Dark Angel - Max Allan Collins - I - Before the Dawn - German

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Erstmals kommen die frühen Jahre von DARK ANGEL ans Licht! Was geschah in Manticore? Max Guevaras spektakuläre Flucht aus dem Gen-Labor und ihr gefährlicher Weg nach Seattle... Los Angeles im Jahre 2019. Eine nukleare Katastrophe und das verheerende Erdbeben von 2012 haben Los Angeles zerstört. Hollywood liegt in Schutt und Asche. Inmitten der Ruinen kämpft sich ein Mädchen durchs Leben. Max Guevara – athletisch, durchtrainiert, wendig wie eine Katze – eine Meisterdiebin, die davon lebt, die Reichen zu bestehlen. Max hat keine richtige Familie Aber ein dunkles Geheimnis: das Gen-Labor Manticore! Dort verbrachte sie ihre Kindheit – als Teil eines geheimen Militärpakts, dessen Ziel es war. genetisch manipulierte Kinder zu Soldaten heranzuzüchten. Zwölf kleine Rebellen wagten den Ausbruch, und bei ihrer spektakulären Flucht wurden Max und ihre Geschwister getrennt. Es ging ums nackte Überleben – so schlug jeder seinen eigenen Weg ein. Doch Max kann ihre Brüder und Schwestern nicht vergessen. Sie setzt alles daran zu erfahren, was aus ihnen geworden ist. Als sie zufällig einen TV-Bericht des Cyber-Journalisten „Eyes Only“ sieht, scheint ihr Wunsch zum Greifen nah: Sie glaubt, ihren Manticore-Bruder Seth zu erkennen. Sofort steigt sie auf ihr Motorrad und rast nach Seattle – auf der Suche nach ihrer eigenen mysteriösen Vergangenheit...

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Dark Angel

Aufbruch in die Vergangenheit

Roman von

Max Allan Collins

Ins Deutsche übertragen von Rainer Buchmüller

Basierend auf der TV-Serie von

James Cameron und Charles Eglee

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich. In neuer Rechtschreibung. DARK ANGEL™ & © 2002 Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved © 2002 für die amerikanische Originalausgabe „Dark Angel – Before the Dawn“ by Max Allan Collins This translation published by arrangement with The Ballantine Publishing Group, a division of Random House, Inc. Dark Angel Bd. 1: Aufbruch in die Vergangenheit Deutsche Ausgabe 2002 by Dino entertainment AG, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Claudia Weber Umschlaggestaltung: TAB Werbung, Stuttgart, basierend auf dem US-Cover von Chris Cowell Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: GGP Media, Pößneck ISBN: 3-89748-673-3 www.DinoAG.de

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Für Pam und Barb – zwei Dark Angels...

... ja, auch die Blonde

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DANKE

Matthew V. Clemens, mit dem ich gemeinsam die CSI-Romane schreibe und mit dem ich schon viele Kurzgeschichten veröffentlicht habe, hat mich auch bei diesem Roman tatkräftig unterstützt. Matt, ein eingefleischter Dark Angel-Fan, hat mit mir zusammen die Geschichte konzipiert und ein detailliertes Handlungsgerüst erstellt, aus dem ich dann Aufbruch in die Vergangenheit entwickelt habe.

Mein Lektor, Steve Staffel, wählte mich für diese Aufgabe aus. Er war immer für mich da, nicht nur, was das Lektorieren betrifft. Ihm habe ich viele kreative Ideen zu verdanken. Ich möchte mich auch bei den Schöpfern von Dark Angel, James Cameron und Charles Eglee, bedanken, die auch gleichzeitig Executive Producer der Serie sind. Ebenso bedanke ich mich bei Debbie Olshan von 20th Century Fox, Wendy Chesebrough von Lightstorm, Rene Eschevarria und Rae Sanchini. Außerdem bei Gillian Berman, Colette Russen und Colleen Lindsay von Ballantine Books. Eure Unterstützung war immer offen und ehrlich. Besonderer Dank gilt Jim Cameron für seine stets prompten und hilfreichen Antworten. Matt, Steve und ich hoffen, die Fans von Dark Angel werden von der Vorgeschichte dieser so außergewöhnlichen Antiheldin begeistert sein.

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„It’s my life! It’s now or never...“

JON BON JOVI

„It’s my life and I’ll do what I want.”

ERIC BURDON

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Manchmal, wenn Max zurückblickte, kam ihr vieles wie ein besonders lebhafter Traum vor. Aber oft hatten die Erinnerungen auch etwas Emotionsloses. Als wäre das alles jemand anderem passiert. Als wäre es eine Geschichte, von der sie irgendwann einmal gehört und mit der sie nicht das Geringste zu tun hatte – wie eine dieser Fernsehserien eben, die früher immer bei den Barretts liefen.

Wenn Max jedoch bewusster darüber nachdachte, war ihr klar, dass sie das alles wirklich erlebt hatte. Auch wenn eine innere Kraft immer wieder versuchte, die schmerzhaften Erinnerungen von ihr fern zu halten.

Das Geschehene war genauso ein Teil von ihr geworden wie der Strichcode in ihrem Nacken.

Normale Menschen hatten nun mal keinen Strichcode wie ein Päckchen tiefgefrorener Erbsen oder die Pakete, die Max in ihrem Job als Fahrradkurier auslieferte. Nach außen führte sie also ein völlig normales Leben und baute um sich herum eine Fassade, hinter der sie sich verstecken konnte. Viele mochten Max für emotionslos halten. Doch hinter ihrem undurchdringlichen Blick waren eine Menge Gefühle verborgen, die man dort nicht vermutet hätte. Menschliche Gefühle, die Manticore nicht für sie vorgesehen hatte. Für keinen von ihnen.

Max schloss die Augen und tauchte zum millionsten Mal in ihre Erinnerungen ein...

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1. Kapitel__________________________ DIE FLUCHT

Manticore, Zentrale Gillette, Wyoming, 2009

Barfuß hastete sie über die gefrorene Schneedecke. Obwohl sie nur einen dünnen blauen Kittel trug, spürte sie von der Kälte dieser Februarnacht kaum etwas. Die X5-Einheit 332 960 073 452 war neun Jahre alt und hatte keinen Schimmer davon, dass man in weniger als 48 Stunden überall sonst in den USA den Valentinstag feierte. Dieses Ereignis war Teil einer anderen Welt, von deren Existenz sie nicht einmal wusste. So wie umgekehrt diese Welt bis dahin auch keine Ahnung von ihr gehabt hatte.

Manticore war das, was sie kannte, und sie hatte dort eine Menge gelernt. Doch all das zählte in diesem Moment nichts. Ihre Gedanken waren nur auf das Eine fixiert: Lauf um dein Leben!

Über ihrem Kopf dröhnten Helikopter in ohrenbetäubendem Lärm. Um unentdeckt zu bleiben, musste sie den grellen Strahlen der Suchscheinwerfer aus dem Weg gehen, die den dunklen Wald um die abgelegene Anlage von Manticore in ein gespenstisches Szenario aus Licht und Schatten verwandelten.

Das brünette lockige Haar des Mädchens war bis auf wenige Millimeter abrasiert. Sie war klein, aber nicht schmächtig. Sehr sehnig und gelenkig. Und obwohl unverkennbar noch ein Kind, bereits kampferprobt. Ihr dunkler Teint verlieh ihr einen Vorteil gegenüber ihren hellhäutigeren Gefährten, deren bleiche Gesichter vom Schein der Suchstrahler förmlich aufleuchteten. Sie hatte große, dunkle Augen. Ähnlich denen eines scheuen Rehs, gepaart mit dem gefährlichen Glitzern

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eines Raubtieres, das alles um sich herum genauestens wahrnahm und dem nicht das geringste Detail entging.

Obwohl sie um ihr Leben lief, atmete sie ruhig. Ihre Bewegungen waren gleichförmig, fast maschinenartig. Sie schwitzte nicht. Und dank eines außergewöhnlich scharfen Gehörs nahm sie hinter sich jeden einzelnen Schritt ihrer atemlosen Verfolger wahr, die trotz harten Trainings nicht mit ihr, einer genetisch aufgepeppten Soldatin, Schritt halten konnten.

Sie spürte förmlich, dass sie es schaffen konnten zu entkommen. Ja, sie waren wirklich auf dem Weg in die Freiheit. Auch wenn sie und ihre Geschwister mit diesem Begriff nichts anzufangen wussten. Man hatte die kleinen Krieger zwar hervorragend ausgebildet, doch ihr Horizont war sehr begrenzt. Das Wort Freiheit kannten sie nur als Gegenteil von Gefangenschaft.

Waren sie nun also Gefangene oder nicht? War Manticore ihr Zuhause oder war es nur das Einzige, was sie bisher kannten?

Irgendwann jedenfalls war ihnen dieses Zuhause plötzlich wie ein Gefängnis erschienen. Colonel Lydecker, der Mann, dem sie alle vertraut hatten und der so etwas wie eine Vaterfigur für sie gewesen war, hatte eine von ihnen erschossen – ohne mit der Wimper zu zucken. Eva war tot. Und das nur, weil sie ungehorsam gewesen war.

In diesem Moment war ihnen klar geworden, wer und was sie wirklich waren: ein Experiment. Nicht mehr als eine Übungsarbeit in Gentechnologie und Militärtaktik. Und sie erkannten auch, wie wenig sie Manticore letztlich wert waren, wenn sie mal nicht nach Plan funktionierten. Ihr gesamtes Leben – neun Jahre harte Ausbildung und härtestes Training – hatte sich mit diesem einen Schuss innerhalb von Sekundenbruchteilen in Luft aufgelöst.

Schneemobile preschten mit heulenden Motoren an ihr vorbei. Glücklicherweise zu schnell, als dass jemand sie

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wahrnehmen konnte. Sie hatte sich an einen Baum gepresst. Die raue Rinde fühlte sich seltsamerweise beruhigend an und erinnerte sie zugleich daran, dass sie noch am Leben war, dass dies alles kein Traum war. Ihre Verfolger sahen in den ausgebeulten schwarzen Anzügen, den Nachtsichtbrillen und mit ihren Lasergewehren wie futuristische Monster aus. Unaufhaltsam rasten sie an ihr vorbei, den Hügel hinauf...

Sie rannte weiter. Schnell erreichte Max den Kamm des Hügels und fand sich

auf einer Lichtung wieder. Für einen kurzen Moment wusste sie nicht weiter. Dann erschien plötzlich ein Kopf hinter einem Baumstamm. Es war Zack.

Sie schloss sich ihm wortlos an. Ein Kind nach dem anderen tauchte hinter den Stämmen auf und folgte ihnen. Alle trugen die gleiche einheitliche Kleidung und Frisur. Sie wirkten wie austauschbar und ohne jegliche Individualität.

Jondy trat als Letzte hervor. Sie atmete erleichtert auf, als sie sah, dass Max – das war der Name, den ihre Geschwister ihr gegeben hatten – bereits den Treffpunkt erreicht hatte. In Manticore hatte man ihnen zwar eingebläut, dass keiner von ihnen etwas Besonderes war. Dennoch hatten sich die beiden Mädchen – die sich auch ohne Kittel und ohne Konzentrationslager-Haarschnitt zum Verwechseln ähnlich sahen – miteinander angefreundet und waren zu wirklichen Schwestern geworden.

Das Donnern der Schneemobile wurde lauter. Wie immer übernahm Zack das Kommando. Und wie immer wirkte er gelassen und ernsthaft zugleich. Mit militärischen Handzeichen – die hatten sie von ihren Ausbildern gelernt – befahl er ihnen, sich in Zweiergruppen aufzuteilen und in unterschiedliche Richtungen weiterzulaufen.

Auch Max und Jondy bekamen von Zack ein Zeichen. Doch Max schüttelte den Kopf, denn sie wollte Zack nicht alleine zurücklassen. Sie verstand überhaupt nicht, warum sie sich

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aufteilen sollten. Waren sie denn in einer großen Gruppe nicht viel sicherer?

Zack wiederholte nachdrücklich seinen Befehl. Und da man ihnen blinden Gehorsam gegenüber dem Anführer einer Gruppe beigebracht hatte, blieb Max und ihrer Schwester keine andere Wahl. Jondy packte sie am Arm und zog sie mit sich in den Wald.

Innerhalb kürzester Zeit hatten die beiden den Sicherheitszaun erreicht, der das Gelände um das Forschungslabor von der Außenwelt abgrenzte.

Flink wie eine Katze sprang eine nach der anderen auf den Zaun und über den Stacheldraht auf die andere Seite. Es ging alles sehr schnell. Sie bemerkten nicht einmal die Infrarot-Suchstrahler ihrer Verfolger. Als sie sich hinunter in die Freiheit fallen ließen, drehte sich Max kurz um und es erschien ihr alles fast ein wenig zu einfach...

Ihr hochsensibles Gehör vernahm ein Geräusch und sie blickte in Richtung Zack. Er war hilflos umringt von schwarz gekleideten Soldaten, die ihre Laserstrahler direkt auf ihn richteten.

Max musste zuschauen, wie ihr Anführer, von einem Gummigeschoss getroffen, einen Abhang hinunterrollte. Er zuckte am ganzen Körper. Seine Arme und Beine waren gekrümmt. Max stand wie angewurzelt da, bis Jondy sie am Ärmel packte und weiterzog.

Ihr wurde nun langsam klar, dass Zack sie mit dem Befehl sich aufzuteilen gerettet hatte. Dennoch wurde sie einfach das Gefühl nicht los, ihn im Stich gelassen, ja sogar verraten zu haben.

Das aggressive Grollen der Schneemobile kam bedrohlich nahe. Vor den Mädchen tat sich ein zugefrorener Teich auf. Die schweren Fahrzeuge würde er nicht tragen. Da war sich Max sicher. Sie selbst aber waren leicht genug, und so entschieden sie sich, das Eis zu überqueren, um ihre Verfolger

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abzuschütteln. Über ihnen dröhnten wieder die Kampfhubschrauber und hatten sie mit ihren Suchscheinwerfern beinahe im Visier.

Die zwei Mädchen hatten den Teich schon fast überquert, als Max spürte, wie das Eis unter ihren nackten Füßen plötzlich nachgab und mit einem lauten Krachen einbrach.

Das aufspritzende Wasser umfing Max wie ein eisiger Mantel. Ihre Haut brannte, als ob tausend Messer gleichzeitig auf sie einstachen. Doch sie schaffte es, das Gefühl zu ignorieren und sich zum Luftholen an die Oberfläche zu retten.

„Max...!“, rief Jondy, die sich schon in Sicherheit gebracht hatte.

„Lauf!“, schrie Max zurück und klammerte sich am Eisrand fest.

„Nein, ich bleib bei dir!“ „Los, Jondy! Ich werde dich schon wieder finden. Lauf!“ Das Mädchen zögerte, doch als ein Geländewagen durch das

Tor hinter ihnen brach, rannte sie los. Max beobachtete das Fahrzeug und fragte sich, ob der Fahrer wusste, dass er genau auf einen Teich zusteuerte. Dann drehte sie sich zu Jondy, die gerade in Richtung Wald eilte – verfolgt von Schneemobilen, aus denen immer wieder geschossen wurde. Nicht mit Gummigeschossen wie zuvor, sondern mit richtigen Patronen!

Dann war Jondy plötzlich zwischen den Bäumen verschwunden.

Hat sie sich retten können, haben sie Jondy gefasst oder gar erschossen?, ging es Max durch den Kopf.

Sie wandte sich wieder dem Geländewagen zu, dessen Fahrer den Teich mittlerweile entdeckt hatte und ein Drehmanöver einleitete. Bevor die Scheinwerfer Max erwischten, holte sie noch einmal tief Luft und tauchte unter. Durch die Eisschicht konnte sie erkennen, wie das Fahrzeug anhielt und zwei Männer ausstiegen. Sie war sich auf Grund des ungünstigen

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Blickwickels und der Verzerrung durch die Eisschicht nicht ganz sicher, aber einer der beiden schien Lydecker zu sein...

... und er war sehr verärgert. Die beiden Männer unterhielten sich kurz, doch so sehr Max

sich auch bemühte, selbst ihr empfindliches Gehör konnte nicht erfassen, worüber sie sprachen. Schließlich stiegen die beiden wieder in ihr Fahrzeug und fuhren davon.

Dann war es still. Ein eigenartiges Gefühl machte sich in Max breit. Einerseits

zitterte ihr Körper vor Unterkühlung und andererseits brannten ihre Lungen so heiß wie Feuer. Sie hatte Angst, wieder auftauchen zu müssen, denn oben würden Lydecker und seine Männer warten und sie sofort erschießen.

Sie musste eine schnelle Entscheidung treffen. Das hatte man ihr auch während der Ausbildung immer wieder eingebläut: Lieber im Kampf sterben als von vornherein aufgeben...

Max schwamm umgehend zurück zu dem Einbruchsloch und schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Luftschnappen an die Oberfläche. Sie atmete tief ein, wollte noch einmal untertauchen, musste jedoch wegen eines Hustenanfalls sofort wieder hoch. Auch ein X5 hatte also seine Grenzen. Das war ihr in diesem Moment klar geworden.

Sie zog sich aus dem Wasser und war erstaunt. Da war niemand mehr. Max war allein... und frei! Natürlich dachte sie in diesem Moment auch an Jondy. Doch ihr war klar, dass sie nun in erster Linie an sich selbst denken musste. Ihr dünnes graues Hemd war völlig durchnässt und bot nicht den geringsten Schutz gegen die eisig kalte Nachtluft.

Max musste schleunigst einen warmen, trockenen Ort finden. Also lief sie geradewegs in den Wald hinein. Es ging um jede Minute, das war ihr klar. Nach einer Ewigkeit, so kam es ihr zumindest vor, stand sie plötzlich an einer großen Straße.

Der Wald war bekanntes Terrain, dort hatten sie immer Krieg gespielt. Die Straße dagegen kannte sie nur aus

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Trainingsvideos. Aber was sollte schon passieren? Sie hatte eine gute Ausbildung genossen und dabei gelernt, sich anzupassen und zu überleben.

In weiter Ferne sah Max ein Scheinwerferlicht. Sind das Manticore-Fahrzeuge?, dachte sie. Oder ist das jemand anderes? Freund oder Feind?

Sie versteckte sich in einem Graben und beobachtete mit ihren Katzenaugen das sich nähernde Fahrzeug. Am Geräusch des Motors glaubte sie zu erkennen, dass es sich nicht um ein Manticore-Fahrzeug handelte. Dafür fuhr es nicht schnell genug, zumal es sich auf einer schneefreien Straße vorwärts bewegte. Andererseits fuhren sie vielleicht absichtlich langsam, um am Straßenrand nach ihr zu suchen...

Trotz ihrer genetischen Vorteile machte der eisige Wind dem Mädchen schwer zu schaffen. Wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, wäre diese kurze, chaotische Strecke zwischen dem Sicherheitszaun und der Straße das einzige bisschen Freiheit gewesen, das sie jemals erfahren hatte. Max überlegte, ob sie den Scheinwerfern entgegentreten sollte. Falls es sich um ein Manticore-Fahrzeug handelte, musste sie mit einer harten Strafe rechnen.

Schließlich hatten sie ja kurz zuvor mit echter Munition auf Jondy geschossen. Das bedeutete, Lydecker wollte sie nicht mehr nur noch einfangen, er wollte sie töten! Während das Auto immer näher kam, entschied Max, sie würde nie wieder zurück nach Manticore gehen. Alleine hier draußen zu erfrieren konnte nicht schlimmer sein als das. Sie lauschte auf den Motor. Dass es kein Geländewagen war, konnte sie mittlerweile problemlos erkennen. Es musste also ein anderes Fahrzeug sein.

Was immer es war, es lief auf sieben Zylindern. Der achte hatte einen verstopften Zylinderkopf. Als es über den Hügel kam, erkannte Max einen blauen Chevy Tahoe mit der

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Nummer Wyoming AGT 249. Ein Zivilfahrzeug also. Kein Regierungsfahrzeug, auch kein getarntes.

Max stellte sich auf einen Kampf ein. Langsam kroch sie aus dem Graben auf die Straße. In weiter Ferne waren noch immer die Sirenen zu hören. Und die Helikopter suchten mit ihren Scheinwerfern weiterhin nach flüchtigen X5.

Der Tahoe kam näher. Als sein Fahrer Max bemerkte, bremste er sofort und der Wagen geriet etwas ins Schleudern. Dann kam er zum Stehen.

Die Beifahrertür öffnete sich. Eine Frau, so um die dreißig, mit blondem schulterlangem Haar und großen blauen Augen schaute Max an.

„Steig ein!“ Ihre Stimme strahlte Vertrauen aus, doch in ihren Augen war gleichzeitig Angst zu erkennen. „Na los... mach schon!“

In 1,3 Sekunden schätzte Max den Bedrohungsfaktor ein und entschied, dass die Frau harmlos war. Zumindest in diesem Moment. Sie kletterte in den Wagen und schloss die Tür hinter sich.

„Leg dich auf den Boden!“, befahl die Frau. Max gehorchte und die Fahrerin bedeckte sie mit einer

grauen Wolldecke – aus Manticore! „Keine Angst. Ich arbeite zwar für sie, aber ich bin nicht eine

von ihnen.“ Max schwieg, beobachtete die Fahrerin jedoch sehr

aufmerksam. Solange die Frau redete, konnte sie selbst wieder etwas Kraft tanken. Ein kurzer Blick genügte ihr, um zu dem Entschluss zu kommen, dass ein Genickbruch die einfachste Möglichkeit war, sie zu töten. Den Wagen zu fahren, war auch kein Problem. Das hatte Max während ihrer Ausbildung gelernt. Das Töten bei voller Fahrt beinhaltete jedoch zu viele unberechenbare Faktoren, Die Heizung schien defekt, blies aber ausreichend warme Luft ins Wageninnere. Max fühlte sich langsam besser. Selbst die kratzige Wolldecke um ihre

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Schultern strahlte etwas Wohliges aus. Max überlegte, was sie tun sollte...

Die Frau hatte eine lange, dünne Nase. Volle, rote Lippen und tiefblaue Augen. Unter ihrem dunklen Mantel konnte Max eine weiße Uniform erkennen. Sie gehörte also zur medizinischen Abteilung. Sicherheitsüberprüfte Zivilisten waren unter dem Personal in Manticore gang und gäbe.

Max war immer noch misstrauisch, hatte jedoch im Moment keine andere Wahl. Also kauerte sie sich auf dem Boden des Tahoe zusammen, während der Wagen sich die schneebedeckten Hügel hinaufquälte. Die Frau hatte Angst. Das war ein gutes Zeichen. Wenn sie zu Lydeckers Leuten gehörte, brauchte sie keine Angst zu haben... es sei denn, ihr war die Gefährlichkeit ihrer Fracht bewusst.

Hin und wieder lächelte sie Max an. Es war nicht auszumachen, ob sie damit sich selbst oder ihre Beifahrerin beruhigen wollte.

Eine knappe Viertelstunde später hielten sie an. Die Frau schaltete die Scheinwerfer aus und stellte den Motor ab.

„Wir sind da!“ Ihre Stimme klang immer noch angespannt und sehr nervös.

Sie führte Max zu einem kleinen Holzhaus. Die Hütte strahlte zwar eine gewisse rustikale Gemütlichkeit aus, doch Max, die ihr bisheriges Leben in einer kalten Kaserne verbracht hatte, waren solche Dinge unbekannt. Selbst in den Trainingsvideos hatte sie etwas Vergleichbares nie gesehen. Für sie war es einfach nur ein Schuppen, der nicht viel anders aussah als die Duschräume in Manticore.

Die Frau öffnete die Tür, doch Max zögerte. „Komm rein, ist schon in Ordnung. Hier bist du in

Sicherheit“, sagte die Frau in beruhigendem Ton und lächelte. Max war immer noch skeptisch und wusste nicht, ob sie

ihrem vermeintlichen Schutzengel glauben konnte. Lydecker

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hatte sie auch blind vertraut, sie alle hatten das... und jetzt war eine – mindestens eine – von ihnen tot!

Dennoch überwand sie ihr Misstrauen und trat ein. Max wunderte sich für einen kurzen Moment über den offenen Kamin links von ihr. Als sie jedoch fühlte, welch angenehme Wärme von ihm ausging, war ihr sein Zweck sofort klar. Wenn sie sich früher in besonders kalten Nächten immer unter ihre Bettdecke gekauert hatte, war das ein ähnliches Gefühl gewesen.

Auf der rechten Seite führte eine Tür in ein sehr kleines Badezimmer. Sie konnte es kaum glauben: ein Raum mit nur einer Toilette! Außerdem waren da ein Waschbecken und ein kleiner Ofen. Im Hauptraum selbst stand ein Kühlschrank. Und daneben ein kleiner Esstisch mit zwei Stühlen. In der anderen Ecke war ein Schlafsofa aufgebaut. Direkt vor dem Kamin stand ein Ledersessel mit Holzlehnen, auf dem ordentlich gefaltet eine Decke mit indianischem Muster lag. Auch alle anderen Möbel waren aus dunklem, warm anmutendem Holz.

Max, die nur kalten Beton kannte, war von so viel Wärme ziemlich verwirrt, zugleich aber auch irgendwie angetan.

Die Frau ging zum Telefon und wählte eine Nummer. „Ich bin’s, Hannah... wir müssen uns treffen!“

Max überlegte, ob sie vielleicht doch in eine Falle geraten war. Vorsichtig lief sie auf und ab und nahm den Raum etwas genauer ins Visier. Alles erschien ihr ungewohnt. Und doch nicht unangenehm.

Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie sich in diesem ihr fremden Raum viel heimischer, als sie das in Manticore jemals getan hatte. Ein solches Gefühl hatte sie dort niemals erlebt. Es war ihr vollkommen fremd. Doch in dieser Hütte, mit all den Kerzen, Büchern und Bildern, war das anders.

„Nein“, hörte sie Hannah sagen. „Sie ist noch ein Kind, aber sie hat Probleme zu Hause und braucht einen Platz zum Schlafen.“

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Max fragte sich, ob sie für sich selbst jemals einen so wunderschönen Ort wie diesen finden würde. Einen Ort ganz für sich alleine. Der Raum erschien ihr bei diesem Gedanken plötzlich viel größer und geräumiger.

„Hör zu“, sprach Hannah ins Telefon. Sie schien verärgert. „Ich kann dir alles erklären, wenn wir uns treffen... ja gut. Bis dann.“

Dann legte sie auf. Max strich über den weichen Saum der indianischen Decke. In Manticore hatten sich die Wolldecken niemals so sanft und angenehm angefühlt...

Hannah nahm die Decke und legte sie Max um die Schultern. Unmittelbar fühlte sich Max geborgen. Sie atmete tief durch und ihr entging nicht der Duft von Hannahs Parfüm, der noch in der Decke hing.

„Ich komme sobald wie möglich wieder“, sagte Hannah. „Mach es dir hier gemütlich. Fühl dich wie zu Hause.“

Max blieb still. Sie konnte mit diesem Begriff nichts anfangen. Er war ihr fremd. So als hätte Hannah eine ihr unbekannte Sprache benutzt. Die beiden sahen sich kurz an, dann verließ Hannah die Hütte und zog die Tür hinter sich zu.

Max ging zum Fenster und starrte nach draußen: Sie war immer noch auf feindlichem Gebiet. Wie lange sie gefahren waren, das wusste sie nicht. Aber sie spürte, dass Manticore nicht allzu weit entfernt war. Es war also immer noch Vorsicht geboten.

Lydecker und Manticore würden niemals damit aufhören, sie und ihre Geschwister zu suchen. Da war sie sich sicher.

Stunden vergingen, und Hannah war noch nicht zurückgekommen. Was auch immer passiert war, die Hütte war jedenfalls kein sicheres Versteck mehr. Vielleicht war Hannah abgefangen worden. Wie auch immer. Max musste hier weg, obwohl sie diesen Ort mochte. Seine Wärme und Geborgenheit, auch Hannahs Freundlichkeit. All diese Dinge

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würde sie vermissen, denn sie hatten menschliche Gefühle in ihr geweckt.

Aber sie war einfach schon viel zu lange hier. Sie öffnete die Tür und warf einen letzten, langen Blick die

Straße hinunter. Dann drehte sie sich für einen längeren letzten Blick noch einmal um. Max wäre gerne hier geblieben. Doch ihr war klar, das machte keinen Sinn.

Ihr Überlebenswille war stärker als diese neu entdeckten Gefühle.

Sie ließ die warme Wolldecke am Türeingang fallen und machte sich wieder auf den Weg durch den eisigen Schnee.

Als die Sonne aufging, lief Max immer noch. Ihre Schritte waren langsam und schwerfällig geworden.

Sie musste unbedingt einen warmen Unterschlupf finden, wo sie den Tag überstehen konnte. Die Kälte hatte ihr noch mehr zugesetzt als das permanente Laufen. An ihren Augenbrauen und ihrem kurz geschorenen Haar war der Schweiß förmlich festgefroren und ihr Hemd war hart und unbeweglich.

Max wusste, dass sie bei Tageslicht für ihre Verfolger ein gefundenes Fressen war. Ein barfüßiges neunjähriges Mädchen in einem Krankenhaushemd würde Aufmerksamkeit erregen. Ihr war klar, dass man sie und ihre Geschwister den Behörden als Flüchtige einer psychiatrischen oder ähnlichen Anstalt gemeldet hatte.

Ihre besonderen Fähigkeiten boten ihr zwar bis zu einem gewissen Grad Schutz und Sicherheit. Doch im Moment ließen ihre Kräfte immer mehr nach. Sie war nahezu am Ende.

Seit sie aus der Hütte verschwunden war, hatte sie sich durch den Wald Richtung Süden geschlagen und war dabei auch immer wieder dem Brummen der Schneemobile und Helikopter begegnet. Sie hatte keine Ahnung, wo sie überhaupt war. Geschweige denn, wohin ihr Weg führte. Doch ihr Überlebenswille ließ sie ununterbrochen weiterlaufen.

