur

Türkei wachhält. Während ich den Lebenswegen der ersten drei „Flüchtlinge“ auf die

traditionelle Weise, also in erster Linie durch intensive Recherche nachgehe, kommt

Bischoff selbst zu Wort, nicht nur als Zeitzeuge, sondern stellvertretend für alle

Flüchtlinge, mit denen ich auch so gerne gesprochen hätte, die aber nicht mehr am

Leben sind.

Page 176: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 175

2 Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischenPartizipation

2.1 Einführung“Ich bin einer der Deutschen, die nicht in Unfreiheit leben können und wollen”. Als

Gerhard Kessler in seiner Autobiographie über sich diesen Satz schrieb1, war er

schon 70 Jahre alt und blickte auf ein Leben zurück, das diesen Satz tatsächlich

bestätigen konnte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war er einer der

ersten Professoren in Deutschland, der von seinem Lehrstuhl gejagt und sogar

verhaftet wurde. “Ich bin noch immer stolz darauf” schrieb Kessler noch Jahre später

dazu. Sein “bescheidener und oft von Trauer begleiteter Lebensweg”2 führte ihn auf

der Flucht vor den Nazis in die Türkei. Als Emigrant gekommen, blieb er dann für 18

Jahre (bis 1951) in der Türkei, arbeitete, lehrte und lebte dort, verließ das Land mit

den “besten Gefühlen und tiefsten Dank”3. Als er verarmt und einsam (Kessler´s

Emigration wurde in der Bundesrepublik als eine “untätige” Zeit bezeichnet und er

bekam keine Rente4) in einem Kasseler Altersheim verstarb, schrieb ein türkischer

Schüler von ihm in einem Nachwort über ihn: “Ich habe meinen Vater verloren”5.

1 Gerhard Kessler hat in einer Sondernummer der Zeitschrift “Iş” (Arbeit) zu seinem Weggang aus der Türkei eineeigene Autobiographie unter dem Titel “Kendi Hayat Yolum” (Mein Lebensweg) als Aufsatz verfaßt, Vgl.: GerhardKessler, Mein Lebensweg , Iş, Bd. 17, Nr. 113, Istanbul 1950, S. 33 - 40. Weiterführende Informationen über Kesslerverdanke ich meinem Onkel Sağlam Dalaman, der Kessler und auch „seine rechte Hand“ Orhan Tuna gekannt und mitihm zusammengearbeitet hat. Er war u.a. Rechtsberater des Türkischen Arbeitgeberverbandes. Ich habe mit ihm überKessler und sein Wirken in der Türkei mehrmalig Gespräche und Interviews geführt Durch ihn konnte ich auch anverschiedene Quellen, auch in Archiven, z.B. das Gewerkschaftsarchiv in Ankara, herankommen. Er verstarb 1996.Weiterhin möchte ich erwähnen, daß ein Assistent von Kessler, Arun Süreyya auch in einem Gespräch mit mir überKessler´s Zeit und Arbeit in der Türkei berichten konnte. Gespräch mit Arun Süreyya, Istanbul, 23.05.1994.2 Kessler, a.a.O., S. 33.3 Ebenda.4 Vgl.: Die Zeit 26.02.19535 Orhan Tuna, in: Cumhuriyet, 16.08.1963.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 176

2.2 Ein liberales Leben

Gerhard Kessler wurde am 24. August 1883 in einem kleinen Ort mit dem Namen

Wilmsdorf in Ostpreußen geboren. Der Vater war der Pastor des Dorfes, er

engagierte sich für die Belange der Landarbeiter und organisierte sie in

Kooperativen. Die Universität Königsberg ernannte ihn zum Ehrendoktor, Ende der

90er Jahre wurde er zum Superintendanten der Evangelischen Kirche in Berlin.

Gerhard Kessler schrieb über seinen Vater, daß “sein Fleiß, Gerechtigkeitsliebe und

Ehrlichkeit mich am meisten beeinflußten”6. Zuhause wurde fast ständig über die

Politik gesprochen und Gerhard Kessler sollte auch “in dieser Richtung” studieren.

Geologie, Geschichte, Sozialkunde und Wirtschaft waren dann seine Fächer. 1905

promovierte er bei dem als Verfechter einer Nationalökonomie bekannten Adolph

Wagner7 und schrieb zugleich sein erstes Fachbuch mit dem Titel “Die Deutschen

Arbeitgeberverbände” (1907). 1912 wurde er mit 29 Jahren nach Jena als Professor

für Sozialkunde und Wirtschaftswissenschaften berufen. Trotz seiner Lehrstellung

wurde er gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges eingezogen. Als Artillerieoffizier

wurde Kessler u.a. bei den schweren Kämpfen um Verdun eingesetzt. Nach dem

Krieg nahm Kessler seine Lehrtätigkeit sofort wieder auf; u.a. wurden Walter Eucken

und Fritz Neumark, der ihn später in die Türkei holen sollte, seine Schüler. Kesslers

wirtschaftspolitische Einstellung war immer von seiner Zugehörigkeit zu jüngeren

Historischen Schule der Nationalökonomen gekennzeichnet. In Jena setzte er sich

für die Heimstättengenossenschaften ein, die durch das Zeisswerk in Jena eine

große Rolle spielten, gleichzeitig führte er in der Stadt die sogenannten “Vorlesungen

über städtische Probleme mit den Bürgern” ein und dann durch.

1927 folgte Kessler einem Ruf an die Universität Leipzig. Er fand in Leipzig ideale

Arbeitsbedingungen und weitgehende akademische Freiheiten: “Alleine die

6 Gerhard Kessler, a.a.O., S. 33.7 In seinen türkischen Jahren hat Kessler darauf hingewiesen, daß er sich den Gedanken von Wagner noch immerverbunden fühlt. Adolph Wagner (1835-1917) verurteilte Kapitalismus wie auch den Marxismus und entwickelte einKonzept eines Staatssozialismus (u.a. staatliche Kranken- Invaliden- und Altersversicherung, wirtschaftspolitischerInterventionismus, Schaffung eines öffentlichen Eigentumssektors durch Verstaatlichung), er forderte die Korrektur derEinkommens- und Vermögensverteilung mit Hilfe der Steuerpolitik. Bekannt wurde Wagner durch das von ihmformulierte “Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeit, demzufolge sie nicht nur absolut, sondern auchrelativ im Verhältnis zur gesamten Wirtschaftstätigkeit zunehme. Mehr über Wagner in: Michael Heilmann, AdolphWagner - ein deutscher Nationalökonom im Urteil der Zeit, Frankfurt 1980.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 177

Universitätsbibliothek mit einem Bestand von einer Million Büchern reichte aus, um

bei mir und den Schülern die Liebe zum Studium zu entfachen”8.

Politisch war er zuerst in der SPD zu Hause, gab aber die Mitgliedschaft 1930

zurück, weil er nach eigenen Angaben die Haltung der SPD zum aufkommenden

Faschismus als ungenügend betrachtete. Er trat in die Demokratische Partei (DDP)

ein, die in dieser Frage, viel engagierter als die SPD in den Vordergrund trat9. Er

wurde als Abgeordneter der DDP in den Sächsischen Landtag gewählt und war unter

der Kanzlerschaft Brünings, also im sogenannten Präsidialkabinett von März 1930,

als Wirtschaftsminister im Gespräch, lehnte aber das Angebot ab. Unmittelbar vor

den Reichstagswahlen im März 1933, veröffentlichte er eine Schrift mit dem Titel

“Kampf und Aufbau”, die kritische und warnende Aufsätze gegen den

Nationalsozialismus enthielt: “Es ging mir darum, die Deutschen vor der Gewalt der

Nationalsozialisten und vor Hitler, der nicht die geringste Kultur hatte und der nicht

einmal richtig Deutsch sprechen konnte, zu warnen”10 bemerkte Kessler zu dieser

Schrift. Direkt nach den Wahlen wurde Kessler, noch vor dem sogenannten “Gesetz

zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums”, von seinem Lehramt suspendiert und

ohne Prozeß verhaftet. Nach drei Monaten, Ende August, konnte er durch die

persönliche Intervention des Reichspräsidenten Hindenburg, der ein guter Freund

des Vaters gewesen war, entlassen werden. Um sich aber vor einer erneuten

Verhaftung zu schützen, mußte er sich dann bis Dezember 1933 durch dauerhafte

Flucht in Deutschland verstecken. “Nicht einmal meine Frau und die Kinder durften

wissen, wo ich mich aufhielt. Ich hatte allein in Berlin vier Adressen, die ich ständig

wechselte. In der Zeit lernte ich, wie man sich verstecken kann”11.

8 Gerhard Kessler, a.a.O., S. 36.9 Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) entstand aus der ehemaligen Fortschrittlichen Volkspartei und einem Teilder Nationalliberalen. Ihr schlossen sich in erster Linie Vertreter des sogenannten gebildeten Bürgertums und derWirtschaft an. Das Ziel der Partei war, die nicht-kommunistischen, aber entschieden demokratischen Kräfte gegen denpolitisch-sozialen Verfall der Weimarer Republik zusammenzufassen; sie hat sich vor 1933 engagiert gegen denaufkommenden Faschismus eingesetzt. Vgl. u.a. auch: Walter Tormin, Die Weimarer Republik, Hannover 1977, S. 92ff;Heinrich Brüning, Memoiren, Stuttgart 1970; Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart 1965.10 Gerhard Kessler, a.a.O., S. 37.11 Ebenda.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 178

2.3 Die Türkischen Jahre

Sein ehemaliger Schüler Fritz Neumark, dem das Schicksal seines Lehrers nicht egal

war, setzte sich zusammen mit dem Leiter der ’Notgemeinschaft’ Philipp Schwartz für

Gerhard Kessler ein und brachte durch, daß das türkische Unterrichtsministerium ihn

an die Istanbuler Universität berief. Als Kessler durch Neumark über den Posten in

Istanbul ins Kenntnis gesetzt wurde, zögerte er nicht lange12. Doch die Ausreise von

Kessler entwickelte sich zu einem diplomatischen Fall zwischen Deutschland und der

Türkei. Die Türkei schickte zuerst eine Einladung an Kessler, der ja in der Illegalität

lebte; seine Frau beantragte bei den zuständigen Behörden die Ausreiseerlaubnis.

Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) ging davon aus, daß Kessler sich in der

Leipziger Vertretung der Türkei, im Generalkonsulat, aufhielt und verlangte zuerst

seine Überstellung, bevor über seinen Fall entschieden werden sollte. Nach Angaben

von Neumark hielt sich Kessler zu dieser Zeit nicht im türkischen Generalkonsulat,

sondern bei Bekannten in Frankfurt a.M. versteckt13. Erst durch die Intervention des

türkischen Außenministeriums in Berlin14 deeskalierte die Situation und Kessler

bekam für sich und seine Familie einen legalen Ausreiseausweis und konnte wieder

auftauchen.

Am 10.12.1933 traf Gerhard Kessler in Begleitung seiner Frau Dorethea und vier

Kinder in der Türkei ein. Kessler unterschrieb einen zuerst auf drei Jahre befristeten

Vertrag als Professor für Soziologie und Sozialpolitik. Ihm wurde ein Monatsgehalt

von 500 Lira zugesichert. Er verpflichtete sich in seinem Vertrag, wie auch alle

anderen Professoren, sich in der Türkei nicht mit Politik und Handel zu beschäftigen.

Kessler traf in seiner neuen Wirkungsstätte, in der Rechtswissenschaftlichen Fakultät

bzw. in ihrer wirtschaftswissen-schaftlichen Abteilung, auf vier andere früher

geflüchtete Ökonomen; Fritz Neumark, Alfred Isaac, Alexander Rüstow und Wilhelm

Röpke.

Nach seiner Ankunft hatte Kessler in Istanbul zuerst zwei Ziele vor Augen. Aus der

Lektüre des Buches “Briefe aus der Türkei” des früheren Militärberaters Helmut von

12 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...13 Ebenda.14 Vgl. dazu auch : Horst Widmann, a.a.O., S. 57.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 179

Moltke15 kannte er das tatsächlich wunderschöne, alte Stadtviertel Üsküdar, das auf

der asiatischen Seite von Istanbul liegt; er wollte unbedingt dort in einer osmanischen

Villa wohnen. Doch aus diesem Wusch wurde nichts: die Bewohner des Viertels die

damals wie heute als sehr konservativ und religiös gelten, verjagten den für sie

ungläubigen Kessler aus ihren Straßen16.

Gleichzeitig zu dieser Wohnungssuche kümmerte er sich nach seiner Ankunft in

Istanbul um das Schicksal des mit ihm befreundeten Professors für Zahnheilkunde

Alfred Kantorowicz, der zu dieser Zeit in Deutschland in einem Konzentrationslager

festgehalten wurde. Kantorowicz hatte sich seit den 20er Jahren offen als Jude und

als Sozialist für eine neue Gesundheitspolitik eingesetzt und so auf die

Notwendigkeit einer systematischen Schulzahnpflege hingewiesen.17. Auf die

Initiative von Kessler hin wurde er Anfang 1934 vom Türkischen Bildungsministerium

nach Istanbul als Professor für Zahnkunde an die Universität berufen und konnte

Deutschland auch verlassen18.

Kessler´s erster Schritt im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit galt dem Erlernen der

türkischen Sprache. Dabei hatte er aber nicht die besten Erfolge, im Vergleich z.B. zu

Ernst Reuter und Fritz Neumark, die nach relativ kurzer Zeit die türkische Sprache

gut beherrschten und teilweise schon nach einem Jahr in Türkisch ihre Vorlesungen

hielten. Kessler schrieb dazu 1938 selbstironisch: “Ich bekomme noch immer

Unterricht in Türkisch. Ich muß mir aber eingestehen, daß ich schon über 50 bin und

nicht mehr so leicht Wörter lernen kann. Ich habe auch Angst, vor meinen Schülern

falsches Türkisch zu sprechen. Deswegen halte ich mich an das Prinzip: es ist

wichtiger, ein guter Wissenschaftler zu sein, als schlecht Türkisch zu sprechen”19. So

hielt Kessler am Anfang seiner Lehrjahre den Unterricht abwechselnd in Deutsch und

Französisch.

15 Helmut von Moltke, Briefe über Zustände und Begebenheiten aus der Türkei, Berlin 1841.16 Orhan Tuna, Prof. Gerhard Kessler Şahsiyeti ve Eserleri (Persönlichkeit und Werk von Prof. Gerhard Kessler),Istanbul 1964, S.8.17 Herbert A. Strauss, Biographisches..., Bd. II, S.593.18 Vielleicht sollte man an dieser Stelle Kessler als einen bescheidenen Menschen bezeichnen; er wollte imZusammenhang mit diesem Fall im nachhinein nicht genannt werden, sogar Kantorowicz erfuhr von Kessler´sEngagement für ihn aus anderer Quelle; Kessler sah es als selbstverständlich an, sich für einen inhaftiertenWissenschaftler und Freund einzusetzen Gespräche/Interviews mit Sağlam Dalaman...19 Gerhard Kessler, Bakanlık için rapor (Rapport an das Ministerium), Istanbul 1938, befindet sich im Archiv desUnterrichtsministeriums, Ankara.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 180

Ihm wurde für die Lehrveranstaltungen ein ständiger Dolmetscher zur Seite gestellt20.

Sein erstes öffentliches Auftreten hatte Kessler nicht etwa in der Universität, sondern

im Volkshaus Istanbul bald nach seiner Ankunft am 25.12.1933, wo er unter dem

Titel “Soziale Front” über großstädtische Konzepte und soziale Probleme von

westlichen Metropolen referierte. Der Übersetzer dieser Konferenz Arun Süreyya, der

später zu den Assistenten und Mitarbeitern von Kessler zählte, konnte sich daran

erinnern, wie die versammelte Zuhörerschaft den Äußerungen von Kessler mit

äußerstem Interesse folgte: ”Dies war die erste Konferenz in unserem Land, wo

ökonomische und soziale Aspekte einer Großstadt thematisiert wurden. Wir hörten

alle mit großer Bewunderung und Neugier zugleich dem Professor zu. Nach seinem

Vortrag kamen wir uns alle viel wissender vor”21.

Das erste Seminar, das Gerhard Kessler im Wintersemester 1933/34 abhielt, hatte

den Titel “Aufgaben der Soziologie in der Türkei”. Nach Auswertung der noch

vorhandenen Unterlagen über die abgehaltenen Stunden wird deutlich, daß Kessler

ein an Praxis orientierter Lehrer war und dies in seine theoretischen Modelle und

Lehrmethoden integrierte22. Wie auch Kessler schrieb, kamen seine Vorlesungen bei

den türkischen Studenten sehr gut an und er war erfreut über das zahlenmäßig

große Interesse: “Bei aller Bescheidenheit, ich hatte die vollsten Säle”23. Kessler

stürzte sich parallel zu seinen Vorlesungen in die theoretische Arbeit. Er schrieb ein

Lehrbuch mit dem Titel “Sosyoloji”, welches von seinem Assistenten Hikmet Sadık

ins Türkische übersetzt wurde24. Es ging ihm darin um das Ziel, das bis dahin in der

türkischen Soziologie vorherrschende Durkheim´sche Soziologie-verständnis zu

demontieren, da Kessler hinter ihm rassistische Ansätze sah und auch in seiner

Umsetzung in der Türkei erkannte25. Bis in die 30er Jahre waren soziologische

Begriffe wie Sinn, Zugehörigkeit und Gewissen, die auf Durkheim zurückgingen,

unter den türkischen Soziologen bestimmende Diskussionspunkte. Es scheint auch

kein Zufall zu sein, daß die Bücher von Durkheim in den 20er Jahren vom

turanistischen Soziologen Ziya Gökalp ins Türkische übersetzt wurden. Kessler

20 Neumark erinnerte sich : “Nicht alle meine Kollegen besaßen in gleicher Weise wie etwa Arndt, Hirsch, vielePhilologen und Naturwissenschaftler oder auch Reuter und ich das Talent, eine schwierige Fremdsprache in relativkurzer Zeit leidlich zu lernen.(…) Kessler und Isaac waren geradezu rührend um die Sprache bemüht, erlebten jedochnicht die Freude, darin heimisch zu werden. Fritz Neumark, a.a.O., S. 141.21 Gespräch mit Arun Süreyya...22 Vgl.: Istanbul Üniversitesi Açılış Rehberi (Eröffnungsbuch der Istanbuler Universität), Istanbul 1933-1935, S.29823 Gerhard Kessler, Bakanlık..., a.a.O., S. 10.24 Gerhard Kessler, Sosyoloji (Soziologie), übersetzt von Hikmet Saık, Istanbul 1934.25 Gespräche /Interviews mit Sağlam Dalaman...

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 181

führte in seinem Buch zum ersten Mal den Begriff “Ratio” in die türkische

Soziologiesprache ein und stellte fest, daß “alle sozialen Beziehungen auf der Ratio

des Menschen basieren und wechselseitig bedingt sind. Ohne Ratio, ohne Vernunft

kann kein soziales Leben entstehen”26. Nach Fahri Fındıkçıoğlu, einer seiner

Schüler, stand Kessler „mit seiner menschlichen Einstellung und rationellen,

freiheitlichen und konsequenten Sicht klar gegen das deterministische

Soziologieverständnis der bis dahin vorherrschenden Durkheim´schen Schule“27 .

In seinen Vorlesungen und Seminaren zwischen 1936 und 1945 behandelte Kessler

eine breite Palette an Themen: Preußischer Staatskapitalismus, Agrarreformen in

europäischen Staaten, Probleme der Geschichtsphilosophie, Sozialpolitik contra

Ökonomiepolitik, Geschichte und soziale Funktion der Stadt, Staatliche Anleihen,

Aktuelle Staatsformen, Krieg und Ethik, Politik und Ethik, Soziale Krise und die

Zukunft28. “Er war fast schon übereifrig, er war besessen, uns neue Themen

vorzulegen. Wir hatten das Gefühl, daß er das Geld, was er von der Türkei bekam,

mehrfach zurückbezahlen wollte”29.

Kessler bildete mit Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow zusammen eine

Arbeitsgruppe, die die Möglichkeit für die Einrichtung eines Instituts für

Wirtschaftswissenschaften prüfen und die Voraussetzungen dafür schaffen sollte. Die

türkische Regierung legte auf die Schaffung eines solchen Instituts, schon seit der

sogenannten “Wirtschaftskonferenz von Izmir” in 1923, gleich zu Beginn der neuen

Republik, großen Wert30. Das Wirtschaftswissenschaftliche Institut wurde zum

Wintersemester 1936 gegründet, es gab anfänglich acht Lehrstühle, von denen fünf

durch Röbke, Neumark, Reuter, Isaac und Kessler, und drei von türkischen

Professoren besetzt wurden. Die Professoren wählten Ömer Celal Sarç, der zugleich

Statistik und Angewandte Wirtschaftswissenschaften lehrte, zum ersten Dekan der

Fakultät31. Im Rahmen der neuen Fakultät wurde ein Institut für Volkswirtschaft und

Soziologie gegründet, dessen Direktor Gerhard Kessler wurde und bis zu seinem

Weggang aus der Türkei auch blieb.

Neben der Gründung und Etablierung der Fakultät widmete sich Kessler gleichzeitig

dem Aufbau einer Wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek innerhalb der Fakultät. Er 26 Gerhard Kessler, Sosyoloji, a.a.O., S. 40 ff.27.Interview mit Prof. Fahri Fındıkçıoğlu, Istanbul, 02.05.1994.28.Cavit O. Tütengil , Kessler´in Üniversite Konferansları, (Die Universitätsvorlesungen von Kessler) ,Istanbul 1964,S.61. Kessler führte auch zum ersten Mal öffentliche Vorlesungen durch.29 .Gespräch mit Arun Süreyya...30.Vgl. dazu: ab Kapitel 2.3. dieser Arbeit.

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verbrachte in der ersten Phase des Aufbaus fast seine ganze Freizeit mit dieser

Beschäftigung: “Die Bibliothek war meine persönliche Liebe, ich machte einen

bescheidenen Anfang, im Laufe der Jahre wurde sie mit 20 000 Büchern zu einer

außerordentlich wichtigen Spezialbibliothek. Ich füllte die über 50 000 Karteikarten für

Bücher und Zeitschriften in fünf Sprachen eigenhändig. Die Bibliothek wurde nun zur

’Mutter’ unserer Fakultät. Alle Lehrkräfte und Schüler müssen sie so sanft und lieb

behandeln wie ihre Mutter”32. Wenn man sich vorstellt, daß bis dahin tatsächlich

keine eigene Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek existierte und türkische

Studenten in diesem Zusammenhang meistens auf das knappe Angebot der

deutschen und französischen Buchhandlungen in Istanbul angewiesen waren, wird

die Wichtigkeit dieser Bibliothek noch deutlicher. Übrigens ist sie noch immer, wie die

Verwaltung es ausdrückt, “der Kessler´schen Tradition treu geblieben”33, die

bestorganisierteste und materialreichste Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek in

der Türkei.

Gerhard Kessler gab sich in seinem Arbeitseifer mit dem Aufbau dieser Bibliothek

alleine nicht zufrieden; in einem Rapport für das Unterrichtsministerium forderte er

1938: “Die wissenschaftliche Publikation der Fakultät ist bis jetzt unbefriedigend

geblieben. Wir brauchen eine solche akademische Institution, um den Studenten das

Lernen zu erleichtern. Gleichzeitig würde es uns erlauben, in Wettbewerb mit

europäischen Lehranstalten zu gehen”34. Nachdem das türkische

Unterrichtsministerium wegen angeblich fehlender finanzieller Möglichkeiten, eine

Unterstützung für das Projekt ablehnte, beschloß Kessler in Eigeninitiative die

Fakultätszeitschrift herauszugeben. Er konnte auch Neumark von dieser Idee

begeistern; die Zeitschrift bekam den Namen: “Istanbul Üniversitesi Iktisat Fakültesi

Mecmuası”, der französische Untertitel hieß “Revue de la Faculté des Sciences

Economiques de l´Université d`Istanbul35. Der erste Band erschien im Oktober

193936. In der Zeitschrift, die unregelmäßig, aber durchschnittlich alle zwei Monate

herauskam, waren u.a. Aufsätze von Kessler, neben den türkischen Texten auch in 31 Sarç hatte in Berlin in den 20er Jahren bei Sombat promoviert.32 Gerhard Kessler, Mein..., a.a.O., S. 35.33 “Ohne Zweifel ist eines der größten Geschenke, die Professor Kessler uns hinterlassen hat, die Bibliothek derWirtschaftswissenschaftlichen Fakultät”, wir pflegen und entwickeln sie in seinem Sinne“, Dr. Suat Gezgin, Leiter derBibliotheksabteilung der Istanbuler Technischen Universität, Gespräch, Istanbul 15.05.1994.34 Gerhard Kessler, Bakanlık..., a.a.O., S. 1335 Neumark erzählte, daß sie als eine Art von Reaktion und Provokation gegenüber den offiziellen VertreternDeutschlands in Istanbul absichtlich einen französischen Titel gewählt haben. Gespräch/Interview Fritz Neumark...

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deutscher Fassung, enthalten. In der ersten Nummer schrieb Kessler über die

“Sozialpolitischen Probleme der Türkei”37. In den folgenden Heften befanden sich

Artikel von Kessler über “Gesellschaftslehre”, “Türkische Arbeitsstatistik” und

“Übernahme fremden Kapitalguts”. In der sechsten Nummer der Zeitschrift schrieb

Kessler einen Artikel mit dem Titel “Homo Ludens”, in der er zu belegen versuchte,

daß Kultur aus dem Spiel hervorgeht. In den Ausgaben der Jahre 1942 und 1943

befanden sich zwei ältere Studien von Kessler über Werner Sombart38. Der erste

Artikel mit dem Titel “Werner Sombart und die Wirtschaftsgeschichte”39 berichtete

über das Werk von Sombart und nahm ihn gegen die Kritiker unter den

Nationalökonomen in Schutz. Der zweite Artikel mit dem Titel “Werner Sombarts

Deutscher Sozialismus”, auf 1940 datiert, aber erst zwei Jahre später erschienen,

war ganz entgegengesetzt, und griff Sombart wegen seiner Sympathien für Hitler

konsequent an40.

Trotz seiner intensiven Arbeit für die Universität, parallel dazu für die

Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek und die schon erwähnte Fakultätszeitschrift,

verfolgte Kessler die Entwicklung in Deutschland mit größtem Interesse. Ayun

Süreyya erzählte, daß er bei jeder Gelegenheit in die Deutsche Buchhandlung in

Istanbul ging und dort alle vorrätigen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften

durchlas, um sich ein eigenes Bild von der Entwicklung in Deutschland machen zu

können41. Kessler wohnte bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland, in einem

großen baufälligen Holzhaus im Istanbuler Stadtviertel Moda. Nachbarn, die damals

Kinder waren und sich jetzt noch an ihn erinnern, berichteten, daß er die Sonntage

immer vor seinem Radio verbracht habe, manche wollen sich sogar erinnern, daß er

sich dabei immer Notizen gemacht und manchmal vor sich hergeschimpft hat. Wenn

diese Aussagen mir auch ein wenig zu phantasiereich erscheinen, zumindest hat

Kessler anscheinend diesen Eindruck hinterlassen42.

36 Vgl. dazu auch: Ludwig v. Wiese, Ein deutscher Professor in der Türkei, in : Kölner Zeitschrift für Soziologie, Nr. 43Heft 2, 1949, S. 354 f.37 Dabei stellte er fest, daß die Türkei ein landwirtschaftlich orientiertes Land sei, daß jedoch bei der Bodenverteilungein großes Ungleichgewicht zugunsten der Großgrundbesitzer herrscht und man von halbfeudalen Verhältnissensprechen muß, die man zügig ändern sollte. (Vgl.: Revue de la Faculte....1. Dönem, Nr. 1, in : Istanbul ÜniversitesiArşivi).38 Werner Sombart (1863 - 1941) gilt als Begründer der Nationalökonomie als Geisteswissenschaft. Er verfaßtemehrere Bücher über Wirtschaftssysteme.39 In:Revue de la Faculte...a.a.O., 3. Jahrgang Nr. 1, 1942, S. 71-77.40 Ebenda., 4. Jahrgang, Nr. 2, 1943, S. 236-254.41 Gespräche/Interviews mit Sağlam Dalaman...42 Diese „Anektode“ beruht auf den Erinnerungen der Gebrüder Hüseyin und Şevki Ersin, die in der Nachbarwohnungvon Kessler wohnten und dort großgeworden sind. Gespräch mit H. und Ş. Ersin, Istanbul, 25.05.1994.

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Auch Scurla geht in seinem Bericht43 mehrmals auf Kessler ein und denunziert ihn

wegen seiner politischen Haltung: ”An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen

Fakultät überwiegen vor den Nichtariern die politischen Emigranten, deren Tätigkeit

zum Teil ausgesprochen deutschfeindlich ist. Dies trifft insbesondere auf den Inhaber

des Lehrstuhls für Soziologie und soziale Fürsorge, Professor Kessler zu, der früher

als Professor in Leipzig tätig war und auf Grund des § 4 des BBG in den Ruhestand

versetzt worden ist. Die Genehmigung zur Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland ist

vom Sächsischen Kultusministerium am 21. Dezember 1935 aufgehoben worden.

Kessler, der 1883 geboren ist, hat sich politisch in höchst unerwünschter Weise

betätigt. Das gegen ihn seit langem schwebende Ausbürgerungsverfahren ist erst

jetzt zum Abschluß gebracht worden, nachdem bisher mit Rücksicht auf die vier

Kinder von Kessler, insbesondere die älteste, jetzt bei der Reichsjugendführung

tätige Tochter, die Ausbürgerung immer wieder zurückgestellt worden ist. Das

Verhalten Kesslers ist so unverständlich, daß gezweifelt werden muß, daß er noch

voll im Besitz seiner geistigen Kräfte ist. Offenbar ist es ihm sogar geglückt,

gegenüber seiner Frau, die ständig leidend ist, als Vormund eingesetzt zu werden,

so daß zu bezweifeln ist, ob es der Frau gelingt, mit der noch in Istanbul weilenden

jüngsten 13jährigen Tochter ihren Mann zu verlassen. Die Ausbürgerung erstreckt

sich nur auf Professor Kessler, nicht aber auf seine Angehörigen. Der ältere Sohn

Kessler´s, der ursprünglich die Absicht hatte, in Deutschland seiner Militärpflicht

nachzukommen, hat sich nach Amerika begeben, so daß angenommen werden muß,

daß er fahnenflüchtig werden wird”44.

2.4 Ein Versuch von Antifaschismus

Neumark sagte, daß “Kessler immer eine große Portion Zivilcourage besaß”45. So

auch, als er 1939 in einem offenen Brief gegen die Besetzung der Tschechoslowakei

Stellung nahm. Damit riskierte er auch gleichzeitig seine Professorenstelle und damit

seine Existenzmöglichkeit in der Türkei. aber trotzdem. Als die deutsche Armee am

43 Mehr über den Scurla Bericht ab Kapitel 3.1.4 dieser Arbeit44 Vgl.: Der Scurla-Bericht ,a.a.O., S.133. Zusätzlich ist hinzuzufügen, daß Frau Dorethea Kessler 1942 mit zwei dergemeinsamen Töchter die Türkei und ihren Mann tatsächlich verließ, nach Deutschland zurückging und sich von dortaus scheiden ließ. Nach Informationen von Tuna litt Kessler sehr an der Trennung von seiner Frau, versuchte jedochdies nach außen zu verbergen. Er hat dann bis zu seinem Tod weder mit ihr noch mit den Kindern Kontakt gehabt.Gespräche/Interviews mit Sağlam Dalaman...45 Gespräch/Interview mit Fritz Neumark...

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15.03.1939 über die Reichsgrenzen ausgriff und die Tschechoslowakei besetzte,

schrieb Kessler Hitler einen Brief, indem er ihn aufforderte, seine “Aggression sofort

zu beenden und die Militärmaschine aus dem Land zurückzuziehen. Sonst wird

dieser Akt sowohl für Deutschland, als auch für die Welt zu einer Katastrophe

führen”46. Gerhard Kessler übergab den Brief nach Angaben von Orhan Tuna an das

deutsche Generalkonsulat in Istanbul, mit der Aufforderung ihn unverzüglich an

Berlin weiterzuleiten. Es ist anzunehmen, daß Kessler von vorne herein wußte, daß

sein Brief nicht weitergeleitet würde. Deshalb, gerade deshalb scheint seine Aktion

für mich noch mehr Bedeutung zu haben. Es ging ihm darum, wie Orhan Tuna es

ausdrückt, die Würde zu behalten. “Er wollte zeigen, daß er mit dem was in

Deutschland passiert, nicht einverstanden war, nur weil er eine gesicherte Stellung in

der Türkei hatte, er wollte immer in den Spiegel schauen können”47.

Von besonderer Wichtigkeit in politischen Zusammenhängen war die Beziehung

zwischen Gerhard Kessler und Ernst Reuter. Um so mehr ich anhand der Berichte

und vorhandener Dokumente feststelle, daß die deutschen und deutschsprachigen

Emigranten in der Türkei keineswegs eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten.

Die Gründe für die Emigration waren individuell so verschieden, daß eine

gemeinsame Orientierung der Türkei-Emigranten und Exilanten gar nicht hätte

stattfinden können. Die meisten Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter an

den Universitäten waren sowieso aufgrund rassischer Verfolgung oder Bedrohung in

die Türkei gekommen und nicht aus politischen Gründen. Ernst Reuter und Gerhard

Kessler gehörten zu den Ausnahmen, was sich auch in ihrer Partizipation in der

Türkei widerspiegelte. Sowohl Kessler als auch Reuter hatten mit ihren

Veröffentlichungen in ihrem jeweiligen Sachgebiet sich indirekt in die türkische

Sozial- bzw. Wirtschaftspolitik eingemischt und eingewirkt, die türkische Seite hatte

diese Situation gebilligt und auch gefördert. So möchte ich betonen, daß soziale und

arbeitsrechtliche Gesetze und Vorschriften praktisch von Kessler abgenommen

wurden, bevor sie in Kraft traten. Genauso stand Reuter als Tarifexperte des

Wirtschaftsministeriums und im später neugegründeten Verkehrsministerium im

Mittelpunkt, seine Berichte und Expertisen waren für die türkische Regierung sehr

bedeutend. Denn sowohl der Aufbau der Wirtschaft als auch der Ausbau des

Verkehrsnetzes spielten die entscheidende Rolle bei der Industrialisierung der

Türkei. Nach eigener Aussage stand Reuter auch “in engen Beziehungen zu allen 46 Orhan Tuna, a.a.O., S. 14.

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prominenten Türken des öffentlichen Lebens”48. Es wäre daher nicht falsch, zu

behaupten, daß die beiden, im Gegensatz zu anderen Professoren, durch ihre

Stellungen einen gewissen politischen Artikulations- und Handlungsspielraum hatten.

Anders ist es nicht zu erklären, daß der von Kessler und Reuter initiierte “Deutsche

Freiheitsbund”, trotz des Verbots politischer Betätigung für alle Emigranten,

unbehelligt arbeiten und agieren konnte. Ab dem Frühjahr 1943, d.h. nach den

entscheidenden deutschen Niederlagen vor Stalingrad und in Nordafrika, kam es zu

häufigen Treffen zwischen Reuter und Kessler, vor allem in Istanbul49. Leider geht

Reuter in seinen vorhandenen Briefen aus dieser Zeit nicht auf diese Treffen ein, es

ist aber anzunehmen, daß die beiden über die politische Lage im allgemeinen und

Reuters Versuch, mit Thomas Mann in Verbindung zu kommen im besonderen,

sprachen. Reuter schrieb an den Schriftsteller Mann, den er übrigens als “die Stimme

des geistigen, freien, menschlichen Deutschlands” nannte50, daß nach seiner

Meinung der Krieg bald mit dem Zusammenbruch Deutschlands zu Ende gehen

würde und daß alle Emigranten nun den Willen zum Neuen Deutschland zeigen

müßten51. In einem weiteren Brief versuchte Reuter, Mann zu einem

Zusammenschluß aller “freiheitlichen Deutschen” zu bewegen, die Emigranten hätten

die Aufgabe, gemeinsam als Sprachrohr des anderen Deutschlands zu wirken52. Er

bat Thomas Mann, diese Briefe als einen Aufruf zu betrachten und sie in der

deutschsprachigen Exilzeitung “NewYorker Neue Volkszeitung” zu veröffentlichen.

Thomas Mann verweigerte die Veröffentlichung und sprach ihm die Kompetenz ab,

die Deutschen zu belehren oder zu ermahnen53. In einem zweiten, viel härter

formulierten Brief warf Mann54 Reuter “einen gewissen, deutschen

Emigrantenpatriotismus” vor, ”der sich mitten im Kriege gleichsam mit ausgebreiteten

Armen vor Deutschland stellt und verkündet, daß diesem Land auf keinen Fall etwas

geschehen darf”55.

47 Orhan Tuna, a.a.O., S. 17.48 Ernst Reuter , a.a.O., Bd. III, S. 117.49 Vgl: Ernst Reuter ab Kapitel 3.1.4 in dieser Arbeit.50 Ernst Reuter, a.a.O., Bd. ll, S. 525.51 Ebenda, S. 522.52 Brief vom 25.11.1943, in: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 553 ff.53 Vgl.: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 532.54 Über Thomas Mann´s umstrittene Rolle und zu seiner eindeutig pro-amerikanischen Haltung während der letztenKriegsjahre u.a. in: Die große Kontroverse, Hrsg. von J.F.G. Grosser, Hamburg 1963, Deutsche Intellektuelle im Exil,Hrsg. von Werner Berthold, Britta Eckert, Frank Wende, München 1993.55 Vgl.: Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 559.

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Nachdem sich der eher einseitig forcierte Briefwechsel zwischen Reuter und Mann

als ergebnislos erwiesen hatte, beschloß Reuter zusammen mit Gerhard Kessler

seine Vorstellungen von einer politisch in die Zukunft gerichteten Emigratengruppe

selbst in die Realität umzusetzen. So gründeten beide Anfang August 1943 in

Istanbul eine Gruppe, die sich zunächst “Freie deutsche Gruppe in der Türkei”

nannte; bald darauf, nachdem Alexander Rüstow, Friedrich Breusch, Curt Kosswig

und Hans Wildbrandt sich der Gruppe anschlossen, wurde der Name in “Deutscher

Freiheitsbund” geändert. Wer als Protagonist bei der Gründung dieses Bundes

mitgewirkt hat, läßt sich nicht mehr genauestes ermitteln, da auch keine schriftlichen

Dokumente über die Gründungsphase des Freiheitsbundes enthalten sind. Es ist

jedoch anzunehmen, daß die Initiative von Reuter ausging, die praktische Arbeit aber

von Kessler geleistet wurde. Dafür sprechen nicht nur die Aussagen von Orhan Tuna

in dieser Richtung, sondern auch die Tatsache, daß sowohl das Arbeitsprogramm

des Bundes als auch die erste Flugschrift von Kessler entworfen und formuliert

wurden56. Auch wenn der Bund nicht mehr als insgesamt sechs Mitglieder gehabt hat

und seine Existenz, international gesehen, für den antifaschistischen Widerstand

keine größere Wichtigkeit erlangte, zeigen sein Arbeitsprogramm und die Flugschrift

doch die zentralen Positionen der sozialdemokratischen Widerstands- und

Emigrationsgruppen. Die Gruppe ist vor allem wegen seiner Einmaligkeit innerhalb

der türkischen Grenzen von ganz besonderer Bedeutung.

Der von Kessler entworfene sogenannte “Programmentwurf” stellt die Gruppe als

politisch unabhängig vor, deren Mitglieder zwar aus verschiedenen politischen

Überzeugungen kommen, in ihrer Ablehnung des Nationalsozialismus aber sich einig

sind. Das vorrangige Ziel der Gruppe wurde als der Sturz von Hitler angegeben.

