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Marjon van Dalen Kalifat oder Tod Ein Boko-Haram-Kämpfer begegnet Jesus Deutsch von Renate Hübsch .

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Marjon van Dalen

Kalifat oder TodEin Boko-Haram-Kämpfer begegnet Jesus

Deutsch von Renate Hübsch

.

Die niederländische Originalausgabe erschien unter dem Titel

„Kalifat of de Kogel“ bei SDOK (Stichting De Ondergrondse Kerk).

© 2015 SDOK

Bibelzitate folgen im Allgemeinen der Übersetzung Hoffnung für alle ®.

Copyright 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc.™. Verwendet mit

freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.

Um bestimmte Personen zu schützen,

wurden Namen und Ortsangaben zum Teil geändert.

Auch als E-Book erhältlich:

ISBN 978-3-7655-7404-7

© der deutschen Ausgabe: 2016 Brunnen Verlag Gießen

www.brunnen-verlag.de

Umschlagfoto: shutterstock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: Uhl +Massopust, Aalen

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-7655-4293-0

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Sie kamen in der Dunkelheit

Gegen elf Uhr abends schreckte Habila hoch. Durch die Vorhänge sah er eine Taschenlampe, deren Lichtkegel über die Wand des Schlafzimmers tanzte. Stimmen wa-ren zu hören. „Nigerianische Armee. Machen Sie auf!“ Vivian war sofort wach. Sie saßen aufrecht im Bett und sahen einander voller Angst an. Was nun? Habila sprang rasch aus dem Bett. Wenn die Armee vorbeikam, hatte man keine Wahl. Sie mussten die Tür öffnen. Vorsichtig suchte er sich seinen Weg zur Tür und drehte den Schlüs-sel um. Dann schlug der Terror zu. Habila fand sich Auge in Auge mit einer Gruppe Männern in schwarzen Sturmhauben und Kalaschnikows in den Händen. Sofort war ihm klar: Das waren keine Soldaten. Das war Boko Haram.

Vier maskierte Männer stürmten direkt ins Wohnzim-mer. Ein fünfter hielt draußen am Hoftor Wache.

Habila wich zurück. „Jesus!“, schrie Vivian auf, in Panik angesichts der nächtlichen Besucher.

„Wir kommen, um das Werk Allahs zu tun!“, schrie einer der Männer …

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Der Verräter

Bereits seit einiger Zeit hatte ich überlegt, ob ich mit Un-terstützern von Boko Haram Kontakt aufnehmen sollte. Bevor ich nach Afrika reiste, hatte ich versucht, Boko-Haram-Anhänger in den Niederlanden ausfindig zu ma-chen. Ich hatte nigerianische Organisationen angeschrie-ben und gefragt, ob sie mir Kontakte zu jemandem aus der Bewegung vermitteln könnten. Die Antworten waren enttäuschend: „Boko Haram hat keine offizielle Nieder-lassung oder offizielle Sprecher; auch wir hier haben kei-nen Kontakt zu der Bewegung.“ Oder: „Wir sehen nur die dramatischen Konsequenzen von Boko-Haram-Akti-onen; die Organisation selbst ist unsichtbar.“

Zu dem Zeitpunkt, als ich nach Nigeria kam, war dies der Stand der Dinge. Aber ich wollte meine Bemühun-gen noch nicht aufgeben. Denn ein Bericht, der nur die Aussagen von Opfern enthielte, würde mir unvollständig erscheinen. Ich würde, so beschloss ich, wenigstens ver-suchen, Vertreter von Boko Haram zu treffen. Wenn die Organisation selbst nicht zu packen war, redete ich mir selbst zu, dann doch sicher jemand, der die Gruppierung verlassen hatte. In Jos angekommen, betonte ich in jedem Erkundungsgespräch, dass bei allen Interviews selbstver-ständlich die Anonymität der Gesprächspartner gewahrt bliebe. Das rief gelegentlich ein müdes Lächeln hervor, aber ein paar Vertreter unterschiedlicher Organisationen versprachen mir, ihr Bestes zu tun – wohl eine reine Höf-

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lichkeitsfloskel. Ich musste noch auf einem anderen Weg versuchen voranzukommen, sagte ich mir, und beschloss, zuerst mit den Opfern zu sprechen.

Nach dem Frühstück war es Zeit für einen weiteren Besuch bei Habila. Mein Taxifahrer hätte mich inzwi-schen mit verbundenen Augen hinfahren können, so häu-fig war ich bereits in diesem Haus gewesen. Eine Frage brannte mir noch unter den Nägeln, die ich Habila bis-her nicht gestellt hatte: Hatte er je den Wunsch verspürt, den Mann, der in jener Novembernacht 2012 auf ihn ge-schossen hatte, ausfindig zu machen?