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Um wirklich sicher zu sein, musste sie baldmöglichst einen großen Abstand zu Lydecker aufbauen. Im Moment jedenfalls war sie ihrem bisherigen Zuhause einfach noch viel zu nah.

Vor ihr wurde der Wald plötzlich lichter und ihr Blick fiel auf einen Parkplatz voller Lastwagen. Max kannte diese Art Fahrzeuge.

Sie hatte sie in Manticore oft gesehen. Aber immer nur einzeln. Hier jedoch, keine hundert Meter von ihr entfernt, standen mindestens fünfzig davon. Ein Wald von Lastwagen, sozusagen. Abwechselnd fuhren einige weg oder neue kamen an und belegten die frei gewordenen Plätze.

Max beobachtete diese Zeremonie eine ganze Weile. Wenn sie geparkt hatten, stiegen die Fahrer aus und verschwanden in Richtung eines Gebäudes, das von Max’ Position aus etwas versteckt hinter ein paar Bäumen lag. Nach einiger Zeit kamen sie dann wieder zurück, prüften kurz die Ladetüren ihrer Fahrzeuge und kletterten wieder in die Fahrerkabine. Manche fuhren gleich weiter, andere blieben mit laufenden Motoren stehen. Wieder andere beschäftigten sich mit Landkarten, lasen in einem Buch oder ruhten sich einfach nur ein bisschen aus.

Max war klar, dass selbst ein unbeheizter Laderaum ihr mehr Schutz vor Kälte bot als der Ort, an dem sie sich gerade befand. Einen Tag lang konnte sie sich bestimmt darin versteckt halten.

Allerdings lauerten in einer solchen Aktion auch einige Gefahren.

Vielleicht würde der Lastwagen ihrer Wahl ausgerechnet nach Manticore fahren. Sie hatte keine Vorstellung von der Welt außerhalb des Forschungszentrums, und ihrer Meinung nach konnte das sehr leicht passieren.

Vielleicht würde der Fahrer aber auch bemerken, dass jemand in sein Fahrzeug eingedrungen war. Er würde sicherlich umgehend die Polizei alarmieren. Und dass Lydecker dann sehr schnell Wind davon bekam, stand für Max außer Frage.

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Es war schweinekalt, und sie überlegte, ob sie es riskieren sollte. Doch letztlich hatte sie keine andere Wahl.

Geduldig beobachte sie die Szenerie und plante dann genau ihre Vorgehensweise: Die ersten zwanzig Meter konnte sie sich im Schutz der Bäume halten. Doch den Rest des Weges musste sie auf offenem Gelände zurücklegen, bei Tageslicht und ohne den geringsten Schutz...

Als der nächste Lastwagen auf den Parkplatz einbog, rannte Max los.

Im Laufen behielt sie den gesamten Platz im Visier. Sie lief an der Rückseite der Lastwagen vorbei, und so war es eher unwahrscheinlich, dass jemand sie entdeckte. Als sie sich dem Fahrzeug ihrer Wahl näherte, stockte ihr Atem.

Die Doppeltür war mit einem Draht verriegelt. Ein Blick auf das Schloss hätte dem Fahrer sofort angezeigt, dass jemand sich daran zu schaffen gemacht hatte.

Max versteckte sich unter dem Wagen. Dadurch war sie vorerst geschützt und hatte etwas Zeit, sich eine Alternative zu überlegen.

Vielleicht sind nicht alle Trucks mit einer solchen Drahtschlinge verschlossen?, dachte sie und fokussierte eine Tür nach der anderen. Dabei fiel ihr auf, dass es ohnehin keine Möglichkeit gab, die Türen von innen zu verschließen. Es war also unvermeidlich: Jedem Fahrer musste es auffallen, wenn sich jemand an seinem Lastwagen zu schaffen gemacht hatte. Mist, dachte sie und erinnerte sich bei diesem eigentlich verbotenen Wort an Lydecker, der es selbst allzu oft benutzt hatte, wenn er frustriert oder verärgert war.

Vielleicht hatte ja wenigstens einer der Trucks ein anderes Schließsystem...

Sie kroch vorsichtig unter dem Lastwagen hervor und schlich von einem Fahrzeug zum nächsten, immer auf der Hut vor unliebsamen Beobachtern. Und tatsächlich fand sie einen Truck mit einer einzelnen nach oben zu öffnenden Tür.

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Ohne Metallschloss...jetzt musste es nur noch eine Möglichkeit geben, die Tür von innen zu verschließen, damit der Fahrer nicht bemerkte, dass jemand seinen Truck geöffnet hatte.

Sie musste es riskieren. Max öffnete die Tür und schob sie behutsam nach oben. Die

Tür quietschte ziemlich laut, wie ein verwundetes Tier. Max verkroch sich sofort unter den Lastwagen und checkte vorsichtshalber, ob jemand etwas bemerkt hatte.

Da war niemand, glücklicherweise. Erleichtert kam sie wieder unter dem Truck hervor und schob die Tür so weit auf, dass ihr genügend Platz zum Durchkriechen blieb. Dann trat sie einen Schritt zurück, sprang aus dem Stand lautlos auf den Vorsprung unter der Tür und von dort direkt ins Innere des Truck.

Im Halbdunkeln verschaffte sie sich erst einmal einen Überblick.

Die hintere Hälfte der Ladefläche war frei, im vorderen Teil standen fünf mit Kartons beladene Paletten und – direkt dahinter – eine große Lattenkiste mit zwei Traktorensitzen.

Kein annähernd so gemütliches Zuhause wie die Hütte. Doch fürs Erste ausreichend.

Max zog die Tür zu und achtete darauf, die Schlaufe wieder sorgfältig nach außen zu legen.

Im Inneren war es nun stockdunkel. Max fühlte sich langsam besser, denn es war schon eine enorme Veränderung, nicht mehr dem eisigen Wind ausgeliefert zu sein. Der Boden unter ihren Füßen war zwar kalt, aber wenigstens trocken – im Gegensatz zu dem feuchten Schnee draußen. Vor der Dunkelheit hatte Max keine Angst. In ihren genetischen Cocktail hatten sie in Manticore nämlich einen Schuss Katzen-DNS gemixt. Und so konnte sie selbst bei absoluter Finsternis etwas erkennen.

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Max kletterte in die Lattenkiste und kauerte sich zusammen. Etwa eine halbe Stunde lang saß sie konzentriert da und beobachtete genauestens, was um sie herum geschah.

Dann hörte sie von draußen die Stimme eines Mannes: „Scheißkerl!“

Wieder ein Wort, das sie von Lydecker kannte. Die Tür zum Laderaum öffnete sich ein kleines Stück und

Max sah den Oberkörper eines kleinen, kahlköpfigen Mannes. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in den Laderaum,

konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Er murmelte etwas in der Art wie „Diese verfluchten Kinder!“ Dann knallte er die Tür wieder zu und verriegelte sie.

Max genehmigte sich ein Lächeln. Kurz darauf fiel die Tür zur Fahrerkabine ins Schloss. Der

Fahrer startete den Motor, legte einen Gang ein und der Lastwagen setzte sich in Bewegung.

Max entspannte sich endlich und schlief ein. Sie erwachte erst wieder, als der Lastwagen anhielt. Dann fuhren sie rückwärts. Es ruckte plötzlich, als wären sie mit irgendetwas zusammengestoßen. Max hörte, wie der Fahrer die Handbremse anzog und kurz darauf die Fahrertür hinter sich zuschlug. Sie kletterte aus ihrer Kiste und stellte sich auf eine Auseinandersetzung ein.

Zuerst knarrte die Verriegelung. Dann öffnete sich die Tür mit gewohntem Klang. Draußen war es hell.

Unbekümmert hielt sich Max bereit. Der Fahrer und ein anderer Mann – beide in Jeans und Holzfällerjacke – standen ihr im Weg. Hinter ihnen knarrte der Motor eines Gabelstaplers.

„Was zum Teufel ist das?“ Vollkommen überrascht riss der Fahrer seine Hände hoch, trat instinktiv einen Schritt zurück und machte so den Weg frei für Max.

Sie landete leichtfüßig auf der eisigen Laderampe und sprang von dort auf einen schneebedeckten Parkplatz. Dann rannte sie

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blitzschnell in Richtung eines Zauns, an dem eine Reihe anderer Lastwagen parkten.

Die Männer schrieen ihr hinterher und sie spürte auch ihren Atem hinter sich. Doch ihr war klar, dass die beiden sie niemals einholen konnten. Max genehmigte sich wieder ein Lächeln.

Der über zwei Meter hohe Drahtzaun hinter den Lastwagen war für Max kein Hindernis. Noch weniger als der in Manticore. Sie übersprang ihn mit Leichtigkeit. Ihre beiden übergewichtigen Verfolger hatten einige Mühe Schritt zu halten – im Vergleich zu Helikoptern und Schneemobilen allemal. Noch bevor sie überhaupt die Hälfte des Parkplatzes erreicht hatten, war Max längst verschwunden.

Hinter dem Zaun verlief ein asphaltierter Weg und auf der anderen Straßenseite stand ein Gebäude, das für Max wie eine Art Fabrik aussah.

Ein Blick zur Sonne verriet ihr, dass es bald Mittag war und Westen links von ihr lag. Sie entschied sich dafür, diese Richtung einzuschlagen und rannte los.

Ein Gebäude nach dem anderen ließ sie am Straßenrand hinter sich liegen, fest darauf konzentriert, sich von den vielen neuen Eindrücken nicht ablenken zu lassen. Die Wirklichkeit sah viel aufregender und berauschender aus, als sie es von den Trainingsvideos kannte. Max rannte pausenlos, verließ schließlich das Industriegebiet und kam in eine Wohnsiedlung.

Sie verlangsamte den Schritt und schaute sich neugierig um. Hier wohnen Zivilisten, ging es ihr durch den Kopf. Die Häuser sahen ganz anders aus als Hannahs Hütte. Viel größer. Und sie standen dicht beieinander. Nach dem zu urteilen, was sie in Manticore gelernt hatte, mussten das Schlösser sein.

Viele der Häuser waren weiß. Dazwischen gab es aber auch blaue und gelbe. Für Max jedenfalls, die in einer absolut farblosen Umgebung aufgewachsen war, musste dieser Anblick so etwas wie der Himmel auf Erden sein. Die Gebäude waren

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meist zweistöckig und jedes einzelne hatte auf einer Seite eine Garage. Auf der Straße standen Autos mit dem Kennzeichen von Wyoming – wie Hannahs Auto. Eigenartigerweise sah Max keine Menschenseele.

Plötzlich hörte sie Motorengeräusche hinter sich. Sie versteckte sich umgehend in einer Hofeinfahrt. Als das Auto vorbeigefahren war, kam Max wieder auf die Straße zurück. Der Fahrer hatte sie allem Anschein nach nicht bemerkt.

Solch ein Fahrzeug hatte sie bisher noch nie gesehen. Sie fokussierte das Typenschild. Max hatte keine Ahnung, was „Avalon“ bedeutete. Die Leute in Manticore fuhren schwarze Autos der Marke Tahoe oder Humvee. Doch dieser weiße Avalon sah ganz anders aus.

Max fragte sich, wie weit sie wohl von Manticore entfernt war und wie weit sie noch fliehen musste, um in Sicherheit zu sein. Was den Faktor Zeit betraf, konnte sie sich auf die Sonne verlassen. Hinsichtlich Entfernungen gab es allerdings kaum Anhaltspunkte. Im Moment jedenfalls musste sie sich dringend ein Versteck suchen. Denn bis zum Einbruch der Dunkelheit war sie in ihrer Aufmachung einfach viel zu auffällig.

Die Straße, in die sie nun einbog, sah für Max genauso aus, wie die vorige. Die Häuser und Autos schienen ebenfalls dieselben. Und auch hier war keine Menschenseele unterwegs.

Sie hatte schon einige Blocks durchlaufen, als sie plötzlich sah, dass sich auf der andern Straßenseite etwas bewegte.

Ein Kind – ungefähr in ihrem Alter – spielte drei Häuser weiter in einem Garten. Max musste unweigerlich an ihre Brüder und Schwestern denken. Ob es wohl einer von ihnen geschafft hatte?

Und wenn ja, wie konnte sie es herausfinden? Zack – das befürchtete sie – war getötet worden. Vielleicht würde sie auch nie erfahren, was mit Jondy und den anderen geschehen war.

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In diesem Moment jedenfalls, an genau dieser Straßenecke fasste Max den Entschluss, die Suche nach ihren Geschwistern niemals aufzugeben...

Ihr ganzes Leben lang.

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2. Kapitel__________________________ DIE NACHT DER TITANEN

Das Cap Los Angeles, Kalifornien, 2019

Max hing acht Stockwerke über dem nächtlichen Los Angeles und dachte: Das wird ein Kinderspiel...

Ein Seil, das sie mit dem Gebäude verband, war fest um ihre schmale Taille geschnürt. Es wehte ein für Anfang März sehr eisiger Wind. Doch das beeindruckte Max nicht sonderlich. Wetter bedeutete ihr grundsätzlich so gut wie nichts. Sie trug einen eng anliegenden schwarzen Anzug, der ihren genetisch-hochfrisierten athletischen Körper ausreichend wärmte. Durch das langjährige Training in Manticore – im eisig kalten Gillette, Wyoming – war Max zudem resistent gegen Temperaturen, die es in LA selbst im Winter nicht gab. Ihr dunkles Haar – sie hatte es sich mittlerweile lang wachsen lassen – war unter einer schwarzen Mütze versteckt. Wie eine Spinne bewegte sie sich an der Wand vorwärts, und es war auf Grund ihrer Kleidung kaum auszumachen, ob sie Männlein oder Weiblein war.

Das Gebäude, an dem sie hing, war in der Form übereinander liegender CDs gebaut. Es hatte früher einer Schallplattenfirma gehört, die jedoch – genau wie ihre Musik – längst Geschichte war. Dann, nach dem „Puls“, hatten sich Gangsterbanden dort breit gemacht. Als Ersatz für nicht gezahlte Tantiemen und nach Verhandlungen, die im wörtlichen Sinne einem Blutbad gleichgekommen waren. So munkelte man.

Das alte Capitol-Records-Gebäude war zu einer Festung geworden. Und bis zum Großen Beben von 2012 hatte es auch

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allen Angriffen standgehalten. Was danach noch übrig war, sah aus wie ein mit dem Daumen eingedrückter Schichtkuchen.

Eine zweite Gangstergeneration hatte sich in dem mittlerweile „Cap“ genannten Gebäude eingenistet. Und genau diese Kerle waren in dem Moment das Ziel von Max’ nächtlichem Ausflug. Sie nannten sich die „Brood“ und machten ihre Geschäfte mit allem, was illegal war.

Irgendwie waren die Pläne zur Alarmanlage des Hollywood Heritage Museum in ihre Finger geraten. Früher, so hatte Max gehört, war es einmal im Besitz einer mächtigen Agentur gewesen. Spionagekram, irgendwas in der Art, vermutete Max. Vor dem Puls und vor dem Großen Beben war Hollywood die Stadt des Entertainment schlechthin gewesen. Und das Museum beherbergte einen Großteil der geretteten Kunstwerke aus jener Zeit.

Die Brood planten, das Museum auszurauben, und Max wollte dies gemeinsam mit ihrem Clan verhindern. Nicht etwa aus purer Begeisterung für die Kunst an sich. Nein, sie wollten sich die Beute einfach selbst unter den Nagel reißen.

Nach Jahren harter Auseinandersetzung hatte die Polizei es in diesem Sektor endlich geschafft, die Brood in das Gebiet zwischen der alten 101. Straße im Norden und im Osten, der Cahuenga im Westen und dem Sunset Boulevard im Süden zurückzudrängen. Der Hollywood Freeway, die alte 101 also, führte direkt am Cap vorbei, und so manch mutiger – oder besser: übermütiger – Fahrer wagte sich immer noch ins Revier der Roadhogs.

Max baumelte an der Nordseite des Cap – wie ein kleines Kind auf einer Schaukel – und beobachtete unbeteiligt, wie einer dieser Irren gerade von den Roadhogs über die 101 gejagt wurde. Sie grinste und schüttelte den Kopf. Wie kann man nur so leichtsinnig sein, dachte sie, die selbst in Schwindel erregender Höhe an einem Seil hing.

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Im Norden, in Richtung Mount Lee, konnte sie die riesigen, leuchtenden Buchstaben von HO WOOD erkennen. Hübsche Neubearbeitung, dachte Max. Passt hervorragend zu dieser Stadt der Aasgeier und Flittchen. Als sie 2013 nach Hollywood gekommen war, stand da noch HO YWOOD. Das war ein Jahr nachdem das Große Beben den Rest von dem zerstörte, was der Puls noch übrig gelassen hatte.

Sie checkte die Uhrzeit. Es war so weit. Mit den Füßen suchte sie nach einem sicheren Halt auf einem

Fenstervorsprung und ließ sich langsam an ihrem Seil kopfüber auf eine stählerne Markise im siebten Stock hinunter. Dann schob sie ihren Oberkörper vorsichtig über die vordere Kante und schaute in das Fenster.

Drinnen war es dunkel. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zu Moodys

Ablenkungsmanöver. Max gehörte zum Chinese Clan. Und Moody war ihr

Anführer. Er war für sie zu einer Art Vaterfigur geworden und hatte in gewisser Weise die Rolle von Colonel Donald Lydecker in ihrem Leben übernommen. Auch wenn Max selbst das vielleicht ganz anders sah.

Moody war in dieser schnelllebigen Zeit mit seinen fünfundfünfzig oder sechzig Jahren schon ein Oldie. Er hatte stechend grüne Augen und trug einen gepflegten grau melierten Vollbart. Seine langen silbergrauen Haare hatte er meist zu einem Zopf nach hinten gebunden. Weil er selten an die frische Luft kam, war er äußerst blass. Seine Nase zog sich wie eine Gebirgskette durch ein ansonsten eher flaches Gesicht – es war unschwer zu erkennen, dass sie schon einiges hinter sich hatte. Zwei schmale rosafarbene Striche symbolisierten nicht nur seine Lippen, sondern auch Moodys Charaktereigenschaft, Gedanken und Meinungen lieber für sich zu behalten. Mit seinem Outfit: schwarze Lederjacke, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans – er war übrigens immer ganz in Schwarz

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gekleidet – hatte er offensichtlich großen Einfluss auf Max und deren Kleiderwahl.

Der Chinese Clan hielt sich mit Einbrüchen über Wasser. Der Name kam nicht etwa daher, weil seine Mitglieder asiatischen Ursprungs waren, sondern weil sie im ehemaligen „Mann’s Chinese Theater“ hausten. Das Gebäude war früher einer der prächtigsten Kinopaläste der Stadt gewesen. Der Puls und das Große Beben jedoch hatten die Filmindustrie völlig zerstört, und so standen sämtliche Kinozentren des Landes leer. Bedingt durch ihre Bauweise war es schwierig, sie für andere Zwecke zu nutzen. Einige hatte man zu billigen Hotels oder Bordellen, wenn nötig sogar zu Krankenhäusern umfunktioniert.

Der selbst ernannte Chinese Clan war schon wenige Tage nach dem Puls in Mann’s Theater eingezogen und hatte seither jedem Angriff rivalisierender Gangs und der Polizei standgehalten.

Fünf... Max atmete noch ein Mal tief durch... vier... drei... und konzentrierte sich dann auf das Fenster... zwei... eins...

Eine heftige Explosion erschütterte das Gebäude. An seiner Ostseite schnellte eine riesige Feuersäule – wie ein Gruß an die Götter – in den Himmel.

Es krachte gewaltig und eine Hitzewelle schob sich durch das gesamte Gebäude. Max fühlte sich für einen kurzen Moment an die Artilleriegefechte und Kriegsspielchen in Manticore erinnert, und es fuhr ihr eiskalt durch die Knochen.

Dann streckte eine zweite Explosion – an der Westseite des Cap – den Göttern eine weitere Feuerzunge entgegen.

Max wurde es um einiges wärmer. Hinter dem Fenster im siebten Stock bewegte sich etwas. Eine Tür ging auf und das Licht vom Flur erhellte den Raum. Ein paar der Brood rannten erschreckt aus dem Zimmer, denn offensichtlich vermuteten sie einen Angriff.

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Ganz so abwegig war dieser Gedanke auch gar nicht. Moodys Ablenkungsmanöver bestand genau darin, einen Totalangriff von verschiedenen Seiten zu simulieren.

Max musste sich nun beeilen, bevor die Brood der Sache auf die Schliche kamen. Sie hangelte sich zur Fensterbank im siebten Stock und machte sich an die Arbeit. Mit einem Glasschneider trennte sie ein kreisrundes Stück aus dem Fenster – gerade groß genug für ihren schlanken Körper – und löste das Seil um ihrer Hüfte.

Dann ließ sie es fallen und sprang kopfüber durch das Loch im Fenster. Mit einem kunstvollen Salto landete sie auf einer der herumliegenden Matratzen, rollte sich ab und stand sofort in Kampfposition.

Der Raum war leer – sah man einmal von dem Gestank ab, den etwa ein Dutzend ungewaschene Typen in diesem ehemaligen Ein-Mann-Büro hinterlassen hatten. Der Schreibtisch links von Max war das Einzige, was noch an geschäftigere Zeiten erinnerte. Doch selbst er war mittlerweile zu einer Schlafstätte umfunktioniert worden. Für mindestens zwei Personen. Denn nicht nur oben lag eine Matratze, sondern auch unten – dort, wo einst die Füße eines Angestellten den Schreibmaschinen-Blues getanzt hatten. Wahrscheinlich betrachteten die Brood diese Form der Unterbringung als besonders erdbebentauglich.

Max schlich zur Tür und lauschte. Sie wollte von niemandem überrascht werden. Moody hatte die Information über die Pläne für das Museum von einem Mittelsmann der Brood erhalten. Das Bestechungsgeld, das er von Moody kassierte, war offensichtlich so hoch, dass er dafür sogar die Rache seiner eigenen Gang riskierte.

Der Verräter wusste genau, wo Mikhail Kafelnikov – der für seinen schrecklichen Sadismus bekannte Anführer der Brood – die Pläne aufbewahrte: in einem Safe auf eben diesem siebten Stock, in seinem Büro am anderen Ende des Flurs.

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Im Gebäude war es totenstill. Offensichtlich waren alle Mitglieder der Gang nach unten geströmt, um zu sehen, was passiert war. Auf dem Weg durch den Flur spitzte Max ihre hoch sensiblen Ohren. Sie lauschte nach dem leisesten Knarren des Bodens, dem Quietschen eines Schuhs oder gar dem Atem eines Nachtwächters.

Aber da war nur Stille – abgesehen vom Knistern der Flammen und ein paar Stimmen weiter unten im Gebäude.

Max stand vor Kafelnikovs Büro. Um sicherzugehen, dass ihr dieser Scheißkerl nicht

urplötzlich gegenüberstand, checkte sie noch einmal die Lage. Aber da war nichts... sie drückte den Türgriff nach unten...

... verschlossen. Max überlegte, ob sie das Schloss knacken sollte. Das

Werkzeug dazu hatte sie. Und wie man das machte, das war ihr auch klar. Dann jedoch entschied sie sich, ihre kostbare Zeit besser für das Innere des Büros aufzuheben. Ein kräftiger Tritt und die Tür war offen.

Zeit ist Geld, dachte sie und betrat ein leeres Zimmer. Menschenleer zumindest. Max befand sich in einer Art

Multifunktionsbüro. Apartment und Arsenal zugleich. Auf der linken Seite ein Regal mit allerhand Schusswaffen: Revolver, Gewehre und Maschinenpistolen. Darüber ein Fach mit Granaten, Wurfgeschossen und eine stattliche Sammlung verschiedenster Pistolen. Max hätte sich problemlos bedienen können. Doch seitdem Lydecker eine ihrer X5-Schwestern erschossen hatte, verabscheute sie derlei Waffen zutiefst. Daran hatte sich auch über die Jahre nichts geändert.

An der gegenüberliegenden Wand, also rechts von Max, fühlte sich ein grässliches rundes Wasserbett mit seidener Bettwäsche ziemlich heimisch. Direkt daneben – wie ein verständnisloses Elternteil – stand sprachlos ein aufrichtiger Edelstahl-Kühlschrank. Die Wand hinter dem Bett war eigentlich ein riesiges Fenster, durch das jetzt das Mondlicht

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schien und den Raum in elfenbeinfarbenes Licht tauchte. Die Mitte des „Büros“ nahmen ein massiver nierenförmiger Schreibtisch und ein überdimensionaler thronartiger Ledersessel in Anspruch. Ein Breitbildfernseher ragte rechts davon wie ein Altarbild in die Höhe. Er war auf das Bett ausgerichtet. Und hinter dem Lederthron belagerte ein gewaltiges – nicht besonders gutes – Ölporträt von Kafelnikov fast die gesamte Wandfläche für sich alleine.

Wundert mich, dass all der Kram, vor allem das überdimensionale Ego dieses Bastards namens Kafelnikov hier Platz findet, ging es Max durch den Kopf.

Von Moodys Informant wusste sie, dass der Safe mit den gesuchten Plänen hinter dem Gemälde versteckt war. Wenn dieser Safe nur annähernd so groß wie das Bild ist, überlegte Max, dann müsste die Nummernscheibe in etwa die Größe einer Radkappe haben.

Sie zog einen metallenen Papierkorb unter dem Schreibtisch hervor und stellte ihn umgedreht vor das Bild. Ein Schritt nach oben, und Max stand Auge in Auge mit dem selbstgefälligen Gangsterboss. Mit einem nicht weniger selbstgefälligen Lächeln zog sie ein Schnappmesser aus der Tasche – klick – stieß es seinem Porträt mitten ins Herz und schnitt die Leinwand einmal der Länge nach durch.

Der Safe befand sich wie vermutet hinter dem Bild. Seine Nummernscheibe hatte jedoch – entgegengesetzt der Vermutung – eine normale Größe. Der Rest war Routinearbeit. Max legte ihr Ohr an den Safe und drehte an der Scheibe.

In weniger als fünfzehn Sekunden hatte Max das Ding geknackt. Fünf weitere brauchte sie, um die Pläne zu finden und etwa eine, um sie einzustecken. Ein größeres Bündel Geld, das sich ebenfalls im Safe befand, konnte sie natürlich nicht liegen lassen...

Moody musste davon ja nichts erfahren. Sie rechnete es als eine Art Gefahrenzulage.

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Max wollte sich gerade davonmachen, als sie etwas Ungewöhnliches spürte.

Es hieß, die Brood hielten Hunde, um Eindringlinge abzuschrecken. Für Moody war das nichts weiter als ein Gerücht gewesen.

Doch das große, schwarze, schöne Biest mit seinen stechenden Augen und den scharfen, im Mondlicht funkelnden Zähnen, war eindeutig kein Gerücht. Der Dobermann-Mischling kam ihr bedrohlich nahe und begrüßte sie mit einem beunruhigenden Knurren.

„Braves Hündchen!“ Max versuchte ihn zu besänftigen und streckte ihre Hand vorsichtig in seine Richtung.

Er fletschte die Zähne. Max spürte, dass noch mehr von seiner Sorte in der Nähe

sein mussten. Vom Flur draußen drang bereits ihr Atem an Max’ Ohr. Vier

bestens trainierte Hunde stürmten herein. Wie bei einer nahezu perfekt inszenierten Militärparade stellten sie sich in einer Reihe auf und präsentierten ihre Reißzähne. Alle fünf knurrten im Chor, und der Speichel tropfte ihnen dabei aus dem offenen Maul. Ihr Anführer kam nun bedrohlich nahe.

Max richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Die antiautoritäre Variante hatte nichts genützt. Also musste sie es mit etwas mehr Disziplin versuchen. „Sitz!“

Der erste Hund bellte einmal kurz, was wohl so viel wie „Verpiss dich!“ bedeutete.

Max atmete tief durch und machte sich bereit. „Ihr habt es nicht anders gewollt...“

Der erste Hund stürzte sich auf sie, doch Max wich ihm geschickt aus, und er knallte mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand. Als die beiden nächsten Hunde versuchten, sie von zwei unterschiedlichen Seiten gleichzeitig anzuspringen, hüpfte Max auf den Tisch und die beiden Tierchen prallten unter Jaulen direkt vor ihren Augen aufeinander.

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Nummer vier setzte zum Angriff an. Max machte einen Salto in Richtung Tür. Der Hund drehte seinen Kopf, um sie im Flug zu erwischen, doch Max stand schon hinter ihm und wich dort bereits der Attacke des letzten Hundes aus.

Sie eilte auf den Flur hinaus und schlug die zersplitterte Tür hinter sich zu. Lange konnte das die Hunde bestimmt nicht aufhalten, denn die Biester waren sauer und wollten Blut sehen.

Max rannte zum Aufzug und wünschte sich insgeheim, dass sich seine Türen auf magische Weise öffneten, wenn sie dort angekommen war. Und tatsächlich... sie öffneten sich.

Jedoch nicht von Geisterhand. Max stand Auge in Auge mit Mikhail Kafelnikov und etwa einem Dutzend seiner Gangmitglieder. Sie sahen alle ziemlich verärgert aus – wie die Hunde. Kafelnikov ganz besonders.

Wenn der erst sein Porträt sieht..., dachte Max. Der Russe war groß und schlank und nicht wenig muskulös.

Er hatte blondes kurzes Haar, eiskalte blaue Augen und beinahe sinnliche, volle rote Lippen. Unter einem braunen, knielangen Ledermantel trug er ein orangefarbenes Seidenhemd. Es war halb offen, um den Weg für den Blick auf eine fette Goldkette freizumachen. Seine Hose war aus schwarzem Leder und die Füße steckten in Schlangenlederstiefeln, ebenfalls in Schwarz.

Moody hatte ihn sehr gut beschrieben: Kafelnikov kultivierte sowohl das Outfit als auch den Lifestyle eines Rockstars aus der Zeit vor dem Puls – sein verstorbener Vater war angeblich einer. Mikhail hatte, so hieß es, zwar auch ein gewisses musikalisches Talent, war aber zu dem Entschluss gekommen, dass sich mit Verbrechen mehr Geld verdienen ließ. Zumal es eine funktionierende Entertainment-Industrie gar nicht mehr gab.