Danach sollte innerhalb einer internationalen Kooperation in Deutschland ein

demokratischer Rechtsstaat entstehen. Die Gruppe verstand sich zwar nicht als

konspirativ, wollte aber zunächst nicht öffentlich auftreten57, sondern als

56 Man muß auch bedenken, daß der Bund wegen der internationalen Lage von Istanbul aus agieren sollte; zu dieserZeit war aber Reuter noch immer die meiste Zeit in Ankara beschäftigt, Kessler war durch seine Lage in Istanbulzwangsläufig der Kontaktmann des Bundes. Politisch war Kessler nach meiner Auffassung eher rechts von Reutereinzuordnen, in ihrer Ablehnung gegenüber dem Deutschen Faschismus waren sie aber einer Meinung; für sie war derNationalsozialismus eine mörderische Diktatur, die die Weimarer Republik mit Hilfe der Reaktion zerstört und dann alledemokratischen Kräfte in Deutschland unterdrückt hatte.Vgl. dazu: Brandt/Löwenthal, a.a.O. S. 320 f57 Hier hat sicherlich das politische Betätigungsverbot der türkischen Regierung die entscheidende Rolle gespielt.

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Kontaktzentrum zwischen Hitlergegnern in Deutschland und in der Emigration

arbeiten58.

Die von Kessler entworfene und später von Reuter stilistisch überarbeitete Flugschrift

“Was soll werden?” ist umfangreicher und vor allem geht sie mehr ins Detail als der

Programmentwurf. Die Flugschrift ruft die Deutschen dazu auf, Hitler zu stürzen und

beginnt mit den Sätzen: “Was soll werden? Vor jedem Deutschen steht diese bange

Frage. Jeder weiß, daß es zu Ende geht, daß der Krieg verloren ist und daß die

Stunde der Abrechnung unerbittlich herannaht. Aber unter dem Nebel der Nazilügen,

abgesperrt von jeder Möglichkeit, wirklich die Wahrheit zu erfahren, können sich die

meisten kein Bild von der Zukunft machen. Davon lebt die Hitlerbande”. Die Schrift,

von der drei fast identische Fassungen existieren59, ist parteipolitisch schwer

einzuordnen. Darin finden sich neben konservativen, liberalen vor allem

sozialdemokratische Vorstellungen wieder. Heute würde man sie als ein

Kompromißpapier betiteln. Gleichzeitig ist sie inhaltlich von den Positionen und

Grundsatzvorstellungen der Nachkriegs - SPD60 nicht weit entfernt. Man darf auch

hier nicht den Fehler begehen, die parteipolitischen Einstellungen, sowohl von

Kessler als auch von Reuter, in den Hintergrund zu drängen. Während Kessler als

D.D.P - Abgeordneter und an sich eine strikt liberale Position einnahm, zählte Reuter

nach einer kommunistischen Phase in den früheren 20er Jahren vor der

Machtergreifung zu den gemäßigten Linken in der SPD. So ist auch die Flugschrift

nicht viel anders zu bewerten als das Konzept einer Volkspartei, wie es nach dem

Krieg von weiten Teilen der SPD, aber auch von liberalen und konservativen

Kreisen61 in Deutschland im Vordergrund stand.

Nach der Flugschrift sollte nach dem Ende des Krieges zunächst die Einheit des

Deutschen Reiches und das Recht, sich selbst zu regieren bewahrt werden. Die

Deutschen sollten alle Ansprüche, ein Herrenvolk zu sein und die ganze Welt zu

beherrschen, aufgeben. Alle “schuldigen Nazis” sollten bestraft und aus dem

öffentlichen Dienst entfernt werden. Nach der Wiederherstellung des bürgerlichen

Rechtsstaats, einer demokratischen Justiz und Polizei, sollten freie Wahlen mit

58 Das Programm ist unveröffentlicht als Manuskript in: Landesarchiv Berlin, Rep. 200 Acc. 2326, Nr. 165 „Entwurf -Freie deutsche Gruppe in der Türkei“.59 Alle drei Fassungen und eine englische Übersetzung befinden sich auch im Landesarchiv Berlin.60 Über die Haltung der Sozialdemokratischen Partei nach 1933, insbesondere über das Prager Manifest von 1934, dieSoPaDe und dann die SPD -Positionen nach 1945 unter Schumacher ausführlich u.a. in: Hans Rothfels, Die deutscheOpposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Hamburg 1969, Eberhard Aleff, a.a.O.61Auch für die konservativen Parteien war, zumindest direkt nach dem Kriegsende, Kapitalismuskritik kein Fremdwort(Vgl.: Herbert Lilge, Deutschland 1945 - 1963, Hannover 1967, S. 18ff).

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 189

Parteienvielfalt abgehalten werden. In der Schrift wurden dann politische

Forderungen für ein demokratisches Nachkriegsdeutschland aufgestellt. Dabei wurde

eine gemäßigte Kritik an den kapitalistisch-feudalistischen Verhältnissen geübt und

ein Teil der Großindustriellen namentlich für den Krieg und/oder den

Nationalsozialismus mitverantwortlich gemacht: “In dem verarmten Deutschland ist

kein Raum für privilegierte Schichten. Die Herren auf den großen Gütern im Osten

müssen verschwinden. Verschwinden müssen auch die Herren der Aktienpakete. Die

Krupp und Thyssen, die Herren der schuldbeladenen Schwerindustrie wollen

wir nicht mehr über uns herrschen lassen”. In diesem Sinn sollte ein Teil der

Schwerindustrie verstaatlicht werden.

Nach einer Bodenreform wurde der Ausbau des landwirtschaftlichen

Genossenschaftswesens angestrebt. Weitere Forderungen in der Schrift waren die

Ablehnung aller Doktrinären in einem zukünftigen Deutschland, freie

Religionsausübung, Zusammenarbeit mit den sogenannten freien Völkern und eine

völlige Neuordnung der Verwaltung und des Erziehungswesens, “damit die Welt

sieht, daß die Deutschen es mit der Erneuerung ernst meinen”62. An dieser Stelle

sollte aber betont werden, daß die Flugschrift auch einige wesentliche Mängel

beinhaltete. So fehlt eine Analyse des Nationalsozialismus, die etwa den

Erklärungsversuch unternimmt, neben den Ursachen die Entwicklung des

Nationalsozialismus in Deutschland aufzuzeigen. Das kann natürlich auch sozusagen

als eine diplomatische Vorgehensweise betrachtet und interpretiert werden; die

ganze Flugschrift an sich erweckt den Eindruck vorsichtig und moderat, also an ein

breites Spektrum ausgerichtet, zu sein. Aus dieser Perspektive ist auch nicht

verwunderlich, wenn z.B. die Wehrmacht verschont (“unsere Soldaten haben überall

tapfer gekämpft und haben uns keine Schande gemacht”) und von der SS

unterschieden wird (“Aber mit Schande befleckt haben uns die blutigen Taten an

unschuldiger Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern, die Geiselerschießungen,

die grauenhaften Judenmorde”). Um so erstaunlicher scheint dann auf den ersten

Blick, daß der ’Freiheitsbund’ keinen Anschluß an politisch relevante Exilgruppen, vor

allem in den USA fand, obwohl er inhaltlich einflußreichen Gruppen wie z.B.

’German-American Council for the Liberation of Germany’ und ’Free German

62 In: Landesarchiv Berlin, a.a.O.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 190

Movement’63 unter dem Theologen Reinhold Niebuhr sehr nahe stand. Der Inhalt und

die Programmatik sind aber nicht die Gründe für die fehlende Resonanz auf den

’Deutschen Freiheitsbund’. Die Gründe sind eher in der geopolitischen Lage der

Türkei und dadurch der abgeschnittenen Stellung der Gruppe zu suchen. Obwohl

das Land an sich sehr nah am Kriegsgeschehen war, stand die Türkei, was

Informationen und Nachrichten anging, sehr isoliert da. Der ’Freiheitsbund’ war nicht

in der Lage, aktuell auf Entwicklungen zu reagieren und sich rasch mit anderen

Gruppen in Verbindung zu setzen, wie es z.B. den Gruppen in England möglich war.

Eine weitere Problematik war natürlich die von Anfang an beschränkte Anzahl der

Gruppenmitglieder und die Grenzen ihrer Mitarbeit. So zeichnete sich Kessler als

einziger Verantwortlicher für die Schriften und die späteren Radiobeiträge aus.

Gleichzeitig sollte die Frage aufgestellt werden, wie groß das Interesse der Alliierten

an separaten und kollektiven Aktionen von verschiedenen Exilgruppen war; dieses

Problem ist auch in den letzten Jahren in der Exilforschung mehrmals thematisiert

worden. Es ist anzunehmen, daß vor allem nach der Konferenz von Casablanca64,

eigene Konzepte von deutschen Exilgruppen für die USA und England nicht mehr

interessant waren und deshalb kein Gehör fanden. So blieben Bemühungen von

Kessler und Reuter, Rundfunksendungen zu machen, auch ohne Erfolg65. Kessler

und Reuter wandten sich am 24.11.1943 in einem Brief an Albert Grezesinski66 und

baten ihn um Unterstützung für das Radiovorhaben. Nach ihrer Vorstellung sollten

die nicht näher definierten amerikanischen Stellen technische Möglichkeiten zur

Verfügung stellen, damit der „Freiheitsbund“ Deutschland von Istanbul aus

propagandistisch bearbeiten konnte67. Mit größter Wahrscheinlichkeit hat Grzesinski

für dieses Projekt keine Unterstützung finden können; eine konkrete, schriftliche

Antwort dazu ist nicht vorhanden. Reuter schreibt aber in einem Brief vom

63Über diese und andere Exilgruppen in den USA, aber auch über das Spannungsfeld verschiedenerdeutschlandpolitischer Konzeptionen der unterschiedlichen Gruppen berichtet ausführlich: Eiche Middel, Exil in denUSA, 1979, Leipzig, besonders ab S. 160ff.64 Bei dieser Konferenz, (14. bis 24. Januar 1943) beschlossen Roosevelt und Churchill die Landung in Sizilien.Roosevelt forderte zum ersten Mal die bedingungslose Kapitulation Deutschlands und definierte dies als “unconditionalsurrender”. Die systematische Bombardierung Deutschlands wurde auch hier vereinbart.65Im Landesarchiv Berlin befinden sich auch die Entwürfe zu diesen geplanten Sendungen und mehrere ausgearbeiteteProgrammbeiträge, die die Unterschrift von Kessler tragen; in: Landesarchiv Berlin Rep. 200 Acc. 2326, Nr. 164 „Freiedeutsche Gruppe in der Türkei - Radiosendungen“.66 Der Sozialdemokrat Grzesinski gehörte zu den politisch aktivsten und einflußreichsten Exilanten in den USA; ergründete 1941 die “German-American Council for the Liberation of Germany” und unterhielt sehr gute Beziehungen zumRepräsentantenhaus. Im März 1943 hatte er dem Repräsentantenhaus programmatische Richtlinien für dasDeutschland nach dem Krieg vorgelegt (Vgl.: Eike Middell, a.a.O., S. 180 f.).67 Brief an Grzesinski, Ernst Reuter, a.a.O., Bd. II, S. 543 f.

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17.10.1944 an Kessler, “Ich stelle hier fest, daß der Plan, eine deutsche Sendung

einzurichten, hier bei den Stellen, die damit befaßt sind, nicht besteht. Es ist immer

besser zu wissen, woran man ist, als zu den vielen illusionären Hoffnungen, die man

sich gemacht hat, eine neue hinzufügen”68.

Obwohl es nie zu einer Sendung kam, lohnt sich ein Blick auf die vorhandenen,

qualitativ hohen Redaktionsleitlinien, Programmpläne und Beiträge. Demnach sollte

das Radio von Istanbul aus senden und in weiten Teilen Europas empfangen werden

können69. Die Sendung sollte dreimal in der Woche stattfinden und folgende

Rubriken beinhalten: Kurznachrichten und Kommentare; Informationen für

Deutschland mit dem Ziel “die geistige Isolation zu brechen”, Propaganda “zur

Erschütterung der moralischen und geistigen Grundlagen des Regimes”, Nachrichten

aus der Heimat und Nachrichten von den Exilgruppen. Eine besondere Sendereihe

sollte die Zuhörer auf das Deutschland nach dem Krieg vorbereiten: für diese Reihe

war übrigens der identische Name wie die Flugschrift der Gruppe “Was soll werden?”

vorgesehen. 22 Themen dieser Serie waren schon als Beiträge von Kessler fertig

geschrieben70. Die Themen lauteten etwa “Der Übergang von Hitler zur Demokratie”,

“Die Bestrafung der Schuldigen”, “Wie finden wir Brot und Arbeit?”, “Radio im Kampf

gegen Hitler”, “Kirche und Staat”, “Der Aufbau unserer Städte” und “Wird

Deutschland zerstückelt werden?”. In diesen und anderen Beiträgen finden sich die

Positionen aus der Flugschrift wieder. Bemerkenswert ist, daß die Beiträge teilweise

politische Prognosen beinhalten, die über die Grenzen von Wünschen oder

Behauptungen im journalistischen Sinn hinausgehen. Das entsprach wahrscheinlich

dem propagandistischen Zweck der Sendungen und sollte die Moral der Deutschen

für das Nachkriegsdeutschland erhöhen helfen.

Bei der Beurteilung der antifaschistischen Tätigkeit des Freiheitbundes sollte man

natürlich nicht vergessen, das ein Merkmal ihrer Arbeit ihre praktisch völlige

Bedeutungs- und Einflußlosigkeit war. Die Arbeit dieser Gruppe war beinahe der

absoluten Mehrheit der deutschen Türkeiemigranten und -exilanten unbekannt oder

68 Ernst Reuter - Nachlaß, in: Landesarchiv Berlin.69 Wenn man die damaligen Sende- und Empfangsmöglichkeiten bedenkt, wird auch klar, weshalb die Gruppe auf dietechnische Unterstützung der Amerikaner angewiesen war.70 Es ist anzunehmen, daß Kessler die Beiträge gleich nach der Flugschrift verfaßt hat, zum einen stimmen sie mit demInhalt der Schrift überein, zum anderen werden Kessler und Reuter noch zu dieser Zeit, also Anfang August 1943, andie Machbarkeit einer solchen Sendung eher geglaubt haben als im Spätherbst 1944. Gleichzeitig ist auch interessant,was Reuter in einem Brief vom 22.05.1944 an den SPD-Parteivorstand bemerkt: “Sehr weitgediegene Versuche, inForm einer freien deutschen Gruppe, Zugang zu einer Radiostation zu bekommen, wozu wir erhebliche Vorarbeitengeleistet hatten, scheiterten in letzter Minute”, in: Reuter, a.a.O., Bd. II., S. 561.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 192

gleichgültig. Ich denke, daß man sie eher unter dem Aspekt beurteilen sollte, daß sie

in erster Linie eine Art Selbstzweck für ihre Gründer war, d.h. sie zum Zweck der

politischen Standortbestimmung einer “Handvoll” Exilanten und Emigranten diente.

Gleichzeitig sollte diese Tatsache nicht die Bedeutung bei der Gesamtbetrachtung

des antifaschistischen Kampfes mindern. Mit ihrer Bemühung eine

Widerstandsgruppe auf die Beine zu stellen, trugen Kessler und die anderen letztlich

ihren, wenn auch winzigen, Anteil im Kampf gegen den Faschismus bei.

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2.5 Nach dem Krieg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wandte sich Kessler vollständig seinen

zahlreichen Beschäftigungen in der Türkei zu. Neben der Fakultätsarbeit und der

Erweiterung der Bibliothek, entfaltete er eine wissenschaftlich-schriftstellerische

Tätigkeit. Neben zahlreichen Artikeln und Kommentaren, die neben der

Fakultätszeitschrift auch in anderen Fachzeitschriften und -zeitungen71 veröffentlicht

wurden72, erschien im Herbst 1945 sein Buch Içtimai Siyaset (Sozialpolitik)73. Das

Buch stieß nicht nur bei den Wirtschafts- und Soziologiestudenten auf große

Resonanz; für Arbeitervertreter, Gewerkschaftsfunktionäre und linksliberale

Journalisten wurde es in den nächsten Jahren zu einem der wichtigsten

Nachschlagewerke, auf das sie sich auch sehr oft öffentlich bezogen74. Kessler

thematisierte in diesem Buch die Notwendigkeit von freien Gewerkschaften und die

Nutzen der Eigeninitative in demokratischen Gesellschaften. Er befaßte sich darin

immer wieder mit der Problematik der sozialen Klassen; so behauptete er, daß es in

der Türkei soziale Klassen gab und ging damit offen zur Opposition zu der

Staatsdoktrin, daß es in der Türkei keine Klassen, sondern nur eine gleichwertige

Volksgemeinschaft gab. Kessler`s Hauptthese in seinem Werk ist, daß der

arbeitende Mensch das Fundament der gegenwärtigen und zukünftigen türkischen

Gesellschaft bildet und ohne ihn das Land keinen Wert besitzt. Nach seiner Meinung

entwickelte sich die türkische Industrie in einem rasanten Tempo, gleichzeitig fehlte

es dem Land aber an einer seiner Klasse bewußten Arbeiterschaft. Kessler

beschuldigte die herrschende, damit die kemalistische Bürokratenelite, die

Bewußtseinsbildung der Arbeiterklasse aus Eigeninteresse zu verhindern, denn: „Sie

wissen, daß eine bewußte Arbeiterschaft ihnen nur Sorgen bereiten würde. Das ist

aber ein unheilvoller Fehler. Denn in Wahrheit bilden die Klassen die Lebensadern

jeder modernen Gesellschaft. Nur bei primitiven Völkern und Nomaden gibt es keine

Klassenstrukturen. Jedes ansässige Volk teilt sich zwangsläufig in Klassen. In 71Unter anderem in: Hukuk Gazetesi (Juristische Zeitung), Çalışma (Werk), Türk Ekonomisi (Türkische Wirtschaft) undArkitekt (Architekt).72 In einem Nachruf auf Kessler schreibt einer seiner Schüler, Orhan Cevat Tütengil, daß Kessler während seinesTürkei-Aufenthaltes zu verschiedenen Themen mindestens 68 Artikel und Kommentare geschrieben und veröffentlichthat .Orhan Cavit Tütengil, Professor Kessler`s place in Turkish history of sociology and his publications in Turkey,Istanbul 1964.73 Gerhard Kessler, Içtimai Siyaset (Sozialpolitik), übersetzt von Orhan Tuna, Istanbul 1945.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 194

Anatolien gibt es seit Jahrtausenden soziale Klassengesellschaften mit Bauern,

Handwerkern oder Beamten. Genauso gibt es in unserem Land75 drei soziale

Klassen, nämlich Arbeitgeber, Angestellte / Beamten und Arbeitnehmer. Nur wenn

wir die Existenz der sozialen Klassen in der Gesellschaft bejahen, können wir ein

neues Leben auf einem gesunden und verwurzelten Boden gedeihen lassen. Soziale

Klassen mit ihren widersprüchlichen Anliegen, ermöglichen eine Dynamik auf der

Basis eines gemeinsamen Nenners”76. Unabhängig davon, ob und inwiefern Kessler

mit seiner Analyse der sozialen Klassen theoretisch Recht hat, muß die Tatsache,

daß er l945 dies in der Türkei öffentlich zur Diskussion brachte, besonderes betont

werden. Es darf nicht vergessen werden, daß zu der Zeit die Türkei noch immer von

einem sehr autoritären, mächtigen Ein-Parteien-System geprägt war, in dem sich fast

keiner traute, solche Themen öffentlich anzusprechen oder etwa Reformvorschläge

einzufordern.

2.6 Das Arbeitsgesetz

Gerhard Kessler spielte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der

Arbeitsrechtpolitik und bei der Gründung der ersten Gewerkschaft in der Türkei eine

besondere und wichtige Rolle.

Gewerkschaftsähnliche Vereinigungen gab es schon im Osmanischen Reich (nach

1908) für wenige bestimmte Berufsgruppen (z.B. Kellner, Friseure). Obwohl unter

ca.500.000 Lohnarbeitern nur etwa 100.000 in der Industrie beschäftigt waren,

entwickelte sich aber eine breite städtische Arbeiterbewegung. Vor allem die

Werftarbeiter streikten im Sommer 1908 und gründeten gewerkschaftsähnliche

Organisationen. Das jungtürkische Parlament reagierte darauf im Juli 1909 mit

Verboten von Streiks in Betrieben von öffentlicher Wichtigkeit wie Eisenbahn, Kraft-

und Wasserwerke; desweiteren machte ein Vereinsgesetz die Zulassung

gewerkschaftlicher Organisationen allein vom guten Willen der Regierung abhängig,

was praktisch einem Verbot gleichkam. Dieser Zustand dauerte mit wenigen

Veränderungen bis in die Mitte der 40er Jahre.

74 Gespräch mit Arun Süreyya...75 Kessler meint an dieser Stelle die Türkei.76 Der Text ist in türkisch erschienen und wurde von mir sinngemäß übersetzt.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 195

Die Verfassung von 1924 ermöglichte den Türken dann zwar im Prinzip das Recht

zur Gründung von Vereinen und auch Gewerkschaften. In Artikel 70 stand:

„Versammlungs-, Vereins- und Vereinigungsrechte und -freiheiten sind natürliche

Rechte der Türken“77. Zugleich enthielt die Verfassung aber keine Bestimmungen

über Streik und Aussperrung. Zu den sechs erklärten Grundprinzipien78 der

Republikanischen Volkspartei gehörte auch der Populismus, der „nicht

Klassenkampf, sondern soziale Ordnung und privilegienlose Gleichheit der

Individuen“ forderte. Neben rechtlichen Verboten und Schritten verursachten die

Herrschenden mit diesem ominösen, leicht mißbrauchbaren Begriff Populismus in

der Türkei, die Unterdrückung jeglicher gesellschaftlicher Gegenbewegungen und

Oppositionen von Anfang an. Demnach hatte die Türkei den Charakter einer

Volksgemeinschaft, die ständisch, d.h. als Gemeinschaft von Angehörigen

verschiedener Berufsgruppen organisiert war und jene Kräfte rigoros zu bekämpfen

hatte, die vom Vorhandensein einer Klassengesellschaft oder von Gegensätzen

innerhalb der türkischen Gesellschaft, gleich welcher Art, ausgingen. In der Zeit von

1923 bis 1946 vertrat der türkische Staat die Auffassung, daß die Gewerkschaften

und die von ihnen angewandten Kampfmaßnahmen nicht die natürliche Folge der

Klassenunterschiede seien79, sondern vielmehr der Grund für die Entstehung solcher

Unterschiede und, daß Arbeitskämpfe die staatlichen Interessen aus Gründen des

Allgemeinwohls und der Volkswirtschaft deshalb berühren, weil sie von allen

größeren Arbeitskämpfen im wesentlichen mitbetroffen wären80. „Es gibt keine

sozialen Konflikte. Der soziale Frieden der Allgemeinheit und die volkswirtschaftliche

Entwicklung würden beeinträchtigt, wenn der Staat Arbeitskämpfe nicht verboten und

das Arbeitsleben nicht geregelt hätte“81. Diese Aussage identifizierte somit die

Interessen der Allgemeinheit mit den Interessen des Unternehmers, weil das

Arbeitsgesetz deren Interessen mehr berücksichtigt, als die Interessen der

Arbeitnehmer.

In den Jahren 1937 bis 1943 stiegen die Preise um 300%, während die Löhne nicht

einmal um 50% stiegen82. Gerade in den Jahren um 1935 stand die türkische

Wirtschaft, das gesamte Wirtschaftsleben in einem Umwandlungsprozeß. Die 77 Hirsch, a.a.O. S. 216.78 Die anderen waren: Reformismus, Nationalismus, Laizismus, Etatismus, Republikanismus,Vgl. dazu ausführlich in: Kurt Steinhaus, a.a.O., S. 160 ff.79 Faruk Işıklı, Toplu Iş Sözleşmeleri ve Türkiye Ekonomisi (Tarifverträge und türkische Wirtschaft)Ankara 1979, S. 7180 Ebenda. S. 251.81 Faruk Işıklı, a.a.O., S. 55.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 196

nationale Wirtschaft entwickelte sich nicht in erhofften Maß positiv83, die Entwicklung

der Wirtschaft und die konzentrierte Industrialisierung (die im wesentlichen durch

staatliche Investitionen und durch staatliche Lenkungsmaßnahmen gekennzeichnet

war) zwangen den Staat, für die wachsende Anzahl der Arbeitnehmer sozialpolitische

Maßnahmen zu ergreifen. Die Zahl der städtischen Arbeiter erreichte Mitte der 30er

Jahre fast eine Million, wovon immerhin bereits rund 300 000 in relativ modernen

Industrieunternehmen beschäftigt waren: das Dreifache zu der Zeit der

Republiksgründung. Hinzu kamen etwa 400 000 zumeist staatlich beschäftigte

Lohnarbeiter auf dem Lande. Andererseits lagen die Reallöhne in der Republik

niedriger als 1913 und der teilweise vierzehnstündige Arbeitstag kannte immer noch

keine gesetzliche Begrenzung. Es kam immer wieder zu Streiks und

Arbeitsniederlegungen84. Die Regierung mußte handeln oder zumindest so tun,

wollte sie die Stabilität im Lande einigermaßen bewahren. Die Nationalversammlung

erließ in diesem Zusammenhang 1936 ein Arbeitsgesetz, daß auch von Kessler unter

die Lupe genommen wurde. Die autoritäre Regierungsform und die durch die

staatliche Industrialisierung bedingte Stellung des Staats als Arbeitgeber verliehen

dem Arbeitsgesetz von 1936 zwingenden und richtungsweisenden Charakter85. Der

Artikel 72 des Arbeitsgesetzes bestimmte, daß “Streik und Aussperrung verboten”

waren. Im Satz 2 und 3 des gleichen Artikels wurden auch der sogenannte Teilstreik

aber auch der Sympathiestreik verboten. Im Artikel 73 wurde dann der Begriff „Streik“

näher definiert: „Unter Streik wird jede gemeinsame, verabredete und plötzliche

Niederlegung der Arbeit einer bestimmten Anzahl von Arbeitnehmern (mindestens

1/5 der Belegschaft) zum Zwecke der Durchsetzung ihrer Forderungen

verstanden“86. Demzufolge war der Begriff des Streiks einmal näher begrenzt

dadurch, daß es eine bestimmte Zahl an Beteiligten an Streiks geben mußte, nämlich

mindestens 20 Prozent aller Arbeiter in einem Betrieb. Zum anderen wurde das

Streikrecht dadurch eingeengt, daß an die Form der Einstellung der Arbeit bestimmte

Anforderungen gestellt wurden. Es mußte eine plötzliche Niederlegung der Arbeit,

ohne vorherige Ankündigung, vorliegen. Der Artikel 74 des Gesetzes definierte dann

den Begriff „Aussperrung“: „Jede Stillegung der Arbeit oder Entlassung einer

82 Çalışma Bakanlığı Istatistikleri - Işçi Ücretleri (Aus der Statistik des Arbeitsministeriums), Ankara 1990.83 Mehr zu dieser Problematik ab Kapitel 2.3.2 dieser Arbeit.84 Vgl. dazu: Ernst Werner/ Walter Markow, a.a.O., S. 256ff.85 Vgl:Gerhard Kessler, Iş Kanunumuza Göre Grev ve Lokavt (Streik und Aussperrung nach unserem Arbeitsgesetz),Istanbul 1953, S. 4.86 Ebenda.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 197

bestimmten Zahl von Arbeitnehmern (mindestens 1/5 der Belegschaft) durch

Arbeitgeber zum Zwecke der Durchsetzung ihrer Forderungen“87. Das Arbeitsgesetz

verhinderte, daß die Arbeitnehmer sich organisierten, sprach ein Streikverbot aus

und berücksichtigte nicht die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer. Seine

Vorschriften gingen von dem guten Willen des Arbeitgebers aus, bestraften jedoch

nur ungenügend eine eventuell mißbräuchliche Anwendung dieses Gesetzes. Eine

unabhängige und verantwortliche Gestaltung der Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen war demzufolge verboten. Der Artikel 72 des Gesetzes

sagte in diesem Zusammenhang zu der Streikproblematik, daß „jede gemeinsame,

verabredete und plötzliche Niederlegung der Arbeit einer bestimmten Anzahl von

Arbeitnehmern zu Zwecke ihrer Forderungen“88, also im Klartext Streiks, weiterhin

unerlaubt blieben.

Kessler behandelte in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Iş“ die Gesetzesvorlage und

stellte den darin behandelten Streikparagraphen in Frage89, nannte sie „eine

Fehlentscheidung und völlig unzeitgemäß“90 und interpretierte den Artikel zugunsten

der Arbeiter. Nach seiner Ansicht räumte das Gesetz den Arbeitern an sich eine

rechtmäßige Streikmöglichkeit ein, von der sie aber praktisch keinen Gebrauch

machten. Demnach machte das Arbeitsgesetz nämlich einen Unterschied zwischen

rechtswidrigen und unrechtmäßigen Streiks, in dem es in Artikel 73 den

Arbeitnehmern, wenn sie ihren Streikbeschluß unter Einhaltung der

Kündigungsfristen ankündigten, den Streik gestattete.

Nach Kessler´s Interpretation war ein solcher, nicht plötzlich und ohne Kündigung

vorgenommer Streik, ein rechtmäßiger und dadurch legitim. „Nach meiner

Auffassung könnte man das Gesetz auch dahingehend interpretieren, daß es doch

den Arbeitnehmern eine Streikmöglichkeit einräumt. Das Arbeitsgesetz macht

nämlich einen Unterschied zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Streiks,

indem es den Arbeitnehmern, wenn sie ihren Streikabschluß unter Einhaltung der

Kündigungsfristen anhalten, den Streik gestattet. Nach meinem Verständnis ist ein

nicht plötzlich und ohne Ankündigung vorgenommener Streik deshalb legal und

rechtmäßig“91. Dieser Artikel und seine Parteinahme für die Rechte der Arbeiter

87 Ebenda.88 Ebenda.89 Kessler wurde 1934 zum Gründungsmitglied der ersten türkischen Soziologiezeitschrift ’Iş’ (Arbeit), wo er seinesoziologischen und wirtschaftspolitischen Überlegungen in Form von Artikeln und Rezessionen darstellte.90 In: Iş, a.a.O., Nr..2691 Gerhard Kessler, Iş Kanunumuza Göre..., a.a.O. S. 7.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 198

machte Kessler zum „Liebling aller Gewerkschaftler, Betriebsräte und liberal

denkender Politiker“92. Kessler wurde in der Folge von Arbeiterorganisationen und -

vereinen immer öfter als Arbeits -und Sozialrechtler zu Rate gezogen, seine

Kommentare, wie auch sozio-ökonomische Artikel, erschienen auch in türkischen

Zeitungen. Kessler war oft auch als Redner in anatolischen Städten, wo er über die

Rechte und Möglichkeiten der Arbeiter nach liberalem Verständnis referierte. Diese

Reisen ermöglichten ihm, das Land und die Leute, wie man sagt, mit ihren

Widersprüchen und Sorgen von nächster Nähe kennenzulernen. Dazu bemerkte

Orhan Tuna: “Ob es einen anderen Ausländer, oder überhaupt einen Türken gab, der

je mehr über die Türkei wußte?“93. Kessler schrieb selbst, daß er es „als notwendig

sah, durch das Land zu reisen, um die Ursachen der politischen und sozialen

Probleme zu sehen und ein persönliches Urteil bilden zu können“94. Er gab an,

mindestens 34 türkische Regierungsbezirke, das ist übrigens zu dieser Zeit mehr als

die Hälfte aller Bezirke, intensiv bereist zu haben. „Obwohl er (Kessler) so wenig

Türkisch sprach, vermochte er die ganzen Bewohner von Semirkent auf dem Platz zu

versammeln. Er redete über ihre Stadt, ihre Probleme und unterbreitete

Lösungsvorschläge. Am Ende seiner Rede applaudierte die ganze Stadt, bis er

wegfuhr“95. Obwohl diese pathetische Schilderung auch zur Übertreibung neigt,

bestätigt sie auch, was Süreyya andeutet, wenn er im Zusammenhang mit dem

freundlichen und zuvorkommenden Auftreten von Kessler, von einer „einzigartigen

Beziehung zwischen den Einheimischen und Kessler“ spricht96. Kessler wurde 1935

auch zum Ehrenbürger der Stadt Ürgüp erklärt. Erstaunlich ist, daß auch die

Gegenseite, d.h. sowohl die staatlichen als auch die privaten Arbeitgeber sehr viel

Wert auf seine Einschätzung legten und ihn in den Konflikten als Berater zur Hilfe

riefen. So war Kessler ab 1942 inoffizieller Berater der türkischen Regierung97 in

allen arbeitsrechtlichen Fragen und Angelegenheiten. Die staatlichen Stellen

vertrauten Kessler, weil er „die Fähigkeit besaß, gerecht zu denken und zu handeln.

Er hatte zusätzlich ein fundiertes Wissen und ein herzliches Interesse für die

Türkei“98. 92 Gespräch mit Arun Süreyya...93 Orhan Tuna, a.a.O., S. 8.94 Gerhard Kessler, Mein..., a.a.O., S. 3995 Orhan Tuna, Ebenda..96 Gespräche/Interviews mit Sağlam Dalaman...97 Inoffiziell, da Berater eigentlich die türkische Staatsbürgerschaft besitzen mußten. Insofern bildete Ernst Reuterwieder eine Ausnahme.98 Gespräche/Interviews mit Sağlam Dalaman...

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 199

2.7 Die türkische Gewerkschaft Türk-Iş

Im Jahre 1938 trat ein weiteres Gesetz „Dernekler Kanunu“ (Gesetz über Vereine) in

Kraft, das sich eng an entsprechende Regelungen des faschistischen Italien hielt und

jede Verfolgung von sogenannten Klasseninteressen in politisch-organisatorischer

Form illegalisierte99 und die Bildung von Gewerkschaften verbot. Bei diesem

Rechtszustand, also Verbot von Streiks und zugleich Verbot der Bildung von

Gewerkschaften, blieb es bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Waren bis 1945 die Einparteienherrschaft und die politischen Maxime des

sogenannten Kemalismus, einschließlich der autoritären Sozial- und Arbeitspolitik,

gültig, so stellte der späte Eintritt der Türkei in den 2. Weltkrieg an der Seite der

Alliierten die Weichen für einen sehr weit gehenden innenpolitischen

Wandlungsprozeß100.

Schon 1941 hatten die USA ihren „mood of isolationism“ gegenüber der Türkei

aufgegeben und ihre Verteidigung als lebenswichtig für sich selbst definiert101. Im

Schatten des beginnenden Kalten Krieges102 suchte die Türkei dann einen sehr

nahen Anschluß an die USA. Die USA machten aber dieses enge Verhältnis davon

abhängig, ob und inwieweit die Türkei bereit war, dem privaten Sektor auf Kosten der

bis dahin herrschenden etatistischen Wirtschaftspolitik den Vorrang zu geben. Die

Republikanische Volkspartei entschied sich in dieser sehr schnellebigen Phase der

Umstrukturierung in der Politik für die Flucht nach vorne. Sie hatte vor allem durch

ihre Sozialpolitik und Kriegswirtschaft das Vertrauen breiter Volksschichten verspielt,

sie hatte keine andere Wahl, dem wachsenden Druck von innen und außen

entgegenzukommen.

Im Juni 1945 wurde eine beschränkte Kranken- und Invalidenversicherung

eingeführt. Sie umfaßte zwar nur ein Drittel der Arbeiter in städtischen Betrieben, 99 Kurt Steinhaus, a.a.O., S. 147.100 Am Ende des Zweiten Weltkrieges lehnte die Regierung der UdSSR die Erneuerung des auslaufendenFreundschaftsvertrages mit der Türkei aufgrund der türkischen Haltung während des Krieges ab. Sie stellte sogarForderungen an die Türkei wie Grenzregulierungen zugunsten der Sowjetunion und die Einrichtung von sowjetischenMilitärbasen an den türkischen Meerengen. Die Amerikaner beobachteten diese Entwicklung sicherlich mit großerFreude(!) Sie konnten nun wieder einmal und wie sehr oft später als “Beschützer” hervortreten und die beängstigte,bedrängte türkische Regierung begab sich in ihre schützenden Arme!101 Vgl.: Zehra Önder, a.a.O., S. 163.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 200

bedeutete aber trotzdem einen Fortschritt. Im gleichen Jahr wurde das

Arbeitsministerium geschaffen. Am 20.02.1947 trat das Gesetz über die Schlichtung

in Kraft. Dieses gewährte das Recht auf Bildung von Schlichtungen und untersagte

dem Staat, Schlichtungen aufzulösen. Dieses Gesetz ermöglichte prinzipiell die

Gründung von Gewerkschaften, erschwerte sie aber zugleich durch verschiedene

Auflagen. Demnach unterstanden die Gewerkschaften der Aufsicht des

Arbeitsministeriums, durften einem internationalen Gewerkschaftsbund ohne

Zustimmung der Regierung nicht beitreten und sich nicht politisch betätigen103;

zugleich war es den Arbeitnehmern untersagt, Arbeitskämpfe zu führen. Trotz dieser

widersprüchlichen Aussagen und Einschränkungen, spielte das Schlichtungsgesetz

bei der Bildung und Entwicklung der Gewerkschaften in der Türkei eine erhebliche

Rolle104.

Die Notwendigkeit einer Dachorganisation der Gewerkschaften wurde erstmals 1947

von der Vereinigung der Arbeitervereinigungen105 diskutiert. Vor allem amerikanische

Gewerkschaftler, die die Türkei besuchten, bestärkten die türkischen

Gewerkschaftler darin, übten aber natur- und zeitgemäß Druck auf sie aus, daß diese

Dachorganisation keine klassenkämpferischen Ansätze vertreten darf106. Am 31. Juli

1952 wurde die Dachgewerkschaft der Arbeiter, Konföderation türkischer

Arbeitergewerkschaften, „Türk-Iş“ gegründet. Das Gründungskonzept war von

Vertretern von 11 Gewerkschaften ausgearbeitet wurden.

Gerhard Kessler arbeitete zusammen mit dem späteren ersten Vorsitzenden der

Gewerkschaft Orhan Tuna die endgültige Fassung der Satzung aus. Dabei wurden

die Ziele der Gewerkschaft in sieben Punkten zusammengefaßt: Es ging der

Gewerkschaft darum, „das Bewußtsein der Arbeiter zu entwickeln, die

Arbeitsbedingungen zu verbessern, gerechte Löhne zu erkämpfen, Regelungen zum

Gesundheitsschutz der Arbeiter durchzusetzen, die sozialen Bedingungen zu

verbessern, für die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Türkei einzutreten und die 102 Der türkische Soziologe Yalçın Küçük behauptet in seinem Buch „Thesen über die Intellektuellen“, daß „die Türkeidurch ihre permanente Russenangst den Kalten Krieg mitinitiiert, wenn nicht provoziert hat“. Leider bleibt er schuldig,wie und womit er diese an sich interessante These belegen kann, Vgl.: Yalçın Küçük, a.a.O.103 ”Im Frühjahr 1947 verschärfte sich der Druck auf die Arbeiterbewegung: Den Gewerkschaften wurde unter anderemdie Autonomie verweigert, jede politische Betätigung, sowie der Anschluß an internationale Organisationen untersagtund auch die rein “tradeunionistische” Arbeit auf nationaler Ebene bedeutend erschwert”, Vgl.: Steinhaus, a.a.O., S. 150.104 Ibrahim Talas: Türkiye´de Sendikacılık Hareketi ve Toplu Sözleşme (Gewerkschaftsbewegung und Tarifverträge inder Türkei), Ankara 1965, S. 45 ff.105 Auf Türkisch “Işçi Sendikaları Birliği”.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 201

Ausbeutung der Arbeiterklasse abzuschaffen“107. Kessler hat sich demnach mit den

Wesentlichen Zielen der Dachgewerkschaft einverstanden erklärt und deren

Gründung als Fortschritt für die türkische Arbeiterschaft bezeichnet.