„Sie waren maskiert“, erklärt Habila. „Man konnte also nicht erkennen, mit wem wir es zu tun hatten. Aber es waren offensichtlich junge Männer und einige spra-chen mit einem leichten Akzent, waren also wahrschein-lich aus dem Ausland. Aber das galt nicht für alle.“ Er habe nie nachgeforscht, wer diese Männer waren, erklärt er, und er hält es auch für unnötig. „Ich empfinde kei-nen Hass für diese Jungs von Boko Haram, auch wenn sie mein Leben zerstört haben und das von vielen ande-ren aus meiner Gemeinde ebenfalls. Was ich empfinde, ist eher eine tiefe Traurigkeit für sie, eine Art Mitgefühl vielleicht.“

Vivian, die sich inzwischen zu uns gesellt hat, mischt sich jetzt mit einem weiteren Detail ins Gespräch ein. Einer der Boko-Haram-Kämpfer hat ihr in der Nacht des Überfalls einen deutlichen Hinweis gegeben. „Diese Schuhe haben uns zu eurem Haus geführt“, hatte er ge-sagt und auf ein Paar Sandalen gewiesen. Vivian war schockiert gewesen, denn sie hatte sofort erkannt, dass

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die fraglichen Schuhe einem jungen Mann aus ihrer eige-nen Gemeinde gehörten. Er war unverheiratet, wohnte in der Nachbarschaft und war recht labil.

„Ich weiß genau, dass er es gewesen ist“, erzählt Vivian, „denn ich habe ihn gut gekannt. Nach diesem Abend ist er verschwunden und seitdem gibt es von ihm keine Spur. Vielleicht schämt er sich zu sehr und wagt es nicht, sich in Potiskum sehen zu lassen. Er hat immerhin den Mord an zwölf Männern auf dem Gewissen.“

Nachbarn bestätigen später, was Vivian wahrgenom-men hat. Sie haben gesehen, wie der junge Mann aus dem Haus gezerrt und mit vorgehaltener Kalaschnikow gezwungen wurde, die Häuser seiner christlichen Brüder und Schwestern zu verraten. Und das stimmt mit der Be-merkung überein, die einer der Angreifer gemacht hatte. Habila und Vivian wissen also, dass sie von jemandem aus den eigenen Reihen verraten worden sind.

Dieser Gedanke schmerzt umso mehr, als der junge Mann regelmäßig bei ihnen zum Essen eingeladen ge-wesen war. In unserem Gespräch entsteht ein schmerz-erfülltes Schweigen. Ich beginne gerade erst zu erahnen, wie tief die Wunden sind, die dieser Konflikt schlägt. Der Same der Angst wird in enge zwischenmenschliche Be-ziehungen gesät; Menschen werden gegeneinander aus-gespielt. Vertrauen wird von Misstrauen verdrängt. Spal-tungen zersetzen ein nachbarschaftliches Miteinander. Wie lange wird es dauern, bis die Parteien den Argwohn gegeneinander überwinden? Eine ganze Generation? Oder sogar zwei?

Ich frage Habila und Vivian, was es für sie bedeutet zu

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wissen, dass jemand aus ihrer eigenen Gemeinde sie ver-raten hat. „Man hat ihn ja auch bedroht“, sagt Vivian. „Ich habe mich gefragt, was ich an seiner Stelle getan hätte. Er war kein starker Charakter; ich glaube, ihm blieb gar nichts anderes übrig. Und genau deshalb haben die Boko-Haram-Leute ihn sich vermutlich auch ausge-sucht.“

„Aber“, versuche ich es noch einmal mit anderen Wor-ten, „ist das nicht eine sehr bittere Pille?“

Vivian muss einen Augenblick überlegen. „Natürlich, man hat schon schwer zu schlucken. Aber ich habe schon einen Tag nach dem Überfall einen Entschluss gefasst: Ich habe bewusst versucht, diesem jungen Mann zu ver-geben. Hätte ich das nicht getan, dann hätte mich mein Leben lang die Bitterkeit zerfressen. Und das wäre eine unerträgliche Last gewesen. Mir war sehr bewusst, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihm zu vergeben – nicht zuletzt auch im eigenen Interesse.“

Monate nach seiner Genesung hat Habila ein paar-mal versucht, von Jos aus den jungen Mann ausfindig zu machen. Aber das blieb ohne Erfolg. Also lud Habila einen Cousin seines Verräters zu sich ein. „Als er kam“, erklärt er, „war er ganz schön nervös; er wusste nicht, was er von dieser Einladung halten sollte. Ich sagte ihm, ich wolle ihm nur eine Botschaft für seinen Cousin mit-geben, für den Fall, dass er ihn je wieder zu Gesicht be-kommt: Ich habe ihm vergeben, was er getan hat, und ich hege keinen Groll gegen ihn. Und ich hoffe, dass er den Weg zurück zu Gott findet.“