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„Wer zum Teufel bist du?“ Er stand wie erstarrt im Aufzug und schaute Max in die Augen. Seine Boys drängten sich nach vorne. „Wer ist die kleine Schlampe?“, brüllte er.

Noch bevor Max ihm eine Antwort geben konnte – keine verbale, versteht sich – waren am anderen Ende des Flurs die Hunde bereits durch die Tür gebrochen und rannten nun zähnefletschend auf sie zu.

„Ich sollte doch die Hunde ausführen, erinnern Sie sich?“ Max drehte sich wieder zu Kafelnikov.

Sie nutzte seine kurzzeitige Verwirrtheit aus und verpasste ihm einen heftigen Schlag gegen die Brust. Kafelnikov taumelte atemringend in den Aufzug zurück und riss seine Jungs wie Bowlingkegel mit sich.

Max blieb leider keine Zeit, ihre Handarbeit zu betrachten und rannte schnurstracks den Flur hinunter. Die Hunde waren ihr dicht auf den Fersen. Als sie endlich den Raum erreichte, durch den sie ursprünglich in das Gebäude gelangt war, befand sich der erste Hund nur noch knapp einen halben Meter hinter ihr. Sie riss ihre Arme nach vorne und sprang durch das Loch im Fenster – als wartete da draußen ein erfrischender Swimmingpool auf sie.

Im Flug ergriff sie ihr Seil, das noch vor dem Loch hing und pendelte in weitem Bogen weg vom Gebäude. Einer der sie verfolgenden Hunde hatte anscheinend die Größe des Loches überschätzt und war vom Fenster wieder zurück in das ehemalige Büro geprallt. Die anderen – sie hatten aus dem Verfolgungspech ihres Anführers etwas gelernt – bremsten kurz vor dem Fenster ab. Einem Hund gelang es zwar, seinen Kopf durch die Öffnung zu stecken und zumindest in Max’ Richtung zu schnappen...

... doch die war mittlerweile, an ihrem Seil entlang, schon Richtung Dach geklettert. Die Hunde bemerkten, dass ihre Beute zu entkommen drohte und das machte sie nur noch wütender.

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Max hörte eine Stimme. Sie sah nach unten und erblickte Kafelnikov, der seinen Kopf wie durch eine Guillotine in das Loch gesteckt hatte und nun wütend zu ihr heraufschaute.

„Ich bring dich um, du Schlampe!“, brüllte er. „Das glaube ich weniger“, rief sie gelassen zurück. Er antwortete nicht, denn anscheinend hatte er sich an einer

scharfen Glaskante geschnitten. Max genehmigte sich ein Lächeln und kletterte weiter. Sie

ahnte, dass die anderen Gangmitglieder bereits zum Dach geeilt waren, um sie dort zu empfangen. Unter ihr hatte mittlerweile einer von Kafelnikovs Gesellen den Platz am Fenster eingenommen. Ein hagerer Typ mit langem schwarzem Haar. Er war damit beschäftigt, sich das Seil zu schnappen. Doch bevor er es überhaupt zu fassen bekam, stieß sich Max flink vom Gebäude ab. Das Seil schwang aus seiner Reichweite und er kippte beinahe aus dem Fenster.

„Du Schlampe!“, brüllte er mit weit aufgerissenen Augen. Die Jungs sollten mal ein paar neue Wörter lernen, dachte

Max und kletterte weiter. Der Typ unter ihr sprang plötzlich aus dem Fenster und

schnappte sich das Seil. Max war sichtlich überrascht von seinem Mut und verlor beinahe den Halt.

„Das Seil wird uns beide nicht tragen!“, rief sie nach unten. „Scheiß drauf, Kleine!“ Sein beschränkter Wortschatz nahm bedrohliche Züge an... Alle Selbstgefälligkeit war plötzlich aus Max gewichen. Sie

kletterte schneller. Dem Kerl unter ihr schien die Gefahr, in der die beiden sich befanden, vollkommen egal zu sein. Es waren nur noch drei Meter bis zum Dach. Max bemerkte, wie sich das dünne Nylonseil an der rauen Kante des Daches immer mehr abrieb. Über ihr funkelten die Sterne, als wollten sie ihr den Weg zeigen. Dann schob sich plötzlich ein Mondgesicht in ihr Blickfeld.

Es war Kafelnikov.

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Sein Klappmesser schnappte auf. „Dumme Schlampe... ich hab dir versprochen, dass ich dich umbringen werde!“

„Jetzt reicht’s mir langsam. Euer Vokabular geht mir zusehends auf die Nerven“, antwortete sie. „Ihr Kerle habt einfach keine Manieren...“

Max hatte keine Wahl. Sie musste weiter nach oben klettern, dem Feind auf dem Dach entgegen.

Kafelnikov beugte sich herunter und bearbeitete das dünne Seil mit seinem Messer. „Sei ganz beruhigt... bald wird man dich nicht mehr eine ‚Schlampe’ sondern eine ,Tote’ nennen!“

Vereinzelt lösten sich bereits die Fasern am Seil. Gleichzeitig aber kam Max dem schrecklich bleichen Gesicht Kafelnikovs immer näher. Vielleicht konnte sie es noch schaffen...

„Nein, Boss! Nein!“, schrie der hagere Typ unten am Seil. Doch es war schon zu spät.

Das Messer hatte bereits die letzte Faser durchgeschnitten. Max ließ das Seil los. Es verschwand gemeinsam mit den

panischen Hilferufen des hageren Typen in der Tiefe. Beim Loslassen hatte Max sich selbst nach oben katapultiert

und krallte sich nun an Kafelnikovs Mantel fest. Kurz bevor er durch diese plötzliche Gewichtszunahme über die Brüstung zu fallen drohte, ergriffen ihn zwei seiner Jungs noch rechtzeitig und bewahrten ihn und Max somit vor dem Sturz in die Tiefe.

Max hing nur einen Finger breit von Kafelnikovs Gesicht entfernt und klammerte immer noch an seinem Mantel. Es schien beinahe, als wollten die beiden sich im nächsten Moment küssen. Glücklicherweise bemühten sich Kafelnikovs Helfer, ihren Boss – er hatte ziemlich Mundgeruch – auf dem Dach zu halten und verhinderten so, dass er sich von seiner Last befreite.

Unerbittlich kam nun die Schwerkraft ins Spiel und zog die beiden nach unten. Kafelnikov versuchte panisch, sich aus der Umklammerung seiner Gehilfen zu befreien. Er wollte dieses

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Mädchen um alles in der Welt loswerden. Aber seine Jungs waren einfach zu stark.

Schließlich schien ein Absturz unvermeidlich. Max schaute nach oben und lächelte.

Erstaunt und wütend zugleich riss Kafelnikov die Augen auf. So, als ob er sich wünschte, dass alle in seiner Gang so waren wie sie. In dieser Sekunde knallte Max ihm ihren Kopf mit voller Wucht auf die Nase und riss ihn damit beinahe aus dem Griff seiner Komplizen.

Kafelnikov schrie vor Schmerzen, und Blut spritzte aus seiner gebrochenen Nase. In seinem blinden Zorn gelang es ihm, einen Arm freizubekommen und nach Max zu schlagen. Die hatte ihn mittlerweile aber bereits losgelassen...

... und außerdem hatte der Rest seiner Leute ihn – mit den beiden Klammeraffen im Schlepptau – ein Stück weg von der Kante in Sicherheit gezogen.

Max fiel durch den Nachthimmel und genoss den Wind in ihrem Gesicht. Sie genehmigte sich ein Lächeln. Ihren Auftrag hatte sie erledigt, und zudem hatte sie dem Oberboss der Brood eine blutige Nase verpasst. Der Abend war also bisher ein voller Erfolg.

In Höhe des siebten Stockwerks zog sie an der Reißleine für den Fallschirm und das dazugehörige Turbinengebläse. Der Schirm füllte sich sofort mit Warmluft und so hatte sie genügend Aufwind für eine relativ sanfte Landung.

Eigentlich war der Einsatz des Fallschirms so nicht vorgesehen. Dem ursprünglichen Plan zufolge hätte Max so lange auf dem Dach warten sollen, bis die Brood – die wegen der Explosion auf die Straße geflüchtet waren – sich wieder beruhigt hatten und ins Gebäude zurückgekehrt waren. Erst dann sollte sie eigentlich nach unten gleiten.

Max landete auf der Straße, stellte die Turbine ab und packte ihren Fallschirm wieder zusammen. Von Moody und dem Rest ihres Clans war weit und breit niemand zu sehen. Das

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überraschte Max nicht sonderlich, denn deren Auftrag war einzig und allein das Ablenkungsmanöver gewesen. Danach waren sie verschwunden.

Wieder waren ihr einige der Brood auf den Fersen. Als Max sich umdrehte, sah sie diese beschränkten Hohlköpfe in zerrissenen Jeans auch schon auf sich zustürzen. Den Ersten streckte sie, nach einer schnellen Drehung, mit einem Fußtritt nieder. Den Zweiten mit einem Kick in die Leistengegend und den Dritten mit einer sauberen Rechten.

Sie rannte um die nächste Ecke in die Vine Street. Immer noch war etwa die Hälfte der Brood hinter ihr her. Max wunderte sich, warum es auf der Straße feucht war. Es hatte den ganzen Tag noch nicht geregnet. Eigentlich seit Wochen nicht mehr. Sie registrierte, wie jemand einen Kanaldeckel in ihrer Nähe öffnete, drehte sich kurz um und blieb in Kampfhaltung stehen.

Da war plötzlich dieser unverwechselbare, widerliche Gestank von Benzin. Und als Max einen silbergrauen Haarschopf erblickte, war ihr natürlich sofort klar, warum die Straße nass war...

Ein kurzer Dreh, und Max rannte so schnell sie konnte – das war ziemlich schnell. In sicherer Entfernung hörte sie, wie sich das Benzin mit einem riesigen Knall entzündet hatte. Ihre Verfolger schrieen unüberhörbar. Hoffentlich vor Schreck und nicht vor Schmerzen, wünschte sich Max. Moody hatte bestimmt darauf geachtet, dass die Kerle bei der Explosion in sicherer Entfernung waren... hoffentlich.

Es war schließlich Sinn der Sache, die Verfolger aufzuhalten. Nicht, sie einzuäschern. Auch wenn letztlich die Möglichkeit, dass bei dieser Aktion jemand verletzt worden war, weder Max noch Moody eine schlaflose Nacht bereitet hätte. Max lief weiter. Zwischen ihr und den Verfolgern hatte sich eine undurchdringliche Feuerwand aufgebaut. Und so blieb den Brood keine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten.

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Moody war wieder im Schacht verschwunden, so als ob er nie wirklich da gewesen wäre... wie ein Geist eben, der sich hin und wieder in Hollywoods ehemals berühmten Straßen blicken ließ.

„Das hast du gut gemacht“, bedankte sich Max und verschwand in der Nacht.

Eine knappe Stunde später war Max bereits im Hollywood Heritage Museum. Mit Hilfe der erbeuteten Pläne hatte sie gerade die elektronischen Sperren und Lichtschranken in der ersten Etage ausgetrickst. Ihr neues Angriffsziel lag am Ende des Flurs im zweiten Stock, in einem speziell mit Lichtschranken und Minen gesicherten Raum. Das begehrte Objekt war zusätzlich mit einer speziellen Alarmanlage gesichert.

Nachts patrouillierten nur zwei Wächter das Museum. Und einer der beiden war bereits an seinem Kontrolltisch im ersten Stock eingeschlafen.

Auf den ersten Blick beherbergte das Museum nichts von wahrem Wert. Nostalgischen Kitsch aus der guten alten Zeit des amerikanischen Films eben. Bestenfalls interessant für ein paar wohlhabende Sammler von Merkwürdigkeiten aus der Zeit vor dem Puls. Nichts von all dem konnte – wortwörtlich – mit dem Juwel am Ende des Flurs konkurrieren. Das wusste Max – dank Moody – nur allzu gut.

Die Ausstellung in der ersten Etage des Museums nannte sich „Das goldene Zeitalter des Stummfilms“. Unter anderem fand man dort Gehstock, Hut und Anzug eines Komikers namens Chaplin. Oder die ziemlich weiblich wirkende, arabische Kostümierung eines Herrn Valentino. Und, man höre und staune, sogar eine Lokomotive aus dem Buster Keaton-Film „Der General“.

Leise schlich Max die letzten Stufen zum zweiten Stock hinauf. Auf dem Korridor beschäftigte sich eine weitere

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Ausstellung mit dem Thema „Das goldene Zeitalter der Studios“. Für einen Ort mit so vielen „goldenen“ Zeitaltern gibt’s hier verdammt wenig echtes Gold, dachte Max und presste sich eng an die Wand. Ihre Katzenaugen registrierten den zweiten Wächter. Er war klein und untersetzt. Schon die geringste Bewegung – auf dem gefliesten Boden – verriet Max’ sensiblem Gehör seine genaue Position am Ende des Korridors.

Schritt für Schritt, ganz langsam, bewegte sich Max vorwärts. Vorbei an ein paar Puppen in Regenmänteln – aus einem Musical mit dem Titel „Singin’ in the Rain“. Direkt im Anschluss standen vier weitere Puppen. Eine als Löwe verkleidete. Ein Roboter. Eine Vogelscheuche. Und ein Mädchen mit Haarzopf in einem blau-weiß-karierten Kleid und einem kleinen Hund auf dem Arm. Sie alle stammten aus dem Film „Der Zauberer von Oz“. Das zumindest verriet ein Schild an der Wand. Max konnte an diesen Figuren überhaupt nichts Magisches oder Mystisches erkennen. Zumal ihr, was das betraf, höchstens der Name Harry Potter geläufig war.

Der hinterste Raum auf dem Korridor war zugleich der sicherste im ganzen Gebäude. In ihm befand sich auch das wertvollste Stück des Museums.

Der schwerfällige Wächter kontrollierte die Tür, um dann seine Runde in einem anderen Stockwerk fortzusetzen. Max wartete, bis die Tür zum Treppenhaus hinter ihm ins Schloss gefallen war.

Erst als sein letzter noch hörbarer Schritt auf der Metalltreppe verklungen war – er ging nach unten – fühlte sie sich sicher und rannte lautlos die letzten Meter in Richtung Schatzkammer. Genau so stelle ich mir ,Das goldene Zeitalter des Stummfilms’ vor, dachte sie dabei und lächelte verschmitzt. Sie setzte die Alarmanlage außer Kraft und knackte den Zahlencode. Dann atmete sie erst einmal tief durch.

Bis hierher war alles ein Kinderspiel gewesen. Nun aber ging es langsam zur Sache. Überall waren Minen im Boden

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versteckt – immer aktiviert, sobald das Museum am Abend seine Pforten schloss. Zusätzlich strahlten Laserschranken kreuz und quer durch den Raum. Max warf noch einmal einen scharfen Blick auf den Plan, den Kafelnikov ihr dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hatte. Dann steckte sie ihn wieder in ihren Anzug.

Sie öffnete vorsichtig die Tür und schloss sie entspannt und leise wieder hinter sich zu. Der Raum hatte keine Fenster. Es war totenstill. Fast wie in Manticore zur Schlafenszeit, ging es ihr durch den Kopf. Max registrierte insgesamt ein halbes Dutzend Glasvitrinen mit Requisiten aus einem Film, der laut einer Aufschrift „Titanic“ hieß.

Die beiden größten Vitrinen standen in zwei sich jeweils gegenüberliegenden Ecken des Raums. Eine mit einer Puppe in einem altmodischen, durchsichtigen weißen Kleid. Die andere mit einem gut aussehenden, wenn auch kindsgesichtigen jungen Mann im Smoking.

In der Mitte des Raums waren drei lange flache Schaukästen in Form eines Dreiecks aufgestellt. Einer enthielt silbernes Tafelgeschirr, der zweite ein Schiffsmodell, im dritten war eine nachgestellte Szene aus dem Film zu sehen.

Und ganz hinten im Raum stand sie, die sechste Vitrine. Ein Scheinwerfer beleuchtete das Objekt der Begierde: ein riesiger blauer Diamant – an einer silbernen Kette aus kleineren Diamanten.

Max wusste so gut wie nichts über diesen Film. Allem Anschein nach war er der Allgemeinheit jedoch sehr bekannt. Seit dem Puls hatte man das Fernsehen fast abgeschafft. Und was davon übrig geblieben war, wurde stark zensiert. Zudem hatte Max kein Interesse an Fiktion. Warum sollte sie auch. Ihr eigenes Leben war aufregend genug.

Dank Moody kannte sie zumindest den Namen dieses Diamanten. „Das Herz des Ozeans“ war nicht – wie alle annahmen – eine billige Requisite. Der Regisseur hatte ihn

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vielmehr für 10.000 Dollar in Auftrag gegeben und ihn später dem Hollywood Heritage Museum gestiftet.

„Seinen wahren Wert kennen nur wenige“, hatte ihr Moody erzählt. „Warum sollte man also unnötig Diebe anlocken... und der Öffentlichkeit scheint er ja als Touristenattraktion völlig auszureichen... oder zumindest denjenigen, die sich überhaupt noch einen Deut um diese albernen, alten Zelluloidstreifen scheren.“

Seltsam, dachte Max. Ausgerechnet in der Stadt, die einst Träume wahr werden ließ, gibt es nun endlich einen wahren Traum... und der wird ausgerechnet deswegen berühmt, weil alle denken, dass er eine Imitation ist.

Genau dieser Traum lag nun vor ihr, nur noch wenige Meter entfernt, in einer Hochsicherheits-Vitrine aus Plexiglas.

Wenn sie dieses Ding hier rausbrachte, dann bedeutete das für den Chinese Clan ein sorgloses Leben in den nächsten Jahren. Sie musste es sich nur noch schnappen und ungeschoren aus dem Museum kommen.

Max atmete ruhig und bereitete sich auf das Finale vor. Sie schob sich einen extragroßen Kaugummi in den Mund und konzentrierte sich. Unter ihrem Anzug zog sie zwei Saugnäpfe mit Druckablassventil hervor, befestigte die beiden an ihren Händen und schaute nach oben. Zwischen der Decke und der obersten Laserschranke waren etwa sechzig Zentimeter Platz.

Mit ausgestreckten Armen sprang sie nach oben und hielt sich – nach einem kussartigen Geräusch – mit den Saugnäpfen an der Decke fest. Max atmete erst einmal tief durch und zog dann ihren Körper nach oben, bis sie mit angewinkeltem Kopf an der Decke hing.

Selbst für eine Soldatin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten war diese Belastung enorm.

Sie zog langsam die Beine an und streckte sie dann vorsichtig nach vorne aus – wie bei einer Ballettübung. Max saß nun praktisch in der Luft und hatte ihren Kopf zur Seite

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geneigt. Die Laserschranke war nur etwa fünfzehn Zentimeter unter ihr. Sich in dieser Position an der Decke entlang zu bewegen war alles andere als ein Kinderspiel.

Ohne Schweiß kein Preis, dachte Max und wagte einen flüchtigen Blick auf den Diamanten.

Sie löste einen Saugnapf und musste sich nun mit einer Hand oben halten. Die freie Hand schob sie, so weit wie möglich, nach vorne und sicherte den Saugknopf – mit bekanntem Kussgeräusch – wieder an der Decke. Das gleiche Spiel wiederholte sie mit der anderen Hand. Max war ihrer Beute um ein kleines Stück näher gekommen. Ihre Schultern taten langsam weh, doch mit einer speziellen Atemtechnik gelang es ihr, den Schmerz vorerst aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen – eine Fähigkeit, die Max schon seit frühester Kindheit beherrschte.

Von ihrem Gesicht tropfte der Schweiß. Dennoch bewegte sich Max zielstrebig vorwärts. Sie kaute immer noch auf ihrem Kaugummi und wiederholte immer noch das Spiel mit den Saugnäpfen. Zum neunten Mal bereits. Und so schmerzten nun nicht mehr nur ihre Schultern. Auch ihr Bizeps, der Trizeps, der Quadrizeps, die Kniesehne, der Gesäßmuskel. Praktisch ihr gesamter Körper tat höllisch weh.

Tief in ihrem Innern erklang eine Stimme, die ihr wieder die Geschichte von Schweiß und Preis erzählte. Sie hörte sich verdammt nach Colonel Lydecker an.

Halt’s Maul, antwortete sie ihm in Gedanken und befestigte den nächsten Saugnapf an der Decke.

Nach einer Ewigkeit, die in Wahrheit etwa sechs Minuten gedauert hatte, war sie endlich über dem Herz des Ozeans angelangt.

Die Reise bis zu diesem Punkt war schon schwer genug gewesen. Doch nun kam der wirklich anstrengende Teil der Arbeit. Links und rechts des Plexiglaskastens waren etwa fünfundvierzig Zentimeter Platz. Dieser Raum musste Max

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genügen, um den Glaskasten abzuheben und sich den Diamanten zu schnappen ohne dabei Alarm auszulösen. Und danach kam dann der Weg wieder zurück, per Saugnapf.

Alles kein Problem. Max nahm eine Hand aus dem Saugnapf. Gleichzeitig zog sie

ihre Knie an und bog ihren Oberkörper nach hinten. Ihre Füße näherten sich also der Decke, während ihr Kopf sich immer weiter nach unten in Richtung Glaskasten bewegte. Dann steckte sie einen Fuß in den freien Saugnapf.

Als klar war, dass der eine Saugnapf fest saß und ihr Gewicht trug, wiederholte sie das gleiche Spiel mit dem zweiten. Sie hing nun praktisch mit beiden Beinen kopfüber an der Decke – knapp dreißig Zentimeter über der Diamantenkette.

Mit einer schnellen Bewegung löste Max die Riegel an beiden Seiten des Plexiglaskastens. Sie nahm den Kaugummi aus dem Mund und heftete ihn auf die obere Glasplatte. Dann drehte sie den Kasten und bewegte ihn vorsichtig in Richtung Fußboden.

Nun folgte der Teil, der sie am meisten beunruhigte. Weil ihre Arme nicht lang genug waren, um den Kasten

sicher auf dem Boden abzustellen, hätte sie ihn den restlichen halben Meter fallen lassen müssen – in der Hoffnung, dass der Kaugummi ihn sofort am Boden festklebte und somit verhinderte, dass er eine der Lichtschranken berührte.

Max atmete noch einmal tief durch und ließ dann den Kasten so sanft wie möglich los. Beinahe teilnahmslos fiel er nach unten und landete mit einem kaum hörbaren dumpfen Schlag auf dem Boden. Dann schaukelte er langsam einer Laserschranke entgegen...

... fing sich aber glücklicherweise wieder und blieb ruhig stehen.

Schritt eins erledigt. Max zog ein kleines Messer aus ihrem Anzug und widmete

sich nun dem eigentlichen Schmuckstück. Die Halskette war

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zwar mit nur einem Draht an das Alarmsystem angeschlossen, doch Max musste sehr präzise vorgehen.

Sie spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Ihr Gesicht wurde heiß und errötete – als ob sie sich für irgendetwas hätte schämen müssen. Nur noch einen kurzen Moment, dann war es so weit... nur noch wenige Sekunden...

Als sie so kopfüber an der Decke hing, dachte sie darüber nach, ob sie – mit einem Schuss Fledermaus-DNS in ihren Genen – genauso benommen wäre wie in diesem Moment. Vorsichtig entfernte sie ein längeres Stück Plastikisolierung von dem Draht. Das Messer packte sie wieder weg und zog einen eigens präparierten Draht hervor – mit jeweils einer Klammer an seinen beiden Enden. Nacheinander verband sie nun die zwei Klammern mit dem freigelegten Kupferdraht und bildete damit eine Brücke. Dann teilte sie das Alarmkabel mit dem schnellen Schnitt einer Drahtschere zwischen den beiden Klammern.

Einige Sekunden lang hielt sie die Luft an... doch der Alarm blieb stumm. Die Laserstrahlen verharrten ungerührt, und auch die Minen schliefen fest.

Zum ersten Mal an diesem Abend genehmigte sich Max ein ordentlich breites Lächeln. Sie löste den Draht ab, nahm den blauen Diamanten liebevoll in die Hand und küsste ihn... kurz...

... und plötzlich – als ob ihre Lippen der Auslöser gewesen waren – brach der Alarm los.

Scheiße, dachte Max und stellte überrascht fest, dass sie mit ihrem Vokabular mittlerweile Colonel Lydecker locker Paroli hätte bieten können.

Von dem gewichtssensitiven Alarmsystem hatte nichts in ihren Plänen gestanden. Die Alarmsirene lärmte wie eine schnatternde Schar verärgerter Gänse – ein widerwärtiges Geräusch, das selbst unter normalen Umständen eigentlich nicht zu ertragen war.

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Ein erster Laserstrahl bohrte sich in die Stelle, an der eben noch der Diamant gelegen hatte und bewirkte eine Explosion. Max hatte sich noch rechtzeitig nach oben wegziehen können. Auch wenn die Minen im Fußboden nun sicher scharf waren, entschied sie sich für den schnelleren Weg über den Boden nach draußen. Sie riss ihre Füße aus den Saugnäpfen und ließ sich auf den Boden fallen. Überall im Raum schossen die Laser wie wild um sich.

Zum Glück war bisher noch keine Mine detoniert... Max schnappte sich den leeren Plexiglaskasten – wie einen

quadratischen Football – und machte eine Rolle vorwärts in Richtung Tür. Als sie wieder aufrecht stand, schoss ein Laser direkt auf ihr Gesicht zu.

Mit übermenschlichem Reaktionsvermögen wich sie nach links aus und der Strahl huschte – im wahrsten Sinne des Wortes – haarscharf an ihrer rechten Wange vorbei.

Sie sprang mit all ihr zur Verfügung stehender Kraft auf eine der Glasvitrinen in der Mitte des Raums. Sekunden später schoss ein weiterer Laser an ihr vorbei. Nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der sie eben noch gestanden hatte, schlug er ein und ließ eine der Minen explodieren. Wenigstens wusste sie jetzt, dass die Minen nicht dafür vorgesehen waren, Eindringlinge umzubringen, sondern nur zu verletzen.

Irgendwie beruhigend zu wissen, dachte sie. Es blieben ihr nur wenige Augenblicke, bis die Laser sie

wieder ins Visier nehmen würden. Zielgenau warf sie den Plexiglaskasten zur Tür... Volltreffer. Die Explosion einer weiteren Mine übertönte seinen Aufprall und zerriss ihn in tausend Einzelteile.

Max sprang in den neu entstandenen Krater. Ihr war klar, dass alle Pläne und jegliche Strategie gemeinsam mit dem Plexiglaskasten zerplatzt waren. Von nun an musste sie sich auf ihre Geschicklichkeit und ein wenig Glück verlassen. Gesagt und getan. Max war unversehrt an der Tür

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angekommen. Offensichtlich hatte man die Zahl der Minen klein gehalten, um das Gebäude nicht zu beschädigen.

Die Tür war verschlossen, denn der Alarm hatte einen automatischen Schließmechanismus ausgelöst – auch von diesem Leckerbissen war in den Plänen nichts vermerkt.

Je länger Max an der Tür verweilte, desto näher kamen ihr auch die Laserstrahlen. Anscheinend waren sie von Bewegungs- und Körperwärmesensoren gesteuert. Schon wieder kam einer direkt auf sie zu. Sie wich rechtzeitig aus, und der Laser erwischte exakt die Türverriegelung.

Der Weg war nun frei. Max lief auf den Flur und brachte sich in Sicherheit, denn die Laser schossen immer noch heftig den Korridor hinunter.

Die beiden Wächter rannten – mit Schlagstock und Pistole bewaffnet – auf sie zu. Anscheinend hatten sie die Minen im Flur abgeschaltet, da sie den Eindringling noch im Ausstellungsraum vermuteten.

Der jüngere der beiden war muskulös, etwa Mitte zwanzig und ziemlich verärgert. Den anderen Typen kannte Max bereits. Sie hatte ihn zuvor während seiner Patrouille beobachtet. Er war mindestens zwanzig Jahre älter und bestimmt hundert Pfund schwerer als sein Kollege. Und er wirkte ziemlich verängstigt.

Der Muskulösere der beiden richtete seine Pistole auf Max und drückte ab. Geschickt wich sie seiner Kugel aus, rollte sich ab und tauchte direkt vor ihm auf. Dann packte sie ihn am Hals, hob ihn langsam nach oben und schickte ihn der Länge nach den Flur hinunter. Irgendwann später würde er sich bestimmt fragen, wie einfach er sich von einem Mädchen hatte fertig machen lassen.

Der Dicke wollte unbedingt entschlossen wirken, doch dieser Versuch schlug fehl und er begann zu zittern. Ohne zu zielen drückte er ab, und als Max ihm immer näher kam, erstarrte er förmlich vor Angst. Wahrscheinlich befahl ihm eine innere

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Stimme, doch besser seinen Schlagstock einzusetzen. Und eine zweite erinnerte ihn zugleich daran, wie wenig man ihm letztlich für diesen Job bezahlte. Also blieb er einfach regungslos stehen und zitterte weiter – wie Gelatine.

Max streichelte kurz seine Wange und grinste ihn an. Dann verschwand sie durch den Flur. Als sie das Museum verließ, hörte sie in der Ferne noch ein

paar Sirenen. Bis die Polizei dann vor Ort war, hatte sie sich längst aus dem Staub gemacht...

Das Herz des Ozeans war sicher unter ihrem Anzug verstaut. Sie konnte es kaum erwarten, Moody endlich den Stein zu zeigen.

Wäre sie kein Mädchen gewesen, dann hätte sie sich in diesem Moment sicherlich wie der König der Diebe gefühlt.

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3. Kapitel__________________________ EIN ZUHAUSE

Auf der Straße Casper, Wyoming, 2009

Mit ihrem dünnen, farblosen Manticore-Hemd und den nackten Füßen auf dem eisig kalten Asphalt wirkte die neunjährige Max wie ein Fremdkörper in dieser Wohngegend. Sie verstand nicht im Geringsten, womit das kleine Mädchen sich dort drüben im Vorgarten beschäftigte. Welchen Sinn machte es, einen Ball aus Schnee über den Hof zu rollen und ihn dabei Stück für Stück größer werden zu lassen?