106 Sağlam Dalaman weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den damaligen Vorsitzenden der InternationalConfederation of Trade Unions (ICFTU) Irwing Brown und seinen Einfluß hin; Gespräche/Interviews mit SağlamDalaman...107 Faruk Şen, Türkei - Gewerkschaften zwischen ideologischer Ausrichtung und entwicklungspolitischem Potential,Bonn 1978, S. 6.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 202

2.8 Der Tod, der Dank

Die Gründung der Gewerkschaft erlebte Kessler nicht mehr in der Türkei. Er nahm

1951 eine ihm angebotene Professur an der Universität Göttingen an und kehrte

nach Deutschland zurück. Trotz eines schweren Herzleidens war er „aus

Existenzgründen gezwungen, jedes Semester mehrere Vorlesungen zu halten“108.

Die Bezahlung einer Frührente wurde ihm verweigert, weil die Behörden nicht bereit

waren, die Lehrtätigkeit von Kessler in der Türkei anzuerkennen. Dabei wurde ihm

groteskerweise aus Anlaß seines 70. Geburtstages das Große Bundesverdienstkreuz

verliehen. Gerhard Kessler konnte ab 1958 aus gesundheitlichen Gründen nicht

mehr unterrichten und starb 1963, ohne seine Ansprüche auf Ruhegehalt

durchgebracht zu haben, vereinsamt und völlig verarmt in einem Altersheim in

Kassel.

108 Die Zeit, 26.02.1953.

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Gerhard Kessler - Von der Möglichkeit der politischen Partizipation 203

Hölle

Es war inmitten unsres wegs im leben

Ich wandelte dahin durch finstre bäume

Da ich die rechte strasse aufgegeben.

Wie schwer ist reden über diese räume

Und diesen wald

den wilden rauhen herben

Sie füllen noch mit schrecken meine träume

So schlimm sind sie

das wenig mehr ist sterben.

Doch schilder ich alle dinge die mir nahten

Ob jenes guts das dort war zu erwerben.

Ich weiss nicht recht mehr wie ich hingeraten.

So war ich voller schlaf um diese stunde

Dass sich mir falsche wege offentaten.

Paradies

Die Glorie des bewegers aller dinge

Dringt durch das weltall

und sie ist entglommen

Mehr in dem einen als im andern ringe

Im himmel war ich der zumeist

Von seinem licht und sah dort was verbreiten

Nicht darf noch kann wer

Von dorther gekommen

Denn wenn wir höchstem ziele

Näher schreiten

Liegt unsre einsicht in so festem bande

Dass das gedächtnis

Nicht kann rückwärts gleiten.

Fürwahr soviel vom glanz der heiligen lande

Noch in den schreinen meines geistes glühe

Mach ich zu meines liedes gegenstande

DANTE ALIGHIERI

Florenz, Venedig, Ravenna

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 204

3 Paul Hindemith - Musiker! Emigrant?

3.1 Einführung

Wenn von der „Emigration“ in die Türkei während der nationalsozialistischen Zeit in

Deutschland die Rede ist, wird ein Name besonders hervorgehoben. Es handelt sich

dabei um Paul Hindemith. In der Türkei wird Paul Hindemith, neben Ernst Reuter, als

der berühmteste und als einer der nachhaltigsten Emigranten eingeschätzt. Mit Stolz

wird darauf hingewiesen, daß dieser berühmte Komponist als Zufluchtsland die

Türkei ausgewählt hat109. Die deutsche Literatur wiederum, die sich mit diesem

Thema beschäftigt, bezeichnet Hindemith auch als einen, zumindest zeitweiligen,

Türkeiemigranten110 .

Ich zweifle sehr stark daran, daß Hindemith ein Türkeiemigrant war. Ich habe mich im

Zusammenhang mit Hindemith für den Begriff Legende entschieden. Die Geschichte

über die Emigration Hindemiths in die Türkei ist eine Legende. Ich benutze den

Begriff Legende111 , weil sie gerade die Mitte zwischen Lüge und Wahrheit assoziiert.

“Legende ist die Geschichte, auf die man sich geeinigt hat”, sagt Camus112.

Legenden sind Geschichten, die der genauen Nachprüfung (meistens) nicht

standhalten und trotzdem (meistens) geglaubt werden. Und ihre Glaubwürdigkeit

hängt mit der Situation derer zusammen, die eben nichts anderes glauben wollen

und können. Ich zweifle ganz stark an Hindemiths sogenannter

109 Jan Cremer / Horst Przytulla, a.a.O., “Liste der Türkeiemigranten” , S.57.110 Vgl: Giselher Schubert, Hindemith, Hamburg 1981, S. 78 und andere Quellen. So ist in einem Buch mit dem Namen“Kunst Macht Politik - Die Nazifizierung der Kunst- und Musikhochschulen in Berlin”, welches 1992 unter derFederführung von Christine Fisher-Defoy von der HdK-Berlin herausgegeben wurde, über Hindemith zu lesen “PaulHindemith verläßt nach öffentlichen Kampagnen gegen ihn 1934 (!) Deutschland.” Vgl.: a.a.O. S. 159. Ekkehard Walterschreibt: “... Bedeutend war übrigens auch der Einfluß deutscher Emigranten auf das Musikleben Ankaras, wobei sichu.a. Paul Hindemith um den Aufbau des Konservatoriums verdient machte”,Vgl.: Ekkehard Walter, DeutscheWissenschaftliche Emigration in die Türkei, S. 250, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz Bd. 23 / 1982. Sogar FritzNeumark sieht in Hindemith einen Emigranten: “Besonders weitgehenden Einfluß übten die deutschsprachigenEmigrantenmusiker aus. In erster Linie ist Paul Hindemith zu gedenken, der sich unter den jüngeren türkischen Kollegeneines ungewöhnlichen Ansehens erfreute.”, Vgl.: Fritz Neumark, Die Emigration in die Türkei, in: Kölner Zeitschrift fürSoziologie und Sozialpsychologie, Nr. 23 / 1981, S. 452. Dr. Mathes Bube geht noch weiter und schreibt in einem Artikelüber die Emigration in die Türkei: ” Manche kamen mit der Sprache nicht zurecht oder hatten andereAnpassungsschwierigkeiten. Nach Möglichkeit verließen sie nach Ablauf des Erstvertrages die Türkei und siedeltenvorzugsweise in die USA über. Darunter waren (...) der Komponist Paul Hindemith”, In: “Wissenschaftliche Emigration indie Türkei: 40 Jahre danach, Antalya 1991, S. 186.111 Nach dem Duden Bd. 5 “Fremdwörterbuch” ist die Legende: 1) Abschnitt eines Heiligenlebens für diegottesdienstliche Lesung. 2) sagenhafte, unglaubwürdige Geschichte oder Erzählung.112 Albert Camus, Verteidigung der Freiheit, Frankfurt a.M. 1960, S. 56.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 205

Emigrationsgeschichte, weil Hindemith gar kein Emigrant sein will; zumindest bis er

keine andere Wahl hat, sträubt er sich mit allen Händen, Füßen und Mitteln, die er

hat, gegen die Flucht. Er sieht in der Emigration nicht eine Wahl oder eine politische

Artikulationsmöglichkeit, sondern einen Zwang.

3.2 Zwischen Anpassung und Anpassung

“Ich habe nun mittlerweile von der türkischen Regierung die ehrenvolle Aufforderung

erhalten, ihr für eine neu zu errichtende Staatsmusikschule die nötigen Unterlagen

auszuarbeiten; zu diesem Zweck müßte ich eine drei - vierwöchige Reise nach der

Türkei unternehmen” schrieb Paul Hindemith am 21. 02. 1935 an den Direktor der

Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik Professor Dr. Fritz Stein und bat ihn

um Urlaub113. Er fügte die Sätze dazu: “Ich bitte Sie, in dieser lediglich

informatistischen Zwecken dienenden Reise nicht eine Handlung gegen die Schule

oder gar gegen Deutschland sehen zu wollen. Ich halte es im Gegenteil für

besonders wichtig, daß gegenüber dem Angebot der übrigen Nationen114, in einem

Lande wie die Türkei kulturellen Einfluß zu gewinnen, die Deutschen den Vorzug

erhalten und bitte Sie darum auch Ihrerseits (eventuell) nach Befragung der

vorgesetzten Stellen115 das Unternehmen fördern zu wollen“116. Der Urlaubsbitte von

Hindemith wurde am 05.03.1935 entsprochen117. Nach einer dreitägigen Zugreise

über Wien und Istanbul kam Hindemith mit seiner Frau Gertrud in der Hauptstadt der

türkischen Republik Ankara am 6. April 1935 an.

Bevor ich die von der Literatur als die türkische Emigrationszeit bezeichnete Phase

im Leben Hindemiths weiter untersuche, möchte ich an dieser Stelle eine Zäsur

machen und zwei wichtige Punkte in der Vorgeschichte der Hindemith - Türkei -

Beziehung in den Vordergrund meiner Überlegungen stellen: zuerst zum “Fall

Hindemith” und dann zum politischen Hintergrund seiner Tätigkeit in der Türkei.

Der in 1895 in Hanau geborene Paul Hindemith war seit dem 01.05.1927 Professor

für Kompositionslehre an der Berliner Hochschule für Musik. Zuvor war er in erster

Linie Orchestermusiker (Bratschist), seit 1916 auch als Konzertmeister am 113 Hochschule der Künste (HdK) - Archiv Berlin , Akte HI 206 / 82.114 Gemeint sind voraussichtlich russische Musiker, die zu der gleichen Zeit, auch auf Einladung der türkischenRegierung, eine Konzertreise durch die Türkei führten.115 Gemeint ist Leiter des Außenpolitischen Amtes Alfred Rosenberg, HdK, HI 206 / 73.116 HdK, HI 206 / 82.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 206

Frankfurter Opernhaus und seit 1921 als Gründungsmitglied des Amar -

Streichquartetts hervorgetreten118. Er galt zu dieser Zeit als einer der talentiertesten

deutschen Musiker. Seit seinen ersten Cello - Stücken mit Klavierbegleitung (1917)

und der Sonate in Es - Dur für Violine (1918) war er in der musikinteressierten

Öffentlichkeit ein bekannter Name. 1924 heiratete er die Tochter des Kasseler

Dirigenten Ludwig Rothenberg119, Gertrud. Nach der erfolgreichen Uraufführung

seines Opernstückes “Cardillac” in Dresden (1926),folgte seine Ernennung zum

Professor der Hochschule in Berlin. Parallel zu seiner Hochschultätigkeit beschäftigte

er sich mit Jugendbewegungsmusik mit Breitenwirkung und arbeitete an der

Rundfunkversuchsstelle der Hochschule.

Die Jahre 1927 - 1933 erweisen in der musikalischen Biographie Hindemiths keine

großen, zumindest keine bedeutenden Erfolge. Vielleicht lag es daran, daß er sich

immer mehr von seinem eigenen Musikstil der Nachkriegsjahre distanzierte und neue

musikalische und inhaltliche Ausdrucksformen suchte. Er distanzierte sich von

expressionistischen Kompositionen und Komponisten wie Arnold Schönberg und

Kurt Weill und orientierte sich nun neusachlich120.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar konnte Hindemith

seine Tätigkeit als Hochschullehrer zuerst relativ ungestört fortsetzen. Als Interpret

und vor allem als Komponist stand er jedoch zum Teil auf der Verbotsliste der

Nationalsozialisten. So schrieb der Staatskommisar für Kultur Hans Hinke an den

Direktor Stein: “Es wird nichts dagegen einzuwenden sein, daß er sich als Komponist

betätigt und als Musiker auftritt. Allerdings sind seine Kompositionen wenig im

Einklang zu bringen mit dem, was wir jetzt im NS-Staat als Kunst verstehen”121.

Tatsächlich wurden in der Folgezeit immer weniger Werke von Hindemith in den

Konzerten gespielt. Der Schott-Verlag, mit dem er zusammenarbeitete, teilte ihm

schon im April 1935 mit, daß die Hälfte seiner Werke von der Reichskulturkammer

als kulturbolschewistisch beurteilt und deshalb verboten worden sind122. Sowohl das

Verbot als auch die allgemeine und die kunstpolitische Entwicklung scheinen

Hindemith unbekümmert gelassen zu haben. Nach der Mitteilung seines Verlages

117 HdK, HI 206 / 87.118 Ein Standardwerk zu Paul Hindemith ist: Giselher Schubert a.a.O., Weitere Literatur u.a: Erich Westpfahl, PaulHindemith - Eine Bibliographie, Köln 1957; Theodor Adorno, Ad vocem Hindemith, in: Impromptus, Frankfurt a.M. 1968.119 Weil es aus bekannten Gründen später wichtig wurde, möchte ich erwähnen, daß Rothenberg Jude war, seine Fraudagegen nicht.120 Giselher Schubert .a.a.O., S. 50.121 Hindemiths heikle Jahre, in: Exil, Forschung, Ergebnisse, 1984 / JG. 4, Heft 2, S. 72.122 Brief vom Schott-Verlag an Hindemith, 05.04.1933, Im Besitz des Hindemith Instituts (HI), Frankfurt.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 207

über das Verbot der Hälfte der Werke reagierte er folgendermaßen: “Nach allem, was

hier vorgeht, glaube ich, daß wir keinerlei Grund haben, mit Sorgen in die

musikalische Zukunft zu sehen”123. Elf Tage nach dem Reichstagsbrand schrieb er:

“Nach allem, was ich hier im Musik- und Theaterbetrieb sehe, glaube ich, daß alle

Posten in Kürze mit stramm nationalen Jungs besetzt sein werden. Im nächsten

Frühjahr, nach Überwindung der ersten Schwierigkeiten, dürften dann die Aussichten

für eine Oper von Petzold und mir sehr gut sein”124. Die Hindemith´sche Biographie

der folgenden Jahre beweist, daß Adorno völlig Recht hat, wenn er behauptet, daß

Hindemith sich, im Zusammenhang mit seiner Haltung gegenüber dem

Nationalsozialismus „in die Naivität hineinsteigerte”125. Er ging in seiner Naivität

sogar so weit, daß er Mitte Mai 1933 in Wien versuchte, den von den

Nationalsozialisten tatsächlich verhaßten und verfolgten jüdischen Komponisten und

Musiker Alban Berg für die Übernahme einer Kompositionsklasse in Berlin zu

überreden und begeistern. Alban Berg schrieb an seine Frau von der Begegnung mit

Hindemith und sprach von der “Unverfrorenheit und Kühnheit dieses Menschen”126.

Die erste Hälfte der 30er Jahre im Schaffen Hindemiths ist zugleich von einer völlig

neuen musikalischen Orientierungsphase gekennzeichnet; er distanzierte sich von

seinen eigenen früheren Werken, bezeichnete sie sogar als “Abfälle”127. Dem Zug

der Zeit folgend und unter dem großen Einfluß des Frankfurter Korrepetitors Reinhold

Merten, wandte er sich dem Neobarock und der völkischen Singbewegung zu und

stand dadurch prinzipiell sicherlich im Einklang mit den nazistischen

Musikvorstellungen128. Deshalb wird die Frage nach dem Grund des Verbots seiner

Werke als „kulturbolschewistisch“ noch interessanter129. Das Problem lag nicht in

seinen aktuellen musikalischen Werken oder seinem politischen Standort, sondern

war eher in der ablehnenden Einstellung Adolf Hitlers gegenüber Hindemiths Oper

“Neues vom Tage”130 zu suchen. Vor seiner „Machtübernahme“ war Adolf Hitler bei

einem Opernbesuch Zeuge gewesen, wie in der benannten Oper von Hindemith,

eine „nackte“, tatsächlich aber von Hals bis Fuß mit einem Trikot verhüllte, Sängerin 123 HI, Brief vom 15.04.1933.124 HI, Brief vom 10.03.1933.125 Theodor W. Adorno, a.a.O., S. 242.126 Alban Berg, Briefe, München 1965, S. 62.127 HdK, Brief vom 03.03.1935.128 Dabei hatte er noch 1926 gesagt: „ In der Musik geht es auf Dauer nicht mit dem Nationalismus, es hat keinenSinn.“ Hindemith zitiert in: Schubert, a.a.O., S. 41.129 Die Literatur geht davon aus, daß Hindemith sich eher apolitisch definierte, aber linken Künstlern gegenüber aufjeden Fall distanziert stand.

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in einer schaumgefüllten Badewanne singend die Warmwasserversorgung pries. Für

Hitler war diese von Hindemith als ironisch gedachte Szene eine Entweihung seiner

„heiligen“ Oper. Hitler, der Wagner-Verehrer, konnte deshalb dann nie wieder

Hindemith verzeihen131. So einfach und banal können manchmal „Entscheidungen“

sein, die den Lebensweg eines Menschen beeinflussen, die ihn neu definieren.

Hindemith schien von diesem Vorfall nichts erfahren zu haben, zumindest ist darüber

von ihm keine Stellungnahme zu lesen. Genauso ist zu bemerken, daß Briefe oder

Notizen von ihm, in denen er sich kritisch gegenüber Hitler und dem

Nationalsozialismus äußerte, nicht erhalten oder vielleicht nicht publiziert oder aber

auch vielleicht gar nicht geschrieben worden sind. Wie auch immer, sogenannte

anerkannte Hindemith - Biographen wie Rexroth und Preußner, sehen in dieser

Haltung, seiner Passivität und Naivität, wie auch in dem Werk Hindemiths nach 1933,

das Zeichen einer inneren Emigration132. Man könnte natürlich auch, wenn man die

Zeichen umkehrt, in seiner Haltung starke Zeichen des Versuchs der Anpassung an

die politischen und kulturellen Kriterien der Zeit erkennen. So entstanden nach 1933

die sogenannten Klavierlieder ausnahmslos nach Texten von dem Kulturministerium

bevorzugten Dichtern wie Novalis, Claudis und Rückert. Die Vorbereitung und

Vollendung seiner berühmten Oper “Mathis der Maler” fiel auch in diese Periode. Bei

dieser Oper, die den “Fall Hindemith” verursachte und von Hindemith gedichtet

wurde, ging es um die Gestalt des Malers Mathis, der an der Welt scheiterte. Adorno,

der Hindemith seit 1921 kannte, schrieb nach Hindemith´s Tod über Hindemith und

„Mathis der Maler“: “Nachdem Hindemith Grünwald als den schlichten herzinnigen

deutschen Musiker Mathis veropert hatte, war kein Halten mehr. Daß die

Spekulation, die wahrscheinlich mitspielte, dem Realisten Hindemith mißlang, sagt

wenig. Nie konnte ein Künstler oder ein Denkender es den Faschisten schlecht

genug machen, sie verlangten das Letzte”133. Da der Komponist zu seinen

Ambitionen im Zusammenhang mit der Veroperung dieses Stückes in dieser Form

und zu den Vorwürfen gegen ihn, auch nach dem Ende des NS-Regimes, keine

Stellung nahm, müssen solche Spekulationen über seine Motive, gerade angesichts

seiner Gesamthaltung, gültig bleiben.

130 “Neues vom Tage”, eine heitere Oper, entstand 1928.131 Zu diesem Ergebnis kommen auch die Teilnehmer des Karl-Hofer-Symposiums 1983, bei dem es unter dem Titel„Die Kunst ist frei“ um die Rolle der Musiker während des Nationalsozialismus und dabei besonders um HindemithsEinstellung gegenüber dem System ging. Vgl. Bericht in : Der Tagesspiegel, 23. 11.1983.132 Vgl: Dieter Rexroth, Herausgeber von “Paul Hindemith - Briefe”, Frankfurt 1982, S. 156.133 Adorno, a.a.O., S. 243.

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Die Symphonie mit dem gleichnamigen Titel nach der Oper “Mathis der Maler”,

wurde am 12.04.1934 in einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm

Furtwängler uraufgeführt. Sie wurde vom Publikum und vom großen Teil der Presse

begeistert aufgenommen. “Paul Hindemith auf neuen Wegen”, ”Paul Hindemith von

neuer Seite” lauteten die Überschriften der Kritiken nach dem Konzert134.

“Tristanische Erfühlung der strengen, feierlichen Gebundenheit des Mittelalters, die

ekstatische Farberkennung, die Hingerissenheit, die fruchtbare Gebärde und

wiederum diese beeindruckende gotische Starre” waren zustimmende Worte des

Kritikers der Berliner Zeitung “Der Tag”135. Der Erfolg der Symphonie fiel in eine Zeit,

in der Hindemiths Stellung sich wieder stabilisierte, es kam also für ihn sehr gelegen.

Im Februar 1934 wurde er in den Führerrat der Reichsmusikkammer gewählt. Die

„Deutsche Arbeitsfront“ versuchte, ihn für musikpädagogische Einsätze zu gewinnen,

wogegen er nicht ablehnend stand136. Mit dem ihm wohlgesonnenen Philharmonie -

Chefdirigent und NSDAP-Mitglied Wilhelm Furtwängler plante er nun seine

Rehabilitierung. Furtwängler wollte in einem Zeitungsartikel Hindemith, seine Musik

und Einstellung gegenüber dem Regime verteidigen und auch seine deutschen

Vorzüge137 in den Vordergrund stellen, in einer Audienz bei Hitler für ihn eintreten

und den Führer mit einem persönlichen Brief von Hindemith in seine Musikklasse

einladen138. Der besagte Artikel erschien am 25.11.1934 in der „Deutschen

Allgemeinen Zeitung“ und verursachte tatsächlich großes Aufsehen. Darin stellte

Furtwängler seine klare Unterstützung für Hindemith und seine Musik dar und nahm

Stellung gegen seine Kritiker139. Doch die erhoffte Wirkung trat nicht ein. Das

Reichsamt für NS- Kulturgemeinde nahm in einer ersten Erklärung Stellung zu dem

Furtwängler-Brief und teilte mit, daß “der Nationalsozialismus vor die Bewertung des

Werkes, die Wertung der schaffenden Persönlichkeit setzt”140. Auf Hindemiths

frühere Werke eingehend, stand in der Erklärung: “Er (Hindemith) erscheint für die

Bewegung als untragbar, zumal anzunehmen ist, daß er seine Haltung aus Rücksicht

134 Der Tag, 14.04.1934.135 Der Tag, 13. März 1934.136 “Der uneingeschränkte Erfolg der Symphonie Mathis der Maler (...) fällt in eine Zeit, in der sich Hindemiths prekäreSituation allmählich zu wenden schien”, Vgl.: Werner Priem, Musik und Politik S. 143.137 Für Furtwängler ist Hindemith ein “ausgesprochen deutscher Typ”, D.A.Z., 25.11.1934.138 Werner Priem, a.a.O., S. 143.139 In der Zeitschrift „Die Musik“ war in Februar 1934 ein Artikel über Hindemith unter dem Titel „ Hindemith - Einekulturpolitische Betrachtung“ erschienen, indem der Autor Friedrich Welter Hindemiths musikalisches Könnenanerkannte, aber zugleich schrieb: „Die Reinheit der Gesinnung sollte als erste Voraussetzung unzweideutigdokumentiert werden. Soll das in der Musik nicht zur Tat werden?“, Friedrich Welter in: Die Musik, 26/1934, S. 418.140 Der Westen, Nr. 335, JG. 34, 9.12.1934.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 210

auf die Konjunktur einnimmt, womit er lediglich einen äußerlichen Stellungswechsel

vollzieht”141. Goebbels griff Hindemith bei seiner Rede zur “Jahreskundgebung der

Reichskulturkammer” im Berliner Sportpalast auch an, ohne ihn namentlich zu

nennen und sprach vom “atonalen Geräuschemacher” und sagte: „Der

Nationalsozialismus ist nicht nur das politische und soziale, sondern auch das

kulturelle Gewissen der Nation“142.

Der gegen seinen Willen unbeliebte Hindemith beantragte am 05.12.1934 Urlaub von

seiner Tätigkeit als Hochschullehrer in Berlin143.Er zog sich in seine Neustädter Villa

im Schwarzwald zurück. In einem Brief an einen befreundeten Dirigenten, Johannes

Schüler, schrieb er, daß “der unirdisch viele Dreck, der über mich in den letzten

Tagen ausgeschüttelt wurde, hat mich für die erfreulichen Tatsachen der Welt noch

empfindlicher gemacht als sonst ”144.

141 Ebenda.142 Goebbels-Rede in : Völkischer Beobachter, 08.12.1934.143 HdK, HI 206 / 62, Brief vom 05.12.1934.144 Dieter Rexroldt, a.a.O., S. 158

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 211

3.3 Der Fall Türkei

Der Inspektor für türkische Auslandsstudenten Cevat Dursunoğlu, der seit 1930 mit

halbdiplomatischem Status in Berlin lebte und die kulturellen Interessen der Türkei

vertrat, wurde 1934 von Ankara aus beauftragt, einen geeigneten Organisator in

Deutschland für den Aufbau des Konservatoriums in Ankara zu finden. Wie

Dursunoğlu Paul Hindemith kennenlernte und ihn für diese Aufgabe in Ankara

begeistern konnte, erzählte er bei einem Interview in der türkischen Musikzeitschrift

„Müzik Dünyası“ (Musikwelt) 1966 145. Er fuhr zu diesem Zweck in den Schwarzwald

und sprach dort in der Villa von Hindemith vor. Er kam zu Hindemith über

Furtwänglers Empfehlung. Eigentlich wollte Dursunoğlu Furtwängler in die Türkei

einladen, doch dieser winkte ab. Über die Motivation Furtwängler´s, Hindemith für

diese Arbeit zu empfehlen, kann nur spekuliert werden, da weder Dursunoğlu noch

Furtwängler dazu Stellung genommen haben. Es ist, wie gesagt wird, spekulativ

stark anzunehmen, daß Furtwängler den Fall Hindemith abschließen wollte, da er,

nachdem er wegen des Hindemith-Artikels und der folgenden Kontroverse sein Amt

zur Verfügung stellen mußte, wieder zurück zu seinem Berliner Dirigenten-Pult

wollte. Gleichzeitig ist anzunehmen, daß Furtwängler für Hindemith in Deutschland

keine Zukunft mehr sah und ihn sozusagen unterbringen wollte.

Dursunoğlu berichtet, daß Hindemith relativ schnell einwilligte und einige Tage später

zur Vertragsunterzeichnung nach Berlin kam146.

In der Zeit zwischen dem Besuch von Dursunoğlu und der Vertragsunterzeichnung in

Berlin, versuchte Hindemith sich über die Türkei zu informieren. Dies geht aus einem

Brief von Licco Amar147 hervor, den dieser als Antwortbrief an Hindemith

zurückschickte. Hindemith kannte Amar noch aus den 20er Jahren, als sie

145 Müzik Dünyası (Welt der Musik), Nr. 6/ 1966, Ankara, S. 23.146 Obwohl Dursunoğlu von einigen Tagen spricht, handelt es sich um mindestens 1 Monat. Dursuoğlu besuchte ihn am20.Februar, der Vertrag wurde am 27. März unterschrieben. Diese Zeitspanne spielt deshalb eine Rolle, weil Hindemithsich gerade in dieser Zeit über seine Vorgehensweise Gedanken machte.147 Licco Amar, geb. in Budapest 4.12.1891, gest. in Freiburg 19.7.1959, Schüler von Martea in Berlin, wurde 1915Bratscher Konzertmeister des Berliner Philharmonischen Orchesters und begründete 1922 das seinen Namen tragendeStreichquartett. mit Paul Hindemith. 1933 verließ der jüdische Musiker Deutschland und ging zuerst nach Paris, dann indie Vereinigten Staaten und wirkte ab 1934 am Staatskonservatorium in Ankara als Professor für Violinunterricht. Nachdem Krieg kehrte er nach Freiburg i. Br.. zurück. Vgl.: Ullstein - Lexikon der Musik, Darmstadt 1968, S.21. Ausführlicherüber die Tätigkeit Amars in der Türkei, in: Horst Widmann, Exil und...,a.a.O., S. 255.

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gemeinsam im Amar - Quartett musizierten148. Amar antwortete am 28.01.1935,

voraussichtlich auf Hindemiths Fragen in dieser Richtung eingehend: “In der Türkei

ist Musik so gut wie kaum vorhanden, und das was es gibt, sollte lieber gar nicht

existieren ”, um ihm weiter mitzuteilen, “wenn die Angelegenheit richtig eingefädelt

wird, so lassen sich gute Bedingungen machen, auch ohne, daß Du Deutschland

ganz aufgibst”149. Amar, der selbst ab 1939 Leiter der Abteilung für

Streichinstrumente der Musikhochschule in Ankara wurde, empfahl Hindemith, etwas

türkisches Volksliedmaterial zu bearbeiten, bevor er in die Türkei kam. “So etwas

würde hier ein für Dich unfaßbares Aufsehen erregen und direkt dem Gazi150

vorgelegt. Mit solchen Dingen kann man hier im Handumdrehen die Schlacht

gewinnen”151 ist übrigens der letzte Satz dieses über die Einstellung des Türkei-

Flüchtlings Licco Amar über sein Fluchtland, die Türkei, viel aussagenden Briefes.

Die Aufgabe, das türkische Musikleben nach mitteleuropäischen Maßstäben

aufzubauen und dabei finanziell sich abzusichern, wird Hindemith auch deshalb

gereizt haben, weil er sich dadurch “vor eine völlig neue, anders geartete Situation

gestellt sah, auf die er im Augenblick zu reagieren hatte”152 - dies mag so stimmen.

Zusätzlich bot das Angebot aus der Türkei ihm die Möglichkeit an, sich für eine Weile

aus der für ihn prekär gewordenen Umgebung zu entfernen, räumliche und seelische

Distanz zu den Ereignissen zu schaffen. Hindemith war in der Lage, in der Arbeit in

der Türkei auch die Chance zu sehen, sich bei den Herrschenden in Berlin wieder

beliebt zu machen, sich zu rehabilitieren (wofür auch immer) und

“zukreuzezukriechen”153- wie er das später selbst beschrieb. Seine Handlungen und

seine Haltung gegenüber der türkischen Republik und Deutschland zwischen 1935

und 1937 bestätigen diese Thesen. Hindemith unterschrieb am 27.03.1935 seinen

Arbeitsvertrag in der türkischen Botschaft in Berlin. Der Vertrag wurde in

Anwesenheit von Cevat Dursunoğlu, Paul Hindemith und dem türkischen Botschafter

Hamdi Arpağ aufgesetzt. Darin verpflichtete sich Hindemith zuerst für die Dauer

eines Monats in die Türkei zu fahren, dort in Ankara im Dienste des

Bildungsministeriums ein Musikkonservatorium zu gründen, als Berater des

Ministeriums bei der Organisation der Musikkultur mitzuwirken und anschließend 148 Das Amar-Quartett bestand neben Hindemith und Amar aus Walter Caspar und Rudolf Hindemith (Bruder von P.H.).Die Quartett-Gemeinschaft wurde 1922 gebildet und existierte bis 1928.149 HI., Brief Licco Amar an Paul Hindemith vom 28.1.1935.150 Gemeint ist natürlich Mustafa Kemal Atatürk.151 HI, Brief Licco Amar an Paul Hindemith vom 28.1.1935.152 Eberhard Preußner, Paul Hindemith - Ein Lebensbild, Salzburg 1984, S. 21.

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einen detaillierten Bericht über die Resultate seiner Arbeiten dem Ministerium zu

übergeben. Für diesen Zeitraum und seine Dienste sollte Hindemith übrigens 3000

Lira bekommen154.

3.4 Die erste Reise

Am 04.04.1935 kam Hindemith mit seiner Frau Gertrud in Ankara an und quartierte

sich im Hotel „Istanbul Palace“ ein. Die ersten Tage verbrachte er damit, sich über

die aktuelle Situation der vorhandenen Musikinstitutionen zu informieren. In

Begleitung von Necil Kazım Akses, der seine Übersetzungsarbeiten übernahm, fuhr

er nach Istanbul und Izmir, aber auch in das sogenannte Landesinnere, um die

türkische Volksmusik an Ort und Stelle kennenzulernen. Er machte sich, wie auch

Aydın Gün155 mir gegenüber bestätigte, ein relativ gutes Bild von der

Musikbeschäftigung der türkischen Bauern. Sein Hauptinteresse galt dem Ankara-

Musiklehrerseminar, das er reformieren und zu einem Konservatorium umändern

sollte.

Nach 15 Tagen Türkei-Aufenthalt schrieb er einen Brief an den Direktor der Berliner

Musikhochschule Horst Stein, indem er ihn daran erinnerte, daß die Semesterferien

eigentlich am 23.04.1935 beendet seien, aber daß er noch nicht zurückkommen

konnte, weil er die Arbeit in der Türkei nicht abbrechen wollte. Er bat den Direktor um

einen Nachurlaub bis 09.05.1935 und begründete dies mit folgenden Sätzen: “Ich

kenne mittlerweile die türkischen Musikverhältnisse in- und auswendig, reformiere

und baue auf. In diesem Lande, das kulturell bisher ganz von den Romanen

abhängig ist, deutsche Musikanschauungen und Musikarbeit einzuführen, ist nicht

einfach. Die russische Regierung hat etwa eine Gruppe von 15 Leuten geschickt,

Kapellmeister, Sänger, Geiger, Komponisten, Ballett, und sie erobern alle Herzen im

Sturm, unterstützt von Botschaft, Regierung und dem Bewußtsein, die Schlacht zu

153 Hindemith-Briefe, a.a.O., S. 113.154 1000 Lira waren im Vertrag als Reisekosten angegeben; zusätzlich möchte ich an dieser Stelle an den ebenzitierten Brief von Amar erinnern.155 Aydın Gün war zu dieser Zeit Student am Konservatorium von Ankara und begleitete Hindemith während seiner Zeitin Istanbul. Gün war bis in die 90er Jahre Intendant der Istanbuler Festspiele. Gespräch mit Aydın Gün 20.05.1994,Istanbul und 15.01.1995, Berlin.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 214

gewinnen156. Und ich armes Huhn sitze hier ohne jede Unterstützung und schlage

mich herum.(…) Ich tue alles, was ich kann - mit dem leicht unbehaglichen Gefühl,

einen für Deutschland wichtigen Kulturposten nicht genügend bearbeiten zu können,

weil ich allein nicht stark genug bin”157. Hindemith forderte eindeutig die

Unterstützung der deutschen Stellen und erklärte sich damit bereit, für sie, und

dadurch in ihrem Sinne, zu arbeiten.

Durch diesen Brief, den Stein an das sogenannte Rosenberg-Amt158 weiterleitete,

wurde Berlin anscheinend auf „das arme Huhn“ in Ankara aufmerksam. Rosenberg

brauchte ein klareres Bild über die Arbeit von Hindemith und seine tatsächliche

Einstellung zum Reich. Er beauftragte den Botschafter in Ankara mit einem

Telegramm, in dieser Richtung Angaben zu machen. Der ehemalige Pressereferent

der deutschen Botschaft Schmidt-Dupont159 übernahm im Auftrage des deutschen

Botschafters Fabricius diese Aufgabe, “da die Botschaft dies nicht gut tun kann”160.

Nach einem Abendessen mit dem Ehepaar Hindemith stellte das Ehepaar Schmidt-

Dupont den in Berlin erwarteten Rapport zusammen und leitete ihn an den

deutschen Botschaftsrat Fabricius weiter. Darin wurde beschrieben, daß Hindemith

im Interesse Deutschlands tätig und sein Vorschlag, an den ersten Platz für jedes

Instrument im Orchester einen deutschen Musiker zu setzen, von der türkischen

Regierung angenommen worden sei161. Der Brief schilderte dann Hindemiths

angebliche Schwierigkeiten mit den russischen Musikern und zitierte seine Sätze

über sie: “Alles Effekthascherei, keine Achtung vor der Kunst. Von den neuen

Errungenschaften deutscher Dirigierkunst wissen sie gar nichts”162. Er riet dazu, daß

die Botschaft Hindemith unbedingt unterstützen sollte.

Nach diesen beiden Briefen, also Hindemiths an Stein, der von ihm wiederum an

Rosenberg weitergeleitet wurde und den von Schmidt-Dupont an Fabricius, änderte

156 Nach meiner Recherche (Quelle: türk. Zeitungen) handelte es sich um eine Musikkapelle aus Moskau, die imRahmen einer Balkantournee auch in der Türkei gastierte. Diese Zeilen von Hindemith verstärken hier den Eindruck,daß er an einer gewissen Legende baute, um seine Situation weiter zu dramatisieren. In diesem Zusammenhangmöchte ich daran erinnern, daß spätestens seit 1927 jegliche kommunistische oder prosowjetische Propagandaarbeit inder Türkei strengstens verfolgt wurde. So berichtet der Botschafter Nadolny am 24.November 1927 nach Berlin: ”In derTürkei werden die Kommunisten unerbittlich bekämpft”, Politisches Archiv des ...a.a.O., PO 3, Bd. 2, Nadolny zu AA.157 HdK, HI 206 / 92.158 Alfred Rosenberg war Redakteur beim „Völkischen Beobachter“ und viel wichtiger, Leiter des AußenpolitischenAmtes der NSDAP; durch seine Stellung war er auch für die kulturpolitischen Belange im Ausland zuständig.159 Zu dieser Zeit hielt sich Schmidt-Dupont in Ankara offiziell als Journalist und Vertreter des DeutschenNachrichtenbüros auf.160 HdK, HI 206 / 76, Brief Dupont an Botschaftsrat Fabricius (als Kopie).161 HdK, HI 206 / 76a, Brief Luise Schmidt-Dumont an Fabricius (als Kopie).162 Ebenda.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 215

sich die Stimmung in Berlin wieder einmal zugunsten Hindemiths. Rosenberg

telegrafierte am 03.05.1935 an Stein und beauftragte ihn “mit Rücksicht auf Größe

seiner Arbeit für deutsche Kulturpropaganda”163 seinen Urlaubsverlängerungsantrag

zu bejahen. Er fügte auch die Nachricht hinzu, daß Hindemith ab dem 20.05.1935

seine Lehrtätigkeit an der Musikhochschule wieder aufnehmen kann.

Auf Bitten der türkischen Regierung gab Hindemith am 05.05. 1953 im Konzertsaal

der Hochschule in Ankara ein Konzert164. Das Orchester der Hochschule und

Hindemith spielten vor dem Ministerpräsidenten Inönü, Werke von Bach, Haydn,

Mozart, Akses und Hindemith selbst. Das Konzert wurde ein großer Erfolg165.

Präsident Inönü veranlaßte nach dem Konzert, daß Hindemith mit dem Ankauf von

neuen musikalischen Instrumenten aus Deutschland beauftragt wurde und auch

mindestens 12 deutsche Musiker für die Türkei engagieren sollte. Er bekam 26 000

Mark (d.h. etwa 13 000 Lira) für die Beschaffung der Instrumente166. Am 20.05.

verließen Paul und Gertrud Hindemith die Türkei in Richtung Berlin, wo er seine

Tätigkeit an der Hochschule wieder aufnehmen wollte.