Habilas Einstellung zum Leben hat sich seit seiner Ge-

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nesung sehr verändert, berichtet er. „Ich habe beschlos-sen, dass ich mich von jetzt an auf die Dinge konzent-riere, auf die es wirklich ankommt. In gewissem Sinn ist es seit dem 28. November 2012 leichter geworden, das zu beurteilen: Alles, was ich bis dahin für eine Sicherheit gehalten hatte, war mir aus den Händen geschlagen wor-den. Das Land, das mein Vater mir hinterlassen hatte, be-saß ich nicht mehr. Auch mein Haus nicht. Und einen Job ebenfalls nicht.“

Habila und Vivian haben all ihren irdischen Besitz in Potiskum zurückgelassen, um ihren Sohn David in Sicher-heit zu bringen, nach Jos. Für Boko-Haram-Leute, erklärt Habila mir, ist es eine Frage der Ehre, dass sie zu Ende bringen, was sie angefangen haben. „Wenn sie Wind da-von bekommen, dass ich noch am Leben bin, werden sie tun, was in ihrer Macht steht, um mich aufzuspüren und mir den Schuss zu verpassen, der mich dann wirklich um-bringt. Wir sind jetzt etwas länger als ein Jahr hier und haben versucht, so unauffällig wie möglich hier zu leben. Gute Freunde wissen, wo sie uns finden können. Wenn sonst jemand anruft und mich fragt, wo ich bin, sage ich, ich sei in Abuja oder in Lagos. Man weiß nie, wer am anderen Ende noch mithört. Aber ich habe keine Angst vor dem Tod.“ Habila hält inne und sein konzentrierter Blick scheint nach innen zu gehen. „Eigentlich bin ich schon tot. Lesen Sie Paulus, er sagt das auch von sich, im Galaterbrief. Christus ist es, der in uns lebt. Und das ist auch meine eigene Erfahrung. In der Taufe sterben wir uns selbst und werden mit Christus auferweckt.“

„Ich habe dem Tod ins Auge gesehen und gespürt, wie

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es ist, wenn das Leben am seidenen Faden hängt“, fügt Habila hinzu. „Ich hatte jegliche Macht über mein eige-nes Leben verloren. Ich habe eine ganze Nacht in mei-nem Wohnzimmer auf dem Fußboden gelegen, ohne dass jemand zu Hilfe kam. Ich hatte keine Kontrolle darüber, was geschah. Ich war überzeugt, ich würde sterben – aber Gott hatte entschieden, mir das Leben noch einmal zu schenken. Ich verstehe sehr genau, dass mein Leben in seinen Händen liegt. Und deshalb kann ich ohne Angst leben; wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich gehen. Das muss Gott entscheiden. Bis dahin versuche ich, seine Liebe weiterzugeben, auch an die Menschen, die Gott hassen. ,Liebt eure Feinde‘, heißt es im Wort Gottes. Das können wir uns nicht aussuchen; es ist ein Muss.“

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Drei Jahre bei Boko Haram

„Angst und Zwietracht säen – das ist die entscheidende Waffe von Boko Haram. Sie zerstören unsere Gemein-schaft. Die Menschen wagen es kaum noch, einander zu vertrauen.“ Diese Worte eines nigerianischen Chris-ten, der viele Opfer der Gewalt unterstützt hat, gehen mir nicht aus dem Kopf. Je länger ich darüber nach-denke, umso überzeugter bin ich, dass sie einen wahren Kern enthalten. Die extrem brutalen Morde, die Boko Haram begeht, sind entsetzlich genug; aber die unsicht-baren Wunden, die sie dem Netz der Verbundenheit in einer Gemeinschaft zufügen, sind noch weitaus größer. Wenn Menschen einander nur noch misstrauen oder so-gar dahin kommen, dass sie sich hassen, hat das viel weit-reichendere Konsequenzen. Das sind Wunden, die Jahre brauchen, um zu heilen, vielleicht auch ein ganzes Leben. Später am Tag werde ich einem Mann begegnen, der da-für ein besonders trauriges Beispiel ist.

Ja, ein zweiter ehemaliger Boko-Haram-Kämpfer ist bereit, mit mir zu reden. Die Nachricht, dass er seine Lebens geschichte erzählen möchte, hat mich auf indirek-tem Weg erreicht. Es ist wirklich ein seltener, guter „Zu-fall“, dass wir nun einen zweiten Augenzeugenbericht über das Leben bei Boko Haram bekommen werden, der das Gesamtbild abrunden kann.

Habila will mich unbedingt begleiten. Bevor wir uns auf den Weg machen, gibt man uns zu verstehen, dass

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Vorsicht angebracht ist. Auch dieser Gesprächspartner ist jemand, dessen Leben in Gefahr geraten könnte, wenn die falschen Leute herausfinden, dass es ihn noch gibt.