Max beobachtete das Kind auf der anderen Straßenseite mit äußerst wachen Augen. Sie war etwa ein oder zwei Jahre älter als Max, hatte langes schwarzes Haar und trug eine rote Wollmütze. Ihre Nase war klein, die Lippen kräftig und ihre hübschen blauen Augen trugen endlos lange Wimpern.

Fassungslos sah Max, wie das Mädchen den Ball aus Schnee wieder dorthin zurückrollte, wo es gerade hergekommen war. Die runde weiße Kugel reichte ihr mittlerweile bis zur Hüfte, und Max war immer noch nicht klar, was das alles zu bedeuten hatte.

Um die Sache näher unter die Lupe zu nehmen, ging Max ein paar Schritte zurück und versteckte sich hinter einem Auto. Von hier aus schlich sie sich über die Straße zum gegenüberliegenden Eckhaus, dann über den Garten auf das Haus zu, in dessen Vorgarten das Mädchen spielte. Welchen Sinn macht dieses Schneerollen?, fragte sich Max erneut. Und welche Strategie steckt dahinter?

Schließlich hatte sie das Haus erreicht und versteckte sich hinter einem Busch. Das Kind war immer noch voll bei der

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Sache. Max betrachtete sich selbst, ihr Nachthemd, die nackten Füße. Irgendwie passte das nicht im Vergleich zu dem, was das Mädchen trug: rote Wollmütze, grüne Fausthandschuhe, rosa Anorak, blaue Jeans und kanarienvogelgelbe Stiefel.

Max war völlig fasziniert und nun noch neugieriger. Das Mädchen in der roten Wollmütze schien sich dafür entschieden zu haben, dass der Ball groß genug war. Es ließ ihn in der Mitte des Gartens liegen und lief dann Richtung Bürgersteig. Dort packte es so viel Schnee zusammen, bis die Kugel so groß war, dass es sie nicht mehr festhalten konnte. Dann rollte es den Ball – wie zuvor – im Garten hin und her.

Die zweite Kugel war nur unwesentlich kleiner als die erste und ging ihm ebenfalls fast bis zur Hüfte. Das Mädchen versuchte, sie auf die größere Kugel zu heben, aber irgendwie funktionierte das nicht so richtig.

Max wusste genau, dass sie sich besser davonmachen und Kontakt auf jeden Fall vermeiden sollte. Ein Unterschlupf, etwas zu essen und zum Anziehen waren im Moment einfach wichtiger. Doch irgendetwas hielt sie hier fest, und das war ganz bestimmt nicht die eisige Kälte. Es hatte mit diesem Mädchen zu tun...

So sehr das Mädchen mit der roten Mütze sich auch bemühte, es gelang ihm einfach nicht, die beiden Kugeln übereinander zu bringen. Gedankenlos verließ Max plötzlich ihr Versteck.

Den Instinkt, Brüdern und Schwestern zu helfen, hatte man ihr – trotz aller Bemühungen – in Manticore nicht austreiben können... und dieses etwa gleichaltrige Mädchen stand nun sozusagen stellvertretend für ihre Geschwister aus der X5-Reihe.

Als Max auftauchte, blieb das Mädchen mit der roten Mütze regungslos und mit offenem Mund stehen. Max gab keinen Ton von sich, sondern lief einfach auf die andere Seite der Kugel und setzte ihre Hände an deren Unterseite an. Der Schnee fühlte sich kalt an, zugleich aber auch erfrischend und

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überhaupt nicht unangenehm. Das Mädchen verstand sofort und griff auf seiner Seite ebenfalls unter die Kugel. Mit vereinten Kräften war der Rest ein Kinderspiel – ja, selbst Max war schließlich noch ein Kind, wenn auch genetisch aufgepeppt.

„Kannst du einen Moment festhalten, bitte?“, fragte das Mädchen und schnappte nach Luft.

Max nickte gehorsam und drückte ihre Hände fest an die Kugel.

„Ich... ich muss... noch etwas Schnee außenrum packen... damit sie nicht wieder runterfällt“, keuchte das Mädchen.

Max nickte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das alles bedeutete. Dann fragte sie: „Worin liegt eigentlich der Sinn dieser Übung?“

Das Mädchen schaute sie verwundert an. „Wie bitte?“ „Ich meine, was machst du hier? Was soll das denn werden?“ „Was das werden soll? Ein Schneemann natürlich, du

Dummerchen!“ „Aha, so etwas wie ein Pappkamerad also?“ Das Mädchen runzelte die Stirn. „Sieht Frosty wirklich so

schrecklich aus?“ „Nein, auf keinen Fall. Dann... ist es vielleicht eine Statue?“ So hatte das Mädchen das noch nie betrachtet. „Hm...

irgendwie schon. Ja.“ „Aber die Statue wird schmelzen. Sie ist vergänglich.“ „Klar wird sie schmelzen. Irgendwann sicher. Aber noch ist

es ja kalt genug.“ „Wenn die Statue schmilzt, warum baust du sie dann

überhaupt?“ „Weil es Spaß macht!“ Max hatte diesen Ausdruck zwar schon einmal gehört, in

Manticore – aber in einem völlig anderen Zusammenhang. „Macht es dir keinen Spaß?“, fragte das Mädchen mit der

Mütze. „Wie heißt du eigentlich?“

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„Max.“ „Max? So heißen doch normalerweise Jungs, oder?“ „Nein. Ich bin ein Mädchen.“ „Das sehe ich doch, Dummerchen... ich heiße Lucy. Lucy

Barrett.“ Während sie sich unterhielten, hatte das Mädchen immer wieder Schnee zwischen die beiden Kugeln gepackt und dann geglättet. Max hatte das Prinzip mittlerweile verstanden und half nun kräftig mit.

„Du heißt Lucy. Hallo Lucy.“ „Hallo Max. Ist dir nicht kalt?“ Max zuckte mit den Schultern. „Ein bisschen.“ Das Mädchen mit der Mütze erklärte nun, dass Frosty noch

einen Kopf brauchte. Also machte sich Max sofort an die Arbeit, und gemeinsam rollten die beiden eine kleinere Kugel.

„Bist du krank, Max?“ „Krank?“ „Ja. Du siehst aus, als würdest du gerade aus einem

Krankenhaus kommen oder so.“ „Oh, nein. Mir geht’s gut.“ „Prima“, sagte Lucy und rieb die dritte Kugel noch etwas

glatter. „Wohnst du hier in der Gegend?“ Max schüttelte den Kopf und half, den Kopf auf die

Schneestatue zu heben. „Bist du auch bei Verwandten zu Besuch, Max?“ „Verwandte?“ „Wo ist denn deine Mami? Meine Mami wäre ziemlich böse,

wenn ich ohne Mantel, Stiefel, Handschuhe und Mütze bei dieser Kälte nach draußen ginge.“

„Mami?“ Max stützte die dritte Kugel, und Lucy drückte den Schnee fest, bis alles stabil war.

„Hast du denn keine Mami? Oder lebst du bei deinem Papa?“ „Mein Papa?“ Aus ihrer Anoraktasche zog Lucy eine Karotte und zwei

Stückchen Kohle. Damit fertigte sie nun ein Gesicht für Frosty.

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Die beiden traten einen Schritt zurück und betrachteten aufmerksam ihr gemeinsames Kunstwerk.

Nicht weniger aufmerksam blickte Lucy dann zu Max. „Du bist doch nicht etwa aus einer Klapsmühle abgehauen, oder?“

„Klapsmühle?“ Das Mädchen mit der Mütze war etwas irritiert. „Dann... äh...

kommst du vielleicht aus einem anderen Land?“ „Ich bin Amerikanerin.“ Das wusste Max nun ganz sicher. „Aber hast du denn keine Mami?“ „Nein, ich hatte noch nie eine Mami.“ „Das kann doch gar nicht sein.“ „Lucy... ich weiß ja noch nicht mal, was eine Mami ist.“ Das Mädchen mit der Mütze kicherte. „Hab ich gerade was Lustiges gesagt?“, fragte Max etwas

irritiert. „Meinst du das im Ernst?“ Lucy kicherte immer noch. „Du

weißt wirklich nicht, was eine Mami ist?“ Max kam sich plötzlich ziemlich dumm vor. „Äh... nein.“ „Und... und wie bist du hierher gekommen?“ Ich bin aus Manticore geflohen, dann auf einem Lastwagen...

Beinahe hätte Max etwas Falsches gesagt, konnte sich aber noch rechtzeitig zurückhalten. Sie wusste recht wenig von der Welt hier draußen. Dennoch war ihr klar, dass das Mädchen etwas ganz anderes gemeint hatte.

Lucy hatte schon wieder eine neue Frage auf Lager. „Du bist doch irgendwie auf diese Welt gekommen, oder?“, bemerkte sie leicht spöttisch.

Auch hierauf wusste Max keine Antwort. „Bist du so angezogen, weil es niemanden gibt, der sich um

dich kümmert?“ Max wunderte sich, warum sie – trotz neun Jahren intensiven

Trainings – auf die Fragen dieses Mädchens mit der roten Mütze nicht vorbereitet war.

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Die beiden gingen zum Haus hinüber und setzten sich auf die Eingangstreppe. „Du kommst nicht aus der Gegend, oder?“, wollte Lucy wissen.

Endlich eine Frage, auf die Max eine Antwort wusste. „Nein.“

„Ich auch nicht. Meine Mami ist drinnen, bei meiner Tante. Wir sind seit gestern zu Besuch hier. Es ist schön, weil Papa nicht da ist... aber leider fahren wir schon bald wieder nach Hause.“

„Was ist denn eine Tante?“, fragte Max. „Eine Tante... also, Tante Vicki ist die Schwester meiner

Mami.“ Lucy lachte. Dann klang sie plötzlich besorgter: „Max, du bist doch nicht etwa weggelaufen?“

„Ja, bin ich.“ Irgendwie schienen die Fragen leichter zu werden.

Lucy zog ihre Handschuhe aus. „Hier... bitteschön.“ Max zog die Handschuhe an. Sie waren zwar feucht vom

Schnee, aber wenigstens wärmten sie ein wenig. „Vielen Dank, Lucy.“

„Also, Max... du hast kein Zuhause“, stellte Lucy fest. „Richtig, Lucy.“ „Und ich habe keine Schwester.“ „Ich habe Schwestern... und Brüder.“ „Wirklich? Wo denn?“ „Wir... wir wurden getrennt.“ „Oh... ich kenne viele Kinder, denen es so geht wie dir.“ Irgendwie konnte Max ihr das nicht glauben. Lucy blickte zum Haus. Es war ein Halbgeschosshaus mit

einem riesigen Panoramafenster im Wohnzimmer. Dann schaute sie wieder zu Max und ihre Augen schimmerten vor Aufregung. „Du hast keine Kleider... oder einen Ort, wo du wohnst... und wo du was zu essen bekommst, stimmt’s?“

Max wusste darauf nicht zu antworten. Ihre Hände waren mittlerweile um einiges wärmer geworden. Und so wurde ihr

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auch langsam bewusst, wie kalt der Rest ihres Körpers war. Sie zitterte ein wenig und bewegte sich hin und her, damit ihr wieder wärmer wurde.

„Max, meine Mami ist sehr gutmütig. Sie wollte immer, dass ich eine Schwester bekomme. Aber sie und Papa haben keine mehr gekriegt.“

„Warum nicht?“ „Keine Ahnung. Aber meine Mami würde dir bestimmt

helfen, das weiß ich.“ Max war frustriert. „Lucy, ich weiß immer noch nicht, was

eine Mami ist“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ihr war immer noch nicht klar, was das alles zu bedeuten hatte.

Lucy war nun sichtlich verwirrt. Leicht zerstreut lief sie zurück zum Schneemann, um ihn noch etwas glatt zu streichen und dabei nachzudenken. Max lief ihr hinterher.

„Eine Mami hat mich geboren und dich auch“, sagte Lucy nach längerem Schweigen.

„Deine Mami hat mich geboren?“ Lucy lachte und schüttelte den Kopf. „Nein... deine Mami,

wer immer sie auch ist oder war. Sie hat dich geboren. Du hast doch einen Nabel, oder?“

„Das weiß ich nicht.“ „Du hast keinen Bauchnabel?“ „Ach so, einen Bauchnabel, ja klar, den hab ich.“ „Mit dem waren du und deine Mami verbunden bis du

geboren wurdest. Das ist der Beweis. Du hast also eine Mami. Ob du sie nun kennst oder nicht.“ Lucy zuckte mit den Schultern. „Jeder hat doch eine Mami.“

„Mamis sind also immer Mädchen, richtig?“ „Frauen“, verbesserte Lucy. „In ein paar Jahren werden wir

beide Frauen sein. Und irgendwann auch Mamis.“ Max fand diese Vorstellung weniger angenehm. „Müssen wir

unbedingt Mamis werden?“

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„Warum stellst du mir denn immer solch schwierige Fragen, Max?“

Max war ziemlich erleichtert, als sie feststellte, dass auch Lucy nicht auf jede Frage eine Antwort wusste.

„Wie auch immer“, fuhr Lucy mit einem letzten prüfenden Blick auf Frosty fort. „Meine Mami kann dir helfen. Sie wird dir bestimmt was zu essen geben, und vielleicht hat Tante Vicki noch ein paar alte Kleider übrig...“

So viele Menschen... darauf war Max nicht vorbereitet. Ich hätte niemals hier anhalten und niemals dieses Mädchen ansprechen dürfen, ging es ihr durch den Kopf.

„Nein“, sagte Max dann. „Ich schlage mich alleine durch. Ich bin anpassungsfähig und werde schon überleben.“

„Wie bitte?“ „Erzähl niemandem, dass du mich gesehen hast, okay?“ Lucy sah sie verblüfft an. „Bitte, Lucy... sonst muss ich...“ „Musst du was?“ Dich umbringen, dachte Max. Lucys Miene erhellte sich wieder. „Klar, es ist, weil du

weggelaufen bist, nicht wahr? Du denkst, meine Mami wird dich wieder zurückschicken!“

Max nickte und packte Lucy am Arm. „Versprichst du es mir, Lucy?“

Lucy legte ihre Hand auf die von Max. „Haben sie dir wehgetan, die Leute, vor denen du weggerannt bist? Waren sie sehr streng?“

In ihrer Vorstellung sah Max, wie ihre Schwester Eva – von Lydecker tödlich getroffen – zu Boden fiel.

„Ja, sie waren streng“, antwortete Max. „Haben sie dir wehgetan?“ „Ja, sehr.“ Max’ Geschichte begann Lucy zu faszinieren und sie vergaß

darüber völlig ihre Mutter. „Was haben sie dir denn angetan?“

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„Sie haben mich meiner Mutter weggenommen“, erklärte Max, was sie selbst erst in eben diesem Moment festgestellt hatte. „Und dann erzählten sie mir, dass es sie niemals gegeben hätte.“

„Das haben die wirklich getan?“ Einen Block weiter fuhr ein Auto vorbei. Als Max es

bemerkte, versteckte sie sich sofort wieder hinter dem Busch. Und Lucy blieb ihr natürlich auf den Fersen.

„Das haben die wirklich getan?“, fragte Lucy noch einmal. „Ja“, antwortete Max. „Und jetzt suchen sie mich. Du bist

auch in Gefahr, solange du bei mir bist! Deshalb darf niemand wissen, dass ich hier bin.“

Lucy war die Gefahr, in der sich Max befand, nicht wirklich bewusst. Für sie war es einfach eine aufregende Geschichte. „Hör zu, Max. Ich habe eine Idee. Du kannst dich bei uns verstecken. Wir wohnen ganz weit weg von hier, wirklich. Dort wird nie jemand nach dir suchen.“

In Max machte sich plötzlich ein Gefühl breit, das sie bisher nicht kannte: Hoffnung. „Falls ich mit euch komme, muss du dann nicht vorher deine Mami fragen?“

„Vertrau mir, sie wird dir sicher helfen wollen.“ Max schüttelte energisch den Kopf. Vertraut hatte sie damals

auch Lydecker... „Mami mag Kinder über alles. Sie wird dir helfen und die

Leute, die dich suchen, von dir fern halten. Weißt du, sie hat schon mal versucht, ein Schwesterchen für mich zu adoptieren, aber sie haben es abgelehnt.“

„Adoptieren?“ „Ja, ein Kind aufnehmen, dessen Mami tot ist oder so. Aber

mein Papa... sie haben gesagt, dass er nicht geeignet ist, na ja... egal, sie würde auf jeden Fall alles dafür tun, dass ich eine Schwester bekomme.“

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Max war nicht davon überzeugt. „Danke, aber ich glaube, ich werde jetzt besser verschwinden.“ Sie zog die Handschuhe aus und gab sie Lucy wieder zurück.

„Du darfst jetzt nicht gehen! In diesem Hemdchen wirst du erfrieren! Du zitterst ja jetzt schon.“

Max zuckte mit den Schultern. „Lieber erfriere ich, als dass ich dahin zurückgehe.“ Sie drehte sich um und lief zur hinteren Seite des Hauses.

Lucy folgte ihr. Sie legte eine Hand auf Max’ Arm und sagte: „Und wie wäre es, wenn es unser Geheimnis bleibt?“

Max schaute sie misstrauisch an. „Ehrlich“, versuchte Lucy sie zu überzeugen. „Du kannst

dich im Auto verstecken und wenn wir zu Hause sind, dann bist du Hunderte von Kilometern weg von hier.“

„Meinst du das funktioniert?“ „Klar... wenn du ganz leise sein kannst.“ Max zuckte wieder die Schultern. „Kann ich sehr gut.“ „Also?“ Lucy streckte ihre Hand aus – eine Geste, die Max aus

Manticore kannte: Sie schlug ein. Mit verstohlenem Blick führte Lucy Max nach vorne auf die

Straße – zu einem alten klapprigen Auto. „Wenn ich die Tür öffne, musst du ganz schnell reinspringen. Hinten liegt eine Decke... unter die kriechst du dann. Bleib immer schön auf dem Boden. Und: mucksmäuschenstill!“

„Ich kann noch viel leiser sein“, antwortete Max, die mit ihrem sensiblen Gehör Mäuse schon immer für viel zu laut gehalten hatte.

„Ich muss hinten sitzen, da können wir flüstern... und vielleicht gibt mir Tante Vicki noch einen Snack für die Fahrt mit. Den teilen wir uns dann.“

„Snack?“ „Was zu essen, Max. Du hast doch sicher schon mal was

gegessen, oder?“

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Max lächelte, obwohl ihr vor Angst gar nicht danach zumute war. „Ja, aber das ist mittlerweile schon eine ganz schöne Weile her.“

Lucy nickte ihr zu. „Okay, ich werde dir was holen. Puh, ist das aufregend. Einen Schneemann zu bauen ist dagegen echt scheißlangweilig!“

Max riss erstaunt die Augen auf. Ein verbotenes Wort aus Lucys Mund, das hatte sie nicht erwartet.

„Jetzt aber schnell rein“, befahl Lucy. „Und ab unter die Decke!“

Sie öffnete die Wagentür und Max – die gewohnt war, den Befehlen ihres Gruppenführers Folge zu leisten – gehorchte ohne Widerrede. In dem Auto war es sehr kalt, aber immer noch um einiges wärmer als draußen. Max schlüpfte unter die Decke und es wurde ihr auch schon gleich viel wärmer.

Etwa eine Stunde später ging die Heckklappe auf. Max geriet fast in Panik... doch Lucys Mutter fiel glücklicherweise nichts Ungewöhnliches auf. Sie schob zwei Reisetaschen in den Kofferraum – eine davon verdammt nah an Max’ Nase – und schloss dann die Tür wieder zu.

Tante Vicky verabschiedete sich und umarmte Lucy und ihre Mutter noch einmal kräftig, bevor die beiden ins Auto stiegen.

„Vergiss nicht den Gurt anzulegen, Lucy!“, sagte ihre Mutter.

„Okay, Mami“, antwortete Lucy und ließ sich mit ihrem gesamten Gewicht in den Sitz fallen.

Max schob eine Tasche zur Seite – um sich etwas Platz zu verschaffen – und nahm erst einmal ihre neue Welt unter die Lupe: Lucys Sitz war recht hoch und so befand sich unter ihm noch genügend freier Stauraum. Hier konnte Max durchkriechen und blickte nun von unten hoch zu Lucy, die in diesem Moment am liebsten lauthals gekichert hätte. Max fand das alles nicht so lustig. Für sie war die ganze Situation eine Art Überlebenstraining.

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„Alles klar, Lucy?“, fragte ihre Mutter. „Ja, alles okay.“ Sie fuhren los. „Es wird gleich warm hier drin, Liebes.“ „Schön, ich friere nämlich ein bisschen.“ „Hoffentlich hast du dich nicht erkältet wegen diesem

albernen Schneemann.“ „Kannst du Frosty nicht leiden, Mami?“ „Doch, sehr gut, Liebes. Und er sah auch sehr gut aus.“ Im Auto wurde es schnell warm. Lucy schaute zu Max und

nickte ihr zu. „Jetzt ist es uns warm genug, Mami.“ „Uns?“ „Meine neue Freundin... äh, Max... siehst du sie denn nicht?

Sie sitzt doch hier neben mir.“ Mami lachte leise. „Wieder eine deiner unsichtbaren

Freundinnen?“ Lucy zuckte mit den Schultern. „Kleines, bist du dafür nicht langsam ein bisschen zu alt?“ „Max wird die Letzte sein, okay?“ Die beiden neckten sich in diesem Stil eine ganze Weile

weiter. Von Zeit zu Zeit – immer wenn ihre Mami gerade nach vorne schaute – schob Lucy Max ein paar Kekse zu. Diese Mami scheint wirklich nett zu sein, dachte Max und bemühte sich so leise wie nur möglich zu kauen. Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter in dieser Form, das kannte sie nicht. Sie erinnerte sich an Manticore, und dass die Erwachsenen dort einen gänzlich anderen Umgang mit ihren Kids führten. Max wurde klar, wie fremd sie noch in dieser neuen Welt war.

Im Radio spielten sie dieselben Country-Songs, die Max bereits von den Nachtwachen in Manticore kannte. Lucy war darüber eingeschlafen und Max hatte ebenfalls mit der Müdigkeit zu kämpfen. Dann schlief auch sie ein.

Als sie aufwachte, stand das Auto still. Nervös blickte Max unter dem Sitz hervor und stellte fest,

dass Lucy nicht mehr auf ihrem Platz saß. Auch der

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Kofferraum war ausgeräumt. Sie spitzte die Ohren, um herauszufinden was Sache war. Doch da war nichts Ungewöhnliches. Außer den üblichen Nacht- und Verkehrsgeräuschen war es verhältnismäßig ruhig.

Wieder einmal war Max allein. Sie kroch unter ihrer Decke hervor und schaute aus dem Fenster. Es war Nacht. Das Auto stand in einer mit weißen Linien auf schwarzem Asphalt gekennzeichneten Parklücke. Hinter der nummerierten Tür vor dem Auto – so vermutete Max – schliefen wahrscheinlich die Barretts.

Sie stieg vorsichtig aus dem Wagen und streckte sich. Das lange verschränkte Liegen unter dem Sitz hatte seine Spuren an ihr hinterlassen. Doch immerhin war es warm und trocken gewesen, und so fühlte sie sich insgesamt gesehen relativ entspannt – zumal auch Manticore nun weit hinter ihr lag. Normalerweise brauchte sie so gut wie nie Schlaf, aber nach all den Strapazen hatte sie den anscheinend bitter nötig gehabt. Max wollte sicher gehen, dass sie nicht beobachtet wurde und erkundete ein wenig die Gegend – den Wagen immer im Visier.

Es war etwas wärmer als da, wo sie gerade her kamen, und Schnee gab es auch kaum noch welchen. Sie hatten direkt vor einem zweigeschossigen Betongebäude geparkt. Und die nummerierte Eingangstür der Barretts lag genau in der Mitte der untersten Etage. Auf dem riesigen Parkplatz standen noch etwa zwanzig weitere Autos. Die meisten von ihnen trugen das Kennzeichen des Bundesstaates Utah.

Max stand vor einer Glastür mit der Aufschrift Lobby. Sie spähte hindurch und bemerkte, dass drinnen noch ein paar Lichter brannten. Die Tür war unverschlossen. Als Max sie öffnen wollte, ertönte sofort ein Summton. Sie verschwand umgehend und versteckte sich hinter einem Wagen. Durch seine Fenster beobachtete sie, wie ein junger blonder Mann in weißem Shirt und brauner Hose aus einem Hinterzimmer kam.

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Er blickte kurz über die Theke, zuckte mit den Schultern und ging dann wieder nach hinten.

Auf einem Tisch in der Mitte der Lobby sah Max eine Schüssel mit Obst. Ihr Magen knurrte und sie blickte heißhungrig auf die Tür mit dem lästigen Summton.

Während ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, dass sich jedes Hindernis irgendwie umgehen lässt. Eine Weile dachte sie über das Problem nach, während ihre Augen ständig an den Früchten klebten – viel mehr als ihr lieb war. In diesem Moment war einfach Selbstbeherrschung angesagt. Sie war schließlich kein Kind mehr. Also begab sie sich auf die Suche nach einer anderen Möglichkeit, in die Lobby zu kommen.

Auf der linken Gebäudeseite fand sie auch schon bald einen Eingang. Die Tür konnte zwar nur mit einer Karte geöffnet werden, aber sie war unbewacht.

Max lief zurück zum Auto der Barretts, um nach brauchbarem Werkzeug zu suchen. Ein Schraubenzieher war zwar nirgends zu finden, doch das Taschenmesser im Handschuhfach sollte auch seinen Zweck erfüllen.

Fünf Minuten später hatte sie den Deckel des Kastens an der Seitentür abgeschraubt, das Sicherheitssystem kurzgeschlossen und befand sich nun auf dem direkten Weg zur Lobby und der heiß ersehnten Belohnung. Dort schnappte sie sich kurzerhand die Schüssel und verschlang umgehend zwei Bananen und eine Orange. Die Schalen ließ sie am Haupteingang zurück, damit es so aussah, als wäre sie dort hinausgegangen.

Als Nächstes machte Max sich auf die Suche nach einem Waschbecken, um noch etwas Wasser zu trinken, bevor sie dann zurück zum Wagen ging.

Hier verspeiste sie den Rest ihrer Beute – eine weitere Banane und zwei Äpfel – und wartete, bis Lucy und ihre Mutter wieder auftauchten. Max versteckte sich wieder unter der Decke und die Fahrt ging weiter.

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Lucy wollte ihr etwas zuflüstern, doch Max schüttelte den Kopf, denn sie wollte nichts riskieren. Mit voll geschlagenem Bauch dachte Max darüber nach, wie überraschend gut sie sich doch in dieser fremden Welt zurechtfand. Dann verschwand sie unter ihrer Decke und schlief zufrieden ein.

Acht Stunden später waren sie endlich am Ziel ihrer Reise angekommen. Nachdem Lucy und ihre Mutter ausgestiegen und wieder verschwunden waren, kroch Max aus ihrem Versteck – um sie herum nur Sonne, Wärme und Palmen.

Etwas Ähnliches hatte sie bereits in Trainingsvideos gesehen. Doch das war mit der Wirklichkeit nicht zu vergleichen. Sie streckte ihr Gesicht und ihre Hände der Sonne entgegen. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so wohl gefühlt.

Max stand vor einem kleinen Holzhaus – kleiner als das, vor dem sie Lucy kennen gelernt hatte. Das Auto stand im Hof und dahinter erstreckte sich eine lange Straße – mit einstöckigen Häusern auf beiden Seiten – so weit das Auge reichte.

Irgendwo lachten ein paar Kinder. Weil sie Lucy bei ihnen vermutete, wollte Max auf sie zugehen, doch eine Frauenstimme hielt sie auf.

„Du hast bestimmt Hunger.“ Max drehte sich überrascht um und erkannte Lucys Mutter an

der Tür. Ihr freundliches Gesicht verlieh ihrem Lächeln eine Wärme –

vergleichbar der des Sonnenscheins. „Ist schon gut, Liebes. Lucy hat mir von deinem Problem erzählt.“

Zuerst wollte Max einfach nur weglaufen. Doch dann erinnerte sie sich an Hannah, die einzige Frau, mit der sie bisher außerhalb von Manticore gesprochen hatte. Sie hatte Max auf der Flucht geholfen... und diese Frau hier schien – genau wie Hannah – alles andere als böse zu sein. Sie hatte sogar Liebes zu ihr gesagt, was offensichtlich eine herzliche Geste war, denn so hatte sie auch ihre eigene Tochter genannt.

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„Möchtest du nicht reinkommen?“, fragte Lucys Mutter und lächelte freundlich. „Und eine Kleinigkeit essen?“

Max näherte sich ihr ganz langsam. Sie überlegte, ob wohl alle Mamis so aussahen: ungefähr 1,65 Meter groß, um die sechzig Kilo schwer und hoch gestecktes dunkelbraunes Haar. Lucys Mutter hatte blaue Augen und volle Lippen – wie ihre Tochter – und auch dieselben endlos langen Wimpern. Sie trug ein himmelblaues Kleid mit kleinen rosa Blümchen.

„Lieber nicht“, sagte Max nach längerem Zögern. „Hör zu, Max... du heißt doch Max, oder?“ Max nickte. „Ist das die Kurzform von Maxine?“ „Nein, nicht dass ich wüsste.“ „Also, Max... Lucy hat mir erzählt, dass du kein Zuhause

hast. Und dass die Leute, bei denen du früher warst, dir wehtun werden, wenn sie dich finden. Stimmt das?“

Max nickte ihr wortlos zu. „Das heißt, du brauchst ein neues Zuhause, richtig?“ Max schaute die Straße entlang, als ob sie die Antwort auf

diese Frage dort zu finden glaubte. Sollte in einem dieser Häuser eine andere, eine bessere Antwort auf sie warten als in dem der Barretts? Das konnte sie sich nicht vorstellen.