Bald nach seiner Ankunft in Berlin bestellte Hindemith die Musikinstrumente, stellte

Kontakte zu verschiedenen Musikern her und versuchte sie für die Arbeit in Ankara

zu gewinnen. Der Bericht über seine Tätigkeit in der Türkei, den er kurz nach seiner

Rückkehr Anfang Juni, übrigens unaufgefordert und vertraulich, an Alfred Rosenberg

schickte, unterstreicht die Vorgehensweise und die wahren Absichten Hindemiths in

diesem Zusammenhang. Darin beschrieb er ausführlich seine Reise in die Türkei,

versuchte aber seine Verdienste für die deutsche Kulturpropaganda in den

Vordergrund seiner Ausführungen zu stellen. Auf seine mittlerweile für die türkische

Regierung verfaßten ersten Vorschläge anspielend, bemerkte er: “Aus ihnen geht

eindeutig hervor, daß ich bestrebt war, der deutschen Musikkultur für die Zukunft ein

Einflußgebiet vom größten Ausmaß zu sichern und damit für das deutsche Ansehen

im Auslande zu arbeiten”167. Er erinnerte noch einmal an seine angebliche

Auseinandersetzung mit den russischen Künstlern (“die ich ohne die moralische

Unterstützung unserer Regierung zu verrichten hatte”), um dann zu betonen: “Meine

Arbeit ist leider nicht ganz ungefährdet, die russische Front mit ihrer verlockenden 163 HdK, HI 206 / 95.164 Hindemith sagt dazu :”Man drängte mich, auch ein Konzert zu geben”. Vgl.: HdK, HI 206 / 117. Für dieVerlängerung seines Aufenthaltes um 14 Tage sprach die türkische Regierung Hindemith 666 Lira zu, Vgl.: CorneliaZimmermann - Kalyoncu, Deutsche Musiker in der Türkei im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1985, S. 177.165 Gespräch mit Aydın Gün ...166 HdK, HI 206 / 95.

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künstlerischen und finanziellen Unterbietung ist der vor der Tür wartende Feind. Ich

halte es für unklug, ihnen das unendliche Gebiet, daß Deutschland unter seinen

kulturellen Einfluß bringen kann, preiszugeben. Da ich durch das Vertrauen des

türkischen Unterrichtsministeriums auch weiterhin bei dem Aufbau des Musiklebens

in der Türkei an wichtigster Stelle tätig sein werde, wäre ich im Interesse der

Verbreitung deutscher Kulturwerte in der Welt dankbar, wenn ich auf die moralische

und nötigenfalls tätige Hilfe der Reichsregierung rechnen könnte“168.

Sein Bericht blieb nicht ohne Echo. Die “Reichsmusikerschaft in der

Reichsmusikkammer” wendete sich am 18.07.1935 an den Minister Berhard Rust169

und setzte sich für Hindemith ein: “Nach seinen für Deutschland großen

kulturpolitischen Erfolgen im Auslande dürfte ich170wohl die Bitte aussprechen, daß

diese Tatsachen bei der Entscheidung über die zukünftige Stellung Hindemiths in

Deutschland Berücksichtigung finden”171. Es ist an dieser Stelle wichtig, festzustellen,

daß es sich bei dieser Fürbitte nicht um Hindemiths Professorenstelle handelte, sie

war zu der Zeit nicht mehr gefährdet, sondern das Ziel war es, die Wiederaufnahme

seiner Opern zu erreichen.

Hindemith blieb im Sommer des Jahres 1935 für die sogenannten

Kulturverantwortlichen des Reiches anscheinend ein Gesprächsstoff. SS -Oberführer

und Staatskommisar Hans Hinkel faßte in einem Brief an Josef Goebbels die

Überlegungen in dieser Richtung zusammen und schlug ihm als Kompromiß vor,

“unter Zurückstellung jeder Entscheidung bezüglich der Aufführmöglichkeit für alle

übrigen Werke” die Aufführung der Oper `Mathis der Maler` gegen das Ende der

Spielzeit an der Frankfurter Oper zu erlauben172. Goebbels tendierte zwischenzeitlich

auch zu einer Duldung des Komponisten, da er aber die persönliche und

unwiderrufliche Abneigung des Führers gegen Hindemith kannte, riet er dazu, die

Situation und die Entwicklung abzuwarten173.

3.4.1 Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens

167 Ebenda.168 HdK, HI 206 / 95.169 Berhard Rust war ab 1934 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.170 Prof. Dr. Peter Raabe, Präsident der Reichsmusikerkammer.171 HdK, HI 206 / 114.172 Hans Hinkel am 29.8.1935 an Goebbels über Ministerialrat Hanke, Vgl.: Exil, .., a.a.O., S. 80.173 Ebenda.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 217

Die Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens, die Hindemith

zusammengefaßt und in die Türkei geschickt hatte, umfaßten insgesamt 56 Seiten.

Darin sprach er von der Notwendigkeit eines guten Orchesters als “bester

Gradmesser für die Musikkultur eines Landes, welches jährlich 12 Symphonie-

Konzerte mit abwechslungsreichen belehrenden, leicht verständlichen Stücken

geben sollte”174. Hindemith wollte, daß Werke türkischer Komponisten vorläufig nicht

gespielt werden. Gleichzeitig sollte jedoch die Grundlage des Musikunterrichts die

türkische Volksmusik bleiben. In diesem Sinne empfahl er das Sammeln und

Aufzeichnen der Volksmusik und forderte die Herausgabe eines Volksliederbuches.

Neben Abschnitten wie die Pflege der Instrumente, Errichtung einer

Musikhochschule, Ausbau der Militärmusik175 und Neubau eines Opernhauses,

widmete er sich ausführlich der türkischen Musik. Er kritisierte ihre Einstimmigkeit

und schrieb, daß durch die Konzentration auf den einstimmigen Ablauf im Lauf der

Zeit alle technischen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sind: “Was gefunden wird,

kann nur noch die Wiederholung des Früheren sein. Schließlich lassen sich die

feinen Organismen der arabischen Tonleiter niemals zu einer genußreichen

Mehrstimmigkeit verarbeiten”176. Er schlug vor, daß türkische Komponisten

versuchen sollten, “mit den äußerlichen Mitteln der türkischen bäuerlichen

Volksmusik, Melodien und Rhythmen aufzuputzen”177. Seine Begründung dazu

lautete: “Selbst der befähigste türkische Komponist wird in seinem Denken und

Fühlen niemals ein vollkommener Europäer sein.(…) Selbst wenn es möglich ist, in

der Türkei ein europäisch organisiertes Musikleben zu schaffen, haben diese

Stücke178 keinen Sinn, da sie dem natürlichen Musikempfinden des türkischen

Volkes doch immer als Fremdlinge erscheinen müssen”179.

Cevat Dursunoğlu, Hindemiths Kontaktmann und Freund180, war inzwischen Leiter

der Hochschulabteilung des Unterrichtsministeriums und drängte die Behörden, daß

Hindemith so schnell wie möglich wieder in das Land kommen sollte. Der rege 174 W.D. Pack hat in seiner Dissertation “Paul Hindemith in Turkey - Some Contributions to Music Education” dieVorschläge detailliert untersucht und als einziger vollständig veröffentlicht., Vgl.: W.D.Pack, Paul Hindemith in Turkey;Brigham Young University 1977. Das originelle Heftchen mit den Vorschlägen befindet sich in Manuskriptform im Besitzdes HI-Archivs in Frankfurt/M als: Paul Hindemith,Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens, 1935.175 Hindemith bezeichnet die Militärmusik als “Hauptträger musikalischer Kultur”!, Vgl.: Paul Hindemith, Vorschläge fürden Aufbau des türkischen Musiklebens, Berlin 1936, S.23.176 Ebenda, S.46f.177 Ebenda, S.49ff.178 Gemeint sind Konzert- und Theatermusik nach europäischem Stil; Vgl.: Ebenda, S. 50.179 Ebenda, S.51.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 218

Briefwechsel zwischen Hindemith und Dursunoğlu gibt Aufschluß auf die sehr

verschiedenen gegenseitigen Erwartungen und Realitäten. Damit Hindemith seine

Tätigkeit in der Türkei in Ruhe und konzentriert weiterführen konnte, bot Dursunoğlu

ihm im Namen der Regierung einen Jahresvertrag an. Hindemith drückt in seinem

Antwortbrief seine Freude darüber aus: “Sie schreien nach mir, wie das Kind nach

der Mutterbrust”181. Ohne auf den Vertragsvorschlag konkret einzugehen, teilte er

dann mit, daß zwar “Berlin nach dem Ausfall im Frühjahr, im Herbst und Winter auf

meine Kraft rechnet”, aber er “zum Einrichten der ganzen Arbeit, zur

Stellenbesetzung und zur Ingangsetzung der ganzen Arbeit 2-3 Monate Urlaub“

nehmen kann182. Er kündigte in dem Brief an, daß er gegen den 20. 09. in Ankara

sein werde. In einem späteren Brief (datiert auf den 3. August) war als Ankunftszeit

inzwischen Januar angegeben und es war außerdem auch eine konkrete

Stellungnahme zu dem Vertragsvorschlag zu lesen. Aus dem Brief geht klar hervor,

daß Hindemith zu dieser Zeit an seiner Stellung in Berlin nicht mehr zweifelte: “Ich

müßte meine hiesige Stellung aufgeben, dadurch Verlust meines Gehaltes. Eine

Anzahl Konzerte in Europa müßte ich absagen, bedeutender Geldverlust. Durch die

einjährige Unterbrechung meiner Haupttätigkeit, der Komposition, erlitte ich neben

dem wirtschaftlichen noch künstlerischen Schaden. Das für die türkischen

Verhältnisse sehr hohe Gehaltsangebot ersetzt nicht die Einkünfte, die ich hier

verliere”183. Er schlug vor, daß er weiterhin “wie bisher aus Deutschland das

türkische Musikleben organisieren und öfter zur Kontrolle der geleisteten Arbeit in die

Türkei kommen will”184 .

3.5 Zwischenbemerkung zum Januar 1936 im Lebenvon Paul Hindemith

Die Stellung von Hindemith stabilisierte sich langsam, aber zunehmend. Er wußte,

daß seine Professorenstelle zwischenzeitlich nicht mehr gefährdet war, zumal er mit

der sogenannten Aufbauarbeit in der Türkei, eine ständige Jokerkarte gegenüber den

Herrschenden in Berlin aufweisen konnte. Voraussichtlich um seine Situation 180 Zumindest Dursunoğlu sieht in ihm einen Freund, ob Hindemith bei seiner Einstellung überhaupt Türken alsFreunde akzeptieren konnte, wage ich stark zu bezweifeln.181 Hindemith an Dursunoğlu, 12.7.1935, Brief bei Cornelia Zimmermann-Kalyoncu.182 Ebenda.183 Hindemith an Dursunoğlu, 3.8.1935, Brief bei Zimmermann-Kalyoncu.184 Ebenda.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 219

endgültig abzusichern, beschloß Hindemith in dieser Phase, den Eid auf Hitler

abzulegen. Mit dem Direktor der Hochschule Stein wurde der nächstmögliche Termin

für den Treueschwur vereinbart. So sprach Hindemith am 17. 01. 1936 dem Direktor

Stein die Worte nach: “Ich gelobe: ich werde dem Führer des Deutschen Reiches

und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein und meine Dienstobligkeiten

gewissenhaft und uneigennützig erfüllen!”185.

Zwei Tage nach dem besagten Gelöbnis reiste Hindemith nach London, um bei

einem Konzert sein `Bratschenkonzert über alte deutsche Volksweisen` mit dem Titel

’Schwanendreher’ vorzuspielen. Am Tag des Konzerts starb der englische König

Georg, das Konzert mit dem heiteren Stück konnte nicht stattfinden. Hindemith bat

sich sofort an, für die BBC eine „funeral music“, eine Trauermusik zu schreiben.

Hindemith “trauert dann von 11 bis 17 Uhr heftig”, wie er es bezeichnete, um ein für

“Könige sehr passendes Stück”186 mit Bratsche zu komponieren. Das Stück wurde

am Abend landesweit im Radio übertragen. Hindemith schrieb sofort an seinen

Verleger Willy Strecker einen Brief und regte an, dieses Ereignis in Deutschland

populistisch zu unterbreiten: “Sollte man diese Geschichte nicht etwas ausnutzen?

Wollen Sie es nicht auch dem deutschen Blätterwald rauschen lassen? ”187.

Die musikalische Zukunft der Türkei wurde ihm anvertraut; Hindemith nutzte die

Situation , um sich in Berlin beliebt zu machen. Ein König starb. Hindemith

komponierte “in einem einzigartigen, fast mozartianischen Tempo”188 ein

Trauerstück; das Ziel blieb das Gleiche: sich in Deutschland bei den Herrschenden,

denen er Treue geschworen hatte, beliebt zu machen189.Nach seiner Rückkehr von

der ersten Türkei-Reise verschaffte Hindemith tatsächlich mehreren Musikern die

Möglichkeit, in die Türkei zu gehen und dort zu arbeiten. Unter ihnen waren u.a.

Ernst Präterius, Gilbert Back und Friedrich Schönfeld. Doch eine Reihe von

Musikern, die Hindemith in die Türkei vermittelte, genügten den türkischen

185 HdK, HI. 206 / 137. Ob ein Gelöbnis etwas zählt oder nicht, warum wir was versprechen, das ist alles nicht meinThema. Es gibt genug Soziologen und Psychologen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Ich halte es im FallHindemith nur deshalb für erwähnenswert und wichtig, weil 1) ich das Gefühl habe, daß das mehr oder wenigerverschwiegen wird und 2) um daran zu erinnern, daß ganz viele andere, auch viele die in Deutschland blieben, ihn nichtgeleistet haben. Hindemith tat es.186 Hindemith-Briefe, a.a.O., S. 159.187 Ebenda.188 Sein Mäzen Reinhardt über die Arbeitsweise von Hindemith, Vgl.: Hindemith-Briefe, a.a.O.,S. 159.189 Das Verhalten von Hindemith scheint auch bei anderen deutschen Flüchtlingen für Gesprächsstoff gesorgt zuhaben, so bezeichnete Hans Eisler ihn 1935 wegen seiner Anbiederungsversuche an das NS-System als„Konjukturritter“. Hans Eisler, Musik und Politik, Leipzig 1972, S. 258.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 220

Verantwortlichen qualitativ nicht190. So wurden mit einigen von ihnen auch keine

Verträge unterzeichnet und sie mußten wieder zurück nach Deutschland. Hindemith

ärgerte sich sehr darüber, daß Leute, die er ausgewählt hatte, in der Türkei

abgelehnt wurden. In einem Brief an Dursunoğlu rechtfertigte er die Wahl aller

Musiker als richtig und bezeichnete sie als “opferungsfähige junge Leute, die gerade

in Ankara notwendig sein werden”191. Er vermutete hinter diesen Entscheidungen

groteskerweise den Dirigenten Dr. Präterius, den er selbst in die Türkei vermittelt

hatte: ”Immerhin sind bei allen guten Eindrücken eines Probespiels Mißgriffe möglich,

niemand dürfte das besser wissen als Dr. Präterius. Auf jeden Fall hätte er sich vor

einer Entscheidung mit mir in Verbindung setzen müssen”. Zusätzlich ärgerte er sich

auch darüber, daß Dr. Präterius in Ankara Werke jüdischer Musiker lehrte: ”..Auch

daß Bruckner, Schönberg, und sonstige Musik gespielt wird, die im jetzigen

Augenblick ganz unangebracht ist”192. Schließlich holte er in dem gleichen Schreiben

zum großen Schlag aus: ”Ich bitte Sie, mir ehrlich zu sagen, ob Sie zu meiner

Arbeitsweise noch das volle Vertrauen besitzen, um mich in Ankara bei allen

Schwierigkeiten voll und ganz zu unterstützen: wollen Sie mich mit einer absoluten

Vollmacht ausstatten, daß meine Anweisungen an jedem Platz, ob Schule oder

Orchester erfüllt werden müssen? Wenn Sie mir das nicht versprechen können, halte

ich es für richtiger, wenn Sie mich aus meinem Vertrag entlassen”193+194.

Zimmermann-Kalyoncu, die in ihrem Buch “Deutsche Musiker in der Türkei im 20.

Jahrhundert” ausführlich auf Hindemith eingeht, interpretiert diese Vorgehensweise

übrigens als “konstruktive Kritik” und schließt daraus, “wie viel Hindemith an einer

konsequenten Durchführung seiner Pläne gelegen war”195. Wie auch immer,

Dursunoğlu sprach Hindemith in seinem Antwortschreiben im Auftrag der türkischen

Regierung das volle Vertrauen aus: “Dafür ist die beste Garantie das Wohlwollen

unseres neuen Ministers” und versprach, daß die türkische Musikreform nur in

seinem Sinne weitergeführt würde. Er teilte weiterhin mit, daß die

Musikerangelegenheit auch im Sinne Hindemiths erledigt sei: “Mit allen Musikern

sind wir zufrieden”196. Nach dieser Genugtuung ließ Hindemith über seine Frau an 190 Wahrscheinlich zur Überraschung von Hindemith hatten und haben Türken auch Qualitätserwartungen.191 Hindemith an Cevat Memduh Altar, 30.Januar 1936, Brief bei Zimmermann-Kalyoncu.192 Ebenda.193 Ebenda.194 Ich zitiere hier Adorno : “Zur Autorität stand er ambivalent wie einer, der die Faust ballt, unbewußt erfüllt von derBegierde, so zu werden wie der Vater“, Theodor W. Adorno, a.a.O., S. 243.195 Cornelia Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 48.196 Cevat Memduh Altar an Paul Hindemith, 2.2.1936, Brief bei Zimmermann-Kalyoncu.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 221

die Türkei mitteilen, daß er am 5. März in Ankara ankommen würde und zweieinhalb

Monate dort arbeiten wollte197.

197 Gertrud Hindemith an Cevat Memduh Altar, 20.2 1936, Brief bei Zimmermann-Kalyoncu.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 222

3.6 Zweite Reise

Im Frühjahr 1936 reiste Paul Hindemith in Begleitung seiner Frau zum zweiten Mal in

die Türkei, nachdem er sich an der Berliner Hochschule für die Zeit zwischen dem

15. März und 28.Mai beurlauben ließ198. Die folgende Zeit, die er ausschließlich in

Ankara verbrachte, wurde seine wichtigste und fruchtbarste in der Türkei. Er stellte

eine ganze Reihe von Gutachten und Berichten zusammen, die er in einem zweiten

Band seiner “Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens 1936”199

verarbeitete und die die Grundlage für das am 20.05.1940 verabschiedete

Konservatoriumsgesetz bilden sollten. Hindemith erstellte in erster Linie den Entwurf

einer Satzung für das künftige Konservatorium. Die Satzung enthielt 22 Punkte. Darin

legte er die Lehrpläne und die Leistungsbeurteilung fest; er plädierte aber auch dafür,

den Französischunterricht in der Schule abzuschaffen und nur Deutsch zu

unterrichten. Er begründete diesen Vorschlag mit der hohen Anzahl der deutschen

Lehrer und der, nach seiner Meinung, qualitativ besseren deutschen Musikliteratur200.

Weiterhin schrieb er Gutachten über den Instrumentenbestand der vorhandenen

Musikhochschule sowie des Sinfonieorchesters. Er gab Stellungnahmen über den

Bestand der Konservatoriumsbibliothek, die er “unglaublich durcheinander”201 fand,

über die Militärmusikkapelle und über den Zustand des Sinfonieorchesters ab.

Daneben erstellte er ein didaktisches Konzept für ein Chorliederbuch, entwarf eine

Verfassung für die künstlerische Leitung der Orchester in Ankara, erstellte die

Prüfungsordnung für die ausgebildeten Lehrer, übrigens bis heute gültig, und lieferte

eine Aufstellung der Musiklehrer mit ihrer Diensteinteilung.

Vom 02.06.1936 stammt der Abschlußbericht mit dem Titel “Die vom April 1935 bis

Mai 1936 für den Musikaufbau geleistete Arbeit“202, den Hindemith nach seiner

Rückkehr in Berlin schrieb. Darin faßte er die gesamte Arbeit, die er in diesem

Zeitraum geleistet hatte, in 2 1/2 Seiten zusammen.

Nach dem Olympischen Sommer in Berlin fuhr Hindemith im September zum

“Internationalen Musikfestival” nach Venedig und bereitete sich gleichzeitig auf das

neue Semester in Berlin vor. Doch brachte die Denunziation des Sängers Lohmann,

198 HdK HI 206 / 132.199 Paul Hindemith, Vorschläge für den ...a.a.O.200 Ebenda. S. 34 ff.201 Ebenda.202 Hindemith, Vorschläge für den…,a.a.O., S. 79ff.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 223

der sich bei Hindemith für eine Stelle in der Türkei beworben hatte, aber von ihm

abgelehnt wurde, seine Zukunftspläne durcheinander. Lohmann warf ihm vor, “in

erster Linie nichtarische Musiker nach Ankara” zu vermitteln203. Zusätzlich führte der

Violinist Georg Kulenkampf im Herbst 1936 ohne Erlaubnis der zuständigen Stellen

die „Sonate für Violine und Klavier in E“ von Hindemith in Berlin auf204. Goebbels ließ

nach diesen Vorkommnissen die Aufführung sämtlicher Werke in Deutschland

endgültig verbieten205. Dabei hätte der Reichspropagandaminister, der nach

Informationen seiner engen Mitarbeiter persönlich “nichts gegen Hindemiths nackte

Damen und Dissonanzen”206 hatte207, besser recherchieren sollen. Dann hätte er

nämlich sehen können, daß die Vorwürfe, also die Denunziation gegen Hindemith, so

nicht stimmen konnten. Die Dokumente belegen eindeutig, daß er nicht bewußt und

etwa z.B. als politischen Akt, nichtarische, jüdische Musiker in die Türkei vermittelte,

sondern “sich der nationalen Seite seiner Aufgabe bewußt war”208 und sich nur nach

“Leistungsprinzip”209 orientierte. Er hatte im Zusammenhang mit der Auswahl der

Musiker für die Türkei keine alleinige Entscheidungsbefugnis. Er war in dieser Frage

von Anfang an, d.h. nach der Rückkehr der ersten Türkeireise, auf die Kooperation

mit der „Reichskulturkammer“ angewiesen. Er berichtete in dem Brief vom

30.01.1936 an Dursunoğlu über die Auswahlkriterien der Musiker. Er schrieb, daß

alle Musiker sorgfältig ausgewählt werden und ein Probespiel vor der

Reichsmusikerkammer stattfindet, er fügte hinzu: ”Außer mir (sind) noch andere

Spezialisten zugegen”. Es folgt eine Stellungnahme dazu, daß es an sich sehr

schwer sei, Musiker für die Türkei zu Probespielen einzuladen, da für sie kein

Reisegeld zu erreichen sei. Dann beschwerte er sich über das langsame Tempo des

türkischen Unterrichtsministeriums, er bemerkte: “Ich hatte einige ganz vorzügliche

Leute, die inzwischen wegen der langen Wartezeit längst in Engagements sitzen”. Er

führte aus: ”Es ist ausgeschlossen, einen allerersten Musiker von hier zu bewegen,

sein Angestelltenverhältnis mit Pensionsberechtigung mitten im Winter zu lösen, um

nach Ankara zu gehen”210. An dieser Stelle erinnere ich daran, daß auf dem

203 In: Hindemiths heikle Jahre, a.a.O., S. 76.204 Gertrud beschwerte sich mit einem Brief an den Schott-Verlag, daß der Musiker dadurch ihren Mann in einemißliebige Lage gebracht habe. Vgl.: G. Hindemith an Schott-Verlag, 28.10.1936, HI-Archiv, Frankfurt a.M.205 Werner Priem, a.a.O., S. 157.206 Fred Prieberg, Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982, S. 174.207 Ebenda.208 Vgl. auch : Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 422.209 In: Hindemiths heikle Jahre, a.a.O., S. 80.210 Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 186 ff.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 224

Nürnberger Parteitag vom 15. September 1935, also vier Monate vor diesem Brief,

das sogenannte Rassengesetz verabschiedet wurde. Danach konnte und durfte kein

jüdischer Musiker mehr Angestellter in einem Orchester sein211.

3.7 Dritte Reise

Über die dritte Türkeireise von Hindemith sind sehr wenige Angaben und

Informationen vorhanden. Klar ist, daß er sich zwischen dem 25. 01. und 25.02.1937

in der Türkei aufhielt und sich in erster Linie mit der Organisation eines Volkschores

beschäftigte. Daneben standen die Einrichtung eines Musikaufnahmestudios und der

sich immer wieder verzögernde Bau des neuen Konservatoriumgebäudes im

Mittelpunkt dieser Reise.

Bald nach seiner Rückreise aus der Türkei reichte Hindemith, wie er es mit Direktor

Stein verabredet hatte212, die Kündigung seiner Professur ein. Nach den Ereignissen

des Herbstes und mit dem Aufführungsverbot seiner Werke, setzte Hindemith jetzt

alles auf eine Karte und pokerte hoch: entweder er würde endgültig rehabilitiert oder

er mußte “ins Ausland gehen, um sich von der Emigranten-Presse dann zum

Märtyrer stempeln zu lassen!”213. Sein Kündigungsschreiben sprach für sich: “Lieber

Herr Direktor, im Anschluß an unsere in der vergangenen Woche gehabten

Gespräche bitte ich Sie, mich zum 1.Oktober aus meiner Lehrstellung an der

Hochschule zu entlassen. Ich danke Ihnen herzlichst für die Güte, mit der Sie selbst

211 Zwei Jahre später, nach seiner vierten Türkei-Reise und kurz bevor er Deutschland diesmal tatsächlich verließ,mußte Hindemith zu diesen Vorwürfen noch einmal Stellung nehmen. Am 19.01.1938 forderte Herr Knothe vomReichspropagandaministerium die deutsche Botschaft in Ankara auf, über die Verhältnisse an der Musikhochschule undvor allem über die Anzahl jüdischer Lehrer, einen Rapport zusammenzustellen. Der Botschafter von Keller schrieb darin,nachdem er bestätigte, daß einige jüdische Lehrer angestellt waren und die Verhältnisse vom deutschen Standpunkt zuBedenken Anlaß gaben, daß für die jüdischen Lehrer an der Schule nicht Hindemith, sondern Carl Ebert verantwortlichsei “Mein Eindruck ist, als ob seinem (Ebert) Einfluß ein erheblicher Teil der unerwünschten Entwicklung derPersonalverhältnisse, soweit deutsche Interessen dabei in Frage kommen, zuzuschreiben sind” Ab diesem Punkt zitiereich seinen Brief: “Er (Hindemith) hat mich kurz vor der Abreise von seinem letzten Aufenthalt in Ankara Ende Novemberv.J. aufgesucht, um mir über die Entwicklung der Schule zu berichten und dabei, unter Anspielung auf ihm zu Ohrengekommene Gerüchte, sich gegen den Vorwurf, er begünstige bei der Annahme von Kräften für die MusikhochschuleJuden und Nichtarier, verteidigt, z.B. versuchte er den Ersatz des Professor Lohmann durch Ney zu begründen und dieungünstige Wirkung dadurch abzuschwächen, daß dieser nur zu 25% unarisch und ein Bruder des Gesandten Ney sei,auch sei er (Hindemith) an der Auswahl der einzelnen Kräfte des Hineinredens der Türken nicht so frei wie er gernemöchte, so sei der Pianist Czatzkes (Jude) gegen seinen ausdrücklichen entschiedenen Protest engagiert worden. Erbeteuerte, er sei mit allen Kräften bemüht, arisches Personal zu gewinnen und sei sich der nationalen Seite seinerAufgabe wohl bewußt”. Vgl. zu diesem Brief auch: Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 422. Widmann, der Hindemithgerne als Türkeiemigrant sieht, und offensichtlich nicht gut recherchiert hat, schreibt, daß Hindemith Czatzkes in dieTürkei vermittelt hat, Vgl.: Horst Widmann, a.a.O., S. 267.212 Vgl.: Exil...,a.a.O., S.77.213 Stein über Hindemith an Oberst Gossraum 22. 12.1936, HdK: Stein- Archiv.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 225

in den Zeiten unangenehmer Ereignisse meine Arbeit gewürdigt haben und ich bitte

Sie, auch dem Ministerium aus demselben Grund meinen wärmsten Dank

auszusprechen. Mit deutschem Gruß, Ihr sehr ergebener Paul Hindemith”214. Seinem

Kündigungsschreiben215 fügte er eine “Aufstellung dessen bei, was bis jetzt für

Deutschland bei der türkischen Seite herausgesprungen ist216, allerdings soll das

vertraulich behandelt werden, denn ich möchte nicht, daß die Türken erfahren, daß

ich davon gesprochen habe”217. Am nächsten Tag der Kündigung von Hindemith

wandte sich Direktor Stein brieflich an Staatsrat und Philharmoniker-Chefdirigent

Furtwängler und bat ihn, sich beim Hitler selbst für Hindemith einzusetzen und zu

erreichen, daß seine Werke wieder gespielt werden konnten: “Paul Hindemith hat mir

versprochen, zunächst keine feste Verpflichtung mehr im Ausland zu übernehmen,

so daß wir so hoffen können, ihn wieder gewinnen, wenn der “Fall Hindemith”

vielleicht doch im positiven Sinne geklärt wird. Nach Lage der Dinge könnte das nur

durch den Führer selbst geschehen.” Nachdem Stein in dem Brief Hindemiths innere

Wandlung hervorhob und als Beweis die Musikstücke “Das Unaufhörliche” und

“Mathis der Maler” zitierte, schrieb er: „Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß der

Führer, der ja für die bildende Kunst ein besonders warmes Herz hat, gerade nach

diesem Text, der die Tragik des Künstlerschicksals behandelt, die geistig-ethische

Haltung des reiferen Hindemiths beurteilen kann. Dankbar für alles, was Sie im

letzten Augenblick noch für die Sache tun können, grüßt Sie in aller Verbundenheit

herzlich mit Heil Hitler, Ihr Stein“218. Doch Furtwängler setzte sich nicht noch einmal

für Hindemith ein, er wußte, daß der Führer kein besonders warmes Herz für

Hindemith haben würde219.

214 HdK, HI. 206/ 165.215 Ich erinnere hier noch einmal daran, daß die Hindemith-Biographie ihn gerne als einen Emigranten bezeichnet. Ichgreife diese Bezeichnung auf und führe aus, daß Hindemith sicherlich einer der wenigen „Emigranten“ war, der 1937seine Briefe “mit deutschem Gruß” beendete. Er war sicherlich einer der wenigen Emigranten, der sogar in der„Emigration“ für das Vaterland, für die Heimat sich aufopferte und für nationalsozialistische Deutschland Vorteileverschaffte, “Sachen herausspringen ließ”, wie er es bezeichnete. Er war sicherlich einer der wenigen Emigranten, diedem Ministerium, das ihn ständig erniedrigte , “für diese Güte den wärmsten Dank” aussprach. Er war vielleicht sogarder einzige Emigrant, der all das getan hat. Auf jeden Fall war er ein besonderer Emigrant.216 Leider ist diese sicherlich äußerst interessante Liste nicht mehr auffindbar.217 HdK, HI 206/165.218 HdK, HI 206/ 167.219 Exil...,a.a.O., S.78.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 226

3.8 Vierte Reise

Hindemith, der die Zeit zwischen seiner Kündigung und seiner Ausreise nach den

USA durch eine Fülle von kompositorischer Arbeit und Konzerttätigkeit im Ausland

vertrieb, kündigte in einem Brief vom 14.06.1937 an das türkische

Unterrichtsministerium an, daß er Anfang Oktober wieder in die Türkei kommen

würde und auch bereit sei, im Falle einer Aufnahmeprüfung vorher in das Land zu

fahren und erklärte sich bereit, „dafür zwei Wochen meiner Ferien zu opfern“220. Das

war aber nicht nötig, es fand vor diesem Datum keine Prüfung mehr statt, so daß

Hindemith nicht seine Zeit für die Türken opfern mußte und erst am 04.10.1937 für

einen sechswöchigen Aufenthalt noch einmal, zum letzten Mal, in der Türkei eintraf.

In dieser Zeit bearbeitete er eine Gesetzesvorlage für eine

Studiengebührenverordnung, regte an, eine schuleigene Buchbinderei einzurichten

und erstellte weitere Berichte über die Arbeit der Orchester und anderer

musikalischer Institutionen. Gleichzeitig scheint es während dieses Aufenthaltes

zwischen ihm und vor allem türkischen Lehrern bzw. Musikern zu Spannungen

gekommen zu sein. Ein großer Teil seines letzten, achtseitigen Berichtes für die

Türkei221 ist diesem Thema gewidmet. Demnach warfen ihm einige türkische Lehrer

vor, die sogenannte Aufbauarbeit ungenügend bzw. schlecht zu betreuen, und auf

seine sehr hohen Einkommen anspielend, beschuldigten ihn des Egoismus.

Hindemith war naturgemäß gegenüber seinen türkischen Kritikern erzürnt und

forderte das türkische Unterrichtsministerium auf, diese, so auch die jungen

Komponisten Halil und Akses, in die Provinz zu versetzen, “um ein Exempel

aufzustellen. Ich muß leider unserem Freund Necil (Akses) jede Fachkenntnis im

Gesang- und Instrumentalunterricht absprechen. Ich stecke lange genug in meinem

Beruf, um diese Dinge besser zu können als er, der doch nur sehr kurz seine Nase in

europäische Schulbetriebe gesteckt hat”. Diesen Brief beendete Hindemith

groteskerweise mit dem Gruß “Ihr schon sehr eingetürkter Paul Hindemith”222.

Nach dieser letzten Türkeireise wurden die Kontakte zwischen Hindemith und der

Türkei immer seltener. Das türkische Unterrichtsministerium erinnerte Hindemith im

Laufe des Frühjahrs 1938 mindestens zweimal höflich daran, seinen vertraglichen

220 Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 214.221 Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 218.222 Ebenda.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 227

Verpflichtungen nachzukommen und die Arbeit in der Türkei fortzusetzen223. Am 12.

Mai antwortete Gertrud Hindemith im Namen ihres Mannes und erklärte, wie sehr

Paul Hindemith beschäftigt sei und nicht einmal Zeit hätte, einen Brief zu

schreiben224. Hindemith hatte das Kapitel Türkei längst abgeschlossen, spätestens

als er sicher war, daß er auf der Düsseldorfer Entarteten Kunst-Ausstellung

miterwähnt wurde. Der letzte Brief von Hindemith an die Türkei ist auf den 25.

September 1938 datiert, indem er mitteilt, daß er “Berlin auf immer verlassen” 225

habe.

3.9 Ende gut, alles gut ? - Wer ist ein Emigrant?

Paul Hindemith war von 1935 bis 1937 insgesamt viermal in der Türkei.

Zusammengerechnet hat er sich in dieser Zeit insgesamt 8 Monate dort aufgehalten

und gearbeitet. Zu der Einrichtung der Musikabteilung des Konservatoriums in

Ankara hat er die entscheidenden Ideen geliefert. So sind die Neuorganisation der

Abteilung, der zeitlichen Bedürfnissen entsprechende Instrumentenankauf und die

Vergrößerung des Gebäudes seine Verdienste oder gehen zumindest auf seine

Initiativen zurück. Genauso ist hervorzuheben, daß er zahlreiche theoretische

Gutachten und Berichte über die Reformbedürfnisse des türkischen Musiklebens

erstellt hat, die teilweise später als Gesetzesvorlagen bearbeitet und dadurch

Verwendung gefunden haben. Hindemith hat mindestens 12 Musiker in die Türkei als

Lehrkräfte vermittelt, u.a. auch Carl Ebert226 , viele von ihnen blieben über ihre

vertraglich vorgesehene Zeit in der Türkei.

So oder ähnlich kann man Hindemiths Verdienste für den Aufbau des türkischen

Musiklebens zusammenfassen; die zu diesem Thema vorhandene Literatur resümiert

223 ”Wir erwarten Sie wieder in Ankara. Wenn Sie sich wieder zwei Monate unserer Arbeit widmen könnten, wäre ichIhnen sehr dankbar.” , Dursunoğlu an Hindemith, Vgl.: Zimmermann-Kalyoncu, a.a.O., S. 227.224 Gertrud Hindemith an Cevat Memduh Altar am 12. Mai 1938, in: Zimmermann- Kalyoncu, a.a.O., S. 228.225 Paul Hindemith an Cevat Memduh Altar, Brief bei Zimmermann-Kalyoncu.226 Carl Ebert (1887-1979) fühlte sich im Gegensatz zu Hindemith tatsächlich als Emigrant, vor seiner Emigration in dieTürkei hatte er schon 1933 Deutschland endgültig verlassen. Als am 11. März die Städtische Oper Berlin, derenIntendant Ebert war, von der SA besetzt wurde, erfolgte eine Unterredung zwischen ihm und dem preußischenInnenminister Göring über die Reorganisation der drei Berliner Opern. Nach der Unterredung zog Ebert gegenüberseiner Frau folgendes Resümee: “Ich bin mir nicht ganz klar, entweder bin ich morgen im KZ oder ich bin die rechteHand Görings geworden, auf alle Fälle gibt es nur eines, sofort aus Deutschland heraus.” Vgl.: Zimmermann-Kalyoncu,a.a.O., S. 38l. Ebert arbeitete zwischen 1933 und 1936 als Gastregisseur und Intendant an verschiedenenOpernhäusern und Theatern in der Schweiz, England und Argentinien, bevor er 1936 endgültig nach Ankara kam. Mehrüber Ebert in: Carl Ebert zum 70. Geburtstage, Berlin 1957.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 228

seine Zeit in der Türkei auch in dieser Form und beendet dann das Kapitel

„Hindemith und die Türkei“.

Ich beende es nicht und führe meine Gedanken weiter. Ich gehe davon aus, daß

Hindemiths eigentliche Motivation in der Türkei tätig zu sein, von Anfang bis zum

Ende auf seine Ambitionen in Deutschland ausgerichtet war. So hat Hindemith

parallel zu seinen Berichten für die türkischen Behörden, Rapports und

Stellungnahmen für die deutschen Behörden, in den meisten Fällen unaufgefordert,

zusammengestellt und mehrmals Informationen an die Deutsche Botschaft

weitergeleitet. Hindemith hat die Arbeit in der Türkei als eine für das Ansehen der

deutschen Kultur und Sicherung eines kulturellen Einflußgebietes lanciert; er hat

sogar den musikalischen Material- und Instrumentenankauf in Deutschland als einen

wirtschaftlichen Gewinn für Deutschland bezeichnet.

Er wollte mit der Arbeit in der Türkei den Herrschern in Berlin beweisen, wie sehr er

sich gewandelt hatte und in ihrem Sinne arbeitete und dachte. Die Türkei war das

rein zufällige, wie man so sagt, das willkommene Opfer für ihn, es hätte genauso ein

anderes Land sein können. Paul Hindemith arbeitete zwischen 1935-1937 in der

Türkei, aber auch in Berlin als Professor an der Musikhochschule. Er verließ erst

Ende 1938 Deutschland und wanderte über die Schweiz in die USA aus. Erst dann

wurde er zu einem Emigranten. Warum wird er aber in der Literatur zum Emigranten

der fast ersten Stunde erklärt? Welcher Sinn und Zweck steht dahinter? Wenn

jemand, der im nationalsozialistischen Berlin arbeitet, arbeiten und leben will und sich

„bei den faschistischen Machthabern mit allen möglichen Tricks und Ideen

anzuschmieren“227 versucht, Emigrant ist, was sind dann die anderen Emigranten,

die um ihr Leben geflüchtet sind? Die Antwort dieser Frage hängt vielleicht mit der

Entwicklung nach dem Ende des Weltkriegs in Deutschland zusammen. Im Zeitgeist

der Nachkriegsepoche galten tatsächliche Emigranten in keiner Weise als Leitbilder,

im Gegenteil, sie waren größtenteils Störfaktoren für den kollektiven

Verdrängungsprozeß, der für das Selbstverständnis der westdeutschen

Nachkriegsgesellschaft bestimmend wurde. Zugleich brauchte aber die offizielle

Politik insbesondere gegenüber dem Ausland und der Geschichtsschreibung

Vorzeigeemigranten, natürlich möglichst mit antikommunistischer und zugleich

nationalistischer Grundeinstellung. Genauso wie der linke Widerstand nach dem

Ende des NS-Regimes fast ganz totgeschwiegen oder zumindest sehr geschwächt

227 Hans Eisler, a.a.O., S.258.

Page 230: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 229

dargestellt und der Begriff des Widerstands durch militaristisch-deutschnationale

Offiziere oder hochrangige preußische Bürokraten besetzt wurden, sollte die

tatsächliche Emigration auch zuerst begraben und dann zugeschüttet werden. Der

Begriff Widerstand war von 1945 an in der BRD allgemein von Rechts besetzt,

gerade von denen, die paradoxerweise teilweise oder meistens Teilhaber und

Nutznießer des Faschismus waren. Ich gehe davon aus, daß im Zeitgeist der

Adenauer-Republik Hindemith auf diese Weise Emigrant der ersten Stunde wurde,

einer der seine Heimat bis zum letztmöglichen Augenblick nicht aufgegeben hat und

vorbildhaft erst dann zum Emigranten wurde, Emigrant sein mußte, als kein Ausweg

mehr möglich war. Also nicht so wie etwa Bert Brecht, Max Beckmann, Albert

Einstein, Walter Gropius, Klaus Mann, Peter Weiß, Hannah Arendt und tausende

Andere, die schon 1933 weggingen. Hindemith gehörte nicht zu denen, denn “er hielt

die Machtübernahme der NS für ein Regierungswechsel in einem demokratischen

Staat, den man zu tolerieren habe”228. So empfahl er nach außen und auch seinen

besorgten Freunden immer wieder Geduld229, legte am 17.01.1936 das Gelöbnis auf

den Führer ab230, sicherte in der Türkei für die Zukunft der deutschen Musikkultur ein

Gebiet vom größten Ausmaß ab, und das sogar als schlecht ausgerüsteter Kämpfer

“gegen den vor der Tür wartenden Feind Russen”. Ein aufrichtiger Emigrant, der

Hindemith, der Ideal-Emigrant, den die deutsche Nachkriegspolitik brauchte.