Da wir im Vorfeld kaum Informationen bekommen haben, können wir uns nicht genau vorstellen, was wir von dieser Begegnung erwarten sollen. Habila ist ange-spannt. Es ist auch für ihn erst das zweite Mal, dass er ein direktes Gespräch mit einem ehemaligen Boko- Haram-Kämpfer führt. Die brennende Frage, auf die wir beide eine Antwort suchen, ist: Wie kam es dazu, dass der Mann sich mit einer so extremistischen Bewegung ein-gelassen hat, die bedenkenlos jeden ermordet, der andere Überzeugungen hat als sie selbst? Was war es, das ihn an Boko Haram anfänglich angezogen hat?

Habila trägt heute seine traditionelle weiße Hemd-tunika. Am Morgen hat er sich noch mehr Zeit als sonst zum Beten genommen. Wir steigen in ein Taxi, und als wir die Adresse erreichen, die man uns genannt hat, er-wartet uns ein unsicherer junger Mann neben den eiser-nen Toren eines Hotels. Er kann kaum über dreißig sein. Nichts an seinem Erscheinungsbild weist auf brutale Gewalttätigkeit hin. Eigentlich sieht er eher aus wie ein Traum-Schwiegersohn: gepflegtes Haar, sehr gut geklei-det. Er wirkt nervös, und als er uns die Hand gibt, schaut er sich unruhig um. Unablässig beobachtet er die Umge-bung, ob sich dort irgendetwas Auffälliges zeigt.

Nachdem er uns begrüßt hat, geht er uns voran durch das Eisentor. Im weitläufigen Garten des Hotels suchen wir uns ein ruhiges Fleckchen, wo wir uns setzen können.

Der Mann stellt sich selbst als Bahdri vor. Ihm liegt

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daran, Habila, einem Landsmann, den er mittlerweile als Bruder ansieht, von seinem Leben zu berichten. Bahdri, der ausgezeichnet Englisch spricht, erwähnt, dass er Christ geworden ist. Was genau ihn dazu veranlasst hat, uns seine Geschichte zu erzählen, führt er nicht aus. Spä-ter haben wir den Eindruck, dass der Schmerz, den er mit sich herumträgt, einfach zu groß ist, als dass er ihn allein tragen kann. Schon die einfachste Frage, die wir stellen, scheint zu wirken, wie wenn man den Deckel von einem alten Dampfkochtopf hebt: ein gewaltiger Wortschwall ergießt sich über uns. Bahdris Worte zeugen von einer tie-fen inneren Qual, die man fast körperlich spüren kann.

„Es war eine Falle. Jemand, von dem ich dachte, ich könnte ihm vertrauen, hat mich verraten. Er brachte mich in ein geheimes Trainingslager von Boko Haram im Norden des Landes. Ich musste Menschen töten, wenn ich selbst am Leben bleiben wollte. Hätte ich mich gewei-gert, hätten sie mich umgebracht. Es war töten oder getö-tet werden. Am Ende habe ich Menschen abgeschlachtet wie Hühner.“

Drei Jahre hat Bahdri bei den Boko-Haram-Terroris-ten verbracht. Aus allem, was er berichtet, wird deutlich, dass man ihn dort einer Art Gehirnwäsche unterzogen hat. Die unglaubliche Brutalität, in der er sich gefangen sah, hat in seinem Leben unauslöschliche Spuren hinter-lassen. Er hatte, so sagt er selbst, in dieser Zeit sich selbst völlig verloren. „Ich war wie ein wildes Tier; ich konnte nur noch auf Befehl handeln. Ich konnte nicht mehr selbstständig denken und meine Gefühle waren völlig taub. Die Menschen schrien und flehten mich an: ,Bitte,

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lass mich am Leben!‘ Aber ich habe einfach weiterge-macht. Männer, Frauen, Kinder – es gab für mich keinen Unterschied. Jeder, der ins Zielfernrohr meines Gewehrs geriet, war verloren. Sie waren schließlich Christen. Man musste sie loswerden. Das hatte man uns jedenfalls bei-gebracht.“

Bahdri hatte einen strengen Islam bereits mit der Mut-termilch aufgesaugt. Sein Vater war in der muslimischen Gemeinde ein einflussreicher Mann. Bahdri wuchs mit der tiefen Überzeugung auf, dass der Islam die einzig wahre Religion ist. Von frühester Kindheit an wurde ihm eingetrichtert, dass die Christen einem falschen Glau-ben anhingen. In seiner ganzen Jugend hat Bahdri von keinem Menschen je etwas anderes gehört. „Zu Weih-nachten kamen einmal christliche Nachbarn zu uns und brachten uns ein paar Weihnachtsleckereien. Wir haben sie höflich angenommen, aber mein Vater bestand spä-ter darauf, dass wir alles durch die Toilette wegspülten. ,Muslime sind besser‘, hat er gesagt. ,Wir essen keinen einzigen Bissen, der von Christen zubereitet wurde.‘“

Seinen Vater beschreibt Bahdri als eine Führungsper-sönlichkeit mit sehr hohen Idealen. Ihm ging es darum, junge Menschen dazu zu befähigen, den „wahren Islam“ zu verbreiten. „Ich war bereits in der Mittelschule“, be-richtet er, „als in unserem Bundesstaat Spannungen zwi-schen Christen und Muslimen aufkamen. Ziemlich rasch trieb man dann eine beträchtliche Anzahl junger Mus-lime aus dem Tschad auf, die über die Grenze kamen, um sich an den Christen zu rächen. Muslimische Jugend-liche zogen mit Waffen und Knüppeln durch die Straßen.