Also nickte sie ein drittes Mal. „Würdest du denn gerne bei uns bleiben?“ Max zuckte mit den Schultern. Sie wusste wirklich nicht,

was sie darauf antworten sollte. „Komm doch einfach mal rein. Lass uns was essen und uns

unterhalten.“ Max schaute in die andere Richtung die Straße hinauf. Doch

auch dort schien vorerst keine bessere Antwort auf sie zu warten. Zögernd bewegte sie sich auf das Haus zu. Durch die geöffnete Tür drang der Geruch von Rinderbraten und der zog sie unwiderstehlich an.

Max schob all ihre Zweifel beiseite und trat ein.

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Das Wohnzimmer war klein. Etwas größer als das von Hannah, aber nicht so gemütlich. In der Luft hing der Geruch von kaltem Zigarettenrauch, der höchstwahrscheinlich von dem alten, durchgesessenen Stuhl links von Max herrührte. Auf einem Tisch direkt daneben standen einige leere Bierdosen, die natürlich ihren Anteil zu dem insgesamt recht schalen Geruch im Raum beitrugen.

Dennoch war der Duft von Rinderbraten einfach zu verführerisch und ließ den Rest schnell vergessen. Max folgte Lucys Mutter in ein kleines Esszimmer zu einem Holztisch mit vier dazu passenden Stühlen. Das Essen auf dem Tisch sah irgendwie genauso aus wie das in Manticore, aber es duftete einfach um Längen besser: Rinderbraten, Karotten, Kartoffelbrei, Soße und dazu frisch gebackene Brötchen.

Lucy saß am anderen Ende des Tisches, wirkte schuldbewusst und vielleicht ein wenig besorgt. Ihre Mutter schob neben ihr einen Stuhl für Max zurecht und nahm auf der anderen Seite Platz.

„Lucys Papa isst heute Abend nicht mit uns“, erklärte sie. „Er muss arbeiten... ist mit seinem Truck unterwegs.“

Max nickte und hätte in diesem Moment zu gerne gewusst, ob er genau so aussah wie der Fahrer, in dessen Lastwagen sie sich versteckt hatte.

„Er kommt erst morgen wieder. Magst du Rinderbraten, Max?“

„Ja, sehr“, antwortete Max und schluckte. „Nun, dann hau rein... es gibt genug von allem.“ Max nahm sich eine kräftige Portion und tauchte förmlich in

ihren Teller ein. Noch nie zuvor hatte sie etwas so Leckeres gegessen.

„Bist du in Casper geboren, Liebes?“ Max wirkte etwas irritiert. „Casper?“ „Na, die Stadt, in der du Lucy kennen gelernt hast.“

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„Nein, da bin ich nicht geboren.“ Ihre Stimme klang selbstbewusst, auch wenn sie innerlich zweifelte. Denn tags zuvor hatte sie nicht einmal gewusst, was überhaupt eine Geburt ist und in welchem Zusammenhang eine Mutter dazu steht.

„Nach dem zu urteilen, was Lucy mir erzählt hat... und da du dieses Hemd trägst, nehme ich an, dass du aus einer Anstalt geflohen bist“, fuhr die Mutter fort. „War das vielleicht ein Kinderheim?“

„Was ist ein... Kinderheim?“ „Das ist ein Ort für Kinder ohne Eltern.“ „Ja. Ja, dann war es ein Kinderheim.“ „Haben sie dich dort schlecht behandelt?“ „Ja, sehr schlecht.“ Lucys Mutter bewegte ihr Essen mit Hilfe einer Gabel zwar

immer wieder hin und her, doch mit essen an sich hatte das letztlich weniger zu tun. Ihre Augen waren feucht und sie war in Gedanken vertieft.

„Wir haben bereits auf... offiziellem Weg versucht, ein Mädchen zu adoptieren. Aber das ging nicht, denn mein Mann... nun, er trinkt zu viel. Das solltest du fairerweise wissen.“

Trinkt zu viel? Flüssigkeit schadet doch nicht, dachte Max. „Würdest du gerne bei uns bleiben?“, platzte es plötzlich aus

Lucys Mutter heraus. Max blickte sie wortlos an. „Du und Lucy, ihr seid dann Schwestern.“ Max warf einen flüchtigen Blick zu Lucy, und die nickte mit

eindringlichem Lächeln zurück. „Lucys Papa und ich können keine Kinder mehr bekommen,

aber wir könnten hier weiß Gott noch jemanden gebrauchen.“ Max schaute die Frau eindringlich an. „Müsste jemand davon

erfahren?“

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Die Mama riss die Augen erschrocken auf. „Nein! Niemand darf etwas davon erfahren. Sie würden dich nur wieder dahin bringen, von wo du weggelaufen bist.“

Max schüttelte heftig ihren Kopf. „Das will ich aber nicht!“ „Du bist das Kind meiner verstorbenen Kusine Beth.“ „Bin ich?“ Die Mama lächelte. „Jetzt bist du es. Und wir... wir haben

dich aufgenommen. Bleibst du bei uns, Max?“ Max verstand. Sie nickte bedächtig mit dem Kopf. So schnell

konnte das also mit einem neuen Zuhause gehen. Jetzt sprach Lucy das erste Mal seitdem sie am Tisch saßen.

„Wird Papa auch nichts dagegen haben?“ „Überlass das mir. Ich werde ihn schon überzeugen. Ja, er

kann manchmal ziemlich... schwierig sein, aber er versteht, wie wichtig mir das ist. Und wenn Max bereit ist, im Haushalt zu helfen... das bist du doch, oder?“

Max nickte. „Na, dann ist ja alles klar. Ich sorge dafür, dass du genug zu

essen bekommst, und ein paar neue Kleider besorgen wir dir auch.“

Max blickte auf ihr verschmutztes Kleid und kam zu dem Schluss, dass dies gar keine schlechte Idee war.

Lucys Mutter strahlte sie an. „So, und jetzt macht etwas Platz für den Nachtisch. Es gibt Zitronenbaiser.“

Max hatte noch nie zuvor etwas derart Exotisches gegessen. Aber es sah köstlich aus und schmeckte wahnsinnig gut.

Am nächsten Abend fand Max heraus, was ein Papa ist: ein stämmiger Schlägertyp mit strähnigem grauem Haar, Mundgeruch, schlechten Manieren und schlechter Laune. Er konnte auch nett sein, aber nur, wenn er nicht betrunken war. Das kam leider nicht so oft vor – und Max wurde schnell klar, was es bedeutete, wenn jemand zu viel trinkt. Nach nur zehn Minuten mit Jack Barrett erkannte Max, dass Lydecker bei weitem nicht der gemeinste Mann war. Lydecker war zwar

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kalt, aber nicht brutal; er war grauenhaft, aber dieser Papa war das Grauen.

Als Mr Barrett an diesem Abend nach Hause gekommen war, begrüßte er seine Frau mit den Worten „Hol mir mal ein Bier!“ und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er zündete sich eine Zigarette an und entdeckte Max, die in einem rosafarbenen T-Shirt und Jeans neben Lucy stand. „Wer zum Teufel ist das?“

Mrs Barrett öffnete seine Bierdose. „Das ist Max. Sag ,Guten Abend, Mr Barrett’, Max!“

„Guten Abend, Mr Barrett.“ Der Papa beachtete Max gar nicht. „Und was zum Teufel

macht diese Kriegswaise hier?“ Woher wusste er, dass sie eine Waise war? Und eine

Kriegerin? Mrs Barrett rieb sich die Hände an ihrer Schürze und sagte:

„Sei doch nicht so unfreundlich, Jack. Ich würde sie gerne für eine Weile bei uns aufnehmen.“

Er sah seine Frau wütend an. „Noch so ein beschissenes hungriges Maul?“

„Jack, mir liegt viel daran.“ „Joann, ich...“ „Ich lasse mir viel gefallen, Jack. Aber wenn du diesmal

nicht einverstanden bist, gehe ich. Keiner wird mehr da sein, Jack! Kein Essen, keine frische Wäsche. Und keiner, der dir dein Bier bringt.“

„Werd bloß nicht frech“, schnauzte er sie an. „Schlag mich ruhig, Jack, aber ich werde dich verlassen.

Diesmal werde ich es wirklich tun! Du weißt, wie viel mir das bedeutet.“

Er schaltete den Fernseher ein und stürzte sein Bier hinunter. „Kommt, Mädchen!“, sagte Mrs Barrett. „Nicht so eilig!“, brüllte Mr Barrett. Dann schaute er Max an.

„Du!“ „Ja, Sir?“

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„Wenigstens bist du höflich. Ein bisschen dürr... aber in ein, zwei Jahren hast du vielleicht ein bisschen mehr auf den Rippen, so wie Lucy. Du wirst im Haushalt helfen und dir dein Essen verdienen?“

Max nickte. „Die da...“ Er deutete mit seinem Daumen auf Lucy. „...rührt

nämlich keinen Finger.“ Lucy wollte sich verteidigen: „Das stimmt gar...“ Mr Barrett verpasste seiner Tochter eine schallende Ohrfeige. Lucys Lippen zitterten und Tränen rollten über ihr Gesicht. „Widersprich mir nicht!“ Lucy brachte nur ein „Ja, Sir!“ hervor. „Schon besser.“ Max machte einen Schritt auf ihn zu. „Schlagen Sie sie

nicht!“ Daraufhin verpasste Jack Max eine noch stärkere Ohrfeige.

Der Schmerz durchfuhr ihren Kiefer, die Zähne, jede einzelne Faser ihres Körpers. Sie riss sich zusammen, nicht zurückzuschlagen. Vielleicht verhielten sich Familien ja so. Außerdem konnte sie ihn auch noch später töten.

„Wenn du hier bleiben und ein Dach über dem Kopf haben willst“, brüllte Jack, „dann halt deine beschissene Fresse. Außer du wirst was gefragt!“

Max stand wortlos da und schaute Jack Barrett wütend an. In ihrer Wange tobte immer noch der Schmerz.

Er schlug noch einmal zu. „Starr mich nicht so an! Und wenn ich mit dir rede, dann zeig mir gefälligst den nötigen Respekt. Bleib bei diesem Ja-Sir-Scheiß und wir werden prima klarkommen.“

Wieder durchfuhr Max der Schmerz, und diesmal stiegen ihr Tränen in die Augen. Doch es gelang ihr, sie zu unterdrücken. „Ja, Sir.“

„Heißt das, sie kann bei uns bleiben, Jack?“, fragte Mrs Barrett.

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„Jedenfalls fürs Erste.“ „Oh, Jack, danke!“ Sie küsste ihren Mann auf die Wange,

aber er stieß sie von sich. Mami – wie Max sie von nun an nannte – brachte sie zu dem

Zimmer, das die beiden Mädchen sich teilen sollten. „Stell dich gut mit Jack“, riet ihr Mrs Barrett. „Und gib keine

vorlauten Antworten, wenn er... schlecht drauf ist.“ Etwas später sagte Lucy: „Ich hoffe, du denkst nicht, dass es

hier schlimmer ist, als dort, wo du weggelaufen bist.“ Max lag in ihrem warmen Bett und dachte darüber nach.

Nein, Schläge zu bekommen war definitiv besser als erschossen zu werden. „Es ist okay hier“, antwortete sie schließlich.

Das war im Februar. Im März, April und im Mai gab es jede Menge Ohrfeigen und auch richtige Prügel. Manchmal kam Mr Barrett nachts ins Zimmer und nahm seine Tochter mit. Lucy wirkte dann immer verängstigt. Aber wenn sie zurückkam, sagte sie, ihr Papa hätte sie wenigstens nicht geschlagen. Damals war Max sexuell noch viel zu naiv, um zu verstehen, was da vor sich ging. Sie wusste nur, dass es etwas Schlimmes war. Prügel waren offensichtlich etwas ganz Normales im Hause Barrett. Max wehrte sich nur einmal dagegen: Anfang März. Jack – wie Max ihn nannte – hatte ihr eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Als sie wieder auf die Füße kam und er sie noch einmal schlagen wollte, wich sie ihm aus, packte seine Hand und brach ihm zwei Finger. Das war ein Fehler. Max bekam eine Woche lang nichts zu essen. Aber das machte ihr nicht allzu viel aus – in Manticore war das Teil ihrer Ausbildung gewesen. Als Jack aus dem Krankenhaus zurückkam, verprügelte er Lucy derart, dass sie sich zwei Tage lang nicht bewegen konnte.

„Wenn du noch ein Mal deine Hand gegen mich erhebst“, drohte Jack, „wird deine Schwester dafür bezahlen!“

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Von da an folgte Max gehorsam seinen Anweisungen. Und Jack war clever genug, seine neue Tochter nicht noch einmal zu verprügeln. Bis zu jenem Tag im Juni, an dem die Welt sich für immer veränderte...

Der 8. Juni 2009 schien ein Tag wie jeder andere zu sein. Max und Lucy hatten seit zwei Wochen Ferien und genossen die Zeit ohne Hausaufgaben. Max hatte sich überraschend gut in der Schule eingelebt, blieb jedoch gerne für sich. Für Unannehmlichkeiten sorgten nur ihre gelegentlichen Anfälle – ein Nebeneffekt ihrer genetischen Manipulation – bis ihr die Schulärztin ein ungewöhnliches rezeptfreies Mittel gab, das die Anfälle eindämmte und kontrollierbar machte: Tryptophan.

Zu Hause hatte Jack die beiden Mädchen rund um die Uhr eingespannt. Er war in letzter Zeit noch unausstehlicher als sonst. Die Dodgers – das Einzige, was ihn wirklich interessierte – hatten eine schlechte Saison hinter sich, und er ließ seinen Frust an Lucy und ihrer Mutter ab.

An diesem Juniabend versuchten die Mädchen ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Er hing in seinem Sessel, stürzte ein Bier nach dem anderen hinunter und rauchte pausenlos. Die Dodgers fielen früh in Rückstand. Mrs Barrett war ins Schlafzimmer geflüchtet, und die beiden Mädchen verhielten sich still, damit sie Jacks Laune nicht ausbaden mussten.

Endlich sah es nach einer Chance für die Dodgers aus. Max hatte mittlerweile einige Baseballregeln gelernt, und sie wusste, dass Jack weniger aggressiv war, wenn das Team Punkte holte.

Kurz nach neun fiel der Strom aus. Max war klar, dass Jack jetzt ausrasten würde. Die beiden Mädchen versteckten sich im Keller. Lucy weinte lautlos, während Jack das Haus auseinander nahm. In diesem Moment traf Max eine Entscheidung. Wenn alle schliefen, würde sie sich

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davonstehlen. Doch wie sich herausstellen sollte, schlief in dieser Nacht niemand, und es wurde auch niemand verprügelt.

Jack Barretts Ärger ließ nach, als er sich wieder an das Spiel der Dodgers erinnerte. Er ging nach oben und machte ein batteriebetriebenes Radio an, um das Spiel weiterzuverfolgen. Zunächst war er wütend, dass er den Sender nicht fand. Aber nachdem sein Alkoholrausch langsam verflogen war, rief er seine Frau und die Mädchen zu sich.

„Etwas Schreckliches ist passiert“, sagte er, plötzlich ganz nüchtern. Er klang wie ein ängstliches kleines Kind.

Gespannt versammelten sie sich vor dem Radio und lauschten: „Sie hören eine Sondersendung! Um 00.05 Uhr Ostküstenzeit zündeten Terroristen eine Atombombe über dem Atlantik und lösten einen elektromagnetischen Impuls aus, der die gesamte Stromversorgung an der Ostküste lahm gelegt hat.“

Mrs Barrett ergriff den Arm ihres Mannes und zog die Mädchen an sich.

„Im Moment haben wir keine Verbindung zu den Landesteilen östlich des Mississippi. Wann der Kontakt wieder hergestellt sein wird, ist nicht abzusehen. Es ist zu befürchten, dass auch ein Angriff auf den westlichen Teil des Landes droht. Daher werden alle Bürger aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben und weitere Informationen abzuwarten.“

Die nächsten zweieinhalb Stunden kauerte die kleine Familie vor dem Radio. Der Sender wiederholte ständig dieselbe Nachricht. Es gab keine neuen Informationen. Schließlich wurde Jack unruhig. „Ich brauche was zu trinken!“

Lucy holte ihm ein Bier aus der Küche. Als sie es öffnete, rutschte ihr in der Aufregung die Dose aus der Hand und landete in Jacks Schoß. Er sprang auf, das Gesicht rot vor Zorn. Die Dose fiel zu Boden, und es sah aus, als hätte er in die Hose gemacht.

Max musste lachen.

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Jack wurde fuchsteufelswild. Doch Max konnte seine Aggressionen nicht weiter hinnehmen. Sie wich ihm aus und holte ihn mit einem gezielten Tritt von den Beinen. Er fiel wie ein nasser Sack zu Boden und brüllte. Als er versuchte aufzustehen, verpasste sie ihm einen Schlag ins Gesicht, der ihm die Nase brach. Jack schrie vor Schmerzen auf.

Max empfand eine seltsame Genugtuung. Sie ließ von ihm ab und ging zur Tür. Doch er wollte nicht aufgeben und kroch hinter ihr her. Max wirbelte herum und versetzte ihm einen Tritt gegen den Kopf. Jack sank zu Boden und blieb bewusstlos liegen.

Lucy und Mrs Barrett schauten sie entgeistert an. Sie wussten nicht, ob sie sich aufregen oder freuen sollten. „Danke für alles“, flüsterte Max und verließ das Haus für immer.

In den folgenden Tagen erfuhr Max – wie jeder andere auch – was passiert war. Der Puls hatte ein landesweites Chaos angerichtet. Die komplette Elektronik zwischen New York und Des Moines war lahm gelegt. Das Stromnetz, die Telefonverbindungen, die Verkehrsmittel, das Bankensystem und die medizinische Versorgung museumsreif. Eben waren die Vereinigten Staaten von Amerika noch die Weltmacht mit Geld, Arbeit und Nahrung für alle. Sekunden später stand das Land am Abgrund – der Lack war abgeplatzt. Es gab kein Geld mehr, keine Arbeit, nichts zu essen. Keine freie Marktwirtschaft, keine New Yorker Börse, keine Schulen. Der gesamte Osten des Landes war mit einem Schlag ins Mittelalter zurückgekehrt. Alles, worauf die Menschen gestern noch vertrauen konnten, war heute ausgelöscht. Niemand wusste, wie lange dieser Zustand andauern würde, und ob sich das Land jemals von dieser Katastrophe erholte.

In der Nacht, in der Max die Barretts verließ, war Kalifornien von den Auswirkungen der Explosion noch nicht betroffen. Während der Osten des Landes praktisch sofort lahm gelegt

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war, dauerte es im Westen etwas länger. Als man auch hier die wirtschaftliche Depression spürte, wurde das Leben selbst für Max schwieriger. Die X5 war in der gleichen Lage wie alle anderen Menschen auch. Ihre genetischen Vorteile schützten sie nicht vor den Widrigkeiten einer aus den Fugen geratenen Welt. Um zu überleben, musste sie zu illegalen Mitteln greifen. Eine Zeit lang ging das ganz gut. Sie klaute Lebensmittel und schlief, wo sie gerade einen Platz fand.

Max schlug sich nach Los Angeles durch. Die meisten Menschen dort rotteten sich in kleinen Gruppen zusammen. Max bevorzugte die Einsamkeit. Im Griffith Park fand sie einen abgelegenen Unterschlupf, den sie nur verließ, wenn sie Essen brauchte. Die drei Jahre, die sie dort lebte, kamen ihr vor wie ein Überlebenstraining in Manticore. Mit einem grundlegenden Unterschied jedoch – sie war frei.

Immer wenn Max verzweifelt war, richtete sie dieser eine Gedanke auf. Und sie fragte sich, ob ihre Geschwister – falls sie den Weg in die Freiheit geschafft hatten – sie auch so vermissten...

Die hitzköpfige Eva, die von Lydecker erschossen wurde, war jedenfalls tot. Das war dann auch der Auslöser für die Flucht aus Manticore. Aber was war aus den anderen geworden? Die gelenkige Brin... Zack, ihr Anführer und liebster Bruder... Seth, der in jener verhängnisvollen Nacht von den Wachen geschnappt und zurückgebracht worden war... und Jondy, ihre Schwester und beste Freundin...

Der Gedanke an sie und die anderen Geschwister ließ sie weitermachen, größer, kräftiger und schlauer werden. Denn nur so hatte sie eine Chance, ihre Geschwister in diesem postapokalyptischen Amerika wieder zu finden. Das war ihr einziges Ziel.

Doch ihre Geschwister waren nicht die Einzigen, die ihr fehlten. Dass sie Lucy zurückgelassen hatte, bedrückte Max

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immer noch sehr. Nach fast drei Jahren kehrte sie zum Haus der Barretts zurück, um sie dort rauszuholen. Doch es war niemand mehr da.

Auf dem ganzen Heimweg liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie würde Lucy vermutlich nie wieder sehen. Ihre Geschwister ausfindig zu machen, war schon schwer genug. Aber ein normales Mädchen wie Lucy zu finden – das war schier unmöglich.

Drei Wochen danach, Anfang Mai, kam das Große Beben. Mitten in der Nacht, mit einer Stärke von 8,5 auf der Richterskala. Es hatte verheerende Folgen für Kalifornien. Tausende starben im Schlaf. Gebäude brachen wie Kartenhäuser zusammen, Häuser rutschten einfach Abhänge hinunter. Brücken begruben Autos unter sich. Die Feuer wüteten noch wochenlang.

Max’ Unterschlupf im Park blieb verschont. Doch es war hoffnungslos, dieses Heim gegen die vielen Obdachlosen zu verteidigen. Ein Jahr lang hielt sie durch, dann gab sie auf.

Wie so viele Mädchen vor ihr machte sich Max nach Hollywood auf. Ihr Ziel war jedoch nicht, Filmstar zu werden, sondern einen Weg zum Überleben zu finden. Und dieser Weg führte sie geradewegs zu Moody und seinem Chinese Clan.

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4. Kapitel__________________________ ECHO AUS DER VERGANGENHEIT

Chinese Theater Los Angeles, Kalifornien, 2019

Mit großen Schritten lief Max über den zerstörten Innenhof und betrat das ehemalige Mann’s Chinese Theater. Drinnen wartete bereits Moody und lief ungeduldig auf und ab. Nicht etwa, weil er Angst um sie gehabt hatte. Max wusste ganz genau, dass seine Sorge etwas ganz anderem galt, dem Herz des Ozeans.

In der Eingangshalle standen noch immer die Tresen aus früheren Tagen. Verkauft wurde hier jedoch schon lange nichts mehr. Stattdessen hatten sich ein paar der jüngeren Clan-Mitglieder ihre Schlafplätze dort eingerichtet. Von dem einstigen Rot des Teppichs war nicht mehr viel übrig. Die hohe Decke hielt nun schon sieben Jahre lang, obwohl sie durch das Erdbeben schwer beschädigt worden war. Aber sieben weitere Jahre waren ihr einfach nicht mehr zuzutrauen. Dort wo einst Plakate die Wände zierten, erzählten nun Graffiti – ähnlich steinzeitlichen Höhlenmalereien – von der Geschichte des Clans.

„Bist du okay, Mädchen?“, fragte Moody mit sanfter und zugleich aufgeregter Stimme.

Er hatte sein silbergraues Haar wie immer zu einem Zopf nach hinten gebunden, und er trug wie immer Schwarz: schwarzes T-Shirt, schwarze Hosen, schwarze Socken und Turnschuhe.

„Meinst du damit etwa, ob ich dir dein Spielzeug besorgt habe?“

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„Denkst du so schlecht von mir, Mädchen? Hm, sag schon, hast du’s?“

„Das war doch mein Auftrag, oder?“ Er grinste breit. Seine Zähne waren im Vergleich zum

allgemeinen Standard nach dem Puls in außerordentlich gutem Zustand.

In diesem Moment platzte Fresca aus dem früheren Hauptvorführraum in die Halle. Er war so um die dreizehn und für sein Alter recht groß gewachsen. Sein langes rotes Haar war glatt und seine blasse Haut übersät mit Sommersprossen. Er trug ein uraltes T-Shirt mit der Aufschrift Weezer – keines der Kids aus dem Clan wusste, was das bedeutete – und zerrissene, ausgewaschene Jeans.

„Was geht, Max?“, fragte er zappelig. Mit der Energie, die in diesem schlaksigen Körper steckte,

hätte man durchaus eine Kleinstadt mit Strom versorgen können. Fresca war ständig in Bewegung. Außer wenn er schlief. Er belegte den oberen und somit unsichersten Schlafplatz auf dem Verkaufstresen und musste ständig aufpassen, dass er nicht herunterfiel.

„Ich hab was mit dem Moodman zu besprechen“, antwortete Max flapsig. „Dann werd ich ein bisschen abhängen, Fresca... vielleicht was zu essen organisieren.“

„Cool! Kann ich mitkommen?“ „Wer hat denn gesagt, dass ich irgendwohin gehe?“ Max

versuchte ernst zu bleiben, konnte ein Lächeln jedoch nicht unterdrücken.

Fresca grinste verlegen zurück. Max wusste nur zu gut, dass er in sie verknallt war – seitdem er sich vor einem Jahr dem Clan angeschlossen hatte.

Sie selbst war schon fast sechs Jahre beim Moodman. Ein alter Hase, sozusagen. Und die Ranghöchste der insgesamt achtundzwanzig Mitglieder der Diebesgemeinde. Die Meisterdiebin auf Katzenpfoten, wie Moody sie nannte.

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„Heißt das, du willst ein bisschen raus, Fres?“, fuhr Max fort. Fresca zündete sich eine Zigarette an. Er war völlig nervös.

„Das wäre cool, Max... das wäre super. Ich bin die ganze Nacht wach geblieben und hab auf dich gewartet.“

Sie nickte. „Moody und ich, wir haben noch was zu besprechen, aber danach zischen wir los, okay?“

„Dann warte ich hier“, versicherte Fresca. Moody hatte das Gespräch der beiden geduldig verfolgt –

Fresca war übrigens auch einer seiner Lieblinge. Links neben der Flügeltür zum Hauptvorführraum befand sich eine kleinere Tür zur ehemaligen Vorführkabine, Max’ Schlafplatz. Moody öffnete sie, duckte sich und ging die Treppe hinauf.

Max war verwundert. Normalerweise regelte Moody sämtliche Geschäfte in seinem eigenen Quartier, dem ehemaligen Büro des Geschäftsführers. Er war natürlich hin und wieder auch bei Max gewesen... aber dieses Mal kam es ihr etwas ungewöhnlich vor.

Warum auch nicht?, ging es ihr durch den Kopf. Schließlich ist das Herz des Ozeans auch ein ungewöhnliches Objekt.

Moody betrat Max’ Zimmer als wäre es sein eigenes. Es war nie abgeschlossen. Wofür auch? In einem Haus voller Diebe waren Schlösser nicht nur unnötig, sie waren völlig absurd. Davon abgesehen gab es niemanden, der es freiwillig mit Max aufgenommen hätte.

Sie folgte ihrem Lehrmeister und er schloss die Tür. Der Raum war der größte Privatraum im ganzen Gebäude. Max hatte das überflüssige Vorführgerät in eine Ecke verfrachtet und somit das Fenster zu dem Saal freigerückt, in dem die meisten Mitglieder des Chinese Clan schliefen.

Unten im Saal hatte man – mit Ausnahme der ersten sechs Sitzreihen – sämtliche Stühle entfernt und mit praktischeren Dingen, wie Feldbetten, provisorisch gezimmerten Trennwänden, Campingkochern und dergleichen belegt. Die Bühne vor der Leinwand benutzte Moody, wenn er seiner zwar

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heruntergekommenen aber äußerst tüchtigen Truppe etwas mitzuteilen hatte. Auf der Leinwand selbst leuchtete in riesigen orangefarbenen Lettern der Name der Gang: „Chinese Clan!“

Noch nie in ihrem bisherigen Leben hatte Max ein solch großes Zimmer für sich alleine beansprucht. Ihre früheste Kindheit hatte sie in den Kasernen von Manticore verbracht. Dann musste sie sich mit Lucy ein Zimmer teilen. Und zuletzt hauste sie in einem Loch im Griffith Park, das nur unwesentlich größer war als sie selbst.

Die Kabine war etwa fünfzehn Quadratmeter groß und hatte sogar ein eigenes Bad. Nicht das Luxuriöseste zwar – es gab öfters Probleme mit der Wasserzufuhr –, aber es war ihr eigenes. Wegen der vom Erdbeben verursachten Risse hatte man das Theater zum Abbruch freigegeben. Irgendjemand hatte jedoch die Freigabepapiere gestohlen, und so war das Vorhaben – wie so viele andere Dinge in dieser Stadt – im allgemeinen Chaos untergegangen.

Wasser gab es in Hollywood nur sehr unregelmäßig. Und im Theater noch unregelmäßiger. Außer Moody hatte mal wieder einem Beamten der städtischen Wasserbehörde den einen oder anderen Dollar zugesteckt.

Ihr Bett hatte Max aus den Ruinen des gegenüberliegenden Roosevelt Hotels gerettet. Es bestand aus dem Sprungfederrahmen eines Doppelbettes und einer dazu passenden Matratze. Am Kopfende des Bettes stand eine Coleman-Campinglampe aus ihrer Zeit im Griffith Park. Daneben ein kleiner Stapel Bücher, die Moody ihr gegeben hatte. Hauptsächlich Sachbücher, aber auch eine eselsohrige Taschenbuchausgabe von Gullivers Reisen, ebenfalls von Moody. An der Wand lehnte ihr neues Motorrad, eine Kawasaki Ninja 250. Und neben dem Projektionsfenster stand ein Polstersessel, der auch aus den Ruinen des Roosevelt Hotels stammte. Ansonsten gehörten ihr noch ein Tischchen und ein kleiner Schwarzweißfernseher.

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Moody blickte auf den Stapel Bücher. „Na, reist du mal wieder nach Liliput, Maxine?“

Max lächelte. „Ich kann nichts dafür, aber ich mag diesen Kerl einfach.“

„Du und Gulliver... ihr seid euch gar nicht so unähnlich, weißt du das?“, antwortete Moody nachdenklich.