Wenn Emigration, dann die heuchlerische, weil sie beweist, wie ein richtiger

Deutscher handelt, sogar als Emigrant. Wenn Widerstand, dann den gescheiterten,

weil er beweist, selbst die mutigsten Deutschen waren machtlos, wieviel mehr die

nachfolgenden Generationen, die sich auf der Suche nach Vorbildern nach ihnen

richteten.

228 Werner Priem, a.a.O.,S.138.229 Ebenda, S.139.230 Ebenda, S.145.

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Paul Hindemith - Musiker! Emigrant? 230

Eine Fabel. - Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und

Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber

er hat Geist, Kitzel und Genuß an Jagd und Intrigen der Erkenntnis - bis an die

höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf!- bis ihm zuletzt nichts mehr zu

erklagen übrig bleibt als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker,

der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. Als gelüstet es ihm am Ende nach

der Hölle - es ist die letzte Erkenntnis, die ihn verführt. Vielleicht daß auch sie ihn

enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müßte er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an

die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem

Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntnis, die ihm nie mehr zuteil wird!

Friedrich Nietzsche

Röcken, Basel, Sorento, Bonn,

Bayreuth, Sils-Maria, Weimar

Page 232: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 231

4 Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst

4.1 Einführung

Rudolf Belling war nicht der erste westliche Künstler, der über sein künstlerisches

Schaffen hinaus auch als Lehrer in der Türkei tätig wurde. Obwohl die osmanischen

Sultane durch die Regeln des Islams bildenden Künsten gegenüber ablehnend

standen, hatten sie aber privat ein ambivalentes Verhältnis zu den religiösen

Vorgaben. So ließen sich mehrere Sultane von italienischen oder französischen

Malern porträtieren, u.a. Mehmed II., also der Eroberer von Istanbul, durch den Maler

Bellini. In der Entstehungsphase der islamischen Religion wurden Götzenbilder und

Skulpturen verboten231. Als Kunst durfte nichts benannt werden, was einen Schatten

auf den Boden warf oder eine dritte Dimension besaß232. Dieses Verbot

verselbstständigte sich jedoch immer mehr; an die Stelle bildnerischer Darstellungen

setzten die islamischen Künstler überreiche Ornamentik mit bunten Kacheln, Stuck

und die Schriftkunst ein; zum Hauptbau- und Kunstwerk wurde die Moschee233. Erst

durch die Tanzimat-Reformen (1839) und die Verwestlichungsbestrebungen von

Sultan Mahmut II.234 wurde auch das Kunstverständnis liberaler. Es ist jedoch

wichtig, darauf hinzuweisen, daß die “Akademie der Schönen Künste” erst 1882, also

vier Jahrzehnte später als die Reformen, gegründet wurde (Mekteb-i Sanayi-i Nefise-i

Şahane)235 und bis zur Etablierung der ersten Bildhauerklasse wieder ein weiteres

Jahrzehnt verging236. In dieser Schule unterrichteten mehrheitlich französische 231 Dazu steht in der Sure 5, Paragraph 90 des Koran folgendes: “ O ihr, die ihr glaubt, siehe, der Wein, das Spiel, dieBilder und die Pfeile sind ein Greuel von Satans Werk. Meidet sie; vielleicht ergeht es euch dann wohl.”; Vgl.: Der Koran,Max Henning, Stuttgart 1980.232 Ich möchte im Zusammenhang mit diesem Thema besonders auf das Standardwerk “Die Kunst des Islam”, Hrsg.von Janine Sourdel-Thomine / Bertold Spuler, Berlin 1973 hinweisen. Die Autoren gehen im ersten Teil des Buches zurEntstehung des Islams und seiner Ausbreitung ein; im zweiten, ausführlicheren Teil wird die Kunst des Islam in seinerganzen Breite und Problematik behandelt, darin die Kunst und das Kunstverständnis der Osmanen, ab S. 376 ff.233 Obwohl eigentlich das angesprochene Verbot auch die Malerei umfaßte, ließen sich die meisten osmanischenSultane in der Regel von italienischen Malern porträtieren.234 Mehr über die Reformmaßnahmen in: Werner/Markow, a.a.O., besonders ab S. 183.235 Die erste Malereiausstellung fand unter Beteiligung von drei griechischen und armenischen Künstlern im Jahre1888 in Istanbul statt.236 Nach Hüseyin Gezer´s Angaben war Yervant Oskan der erste osmanische Bildhauer, er war allerdings armenischerAbstammung; nach einem Studium in Paris kehrte er 1882 nach Istanbul zurück und arbeitete als Lehrer in der neuenKunstschule; sein erster Schüler wurde Ihsan Özsoy. Gezer stellte fest, daß bis 1923 nur vier Studenten dieBildhauerklasse der Kunstschule beendet hatten. Vgl: Hüseyin Gezer, 50 Yılın Türk Resim ve Heykeli (50 Jahretürkische Malerei und Bildhauerei), Istanbul 1973, S. 13.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 232

Künstler. Die Gründung der Türkischen Republik 1923 bedeutete auch in diesem

Bereich für die ganze islamische Welt eine radikale Zäsur; Präsident Kemal

verkündete, daß in der neuen Republik „keine Religion akzeptiert wird, die die

schönen Künste vernachlässigt“ und „die Kraft, die das Leben der Menschen und ihr

Handeln beherrscht, einzig die Schaffenskraft ist“237. Die Leitung der

Bildhauerabteilung der Kunstschule in Istanbul wurde zwei jungen türkischen

Bildhauern übertragen238; man erhoffte durch ihre Arbeit neue Impulse, ohne jedoch

diese genau zu definieren. Nach Gezer war genau diese Konzeptlosigkeit das

Hauptproblem der Bildhauerabteilung und der Kunstschule überhaupt239. Gleichzeitig

wurde von der Öffentlichkeit die Qualität der Arbeiten von türkischen Künstlern in

Frage gestellt. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, daß nach der Gründung

der Republik nicht türkische Bildhauer, sondern ein Italiener und ein Österreicher

damit beauftragt wurden, Standbilder und Statuen von Mustafa Kemal und anderen

Helden des Befreiungskrieges zu bearbeiten. Diese waren Pietro Canonica und

Heinrich Krippel. Da sich im Laufe der Zwanziger Jahre nichts an der Situation in der

Akademie änderte und Werke türkischer Bildhauer noch immer nicht den

Erwartungen entsprachen, wurden die Mittel für die Abteilung gekürzt, die

Studentenzahl eingefroren. Das Scheitern der türkischen Lehrkräfte leitete die Suche

nach einer geeigneten ausländischen Fachkraft, die Suche blieb jedoch bis 1936

erfolglos. Dann wurde ein neuer Direktor für die Akademie ernannt, Burhan Ümit

Toprak, der sich das Engagieren eines ausländischen Lehrers zur Hauptaufgabe

erklärte. In einem Interview sagte Toprak: „Ich bin meine Stelle vor kurzem

angetreten und habe unsere Abteilung in einem desolaten Zustand gefunden. Es

geht jetzt zuerst darum, einen europäischen Experten ausfindig zu machen, der hier

alles in Ordnung bringt; das wird meine allererste Aufgabe sein“240. Der Direktor der

Architekturabteilung Hans Poelzig wurde von Toprak konsultiert, ob er einen Namen

vorschlagen könnte, sein Favorit war der Berliner Bildhauer Rudolf Belling. Das

Erziehungsministerium, das für die Akademie verantwortlich war, bewilligte diesen

Vorschlag. ”Es gab jahrelang Versuche, in der Türkei eine Bildhauereischule zu

etablieren, diese scheiterten jedoch an der Ideenarmut und Erfahrungslosigkeit der

237 Atatürk´ün Özdeyişleri (Grundgedanken Atatürks), Ankara 1978, S. 22 und S.24.238 Ihsan Özsoy wurde Leiter, während Mahir Tomruk die Klasse übernahm.239 Hüseyin Gezer, a.a.O., S. 113.240 Ümit Toprak´ın Cumhuriyet gazetesine verdiği demeç, Cumhuriyet 12.04.1936. (Interview mit Toprak in Cumhuriyet,übersetzt von mir).

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 233

Verantwortlichen. Erst durch Professor Bellings Ankunft erwachte die Bildhauerei als

eigenständige Kunstrichtung aus ihrem tiefen Schlaf.”

4.2 Ein Pionier der abstrakten Kunst

Rudolf Belling wurde 1886 in Berlin geboren. Er begann seine Bildhauerkarriere nach

der Ausbildung einer Lehre als Modelleur, Kleinplastiker und Bildhauer. Ab 1912

besuchte er die Kunstakademie - Charlottenburg, die jetzige Hochschule der Künste

in Berlin. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er zu den sechs Begründern der

„Novembergruppe“ und war Gründungsmitglied im anarchistischen „Arbeitsrat für

Kunst“241. Er beschäftigte sich intensiv mit der Frage der Dreidimensionalität in der

Kunst: “Das Problem der Durchbrüche und Zwischenräume, damals in der Akademie

als `tote Form` bezeichnet, führte ihn zu Versuchen in gegenstandsloser Gestaltung,

bei der er die Verschränkung von Volumen und Hohlraum deutlicher zum Ausdruck

bringen konnte”242. Das Ideal dieser „Dreidimensionalität“, also die Verbindung von

Bau-, Bildhauer- und Malkunst, führte ihn auch zu seiner „Geste Freiheit“, ein Modell

für ein Revolutionsdenkmal für die Toten der Novemberrevolution von 1918,

ausgeführt in den Materialien wie Draht, Stoff und Gips. Den künstlerischen

Durchbruch schaffte Belling mit der Plastik „Dreiklang“. Der völlig abstrakte

“Dreiklang”, 1919 entstanden, wurde als erste raumgreifende Skulptur der Kunst

begriffen und in den Fachkreisen heftig diskutiert243. Belling wandte seine formalen

Prinzipien auch im öffentlichen Kunstraum an; die von ihm gestaltete Decke eines

Tanzlokals zählte in den Zwanziger Jahren zu den Berliner Sehenswürdigkeiten244;

viel diskutiert waren auch seine abstrakten Schaufensterpuppen, die er als

Auftragsarbeiten ausführte. 1924 erhielt er eine Einzelausstellung in der

Nationalgalerie. Die ’Preußische Akademie der Künste’ wählte ihn zum Mitglied. In 241 “Die Novembergruppe entwickelte aus der Not der deutschen Nachkriegszeit heraus ein Programm, das sich vorallem dadurch auszeichnete, daß es nicht in erster Linie gegen , sondern für etwas war. Die Novembergruppe war vorallem für soziale Gerechtigkeit und für `Kunst für alle`”, Loris Schmidt, Ein Pionier der Moderne, Süddeutsche Zeitung,13.7.72.242 Franz Orthner, Rudolf Belling - Bahnbrecher der modernen Plastik, Interpress Kultur, 17.8.66243 Der “Dreiklang” war öffentlich zuletzt 1992 während der Ausstellung “Entartete Kunst - Das Schicksal derAvantgarde im Nazi - Deutschland” im Alten Museum, Berlin zu sehen. Es handelt sich dabei um eine völliggegenstandslose Figur, in der Volumen und Leere gleichberechtigt sind. Vgl: Foto im Ausstellungskatalog “EntarteteKunst”, Hrsg. von Stephanie Barron, Berlin 1992, S. 106. Das Werk befindet sich im Besitz der Berliner Nationalgalerie.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 234

der zweiten Hälfte der 20er Jahre arbeitete er oft mit Bauhauskünstler wie Max Taut

und Wassili Luckhart zusammen, und zwar an Projekten, die die Plastik aus ihrer

Isolierung hoben. Nach der Machtergreifung lebte Belling zuerst als freischaffender

Künstler in Berlin weiter und konnte sich mit Privataufträgen finanzieren, entschloß

sich jedoch, Deutschland zu verlassen, “als sich die künstlerische Großwetterlage

verschlechterte”245. 1935 erhielt er einen zeitlich begrenzten Lehrauftrag an der

Annot Jacobi Art School in New York. Während eines Zwischenaufenthalts in Berlin

erreichte ihn das Angebot von Hans Poelzig, nach Istanbul umzusiedeln. Poelzig, der

die Architekturabteilung der Istanbuler Akademie der Schönen Künste leitete,

unterrichtete ihn von der Möglichkeit, “in Istanbul in Freiheit zu lehren und viel

wichtiger, zu arbeiten”246. Belling sollte Professor und zugleich Leiter für Bildhauerei

an der Akademie werden. “Entschlossen, dem Ruf nach der Türkei zu folgen, spricht

der Bildhauer noch einmal im Kultusministerium vor und erhält von den amtierenden

Hitleranhängern den gutgemeinten Rat, so weit wie möglich fortzugehen”, beschrieb

er selber die Situation247 und führte aus: ”1935 habe ich das alles hier verlassen

müssen. Am meisten nahmen die mir damals übel, daß ich als “Entarteter” immer

wieder ausgerechnet für die Gewerkschaften gearbeitet habe. Es paßte ihnen nicht

in den Kram, daß einfache Menschen meine Arbeiten verstanden, geliebt haben.

Dann kam eine kurze Zeit Amerika. Mein Freund Hans Poelzig nahm mich dann nach

Stambul mit.”248

Belling unterschrieb seinen Arbeitsvertrag am 25.11.1936 in der Botschaft der Türkei

in Berlin; er bekam zunächst einen Fünf - Jahres -Vertrag, sein Monatseinkommen

wurde mit 1138 Lira249 angegeben. Er hatte alle künstlerischen und pädagogischen

Freiheiten, mußte sich aber im Gegenzug verpflichten, den technischen und

organisatorischen Aufbau der Bildhauerabteilung so schnell wie möglich selbst zu

244 Dabei handelte es sich um den Tanzsaal des Scala-Casinos. Da die Scala im 2. Weltkrieg zerstört wurde, gibt esnur noch eine Beschreibung : Paul Westheim, Auftakt des Architekturwollens, in: Das Kunstblatt, 1920, S. 366. InWinfried Nerdinger´s Buch ist der Saal auch zwei mal abgebildet. Winfried Nerdinger, Rudolf Belling und dieKunstströmungen in Berlin 1918 - 1923, S. 45 u. 46.245 Ausstellungskatalog “Entartete Kunst”, a.a.O., S. 210.246 Gespräch mit Şeref Sigalı, Schüler von Poelzig und befreundet mit Belling, Istanbul 27.05.1994.247 Belling über sich in: Waldemar Grzimek, Deutsche Bildhauer, München 1969, S. 149.248 Interview Belling, in: Abend, 10. 9.1954.249 Ca. 2200 Reichsmark. Belling´s Gehalt wurde bei der dritten Vertragsverlängerung in 1946 um 200 Lira erhöht.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 235

organisieren. Am 28.11.1936 erschien in dem offiziellen Amtsblatt „Resmi Gazete“

die Regierungsverordnung über die Ernennung von Belling250.

Rudolf Belling verließ am 06.01.1937 Berlin, reiste über Italien mit einem Schiff in die

Türkei und begann am 17.01.1937 mit seinem ersten Unterricht in Istanbul251.

Nach seiner Abreise aus Deutschland wurde er aus der ’Preußischen Akademie der

Künste’ entlassen, sein Atelier durchsucht, mehrere Werke als “bolschewistisch”

verhöhnt, beschlagnahmt oder zerstört252. Seine Plastiken “Dreiklang” und “Kopf -

Porträt Toni Freeden” wurden in der Ausstellung “Entartete Kunst” im Juli 1937 in

München gezeigt. Beide Plastiken wurden jedoch vorzeitig entfernt, da

absurderweise seine Plastik „Der Boxer Schmelling“ für die gleichzeitig mit der

„entarteten Kunst“ stattfindende „Große Deutsche Kunstausstellung“ ausgewählt

wurde.

4.3 Lehrer und Staatskünstler

Als Belling mit seiner Lehrtätigkeit in Istanbul anfing, arbeiteten zwei weitere,

türkische Lehrer in der Bildhauereiabteilung, Mahir Tomruk und Nijad Serel. Mahir

Tomruk (1885 - 1954) hatte zwischen 1916 und 1924 in der Akademie der Schönen

Künste in München bei den Professoren Belecker und Kurtz studiert und als

Meisterschüler die Akademie verlassen. Nijad Sirel (1897 -1959) hatte genauso wie

Tomruk in der Münchener Akademie, allerdings bei Professor Kahn studiert. Beide

arbeiteten mit sehr realistischen Mitteln und lehnten abstrakte Plastiken, und somit

Bellings Arbeitsweise, ab. Zusätzlich kam es zwischen ihnen und Belling gleich von

Anfang an zu Unstimmigkeiten, da sie sich durch die Ernennung von einem

ausländischen Bildhauer an die Spitze ihrer Abteilung übergangen fühlten. Deshalb

wohl war eine der ersten Taten von Belling, die beiden Lehrer zu entmachten. In

einem Brief an den Kulturminister schlug er vor, daß “Sirel und Tomruk nun ihm bei

der Übersetzung helfen, zwischenzeitlich ihm über die Schulter schauen und sich so

250 Die Verhandlungen führte für die türkische Seite der Vertreter der türkischen Studenten in Mitteleuropa ReşatŞemsettin Sirer, der als großer Sympathisant des Faschismus galt! Vgl.: Milliyet, Almanya´da NasyonalsosyalistDönemde Türk Öğrencileri (Türkische Studenten im nationalsozialistischen Deutschland), 13.5.96. Der Vertrag befindetsich im Archiv der Akademie der Schönen Künste, Istanbul.251 Am ersten Tag hielt Belling einen Vortrag über “Die Kunst der Bildhauerei”; der Vortrag wurde in der von Bellingredaktionell unterstützten, ersten türkischsprachigen Bildhauerzeitschrift “AR” vollständig gedruckt. Rudolf Belling.Heykeltraşlık Sanatı (Kunst der Bildhauerei), AR, Nr. 3. 3/1937.252 Mehr über das Schicksal der Werke von Belling in: Winfried Nerdinger, a.a.O., bes. ab S. 223 ff.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 236

entwickeln sollten”253. Das Ministerium übertrug Belling die alleinige Verantwortung,

Sirel und Tomruk wurden tatsächlich zu seinen Übersetzern und Assistenten ernannt

und kündigten daraufhin ihre Stellen.

Belling´s pädagogisches Hauptanliegen war zuerst, die Abteilung für Bildhauerei und

die Unterrichtsmethodik zu reorganisieren, was ihm auch schon im ersten Jahr

gelang254. Nach seinen Vorgaben sollten die Studenten im ersten Semester sich nur

mit Kopf- und anderen anatomischen Studien befassen. Im zweiten Lehrjahr ging es

darum, auf Relief die plastische Wirkung herauszuarbeiten und in Ton und Gips zu

modellieren. Im Abschlußjahr war das Ziel für die Studenten die Schaffung von

dreidimensionalen Plastiken.

“Für ihn war die Natur die größte Ideenquelle und Lehrer zugleich; er behauptete in

seinen Ateliergesprächen, daß für ihn die Antike Plastik dem Ideal der Natur am

nächsten kam. Er akzeptierte persönliche künstlerische Ausdrucksweisen, kritisierte

jedoch ausdrucksschwache Werke um so heftiger”255. Neben seinen Vorlesungen

und Atelierstunden, betätigte sich Belling auch als Mitarbeiter der türkischsprachigen

Zeitschrift für Bildhauerei ’AR’; darin erschienen mehrere Aufsätze von Belling über

die moderne Kunst und Bildhauerei256. So nannte er in einem Aufsatz mit der

Überschrift „Bewegung und Gegensatz“, daß sein Hauptinteresse in der Bildhauerei

darin besteht, nicht das organische Wachsen, sondern „die kubisch wirksamen

Momente, in welchen Bewegung und Formkontraste verbunden sind, zu

entdecken.“257 Was jedoch die türkischen Arbeitgeber von Belling künstlerisch

erwarteten, entsprach sicherlich nicht dieser auf Formexperimente angelegten

Schaffensweise. Der türkische Staat förderte zwar die Schönen Künste, unterstützte

vor allem die Abteilung für Bildhauerei mit großzügigen finanziellen Möglichkeiten,

verstand jedoch unter plastischen Arbeiten zu dieser Zeit nichts anderes als

Realisierung sogenannter ’Atatürk - Denkmäler’. Für das neue Regime war es

außerordentlich wichtig, daß die Bevölkerung die neue Ordnung akzeptierte und

gleichzeitig nationalbewußte Gefühle empfand. Die Staatsführung arbeitete auf dem 253 Hüseyin Gezer, a.a.O., S. 124. Hüseyin Gezer gehörte zwischen 1944 - 1948 zu den Studenten von Belling. Ab1950 war er sein Assistent und übernahm nach 1955 die Lehrstelle für Bildhauerei an der Akademie der SchönenKünste.254 Angesichts der herrschenden, vorhin angedeuteten Konzeptlosigkeit dürfte dies allerdings keine großeSchwierigkeit vorbereitet haben.255 Gespräch mit Şeref Sigali...256 “AR” erschien ab Januar 1937 und wurde wegen finanzieller Probleme Ende 1939 eingestellt. Zwischen 1940 und1943 gab das Erziehungsministerium eine “Zeitschrift der Schönen Künste” (Güzel Sanatlar Dergisi) heraus, an derBelling jedoch nicht mitarbeitete.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 237

propagandistischen Weg zu diesem Ziel zugleich auf mehreren Ebenen: Statuen und

Denkmäler gehörten zu der Propagandamaschinerie und sollten das gemeinsam

erlittene Leid und gleichzeitig den Stolz des erreichten Sieges wiedergeben 258.

Belling hatte sich diesen Erwartungen und Vorstellungen zu fügen, wollte er weiterhin

in der Türkei tätig sein - er wollte, hatte vielleicht keine andere Wahl und fügte sich

auch. “Die unausgesprochene Forderung an ihn lautete, Bildhauer als linientreue

Staatskünstler auszubilden, er hatte keine andere Wahl”259. Vor dieser Realität ist

auch vielleicht ein anderer Artikel von ihm zu verstehen, in dem er sich mit der „Natur

als Vorbild“ beschäftigt: „Die organische Gesetzmäßigkeit in der Natur bleibt für uns

das Vorbild. Denn der Naturbegriff ist unendlich weit und trägt in sich hundert

Variationen des Kunstwerks“260. Im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit wandte

er sich schon ab 1940 zu einem naturalistisch-stilisierten Klassizismus. Belling,

ehemaliges Mitglied des linksradikalen Rats für Kunst, entwarf nun Modelle für

Staatsmonumente und pathetische Statuen, verbrachte sehr viel Zeit mit der

Ausarbeitung von diesen Projekten und mußte noch in den meisten Fällen die

Enttäuschung hinnehmen, daß seine Werke letztlich gar nicht aufgestellt wurden

oder politischen Veränderungen zum Opfer fielen - das war auch eine Realität der

Emigration. 1940 gelang es ihm, eine erste Studentenausstellung zu organisieren.

Die Ausstellung unter dem Titel “50 Werke aus drei Jahren” war über den ganzen

April im Gebäude der Akademie in Istanbul zu sehen. Belling hielt sich von anderen

deutschen und deutschsprachigen Flüchtlingen und Wissenschaftlern in Istanbul

fern, vermied fast alle Kontakte mit ihnen261. Insofern ist es nicht vorstellbar, daß

seine Ausstellung von der Emigrantengruppe bewußt wahrgenommen wurde. Bei 257 „AR“, Nr. 4/1938. (Der Text von mir übersetzt).258 Das erste Denkmal auf türkischem Boden stellte naturgemäß das Standbild von Mustafa Kemal dar; es stand aufeinem Sockel, der nur über mehrere Treppenstufen erreichbar war. Das Denkmal wurde 1925 an die Spitze derLandzunge der Istanbuler Altstadt aufgestellt, wo es sich bis heute befindet. Entworfen und ausgeführt wurde es vondem österreichischen Bildhauer Heinrich Krippel. Da die türkischen Bildhauer den ästhetischen Anforderungen dertürkischen Politiker nicht genügten, wurde neben Krippel auch der Italiener Pietro Canonica in die Türkei gerufen.Canonica galt als Vertrauter von Benito Mussolini (Mussolini schickte zur Vollendung des ersten Canonica-Atatürk-Denkmals ein Glückwunschtelegramm). Krippel und, ab 1927, Canonica führten bis in die Mitte der Dreißiger Jahremehrere Denkmalaufträge durch; auf Anweisung der Regierung bekam fast jede Stadt auf ihrem Zentralplatz einsogenanntes Atatürk-Denkmal und in der Regel ein weiteres Denkmal, wo Themen wie der Unabhängigkeitskrieg oderdie Republiksgründung bearbeitet wurden. Da die beiden genannten Bildhauer die Fülle der Aufträge nicht selbstbewältigen konnten, wurden aus ihren sogenannten Atatürk-Denkmälern Kopien und Abgußformen hergestellt; dieOriginal-Denkmäler wurden in größeren Städten, die Kopien in Kleinstädten und Dörfern aufgestellt. Siehe zu der Arbeitvon Krippel und Canonica und zu “Denkmal-Politik”: Hüseyin Gezer, a.a.O., S. 57.259 Gespräch mit Şeref Sigalı...260 „Ar“, Nr. 2/1939 (Der Text ist von mir übersetzt).

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 238

dieser Ausstellung waren neben seinen Modellen für mehrere Standbilder erste

Arbeiten und Plastiken seiner Meisterschüler Hakkı Atamalu, Hüseyin Anka, Kamil

Son und Zerrin Bölükbaşı zu sehen. Die Ausstellung wurde vom Erziehungsminister

Hasan Ali Yücel auch besucht, er äußerte sich positiv über die Arbeiten und die

Entwicklung der Bildhauereiabteilung262. Nachdem Belling 1940 ein lebensgroßes

Standbild des Staatspräsidenten Ismet Inönü in Bronze gegossen hatte263, wurde er

1942 von ihm, dem „Nationalen Chef“ beauftragt, für ihn ein monumentales

Reiterdenkmal zu entwerfen. Das Denkmal sollte in Istanbul am Taksim-Platz

gegenüber dem Atatürk-Denkmal, das der Italiener Canonica errichtet hatte,

aufgestellt werden und höher als das erste sein264. Belling arbeitete über drei Jahre

an Entwürfen für diesen Auftrag265, ließ 1944 für den endgültigen Guß seinen

ehemaligen Berliner Gußmeister Engels in die Türkei kommen und in Gips

bronzieren. Nach der Fertigstellung des Reiterstandbildes entschied jedoch Inönü,

das Denkmal vorerst nicht aufzustellen. Er hatte mit seiner Republikanischen

Volkspartei (CHP) bei den ersten Parlamentswahlen 1946, zum ersten Mal mit

Beteiligung einer Oppositionspartei, der Demokratischen Partei, eine beinahe

Niederlage erlitten und “wollte mit diesem überdimensionalen Denkmal die Gemüter

nicht noch mehr erhitzen”266. Statt dessen wurde Belling der Auftrag erteilt, das

Reiterstandbild zu verkleinern. Belling´s ursprüngliches Gipsmodell mit sechs mit

sechs Meter Höhe wurde vor den Wahlen in vereinfachter Form, diesmal ohne

Sockel und ohne Reliefs, ausgeführt und in Bronze gegossen. Das Postament am

Taksim-Platz war bereits aufgemauert, als diesmal die Demokratische Partei (DP) die

Wahlen im Mai 1950 mit 4/5 Mehrheit gewann, die bis dahin regierende

Republikanische Volkspartei ablöste und damit eine neue Ära in der Türkei einleitete.

Einer der ersten Verordnungen der DP betraf Denkmäler; das Gesetz untersagte die

Aufstellung von Denkmälern für lebende Politiker. Mit diesem Gesetz war natürlich in

erster Linie Ismet Inönü, nun nur noch Vorsitzender der CHP, gemeint. Als Folge 261 Hier möchte ich anmerken, daß es eine falsche Erwartung ist, in der Flucht, im Exil mit einer eingeschworenenGemeinschaft aller Flüchtlinge zu rechnen. Auch im Exil kann es Einzelgänger geben. Die äußere Situation wird dannauch so bewältigt und nicht durch die Solidarität mit denen, denen es ähnlich geht.262 Cumhuriyet, 16.04.1940.263 Das Denkmal wurde im Hof der Landwirtschaftlichen Fakultät in Ankara aufgestellt, wo es sich noch heute befindet.264 Hüseyin Gezer, a.a.O., S. 126.265 Rudolf Belling gab am 20.08.1943 der Türkischen Post ein Interview, in dem er über den Auftrag zumReiterstandbild und den Gang der Arbeiten Stellung nahm. Er führte darin aus, daß er als Vorbilder für sich und seineArbeit die großen Reiterstandbilder wie Marc Aurel sah. Die Türkische Post kommentierte : „Sein Kunstgeschmack zeigtalso die gleiche künstlerische Auffassung, die in so glücklicher Weise, die großen Standbilder der Geschichte bestimmt“,Türkische Post, 20.08.1943.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 239

wurden Belling´s fertiggestellte Reiterstandbilder in Gips und Bronze in Einzelteilen

im Bauhof der Stadt Istanbul eingelagert; mehrere Teile gingen schon im Verlauf der

50er Jahre verloren oder wurden gestohlen und verkauft.

Die neue Regierung unter dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes wiederum

beauftragte 1952 Belling die Leitung für die bildhauerischen Arbeiten am

sogenannten Atatürk-Mausoleum in Ankara zu übernehmen. Er wurde Vorsitzender

der Jury, die nach der Wahl der Künstler auch die Ausführung der Arbeiten

kontrollierte und begleitete267. Belling durfte jedoch keine eigenen Entwürfe

einreichen. Das Grabmal wurde am 10. November fertiggestellt. Im Verlauf des

Jahres 1953 arbeitete Belling an einem Fries für die Aula der Istanbuler Universität;

der Fries war nach der Vorstellung der Auftraggeber, d.h. der Universitätsleitung, für

eine Länge von 11 Meter und die Höhe von 3 Meter vorgesehen und sollte die

Stirnwand des Universitätsneubaus schmücken. Belling´s Entwurf stellte die

personifizierten Fakultäten und wissenschaftlichen Disziplinen in einer klassischen

Form dar, wurde jedoch nach dem Gipsguß auch nicht aufgestellt. “Ich muß

bedauernd feststellen, daß wir einen für die Weltkunst so bedeutungsvollen,

fleißigen, dynamischen und Großformaten Künstler wie Belling mit unserer

kunstfeindlichen und einfältigen Atmosphäre ermüdet und schließlich zum Stillstand

gebracht haben”268.

4.4 Geld alleine macht nicht glücklich

Es ist anzunehmen, daß bei Bellings Wechsel von der Akademie der Schönen

Künste zur Technischen Universität eine künstlerische Desillusionierung, auch

infolge der genannten Erfahrungen mit türkischen Auftraggebern, eine entscheidende

Rolle gespielt haben269. Gezer berichtet, daß Belling in den letzten Jahren in der

Akademie “sehr schwermütig und ohne jegliche Begeisterung” lehrte. Er verließ die

Akademie zum Wintersemester 1954 und übernahm bis zu seiner Pensionierung

1965 einen Lehrauftrag an der Technischen Universität Istanbul an. Er wurde 266 Gespräch mit Şeref Sigali...267 Die Jury entschied sich für Hüseyin Özkan ; er war zwischen 1938 und 1940 Schüler von Belling gewesen. DasGrabmal wurde drei Jahre nach dem Tod von Atatürk 1941 in Auftrag gegeben und wurde vom Architektenduo EminOnat und Orhan Ada aufgebaut.268 Hüseyin Gezer hat die “Ereignisse” um das Reiterstandbild als Belling´s Assistent miterlebt und berichtet in seinemBuch, daß Belling deshalb in eine künstlerisch und menschlich depressive Stimmung verfiel.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 240

Lehrbeauftragter an der Architekturfakultät der Technischen Universität für die

“Ausbildung im künstlerischen Raumempfinden und Behandlung plastischer und

architektonischer Raumprobleme”, dieses Fach wurde von ihm neu geschaffen.

Rudolf Bellings Motive, trotz dieser künstlerisch unfruchtbaren Lage, nach dem Krieg

weiterhin in der Türkei zu bleiben, sind vielschichtig. Zum einen hatte er 1942 in

Istanbul seine aus Italien stammende Frau Yolina Manzini geheiratet und eine

Tochter bekommen und finanziell ging es ihm relativ gut. Anfänglich hoffte er auf

weitere Großaufträge (das Inönü-Reiterstandbild war Anfang 1945 gerade

fertiggestellt, die Diskussion um die Aufstellung noch nicht entbrannt). Andererseits

wünschte er, daß “die Deutschen nun zu ihm kommen und ihn zurückholen, es sollte

so etwas wie eine Wiedergutmachung sein”270. Nach den künstlerisch

enttäuschenden Erfahrungen in der Türkei folgte aber dann diese zweite

Enttäuschung, daß “die Deutschen nicht zu ihm kamen”. Er entschied sich 1951, die

Lage in Deutschland selbst zu sondieren und fuhr zum ersten Mal in die alte Heimat

zurück. In Berlin führte er mehrere Gespräche mit den Kulturverantwortlichen der

Zeit, bekundete sein Interesse an einer Ausstellung seiner Werke und an einer

Professurstelle an der Hochschule der Künste, konnte jedoch keine konkreten

Ergebnisse erreichen und kehrte wieder nach Istanbul zurück. Bei einem zweiten

Besuch in 1954 versuchte er in Berlin wieder erfolglos, längerfristig geplant, Fuß

fassen zu können: “Dieser Tage hatten sich einige alte Freunde um Belling

versammelt, unter ihnen der Berliner Kultursenator. In den Gesprächen kam zum

Ausdruck, daß eigentlich Belling einer der unseren sei und daß man ihn für Berlin

zurückgewinnen müsse. Er ist selbst solchen Plänen gegenüber nicht nur nicht

abgeneigt, die Rückkehr nach Berlin würde ihm die Erfüllung eines Lebenswunsches

bedeuten”, so berichtete ein Journalist über den Aufenthalt von Belling in Berlin271.

Nach Sigalı wollte Belling nach seinen Rückreisen aus Deutschland den Eindruck

erwecken, daß er “dort eigentlich sehr gefragt sei, jedoch die Arbeit in der Türkei

vorzieht. Innerlich war er aber immer in Deutschland; wir haben uns dann um so

269 Sein Nachfolger als Leiter der Abteilung für Bildhauerei wurde Nijat Sirel. Belling hatte Sirel gleich nach seinerAnkunft entmachtet.270 Gespräch mit Şeref Sigalı...271 Albert Busche gehörte zu den Journalisten in Berlin, die in den 50er Jahren mit mehreren Reportagen, die teilweisein Istanbul entstanden, über Belling berichteten und seine Rückkehr forcierten. Als ein Beispiel unter vielen kann seineReportage “Zurück nach Istanbul - Gab es wirklich keinen Platz für Rudolf Belling”, Kurier, 15.9.1954, aus der hier zitiertwurde, genannt werden.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 241

mehr für ihn gefreut, als er aus Deutschland tatsächlich die von ihm so erhoffte

Anerkennung bekam”272.

An dieser Stelle halte ich eine Zwischenbemerkung für notwendig: bestimmte

Emigranten, vor allem viele jüngere Professoren, die in Deutschland eher noch

unbedeutend waren und durch ihre besondere Stellung in Istanbul oder Ankara eine

soziale und materielle Aufwertung erlebten, aber auch Belling, kamen in der Türkei,

finanziell gesehen, in eine bessere gesellschaftliche Rangordnung. Im Gegenzug

konnte das Fluchtland Türkei gerade für kreative und künstlerisch begabte

Flüchtlinge wie Belling auch unproduktive Wirkungen zeigen, da das Interesse und

Verständnis für westliche Kunstwerke nur von einer Minorität zu erwarten war; das

Interesse für sie mußte noch erst entstehen und sich verbreiten. Dies ist auch als

Grund anzusehen, daß die Anzahl der deutschsprachigen Flüchtlinge aus dem

kreativ-künstlerischem Bereich in der Türkei sehr gering geblieben ist273.