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Mein älterer Bruder war auch dabei. Einige Polizeibe-amte wurden getötet. Auch Christen wurden ermordet, so viel weiß ich noch, und eine Kirche wurde zerstört.

Später war mein Vater der Meinung, ich sollte die Be-wegung leiten. Ich war sein Augapfel. ,Der Islam ist die Wahrheit. Christen sind Ungläubige‘, das sollte ich mir immer vor Augen halten, sagte er. Ich habe ihm geglaubt. Natürlich. Schließlich war ich sein Sohn. Und woher hätte ich es auch besser wissen können? Wir kamen ja nie in Kontakt mit Christen.“

Bahdri spricht jetzt davon, wie tief verwurzelt der Hass gegen jeden, der nicht Muslim war, damals in ihm gewe-sen sei. „Schon als Teenager habe ich beschlossen, kei-nem Christen mehr die Hand zu geben. Ich wollte nichts mit dem Christentum zu tun haben. Es war schließlich eine Lügenreligion.“

Bahdri fiel das Lernen leicht und er immatrikulierte sich an einer Universität für das Jurastudium. Er lernte andere Studenten kennen. Mit einer Gruppe von jungen Männern beschloss er, freitags nach dem Moscheegebet mit einem großen Megafon durch die Straßen zu ziehen und den „wahren Islam“ zu predigen. Nicht selten führte das zu Unruhen und Krawallen. „Manchmal packte mich sogar Zorn auf meine muslimischen Brüder, wenn sie unsere Religion nicht ebenso ernst nahmen wie ich. Ich dachte damals, wir Fulanis sollten allen ein Vorbild sein.“

In seinem ersten Jahr am College geschah noch etwas: Bahdri lernte einen christlichen Mitstudenten kennen; sie teilten nämlich das Zimmer. „Keines der Vorurteile gegenüber Christen, mit denen ich groß geworden war,

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traf auf ihn zu. Das hat mich nachdenklich gemacht.“ Zwischen den beiden jungen Männern entwickelte sich sogar eine enge Verbundenheit. Sie schrieben ihre Semi-nararbeiten gemeinsam und diskutierten auch über ihre religiösen Überzeugungen. Nach außen hin vertrat Bah-dri weiterhin die Meinung, der Islam sei der einzig rich-tige Weg. Aber innerlich plagten ihn heftige Zweifel. Er entdeckte, wie viele ansprechende Züge der christliche Glaube besaß.

Dann hatte er einen Traum, der ihn beunruhigte. „Ich sah einen ganz in Weiß gekleideten Mann, der zu mir sagte: ,Verlass den Weg, dem du jetzt folgst.‘ Drei Nächte hintereinander hatte ich immer genau den gleichen Traum. Es warf mich völlig aus der Bahn. Was konnte dieser Traum bedeuten?“ In seiner Ratlosigkeit erzählte er seinen Eltern den Traum. Sie rieten ihm, oft in die Moschee zu gehen und viel zu beten. Man gab ihm sogar Wasser zu trinken, in das Koranverse eingetaucht wor-den waren. Anscheinend nützte das wenig. „Wenig spä-ter hatte ich einen schlimmen Albtraum: Ich wurde von wilden Tieren verfolgt, die mich in Stücke reißen wollten. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit diesen Träumen an-fangen sollte. Sie trieben mich zur Verzweiflung und ich wurde depressiv.“

Da alle anderen Ratschläge ihm nicht geholfen hat-ten, beschloss Bahdri, seinem Zimmerkollegen von sei-nen Träumen zu erzählen. Der hörte aufmerksam zu und schlug dann vor, dass Bahdri sich mit dem Pastor seiner christlichen Gemeinde treffen sollte. „Im Schutz der Dun-kelheit bin ich hingegangen, damit es geheim blieb. Es

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war nicht ungefährlich. Wenn meine Familie davon er-fuhr … Ich erzählte dem Pastor meine Träume. Er sagte, es könne sein, dass Jesus selbst durch diese Träume zu mir sprach, um mich zu warnen. Ich war perplex: Wie konnte ein toter Prophet im Traum zu mir sprechen? Trotzdem bat ich um ein weiteres Gespräch. Das führte dann dazu, dass ich drei Wochen lang jeden Abend zu diesem Pastor ging. Wir sprachen eingehend über den christlichen Glau-ben und über die Bibel. Am Ende war ich überzeugt, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Ich wurde Christ und ließ mich heimlich taufen.“

Für Bahdri bedeuten seine Konversion und seine Taufe einen Wendepunkt in seinem Leben. Aber der äußere Ver-lauf dieses Lebens sollte bald eine noch dramatischere Wendung nehmen.