„Ja, das ist mir auch aufgefallen.“ Er machte es sich im Sessel bequem. „Nun, Maxine... war die

Aufgabe schwer?“ Max erzählte ihm, was am Abend alles passiert war. Obwohl

sie auf jegliche Übertreibung verzichtete, schien Moody schwer beeindruckt.

Er schüttelte den Kopf. „Mr Kafelnikov wird nicht besonders gut auf dich zu sprechen sein.“

„Hoffentlich findet er nicht raus, wer uns die Informationen über die Museumspläne zugespielt hat. Der arme Kerl hätte nicht mehr lange zu leben.“

„Ganz sicher. Vielleicht will unser russisches Freundchen aber auch dir an den Kragen.“

„Wie soll er denn herausfinden, wer ich bin? Er kennt mich doch gar nicht.“

„Du unterschätzt deinen Ruf in bestimmten Kreisen.“ Max runzelte die Stirn. „In welchen Kreisen? Ich weiß nichts

von irgendwelchen Kreisen.“ Wie ein König – in gewisser Weise war er ja auch einer –

thronte Moody nun im Sessel und grinste spitzbübisch. „Glaubst du denn, die anderen Clans reden nicht miteinander? Glaubst du, deine... übermenschlichen Leistungen erregen keine Aufmerksamkeit?“

„Interessiert mich nicht“, antwortete Max und zuckte mit den Schultern.

„Das sollte es aber. Mittlerweile hat jeder Clan auf die eine oder andere Weise mit dir zu tun gehabt und dabei den Kürzeren gezogen, oder?“

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Max grinste. „Das Mädchen muss tun, was ein Mädchen tun muss.“

Moodys Blick schweifte nachdenklich in die Ferne. „Der Museumsplan hat den Brood ziemlich viel bedeutet. Eigentlich wollten sie das hübsche Steinchen klauen. Kafelnikov wird alles daransetzen herauszufinden, wem er diese Schlappe zu verdanken hat.“

Beiläufig zog sie nun endlich das Schmuckstück aus ihrem Anzug. „So viel Aufregung um ein solch altes Ding?“

Moodys Augen waren plötzlich größer als der Stein selbst. „Mein Gott, Maxine... der ist ja noch schöner als ich dachte!“

Max hielt den Stein gegen das schwache Licht und betrachtete ihn eine Weile. „Ja, er ist ganz nett.“ Sie zuckte unbeteiligt mit den Schultern und übergab ihn Moody.

„Ganz nett...?“, wiederholte er fassungslos. „Wenn sie dich mit uns in Verbindung bringen, dann ist die Kacke hier richtig am Dampfen.“

„Sollen sie kommen, wir werden ihnen gehörig den Arsch aufreißen.“

Moody rollte den Stein in seiner Hand immer wieder hin und her. Er schien Max gar nicht zugehört zu haben. „Allein die Kette bringt genug, um den Clan ein Jahr lang über Wasser zu halten.“

„Dein Plan war echt klasse... bis auf die Sache mit den Hunden. Ich wusste nicht, dass ein Gerücht so scharf sein kann.“

Er schüttelte den Kopf. „Tut mir Leid... jedenfalls, was nützt ein Plan, wenn er nicht richtig ausgeführt wird? Das war der entscheidende Punkt... und in dieser Stadt gibt es niemanden, der ihn besser ausgeführt hätte als... du.“

„War doch nichts Besonderes.“ Sie zuckte wieder mit den Schultern.

Er stand auf, steckte die Kette in eine Tasche und legte seinen Arm um ihre Schultern. Dann küsste er ihre Wange, wie

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er es schon oft getan hatte... nur dieses Mal etwas länger als sonst. „Das hast du gut gemacht... sehr gut.“

„Danke!“ Max fühlte sich plötzlich unwohl. Vor ihren Augen erschien das Bild von Mr Barrett, wie er nachts in ihr Zimmer gekommen war um Lucy zu holen. „Ich... ich sollte jetzt besser zu Fresca gehen. Er hat wahrscheinlich schon eine nasse Hose. Du hast es ja mitgekriegt, wir wollen was zu essen organisieren.“

Moody ließ nicht los. „Wenn sie kommen... wenn die Brood hier tatsächlich auftauchen, dann gnade ihnen Gott vor deinen Fähigkeiten.“

„Danke.“ Max entglitt seinem Griff. Sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, aber sie fühlte sich einfach seltsam. Dann öffnete sie schnell die Tür und lief die Treppe hinunter. Max hörte zwar, wie Moody ihr folgte, drehte sich jedoch nicht nach ihm um.

Fresca hatte seine abgetragene Dodgers-Jacke bereits angezogen und saß wartend auf der Verkaufstheke. Die Jacke war sein einziger Stolz und alles, was ihm aus der Zeit übrig geblieben war, bevor er auf den Clan traf. Damals hatte er alle seine Kleider verbrannt – bis auf die blaue Dodgers-Jacke – und den alten Namen abgelegt. Seinen neuen Namen hatte er dann einer Speisekarte hinter dem Verkaufsstand entnommen.

Moody hatte einst den Grundsatz formuliert – und der wurde von allen akzeptiert –, dass die Vergangenheit unwichtig war, dass sie einfach nicht mehr existierte. Mit dem Eintritt in den Clan begann praktisch eine neue Zeitrechnung.

„Lass uns losziehen“, sagte Max und ging an Fresca vorbei zur Tür.

Fresca sprang von der Theke und stürzte ihr wie ein aufgeregter junger Hund hinterher.

Sie rauschten nach draußen – vorbei an den Überresten von Handabdrücken früherer Filmstars – auf den Hollywood Boulevard, der aufgehenden Sonne entgegen. Vor dem Beben

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hatte sich Max nie in der Nähe des Hollywood Boulevard aufgehalten. Aber im Laufe der Jahre hatte sie von vielen Leuten aus der Gegend gehört, dass er der Stadtteil mit den geringsten Erdbebenschäden war.

„Wo geht’s lang?“, fragte Fresca. „Hast du ’nen Vorschlag?“ „Wie wär’s denn mit dem Laden auf der La Brea, wo’s die

Waffeln gibt?“ „Waffeln sind okay. Nichts dagegen.“ Fresca kicherte, als hätte Max gerade einen besonders guten

Witz erzählt, und Max lächelte vor sich hin. Das Belgian Waffle House lag an der Ecke La Brea und

Hawthorne, ein ordentliches, aber zu bewältigendes Stück Weg vom Theater entfernt. Es war früher rundum verglast gewesen. Das Beben hatte die Fenster zerstört, und so hatte man an deren Stelle provisorisch Sperrholzplatten angebracht. Mittlerweile war die Holzverkleidung sogar zum Markenzeichen des Waffle House geworden. Auf der Theke lagen dicke Filzstifte aus, mit denen sich die Kunden auf den Holzplatten mit Graffiti verewigen konnten, während sie auf das Essen warteten. Die Sitze waren noch mit dem Plastik von früher überzogen, sie waren jedoch im Laufe der Jahre ziemlich schäbig geworden. Es war noch früh am Tag und als Fresca und Max eintraten, waren nur etwa neun oder zehn andere Gäste im Raum.

Die beiden setzten sich an die Theke. Fresca starrte auf das Fernsehgerät oben in der Ecke. Außer Satellite News Network im halbstündigen Turnus lief um diese Uhrzeit nichts. Vor dem Puls hatte es einmal über zweihundert Sender gegeben. Davon waren nicht mehr als ein halbes Dutzend übrig, und die waren fest unter staatlicher Kontrolle. Im Osten gab es nur noch SNN und zwei regionale Sender. Und im Mittleren Westen ebenfalls SNN und ein paar verstreute Regionalsender. Also war der Westen – genau wie vor der Katastrophe – mit seinen sechs Sendern immer noch das Zentrum der Fernsehwelt.

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„Ich gönne mir mal eine Waffel“, sagte Max. Fresca grinste. „Lädst du mich ein?“ Max lächelte zurück. „Und womit hast du das verdient?“ „Ich... äh... ich dachte nur, du hast heute ein großes Ding

gedreht und wolltest feiern. Vielleicht den Erfolg teilen.“ „Warum sollte ich das?“ Er wirkte gekränkt. „Ich weiß nicht... ich... hab nur so

gedacht...“ Max drückte kurz seine Hand. „Entspann dich, ich lass dich

schon nicht verhungern!“ Fresca war sichtlich erleichtert, und sein Magen knurrte, als

ob er dem Gespräch der beiden die ganze Zeit zugehört hätte. Endlich kam auch eine Kellnerin. Sie war um die fünfzig,

strohdünn und ihr schmales Gesicht wirkte ziemlich verbiestert. „Ich hoffe, ihr braucht keine Speisekarte!“

Fresca schüttelte den Kopf. „Ich nicht! Ich hätte gerne zwei Waffeln und eine große Schokolade. Ach, und noch etwas Speck.“

„Hier gibt’s seit einer Woche keinen Speck mehr.“ „Haben Sie Würstchen?“ „Ja.“ „Okay, dann nehme ich Würstchen. Doppelte Portion.“ Max schaute ihn schräg von der Seite an. „Was denkst du

eigentlich, wie groß das Ding heute Nacht war?“ Fresca schaute betreten zu Boden. „Oh, Max... es tut mir

Leid... ich...“ „Hei, war doch nur Spaß!“ „Quatschen könnt ihr, wenn wir hier fertig sind“, fuhr die

Bedienung dazwischen. „Karte?“ „Eine Waffel, Würstchen und einen Kaffee mit Milch“, sagte

Max. Die Kellnerin seufzte und schlurfte davon. Die beiden

wandten sich den Nachrichten zu. Max war an nichts Speziellem interessiert. Zumal – wie Moody ihr erzählt hatte –

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ohnehin alles zensiert und unglaubwürdig war. Fresca jedoch war von den Berichten über Brände, Schießereien und sonstige Gewalttaten völlig begeistert.

Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm und wartete auf die nächste Schreckensmeldung, während Max noch einmal das Treffen mit Moody überdachte. Anscheinend war der König des Clans bereit, eine Königin an seine Seite zu lassen. Doch Max war davon nicht sonderlich begeistert...

Keine Frage, er hatte sich dezent verhalten und auch nichts direkt erwähnt. Aber sie ahnte seine Absicht, und sie spürte den Druck, der auf ihr lastete.

Von all dem abgesehen hatte er Recht mit dem, was er über Kafelnikov, die Brood und einige der anderen Gangs gesagt hatte, die sie seit Jahren an der Nase herumführte. Max hatte sich einen Namen gemacht. Sie hatte Aufmerksamkeit erregt, und das gefiel ihr nicht. Vielleicht war es an der Zeit, weiterzuziehen...

Der Clan war ihre Familie, aber sie würde darüber hinwegkommen. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie sich von einer Familie verabschiedete. Manchmal, so schien es, war dieses Weiterziehen das Einzige, was sie überhaupt mit irgendeiner Regelmäßigkeit tat... als wäre das einzig Dauerhafte in ihrem Leben genau dieses Undauerhafte.

Sie blickte zu Fresca. Es würde diesem Rotschopf sicherlich das Herz brechen, wenn sie ginge. Doch auch er würde es überleben und jemand anderen finden – ein Mädchen in seinem Alter, in das er sich verlieben konnte. Außerdem konnte ihr Verschwinden dem Clan durchaus auch nützlich sein...

Die Bedienung erschien mit der Bestellung und verachtendem Blick. Fresca ertränkte seine Waffeln sofort in Sirup und Butter und schlang das Zeug hinunter, als hätte er seit Wochen nichts mehr gegessen. Vielleicht verachtet uns die Bedienung ja zu Recht, dachte Max. Es sieht wirklich eklig aus, wie Fresca isst.

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Max nippte an ihrem Kaffee und stocherte im Essen herum. Nach einer arbeitsreichen Nacht war sie nie besonders hungrig. Fresca stürzte seinen Kakao hinunter und bestellte sich gleich noch einen. Im Fernsehen war die Werbepause gerade beendet und der halbstündliche Nachrichtenturnus lief an. Eine rehäugige Latino-Dame in eng geschnittenem schwarzem Kostüm, mit glattem schwarzem Haar und hohen Wangenknochen verlas die Schlagzeilen:

„Los Angeles. In Anbetracht der eskalierenden Revierkämpfe zwischen den Crips und den Bloods hat Bürgermeister Timberlake heute zugesichert, die Zahl der Polizeibeamten auf den Straßen bis zum Jahresende zu verdoppeln.“

Max blickte zum Fernseher und sah den lockenköpfigen Bürgermeister während einer Rede vor dem Rathaus. Wie alle Einwohner des Südens von Kalifornien wusste Max nur zu gut, dass er den Bürgern die üblichen Märchen auftischte. Die Clans und Gangs der Stadt waren mittlerweile der Polizei zahlenmäßig im Verhältnis von nahezu drei zu eins überlegen. Rein theoretisch hatte die Stadt also nur noch die Möglichkeit, das Kriegsrecht zu verkünden oder die Nationalgarde zu rufen.

Vielleicht ist es bald so weit, dachte Max. Ein Grund mehr, hier schnellstens zu verschwinden.

Die Latino-Dame fuhr fort: „Die Polizei in Seattle erhöht ihre Anstrengungen bei der Suche nach einem Regimekritiker und Cyberjournalisten mit dem Decknamen ,Eyes Only’. Er ist bekannt für seine illegalen ,Nachrichten’-sendungen, die er auf den Frequenzen anderer Sender verbreitet. Gegen ,Eyes Only’ läuft ein bundesweiter Haftbefehl.“

Max hörte gelangweilt zu. Politik hatte sie noch nie wirklich interessiert.

„Das folgende Amateurvideo wurde letzte Nacht aufgenommen“, fuhr die Sprecherin fort. „Es zeigt einen vermeintlichen Komplizen von Eyes Only im Kampf mit Polizeibeamten. Nach ihm wird ebenfalls gefahndet.“

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Auf dem Video war ein braunhaariger junger Mann in Jeans und Jeansjacke zu erkennen. Er war umringt von Polizeibeamten. Mit einem gezielten Tritt in die Leistengegend streckte er den ersten Polizisten nieder. Blitzartig übersprang er dann den Beamten, der gerade noch vor ihm gestanden hatte. Als dieser sich mit erhobenem Schlagstock zu ihm umdrehte, erhielt er einen gezielten Handkantenschlag gegen die Kehle und fiel ebenfalls zu Boden.

Einer der drei übrig gebliebenen Polizisten richtete nun seine Pistole auf den Widersacher und drückte ab. Der wich jedoch im letzten Moment aus, und so sank ein anderer Polizist getroffen zu Boden. Starr vor Schreck stand der Schütze da und konnte nicht mehr verhindern, dass der junge Mann ihn mit zwei Fußtritten ins Gesicht niederstreckte.

Der letzte Polizist zog seine Pistole und ballerte in Richtung des Kämpfers. Doch der schaffte es immer wieder mit allerhand Tricks auszuweichen. Als auch die letzte Kugel verschossen war, trat er auf den Beamten zu und beförderte in mit einem halben Dutzend Rechter und Linken ins Land der Träume.

Max war nicht weniger erstaunt und perplex als die Opfer des jungen Mannes auf dem Video. Und obwohl sie erst einen kleinen Teil ihres Frühstücks verspeist hatte, sorgte das Essen bereits für Unruhe in ihrer Magengegend. Was sie da gerade gesehen hatte, waren nur wenige Menschen im Stande zu leisten. Derart übermenschliche Kraftakte kannte sie nur von den Geschöpfen, die mit ihr zusammen in Manticore erschaffen und ausgebildet worden waren...

Die Qualität des Videos war nicht besonders gut, und zudem war alles aus großer Entfernung aufgenommen worden. Es war nicht Zack, da war sie sich sicher. Dennoch musste dieser junge Mann, der es erfolgreich mit fünf Polizisten aufgenommen hatte, einer ihrer Brüder sein. Ein bisschen sah er wie Seth aus, aber Seth hatte es in jener Nacht nicht

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geschafft... oder vielleicht doch? Die Aufnahme jedenfalls war so miserabel, dass Max trotz ihrer Fähigkeit, Entferntes zu fokussieren, nichts Genaues erkennen konnte.

„Max. Max!“ Sie drehte sich benommen zu Fresca um. „Was gibt’s?“ „Warum... Max, warum weinst du denn?“ Sie blinzelte. Tatsächlich, sie hatte Tränen in den Augen und

ihre Wangen fühlten sich feucht an. „Mach dir keine Sorgen, Fresca“, beruhigte sie ihn. „Es ist nichts. Bist du fertig mit futtern?“

„Mann, ich platze gleich.“ „Warum lässt du den Rest dann nicht einfach auf dem

Teller?“ „Nachdem du mich auf solch ein Festmahl eingeladen hast,

wäre das doch eine glatte Beleidigung, oder nicht?“ Trotz der Tränen konnte sie sich ein Lächeln nicht

verkneifen. Während sie dem Jungen zusah, wie er die letzten Reste vom Teller in sich hineinschaufelte, wurde ihr klar, was sie zu tun hatte. Ein Mädchen muss tun, was ein Mädchen tun muss.

Max wusste, dass sie Fresca von allen am meisten vermissen würde. „Bist du endlich so weit, Waffelmonster?“

Er schlürfte den Rest seiner Schokolade hinunter. „Jaja. Lass uns abhauen... und danke, Max! Ich habe seit Tagen nicht mehr so gut gegessen... ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“

„Ich hatte nur was im Auge“, antwortete sie. „Jetzt geht’s mir wieder besser.“

Die beiden standen auf, Max bezahlte und gab der Bedienung sogar ein Trinkgeld.

„Schaut ruhig mal wieder vorbei“, verabschiedete die Kellnerin sie und es klang beinahe wie eine Drohung.

Auf dem Weg zurück zum Theater überschlugen sich die Gedanken in Max’ Kopf.

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Immer wieder hatte sie sich gefragt, wie sie ihre Geschwister aufspüren konnte. Und nun war einer ihrer Brüder ihr beim Frühstück sozusagen in den Schoß gefallen. Wie lange brauchte sie wohl nach Seattle? Wie konnte sie durch all die Kontrollen kommen? Was würde Moody von ihrem Abschied halten? Hatte er ihr zuvor nicht etwas Ähnliches vorgeschlagen?

Oder wollte Moody, dass sie bei ihm blieb? Der Tank ihres Motorrads war so gut wie voll. Aber wie sah

es unterwegs mit Benzin aus? Selbst wenn es welches gab, würden ihre ganzen Ersparnisse dabei draufgehen. Wie ein Schwarm Insekten schwirrten die Fragen durch ihren Kopf.

Die beiden waren bereits ganz in der Nähe des Theaters, als sie Fresca unterbrach: „Bist du wirklich sicher, dass alles okay ist, Max?“

Sie schlang einen Arm um seine Schulter und küsste ihn lange und ausgiebig auf die Wange. Als sie von ihm abließ, war Fresca rot angelaufen. Ihr war klar, dass er dasselbe über sie dachte, wie sie am Morgen über Moody... nur war Fres nicht so verwirrt wie sie es gewesen war. Er wirkte eher zufrieden... und aufgeregt.

Oh... oh... Max hatte sich überhaupt nichts bei diesem Kuss gedacht.

Vielleicht war es Moody ja genauso ergangen? Im Theater waren die meisten Clan-Mitglieder mittlerweile

wach. Vor den Badezimmern bildeten sich lange Schlangen und überall roch es nach Frühstück. Max begleitete den immer noch knallroten Fresca bis zu seinem Schlafplatz und machte sich dann im Kinosaal auf die Suche nach Moody.

Der Raum war voller Schlafsäcke und Betten aus dem ehemaligen Roosevelt Hotel. Und dazwischen waren vereinzelt Decken als Wände gespannt. Trotz Frühstücksduft roch es überall nach abgestandener Luft und Schweiß.

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Moodys Clan war ein wild zusammengewürfelter Haufen. Aber sie waren eine Familie, und sie liebten den alten Mann. Max betrachtete diese Szenerie bereits mit einer gewissen Wehmut.

Gabriel, Moodys Stellvertreter – ein knapp dreißigjähriger Afroamerikaner mit kurz geschnittenem schwarzem Haar, braunen Augen und einem langen dünnen Hals – war gerade damit beschäftigt, die Kids wachzurütteln, als Max den Raum betrat.

„Ist der Moodman in seinem Büro?“, fragte sie. Gabriel nickte in Richtung Leinwand. „Ja, und er freut sich

wie ein Schneekönig. Was zum Teufel hast du letzte Nacht aufgerissen, Maxie?“

„Nichts Besonderes, das Übliche... du weißt schon...“ Er sah sie ungläubig an, grinste aber breit. „Ich verstehe...

was würden wir nur ohne dich tun, Maxie?“ Sie blickte schuldbewusst zu Boden. „Erheb deinen knöchernen Arsch aus dem Sack“, donnerte

Gabriel plötzlich und versuchte ein Mädchen zum Aufstehen zu bewegen. Niner war sechzehn und etwa vor einem Monat beim Clan gelandet.

Hübsches Mädchen, dachte Max und ging weiter in Richtung Leinwand. Niner erinnerte sie ein bisschen an Lucy. Wäre schön, wenn sich Fresca und Niner anfreunden. Würde beiden bestimmt gut tun.

Max ging durch eine Türöffnung links von der Leinwand. Knapp einhundertzwanzig Kilo Tattoos und Piercing – verteilt auf zwei Meter Höhe – versperrten den Weg: Tippett. Vor dem Puls war er Linebacker gewesen. Mittlerweile war er fast fünfzig und trug immer noch den schwarzen Gürtel in Karate. Er war der Einzige im Clan, der es mit Max aufnehmen konnte. Einmal waren sie gegeneinander angetreten. Nach acht Sekunden hatte sie ihn auf die Matte gelegt. Das war der

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bisherige Rekord gegen Max. Jetzt, wo sie seine Bewegungen kannte, hätte sie ihn wahrscheinlich in fünf Sekunden gepackt.

„Hi“, grüßte Max. Tippett strahlte sie mit seinen vom Tabak gelb gefärbten

Zähnen an. Er war riesig, etwas blass und trug einen dazu irgendwie unpassenden Afrolook. Außer Max und Moody war jeder von seinem Auftreten beeindruckt. Selbst Gabriel machte einen großen Bogen um Tippett.

„Hallo, Zuckerschnitte“, antwortete er. „Wie wär’s mit ’nem Kämpfchen?“

„Willst du?“ „Nee, lieber doch nicht. Du willst bestimmt zum Moodman.“ „Ich muss zum Moodman, dringend.“ „Ein Mädchen, das mich flach legt, braucht nicht zwei Mal

fragen.“ Er trat zur Seite. Im Flur duftete es wie immer nach Weihrauch, ein

Wohlgeruch nach dem Schweißgestank im Saal. Moodys unbeschriftetes Büro lag hinter der zweiten Tür auf der linken Seite der rissigen hellblauen Wand. Gleich neben der mit der Aufschrift Moody-Office. Letztere Tür führte in einen kleinen, leeren Raum. Ihre eigentliche Bestimmung war die Verkabelung mit knapp einhundert Gramm C4-Dynamit.

Max klopfte an die zweite Tür und sagte laut ihren Namen. Aus dem Zimmer erklang ein dumpfes „Herein!“ Moody saß an seinem Schreibtisch, ein Handy ans Ohr

gepresst und bat sie reinzukommen und Platz zu nehmen. Die Wand zu dem mit Dynamit geschmückten Nebenraum

war bis zur Decke mit Sandsäcken zugestellt, um Moody zu schützen, falls die Falle tatsächlich einmal zuschnappen sollte. Um den Metallschreibtisch standen drei passende Metallstühle. Den einen belegte Moody, die beiden anderen standen vor dem Tisch. Auf der rechten Seite trennte ein lilafarbener Perlenvorhang Moodys private Räume von seinem Büro. Hier und da hingen alte Filmplakate, Sean Connery in Goldfinger

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oder Clint Eastwood in Dirty Harry. Max sagten diese beiden Filme überhaupt nichts.

„Beleidige mich nicht“, schnauzte er ins Telefon, und seine Miene wirkte gelassen im Vergleich zum Tonfall. Er warf Max einen flüchtigen Blick zu, verdrehte die Augen und formte mit seinen Fingern einen Mund, den er in schneller Folge öffnete und wieder schloss: Blablabla.

„Ich weiß, dass wir in einer beschissenen Wirtschaftskrise stecken, aber dieser Diamant ist größer als dein Augapfel, du einäugiger Scheißkerl!“ Moody beendete abrupt das Gespräch. „Weißt du was mich schon immer an diesen verdammten Handys genervt hat?“, sagte er in geduldigem Ton in Richtung Max, als würde er eine Tasse Tee bestellen. „Man kann den Hörer nicht auf die Gabel knallen und somit einen Satz eindrucksvoll beenden.“

Max spitzte die Ohren. „War das...?“ „Ja, das war jemand, der – wenn ich meinen Job richtig

gemacht habe – gleich zurückrufen wird.“ Fünf Sekunden später klingelte das Handy und Moody grinste. „Den hab ich im Sack.“

Max hatte Moody schon öfter bei Verhandlungen beobachtet. Sie wusste, er bekam immer, was er wollte, denn er hatte Charme, riskierte etwas und wusste genau, wie er Leute manipulieren konnte.

„Ja?“, sprach Moody in den Hörer. Dann war er einige Sekunden still und lauschte. „Nun, vielleicht ist das wirklich wahr was meine Mutter

betrifft“, fuhr er fort. „Wir werden es aber niemals erfahren, denn sie ist schon vor Jahren verstorben... eines ist jedenfalls sicher: Mein Preis ist fair.“

Wieder war er einen Moment lang still und zwinkerte Max siegessicher zu.

„Sehr gut“, sagte er schließlich. „Wo und wann?“ Moody notierte sich etwas auf einem Schreibblock. „Es ist immer

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wieder ein Vergnügen, mit dir Geschäfte zu machen.“ Dann legte er auf.

Max hob eine Augenbraue. „Wie viel ist denn fair?“ Moodys Lächeln hätte in diesem Moment ausgereicht, um

einen weitaus größeren Raum zu beleuchten als diesen. „Beschäftige dich nicht mit Einzelheiten, Maxine. Nur so viel: Der Clan kann jetzt endlich an einen sicheren Ort umziehen. Einen, an dem wir nicht ständig befürchten müssen, dass die Decke auf uns herabstürzt... auch wenn es schwer fällt, hier wegzugehen, denn trotz allem ist es irgendwie unser Zuhause geworden.“

Sie verstand ihn nur zu gut. „Du freust dich gar nicht. Stimmt was nicht? Macht dir der

Gedanke, diesen Palast zu verlassen, so sehr zu schaffen?“ Max wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Den

ganzen Weg vom Waffelhaus bis hierher hatte sie sich die Sätze genauestens zurechtgelegt. Und jetzt, wo sie die Gelegenheit hatte, sie loszuwerden, fehlten ihr plötzlich die Worte.

„Denkst du, du hättest eigentlich einen größeren Anteil verdient? Oder überlegst du, deinen eigenen Unter-Clan zu gründen?“

Max atmete tief ein und ließ die Luft ganz langsam wieder heraus, so wie sie es in Manticore gelernt hatte. Sie fühlte sich, als musste sie eine Bombe entschärfen – was sie in diesem Moment wahrscheinlich lieber getan hätte. „Moody, ich muss fort.“

Er lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und lächelte. „Wohin und wie lange, meine Liebe?“

Ihr Blick war auf den ausgefransten Teppich gerichtet. „Für immer.“

Das Lächeln war aus Moodys Gesicht gewichen. „Mach keine Witze, Maxine. Jetzt, wo die Dinge hier sich endlich zu

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entwickeln beginnen? Du könntest hier so was wie die Königin sein.“

Sie schaute ihm in die Augen. „Tut mir Leid. Ich verdanke dir sehr viel. Du hast mir eine Menge beigebracht, und das werde ich dir nie vergessen. Aber so etwas wie eine Königin wollte ich nie sein... ich wollte immer nur...“

„Was?“, fragte er verunsichert und in gewisser Weise enttäuscht. „Du wolltest immer nur was?“

Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte sie diese Unruhe in ihrer Magengegend.