Belling wurde 1955 offiziell in die Bundesrepublik eingeladen und erhielt den Auftrag,

den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zu porträtieren, dieser verlieh

Rudolf Belling auch das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Im

folgenden Jahr wurde Belling wieder zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin

ernannt und konnte seine erste Ausstellung in Deutschland realisieren, sie fand im

Karl-Ernst-Osthaus-Museum in Hagen statt und brachte frühere Werke von Belling

zusammen (sowohl bei dieser als auch bei späteren Ausstellungen von Belling in

Deutschland blieb das in der Türkei entstandene Werk ausgeklammert). 1958

erreichte Belling der erste öffentliche Auftrag aus der Bundesrepublik; für die Bank

für Gemeinschaft bestellte der Deutsche Gewerkschaftsbund eine Skulptur für den

Platz vor dem Neubau der Bank in Hamburg274. Belling bearbeitete als Motiv ein

Segel, womit er “die Weltoffenheit der Hansestadt”275 ausdrücken wollte. “Die Arbeit

272 Gespräch mit Şeref Sigalı....273 An der Akademie der Schönen Künste lehrten insgesamt zwei emigrierte Künstler. Eine Ausnahme in diesemZusammenhang bildete das Staatliche Konservatorium für Musik, wo insgesamt 21 deutschsprachige Mitarbeiterstilbildende Arbeit leisteten. Neben Belling lehrte an der Istanbuler Akademie der Schönen Künste der österreichischeArchitekt Clemens Holzmeister. Er war vor seiner Emigration in die Türkei, Professor an der Düsseldorfer Akademie derKünste für Architektur. Nach seinen Entwürfen wurden zahlreiche Wohn- und öffentliche Gebäude,in Wien (dasKrematorium, 1924 und das Funkhaus, 1930) gebaut. Nach der Annexion Österreichs kam er nach Istanbul und lehrtesowohl an der Technischen Hochschule als auch an der Akademie der Schönen Künste Architektur, bis er 1954 nachWien zurückkehrte. Neben seiner akademischen Tätigkeit stellte er u.a. die Entwürfe für das Gebäude des TürkischenParlaments und verschiedene Ministerien in Ankara her.274 Belling hatte auch in den Zwanziger Jahren für die Gewerkschaften Werke erschaffen, wie z.B. das Relief-Wappender Buchdrucker (1926) und den “Brunnen der vierzig Gewerkschaften” (1926), beide sind durch die Nationalsozialistenzerstört worden.275 Nerdinger, a.a.O., S. 264. Die 4,20 Meter hohe Skulptur wurde im Herbst 1962 aufgestellt, ein Abbild ist an derangegeben Stelle bei Nerdinger zu sehen.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 242

gab dem alten Meister neuen Auftrieb. Er knüpfte an sein früheres Schaffen der

Dreiklangperiode an und führte auch eine Reihe abstrakter Gestaltungen aus”276. Die

erste und zugleich einzige Einzelausstellung, die Rudolf Belling in seinem 28jährigen

Aufenthalt in der Türkei realisieren konnte, fand in den Monaten April und Mai 1965

in der Architekturfakultät der Technischen Universität in Istanbul statt, ein Jahr, bevor

Belling die Türkei verließ. In diesem Rahmen wurden neben verschiedenen

Entwürfen auch mehrere abstrakte und abstrakt-symbolische Arbeiten ausgestellt,

die Belling in diesen Jahren, vor allem nach 1955 im privaten Rahmen, ausgearbeitet

hatte. Die Ausstellung fand in der kunstinteressierten Istanbuler Öffentlichkeit großes

Interesse und erntete positive Kritiken, „alle fragten sich, warum es nicht früher eine

Ausstellung von ihm gab, jetzt war es aber zu spät, diese Ausstellung läutete

eigentlich seinen endgültigen Abschied aus der Türkei ein“277. 1966 ließ sich der

damals 80jährige Professor für architektonische Raumprobleme emeritieren und

kehrte ein Jahr später nach Deutschland zurück, wo er ein Haus und Atelier in

Krailling bei München bezog. “Immer, wo ich lebe, gefällt es mir. In Istanbul hatte ich

keine Sehnsucht nach Deutschland und jetzt in München denke ich kaum noch an

die Türkei” sagte Belling kurz nach seiner Rückkehr278. In 1967 veranstaltete die

Galerie Ketterer in München eine umfassende Retrospektiv-Ausstellung über Belling,

zu seinem 85. Geburtstag organisierte die Berliner Nationalgalerie eine sogenannte

Sonderschau seiner Skulpturen aus den Zwanziger Jahren. Die Aufstellung seines

sechs Meter hohen Friedensdenkmals für die Olympischen Spiele von München, an

dem er seit 1967 arbeitete und das er 1971 vollendete, erlebte er nicht mehr279.

Rudolf Belling verstarb am 9.6.1972.

4.5 Eine Frage als Nachtrag

Rudolf Belling hat in seiner Emigrationszeit zwei Generationen von türkischen

Bildhauern ausgebildet und sie auch künstlerisch beeinflußt, die meisten seiner

Schüler wurden in den 50er und 60er Jahren zu führenden Bildhauern der Türkei. Er 276 J.A.Schmoll gen. Eisenwerth, “Rudolf Belling, ein Pionier der abstrakten Plastik”, Neue Zürcher Zeitung, 7.2.1977.277 Gespräch mit Şeref Sigalı...278 Waldemar Grzimek, a.a.O.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 243

hat der modernen türkischen Plastik im technisch-räumlichen Bereich entscheidende

Impulse gegeben. Mehrere seiner Werke fanden als Idee und Entwurf Interesse,

wurden aber in den meisten Fällen nicht realisiert oder nach ihrer Realisierung nicht

aufgestellt. Auf der anderen Seite beschäftigten sich wiederum die meisten seiner

Schüler in ihren künstlerischen Laufbahnen in erster Linie mit sogenannten

detailgetreuen, neoklassizistischen Atatürk-Denkmälern und wurden in den meisten

Fällen zu Staatskünstlern280, die keineswegs einen freien Ausdruck in ihrer Kunst

suchten.

Warum Rudolf Belling seinen Schülern über die technisch-pädagogischen Werte

seiner Kunst hinaus, die Freiheit der Kunst im Denken und das Ausführen der Kunst

in Freiheit nicht genug weiter vermitteln konnte, bleibt eine Frage und eine Realität

zugleich, die es in diesem Zusammenhang festzuhalten gilt.

279 Um das Motiv mit dem Namen „Blütenmotiv als Friedenssymbol“ scheint es in München zu kleinbürgerlichenQuerelen gekommen zu sein. Die sich aufschließende, metallisch-kraftvolle Großknospe wurde vonStadtverantwortlichen als zu abstrakt kritisiert. Am Ende wurde die als Krönung des Schuttbergs konzipierte Plastik einbißchen versteckt aufgestellt, mit der Absicht, nur einen halben Schildbürgerstreich zu liefern.(Vgl. dazu die Diskussionin : Süddeutsche Zeitung, 09.12.1971.)2801970 trugen von insgesamt 55 sogenannten Atatürk-Denkmälern an den Zentralplätzen der türkischen Großstädte32 die Unterschriften von Belling´s Schülern.

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Rudolf Belling - Dreidimensionalität vs. Konjukturkunst 244

Solange Freiheit auf Gewalt gegründet ist, die Ausübung von Kunst auf Privilegien,

werden die Kunstwerke die Tendenz haben, Gefängnisse zu sein, die Meisterwerke,

Komplizen der Macht. Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der Liquidation

ihrer Autonomie, Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der Enteignung,

zuletzt am Verschwinden. Das Bleibende ist das Flüchtige. Was auf der Flucht ist,

bleibt. Rimbaud und sein Ausbruch nach Afrika, aus der Literatur in die Wüste.

Lautrémont, die anonyme Katastrophe. Kafka, der fürs Feuer schrieb, weil er seine

Seele nicht behalten wollte wie Marlowes Faust: die Asche wurde ihm verweigert.

Joyce, eine Stimme jenseits der Literatur. Majakowski und sein Sturzflug aus den

Himmeln der Dichtung in die Arena der Klassenkämpfe, sein Poem 150 Millionen

trägt den Namen des Autors: 150 Millionen. Der Selbstmord war seine Antwort auf

das Ausbleiben der Signatur. Artaud, die Sprache der Qual unter der Sonne der

Folter, der einzigen, die alle Kontinente dieses Planeten gleichzeitig bescheint.

Brecht, der das Neue Tier gesehen hat, das den Menschen ablösen wird. Beckett,

ein lebenslanger Versuch, die eigene Stimme zum Schweigen zu bringen. Zwei

Figuren der Dichtung, in der Stunde der Weißglut verschmelzend zu einer Figur:

Orpheus, der unter den Pflügen singt, Dädalos im Flug durch die labyrinthischen

Därme des Minotauros.

Heiner Müller

Berlin, Doretheenfriedhof

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

245

5 Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

5.1 Einführung

„Oral History macht Geschichte nachvollziehbarer, nachlebbarer, indem sie bewußt

darauf zielt, die Verarbeitung objektiver Sachverhalte im Bewußtsein der Einzelnen

herauszuschälen”281. Ich halte die Methode der erzählten Geschichte gerade im

Zusammenhang mit dem gewöhnlichen Exil, der Flucht und Vertreibung der kleinen

Leute, die sich nicht künstlerisch oder wissenschaftlich hervorgetan hatten, nicht

besonders reich oder angesehen waren, die einfach normale Menschen waren, für

besonders wichtig.

Die nächsten Seiten enthalten keine grundsätzliche wissenschaftliche Darstellung

inzwischen historisch gewordener Ereignisse. Ich will, stellvertretend, etwas von den

vielen namenlosen Schicksalen vermitteln, von Verlusten, Bereicherungen und von

ihrer Tragweite. Es geht hier nicht darum, die Wichtigkeit der Wahrheit eines

Schicksals im historischen Kontext zu betrachten oder zu beurteilen. Es geht mir

darum, der persönlichen Geschichte in einer Ordnung der Wahrscheinlichkeiten den

sogenannten gebührenden Platz einzuweisen. Individuell erlebte Wirklichkeit ist

greifbarer und verbindlicher, sie besitzt zudem vielleicht höheren Wahrheitsgehalt,

schon darum, weil sie nicht ohne Widersprüche auskommt. Gerade bei sogenannten

gewöhnlichen Menschen, also keine berühmten Persönlichkeiten dieses Planeten,

sagen ein paar Seiten Lebensabrisse viel mehr als Ziffern einer Statistik oder

trockene Fakten.

Das folgende Gespräch mit Cornelius Bischoff ist im Frühjahr 1996 in Hamburg-

Seevetal entstanden. Bischoff lebte zwischen 1939 und 1948, als Sohn einer aus

Hamburg - Harburg in die Türkei geflüchteten Familie in Istanbul. Familie Bischoff

hatte das Glück, in der Türkei Zuflucht finden zu können, weil die Mutter von

Cornelius Bischoff türkisch-jüdische Vorfahren hatte. Dadurch gehörten sie zu einer

281 Arie Nabrings, Die Oral-Phase der Geschichtswissenschaft, in: Mündliche Geschichte, Archivhefte 22, Köln 1991, S.31.

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

246

winzigen Minderheit im Exil der kleinen Leute282, die die Wirren des Krieges in der

Türkei überleben konnten. Das Schicksal und Leben von Cornelius Bischoff kann nur

in seinen eigenen Zügen verallgemeinert werden. Der Lebensweg von ihm ist jedoch

bis heute von der Erfahrung der Flucht und Zuflucht gekennzeichnet.

5.2 Ein Gespräch

Herr Cornelius Bischoff, Sie haben vor einem Jahr, als wir uns in Berlin zum ersten

Mal getroffen haben, gesagt, “Mein Vater hatte immer einen aufrechten Gang”. Er

verließ Deutschland erst 1939 und flüchtete in die Türkei, d.h. er hat sechs Jahre

lang, mit seiner Frau und den beiden Kindern, mit Ihnen und Ihrer Schwester, im

Dritten Reich gelebt und sich trotzdem seinen aufrechten Gang bewahren können.

Woran machte sich, nach Ihrer Meinung, sein aufrechter Gang bemerkbar?

Er war ein geradliniger Mann, er hat nie große Worte um seine Haltung gemacht, das

war für ihn nur selbstverständlich. Sei es, daß er an diesen bombastischen

nationalen Feiertagen, trotz des Blockwarts, keine Hakenkreuzfahne zum Fenster

hinaushängte, sei es, daß er nie seinen Arm zum Hitlergruß streckte, sei es, daß er

einem jüdischen Freund auf der Flucht vor den Nazis nach Holland, mehrere Nächte

Unterschlupf gewährte Und nicht zu vergessen, daß er sich nicht von seiner

jüdischen Frau, meiner Mutter, getrennt hat, sondern in erster Linie ihretwegen ins

Exil ging. Dies waren seine Methoden und Möglichkeiten. Er war einer jener

namenlosen Aufrechten, die ihren politischen Glauben nicht abgeschworen haben.

Er blieb auch zu jener Zeit der “Sozi” aus der Weimarer Republik. Was er in der

Nazizeit in seinen Maßen im Reich riskierte, wurde mir erst im nachhinein bewußt.

Warum kam er gerade 1939 darauf, Deutschland zu verlassen und nicht früher?

Er kam auf diese zwingende Idee, weil es ja immer schlimmer wurde. Es ging ja

eigentlich darum, daß er und seine ältere Schwester Schwierigkeiten bekamen.

Meine Tante Berta Krüger war bis 1933 politisch tätig gewesen, als Abgeordnete der

SPD im Preußischen Landtag und wurde mehrmals verhaftet; mein Vater selbst war

in linken gewerkschaftlichen Kreisen eingebunden. Auf solche Leute wurde der 282 Ich stütze mich bei dem Begriff “Exil der kleinen Leute” auf Wolfgang Benz, der als Herausgeber in einemgleichnamigen Buch die Problematik und Alltagserfahrungen deutscher Juden, die nicht berühmt oder reich oder beides

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

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Druck im Laufe der 30er Jahre immer größer, der Kreis um sie wurde immer enger

geschnürt. Noch dazu kam meine jüdische Großmutter. Da hatte mein Vater auch

Bedenken, er wußte ja schon von Konzentrationslagern, weil viele Freunde von ihm,

vor allen die Kommunisten, schon verhaftet und in die Konzentrationslager gebracht

waren. Diejenigen, die dann frei kamen, die erzählten natürlich weiter, was sie dort

erlebt und gesehen hatten. Jemand, der wie er politisch dachte, wußte auch, daß der

Krieg kurz bevorstand. Da hat er gesagt: jetzt mußt Du es versuchen, hier

wegzukommen.

Als Ihr Vater beschlossen hat, Deutschland zu verlassen, waren Sie elf Jahre alt. Hat

Ihr Vater mit Ihnen damals über die politischen Dinge und Entwicklungen

gesprochen?

Nein, und es ist aus der heutigen Sicht sehr bemerkenswert. Er hat mit mir nicht über

die Politik gesprochen, weil er Angst hatte, daß ich in der Schule etwas verlauten

lasse. Ich habe hinterher, als ich viel älter war, mit ihm darüber gesprochen. Er stellte

damals fest, daß sich sein Sohn zu einem Nazi entwickelte! Also ich. Ich war

tatsächlich als Bursche fasziniert von alledem - welches Kind war es nicht? Unser

Lehrer kam immer in Uniform, mit glänzenden Stiefeln, dann gab es immer

Marschmusik und Fahnen, die Stukas machten hier in der Heide ihre

Bomberübungen, und das fanden wir alles unheimlich spannend. Und dann Hitler als

der große Mann, so wurden wir in der Schule gedrillt. Ich versuchte die ganze Zeit, in

die HJ zu kommen, das muß man sich mal vorstellen. Mit acht, neun Jahren hatten

wir natürlich gar keine Vorstellung, was eigentlich politisch dahinter steckte. Erst in

Istanbul hat mein Vater mich dann politisch aufgeklärt, er meinte „Wenn Du Juden

umbringen willst, mußt Du bei Deiner heißgeliebten Oma anfangen!“ - das war ein

großer Schock für mich.

Ihre Mutter hat eine, wie wir heute zu sagen pflegen, multikulturelle Biographie.

Ja, absolut. Die Vorfahren meiner Mutter sind vor 500 Jahren im Osmanischen Reich

ins Asyl gegangen, weil wieder eine Verfolgung stattfand, damals in Spanien von der

katholischen Inquisition. Die Katholiken haben die Juden aus Spanien verjagt, was waren, thematisiert hat. Vgl.: Wolfgang Benz, a.a.O.

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

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sie gerne vergessen. Mein Vater flüchtete 1939 dann in das Land, in das die

Vorfahren seiner Frau auch einmal geflüchtet waren. Meine Oma hatte dann zuerst

einen türkischen Mann und gebar meine Mutter in Istanbul, dann hatte sie einen

französischen Mann und lebte in den Dreißiger Jahren in Paris. Sie wurde dort nach

der Besetzung von Deutschen verhaftet und in ein Sammellager gebracht, erst durch

die Intervention ihres französischen Mannes wurde sie wieder freigelassen. Die

Verwandten meiner Mutter waren alle sehr politische Leute, sie waren areligiös, vom

Judentum war bei ihnen nie die Rede. Meine Mutter war auch nicht auf einer

jüdischen Schule, sondern ging in Istanbul zum österreichischen St. Georg-

Gymnasium. Mein Vater traf dann meine Mutter in Istanbul, hat sie kennengelernt

und Mitte der 20er Jahre haben sie im Deutschen Generalkonsulat geheiratet.

Was hat denn Ihr Vater Mitte der Zwanziger Jahre in der Türkei, in Istanbul gemacht?

Er war als fremder Hamburger Zimmermann dort. Die Zunft der Zimmerleute

verlangt, nach einem mittelalterlichen Brauch, daß der Zimmermann nach

bestandener Gesellenprüfung drei Jahre und ein Tag auf Wanderschaft gehen muß;

mit diesen schwarzen Anzügen, mit den weiten Hosen, einem Ohrring, einem Bündel

und dem Stock ist auch mein Vater bis nach Ankara gekommen, ein Freund von ihm

hat es bis nach Teheran geschafft. Mein Vater hat während dieser Wanderschaft in

Istanbul meine Mutter kennengelernt. Nach der Heirat kamen sie 1927 nach

Hamburg zurück. Meine Mutter nahm hier die deutsche Staatsangehörigkeit an.

Herr Bischoff, konnte Ihr Vater eigentlich 1939 ohne Probleme das Reichsgebiet

verlassen oder mußte er wortwörtlich flüchten?

Man muß sagen, daß er “ganz offiziell flüchtete”. Er hat folgendes gemacht:

geschickt wie er war, hat er gesagt, daß er in der Türkei eine Erbschaft seiner Frau

erledigen muß. So hat er die Deutschen geködert. Er hat auch sofort die

notwendigen Papiere bekommen, weil die Behörden dachten, er würde Devisen aus

der Türkei mitbringen. Das türkische Geld war zu der Zeit hoch im Kurs und

Deutschland brauchte viel Geld. Noch dazu waren wir ja hier, sozusagen als Pfand.

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

249

Wie gestaltete sich denn die Ausreise von Ihnen, also mit ihrer Mutter und der

Schwester?

Meine Eltern hatten alles besprochen. Mein Vater sollte ganz offiziell in die Türkei

fahren und meine Mutter mit uns Kindern zuerst nach Frankreich zur Oma gehen und

von dort in die Türkei weiterfahren. Wenn es funktioniert, dann toll, haben die

gedacht, wenn nicht, wäre mein Vater wieder zurückgekommen. Meine Mutter hatte

nämlich noch einen gültigen Paß, weil wir kurz vorher meine Oma besucht hatten.

Das Visum war schon abgelaufen, aber den Paß hat sie noch gehabt.

Dann war es ja eigentlich eine riskante Angelegenheit, sie wollte ohne

Ausreisegenehmigung das Land verlassen.

Ganz und gar. Ich habe die Erinnerung daran noch vor den Augen, als habe sich die

ganze Sache vor kurzer Zeit abgespielt: An einem naßkalten Abend stiegen wir in

Hamburg in den Eilzug nach Paris. Nur einige Freunde und ein paar Verwandte

hatten uns zum Zug begleitet. Wir hatten nur einen leichten Koffer dabei, so daß es

wirklich so aussah, als besuchten wir über das Wochenende die Oma in Paris. Wir

fuhren dann ab, während der Fahrt zur französischen Grenze muß ich geschlafen

haben. Später weckte mich meine Mutter, der Zug stand in einem Bahnhof und es

waren im Gang laute Stimmen zu hören. Kurz darauf wurde die Tür aufgeschoben,

ein grauhaariger Mann im dunklen Dienstanzug kam ins Abteil und bat meine Mutter

um den Reisepaß, den sie schon bereit hielt. Meine jüngere Schwester schlief neben

mir. Der Reichsbahner blätterte bedächtig die Seiten durch, blätterte zurück, weil er,

wie ich später verstand, den Visastempel nicht fand. Hinter dem Kontrollbeamten

standen zwei Männer im Gang, sie trugen Wettermäntel und schauten die ganze Zeit

mit böser Mine, zumindest kam es mir so vor. Der Grauhaarige runzelte auch die

Stirn, er senkte den Kopf und schlug wieder einige Seiten um, während er

nachdenklich über den Rand des Passes hinwegschaute und dann, ganz plötzlich,

nickte er über seine Schulter hinweg und sagte “In Ordnung!”. Die beiden im Gang

zogen dann weiter. Auch dieser Reichsbahner gehört zu den vielen Menschen, die

mich versöhnlich stimmen, wenn ich heute an die Nazizeit zurückdenke.

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Haben Sie eigentlich vor der Fahrt gewußt, daß es für Sie kein Zurück mehr gab und

die Fahrt in der Türkei enden sollte?

Das wußte und durfte ich nicht wissen. In Paris habe ich erfahren, daß wir nun

meinen Vater in Istanbul besuchen würden. Aber nur besuchen, hat meine Mutter

gesagt, ich habe mich sehr gefreut und habe die Weiterreise als Abenteuer gesehen.

Was bedeutete die Türkei für Sie; hatten Ihre Eltern Ihnen früher über das Land und

die Menschen schon einiges erzählt?

Von meinem Vater, von seinen Reisen wußte ich viel. Dann hatte ich natürlich Karl

May gelesen. Aber nicht mehr. Ich war natürlich sehr neugierig, auch auf die

Verwandten meiner Mutter.

Noch einmal zurück zu Ihrer Flucht: Sie haben zwei Monate in Paris verbracht, bei

der Großmutter und haben dann im Mai 1939 sich in Marseille einschiffen lassen.

Wir haben in Paris mit Hilfe einer Flüchtlingsorganisation Fahrkarten für das Schiff in

die Türkei besorgt. Der Dampfer, mit dem wir fuhren, hieß Theophil Gautier, ein

französischer Passagierdampfer, der im Laufe des Zweiten Weltkrieges von den

Engländern als Truppentransporter eingesetzt und von deutschen U-Booten versenkt

wurde. Die Fahrt war für mich ganz spannend, es waren ganz viele Legionäre unter

Deck, die nach Afrika unterwegs waren. Ich habe dort auch deutsche Legionäre

kennengelernt, die später bestimmt gegen Rommel gekämpft haben müssen.

Wie war ihr erster Eindruck von Istanbul?

Der erste Eindruck war einfach phantastisch, diese Einfahrt mit dem Schiff ist ein

Erlebnis, das ich bis heute nicht vergessen habe. Das Wasser war glasklar, die Stadt

wirkte so grün. Am Hafen wurden wir dann von meinem Vater und den Verwandten

meiner Mutter, die in Istanbul lebten, empfangen. Mein Vater sagte, wir wären jetzt in

der schönsten Stadt der Welt. Er hatte eine Wohnung in Istinye, direkt am Wasser,

gefunden. Ich war ja ein begeisterter Schwimmer gewesen, also bin ich sofort ins

Wasser und erst am Abend wieder nach Hause gegangen. Wie soll da mein erster

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Eindruck gewesen sein, für mich, für den Arbeiterjungen aus Hamburg-Harburg; es

war wunderschön.

Istinye ist ja heute völlig verbaut. Man sieht dort nur noch hochgeschossige Häuser.

Auch Tarabya, wo Sie nach kurzer Zeit hingezogen sind, ist heute ein völlig

verbautes Stadtviertel, damals aber war es noch ein Fischerdorf, wo auch viele

Minoritäten lebten; sind Sie mit dieser Umgebung, mit den Menschen dort sofort

klargekommen, haben Sie Freunde gefunden?

Mein Vater hatte, bevor wir ankamen, eine Arbeit als Bauführer bei einer

schweizerisch-englischen Baufirma gefunden. Der Sitz der Firma war auf der

asiatischen Seite, in Beykoz, mein Vater fuhr morgens mit dem Schiff hin und baute

da Öltanks. Deshalb wohnten wir in der Nähe seiner Arbeit, bald nach unserer

Ankunft sind wir noch näher umgezogen, nach Tarabya. Tarabya war tatsächlich ein

ruhiges Fischerdorf mit ganz vielen griechischen Fischern. Als wir uns dort

einmieteten, standen schon die Nachbarskinder vor der Haustür und wollten mit mir

spielen. Über den ganzen Sommer tobte ich mit den Kindern des Viertels, das waren

Türken, Griechen und auch Deutsche, über sonnige Hügel und Melonenfelder,

spielte unter Feigenbäumen und schwamm im Bosporus, wo zu der Zeit noch

scharenweise Delphine sprangen. Da bin ich mit Heinz Fischer, meinem ersten

Freund, sein Vater war der Besitzer der Kneipe “Fischer”, morgens um vier Uhr

losgezogen und wir haben die Fischer beobachtet; die haben in der Bucht Netze

ausgeworfen, hinterher haben sie auf Kohle Fische gebraten und wir haben mit ihnen

gefrühstückt. Übrigens die Botschaften waren meistens auch in der Umgebung,

zumindest die deutschen und die französischen Sommerresidenzen waren fast

unsere Nachbarn. Im ersten Sommer habe ich praktisch auf der Straße spielend

Türkisch gelernt. Im Herbst mußte ich dann zur Schule und zwar zur Sankt Georg -

Schule, die war ja ursprünglich eine österreichische gewesen, aber inzwischen war

Österreich Ostmark und die Schule auch eingedeutscht. Die türkischen Lehrer haben

mich geprüft und gesagt, ich bräuchte für Türkisch keine Vorbereitungsklasse mehr

zu machen und ich wurde in die vierte Klasse der Grundschule aufgenommen. Der

Unterricht war je nach Fach in Deutsch oder Türkisch. In meiner Klasse waren neben

türkischen und deutschen Schülern, griechische, armenische, jüdische, polnische

und ungarische Kinder; die Kinder der verschiedenen Nationalitäten verständigten

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sich in der Landessprache Türkisch oder in der Schule Deutsch. Meine türkischen

Mitschüler haben auch dann die erste Zeit sprachlich an mir gearbeitet, die haben

teilweise in ihrer Freizeit mit mir gelernt und mir die feinen Nuancen der Sprache

beigebracht. Ich hatte in der Grundschule auch zwei sehr enge deutsche Freunde in

meiner Clique, sie waren auch Emigrantenkinder und hießen Heinrich und Marcel.

Ansonsten war ich überwiegend mit türkischen Jungs zusammen; das war aber

reiner Zufall, mit denen kam ich am besten klar. Nachher im Gymnasium hatte ich

sowieso fast nur noch türkische Freunde.

Aber wenn Sie sagen, daß die Schule schon eingedeutscht war, mußten dann nicht

auch die Lehrer und auch eventuell die Pater dementsprechend ausgerichtet worden

sein; wie lief der Unterricht ab, gab es Versuche, Sie und überhaupt die Schüler

politisch zu beeinflussen, zu infiltrieren, wie es so schön heißt?

Natürlich, es gab ganz viele Nazilehrer an der Schule. Ich kann mich ganz genau an

einen Hildebrandt erinnern, der war unser Mathematiklehrer und ein sogenannter

Laienbruder, er lebte im Zölibat, der war aber ein ausgesprochener Nazi. Er hat zu

meinem Freund Ruben, der war auch Jude gesagt, der soll zur Judenschule gehen

und nicht zu St.Georg, diese Schule sei nicht für Minderwertige. Aber es gab auch

die anderen, Pater Pruczsinsky oder Pater Kaiser, sie haben immer gegen Hitler

gesprochen. Pruczsinsky nannte die Nazis “Hakenkreuzotter”, wenn wiederum der

rommelverehrende Pater Esser nicht in der Nähe war; Pater Kaiser war mutiger und

hat sogar einmal in der Predigt, als der deutsche Botschafter von Papen da war,

auch kein Blatt vor den Mund genommen. Ich wurde von diesen ganzen Wirren nicht

allzu sehr beeinflußt, und das danke ich meinen türkischen Freunden. Gott sei Dank,

denn irgendwann stellt sich auch ein Halbwüchsiger die Frage, ob er denn wegen

seiner jüdischen Großmutter ein Ausgestoßener sei, besonders dann, wenn er sich

die Wochenschauen mit der widerlichen Goebbelsschen Hetze anschaute oder im

“Signal” herumblätterte. Doch meine türkischen Mitschüler stabilisierten meine

Identitätskrise.

Warum haben Ihre Eltern Sie nicht zu einer anderen Schule geschickt, Herr Bischoff?

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Ich nehme an, daß ich im Hinblick auf eine spätere Rückkehr nach Deutschland

meine Deutschkenntnisse erhalten sollte. Die Alternative wäre die Deutsche Schule

gewesen, da waren aber viel mehr Kinder von Nazis; das wollte mein Vater

wiederum nicht, St. Georg war eine Art von Kompromiß. Die Reichsdeutschen

schickten alle ihre Kinder zur Deutschen Schule.

Wie gestaltete sich das Leben Ihrer Eltern?

Der Freundeskreis von meinen Eltern bestand aus Türken und anti-

nationalsozialistischen Deutschen. Ein guter Freund der Familie war der türkische

Maler Ibrahim Çallı, er wurde dann Vater der modernen türkischen Malerei, ich habe

sogar noch ein kostbares Bild von ihm da. Meine Eltern kannten auch noch viele

Deutsche, aber sie mußten politisch meinem Vater passen. Ich kann mich an einen

Freund von meinem Vater erinnern, der war eigentlich gebürtiger Ungar, die

politischen Wirren in Europa hatten ihn und seine Familie auch nach Istanbul

verschlagen, er sprach mit meinem Vater immer über die Politik. Er spielte aber auch

Mandoline wie mein Vater und hin und wieder brachte er sein Instrument mit, ich

konnte Gitarre spielen und so machten wir zu dritt Hausmusik. Dann gab es natürlich

den Familienkreis meiner Mutter. Der Bruder und die Tante, die waren sehr oft da.

Sie waren alle mehrsprachig, man sprach türkisch, spanolisch, manchmal deutsch.

Es gab aber die anderen Emigranten. Wenn Sie erlauben, möchte ich sie als die

“berühmten” Emigranten bezeichnen. Wie waren die Beziehungen zwischen diesen

und anderen emigrierten Deutschen? Fand eine Kommunikation statt oder blieb jeder

letztlich in seiner eigenen Umgebung?

Ich kann da nur aus meiner eigenen, jugendlichen Wahrnehmung berichten; wir

haben zum Beispiel die Familie Holzmeister kennengelernt. Clemens Holzmeister

war 1938 nach Istanbul gekommen und war Professor für Architektur. Er wohnte mit

Frau und Tochter auch in Tarabya, wir haben sie am Strandbad kennengelernt. Ich

habe mich besonders gut mit Holzmeister verstanden, trotz des großen

Altersunterschieds war er zu mir wie ein väterlicher Freund. Ich habe sehr oft in

ihrem Haus verkehrt, die haben mich später nach Ankara eingeladen. Und durch sie

habe ich dort wiederum Carl Ebert und seine Familie kennengelernt. Ich war sehr

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

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eng mit den Töchtern von Ebert befreundet, Renate und Christa hießen sie. Die

ganzen Deutschen aus Ankara kamen ja im Sommer nach Istanbul und verbrachten

die Ferien dort. Die Eberts blieben immer auf der Heybeli-Insel vor Istanbul. Ich bin

dann mit Heinz Fischer von Tarabya nach Heybeli gefahren, um die Eberts, nein,

eigentlich die Mädchen zu besuchen. Dann habe ich nach dem Krieg Professor

Schwarz kennengelernt, bei dem ich Römisches Recht hörte. Meine Eltern hatten

sonst eher keinen Kontakt zu den emigrierten Wissenschaftlern. Es wäre nicht richtig,

wenn ich sagen würde, daß da eine Kommunikation stattfand. Man blieb unter seines

gleichen und dies galt für beide Seiten. Man muß eigentlich sagen, wie in

Deutschland. Die Professoren hatten ihre Verabredungen, wo sie über

wissenschaftliche Themen sprachen. Sie hatten auch vorwiegend nur andere

deutsche Professoren in ihren Freundeskreisen. Wir wollten ja viel mehr mit Türken

zusammen sein.

Sie haben vorhin gesagt, daß Ihr Vater sofort nach seiner Ankunft eine Stelle finden

konnte. Es gab aber sehr viele Menschen, gerade wenn sie nicht einen berühmten

Namen oder wissenschaftliche Titel nachweisen konnten, die gar nicht in das Land

hineingelassen wurden, und wenn, dann ohne Arbeit und Mittel da standen. Hat Ihr

Vater vielleicht mehr Glück gehabt, gerade durch die verwandtschaftlichen

Beziehungen?

Ich weiß nicht, ob man das als Glück bezeichnen kann, aber auf jedem Fall hat es

meinem Vater geholfen, daß er eine türkische Seite hatte. Aber er durfte trotzdem

keine Arbeit ausführen, mit der er einem Einheimischen Arbeit wegnahm. Als

gelernter Zimmermann durfte er keinen Hammer in die Hand nehmen; er durfte

schweißen, aber nicht zimmern. Es gab an seiner Arbeitsstelle einen Wächter, der

genau aufgepaßt hat, was er so alles machte. Es stimmt natürlich, daß viele keine

Arbeit bekamen und auf die Unterstützung von Freunden oder der jüdischen

Gemeinde angewiesen waren.

Es gab einige Treffpunkte der Deutschen in Istanbul, haben sich Ihre Eltern auch an

solchen Orten aufgehalten?

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

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Mein Vater hatte mit seinen deutschen Freunden einige Gastwirtschaften, wo sie sich

regelmäßig getroffen haben, und zwar vor allem bei Fischer. Bei Fischer gab es

richtiges Faßbier, deshalb bestand dort für sie auch die Gefahr, auf die

Nazideutschen zu treffen. Soweit ich weiß, haben sie sich dann gegenseitig

vertragen. Es kamen aber auch Engländer aus ihren Schiffen dorthin, da waren

praktisch rechte Deutsche, linke Deutsche, englische Matrosen und wer da gerade

trank - alles unter einem Dach. Und der alte Fischer, so hat mein Vater erzählt, sagte

immer, “Hier ist politische Unterhaltung untersagt, hier gibt es keine Feinde, draußen

könnt ihr auf euch schießen, aber nicht in meinem Lokal”, und man hat sich daran

gehalten. In die „Teutonia“ ist mein Vater nie gegangen, da waren die Nationalen und

Konservative, auch manche Professoren, da ging mein Vater nie hin, obwohl er

einige Male auch eingeladen wurde

Wie waren denn seine Erfahrungen mit den offiziellen Vertretern des Reiches ? Gab

es da Berührungspunkte oder konnte er jeglichem Kontakt aus dem Weg gehen.

Schlicht gesagt hatte er gar keinen Kontakt, natürlich so weit ich weiß. Es gab eine

einzige Konfrontation und zwar, das muß 1942 gewesen sein. Die Deutschen

standen schon in Griechenland und zu der Zeit bekam mein Vater eine schriftliche

Einladung ins Generalkonsulat. Da ging er hin und erfuhr, daß die Deutschen ihn

einziehen wollten. Er sollte nach Deutschland zurück und in der Wehrmacht dienen.

Er war wohl überrascht und verärgert zugleich und fragte den jungen Beamten, ob er

nicht von seinen Akten und seiner jüdischen Frau wußte. Der Beamte erwiderte zu

ihm “Das ist überhaupt kein Problem, Sie lassen sich auf der Stelle von Ihrer Frau

scheiden und fahren mit den Kindern nach Deutschland”. Mein Vater sagte “Von

wegen. Für Sie und ihres Gleichen zu kämpfen, wäre das Letzte, was ich tun würde”.

Da drohte der Beamte “Wir stehen in Griechenland, praktisch vor der Tür, Herr

Bischoff, Sie können nie wissen, was morgen passiert”. Mein Vater sagte ihm

daraufhin “Die Deutschen sollten erstemal versuchen, in die Türkei

einzumarschieren, die würden dann was erleben”. Dann hat der Beamte ihm gesagt,

daß er als Wehrdienstverweigerer anzusehen sei und deshalb sein Paß entzogen

würde. Das hat ihn aber auch nicht gestört, er sagte zu dem Beamten “Ihr Nachfolger

wird mir diesen Paß mit einer Entschuldigung wiedergeben”, womit er auch später

Recht bekam. Nach 1945, als der erste deutsche Generalkonsul wieder in der Türkei

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Cornelius BischoffVersöhnung und ein (vorläufiges) Happy End

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war, bekam mein Vater auch wieder eine Einladung zum Konsulat. Der Konsul, ich

glaube der Mann hieß Haas oder ähnlich, überreichte dann meinem Vater mit tiefem

Bedauern seinen Paß. Wie auch immer, mein Vater ging nach dieser Geschichte,

also 1942, zuerst zu der türkischen Polizei, erzählte von seiner Situation; die Polizei

gab ihm, ohne Schwierigkeiten zu machen, eine Aufenthaltsberechtigung, die er

dann jährlich verlängern mußte. Übrigens: Die Deutschen haben sich tatsächlich

nicht getraut, in die Türkei einzumarschieren. Die Türkei hatte damals schon, bei der

Bevölkerungsdichte, eine Million Soldaten unter Waffen, das muß man sich

vorstellen, da war fast jeder zehnte Mann Soldat, das Land hatte ein unwegsames

Gelände, die Türkei wäre für die Deutschen nicht so ein Spaziergang wie

Griechenland gewesen. Noch dazu kam, daß das Deutsche Reich bis zum Schluß

versuchte, die Türkei auch als militärischen Verbündeten zu gewinnen. Mein Vater

sagte immer: “Wenn die Deutschen kommen, dann verstecken wir uns irgendwo in

Anatolien, wohin sie mit ihren Panzern nicht vordringen können”.

Herr Bischoff, die Lage sah ja teilweise so aus, daß die Türkei tatsächlich an der

Seite von Deutschland in den Krieg ziehen würde. Wie wurde die Stimmung dadurch

beeinflußt? Ich denke schon, daß diese Gefahr, vor allem die zwiespältige

außenpolitische Haltung der Türkei, Sie oder Ihren Eltern ernsthaft beschäftigt haben

muß. Hatten Sie gar keine Bedenken, daß die Türkei, sozusagen, umkippen könnte

und die Emigrierten fallen lassen würde.

Wissen Sie, das hat uns erst gestört, als Deutschland Rußland überfiel und erste und

schnelle Siege verbuchen konnte. In der türkischen Öffentlichkeit brach ein Jubel

aus, weil Rußland immer der Erzfeind war. Da kamen die ganzen Leute, klopften

meinem Vater die Schulter und sagten “Das haben die Deutschen toll gemacht”. Sie

hatten dann überhaupt kein Verständnis, als mein Vater sich nicht mitfreute und den

Leuten klar machen wollte, daß Hitler viel schlimmer ist als die Russen. Da haben sie

ihm gesagt, er wäre eben kein echter Deutscher. Aber, jetzt im Ernst, es gab gerade

zu der Zeit viele Türken, die für Deutschland und Hitler waren, aber die gleichen

Leute waren nicht gegen uns, das muß auch gesagt werden. Deshalb hatten wir

eigentlich nie Angst. Aber viele Leute sind um die Zeit, also so um 1941, aus der

Türkei weggegangen. Noch weiter weg, dorthin wo die Deutschen sie nicht hätten

bekommen können.

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Es gab dann eine einjährige Zäsur ihrer Istanbuler Zeit; nachdem die Türkei dem

alliierten Druck nachgab und im Herbst 1944 mit Deutschland die diplomatischen

Beziehungen abbrach, änderte sich die Lage der Deutschen in der Türkei im

negativen Sinne. Wer keinen staatlichen Arbeitsvertrag nachweisen konnte, wie die

meisten emigrierten Wissenschaftler, der wurde aufgefordert, das Land zu verlassen

oder sich internieren zu lassen. Sie waren auch von dieser Maßnahme betroffen.

Das ging für uns blitzschnell. Wir saßen im trauten Familienkreis beim sonntäglichen

Frühstück, als zwei Herren in der wie üblich weit offen- stehenden Tür auftauchten.

Sie gaben sich als Beamte in Zivil zu erkennen und entschuldigten sich für die

Störung. Sie meinten, daß wegen der außenpolitischen Veränderung wir jetzt

entweder die Türkei verlassen oder in Anatolien interniert werden müßten. Ich weiß

noch, sie haben sich auch dafür entschuldigt, daß die Türkei und Deutschland jetzt

nicht mehr befreundet sind und meinten, sie könnten nichts dafür. Mein Vater hat sie

eingeladen, sich an den Tisch zu setzen, dann haben wir gemeinsam Mocca

getrunken. Irgendwann fragte mein Vater, wann denn die Internierung anfangen

würde, da haben die beiden betreten lächelnd geantwortet “Gleich nach dem

Frühstück”. Während sie ihren Mocca genüßlich schlürften, mußten wir wieder einmal

unsere Koffer einpacken. Dann sind wir mit den Polizisten nach Haydarpaşa zum

Bahnhof gefahren. Für uns waren Sitze im Zug in der 1. Klasse reserviert. Wir fuhren

ungefähr einen Tag mit dem Zug, in der Nähe von Çorum war dann Endstation.