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Bittere Tränen

Bahdri hat eine Lebensgeschichte, wie die meisten Men-schen sie sich nur schwer vorstellen können. Mehr als einmal hat er sich an Orten wiedergefunden, die er kei-neswegs selbst gewählt hätte. Genau im falschen Moment war die Weiche umgestellt worden und der Zug donnerte weiter. Bahdris Geschichte macht schmerzhaft deutlich, dass in unserem Leben Mächte am Werk sein können, auf die wir nicht den geringsten Einfluss haben.

An Bahdris Händen klebt Blut. Aber ich kann in die-sem Moment nicht anders, als mich zu fragen: Hätte ich an seiner Stelle anders gehandelt? Da bin ich keineswegs sicher. Es ist leicht, aus der Distanz über Boko Haram zu urteilen. Aber hier sitzt mir ein lebendiger Mensch in sei-ner ganzen Verletzlichkeit gegenüber.

Bahdri wählt seine Worte sehr sorgsam. Immer wieder unterbrechen tiefe Seufzer seinen Bericht. Man hat den Eindruck, als laufe vor seinem inneren Auge der Film sei-nes Lebens noch einmal ab.

Zu Beginn erzählte Bahdri seiner Familie kein Wort über seine Konversion. Dann kam ein jüngerer Bruder einmal zu Besuch in sein Studentenzimmer und entdeckte eine Bibel. Die Dinge gerieten aus dem Ruder. Die Familie er-fuhr von seinem Glaubenswechsel und Bahdri geriet in Panik. Er suchte den Rat seines Pastors und auch der war der Meinung, er müsse fliehen. Bahdri kannte seine Fa-

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milie gut genug, um zu wissen: Sie würden sich nie damit abfinden, dass er sich vom Islam abgewandt hatte. Der Pastor besorgte ihm in einer anderen Stadt einen Ort, an dem er erst einmal untertauchen konnte. Dort besuchte Bahdri einen Glaubenskurs, um sich mit dem christlichen Glauben besser vertraut zu machen.

Einige Monate später tauchten zwei seiner Brüder auf der Straße auf und nahmen ihn in die Mangel. „Sie frag-ten: ,Bist du Christ geworden?‘ Ich leugnete es nicht. Das werde Konsequenzen haben, drohten sie.“ Unter Ge-waltandrohung nahmen seine Brüder ihn mit. Bahdri machte sich keine Illusionen darüber, in was für einer Situation er war.

Die ganze Familie war in seinem Elternhaus versammelt. Man stieß Bahdri in die Mitte des Kreises. „Alle waren da: mein Vater, meine Mutter, Brüder, Schwestern, Cousins. Mein Vater nahm die Dinge in die Hand. Er fragte mich, ob es wahr sei, dass ich Christ geworden war.“

Bahdri entschied sich, die Sache kurz zu machen, und bekannte öffentlich, dass das der Fall war. Es war, als hätte man eine Bombe gezündet. „Ich saß auf dem Fuß-boden in der Mitte zwischen meinen Verwandten und sie stritten heftig darüber, welche Strafe mich treffen und ob ich überhaupt am Leben bleiben sollte.“

Nach einer hitzigen Debatte verkündete sein Vater für alle hörbar das Urteil: Falls sein Sohn bei seiner Ent-scheidung blieb, sollte er sterben. Seine Mutter brach in Tränen aus und bat um Milde. Bahdris Schwester, die Juristin war, setzte sich dafür ein, dass man ihm die vor-geschriebene Bedenkzeit gewähren sollte.

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Dieser Vorschlag fand schließlich Zustimmung. Bahdri erhielt zwei Wochen Zeit, Vernunft anzunehmen und sei-nem neuen Glauben abzuschwören. Sein Vater schloss ihn eigenhändig im Keller ein. Er erhielt kaum genug zu trinken und fast nichts zu essen. Dann half eine jüngere Schwester ihm zu fliehen. „Ich weiß nur noch, dass ich rannte, rannte, rannte – ich rannte fort von zu Hause, so weit fort, wie ich nur konnte.“

Nach Stunden der Flucht beschloss er, in einer Kirche Schutz zu suchen. Aber seiner Beteuerung, dass er Christ sei und in Lebensgefahr schwebe, glaubte niemand. Eine zweite und auch eine dritte Gemeinde verschlossen ihm ihre Türen. Niemand glaubte, dass er ein Bruder im Glau-ben sein konnte. „Ich habe die typischen Gesichtszüge der Fulani“, erklärt Bahdri. „Und in Nigeria weiß jeder, dass die Fulani Muslime sind.“

Schließlich traf Bahdri einen Mann, der ihm ver-trauens würdig vorkam. Der bot ihm an, Bahdri könne erst einmal ein paar Tage bei ihm wohnen. „Aber wo-hin hat er mich gebracht? Auf ein umzäuntes offenes Gelände, auf dem ein paar verstreute Gebäude standen. Als ich fragte, wo wir seien, antwortete er nur: ,Keine Sorge, wirst du schon sehen.‘“ Bald wurde die entsetz-liche Wahrheit klar: Er war in eine Falle getappt. Er be-fand sich in einem Trainingslager von Boko Haram!