„Frei sein“, sagte sie schließlich. Sein Missfallen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Du

fühlst dich nicht frei hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Natürlich fühle ich mich hier frei...

aber das ist es nicht. Es geht nicht um den Clan oder um dich. Das hat nur mit mir zu tun, Moody...“ Sie zeigte auf den Barcode in ihrem Nacken. „...ich bin nicht die Einzige, die mit so einem Ding rumläuft.“

„Ich weiß“, räumte er ein und wurde etwas ruhiger. Max beugte sich nach vorne. „Heute Morgen habe ich

erfahren, wo sich vielleicht einer meiner Brüder aufhält. Ich muss der Sache unbedingt nachgehen.“

Moody seufzte schwer. „Ich habe den Tag gefürchtet, an dem das passieren würde. Schon immer.“

„Du verstehst mich also?“ Seine dunklen Augen trauerten und er zuckte mit den

Schultern. „Hast du hier nicht genug... Familie?“ „Der Clan ist und bleibt meine Familie, aber...“ „Aber?“ Max’ Augen wanderten wieder zum Teppich, dann blickte

sie Moody direkt in die Augen. „Sie waren zuerst da. Euch habe ich erst später als Familie adoptiert.“

„Und wir haben dich adoptiert.“

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„Das habt ihr. Ihr wart immer gut zu mir und ich habe euch nie enttäuscht.“

Er nickte bedächtig. „Wir haben das doch schon mal besprochen, Moody. Alles,

was ich schon immer will, ist meine Geschwister wieder zu finden, das weißt du.“

Er betrachtete sie sehr lange. Dann sagte er mit müder Stimme: „Ich weiß, ich bin unfair, Maxine... aber ich will dich einfach nicht verlieren.“

„Ich werde wiederkommen, irgendwann. Zumindest für einen Besuch. Einen Besuch bei meiner Familie.“

Er lächelte, wenn auch melancholisch. „Wir hatten großes Glück, dich eine von uns nennen zu dürfen, Max.“

„Danke.“ Sie stand auf. „Und mit dem, was für das Herz des Ozeans rausspringt, müsstet ihr ganz gut versorgt sein.“

Auch Moody erhob sich von seinem Stuhl. „Wahrscheinlich hast du Recht, dennoch... wir werden dich hier vermissen.“ Er ging um den Tisch. „Kannst du noch bleiben, bis ich das Geld für den Stein habe? Bei der Übergabe könnte ich dich gut gebrauchen.“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „Ich glaube, mein Bruder steckt in Schwierigkeiten, deshalb will ich mich so schnell wie möglich auf den Weg machen.“

„Wohin willst du denn eigentlich?“ „Ich mach mich einfach nur auf den Weg, Moody. Wohin

dieser Weg führt, das ist bedeutungslos und nur für mich wichtig.“

Moody nickte verständnisvoll. „Hast du genug Geld?“ „Ich hab mir was beiseite legen können... es wird zwar nicht

ewig reichen, aber fürs Erste... Moody, es tut mir so Leid.“ „Maxine, entschuldige dich nicht für etwas, das dein Herz dir

befiehlt, niemals. Denn das ist noch das einzig Ehrliche in dieser verdorbenen Welt.“

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Sie lächelte ihn liebevoll an. „Du warst ein verdammt guter Lehrer.“

„Wirklich?“ Er griff nach etwas auf seinem Schreibtisch. „Kennst du das?“

Sie warf einen kurzen Blick auf das Foto und antwortete sachlich: „Trafalgar Square von Mondrian. Piet Mondrian.“

In seinem Lächeln steckte tiefe Bewunderung, und es war ihr klar, nicht nur wegen ihres guten Aussehens.

„Die meisten dieser Banausen hier in Los Angeles denken, Mondrian ist der Name eines Hotels aus der Zeit vor dem Puls. Aber du kennst alle seine Bilder...“

„Die meisten davon, zumindest...“ „...alle. Und du weißt, wie viel sie wert sind, wie viel du auf

dem Schwarzmarkt für sie verlangen kannst, und wo man sie findet.“

„Das habe ich alles von dir gelernt.“ „Ich hab nur für den Feinschliff gesorgt. Du warst bereits

eine gute Diebin, als du zum Clan kamst. Und jetzt... bist du die Beste!“

Moody ging wieder um den Schreibtisch zu seinem Stuhl zurück, öffnete eine Schublade und nahm ein mit Gummiband zusammengehaltenes Bündel Geld heraus. Er warf es ihr zu. Sie fing es, schaute es kurz an – verdammt, mindestens fünftausend! – und warf es wieder zurück.

„Ich hab doch gesagt, dass ich was auf der Seite habe, Moody.“

Moody lächelte sie verlegen an. „Klar, du hast etwas Geld. Aber ich habe immer ein bisschen Geld von deinem Anteil zurückbehalten... für einen Tag wie diesen. Um die Wahrheit zu sagen, das mache ich für jeden von euch.“

„Machst du nicht“, entgegnete sie. „Du hast Recht... aber es hört sich doch gut an, oder?“ Er

warf ihr das Bündel wieder zu. „In deinem Fall habe ich es

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aber tatsächlich getan. Denn du solltest schließlich einmal den Platz neben mir einnehmen.“

„Ich will es nicht, Moody. Verteil es unter den Kids.“ Er schüttelte den Kopf. „Du wirst es dringender brauchen als

wir. Du hast doch selbst gesagt, wir sind mit dem Geld für das Herz des Ozeans gut versorgt.“

Max wedelte mit dem Geld. „Heißt das, du bist nicht enttäuscht?“

„Natürlich bin ich enttäuscht“, schäumte er. „Aber so ist das im Leben, überall lauern Enttäuschungen. Jedenfalls bin ich nicht sauer, ich kann dich nur zu gut verstehen. Geh, Maxine, finde deinen Bruder. Und wenn du willst, kannst du ihn ja mitbringen. Dann habt ihr beide eine Familie.“

Dieses Mal war sich Max der Tränen bewusst, die über ihr Gesicht rollten. Sie ging um den Tisch und umarmte Moody. Sehr lange.

Dann löste sie sich wieder von ihm. „Wirst du es den anderen sagen?“ Sie deutete in Richtung Saal. „Ich hasse diese gottverdammten Abschiedsszenen.“

„Willst du das nicht besser selbst erledigen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bloß nicht! Ich heule ja jetzt

schon. Wie soll ich das denn vor all den Kids überstehen?“ Er lachte. „Meine Maxine... ganz schön sensibel für eine

genetisch aufgemotzte Killermaschine.“ „Dann hilf mir doch, mein Gesicht vor den anderen zu

wahren. Sag du’s ihnen.“ Etwas Schadenfreude vergrub sich in seinen Lachfalten.

„Sieht aus, als müsste ich nachgeben.“ Sie umarmten sich noch einmal, dann verließ Max Moodys

Büro. Ein letztes Mal rief Max Fresca zu sich in die Vorführkabine

– bevor sie den Clan endgültig verließ – und bat ihn, ein Auge auf das Zimmer und ihre Sachen zu haben, während sie „eine kleine Reise“ unternahm.

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„Kann ich mitkommen?“, stöhnte er und selbst seine Sommersprossen schienen mit ihm zu leiden.

„Nein, ich brauche dich hier vor Ort. Du bist mein Aufpasser, okay?“

„Echt?... Mann... cool.“ „Okay, pass auf meinen Scheiß hier auf. Ich nehm nur mein

Motorrad mit.“ „Alles klar!“ Max legte ihm verschwörerisch einen Arm um die Schulter.

„Da ist noch eine andere Sache.“ „Was denn? Sag’s mir!“ „Kümmer dich ein bisschen um Niner. Sie ist schwer in

Ordnung, aber eben noch ziemlich unerfahren. Wäre gut, wenn ein Mann sich um sie kümmert.“

Fresca war stolz, dass Max ihn einen Mann nannte. „Kannst dich voll und ganz auf mich verlassen.“

„Und noch was, Fres. Nimm das!“ Sie drückte ihm etwa die Hälfte des Geldes in die Hand, das Moody ihr gegeben hatte.

Seine Augen waren plötzlich größer als Spiegeleier. „Spinnst du, Max?“

„Steck es weg und erzähl niemandem davon.“ „Warum nicht?“ „Weil jeder für sich etwas Kohle zur Seite legen sollte.“ „Klar“, antwortete er ihr atemlos und spielte mit den

Geldnoten. „Und vergiss niemals, Fres... auch du bist mein Bruder.“ Er sah sie verwirrt an. „Auch? Hast du denn noch einen

Bruder?“ „Möglich“, sagte sie. „Du wirst es erfahren.“ Sie umarmten sich, dann sagte sie: „Ich muss los.“ „Okay, dann nichts wie los.“ Max schob ihr Motorrad aus dem Gebäude und raste davon.

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5. Kapitel__________________________ WILLKOMMEN IM AFFENHAUS

Pacific Coast Highway Eureka, Kalifornien, 2019

Wie Giftpilze waren diese kleinen Siedlungen aus baufälligen Hütten nach dem Puls aus dem Boden geschossen. Die Menschen lebten dort wie Flüchtlinge im eigenen Land, und meistens starben sie auch dort. Alle Dörfer trugen den Namen Jamestown. Benannt nach dem zur Zeit des Atomschlags amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten, Michael James. Im Grunde waren sie eine neue Variante der Hoovervilles, die im 20. Jahrhundert in den Jahren der Großen Depression entstanden waren. Auch jene Siedlungen verdankten ihren Namen einem unbedeutenden US-Präsidenten.

Dieses spezielle Jamestown lag östlich von Eureka, Kalifornien, und war direkt nach dem Großen Beben von 2012 entstanden. Alles hatte mit ein paar schäbigen Hütten angefangen. Und mittlerweile, nach sieben Jahren, war eine richtige kleine Stadt entstanden. Mit Kneipen, Handelsplätzen, einer Kirche und sogar einer Schule. Jamestown stand auf dem früheren Gelände des Sequoia Park Zoo, und man hatte die einstigen Tierstallungen für die verschiedensten Zwecke umfunktioniert.

Der größte Teil des ehemaligen Zoos war zu Unterkünften umgebaut worden. Das Affenhaus beherbergte schon seit langem eine gleichnamige Kneipe, und man bediente dort zumindest dem Ursprung nach menschliche Wesen. Direkt an das Affenhaus grenzten eindrucksvolle Wälder, die niemand gerne in der Nacht betrat – nicht einmal die rauesten Kerle. Die

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Stadt an sich war sehr ruhig und friedlich, aber in den Wäldern passierten die wirklich schlimmen Dinge: Mord, Vergewaltigung, Raub, das Übliche eben. Eines war jedenfalls sicher. Dem Wald würde es so bald an Dünger nicht mangeln, bei dem fortwährenden Zustrom verrottender Leichen.

Auf der anderen Seite des Affenhauses waren Armeezelte aufgestellt. Sie waren als Unterschlupf für die Hunderten von Durchreisenden gedacht, die zwischen einem Tag und drei oder vier Monaten hier blieben – je nach finanzieller oder körperlicher Verfassung.

Seit einiger Zeit hatte sich eine wilde Biker-Gang in der Zeltstadt eingenistet. Sie waren die Nachfolger der berüchtigten Hell’s Angels aus der Zeit vor dem Puls. Die New Hellions, wie sie sich jetzt nannten, nahmen sich sehr ernst. Sie waren durchdrungen vom Stolz auf ihre Vorläufer und versuchten ihnen jeden Tag gerecht zu werden.

Der Abend brach gerade herein. Und eine schlanke, gut aussehende, schwarze Frau mit hohen Wangenknochen, breiter Nase und großen, braunen Augen mit blauem Lidschatten stiefelte durch dieses ekelhafte Elendsviertel, als wäre es ein netter kleiner Jahrmarkt. Ihre dunklen Augenbrauen wuchsen nach oben und gaben ihr diesen ungestellten ironischen Ausdruck. Und ihren ohnehin recht auffälligen Afrolook hatte sie mit ein paar rosafarbenen Bändern zusätzlich herausgeputzt.

Für eine Frau, die allein in dieser rauen Stadt unterwegs war, zeigte „Original Cindy“ McEachin verhältnismäßig wenig Angst. Um genau zu sein, sie hatte gar keine.

Sie trug hautenge schwarze Lederhosen und ein orangefarbenes bauchfreies Top. Es saß so eng, dass die Spagettiträger fast unnütz waren. Unfreiwillig fiel damit der Blick nicht nur auf ihren flachen Bauch, sondern auch auf ihren hervorstehenden Busen und die nackten Schultern. Sehr gewagt, eben. Kein Wunder machten die Männer große Augen,

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und den Bikern, die noch nicht im Affenhaus waren, klappte förmlich der Kiefer nach unten.

Glotzt nur, dachte sie. Ihre Schuhe hatten beträchtlich hohe Absätze, aber selbst in Turnschuhen hätte sie nicht lockerer gehen können. So was wie Original Cindy habt ihr im ganzen Leben noch nicht gesehen – schaut ruhig her, aber lasst bloß eure Fingerchen weg, ihr Flachwichser...

Aufreizend überquerte Cindy die Straße und stieß dabei fast mit einem Biker-Pärchen zusammen, das gerade aus dem Affenhaus kam. Der männliche Teil des Pärchens war ein ziemlich stämmiger Kerl. Sein finsterer Gesichtsausdruck verwandelte sich schlagartig in ein dümmliches Grinsen, als er sah, mit wem er fast kollidiert wäre. Er hatte langes, verfilztes braunes Haar, das dringend nach einer Wäsche schrie, trug eine zerlumpte Jeansweste und die obligatorischen Jeans und Stiefel. Unter seiner Weste reifte zwar ein haariger Bierbauch, doch seine Oberarme konnten locker mit den Mammutbäumen in der Nachbarschaft konkurrieren. Seine Bizeps waren mit Schlangen tätowiert, und es sah so aus, als würden sie mit jeder Bewegung neu zum Leben erwachen.

„’tschuldigung“, sagte Original Cindy. Der Kerl hatte einen der beiden Schlangenarme um seine

Begleiterin gelegt. Sie war eine dünne ehemalige Schönheitskönigin in Jeans und schwarzem Nietenhalsband. Mit langem blondem Haar, aufgeblasenen Lippen, blauen Augen und einer insgesamt recht aufreizenden Ausstrahlung. Sauferei und Drogen hatten ihr noch nicht ihre Reize geraubt.

Original Cindy lächelte die Frau an, und die lächelte wissentlich zurück.

Der betrunkene Biker dachte anscheinend, dass das Lächeln für ihn bestimmt war. „Ich nehme deine Entschuldigung an, Zuckerpuppe“, lallte er und machte einen Schritt auf Original Cindy zu...

... aber das war ein Fehler.

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Als Erstes verlor er die Blondine. „Zur Hölle mit dir und deiner beschissenen Harley!“ Sie schlängelte sich aus seiner Umarmung und stürmte in Richtung der Zelte davon.

„He, Baby“, grinste er Original Cindy dämlich an. „Ein Zweier ist auch okay, oder?“

Original Cindy stemmte die Hände in die Hüften und warf ihre Afromähne zurück. „Du glaubst doch nicht wirklich, ich habe dich gemeint, du stinkender Misthaufen?“

Seine Stirn verkrampfte, als versuchte er zu denken. „Ich habe die Süße gemeint, die gerade den Abgang gemacht

hat“, fuhr Original Cindy fort und deutete mit ihrem langen Zeigefinger in Richtung der verschwundenen Biker-Braut.

Er riss die Augen weit auf. „Ich halt’s nicht aus! ’ne beschissene Lesbe!“

Der Biker machte einen weiteren Schritt auf sie zu, blieb aber sofort stehen, als Original Cindy Kampfstellung einnahm.

„Ich tu mal so, als hätte ich das nicht gehört... willst du wirklich weiter in diese Richtung gehen?“

Original Cindy war vor kurzem aus der Armee ausgetreten und auf dem Weg zurück nach Seattle. Und eine Frau, ob sie nun Exsoldatin war oder nicht, begab sich nicht von Fort Hood, Texas, aus auf einen solch schwierigen Weg – wenn sie nicht genau wusste, dass sie auch alleine gut zurechtkam.

Der Betrunkene dachte kurz darüber nach, sich zurückzuziehen, doch sein Ego war zu groß. Er zog ein Schnappmesser und öffnete die Klinge.

Er hätte genauso gut eine Mundharmonika herausholen und den Yankee Doodle spielen können. So wenig beeindruckt grinste ihn Original Cindy an.

„Hast du das schon mal gehört?“, fragte sie. „Je länger die Kling’, desto kürzer...“

Der Biker strich sich ein paar fettige Strähnen aus dem Gesicht. „Du wirst dich sofort bei mir entschuldigen, du Schlampe.“

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Sie neigte ihren Kopf und schaute ihn eindringlich an. „Weißt du was?“, sagte sie schließlich. „Du tust die ganze

Zeit nichts anderes, als Original Cindy zu beleidigen. Erst das Wort mit dem ,L’, dann das mit ,S’... du bist nur noch einen Konsonanten entfernt von einem gewaltigen Tritt in deinen fetten, furzenden Hintern.“

Er schäumte vor Wut, ließ eine neue Runde Beschimpfungen vom Stapel und landete schließlich bei dem Wort, das mit ,F’ beginnt. Dann wollte er sie angreifen.

„Jetzt reicht’s...“, sagte Original Cindy und wich ihm aus. Als er an ihr vorbeitaumelte, verpasste sie ihm einen Faustschlag aufs Ohr und zusätzlich einen Tritt in den Hintern.

Das war das Zweite, was der Biker verlor. Seine Würde. „Scheiße“, brüllte er wie ein verwundeter Löwe und griff an

sein schmerzendes Ohr. „Ich schneide dich in Scheiben, du schwarze Schlampe!“

Ihre Reaktion auf diese Beleidigung war wortlos. Wie ein Meister des asiatischen Kampfsports sprang sie auf ihn zu und landete mit ihrem hochhackigen Schuh einen perfekt platzierten Kick in seinem vorlauten Mundwerk.

Der Biker fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Sein Messer fiel ihm aus der Hand und landete unter einem Busch – als ob es von sich aus die Sache hiermit beenden wollte. Er versuchte immer wieder etwas zu sagen, aber es klang unverständlich, weil ihm die Zähne nacheinander wie Maiskörner aus dem Mund fielen. Das Blut lief über sein Kinn und tropfte in farbenprächtigen Streifen auf seine nackte haarige Brust.

„Oho“, sagte Original Cindy mit gespieltem Entsetzen, die Hände wieder in die Hüften gestemmt. „Du weißt wirklich, wie man eine Frau auf die Palme bringt... willst du mich noch ein bisschen mehr beleidigen? Du bist noch nicht bis zum ,N’ vorgedrungen... aber dann müsste ich dich vielleicht dafür töten.“

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Langsam kam er wieder auf die Beine und blickte hasserfüllt in Richtung des Gebüschs, unter dem sein Messer verschwunden war.

„Denk erst gar nicht dran, es dir wieder zu holen... du bist doch ein schlaues Kerlchen, oder? Und du weißt sicher auch, wann Schluss ist!“

„Fick dich selbst!“, antwortete er auf ihre Vermittlungsbemühungen.

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Keine Chance, Señor. Nicht mal, wenn ich dafür hinterher was von der Süßen abbekomme, die du vorhin vergrault hast.“

Blind vor Zorn und Verlegenheit stürzte der Biker auf sein Messer zu. Doch Original Cindy schnitt ihm den Weg ab und erwischte ihn mit einem Tritt an den Kopf. Er ging erneut zu Boden... nur dieses Mal blieb er dort liegen. Aus seinem gebrochenen Mund tropfte eine Brühe aus Speichel und Blut.

Original Cindy drehte sich gleichgültig um und blickte in Richtung der Zelte. Wohin ist nur dieses hübsche Törtchen verschwunden?, wunderte sie sich.

Doch die Blondine war nirgends zu entdecken. „Verflucht!“, schimpfte sie vor sich hin. „Ausgerechnet

jetzt!“ Cindy trat durch die Käfigtüren in die Kneipe. Zwei Dinge

fielen sofort über sie her. Zuerst das Gebrülle einer miserablen Rockband aus der hintersten Ecke des Raumes – auch nach zwanzig Jahren im 21. Jahrhundert schienen ZZ Top-Coverversionen immer noch angesagt. Und zweitens eine Duftmischung aus Sandelholz und Affenscheiße. Original Cindy entschied sich dafür, auf Mundatmung umzustellen, wie es alle anderen hier mehr oder weniger auch taten.

Der Laden war voll gepackt mit dem Abschaum, der in diesen Tagen die Straßen unsicher machte und einer Kombination aus Schweiß, Schnaps und schlechtem Atem. Original Cindy gibt so schnell nicht auf, ermahnte sie sich

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selbst. Und außerdem war sie fast am Verdursten. Schon vor der schweißtreibenden Auseinandersetzung mit dem bescheuerten Biker hatte sie sich auf ein Bier gefreut. Also kämpfte sie sich zur Bar durch.

Die Band misshandelte immer noch ihre Instrumente und der Sänger jaulte in sein ständig rückkoppelndes Mikrofon. Cindy war klar, dass nur jemand mit einem Doktortitel in Rockmusik herausfinden konnte, welches ZZ Top-Stück sie gerade zerfleischten.

Der Barkeeper war ein dürrer, blasser, Mitleid erregender Typ. Er trug mehr Haare auf dem Kopf, als sein Kamm bewältigen konnte. Und er hatte zwei angeschwollene Augen – mit freundlicher Genehmigung eines ohne Zweifel unzufriedenen Kunden.

„Ein Bier!“ Sie musste brüllen, um den Lärm der Band und der Menge zu übertönen.

Er nickte. Cindy drehte sich, um die Menschenmenge, hauptsächlich

Biker, besser im Blick zu haben. Seit dem Rodeo-Wettbewerb in der Nähe von Fort Hood hatte sie nicht mehr so viel Leder und Jeans auf einem Haufen gesehen. Hier, in dieser Kneipe, war es nicht ganz so schlimm... Gott sei Dank. Im Vergleich zu den beschissenen Cowboys da unten in Texas waren selbst diese Biker Waisenknaben. Original Cindy stand nicht auf Vorurteile, aber Rednecks waren ihr einfach zuwider.

Das Gleiche betraf Redneck-Bands wie diese hier. Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug und ein drogengeschwängerter Leadsänger auf der Suche nach der richtigen Tonart. Irgendwie klang diese Combo wie eine Mischung aus herumwirbelnden Murmeln in einer Mülltonne und zwei hinzugepackten läufigen Katzen.

Mittlerweile war der veilchengeschmückte Barmann mit einem schönen kühlen Bier zurückgekommen. Original Cindy konnte immer noch nicht fassen, in welchem bedauerlichen

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kulturellen und sozialen Umfeld sie sich in diesem Moment bewegte. Sie nahm einen Drei-Dollar-Schein aus ihrer Tasche – er trug passenderweise das Konterfei von Präsident James – und der Barkeeper riss ihn ihr sofort aus der Hand.

„Verdammter Mistkerl!“, rief sie ihm zu. Doch der Typ zuckte nur mit den Schultern und lief weg. „Kein Wunder, siehst du aus wie ein Waschbär... der Rest ist

für dich, Märchenprinz!“, murmelte sie vor sich hin, obwohl sie wusste, dass er ein Trinkgeld ohnehin stillschweigend vorausgesetzt hatte.

Sie trank ihr Bier schlückchenweise. Bei diesen Preisen war es vernünftiger, nüchtern zu bleiben. Davon abgesehen war es dieser Schuppen nicht wert, mehr als ein Bier und fünfzehn Minuten seines Lebens darin zu verschwenden. Hier gab es niemanden, der auch nur annähernd auf ihrer Wellenlänge lag. Und um weitere Zusammenstöße mit Bikern zu vermeiden, war es sinnvoller, möglichst schnell wieder aus diesem Affenhaus zu verschwinden.

Also kippte sie die Brühe hinunter und versuchte – für ihre Verhältnisse jedenfalls – unauffällig zu bleiben. Dennoch wurde sie ständig angestarrt, und sie fühlte sich unwohler, als sie es selbst zugegeben hätte.

Angst hatte sie keine, nicht einmal vor der Hölle. Und erschrecken konnte sie auch nichts, außer vielleicht das Leben selbst. Doch bei dreißig Bikern gegen eine schwarze Exsoldatin standen ihre Chancen schlecht. Als sie sich gerade in Richtung Tür davonmachen wollte, kam der Biker hereingestolpert, den sie vorher zerstampft hatte. Er war völlig benebelt – mehr von ihrer Schläge als vom Bier. Sein schmerzverzerrter Mund war wütend zusammengepresst, und von seinem Kinn tropfte immer noch Blut.

„Jetzt bist du dran, schwarze Schlampe“, grölte er undeutlich auf Grund des Alkoholpegels und breiig als Folge der fehlenden Zähne.

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Die Musik dröhnte weiter, aber ansonsten war alles verstummt und sämtliche Augen starrten zur Tür, dann in Richtung Original Cindy, deren Anwesenheit ohnehin niemand übersehen hatte.

„Mann, Mann, Mann... ich dachte, du hättest die Schnauze voll“, sagte sie und schaute verständnissuchend in die Runde. Wenn ein Kampf einmal beendet ist, dann ist er beendet, und danach geht das beschissene Leben wieder weiter, oder?, dachte Cindy.

Aber auf Verständnis seitens der Biker konnte sie lange warten. Die Kerle bildeten einen Halbkreis um Cindy und schoben sie mit dem Rücken zur Bar. Dann machten sie den Weg für ihren Kumpanen frei.

Langsam näherte er sich auch schon und hatte wieder dieses verdammte Messer in der Hand. Direkt hinter ihm schloss sich der Halbkreis. Die Show konnte beginnen.

Original Cindy hatte keine andere Wahl. Sie musste zuerst zuschlagen. Also schnappte sie ihre Bierflasche und zerschlug sie auf dem Kopf des Bikers direkt neben ihr. Er brach sofort zusammen. Mittlerweile hatte auch die Band bemerkt, dass sich keiner mehr für sie interessierte und hörte auf zu spielen. Es war plötzlich totenstill.

„Du hast noch nicht genug von Original Cindy?“, durchbrach sie die Stille, deutete mit beiden Händen auf sich selbst und betrat selbstsicher die Mitte des Rings. „Dann kommt nur... es gibt ’ne Menge zu tun!“

Unglücklicherweise nahmen die Kerle ihre Einladung wörtlich.

Es war ziemlich eng um die Bar, und sie hatte kaum Bewegungsfreiheit. Cindy erwischte zwar einen Biker mit einer geraden Rechten zwischen den Augen, und einen anderen erledigte sie mit einem Knietritt in die Leistengegend. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Biker sie im Griff hatten und auf den Boden drückten. Mit gespreizten Armen und

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Beinen – wie ein Schmetterling im Sammelalbum – lag sie nun festgenagelt da, als der Mistkerl, den sie draußen eigentlich schon erledigt hatte, sich seinen Weg zu ihr freimachte.

„Wo ist deine große Klappe geblieben, Schlampe?“ Sie starrte ihn wütend an und zog den einzigen Trumpf, den

sie noch hatte. „Du feiges Schwein! Hast wohl Angst allein gegen ein Mädchen anzutreten. Brauchst deine Kumpel dazu, was?“

Er beugte sich nach vorne und schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf schien vor Schmerz zu explodieren und bunte Sternchen machten sich vor ihren Augen breit.

„Ich warte immer noch auf deine Entschuldigung, Schlampe...“

Original Cindy spuckte ihm eine Ladung Blut ins Gesicht. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nie mehr so nennen!“

Er riss einen seiner Schlangenarme nach hinten, um ihr noch eine zu verpassen. Doch bevor er zuschlagen konnte, ergriff plötzlich eine zierliche Hand sein kräftiges Biker-Handgelenk.

Die junge Frau hatte olivgrüne Haut und trug schwarzes Leder. Sie war schlank, aber wohlgeformt, und kaum jemand hatte sie auf ihrem Weg nach vorne wahrgenommen. Einigen wenigen war ihr geschmeidiger und kurvenreicher Körper aufgefallen. Und wieder andere schienen sich darüber zu amüsieren, dass sich ein solch kleines Ding überhaupt bis in die Mitte des Kampfrings wagte.

Doch nun standen sie alle wie festgefroren da, auch Original Cindys spezieller Freund. Seine Nasenlöcher flackerten und seine Augen wurden größer, als er sich umdrehte, um zu sehen, wer ihn da zu unterbrechen wagte – und wessen schraubstockartiger Griff sich gerade um sein Handgelenk gelegt hatte.

„Hör auf!“, schlug ihm die Unbekannte vor. „Du... du machst Witze!“ Seine Oberlippe machte den Blick

frei auf ein zahnloses Grinsen.

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Sie grinste zurück. Original Cindy, die immer noch am Boden festgehalten wurde, genoss das Lächeln der Fremden in vollen Zügen. Auch wenn sie davon ausging, dass dieses süße Geschöpf ihr schon bald auf dem Boden Gesellschaft leisten würde...

„Du hast Recht“, sagte die Unbekannte schulterzuckend. „Ich mache Spaß.“

Sie hielt den Biker immer noch am Handgelenk fest, trat ihm von hinten in die Kniekehlen und schickte ihn auf den Boden, wo er kniend neben ihr landete. Original Cindy konnte aus ihrer Position nicht erkennen, was daraufhin geschah.

Die schwarz gekleidete Unbekannte fegte wie ein Wirbelwind durch den Raum und verteilte ihre Hiebe, Schläge und Tritte an jeden Biker, der sich ihr in den Weg stellte. Original Cindy war plötzlich frei und sprang wieder auf die Beine. Noch etwas benommen sah sie ihre Retterin einen Biker nach dem anderen ausknocken – wie in einem Bruce Lee-Film. Der stämmige Kerl, mit dem die ganze Sache angefangen hatte, kam wieder auf die Beine, und er hatte immer noch das Messer in der Hand.

Original Cindy verpasste ihm einen harten Faustschlag ins Gesicht. Im selben Moment landete die Unbekannte in Leder einen Tritt auf seinem Unterarm, und das Messer flog ihm aus der Hand. Er stand zwar noch auf den Beinen, aber ziemlich wackelig. Den Rest besorgte Cindy. Nach einem Knietritt in die Eier krümmte sich unser Held mit weit geöffnetem Mund nach vorne, und eine gezielte Rechte sorgte dafür, dass er ihn auch wieder schloss.

Zum zweiten Mal an diesem Abend fiel der Biker mit dem Spatzenhirn wie ein nasser Sack zu Boden und spuckte Zähne.

Eine halbe Minute später standen in der Kneipe nur noch die Band, der Barmann und die zwei Frauen aufrecht. Alle anderen schwebten in den unterschiedlichsten Phasen der Bewusstlosigkeit. Manche stöhnten, andere lagen

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zusammengekrümmt am Boden oder krochen verwundet in dunkle Ecken.

„Ich heiße Max“, sagte die junge Unbekannte. „Original Cindy.“ Max hielt ihr eine Faust entgegen und Original Cindy boxte

mit ihrer Faust dagegen. Keine von beiden hatte ernsthaft etwas abbekommen. Der Barmann grinste und spendierte den beiden Siegerinnen zwei eisgekühlte Bier. Schätzungsweise hatte derjenige, der ihm die Veilchen verpasst hatte, gerade sein Fett abgekriegt.

Max erhob ihr Glas. „Du kannst dich wehren, Mädchen.“ „Du bist auch nicht ohne, Schwesterchen“, antwortete

Original Cindy und betrachtete das entstandene Chaos. „Wollen wir abhauen?“ „Ja, ist nichts los hier im Affenhaus.“ „Irgendwie langweilig.“ „Scheint, als hätten die Jungs keinen Bock mehr auf ’ne

Party.“ Sie bahnten sich einen Weg durch die stöhnenden Leiber und

verließen die Kneipe. „Die Schwanzlutscher hatten echt riesiges Glück, dass du

reingekommen bist“, prahlte Original Cindy und zuckte mit den Schultern.