Çorum hat ja bis heute keinen Gleisanschluß, auch damals nicht und war immer eine

Verbannungsstadt gewesen. Nach der Oktoberrevolution waren viele Weißrussen

auch da interniert und später erzählte mir mein Freund Ishan, daß die Russen es

damals nicht so gut hatten wie wir, weil die Bevölkerung sie nicht mochte. Wir

befürchteten zuerst, daß wir, wie üblich, dort in ein Lager gesperrt werden, aber wir

stellten fest, es gab gar keine Lager. Nach der Ankunft wurde mein Vater in die

Präfektur mitgenommen und wir mußten erstemal warten. Der Beamte dort hat

meinem Vater gesagt, daß wir uns nun hier ein Haus aussuchen und einmieten

können. Zwei Sachen durften wir nicht, erstens die Stadt verlassen, zweitens

arbeiten.

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Daß Sie nach Çorum gekommen sind, war aber eher Zufall, denke ich. Es gab auch

die anderen Verbannungsorte Kırşehir und Yozgat.

Çorum war zu der Zeit ein Kaff, es gab 500 Meter Asphaltstraße und zwei Autos, die

ständig hin- und herfuhren, eins vom Präfekten, eins vom Garnisonskommandanten.

Aber Çorum war im Vergleich zu den anderen Städten die angenehmste, von der

Landschaft, von seinen Leuten.

Wie sah der Alltag in Çorum aus? Kamen Sie finanziell aus?

Wir durften nicht arbeiten und haben uns auch daran gehalten. Der Rote Halbmond

unterstützte uns finanziell und andere Flüchtlingsorganisationen, auch jüdische,

kümmerten sich um unsere Lage. Unsere Miete wurde bezahlt und wir konnten dann

mit dem Geld, was man uns gab, relativ gut leben. Das war, so haben wir es

begriffen, eher ein Zwangsurlaub. Man hat natürlich nicht mehr mitbekommen, wie es

mit dem Krieg ausschaut. Es gab ja kaum Informationsmöglichkeiten. Es war ein

gespanntes Warten. Aber es gab auch Deutsche, die die Zeit anders verbrachten

und sich zum Beispiel nicht an das Arbeitsverbot gehalten haben. Die Beamten

drückten bei solchen Fällen die beiden Augen zu. Ich erinnere mich an unseren

deutschen Nachbarn, der aus alten Kanistern Ofen baute, er nannte sie

“Allesbrenner”, in denen von Trockendung bis zur Braunkohle wirksam und sparsam

alles verheizt werden konnte. Er verkaufte die Öfen nicht nur an uns, sondern auch

an die völlig begeisterten Einheimischen. Ein anderer Deutscher, Fleischer vom

Beruf, übernahm die von den Bauern in den Wäldern erlegten Wildschweine und

belieferte uns preiswert mit Sonntagsbraten. Die Bauern aßen aus religiösen

Gründen kein Schweinefleisch, faßten die Tiere nicht einmal an und vergruben sie,

wo sie erschossen hatten. Unser geschäftstüchtiger Metzger ließ sich dann von

ihnen den Ort zeigen, bearbeitete an Ort und Stelle die Tiere und zog dann

anschließend den Bauern das “Fell über die Ohren”, in dem er ihnen großzügig „nur“

die Munition ersetzte.

Herr Bischoff, diese Internierung dauerte annähernd ein Jahr. Sie sagten, es gab

nicht viel zu tun, Çorum muß Ihnen nach Istanbul wirklich wie ein Dorf vorgekommen

sein. Wie haben Sie persönlich diese Zeit überbrückt?

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Für mich als Sechszehnjährigen begann dort wieder einmal das große Abenteuer.

Çorum entpuppte sich für mich als ein sehr großes Dorf mit einem kleinen Stadtkern

rund um den historischen Uhrenturm. Die Kinder ritten auf ungesattelten Pferden

durch die Gassen. Gleichzeitig erschlug uns fast die Gastlichkeit der Einheimischen.

Ich habe mich auch sofort mit den Gleichaltrigen befreundet, mit Ihsan, Fuat und

Hilmi. Ich bin dann zu dem Präfekten gegangen und meinte zu ihm, daß meine

türkischen Freunde die ganze Zeit zu den Bergen reiten würden und ich mich in der

Stadt langweile. Da sagte er zu mir “Wenn Du mir versprichst, daß Du ja abends zu

deinen Eltern zurückkommst, dann reite gleich los!”. Ich bin in den Tagen danach mit

meinen Freunden immer durch die Dörfer, durch die herrlichen Weinberge und

Obstgärten geritten.

Was haben sie in Ihrer übrigen Zeit gemacht, konnten Sie zu einer Schule gehen?

Für uns gab es keine Schule oder eine besondere Klasse, wo wir hätten hingehen

können. Deshalb organisierten sich die Familien untereinander und erteilten den

Kindern Privatunterricht. Ich lernte von einer Dame Französisch. Ich wollte sowieso

später nicht mehr in die Österreichische Schule zurückgehen, sondern in eine

französische Schule. So habe ich dort die ganzen Monate mit ihr Französisch

gelernt. Später habe ich den Großgrundbesitzer von Çorum kennengelernt, der hatte

ganz große Ländereien. Er war früher in Istanbul selbst auf einer französisch

lehrenden Schule gewesen und besaß eine Bibliothek mit französischen Büchern.

Ich habe dann von ihm die notwendige Literatur geholt.

Das Merkwürdige an dieser Internierung ist ja nicht die Internierung an sich, sondern

daß alle Deutsche in den gleichen Topf geworfen wurden. Parteitreue

Geschäftsmänner, katholische Priester und emigrierte Menschen. Bei Ihnen kommt

ja auch dazu, daß Ihre Mutter zumindest türkischstämmig war.

Das ist alles eigenartig gewesen, es stimmt schon. Interniert wurden ja fast alle

Menschen aus Deutschland, ob rechte oder linke, das spielte keine große Rolle. Nur

die Professoren und Beamte wie Reuter, die wurden nicht interniert. Die meisten

Nazis hatten natürlich vorgezogen, zurückzugehen, nach Deutschland, anstatt

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interniert zu werden. Aber man kannte schon mehrere Gesichter aus Istanbul, von

denen man wußte, sie waren auf der anderen Seite, also von uns aus gesehen,

gewesen. Ich erinnere mich, daß mein Vater mit der Sache an sich nicht

einverstanden war, aber er konnte sich nicht widersetzen. Trotz aller Freundlichkeit

schienen die Türken entschlossen zu sein. Man sprach auch darüber, daß die

türkischen Behörden eine Frau, die sich weigerte, sich zu internieren, mit Gewalt in

einen Zug gesetzt und nach Deutschland zurückgeschickt haben. Es hat uns doch

schon genervt, wie Nazis behandelt zu werden. Um so mehr, weil nicht nur meine

Mutter türkischer Abstammung war, sondern mein Vater ja zu der Zeit faktisch auch

kein Deutscher mehr war, sein Paß wurde wegen Wehrdienstverweigerung

eingezogen und er ausgebürgert, er war ja staatenlos.

Als der Krieg zu Ende war, also konkret am 8. Mai 1945, wie waren da die Gedanken

und Gefühle?

Wir waren erst einmal glücklich, daß der ganze Spuk vorbei war. Mein Vater hatte

zwar schon immer gesagt, daß Hitler den Krieg verlieren würde, aber das Ende zu

erleben, war dann ein besonderer Moment. Dann fingen wir an, an die Rückkehr zu

denken, wir hatten eigentlich alle fest vor, wieder zurückzukehren. Dann haben wir

natürlich auch an die Verwandten und Freunde in Deutschland gedacht, wir wußten

ja nicht, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war.

Die meisten Internierten mußten teilweise bis August 1945, also länger als das

Kriegsende, in Çorum und den anderen Städten bleiben. Sie konnten aber früher

zurückgehen, ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie überhaupt ein Glückskind

waren, Herr Bischoff, ein Glückskind in unglücklichen Zeiten.

Die Schulen in Istanbul gingen bald los, ich war ganz unruhig. Ich wollte nicht mehr

dort bleiben, sondern zurückgehen. Nachdem ich mit meinen Eltern darüber sprach,

schrieb ich dem türkischen Unterrichtsminister Hasan Ali einen Brief. In meinem

Gesuch stand, daß ich türkische Verwandte in Istanbul hatte, daß die Schule wieder

anfing und ich gerne meinen Abschluß machen möchte. Kurz danach bekam ich vom

Minister persönlich eine Genehmigung, Çorum verlassen und nach Istanbul

zurückgehen zu können. Die ganzen Deutschen kamen an und fragten, wie ich es

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geschafft habe. Ich habe ihnen nur gesagt, sie sollten es auch einfach versuchen

und einen Gesuch einreichen. Wie auch immer, ich bin zurückgefahren und die

anderen, auch meine Eltern sind drei Monate länger dort geblieben. Ich habe in der

Zeit in Istanbul bei meinem Onkel gewohnt und nachdem ich die Aufnahmeprüfung

bestand, besuchte ich die französische Schule St. Michael.

Die meisten Emigranten versuchten nach dem Ende des Krieges, so schnell wie

möglich nach Deutschland zurückzugehen. Zumindest war der Wunsch da. Es galt

aber bestimmte Hindernisse zu überwinden. Die alliierten Behörden in Deutschland

wollten den Ablauf und den Zeitraum der Rückreise eher selber regulieren. Sie waren

beim Kriegsende knapp 17 Jahre alt und entschieden sich auch nach Deutschland

zurückzugehen.

Ich war ja zuerst noch auf dem Gymnasium und mußte es zu Ende machen. Meine

Eltern hatten nach der ersten Begeisterung vorerst die Idee aufgegeben,

zurückzugehen. Mein Vater arbeitete in Istanbul und wußte nicht, was in Deutschland

auf ihn zukommt. Ich bin zum englischen Konsulat gegangen, Hamburg war

englische Besatzungszone, und habe erzählt, daß ich zurück nach Hamburg will. Der

Beamte sagte mir, daß es noch nicht geht.

Aber wieso wollten Sie denn eigentlich zurück, Herr Bischoff, Sie haben erzählt, daß

Sie sich in der Türkei sehr wohl fühlten, Freunde hatten…

Ich war Hamburger. Die Türkei war doch ein vorläufiger Aufenthalt, der Ort der

Emigration. Und so schön es in der Türkei war, so viele Freunde ich auch hatte, es

stand für mich immer fest, irgendwann geht es zurück.

Die Eltern dachten aber doch anders…

Für die Eltern galten wohl andere Prioritäten. Wenn man schon älter ist, hat man

vielleicht nicht mehr Lust, sich wieder auf neue Abenteuer zu stürzen. Mein Vater

hatte dort seine Arbeit und wollte abwarten. Er fragte mich auch, was ich in

Deutschland will und meinte, daß er mich von der Türkei aus nicht ernähren kann.

Ich sagte zu ihm “Mach Dir keine Sorgen, ich finde da schon etwas”. Gleichzeitig war

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er aber mit seinem Herzen auch in Deutschland, das spürte ich, als wir uns später

verabschiedeten, sagte er zu mir “Wenn es in Deutschland wieder bergauf geht, gib

mir Bescheid”. Aber ich will nicht hier falsche Bescheidenheit vorspielen, bei mir war

es auch der Idealismus, das neue Deutschland mit aufzubauen, diese Idee reizte

mich ungemein. 1948, es muß nach der Währungsreform gewesen sein, war es dann

soweit. Ich bekam vom englischen Konsulat meinen Passierschein für Hamburg und

verließ mit 100 Dollar in der Tasche, die Türkei und meine Eltern. Als ich in Hamburg

ankam, war ich ganz verschreckt, die ganze Stadt lag noch in Trümmern, auch die

Universität.

Sie hatten nach dem französischen Gymnasium ein Semester in Istanbul Jura-

Vorlesungen besucht, wie Sie vorhin erzählten, bei dem Professor Schwarz.…

Richtig, da hatte ich einige Vorlesungen in Jura gehört. Ich wollte eher Musik

studieren, aber mein Vater war ja Zimmermann und sagte, ich sollte auf der

Universität einen anständigen Beruf erlernen, wie Bauingenieur. Dann haben wir uns

auf Jura geeinigt. Zurück in Hamburg versuchte ich erst einmal eine Bleibe zu

organisieren und konnte dann bei früheren Genossen von meinem Vater

unterkommen, wieder in Harburg. Dann habe ich mich in Hamburg in Jura

immatrikulieren lassen, weil ich nicht wußte, was ich sonst studieren sollte. Ich hätte

mich in Literatur einschreiben sollen, aber damals wußte ich nicht, daß ich darin

mehr Talent hatte.

Ihre Eltern sind bis 1952 in Istanbul geblieben. Dann kamen sie auch nach; hatte die

Entscheidung damit zu tun, daß es mit Deutschland aufwärts ging, wie Ihr Vater es

gemeint hatte?

Ich fuhr ja jeden Sommer zu ihnen und habe erzählt, wie es in Deutschland

ausschaut. Als dann Anfang der 50er Jahre hier der Bauboom losging, meinte ich zu

meinem Vater, jetzt sei er gefragt. Er ist auch relativ schnell gekommen und fand

dann eine gut bezahlte Arbeit, bald folgte meine Mutter. Meine Schwester heiratete

aber dort und blieb in der Türkei.

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Haben Sie in der Zeit Ihren Entschluß, die Türkei zu verlassen je bereut, oder

konnten Sie ihren Idealismus ausleben und in die Tat umsetzen?

Schwer zu sagen, anfänglich habe ich alles viel optimistischer gesehen. Dann habe

ich aber zunehmend gemerkt, daß der Geist der Nazis noch lebendig war. Das

merkte ich vor allem daran, wie man mich behandelte. Keiner sprach mich direkt an,

aber ich hatte das Gefühl, die Leute schauten mich anders an, weil sie dachten, ich

wäre Jude oder Ausländer. Das spüre ich noch heute.

Herr Bischoff, jetzt sind es über 50 Jahre, seitdem Sie die Türkei verlassen haben,

seitdem diese Zeit zurückliegt. Sie haben aber noch immer regen Kontakt mit dem

Land und seinen Menschen.

Ich habe ja noch meine alten Freunde; mit den meisten habe ich die ganze Zeit über

korrespondiert. Mein Briefwechsel mit Orhan Peker ist sogar auf Türkisch als Buch

erschienen. Wenn ich in der Türkei bin, treffe ich mich sofort mit ihnen, mit Fikret

Otyam oder Mustafa Pilevneli. Ich habe auch im Laufe der Jahre neue Freunde

kennengelernt, die alle jünger sind als ich. Und ich trage mich immer noch mit dem

Gedanken, mein ferneres Leben, den Rest meines Lebens, zumindest die Hälfte des

Jahres, in der Türkei zu verbringen. Erstens, weil es in der Türkei fröhlicher ist,

zweitens, weil man hier seine Wurzeln doch nicht gänzlich wegkappen kann.

Sie sprechen noch immer fließend Türkisch, Herr Bischoff, ich will nicht übertreiben,

aber es stimmt wirklich, sogar besser als manche Türken. Sie benutzen diesen ihren

Vorteil auch für Ihre Arbeit.

Ich meine, die Türkei hat natürlich mein Leben verändert. Seit ich dort gewesen bin,

bin ich ein anderer Cornelius geworden. Vor allem im Zusammenhang mit den

Übersetzungen konnte, mußte ich meine Sprachkenntnisse immer frisch halten und

ich schätze die Besonderheit meiner Situation sehr. Dabei fing die

Übersetzungsarbeit eher als Freundschaftsdienst an. Ich besuchte meinen Freund

aus der österreichischen Schule, den Maler Orhan Peker in seiner Sommerakademie

in Ayvalık. Da kam der Regisseur Çetin Öner auch hin, den ich damals nicht kannte

und fragte Orhan, ob er für sein Kinderbuch “Gülibik” die Illustrationen malen würde.

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Wir hatten alle ein bißchen Rakı getrunken, Orhan meinte, er würde die Illustration

nur übernehmen, wenn ich das Buch ins Deutsche übersetze. Çetin war

einverstanden und ich, im Rakı-Rausch, sagte natürlich zu. Am nächsten Morgen mit

nüchternem Kopf bemerkte ich die Schwierigkeit der Aufgabe und vor allem die

Verantwortung, aber ich wollte mein Versprechen natürlich, und eigentlich gerne,

einlösen. Seit der Zeit übersetze ich türkische Literatur ins Deutsche und die Arbeit,

die Aufträge werden auch immer mehr, habe ich das Gefühl. Es ist inzwischen mein

Hauptberuf. Yaşar Kemal wird auch von mir übersetzt, er ist durch die Arbeit mein

Autor und Freund zugleich geworden.

Gibt Ihnen diese Arbeit, die Beschäftigung mit dem Türkischen das Gefühl, zwischen

den Kulturen zu vermitteln oder ist sie eher die Suche nach den unbekümmerten

Tagen der Jugendzeit in der Türkei?

Was meine Beweggründe waren oder sind, weiß ich auch nicht so genau. Ich weiß

nur, daß zu der Zeit, als ich mit den Übersetzungen anfing, ganz wenige Türken in

Deutschland lebten, es gab in erster Linie Studenten. Wenn ich jemandem von der

Türkei erzählte, dann hatte ich immer das Gefühl, daß die Deutschen dachten, die

Türken sind von einem anderen Planeten, man kannte dieses Land und ihre

Menschen nicht. Die Kenntnisse bestanden im besten Falle aus Atatürk, Halbmond

und Harem. Ich habe überlegt, was ich dagegen machen kann. Dann habe ich Orhan

Peker und anderen Freunden geschrieben, daß ich weiterhin ihre Sachen ins

Deutsche übersetzen will, damit die Deutschen wenigstens erfahren, daß die Türken

schreiben, ja schreiben können. So war es.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 265

Fünftes Kapitel

1 Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge

Im späten Mittelalter kam es in fast allen Ländern Europas, vor allem aber in Spanien

im Zusammenhang mit Hexenwahn und Inquisition zu Judenverfolgungen. So wurde

1492 in Spanien durch ein Edikt des Königs Ferdinand angeordnet, daß, wer Jude

sei, außer Landes zu gehen habe. Das Osmanische Reich war nicht nur das einzige

Land, das den Verfolgten spanischen Juden zu dieser Zeit1 Asyl gewährte, sondern

auch sie so beschützte, daß es in den nächsten 450 Jahren in den Grenzen des

Reiches niemals zu einer Verfolgung kam. Allein in Istanbul lebten um 1580 mehr als

30. 000 jüdische Menschen, in der Stadt gab es 44 Synagogen. Die jüdische

Community hatte das Recht zugesprochen bekommen, sich selbst zu verwalten.

Danach galt der Oberrabbiner von Istanbul als Patriarch der gesamten jüdischen

Gemeinde und war deren offizieller Vertreter beim Sultan. Osmanische Herrscher wie

Süleyman der Prächtige förderten die jüdische Einwanderung, weil sie nicht nur

erkannten, daß die Juden den Handel belebten, sondern auch durch ihre

Verbindungen vor allem mit Venedig neue Geschäfte zur Blüte brachten. Neben

Bankwesen, Waffenherstellung und Goldschmiederei wurde die Medizin bis in das

19. Jahrhundert fast ausschließlich von den osmanischen Juden ausgeübt. Dies

geschah durch den Willen und durch das Einverständnis der osmanischen Sultane.

Im tatsächlich multikulturellen Gebilde des Osmanischen Reiches hatte jede

Minderheit (relativ gesehen waren die Türken auch eine Minderheit, die größte unter

den anderen) große Freiheiten und Nischen, aber auch Pflichten und Aufgaben.

Solange diese Mischung funktionierte, konnte der Vielvölkerstaat Osmanisches

Reich überleben. Erst durch das Aufkommen der nationalen Identitäten und

nationalistischen Bewegungen im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde auch sein Ende

eingeläutet. Der türkische Nationalismus, durchsetzt von chauvinistischen

Untertönen, schwoll gerade in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts zu

einer mächtigen, nach der Republiksgründung, zu der staatstragenden Strömung

1 Sultan Bayezid ll.(Sohn von Fatih - Eroberer von Istanbul) hatte dem spanischen König Ferdinand angeboten, dieverfolgten Juden aufzunehmen. Verschiedene Quellen gehen davon aus, daß um das Jahr 1492 zwischen 60000 und90000 spanische und portugiesische Juden, sogenannte Sefardim, ins Osmanische Reich geflüchtet sind. Vgl. u.a.: Dr.Hitzak Kottek, Geschichte der Juden, Basel 1993; Jak Kamhi, 500 Yıl Vakfı-Insanlığa Örnek (Stiftung 500 Jahre-Beispiel für die Menschheit), Istanbul 1992.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 266

und Ideologie an. Die Sympathie der türkischen Armeeführung und einflußreicher

politischer Kreise für den deutschen Nationalsozialismus hatte immerhin zumindest

die rechtliche, dadurch bedingt aber auch die gesellschaftliche Diskriminierung der

nichtethnischer und vor allem der jüdischen Türken zur Folge. Die Juden wurden für

die wirtschaftliche Lage des Landes verantwortlich gemacht, eine willkürlich

angewandte Sondersteuer, wie in dieser Arbeit besprochen, ruinierte vor allem

jüdische Geschäftsleute, viele von ihnen wurden 1943 verhaftet und in einem

Arbeitslager untergebracht. Die Juden entfremdeten sich der Umgebung, in der sie

seit über 450 Jahren gelebt hatten. Über die Hälfte der türkischen Juden verließ in

den vierziger Jahren die Türkei in Richtung Palästina, unzählige emigrierten in die

USA oder Frankreich.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verließen im Laufe des Jahres

1933 mindestens 50.000 Juden und bis 1938 an die 150.000 Juden Deutschland. Es

ist festzuhalten, daß, wie auch jüdische Quellen bestätigen und betonen2, die

deutschen Behörden in den Dreißiger Jahren den ausreisewilligen Juden prinzipiell

keine unüberbrückbaren Hindernisse in den Weg legten, die Politik der Regierung

ermutigte sie sogar dazu. Die nationalsozialistische Politik gegenüber Juden erlebte

nach der Annexion Österreichs einen neuen Aufschwung3. Eine aggressivere

Haltung sollte die Auswanderung wieder beschleunigen. Nach der Reichskristallnacht

am 9./10.11.1938 und der Besetzung der Tschechoslowakei (15.03.1939) sind

schätzungsweise etwa 150.000 weitere Juden aus dem Gebiet des Deutschen

Reiches geflohen. Die meisten von ihnen gingen in erster Linie zuerst in die

Nachbarländer wie Frankreich, Holland, England und die Schweiz und mit

Kriegsbeginn in die Vereinigten Staaten, Südamerika und Schanghai. Das für die

meisten, gerade „einfachen“ Juden wichtigste Ziel bildete jedoch Palästina. England

hatte sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bereit erklärt, das Projekt einer

nationalen Heimstatt des jüdischen Volkes in Palästina zu fördern4. Nachdem in den

Zwanziger Jahren größere Gruppen von vor allem osteuropäischen Juden in das

Gebiet einwanderten und die Fluchtbewegung der Juden aus Deutschland sich

abzeichnete, kam es im Herbst 1933 zu arabischen Aufständen gegen die Juden. 2 Vgl. u.a.: David. Wyman, Das Unerwünschte Volk, München 1986; Leo Beack Institute Yearbook, New York 1956. S.373 ff. ; Enzyklopädie des Holocaust ...a.a.O., Bd. 1, S. 466.3 Durch den Anschluß Österreichs stieg die Anzahl der Juden im Gebiet des Deutschen Reiches um 200.000; bis zudiesem Zeitpunkt hatten hingegen höchstens 100.000 Juden Deutschland verlassen. Vgl.: Enzyklopädie desHolocaust..., a.a.O.,Bd.1, S. 465f.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 267

Daraufhin begrenzte die englische Mandatsregierung die Zahl der Einwanderer und

führte für das Gebiet eine Visapflicht ein5. Seit Mitte der Dreißiger Jahre begannen

zionistische Organisationen, die unter dem Druck der Auswanderung und Flucht aus

Europa mit der Begrenzung der Einwanderung nicht einverstanden sein konnten,

diese Bestimmungen durch illegale Einwanderungen zu umgehen. Dazu wurden von

verschiedenen Mittelmeerhäfen aus, kleinere Schiffe gechartert, die dann möglichst

unbemerkt die palästinensische Küste erreichen und somit die Juden dort an Land

bringen sollten. ”Der Hauptpunkt der Rettungsaktionen war die Evakuierung von

Juden und anderen bedrohten Personengruppen aus dem NS-Einflußbereich”6. Die

Nähe zu den Balkanländern, in denen Anfang der 40er Jahre noch hunderttausende

Juden am Leben und mehr oder weniger direkt bedroht waren7, machte die Türkei zu

einem wichtigen Punkt für die Bemühungen der jüdischen Organisationen zur

Rettung der Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager. Die relativ kurze

Entfernung zwischen der Türkei und Palästina und die seit Jahrhunderten in Istanbul

ansässige jüdische Community wurden in diese Überlegungen einbezogen.

Zwischen 1940 und 1945 versuchten mehrere jüdische Komitees, Juden die Ein- und

Durchreise in und durch die Türkei zu ermöglichen. Während die Aktionen in den

Jahren 1940 und 1941 eher von örtlichen Gruppen organisiert und durchgeführt

wurden, schalteten sich danach immer mehr globale jüdische Organisationen ein.

Der Grund war, daß von April 1941 bis Ende 1943 die Grenzen Bulgariens zur Türkei

für auswanderungswillige Juden hermetisch geschlossen waren und deshalb

Fluchtaktionen eine viel bessere Durchführung und Organisation erforderlich

machten. Die bedeutendste Organisation war die „Waad Hazala Bekutsa“. Sie wurde

von Vertretern der Jewish Agency wie Haim Barlas8 und Zeev Shind im Dezember

1942 gegründet; sie hatte zwar in der Türkei als Organisation keinen rechtlichen

Status, aber einige Mitglieder waren amerikanische Staatsbürger und bekamen

Diplomatenpässe, mußten jedoch im Gegenzug für alliierte Geheimdienste

4 Nach der Niederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hatte ab 1920 eine englischeMandatsregierung die Verwaltung von Palästina übernommen.5 England wollte mit dieser Maßnahme sicherlich die Beziehungen zu den Arabern mit ihren schon damals wichtigenÖlquellen nicht verschlechtern und verhindern, daß sie zu den Achsenmächten wechselten.6 David Wyman, a.a.O., S. 292.7 Allein in Rumänien lebten um 1940 über 300 000 Juden. Vgl.: Raul Hilberg, “Die Vernichtung der europäischenJuden - die Gesamtgeschichte des Holocaust”, Berlin 1982, S. 533.8 Haim Barlas galt als der Kopf der Organisation, er hatte schon seit 1940 an verschiedenen “illegalen” Aktionenteilgenommen und Juden übers Meer in die Türkei eingeschleust. Angeblich hatte er sehr gute Kontakte zu türkischenRegierungsstellen, die er mit größeren Summen bestach. Vgl.: David Wyman, a.a.O., S. 293.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 268

Informationen weitergeben9. Die Immigrationspolitik der Türkei war aber, wie fast in

ganz Europa und Amerika, auch von einer restriktiven Haltung bestimmt.

Die türkische Flüchtlings- und Immigrationspolitik war am Anfang relativ konzeptlos

und orientierte sich später an den eigenen wirtschaftlichen und außenpolitischen

Interessen. So ist bezeichnend, daß die Türkei nicht über eine

Einwanderungsgesetzgebung verfügte, weil sie sich nicht als ein Einwanderungsland

definierte und auch nicht auf eine Einwanderung vorbereitet war10. Bis 1938 konnte

praktisch jeder, der ein Touristenvisum und einen gesicherten Unterhalt nachweisen

konnte, in die Türkei einreisen und sich im Land aufhalten. Man mußte sich alle drei

Monate bei den polizeilichen Behörden neu anmelden und die

Aufenthaltsberechtigung verlängern. Arbeiten durfte man jedoch nicht. Wollte man

sich langfristig in der Türkei niederlassen, mußte man bei den Behörden eine Art von

Aufenthaltserlaubnis beantragen; über die Erlaubnis wurde nach langwierigen und

bürokratischen Prozessen direkt von der Regierung entschieden11. Parallel zu der

zwiespältigen Politik der Türkei dem Deutschen Reich gegenüber änderte sie jedoch

ihre Politik in diesem Bereich; aufgenommen wurden offiziell nur solche Personen

und Gruppen, die für die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei von Nutzen sein

konnten. Das bedeutete praktisch, daß der Nachweis, politisch oder rassisch verfolgt

zu sein, in der Regel nicht ausreichte. Im Gegenteil, es gibt viele Berichte darüber,

daß die Behörden nach 1938 bei der Einreise von Deutschen den christlichen

Taufschein forderten und Deutsche jüdischen Glaubens nicht in das Land

hineinließen12. Leider ist in diesem Zusammenhang von der türkischen Seite eine

Stellungnahme, ein offizieller Bericht oder konkrete Beschlüsse dazu nicht zu

bekommen. Die Istanbuler Jüdische Gemeinde hat aber 1938 mit der katholischen

Kirche in Istanbul Kontakt aufgenommen, um für diese Problematik eine Lösung zu

finden. Der Apostolische Delegat der Katholischen Kirche, Monsignore Giuseppe

Roncalli, der spätere Papst Johannes 23., hat dann durch seine Einwilligung die

Ausstellung von gefälschten Taufscheinen ermöglicht: “Er vertrat den Standpunkt, es

sei christlicher, auf ein Papier einen zwar falschen, aber harmlosen Stempel zu

9 Enzyklopädie des Holocaust..., a.a.O., Bd. 3, S. 1511.10 Gespräch mit Prof. Naumann...11 Nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz, das 1928 eingeführt worden war, entschied die Regierung auch beiEinbürgerungen als einzige Instanz. Nur ausländische Frauen, die einen türkischen Mann heirateten, und Kinder vonAusländern, die in der Türkei auf die Welt kamen, hatten einen Anspruch auf die türkische Staatsangehörigkeit. Mehrüber das Staatsangehörigkeitsgesetz der Türkei in: Kudret Ayıter, Sammlung geltender Staatsangehörigkeitsgesetze,Frankfurt a. M. 1980, Band 31.12 Gespräch mit Prof. Naumann...

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 269

drücken, als durch dessen Verweigerung einen Menschen zur Ausweisung und damit

zum sicheren Tod zu verurteilen”13.

Die Weigerung der türkischen Behörden, nach 1938 jüdische Flüchtlinge

aufzunehmen oder teilweise unüberbrückbare Hindernisse aufzustellen, ist ein

dunkler Fleck in der türkischen Geschichte wie auch in den Geschichten der anderen

Länder, die ähnlich vorgingen. Wie dankbar sich die anderen deutschen Flüchtlinge

später gegenüber der Türkei auch äußerten, sie müssen alle gewußt haben, daß sie

ihre eigene Einreise glücklichen Umständen, aber nicht etwa einem humanistischen

Prinzip verdankten.

Herbert Rittlinger bemerkt, daß die behördlichen Repressionen gegen jüdische

Flüchtlinge nach 1938 definitiv zunahmen: „Die Türken kontrollierten sehr scharf,

jedes in den Bosporus fahrende Schiff wurde gründlich untersucht“14. Rittlinger, der

als deutscher Agent einige Jahre in der Türkei verbrachte, erinnert sich, daß das

Mißtrauen gegen einreisewillige Fremde auch immer mehr zunahm. So waren die

Behörden „penibel gegen jeden, auch wenn er einen noch so schönen Paß hatte. Sie

setzten von jedem gleich voraus, daß er seine Papiere persönlich gefälscht hatte15“.

Der türkische Soziologe und Schriftsteller Demirtaş Ceyhun sieht in der Verschärfung

der Einreisemöglichkeiten nach 1938 in die Türkei „die latente Angst der

herrschenden Kreise in der Türkei vor Kommunismus. Die Regierung befürchtete,

daß sich unter den Flüchtlingen, die vor allem aus Österreich kamen, auch

Sozialisten und Kommunisten befinden konnten. Diese Angst war für sie

entscheidender als humanistische Überlegungen. Noch dazu waren die Ausländer,

von denen man Vorteile erwartet hatte, zum größten Teil 1933, gleich nach der

Machtergreifung, ins Land geholt worden“16.

Eine legale Durchfahrt von jüdischen Gruppen über das Territorium der Türkei hing

unter diesen Umständen natürlich von der Bereitschaft der Regierung ab, Einreise-

oder Transitvisen für Juden auszustellen und diese Bereitschaft war an sich nicht

vorhanden. Haim Barlas, der die Verhandlungen mit der türkischen Seite führte,

mußte immer wieder diese Erfahrung machen: „Sie (die Türken) erklärten einerseits,

sie würden nur Personen mit einem türkischen Transitvisum ins Land lassen und

13 Dietrich Gronau, a.a.O., S. 129.14 Herbert Rittlinger, a.a.O., S. 116.15 Ebenda.16 Demirtaş Ceyhun, Ah, Şu biz Karabıyıklı Türkler, ( Wir Türken mit den schwarzen Schnauzbärten ), Istanbul 1994, S.192.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 270

andererseits stellten sie kaum Visa aus“17. Gegenüber den jüdischen

Hilfsorganisatoren vertraten die türkischen Behörden zur Rechtfertigung ihrer Haltung

die Ansicht, daß die Lockerung der Grenzkontrollen und Ausstellung von Transitvisen

auch feindlichen Agenten die Möglichkeit eröffnen würde, sich in die Türkei

einzuschleusen. Dieses Argument hatten die türkischen Behörden sicherlich von den

Amerikanern übernommen18. Dies war zu der Zeit ein geläufiges Argument, um

jüdische Flüchtlingsströme von vornherein zu stoppen. Daß es sowohl in der Türkei

als auch in den USA von Agenten wimmelte und daß die Behörde durch strengere

Sicherheitsmaßnahmen Agenten unter Flüchtlingen hätten ausmachen können, und

durch die widersprüchliche Außenpolitik des Landes ein klares Freund-Feind-Bild

sowieso nicht auszumachen war, daran sollte in diesem Zusammenhang erinnert

werden19.

Doch die Türkei, die türkische Regierung, versuchte bis 1944 durch ihre restriktive

Haltung die Durchfahrt von jüdischen Flüchtlingen so gering wie möglich zu halten,

wenn möglich zu unterbinden20. Die Regierung der Türkei machte sich dadurch, wie

alle Regierungen dieser Zeit, die ihre Länder als Zufluchtsstätte nicht oder nicht

genügend zur Verfügung stellten, mitschuldig. Das Schicksal der jüdischen

Flüchtlinge auf dem Schiff „Struma“ untermauert meine Überlegungen21.

Seit der Machtergreifung der faschistischen und ideologisch an NSDAP orientierten

“Eisernen Garde” im September 1940, kam es in Rumänien zu Verfolgungs- und

17 David Wyman, a.a.O., S. 294.18 “Die Regierung Roosevelt wischte die meisten Rettungsvorschläge achtlos beiseite. Die politisch Verantwortlichenlegten sich dafür vier Hauptargumente zurecht. Das Standartargument lautete immer wieder, die Nazis würden Agentenunter die Flüchtlinge schmuggeln” , Vgl.: Wyman, a.a.O., S.463.19 Der deutsche Agent Herbert Rittlinger berichtet in seinem Buch “Geheimdienst mit beschränkter Haftung”, a.a.O.,ausführlich über die rege Spionagetätigkeit in der Türkei.20 Neueste Untersuchungen zeigen, daß die Türkei auch in die sogenannte Affäre um das Naziraubgold involviert war.Die US-Regierung hat in diesem Zusammenhang am 07.05.1997 einen 547-Seiten-Bericht veröffentlicht. Der Berichtberuht auf der Arbeit von insgesamt 11 Regierungsbehörden, darunter das CIA und die Justiz- undVerteidigungsministerien. Für den Bericht wurden über 15 Millionen Archivseiten hinzugezogen. Der Bericht belegt, daßdie Schweiz und die Schweizer Banken Hauptempfänger und -nutznießer des Goldes waren, das die Nationalsozialistenvon Juden in Europa erbeuteten. 400 Millionen Dollar in Gold (heutiger Wert rund 7 Milliarden Mark) sollen dem Berichtzufolge von den Nazis in die Schweiz geschafft worden sein. Darunter sei auch Gold aus Zahnfüllungen undSchmuckstücken von Juden gewesen, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden. Der Bericht nennt auch dieTürkei namentlich und wirft vor, daß sie nach Juni 1940 für 3 Tonnen Gold im Gegenwert von 3 Millionen, 400 TausendReichsmark in der Schweiz gekauft hat. In einer Geheimnote vom 21.05.1952 forderte die US-Regierung die Türkei auf,den Holocoust-Überlebenden das Gold als Entschädigung zu zahlen. Die damalige Regierung Menderes lehnte das mitder Begründung ab, daß die Türkei nicht gewußt habe, aus welcher Quelle das Gold stammt. Die Diskussion um dassogenannte Nazigold, aber auch die Mitbeteiligung der Türkei waren zur Entstehungszeit dieser Arbeit noch nichtabgeschlossen. Vgl.. zum Thema : Hürriyet, 09.05.1997.21 Die folgenden Informationen über “Struma” stützen sich vor allem auf: Jürgen Rohwer, Die Versenkung derjüdischen Flüchtlingstransporter Struma und Mefkure im Schwarzen Meer, Frankfurt/M. 1965; Raul Hilberg, a.a.O., S.533; Enzyklopädie des Holocaust..., a.a.O., S. Bd. 3, S.1377ff.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 271

Terroraktionen gegen die Juden22. Die Juden wurden durch Gesetze, die im Herbst

1940 erlassen wurden, aus dem öffentlichen Leben ausgeschaltet und ihr Besitz

enteignet. Bei der Ausführung dieser Gesetze kam es zu Gewaltaktionen gegen

jüdische Menschen23. In dieser Phase versuchten immer mehr Juden, die Flucht zu

ergreifen und durch die Unterstützung von jüdischen Organisationen und Agenten

das Land zu verlassen. In diesem Zusammenhang wurde mit Hilfe der „Zionistischen

Revisionistischen Partei“ Anfang Dezember 1940 in Constanza ein unter

panamaisischer Flagge laufendes Viehtransportschiff mit dem Namen „Struma“

gechartert24. Das Schiff hatte keine Kabinen und sanitäre Einrichtungen nur für die

Mannschaft. Obwohl das Schiff nicht für den Transport von Menschen geeignet war

und vor allem gerade im Winter als nicht hochseetauglich galt, schifften sich am

12.12.1941 in der rumänischen Hafenstadt Constanca 769 Juden ein. Die

Organisatoren hatten unter den Passagieren Ärzten, Handwerkern und Männern im

sogenannten wehrfähigen Alter den Vorzug gegeben25. Die meisten Juden waren

Rumänen, aber unter den Passagieren befanden sich auch Juden aus Deutschland,

Holland, Ungarn und Bulgarien. Die Organisatoren der Fahrt wollten zuerst nach

Istanbul, um dort Transitvisa zu bekommen, und dann, die englischen Behörden

praktisch vor vollendete Sachen stellend, die Weiter- und Einreise nach Palästina zu

erzwingen. Die Passagiere hatten keine Einreisebewilligung der englischen

Mandatsbehörde in Palästina. Das Schiff erreichte am 16.12.1941 Istanbul. Die

türkischen Behörden erlaubten dem Schiff nicht, direkt am Hafen anzulegen, weil die

Flüchtlinge auch für die Türkei keine Ein- oder Transitvisa besaßen. „Struma“ mußte

in der Mitte des Bosporus ankern. Zwischenzeitlich verhandelten die Mitarbeiter der

Jewish Agency mit England, um den Juden auf dem Schiff die Einwanderung nach

Palästina zu ermöglichen. Die Situation auf dem „Struma“ verschlechterte sich

gerade wegen der Winterkälte. Der Kapitän des Schiffes, Gorbatenko, machte in

mehreren Schreiben an die Istanbuler Hafenbehörde auf die katastrophalen 22 Ausführlicher über das Schicksal der Juden in Rumänien, in: Andreas Hillgruber, Hitler, König Karol und MarschallAntonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen 1938-1944, Wiesbaden 1953, darin: Die Judenfrage als Problemder deutsch-rumänischen Beziehungen, S: 236 - 246.23 Nach Hecker waren deutsche “Einsatzgruppen” in Bessarabien und der Bukowina an Vernichtungsaktionen gegenJuden beteiligt. Vgl.:. Hellmuth Hecker, Judenverfolgungen im Ausland, Hamburg 1958, S. 51 - 68.24 Die Organisatoren entschieden sich für dieses 180 Tonnen Bruttoregistertonnen fassendes Schiff , da kein anderesrumänisches Schiff die riskante Überfahrt nach Palästina machen wollte. Sowohl das Schwarze Meer als auch dieÄgäis, waren zu dieser Zeit Schauplätze des See- und U-Bootkriegs zwischen Deutschland und den Alliierten.Ausführlicher über das Thema in: Jürgen Meister, Der Seekrieg in den osteuropäischen Gewässern 1941 - 45, München1958.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 272

Bedingungen auf dem Schiff aufmerksam und bat um die Erlaubnis zur

vorübergehenden Landung der Passagiere. Jüdische Einwohner von Istanbul

versorgten das Schiff von kleinen Booten aus mit Lebensmitteln und Trinkwasser.