Auf dem Gelände hielten sich jede Menge junger Män-ner zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig auf. Bahdri schätzte, dass mehr als hundert Männer hier zusammen waren. Sie kamen nicht nur als Nigeria, sondern auch aus dem Tschad und aus dem Niger. Es herrschte ein stren-

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ges Regiment. „Die Atmosphäre war schrecklich. Wieder nichts als Hass, Hass, Hass …“ Die Kämpfer mussten je-den Vormittag Koranverse rezitieren.

Bahdri greift sich mit beiden Händen an die Brust, um zu unterstreichen, was für fanatische Ideologen die Koran lehrer waren. „Diese Männer gingen ganz in ihrem Glauben auf. Aber ihr Glaube war der einzige, den es ge-ben durfte. Das war meine frühere Umgebung, das Um-feld, von dem ich mich entfernt hatte.“

Fragen oder Erwiderungen wurden nicht geduldet. Es war verboten, das Camp zu verlassen. Kontakt zur Außen welt war unmöglich. Jeden Nachmittag stand die militärische Ausbildung auf dem Programm. Die jungen Männer erhielten Uniformen und Stiefel und jeden Tag gab es Schießübungen. „Wer das Ziel traf, war der Fa-vorit des Tages. Es gab Applaus und Extrarationen beim Essen.“

Das Training wurde ideologisch unterfüttert: „,Schaut euch doch an, was die Amerikaner machen und die Israe-lis‘, sagte man uns. ,Sie hetzen die Christen gegen uns auf und rüsten sie mit allem aus, was sie brauchen, um gegen uns zu kämpfen. Wir spielen einfach nur dasselbe Spiel.‘“

Anfangs war Bahdri im Camp verzweifelt und zutiefst unglücklich. Er wollte um keinen Preis hier sein, aber an Entkommen war nicht zu denken. Doch als die Zeit ver-ging, packten ihn Zweifel. War es wirklich klug gewe-sen, Christ zu werden? Hatte er sich richtig entschieden? Er fragte sich, warum der Gott der Bibel nichts tat, um ihn aus diesem elenden Lager herauszuholen. Vielleicht war auf Jesus ja doch kein Verlass? Schließlich hatte er

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Bahdri offensichtlich nicht davor bewahren wollen, hier zu enden. Oder er hatte es nicht gekonnt …

Inzwischen war Bahdri ein guter Schütze geworden. Eine Feuerwaffe in der Hand war für ihn der reinste Kraftschub; er fühlte sich dann wichtig und bedeutend. Nach drei Monaten sagte man den jungen Männern, der Tag sei gekommen, ihre tödlichen Fertigkeiten in der wirklichen Welt zu vervollkommnen. Man verlud sie auf Lastwagen und fuhr sie an einen Ort, den Bahdri als „tie-fen, dunklen Wald“ beschreibt. Später fand er heraus, dass sie in Sambisa waren, einem abgelegenen Winkel im Nordosten Nigerias.

Gleich nach der Ankunft erhielten sie ihre Befehle. Jeder Christ, auf den sie stießen, war auf der Stelle umzu-bringen. Christen waren Schweine; sie waren keine Men-schen. Die Miliz begann das Pogrom in den umliegenden Dörfern. Anfangs suchte Bahdri nach Wegen, sich mög-lichst aus dem Blutvergießen herauszuhalten. Aber der Druck durch die anderen war hoch und letzten Endes konnte niemand es vermeiden mitzumachen. Er musste anfangen, ebenfalls abzudrücken.

Er wollte nicht töten, aber er war dazu gezwungen. „Niemand von uns wollte es tun“, sagt er. „Wenn wir ein Haus überfielen und es umzingelten, wurde immer im Voraus festgelegt, wer schießen musste. Keiner von uns machte das gern.“

Die Kämpfer entwickelten ein System der „gerech-ten Lastenverteilung“, um sicherzustellen, dass niemand mehr Menschen töten musste als der andere.

Was für eine Ironie, muss ich denken: Sie bewahrten

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untereinander einen Sinn für Fairness angesichts einer Situation, die an Ungerechtigkeit und Willkür anderen Menschen gegenüber nicht zu überbieten war.