Obwohl die Jewish Agency sämtliche Kosten übernehmen wollte, verweigerte die

türkische Regierung weiterhin die Erlaubnis, die Passagiere bis zur Klärung der Lage

in ein Lager auf dem Land überzusiedeln.

Ältere Istanbuler erzählen noch heute davon, daß man zu der Zeit, gerade an

Sonntagen mit der ganzen Familie zu den Ufern des Bosporus fuhr und aus den

Teegärten heraus das Schiff anschaute. Warum niemand auf die Idee kam, auf die

eigene Regierung Druck auszuüben und Öffentlichkeit herzustellen, damit die

jüdischen Flüchtlinge zumindest würdig und menschlich behandelt wurden und

vorübergehend ans Land durften, wissen die älteren Istanbuler auch nicht zu

beantworten26.

Die Verhandlungen zwischen der jüdischen Seite und der englischen

Mandatsregierung in Palästina kamen sehr schleppend voran. Unter mehreren

Vorwänden lehnten die Engländer immer wieder die Ausstellung von

Einwanderungsvisen für die „Struma“-Passagiere ab und lenkten erst am 18. Februar

ein, indem sie vorerst Kindern unter 11 Jahren die Einreise erlaubten. Doch diese

Nachricht erreichte „Struma“ nicht mehr. Nach zehn Wochen in Unsicherheit und

Angst folgte am 23. Februar 1942 die Katastrophe. Aus bisher nicht geklärten

Gründen forderte die türkische Regierung die Besatzung des Schiffes ultimativ auf,

die Binnengewässer der Türkei sofort zu verlassen. Als der Kapitän sich weigerte,

diesem Befehl zu folgen und Sicherheiten für die Passagiere forderte, verschleppten

türkische Seepolizeischiffe „Struma“ aufs offene Meer und kappten die Trossen,

obwohl das Schiff keinen Treibstoff hatte! Noch am gleichen Tag nach wenigen

Stunden wurde das Schiff von einem Torpedo versenkt; das sowjetische U-Boot SC

213 hielt das Schiff höchstwahrscheinlich für ein getarntes deutsches Transportschiff

und torpedierte es ohne Vorwarnung. Von den 769 Passagieren, Flüchtlingen,

25 Der Grund war sicherlich, daß man von diesen Juden mit besserer Ausbildung mehr Nutzen für den wirtschaftlichenAufbau von Palästina erwartete.26 Ich habe dazu auch mehrere Verwandte befragt. Von den deutschen Flüchtlingen konnte ich diese Frage nur anErnst Engelberg stellen. Ernst Engelberg hat mir erzählt, daß er sich an dieses Ereignis nicht mehr erinnern kann.Cornelius Bischoff, der als Jugendlicher in Istanbul lebte, kann sich jedoch daran erinnern. “ Ich kann mich auch aneinen Dampfer erinnern, das war ein Transport von Juden. Die durften nicht ans Land. Es war schon während desKrieges. Wir sind als Kinder runter ans Meer gegangen, um uns den Dampfer anzusehen. Die Türken haben zwar mitLeitern Wasser und Lebensmittel an Bord bringen lassen, aber ans Land durfte niemand”, Gespräche mit CorneliusBischoff, ...

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 273

überlebte nur ein einziger Mensch diese Katastrophe, die durch die unnachgiebige

und unmenschliche Haltung der türkischen Regierung verursacht wurde. Die

türkische Öffentlichkeit der Zeit beschuldigte Deutschland, für den Tod der jüdischen

Passagiere verantwortlich zu sein, anstatt das eigene Verhalten in Frage zu stellen27.

Es kam in den Folgejahren zu ähnlichen Fällen, wenn auch nicht im gleichen

katastrophalen Umfang. Als im März 1944 ein Boot mit jüdischen Flüchtlingen aus

Bulgarien den Istanbuler Hafen erreichte, ließen die Hafenbehörden das Schiff

wieder nicht anlegen und die Menschen an Land gehen. Erst durch die Intervention

des amerikanischen Botschafters in Ankara Laurence Steinhardt (der Botschafter

drohte mit einer massiven anti-türkischen Pressekampagne in den USA), änderte das

türkische Außenministerium seine Haltung, ließ die Passagiere weiterziehen und

lockerte die Transitbestimmungen. Die Türkei willigte ein, daß monatlich etwa 600

Juden das Land passieren durften 28.

Nach Angaben der Jewish Agency nutzten dann bis Ende des Kriegs 5250 Juden die

Türkei als Transitland auf dem Weg nach Palästina. Insgesamt nahmen 16 474

europäische Juden im Laufe des Krieges den Weg durch die Türkei und fuhren

neben Palästina in andere Länder weiter29. Eine andere, mutige, menschliche Politik

hätte ein vielfaches an Menschenleben gerettet. Gerade in diesem Zusammenhang

der Menschlichkeit ist auf Einzelaktionen von türkischen Diplomaten hinzuweisen,

weil ihr Beispiel zeigt, das eine andere Handlungsweise doch möglich war. So

konnten jüdische Türken, die in Frankreich interniert worden waren, auf Druck der

türkischen Botschaft in Paris im Juli 1943 freikommen. Der türkische Generalkonsul

Mehmed Selahaddin Ülkümen rettete 42 türkischstämmige Juden aus Kreta. Als im

Juli 1944 die Deportation der auf Kreta lebenden Juden beschlossen und von Anton

Burger, einem Mitarbeiter von Adolf Eichmann, durchgeführt wurde, intervenierte der

Konsul und verlangte die Entlassung der 42 bereits internierten Juden. Einige

27 Welches Land macht so etwas schon freiwillig, könnte man entgegenhalten. Deswegen möchte ich betonen, daß ichnicht die Regierung, sondern die türkische Öffentlichkeit, also z.B. Medien, Intellektuelle, Vereine usw. meine. So ist inden mir zugänglichen Zeitungen der betreffenden Tage kein Kommentar zu finden, der die türkische Regierung und dastürkische Vorgehen kritisiert.28 Die amerikanische, aber auch die englische Politik legten hier natürlich eine Doppelmoral an den Tag, vor allem diejüdische Flüchtlingspolitik der USA war selbst mehr als fragwürdig. Jüdische Autoren wie David Wyman werfen indiesem Zusammenhang den USA Mitschuld am Genozid der Juden vor. Tatsächlich fuhren die vielen amerikanischenTruppen- und Versorgungsschiffe zumeist leer über den Atlantik zurück, anstatt Flüchtlinge mitzunehmen und damiteinen kontinuierlichen Exodus aus Europa zu ermöglichen. Genauso haben die USA zu keinem Zeitpunkt der jüdischenVerfolgung ein verbindliches Angebot gemacht, “allen den Fängen Hitlers entronnenen unterdrückten Menschen”, wieWyman sie nennt, eine vorübergehende Zuflucht zu ermöglichen. Ein solches Angebot hätte Länder wie die Türkei mitgrößter Wahrscheinlichkeit auch veranlaßt, ihre Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen.29 Beide Zahlen basieren auf Angaben der Jewish Agency, in: Enzyklopädie des Holocaust...,a.a.O., Bd. III, S. 1512.

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Requiem - Die Namenlosen Flüchtlinge 274

besaßen entweder einen türkischen Paß oder waren mit dem Inhaber eines solchen

verheiratet. Bei mehreren Fällen stellte der Konsul jedoch gefälschte Dokumente

aus, so daß bei ihnen auch türkische Abstammung „nachgewiesen“ werden konnte -

dies war die Voraussetzung für ihre Freilassung. Dem damaligen Diplomaten wurde

für seine Rettungsaktion 30 und Verdienste um das Jüdische Leben in 1990 der

höchste israelische Orden „Hassit Umot ha´Olam“ zuerkannt.

Ich möchte betonen, daß ich in der politischen Haltung der türkischen Regierung

dieser Zeit an sich natürlich eine antisemitische Ausgangsposition erkenne. Ich weise

jedoch gleichzeitig darauf hin, daß zu der gleichen Zeit, sowohl in europäischen

Ländern wie Frankreich oder Polen als auch in benachbarten Balkanländern, noch

stärker und vor allem gewalttätig ausgeprägter Antisemitismus vorherrschte. Viele

Angehörige dieser Nationen beteiligten sich aktiv an der „Endlösung der Judenfrage“.

Ich möchte auch nicht mit einem “uniformen” Porträt die Türken dieser Zeit

dehumanisieren. Meine Kritik richtet sich in erster Linie an die türkische Regierung

und die Medien, die dieses Thema politisch verdrängt haben; auch nach dem Krieg

gab es keine öffentliche Diskussion über den Fall „Struma“ wie auch über die

allgemeine Rolle der Türkei in der Flüchtlingspolitik. Für mich ist es als Grund nicht

ausreichend, daß andere Länder auch eine restriktive Flüchtlingspolitik betrieben

oder die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 soweit wie möglich verdrängt haben.

Ich denke, daß jedes Land für seine eigene Geschichte die Verantwortung trägt.

Es ist jedoch in meinem Themenzusammenhang ein weiterer Aspekt zu beachten:

Die Türkei mißbrauchte auf dem Weg der Verdrängung dieser Zeit die deutschen

Wissenschaftler, die in ihrer Mehrzahl als Flüchtlinge in die Türkei gekommen waren.

Man zog es schlicht vor, sich hinter dem Mythos der Emigration der deutschen und

österreichischen Wissenschaftler zu verstecken. Mit der Aufnahme der

Wissenschaftler hatte die Türkei ihre Aufgabe erfüllt. Sie hatte für alle Zeiten eine

weiße Weste.

30 Dazu heißt es in einem Telegramm des Reichsbevollmächtigen für Griechenland: “Der Vertreter der Türkei war hierwiederholt vorstellig. Es gelang den SD zu bestimmen, den wiederholten Bitten des türkischen Generalkonsulatsentsprechend, die türkischen Juden für einen vom türkischen Generalkonsulat zusammengestellten Sammeltransport indie Türkei freizugeben.”, zitiert in: Max Münz, Die Verantwortlichkeit für die Judenverfolgungen im Ausland während dernationalsozialistischen Herrschaft, (ohne Ortsangabe) 1958.

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

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2 Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

Im Jahre 1998, also 65 Jahre nach der ersten Vermittlung von deutschen

Professoren durch die „Notgemeinschaft“ an die Universität Istanbul, ist an den

türkischen Universitäten die sogenannte Freiheit der Lehre und Forschung nicht

gewährleistet. Seit dem Militärputsch von 1980 mit ihren bleibenden Schäden und

gesellschaftlichen Folgen herrscht an den Universitäten und Hochschulen ein Klima

der Einschüchterung, Regression, Resignation und Leere. Ein umfangreicher Katalog

von Gesetzen, Institutionen und Disziplinarregeln, die zusammengefaßt in den

Artikeln 131 und 132 der Türkischen Verfassung verankert und festgeschrieben sind,

bestimmen und beeinflussen den Alltag an den türkischen Universitäten. Die Ursache

für diese Entwicklung liegt vordergründig gesehen in den Folgen des Militärputsches

von 1980: eine der härtesten Maßnahmen der Militärjunta galt den Universitäten und

bezweckte ihre Strangulierung. Nachdem vor allem die organisierte linke

Studentenschaft schon in den ersten Tagen nach dem Militärputsch mit

Massenexmatrikulationen und -verhaftungen (World University Service “WUS” ging in

einem Bericht von mindestens zehntausend wegen politischer Gesinnung

verhafteten Studenten aus31) kaltgestellt wurde, gingen die Machtinhaber dazu über,

die Lehrkräfte zu “disziplinieren”. Als erste Maßnahme wurde mit dem sogenannten

Gesetz Nr. 2547 am 11.11.1981 ein Hochschulgesetz erlassen, was sich für die

Hochschulangehörigen als dramatisch herausstellte. Mit dem Gesetz wurde über die

Universitäten ein sogenannter ’Hochschulrat (Yüksek Öğretim Kurumu - “YÖK”)

eingesetzt. Ich benutze hier die grammatikalisch fragwürdige Formulierung “über die

Universitäten” bewußt, weil dieser Rat als eine Institution über die Universitäten und

über ihre Mitarbeiter herrschen sollte. Zum Vorsitzenden des ’Hochschulrates’ wurde

Professor Ihsan Doğramacı, zu dieser Zeit Rektor der Universität Hacettepe in

Ankara, ernannt. Doğramacı war ein Schüler des deutschen Emigranten Albert

Eckstein und hatte bei ihm Kindermedizin studiert32. Der Rat bestand aus 24

Mitgliedern, acht von ihnen wurden direkt von dem Putschistenführer Kenan Evren

ernannt; die Restlichen waren indirekt von ihm abhängig, da sie ihr Amt ohne seine

31 Siehe dazu: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.4.1984.32 Mehr über Albert Eckstein und Ihsan Doğramacı ab Kapitel 3.1.3 dieser Arbeit.

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

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Zustimmung hätten nicht antreten können. Nach den Vorstellungen der

Herrschenden sollten Doğramacı und sein Rat darüber wachen, daß die

Vorlesungen, Seminare und wissenschaftlichen Forschungen im Einklang mit den

staatlichen Grundprinzipien abgehalten wurden - alles was der sogenannten

kemalistischen Staatsideologie zuwiderlief, sollte von der Universität entfernt,

gesäubert werden. Für die Putschisten waren die Universitäten, Nester der anti-

kemalistischen Konspiration und des kommunistisch gesteuerten Terrors. Der

Hochschulrat konnte in diesem Sinne Abteilungen an den Universitäten eröffnen oder

schließen, Fakultäten fusionieren oder teilen. In seinem Ermessen stand es, die Zahl

der Studenten und der Professoren zu bestimmen. Politische Betätigung wurde

sowohl für Lehrkräfte, als auch für Studierende verboten; Professoren durften nicht

einmal in Zeitungen und Zeitschriften nicht wissenschaftliche Aufsätze

veröffentlichen. Forschungsarbeiten wurden nur nach Kriterien des Rates zugebilligt.

Sogar die Reisen der Wissenschaftler wurden beschränkt; zu Kongressen und

wissenschaftlichen Symposien im Ausland durften nur Wissenschaftler hinfahren,

von denen sicher war, daß sie die Türkei “angemessen” vertreten würden.

Entlassung war das zentrale Disziplinierungsinstrument des Rates bzw. der im

Hintergrund bestimmenden Militärs. Der Rat war berechtigt, Professoren und andere

wissenschaftliche Mitarbeiter ohne Angabe substantieller Gründe, ohne

Untersuchung der Fälle und ohne das Recht auf Altersversorgung zu entlassen.

Maßnahmen, die Doğramacı und die anderen Mitglieder des Rates einleiteten,

reichten von detaillierten Vorschriften über die Bartform und -länge der Professoren33

und die Strumpfhosendichte der weiblichen Universitätsangestellten bis hin zu

Disziplinarverfahren. Zwischen November 1981 und 1984 wurden insgesamt 327

Professoren und Dozenten entlassen, 861 weitere reichten unter diesen

herrschenden Umständen “freiwillig” ihren Rücktritt ein.

Die Artikel 130 und 131, der von den Militärs diktierten und 1982 angenommenen

neuen Türkischen Verfassung34, hielten diese Maßnahmen fest und legitimierten sie

dadurch; die Grenzen der Lehre und Forschung wurden in der Türkei wieder neu

33 Die Militärs bzw. der Rat vermuteten hinter Vollbärten marxistische, hinter dichten Schnurrbärten stalinistischeSubversion; enge Hosen bei Frauen wurden als Einleitung zu Guerilla-Outfit interpretiert. So wurde zum Beispiel MeteTunçay, Professor für Geschichte, durch den Hochschulrat entlassen, weil er seinenVollbart nicht abschneiden ließ; erkonnte anschließend zeitweilig in Berlin als Gastprofessor an dem Otto Suhr Institut lehren.34 Trotz einiger Änderungen und Nachbesserungen bei bestimmten Artikeln in 1987 und 1995, ist die Verfassung von1982 im ganzen Umfang noch immer gültig, Vgl.: Die Türkische Verfassung, übersetzt und kommentiert von RudolfWedekind, Hammen 1984.

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

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definiert. Diese Artikel sind bis heute gültig und für den Hochschulalltag in der Türkei

ausschlaggebend35.

Nachtrag:

Am Anfang dieses Exkurses bezeichnete ich als die vordergründige Ursache für die

Situation des türkischen Hochschulwesens die Folgen des Militärputsches von 1980.

Gleichzeitig stelle ich jedoch die Frage, ob in der republikanischen Türkei die

Notwendigkeit der Universität als eine politisch unabhängige Institution überhaupt zur

Disposition steht - und zwar aus einer Kontinuität heraus. Die bis heute den

türkischen Hochschulalltag bestimmenden Maßnahmen nach dem Militärputsch von

1980 ff. sind ohne die Maßnahmen von 1933, 1961 und 1970 nicht realisierbar

gewesen. Der erste massive Eingriff in die politische Unabhängigkeit der Universität

erfolgte, wie ausführlich dargestellt, 1933 durch die Schließung der alten Universität,

Entlassung von nicht konformen Professoren und Einstellung von ausländischen

Lehrkräften.

Die zweite derartige Aktion erfolgte während der mit dem Militärputsch von

27.05.1960 eingeleiteten Phase durch das Komitee der Nationalen Einheit. Nach

einer Liste, die der Rektor der Istanbuler Universität Sıddık Sami Onar stellte, wurden

147 Professoren und Dozenten entlassen. Das Komitee warf ihnen vor, der

gestürzten Demokratischen Partei nahe gestanden und dadurch die kemalistischen

Prinzipien der Türkei mißachtet zu haben; ferner wurden Fakultäten geschlossen

oder fusioniert.

Nach dem Militärputsch von 12.3.1971 traf es wieder einmal linksgerichtete

Lehrkräfte und Studenten. Militäreinheiten verhafteten mit Duldung der

Universitätsleitung, in erster Linie in Ankara, hunderte von Professoren, Dozenten

und Studenten. Dabei ging es im Gegensatz zu den vorhergehenden Aktionen nicht

um eine zumindest auf dem Papier angestrebte “Reformierung” des

Universitätswesens, sondern um eine rein politische Säuberungsaktion. Während

gegen die wissenschaftlichen Lehrkräfte in den meisten Fällen politische Verfahren

eingeleitet wurden, exmatrikulierte die Universitätsleitung die verhafteten Studenten

wegen “Nichtteilnahme am Unterricht”.

35 Der Gesetzestext ist nachzulesen in: T.C. Anayasası,(Verfassung der Türkischen Republik), Istanbul 1995, S. 77 - 81(auf deutsch, Wedekind, a.a.O., S. 202 - 206).

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

278

Die Vorgehensweise der Militärregierung und des Hochschulrates nach 1980 ist in

dieser Tradition zu bewerten. Alle Entlassungsvorgänge haben gemeinsam, daß sie

sich gegen für den Zeitpunkt legitimierte Lehrstuhlinhaber und Lehrbeauftragte

richteten und die Autonomie der Universitäten angriffen. Das Ziel dieser staatlich

durchgeführten Aktionen war “die Prinzipien des Kemalismus in die Universitäten

hineinzutragen bzw. dort zu etablieren”, also ging es mit anderen Worten um eine

klare Indoktrination des Hochschulwesens. Im Fall der sogenannten Reorganisation

der Istanbuler Universität im Jahre 1933 wurde auch das Ziel anvisiert, durch die

Ersetzung türkischer Hochschulkräfte durch ausländische, meist deutschsprachige

Professoren, eine Abschirmung gegen innenpolitisch unerwünschte oder

unterdrückte Einflüsse zu erreichen. Daß die türkischen Hochschuleinrichtungen sich

durch die Universitätsreform von 1933 nach westlichem Muster verwandelten und

das wissenschaftliche Niveau des Studiums, der Studenten und der Forschungen

sich erhöhte, steht in diesem Zusammenhang gar nicht zur Diskussion und ist ein

unumstrittener Fakt. Ohne die wissenschaftlichen Beiträge der zumeist aus

Deutschland geflüchteten deutschsprachigen und anderer europäischer Professoren

und Lehrkräfte wären die türkischen Universitäten einen sicherlich langsameren und

mühevolleren Weg gegangen. Die Frage über den demokratischen Charakter des

Hochschulverständnisses ist aber von dieser Tatsache getrennt zu betrachten.

Hier ist zuerst festzuhalten, daß in der Kontinuität der Maßnahmen gegen die

wissenschaftlichen Fachleute, diese in der Regel auf sich allein gestellt, d.h. von den

nicht betroffenen wissenschaftlichen Fachleuten alleine gelassen wurden. Ich

erinnere mich sehr genau, daß 1983 eine große Anzahl von Professoren hinter den

Generälen standen und linksgerichtete Kollegen für den politischen und

wirtschaftlichen Zustand des Landes verantwortlich machten. Das Fehlen des

demokratischen Selbstverständnisses innerhalb des Universitätbetriebs führt

wahrscheinlich viel leichter zu Entsolidarisierung unter Universitätsangehörigen. Erst

die Entsolidarisierung ermöglicht den Zugriff der Autoritäten in an sich autonome

Strukturen.

Ich habe während der Recherche für meine Arbeit immer wieder und bei allen

deutschen Autoren, bei Zeitzeugen und Forschern, aber auch bei meinen

Gesprächen mit diesen, einen gemeinsamen Punkt festgestellt: nämlich die

Argumentation, daß die Universitätsreform, die das Exil der deutschsprachigen

Wissenschaftler in der Türkei überhaupt möglich machte, sich gegen Gegner des

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

279

Westens richtete und deshalb letztlich nicht zu hinterfragen ist. Hier wird meiner

Meinung nach ein Doppelstandard betrieben: das Schicksal politisch und rassisch

unliebsamer deutschsprachiger Professoren aus deutschsprachigen Universitäten

und Hochschulen in der nationalsozialistischen Zeit wird als Verfolgung des Geistes

und der Barbarei gegenüber der Freiheit der Lehre angesehen. Gleichzeitig wird aber

in der türkischen Dimension der ganzen Geschichte als Argument angeführt, durch

die Säuberung der Universität, d.h. durch die Verfolgung ihrer Art des Geistes hätte

sich die Qualität des akademischen Unterrichts gesteigert und sich dem westlichen

Standard angenähert. Gibt es eine berechtigte und eine unberechtigte Säuberung?

Ist die Säuberung in der Türkei berechtigt, nur weil die von ihr betroffenen

Professoren nicht “blind” die trunkene Identität des Westens übernehmen wollten? Ist

sie berechtigt, weil das Bestreben nach der westlichen Identität für ein islamisches

Land wichtiger ist (oder sein soll) als Demokratie? Oder muß man vielleicht eine

„westliche Brille“ aufsetzen, um die Doppelmoral in der ganzen Angelegenheit nicht

zu sehen?

Verfolgte deutschsprachige Professoren übernahmen die Lehrstühle von verfolgten

türkischen Professoren - das ist eine Realität, die nicht ausgesprochen,

ausgeschrieben worden ist. Ich wiederhole mich, mir geht es nicht darum, das Werk

und Leben der deutschsprachigen Flüchtlinge in der Türkei in Frage zu stellen.

Gerade die Mehrzahl der in dieser Arbeit erwähnten oder näher untersuchten

Wissenschaftler, haben in ihren Disziplinen teilweise lang anhaltende Erfolge erzielt

und erfolgreiche, wichtige Spuren hinterlassen. Es gelang ihnen, dem Aufbau ganzer

wissenschaftlicher Disziplinen den Weg zu weisen.

Ich will aber zugleich die Umstände ihrer Zuflucht in die Türkei nicht unerklärt lassen.

Ich denke, daß die deutschsprachigen wissenschaftlichen Flüchtlinge als Opfer der

Entsolidarisierung ihrer eigenen Gesellschaft und ihrer Universitäten anzusehen sind

- spätestens mit dem “Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten,

Hochschulen und Akademien zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat”36

36 Der Text und die Liste der Unterzeichner, u.a. Gottfried Benn, Martin Heidegger und Carl Schmitt, ist nachzulesen in:Harry Pross, Die Zerstörung der deutschen Politik, Dokumente 1871-1933, Frankfurt a. M. 1959, S. 100

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

280

vom November 1933 hatten sie keine andere Wahl, sich anzupassen oder ihre

Heimat zu verlassen. Auf der Suche nach einer Zufluchtsmöglichkeit, aus der sie

verdrängenden Gesellschaft in eine, die sie aufnimmt, übersahen sie jedoch, das sie

zu Nachfolgern von anderen Verfolgten wurden. Ihre Rettung besiegelte das Ende

von anderen.

Ich stelle weiterhin fest, daß die deutschsprachigen Flüchtlinge, die ja in erster Linie

wegen ihrer demokratischen Gesinnung geflüchtet waren, ihre Gesinnung aber nicht

in die Geisteswelt der Türkei hineingetragen haben. Hier setzt sogar eine

Enttäuschung über diese Menschen ein. Sie haben nichts gewagt, nichts von einer

politischen Energie gezeigt. Zwei-drei, die etwas herausgefordert haben, nicht mehr.

Der Rest blieb in der Banalität der politischen Verwüstung in der Türkei stecken.

Dabei waren sie doch die Menschen, die Werte der Aufklärung vertreten hatten und

deshalb, weil es in ihrer Heimat keine Humanität, keine Liberalität und keine Freiheit

mehr gab, dieses verlassen hatten. Sie hatten dadurch eine globale Verantwortung

für diese Werte übernommen. Sie haben sich verführen lassen von der Gemütlichkeit

des Geldes und der Wissenschaft.

Es ging mir darum, die Strukturen zu eruieren, innerhalb derer sie so und nicht

anders agiert haben. Wenn ich mich nicht bemühe, diese Strukturen zu begreifen,

begreife ich den Menschen in seinen Handlungsbeziehungen an sich nicht. Im

ganzen scheint mir ihr Verhalten sehr defensiv gewesen zu sein. Mir wäre eine

offensive Einstellung lieber gewesen. Die Problematik der Gewalt ist nämlich eine

universalistische und humanistische, und nicht nur eine deutsche.

Die deutschen Flüchtlinge versäumten mehrheitlich eine Art von „Aufklärung“, die

den Geist einer radikalen und offenen Kritik ermöglicht hatte, in die Universitäten

hineinzutragen.

Der Verdienst der Epoche der Aufklärung ist das Denken in Zeit. Sie wendet sich

gegen die Starrheit des Raumes, der sich gegen jede Veränderung sträubt. Subjekte

gehen nach der Aufklärung davon aus, daß es möglich ist, in der Zeit eine Bewegung

zu erreichen. Veränderung ist nur möglich in der Zeit. Dadurch, daß die meisten

deutschen Flüchtlinge in der Türkei mit ihren Gedanken und Gefühlen in der Heimat

waren, konnten sie ihren Raum nicht verlassen. Das Denken der Heimat, das

Denken der Eigentlichkeit ist ein Denken des Raumes, die Beharrungskraft des

Raumes. Vielleicht entstand deshalb keine eigentliche Interaktion zwischen ihnen

und der türkischen Problematik, auch nicht mit türkischen Kollegen. Die

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

281

Bewunderung der türkischen Akademiker für die wissenschaftlichen Erfolge der

Deutschen kann nicht mit einer gleichberechtigten Umgangsweise gleichgesetzt

werden. Vielleicht war es wirklich die falsche Zeit für das Gelingen einer Interaktion,

aber dadurch bedingt haben die Türken und die türkischen Intellektuellen zu keiner

Zeit das Schicksal der deutschsprachigen Flüchtlinge auch als ihr eigenes betrachtet.

Der Kampf gegen den Nationalsozialismus konnte deshalb in der Türkei nicht zu

einer Bewegung oder politischen Meinung aufwachsen. In der Türkei gab es keine

“Hilfs-Komitees” wie in vielen anderen Ländern des Exils, es gab weder Gesten noch

Taten. Es fehlte der erweiterte Blick. Kein Gedicht, keine Geschichte, keinen einzigen

Blick, der sich aus türkischer Sicht mit dem Schicksal der Flüchtlinge beschäftigte,

konnte ich ausfindig machen. Ich frage mich und stelle in diesem Zusammenhang die

Frage, was wichtiger und entscheidender ist: ein Universitätswesen, das

wissenschaftlich hervorragend ist, das sogenannte westliche Niveau durch aus dem

Westen transferierte Wissenschaftler erreicht, dafür aber einen hohen Preis zahlt, in

der Kontinuität einer Willkürherrschaft unterworfen ist und seine eigenen bedrohten

oder verfolgten Professoren und Studenten nicht verteidigen kann? Oder ein

akademisches Verständnis, das trotz und gerade wegen des vorherrschenden

Zustandes neben Chemie, Mathematik, Wirtschaft und Philologie auch die Prinzipien

der Rechtsstaatlichkeit, das Recht auf Meinungsfreiheit und vor allem den Respekt

auf die menschlichen Grundrechte verbreitet? Sowohl im Westen als auch im Osten!

Wenn es gelingt, die Universität als eine Institution zu betrachten, die für die

Gesellschaft übertragbare Funktionen hat und dadurch eine verantwortungsvolle

Ausstrahlung besitzt - warum werden sonst bei autoritären Systemen die

akademischen Einrichtungen und Akademiker an sich als erste ausgeschaltet - dann

gewinnt diese Frage noch mehr an Bedeutung und globaler Wichtigkeit.

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

282

Das Exil bietet eine schöne, pathetische oder dramatische Entfernung, ist günstig für

Urteile und für eine waisenkindhafte Heiterkeit gegenüber der eigenen Welt.

Jean Baudrillard

Paris

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Statt einer Zusammenfassung:Reine Wissenschaft II - Die Verführung

283

Epilog

Diese Arbeit entstand außerhalb der Türkei, in der deutschen Hauptstadt Berlin.

Doch Berlin ist mit seinen 150.000 Einwohnern aus der Türkei auch eine türkische

Stadt. Ich als Autor dieser Arbeit schrieb sie auf deutsch, nicht weil ich mit Berlin, mit

Deutschland kokettieren will, sondern weil ich die meiste Zeit auf Deutsch denke und

schreibe, weil Deutsch, die Sprache, die ich mit 12 Jahren in der Türkei zu lernen

begann, zu meiner Lebens- Denk- und Arbeitssprache geworden ist. Daß ich

dennoch, diese Arbeit schreibend, das Gefühl hatte, sie hier und jetzt schreiben zu

müssen, verdanke ich meiner Muttersprache Türkisch, die doch tief in meinem

Inneren sitzt, wie die liebevolle, manchmal von der Sehnsucht verklärte Erinnerung

an meine zu früh verlorene Großmutter.

Am Ende der ninetees, der Neunziger, in dieser Zeit, in der Xenophobie und

Rassismus weltweit latent sind, bleibt nur die Hoffnung, daß etwas von dem, was wir

in unserer Fremdsprache sagen, übersetzt wird in die eigene, und etwas von dem,

was uns in die Wiege gelegt wurde, in unsere Fremdsprache hineinfließt.

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Quellen- und Literaturverzeichnis 284

Quellen- und Literaturverzeichnis

Folgende Archive, Zeitungen/Zeitschriften, Bücher und Personen haben zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen

1 Archive

1.1 Türkei:

Archiv der Deutschen Schule, IstanbulArchiv Österreichisches Sankt Georg-Kolleg, IstanbulArchiv des Staatskonservatoriums in AnkaraArchiv des Staatskonservatoriums in IstanbulArchiv der Staatsbibliothek in IstanbulArchiv der Türkischen Gewerkschaftsvereinigung Türk-Iş, AnkaraArchiv des Türkischen Parlaments, AnkaraArchiv des Unterrichtsministeriums, Ankara.Bibliothek und Archiv der Universität IstanbulBibliothek und Archiv der Schule der Schönen Künste, IstanbulBibliothek des Deutschen Archäologischen Institutes in Istanbul

1.2 Deutschland

Archiv des Hindemith-Instituts, Frankfurt a.M.Archiv der Hochschule der Künste, BerlinArchiv der sozialen Demokratie, BonnArchiv des Sender Freies BerlinBundesarchiv Koblenz, Außenstelle Potsdam / BerlinExilarchiv der Deutschen Bibliothek, Frankfurt a.M.Institut für Zeitgeschichte, MünchenLandesarchiv, BerlinPolitisches Archiv des Außenministeriums, Bonn

Page 286: Dalaman, Cem - Die Türkei in ihrer Modernisierungsphase als Fluchtland für deutsche Exilanten

Zeitungen / Zeitschriften285

2 Zeitungen / Zeitschriften

2.1 Türkei

AR (Kunstzeitschrift)Arkitekt (Architekturzeitschrift)Bozkurt (Turanistische Wochenzeitschrift)Cumhuriyet (Kemalistische Tageszeitung)Çalışma (Organ der Türk. Gewerkschaft)Ekonomik Panaroma Dergisi (Zeitschrift für wirtschaftliche Perspektive)Felsefe Arkivi (Philosophiezeitschrift)Hürriyet (Konservative Tageszeitung)Hukuk Gazetesi (Juristische Zeitung)Iş (Zeitschrift für Arbeitsrecht)Milliyet (Linksliberale Tageszeitung)Müzik Dünyası ( Musikzeitschrift)Revue de la Faculte (Zeitschrift der Wirtschaftswissenschaftler)Sabah (Liberale Tageszeitung)Siyasal Bilgiler Fakültesi Dergisi (Zeitschrift der Politischen Fakultät)Tan (Tageszeitung)Tarih ve Toplum (Zeitschrift für Geschichte)Türk Ekonomisi (Wirtschaftszeitschrift)Türkische Post (Deutsche Tageszeitung)Ulus (Parteizeitung der RVP)Ülkü (Parteizeitung der RVP)

2.2 Deutschland

AbendAkzenteBulletins der BundesregierungEuropäische RevueEurospeed - Informationsbrief für EuropaabhängigeExil-Forschung, ErgebnisseFrankfurter Allgemeine ZeitungIllustrierte ZeitungInterpress KulturKölner Zeitschrift für Soziologie und SozialpsychologieDas KunstblattDer KurierMitteilungen des Seminars für Orientalische SprachenMündliche GeschichteDie MusikDie Neue ZeitungNeue Zürcher ZeitungSüddeutsche ZeitungSüdost-Europa-Mitteilungen, München

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Literaturverzeichnis286

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Eine Auswahl von in der Türkei erschienenenPublikationen der deutschen Wissenschaftler

Aster, Ernst von:- Felsefe Tarihi Dersleri I - Ilk ve Ortaçağ Felsefesi

(Vorlesungen über Philosophiegeschichte des Altertums und desMittelalters) Istanbul 1943

- Hukuk Felsefesi Dersleri (Vorlesungen über Rechstphilosophie),Istanbul 1943

- Bilgi Teorisi ve Mantık (Wissenschaftstheorie und Logik),Istanbul 1945

Auerbach, Erich:- Roman Filolijisine Giriş (Einführung in die romanische

Philologie), Istanbul 1944Belling, Rudolf:- Heykeltraşlık Sanatı (Kunst der Bildhauerei), AR, Nr. 3. 3/1937Eckstein, Albert:- Çocuk Hastalıkları Kitabı (Lehrbuch der Kinderkrankenheiten),

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der Kinder in der Türkei), Ankara 1947- Les conditions du vilage turc (in franz.), Ankara 1947Güterbock,Hans Gustav:- Hethitische Götterdarstellungen und Götternamen, Ankara 1943- Istanbul Arkeoloji Müzesinde Bulunan Boğazköy Tabletlerinden

Seçme Metinler (Ausgewählte Texte von Tontafeln aus Boğazköy imArchäologischen Museum Istanbul), Istanbul 1944

- Kumarbı Efsanesi (Die Legende von Kumarbı), Istanbul 1946Hirsch, Ernst E.:- Hukuki Bakımdan Fikri Sayı (Gewerblicher Rechtsschutz und

Urheberrecht), Istanbul 1942- Kara ve Deniz Ticaret Hukuku (Land- und Seehandelsrecht),

Istanbul 1944- Pratik Hukukta Metod (Rechtswissenschaftliche Methodenlehre),

Ankara 1948- Hukuk Felsefesi ve Hukuk Sosyoloji Dersleri (Rechtsphilosophie

und Rechtssoziologie), Ankara 1949Isaac, Alfred:- Işletme Iktisadı (Betriebswirtschaftslehre), Istanbul 1939- Işletme Iktisadı (Betriebswirtschaftslehre), 3 Bde., Istanbul 1940-44- Ticari Hesap ve Mali Cebir ( Wirtschaftliches Rechnen und

Finanzmathematik), 2 Bde., Istanbul 1940-44- Sigorta Işletmesi (Versicherungsbetriebslehre), Istanbul 1946Kessler, Gerhard:- Bakanlık için rapor (Rapport an das Ministerium), Istanbul 1938

Sosyoloji (Soziologie), übersetzt von Hikmet Saık, Istanbul 1934- Içtimai Siyaset (Sozialpolitik), übersetzt von Orhan Tuna, Istanbul 1945- Iş Kanunumuza Göre Grev ve Lokavt (Streik und Aussperrung nach

unserem Arbeitsgesetz ), Istanbul 1953

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(Ökonomische und soziologische Untersuchungen zurFinanzwissenschaft),Istanbul 1940

- Devlet Daire ve Müesseselerinde rasyonel çalışma esasları hakkındarapor (Rationalisierungsprinzipien in staatlichen Betrieben und Ämtern),Ankara 1949

Nissen, Rudolf:- Cerrahi Endikasyonlar (Chirurgische Indikationen, Istanbul 1938- Genel Şirürji Dersleri (Vorlesungen über Allgemeine Chirurgie),

Istanbul 1938Röpke, Wilhelm:- Iktisat Ilmi Nazari Kısım (theoretische Abhandlungen

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Literaturverzeichnis301

Gesprächspartner und Interviews

Robert Anhegger

Gad Beck

Murat Belge

Cornelius Bischoff

Sağlam Dalaman

Prof. Ernst Engelberg

H. und Ş. Ersin

Prof. Fahri Fındıkçıoğlu

Dr. Suat Gezgin

Aydın Gün

Prof. Rauf Inan

Prof. Rudolf Naumann

Prof.Fritz Neumark

Prof. Peter Neve

David Özmizrahi

Edzard Reuter

Schwester Rosalie

Muzaffer Seferoğlu

Ahmet Semih

Şeref Sigali

Arun Süreyya

Kadriye Yalvaç

u.v.a.