In den Tagen, bevor wieder ein Überfall stattfinden sollte, stachelten die Kommandeure im Lager ihre Trup-pen zum Töten auf, indem sie die Essensrationen klein hielten.

„Wenn wir hungrig waren, sagten sie, sollten wir eben noch ein bisschen zusätzliche Beute machen: Lebensmit-tel oder Dinge, die sich verkaufen ließen. Ich hatte keine Wahl. Wenn ich überleben wollte, musste ich essen. Und das hieß: Ich musste töten. Sich zu weigern, war keine Option. Wer sich den Regeln im Lager widersetzte, be-kam eine Kugel in den Kopf. Mehr als einmal habe ich erlebt, dass jemand wegen irgendeiner Regelverletzung von der Lagerleitung erschossen wurde. Es gab für mich nirgends eine Zuflucht und ich musste mitmachen. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran“, fügt er hinzu, fast als wolle er sich rechtfertigen. „Es klingt vielleicht irrsin-nig. Aber man kommt an einen Punkt, an dem der Mord an einem Menschen nichts anderes mehr für einen ist, als ob man einem Huhn den Hals umdreht. Für uns war das nicht länger ein Verbrechen.“

Die nigerianische Armee bedeutete keine ernsthafte Gefahr für die Boko-Haram-Kämpfer: „Sie hatten viel zu viel Angst vor uns und versteckten sich in irgendeinem Schlupfwinkel, bis wir unsere Operation beendet hatten. Erst wenn wir abzogen, tauchten sie wieder auf“, berich-tet Bahdri.

Auf Befehl ihrer Anführer ermordeten die Boko-

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Haram-Kämpfer unschuldige Menschen, steckten ihre Häuser in Brand, raubten Lebensmittel und andere Güter aus den Dörfern. Als Bahdri sah, wie viele Menschen Boko Haram in diesen entlegenen nigerianischen Dörfern umbrachte, schloss er daraus, dass Allah vielleicht doch auf ihrer Seite war.

Es blieb bei diesen gemischten Gefühlen, sein Glaube an Jesus trat in den Hintergrund. Er war sich sicher, dass es keinen anderen Weg für ihn gab, das Lagerregime zu überleben, als sich an ihrem Tun zu beteiligen.

An diesem Punkt unterbricht Bahdri seine Geschichte und senkt den Kopf. Es fällt ihm sichtlich schwer wei-terzusprechen. Mit einem tiefen Seufzer nimmt er sei-nen Bericht wieder auf; die schwere Last, die er auf den Schultern trägt, kann man fast sehen. „Ich habe viele Menschen getötet. Die genaue Zahl weiß ich nicht. Je-denfalls waren es mindestens acht.“ Voller Scham weicht er meinem Blick aus, als er das sagt. Ich habe den Ein-druck, dass er die wahre Anzahl nicht nennen will, dass er es vielleicht nicht wagt.

Mehr als einmal stießen sie bei ihren Überfällen auf erheblichen Widerstand von Dorfbewohnern. Manch-mal schritt auch die Polizei ein. Bahdri wurde Zeuge, wie einige seiner Boko-Haram-Kameraden bei Überfällen ums Leben kamen.

Er hatte jetzt öfters Albträume. Die anderen versicher-ten ihm, das sei ganz normal und kein Grund zur Sorge. „Aber“, fährt er fort, „mich plagte eine entsetzliche Angst und schlimme Befürchtungen. Es war die reinste Qual. Ich geriet in eine Krise. Es gab niemanden, dem ich es hätte

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erzählen können – auch nur den kleinsten Zweifel an der Mission von Boko Haram zu äußern, hätte mir eine Ku-gel durch den Kopf eingebracht. Die Anführer im Camp verlangten bedingungslosen Gehorsam. Ich war in der Zwickmühle. Wenn es hart auf hart ging, machte ich mit wie alle anderen. Aber mein Geist fand keine Ruhe mehr.

Immer öfter musste ich an meinen kleinen Bruder den-ken. Wie oft hatte ich auf ihn achtgegeben, mit ihm ge-spielt! Wie ich dieses Kind liebte! Und wie lange hatte ich ihn nun schon nicht mehr gesehen! Wie es ihm wohl ging? War er noch am Leben?

Ganz automatisch brachten solche Gedanken auch die Erinnerung daran zurück, dass ich Kinder getötet hatte, die so alt gewesen waren wie mein Bruder. Manchmal konnte ich nichts mehr essen. Ich fühlte mich hunde-elend. Von außen merkte man es mir wohl nicht an, aber innerlich hasste ich mich mehr und mehr für die Dinge, die ich getan hatte. Ich hasste das Leben, in dem ich ge-landet war. In diesen Tagen fasste ich meinen Entschluss: Wenn es je eine Gelegenheit geben würde, würde ich ver-suchen zu fliehen. Ich wollte dort raus, dessen war ich mir endlich sicher. Die Frage war nur, wie ich das schaf-fen konnte.“