Max grinste. „Sie hatten Glück?“ „Oja, kurz bevor du deine Teenager-Nase reingesteckt hast,

wollte ich mich gerade freischaufeln und ihnen so richtig in den Arsch treten.“

Max lachte. „Hättest nur was sagen brauchen. Ich wollte dir den Spaß nicht verderben...“

„Wieso bist du eigentlich reingekommen?“ „Weiß nicht... irgendwie kann ich Ärger riechen.“ „So geht’s Original Cindy auch. Vor allem, wenn es so stark

und abgestanden danach riecht wie hier.“ „Ich denke, wir sollten hier verschwinden.“

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„Ja, Schätzchen. Wir sollten unseren Arsch schleunigst ins Trockene bringen. In diesem Jamestown sind wir jedenfalls nicht mehr sicher...“

Sie standen vor einem schnittigen, schwarzen Motorrad. „Hast du auch was Fahrbares? Das hier ist meine Maschine.“

„Und das hier ist mein Maschine.“ Cindy hielt ihren Daumen hoch. „Ich hab meinen Kram hinten am Waldrand.“

„Deinen Kram?“ „Du glaubst doch nicht wirklich, dass das hier Original

Cindys einzige Klamotten sind?“ Sie grinste. „Ich hab da hinten im Wald noch ein paar echt coole Lappen.“

„Findest du deinen Kram im Dunklen?“ „Scheißt der Papst in den Wald? Ist ein Bär katholisch?“ Max lachte und stieg auf ihre Maschine. „Spring auf, O.C.

Wir werden deinen Kram holen und uns aus dem Staub machen.“

„Das brauchst du Original Cindy nicht zweimal sagen.“ Sie kletterte hinter Max auf das Motorrad und schlang ihre Arme um sie.

Mit Vollgas hinterließen sie eine Staubwolke in Richtung Wald. Dort schnappten sie sich Original Cindys Rucksack und machten sich auf den Weg aus der Stadt. Bei einer Geschwindigkeit von durchschnittlich hundertsechzig war es unmöglich sich zu unterhalten. Erst wieder als Max an einer kleinen Imbissstube an der Straße durch den Redwood National Park anhielt.

Im Vergleich zu sonstigen Standards nach dem Puls war dieser Laden recht sauber. Es gab sechs Tische. Vor der Theke standen etwa ein Dutzend Barhocker, und dahinter befand sich die Durchreiche zu einer kleinen Küche. Um diese Zeit war nichts los. Nur der dickbäuchige Koch und eine Bedienung saßen nebeneinander an der Theke und lasen Zeitung. Als Max und Cindy eintraten, stand der Koch sofort auf und ging wortlos in die Küche. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte

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kleine Knopfaugen und dunkles fettiges Haar. Die Kellnerin trug gelbbraune Hosen und einen braunen Kittel. Sie hatte kurzes dunkles Haar, ein vom Leben gezeichnetes, wettergegerbtes Gesicht und einen sehr zierlichen Körper. Als die Neuankömmlinge sich gesetzt hatten, erhob sie sich von ihrem Barhocker.

„Zwei Kaffee?“, fragte sie. „Ja“, antworteten die beiden einstimmig. Die Bedienung arbeitete recht zügig für diese Uhrzeit und

servierte je eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser. „Darf es noch was sein?“ „Danke, für mich erst mal nicht“, sagte Max. „Für mich auch nicht“, fügte Original Cindy hinzu. Die Kellnerin nickte, ging zu ihrem Barhocker und nahm

wieder die Zeitung. „Falscher Alarm, Jack!“ Der Koch kam aus der Küche und auch er schnappte sich

wieder seine Zeitung, las sie jedoch auf der anderen Seite der Theke.

„Original Cindy möchte sich bei dir für das bedanken, was du heute Abend für sie getan hast.“ Sie beugte sich nach vorne und streichelte kurz Max’ Hand. „Jede andere Schwester hätte sich vom Acker gemacht, in der Situation.“

Max schüttelte den Kopf. „Was wär ich denn für ’ne Schwester, wenn ich dich mit diesen Sackgesichtern allein gelassen hätte?“

„Und die Kerle waren noch nicht mal Original Cindys Typ.“ „Abschaum.“ „Sackgesichter.“ Max schaute sie fragend an. Dann begann Original Cindy zu erzählen, wie das ganze

Chaos angefangen hatte – mit der Blondine. Sie sah Max aufmerksam an. „Jeder wie er will und kann.“

„Geht mich nichts an, womit andere glücklich werden“, antwortete Max.

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Original Cindy lächelte. Eine Weile saßen die beiden da und nippten wortlos an ihrem Kaffee. Schließlich beugte sich Original Cindy wieder nach vorne. „Was zum Teufel war das eigentlich vorhin?“

Scheinbar ahnungslos zuckte Max mit den Schultern. „Was meinst du?“

Original Cindy imitierte ein paar Kung-Fu-Bewegungen. „Na, dieser Jet Li und Jackie Chan Actionfilm-Kram. Was hat es damit auf sich?“

Wieder zuckte Max mit den Schultern, vermied jedoch den direkten Augenkontakt. „Hab ein wenig trainiert.“

Cindy wackelte mit dem Finger. „Nein, Mädchen... nein, nein, nein. Original Cindy war in der Armee und sie hat ein wenig trainiert... aber, puh, was da in der Kneipe vorhin abgegangen ist...“

Max starrte in ihre Tasse. „Sagen wir einfach, ich bin eine gute Schülerin.“

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“ „Wenn du nichts dagegen hast.“ „Okay, wenn du nicht willst. Lassen wir’s dabei.“ Max’ Gesicht hellte sich auf. „Danke.“ „Du bedankst dich bei mir? Das ist echt abgedreht.“ „Wenn du meinst.“ „Ist jetzt auch egal. Jedenfalls will Original Cindy dir noch

einmal sagen, dass sie tief in deiner Schuld steht.“ Max schien etwas verlegen. „Ich war nur eifersüchtig und

konnte es nicht ertragen, dass du der Mittelpunkt warst...“ „Okay, falls du mal Hilfe brauchst, Original Cindy wird

immer für dich da sein.“ „Gut zu wissen“, sagte Max und erhob ihren Kaffeebecher. „Von heute an bist du meine Boo.“ Leicht nervös runzelte Max die Stirn. „Ich... äh... dachte, es

war klar, dass ich nicht so bin.“

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Original Cindy brach vor Lachen fast zusammen. Max schaute sie wortlos an.

„Eine Boo zu sein hat nichts damit zu tun, Max... es geht drum, dass man für den anderen da ist... dass man zusammenhält. Du, meine Boo.“

In Max’ hübsches Gesicht war wieder ein natürliches Lächeln zurückgekehrt. „Na dann... dann bist auch du meine Boo, juhu.“

Der Reim kam zwar etwas unbeholfen daher, aber Original Cindy lachte wieder lauthals los. Diesmal konnte auch Max sich nicht zurückhalten und so kicherten die beiden eine Weile hin und her.

Original Cindy hielt ihre geballte Faust hoch und Max stieß mit ihrer dagegen.

Als die Kellnerin mit neuem Kaffee kam, beruhigten sie sich endlich wieder. Sie tranken ihren Kaffee und lenkten das Gespräch in eine andere Richtung.

„Erzähl mal“, fuhr Original Cindy fort. „Wohin willst du eigentlich?“

„Nach Seattle.“ „Du verarschst mich, oder?“ Max sah sie verwundert an. „Warum sollte ich nicht auf dem

Weg dorthin sein?“ „Weil ich auch auf dem Weg dorthin bin, in mein Zuhause.“ „Seattle ist Zuhause?“ „Irgendwie schon. Ich hab einige Zeit lang in der

Smaragdstadt gelebt.“ Max sah sie verwirrt an. „Smaragdstadt?“ „Ja, so bezeichneten viele Leute Seattle vor der Explosion.

Du weißt schon... wie im Zauberer von Oz.“ Ein etwas merkwürdiger Blick machte sich auf Max’ Gesicht

breit. „Davon hab ich schon mal gehört...“

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„’türlich hast du das!“ Original Cindy sah aus, als hätte Max gerade Chinesisch mit ihr gesprochen. „Hat da jemand den besten Film der Welt noch nicht gesehen?“

„Ja, ich“, gab Max zu. „Früher hat doch jeder diesen Film mindestens einmal

gesehen.“ „Nun, ich hatte eine sehr behütete Kindheit.“ „Uh, Boo... wir müssen dir unbedingt die schönen Sachen im

Leben beibringen.“ Max grinste. „Ich bin dabei.“ „Okay, Mädchen, dann machen wir es so: Original Cindy

braucht eine Mitfahrgelegenheit nach Seattle... und zum Glück fährst du ja dort hin.“

Max starrte wieder in ihren Becher. „Ich muss ziemlich Gas geben, weil ich... bin da sozusagen mit jemandem verabredet.“

„Gas geben ist für mich kein Problem. Je eher wir dort ankommen, desto eher sind wir da, oder?“

Max lachte mit aufgerissenen Augen. „Was kann ich gegen so ’ne Logik schon einwenden? Komm, lass uns loszischen, Boo.“

Original Cindy grinste breit. „Ich sag’s dir, Boo, die Smaragdstadt hat noch nie zwei coolere Hexen erlebt als uns...“

Über die Interstate Highway im Landesinneren wären sie sicherlich schneller gewesen, aber Max wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, zu nah an Manticore vorbeizukommen. Also fuhren sie vorsichtshalber mit gemächlichen 120-130 Stundenkilometern weiter auf dem kurvenreichen Pacific Coast Highway.

Sie hielten nur, um zu essen und sonstigen Grundbedürfnissen nachzugehen. Und natürlich um zu tanken. Der Preis für Benzin lag bei etwa zwei Dollar pro Liter und riss, wie Max vermutet hatte, auf Dauer ein ziemliches Loch in ihre Kasse. Wegen der lauten Fahrgeräusche unterhielten sie

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sich nur sehr wenig. Aber jeder der beiden war klar, dass sie endlich eine Freundin gefunden hatte, die zu ihr passte.

Sie redeten nicht viel über die Vergangenheit. Instinktiv akzeptierte jede von ihnen die Geheimnisse der anderen. Und so hatten sie vom Anfang ihrer Freundschaft an das Gefühl, als würden sie sich schon ewig kennen.

Die restlichen fünfhundert Meilen waren schnell geschafft, und ehe sie sich versahen, donnerten sie auch schon durch die Straßen von Seattle. Die Stadt hatte immer noch eine beeindruckende Ausstrahlung, trotz all dem Dreck, der sich seit dem Puls angesammelt hatte.

„Hier ist alles so grün“, sagte Max über ihre Schulter. „Genau deswegen nennt man sie die Smaragdstadt,

Dorothy.“ „Dorothy?“ „Boo, du hast echt keine Ahnung von Kultur!“ „Wart’s ab, Cin...“ An der Ecke Vierte Straße und Blanchard hielt Max vor

einem Laden, der sich Buck’s Coffee nannte. Das Schild über dem Eingang sah aus, als hätten vor dem „B“ früher zusätzlich vier andere Buchstaben gestanden. Aber welche, war nicht auszumachen.

„Koffeinmangel“, sagte Max und stellte ihre Ninja ab. „Original Cindy geht’s genauso.“ Die beiden beeindruckenden Frauen traten in den Laden und

gingen an die Theke. Dahinter stand ein grobschlächtiger Kerl, der kaum größer war als Max. Als er die beiden erblickte, formte sich auf seinem fetten, unrasierten Gesicht ein dreckiges Grinsen. An dem Tisch hinter ihm bereitete eine attraktive blonde Frau gerade ein Sandwich vor. Sie war etwa so alt wie die beiden Neuankömmlinge, trug kniehohe rosa Stiefel, einen blauen Minirock und ein rosa Top, das freien Blick auf ihren Bauch und einen beachtlichen Teil ihres eindrucksvollen Busens gewährte.

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„Ladys, ich sag’s gleich: Frappee, Milchkaffee oder Capuccino gibt’s hier nicht“, erklärte der Kerl hinter der Theke großmäulig. „Hier gibt’s den Kaffee nur so, wie ich auch meine Frauen am liebsten mag.“ Er starrte Original Cindy an. „Heiß und schwarz.“

Er war sehr stolz auf sich und die Illusion, einen unsterblichen Satz geprägt zu haben.

Max ahnte, dass Original Cindy kurz davor stand, dem Widerling an die Gurgel zu springen. „Komm, Boo, lass uns irgendwohin gehen, wo wir einen Grande bekommen.“

„Ja, statt dem schlaffen Mini, den dieser Hänger uns hier andrehen will.“

Max kicherte, und die Blonde konnte sich ebenfalls nicht zurückhalten. Der Typ hinter der Theke lief knallrot an und kochte vor Wut.

Er wollte etwas sagen, aber Original Cindy schnitt ihm sofort das Wort ab. Sie wedelte mit dem Zeigefinger. „Hei, greif dir mal lieber an die eigene Nase, Baby!“

Max und Original Cindy stießen ihre Fäuste gegeneinander und die blonde Frau im Hintergrund lachte laut.

Der Typ drehte sich zu ihr um. „Weißt du, was wirklich lustig ist? Dass du dir ’nen neuen Job suchen musst, das finde ich lustig.“

Die Frau wurde schlagartig still. „Hei!“, sagte Max und trat einen Schritt näher an die Theke. „Halt du dich da raus“, zischte der Kerl. „Das geht dich

überhaupt nichts an. Und du...“ Er drehte sich um und starrte die Blondine an. „Du darfst dich von nun an mit größeren und besseren Dingen als meinen Sandwiches beschäftigen. Mach, dass du deinen fetten Arsch hier rausschwingst!“

Max sprang aus dem Stand über die Theke und landete genau zwischen der Frau und dem Typen. Er war sichtlich überrascht von dieser eindrucksvollen Aktion und er schien auch ein wenig ängstlich. „Stell sie sofort wieder ein!“

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„Was hast du...?“ Sie packte ihn am Hals und hob ihn hoch. Mit

hervorquellenden Augen starrte er auf Max herunter, viel zu verängstigt und irritiert, um zu verstehen, dass es eigentlich eine zierliche Frau war, die ihn problemlos mit einer Hand vom Boden hob. Und auch Original Cindy und die Blonde verstanden nicht, was da gerade vor sich ging.

Die Blonde legte ihre Hand auf Max’ Arm. „Ist schon okay... er kann mich nicht feuern... ich kündige. Ich hab schon lange keinen Bock mehr, für dieses Arschloch zu arbeiten.“

Max stellte den Typen wieder auf dem Boden ab. Er hielt sich schwer keuchend an der Theke fest. Ohne ihn

eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierten die drei Frauen gemeinsam hinaus.

„Ich heiße Kendra Maibaum“, sagte die Blonde und streckte ihnen ihre Hand entgegen.

Max schüttelte ihr die Hand. „Max Guevara... und diese reizende Dame ist Original Cindy.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen“, sagte Original Cindy und schüttelte ebenfalls Kendras Hand.

„Wie schaffst du das?“, fragte Kendra. „Ich meine, einen Typen wie Morty einfach so fertig zu machen?“

Original Cindy zog ihre Augenbrauen hoch und grinste. „Das Mädchen hat einfach nur ein wenig trainiert.“

„Ich hab trainiert, aber einen Kaffee hab ich immer noch nicht bekommen“, sagte Max. In diesem Moment war ihr klar geworden, dass sie ihre X5-Fähigkeiten besser verbergen musste – Cindy hatte schon viel zu viel gesehen. „Außerdem haben wir noch nicht darüber gesprochen, wo wir unterkriechen können.“

„Ihr braucht einen Platz zum Pennen?“, fragte Kendra. „Ja, wir sind in gewisser Weise noch nicht lange hier“,

erklärte Original Cindy. „Um genau zu sein, seit fünf Minuten“, fügte Max hinzu.

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Kendra zuckte mit den Schultern. „Wenn ihr nicht zu anspruchsvoll seid, könnt ihr bei mir pennen. Ich hab ’ne eigene Wohnung, da ist Platz genug für zwei oder sogar drei Leute.“

Original Cindy warf Max einen flüchtigen Blick zu. Die zuckte mit den Schultern und fragte: „Warum tust du das für uns? Du kennst uns doch überhaupt nicht.“

Kendra deutete in Richtung Cafe. „Weil ihr mich vor Morty verteidigt habt.“

„Na, das hat dich immerhin deinen Job gekostet“, erinnerte Max sie.

„Stimmt!“ Kendra lachte. „Aber zu sehen, wie Morty die Hosen voll hatte, schon alleine das war die Sache wert. Davon abgesehen habe ich noch ’ne andere Geldquelle.“

„Du gehst anschaffen?“, fragte Original Cindy und warf einen Blick auf Kendras Minirock und das rosafarbene Oberteil, das bis zum Bersten gefüllt war.

Kendra stemmte die Hände in die Hüften. „Wie kommst du denn darauf?“, erwiderte sie überrascht.

„Äh... weiß auch nicht... es hat sich nur so angehört...“ Ein mahnender Blick seitens Max hatte Original Cindy dazu veranlasst, ihre Bemerkung etwas zu korrigieren.

„Ich arbeite viel, aber so was mache ich nicht. Ich übersetze, gebe Sprachunterricht, erledige Schreibarbeiten. Hab schon ’ne Menge Jobs hinter mir, aber so was? Nicht mein Ding!“

„Tut mir Leid... Original Cindy wollte dich nicht beleidigen.“ Kendra schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Gedanken. Wie

gesagt, wenn ihr ’nen Platz zum Pennen braucht, meine Wohnung steht euch offen.“

„Lieb von dir“, sagte Max. „Wo wohnst du eigentlich?“ „Nicht weit von hier.“ „Sollen wir laufen? Wird ein bisschen eng zu dritt auf der

Kiste.“

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„Klar“, antwortete Kendra. „Kleiner Fußmarsch, kein Problem.“

Sie waren fast eine Stunde unterwegs. Max schob die Ninja und Original Cindy schleppte ihren Rucksack, aber keine beklagte sich. Schließlich erwartete sie ja als Belohnung ein Dach über dem Kopf. Max überlegte, was sie von Kendra halten sollte. Für jemand, der verschiedene Sprachen beherrschte und als Übersetzerin arbeitete, erschien sie ihr etwas leichtgläubig und naiv.

Aber sie war nett. Endlich kamen sie an. Original Cindy verdrehte vor

Erschöpfung die Augen. „Da drüben ist es! Ich hab euch ja gesagt, dass es nicht weit ist.“ Kendra zeigte auf ein Gebäude schräg gegenüber.

Das Haus sah nach nichts Besonderem aus. Es hatte sechs Stockwerke, die meisten der Fenster waren mit Sperrholzplatten vernagelt und an der Eingangstür hing eine offizielle Bekanntmachung.

„Das Gebäude ist für unbewohnbar erklärt worden?“, fragte Original Cindy.

Kendra zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich unbewohnbar. Es steht nur leer.“

Original Cindy las das Papier aufmerksam durch. „Original Cindy ist keine Übersetzerin, aber sie kann ein bisschen lesen... und hier steht: ‚unbewohnbar’!“

Kendra schüttelte den Kopf. „Quatsch. Das hängt da nur, um... du weißt schon... das Gesindel fern zu halten.“

„Wie viele Leute wohnen denn hier?“, fragte Max. Kendra zuckte wieder mit den Schultern. „Ich schätze mal...

so fünfzig.“ „Fünfzig Leute?“, kreischte Original Cindy. „Fünfzig Leute

in einem für unbewohnbar erklärten Gebäude. Zum Glück haltet ihr das Gesindel fern.“

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„Kommt rein, Mädchen“, sagte Kendra. „Ihr werdet sehen, es ist gar nicht so übel hier. Wirklich nicht.“

Das Trio trat ins Haus und fuhr in einer Art Lastenaufzug in den vierten Stock. Max schob ihre Ninja neben sich her. Schon bald fiel den beiden Neuankömmlingen auf, dass Kendra Recht hatte. Das Apartment war – wie das Gebäude selbst – nicht fertig gebaut. Einige Wände fehlten und waren durch improvisierte Raumteiler aus Plastikplanen ersetzt. Aber es gab fließendes Wasser, zwei Schlafzimmer und ein paar brauchbare Second-Hand-Möbel. Kendra zog sich in einen Sessel in der Wohnecke zurück, der mit einem blauen Tuch bedeckt war, und die beiden anderen machten es sich auf einem Schlafsofa mit Paisley-Laken bequem.

„Kendra, du hast Recht“, sagte Original Cindy. „Die Bude ist echt nicht übel.“

„Und niemand stört euch hier?“, fragte Max. Kendra sah sie betreten an. „Also... da ist Eastep.“ „Was ist ein Eastep?“, fragte Max. „Ein Bulle. Er treibt Geld von allen Besetzern hier im Haus

ein.“ „Er macht krumme Geschäfte?“ Kendra lächelte. „Ich sagte ja, er ist ein Bulle.“ „Die sind hier alle so in Seattle, Süße“, erklärte Original

Cindy ihrer Freundin Max. Dann fragte sie Kendra: „Wie viel zahlst du im Moment?“

„Zu viel“, sagte Kendra und nannte ihnen den Preis. „Puh“, zischte Max. „Trotzdem, sind im Haus vielleicht noch

andere Wohnungen frei?“ Kendra schüttelte den Kopf. „Keine, in der ein vernünftiger

Mensch wohnen wollte. Kein Wasser, kein Strom, dafür jede Menge Ratten, Löcher in den Außenwänden und in den Decken... alles, was das Herz nicht begehrt... und die Wohnungen, die in Ordnung sind, die sind alle belegt.“

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„Na prima“, murmelte Max und drehte sich zu Original Cindy. „Hast du eine Idee, was wir machen sollen?“

„Original Cindy hat ’ne Freundin hier, bei der sie für einige Zeit bleiben könnte.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Aber die hat nur noch Platz für eine Person... also müssen wir uns was anderes überlegen, Boo.“

„Müsst ihr nicht“, sagte Kendra. „Wollt ihr zwei unbedingt zusammenwohnen?“

Die zwei schauten sich an. „Nein“, sagten sie gleichzeitig. „Ihr seid nicht zusammen?“ „Wir sind Freundinnen“, sagte Original Cindy. „Wir sind nur Freundinnen“, sagte auch Max im selben

Augenblick. „Okay!“ Kendra nickte. „Max, hör zu, wenn Original Cindy

schon einen Platz zum Pennen hat, warum bleibst du nicht einfach hier? Wir könnten uns das Geld für Eastep teilen, das würde auch mir weiterhelfen... außerdem wäre es schön, jemanden hier zu haben.“

„Coole Idee“, strahlte Original Cindy. „Meine Freundin wohnt nicht allzu weit von hier. Wir hatten ohnehin abgemacht, dass ich zu ihr komme. Und zusammen was unternehmen können wir auch so, Boo. Das ist kein Thema.“

Max überlegte kurz und stimmte schließlich zu. „Cool, einverstanden.“

„Okay, das nächste Problem“, fuhr Original Cindy fort. „Wir müssen irgendwie an Kohle rankommen.“

„Du meinst, wir sollen uns einen Job suchen?“ Max verzog das Gesicht.

„Wie willst du denn sonst an Kohle kommen, Boo? Klauen?“ Max schwieg. Kendra setzte sich aufrecht, sie hatte eine Idee. „Vielleicht

weiß Theo was!“ „Theo?“, fragte Max.

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„Ja, er wohnt mit seiner Frau Jacinda und ihrem gemeinsamen Sohn Omar gleich nebenan. Der Laden, bei dem er arbeitet, sucht ständig nach Leuten.“

Max und Original Cindy schauten sich skeptisch an. Ein Laden, der Leute suchte... das war eine absolute Seltenheit bei der Wirtschaftslage.

„Nun, wir sollten diesen Mann nicht länger warten lassen. Original Cindy braucht Geld, um ihren hohen Lebensstandard aufrecht zu erhalten, Süße. Luxuskram wie essen, atmen und kacken.“

Kendra ging voraus und klopfte an die nächstgelegene Apartmenttür. Sie öffnete sich einen Spalt und etwa in Kniehöhe schaute ein kleines dunkelhäutiges Gesicht mit großen braunen Augen aus der Wohnung.

„Ist dein Papa zu Hause, Omar?“ Das entzückende Gesichtchen nickte. „Dürfen wir reinkommen?“ Omar schaute über seine Schulter in die Wohnung. „Bist

du’s, Kendra?“, fragte eine Frauenstimme. „Ja, ich bin’s, Jacinda. Und ich hab zwei Freundinnen dabei.

Sie sind voll in Ordnung.“ „Dann kommt doch rein.“ Omar – er war etwa fünf Jahre alt – öffnete die Tür. Max schaute sich um. Das Apartment war ähnlich

geschnitten wie das von Kendra. Eine schmale schwarze Frau in braunem T-Shirt und gelbbraunen Hosen stand vor der Couch. Neben ihr stand ein asiatisch aussehender Mann, etwas kleiner als seine Frau, mit funkelnden Augen und breitem Lächeln.

„Jacinda, Theo“, stellte Kendra sie vor. „Das hier sind Cindy und Max.“

„Original Cindy“, verbesserte diese.

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„Also, Original Cindy und Max suchen einen Job, und ich dachte, dass du sie vielleicht bei euch unterbringen kannst, Theo.“

Theo lud sie ein, auf dem Sofa Platz zu nehmen. Jacinda setzte sich auf einen Stuhl, und Omar kletterte sofort auf ihren Schoß. Daneben stand Theo und legte eine Hand auf Jacindas Schulter.

„Wir haben in letzter Zeit sehr viel zu tun“, erzählte er. „Es ist ein harter Job, körperlich sehr anstrengend. Und man kommt manchmal in die gefährlichen Ecken der Stadt... oft sogar.“

„Über was für eine Art Job redest du, Theo? Stromleitungen reparieren? Schlaglöcher auffüllen?“, fragte Original Cindy.

Theo lächelte. „Hat eine von euch schon mal als Fahrradkurier gearbeitet?“

Die beiden sahen sich an, dann schüttelten sie den Kopf. „Habt ihr Räder?“ Max grinste. „Ja, ich hab eine Ninja 250.“ Theos Lächeln wurde sichtbar breiter. „Ich meine Fahrräder.

Hat eine von euch ein Fahrrad?“ „Nein“, antwortete Original Cindy. „Aber morgen früh haben wir welche“, sagte Max. Original Cindy schaute sie ungläubig an. Theos Lächeln

jedoch blieb unverändert. „Sehr gut“, sagte er. „Dann nehm ich euch morgen mit. Der

Laden heißt Jam Pony Xpress. Normal – der Typ, der den Laden führt – ist meistens etwas gereizt, aber er meint es nicht böse. Sie zahlen mies und die Arbeitszeiten sind noch mieser. Aber mit den anderen Fahrern kommt man bestens klar.“

„Original Cindy wird es mal versuchen, zumindest bis sich ihr was Besseres bietet.“

„Was genau müssen wir da tun, Theo?“, fragte Max.

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„Wir kurven durch die Stadt und liefern Briefe und Pakete aus, was sonst?“, antwortete Original Cindy und nahm Theo die Antwort aus dem Mund.

„Aber ich kenn mich hier doch überhaupt nicht aus.“ „Das wird sich ändern, Boo, verlass dich drauf. Original

Cindy zeigt dir wo’s langgeht. Du wirst sehen, schon Mitte nächster Woche werden dich die Taxifahrer nach dem Weg fragen.“

Omar meldete sich zum ersten Mal zu Wort: „Fahrradkuriere sind überall in der Stadt. Sehr gut... sie sehen alles und jeden in Seattle.“

Max lachte. „Was denkst du, Boo?“, fragte Original Cindy. „Ich glaube, wir hatten großes Glück, Kendra getroffen zu

haben. Und noch viel größeres mit Omar.“ Fahrradkurier, ging es Max durch den Kopf. Sehr gut, man

kommt überall in der Stadt rum... ist sozusagen unsichtbar... sieht alles... hört alles... das könnte genau passen.

Ja, das passt...

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6. Kapitel__________________________ GELD REGIERT DIE WELT

Jam Pony Xpress Seattle, Washington, 2019

Der Jam Pony Xpress war eine Welt voller verbeulter Schließfächer, altem Ziegelstein, massiver Holzbalken und obszöner Graffiti. Er befand sich in einer heruntergekommenen Fabrikhalle und war genau die Art Irrenhaus, die Max als passende Tarnung auf der Suche nach ihrem Bruder brauchte.

Auf dem ganzen Weg von Los Angeles nach Seattle hatte sie immer und immer wieder dieses Video vor ihrem geistigen Auge ablaufen lassen. Und mittlerweile war sie so gut wie sicher, dass der junge Rebell, den sie gesehen hatte, wie er die Bullen vermöbelte, ihr Bruder Seth war.

Die X5-Einheit hatte keine Vorstellung, wie lange es dauern konnte bis sie ihn fand. Aber unter dem harmlosen Deckmantel eines Fahrradkuriers war sie erstmal eine Weile sicher. Niemand, nicht einmal Moody oder Fresca oder sonst jemand vom Chinese Clan, hatte die geringste Ahnung, dass sie in Seattle war. Seit sie neun war, hatte ihr Leben daraus bestanden, nicht aufzufallen und Manticore so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Ein aufgewühltes Leben mit nur wenigen ruhigen Nächten. Aber hier – in Original Cindys Smaragdstadt – fühlte sie sich sicher. Besser getarnt als in LA, wo sie durch ihre gewagten Aktionen immer wieder Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Original Cindy hatte Recht gehabt. Als Kurier lernte Max die Stadt sehr schnell kennen. Viel schneller als mit der Ninja. Die besetzte Wohnung war ein Volltreffer, auch wenn der Preis für die Miete an den korrupten Bullen der reinste Wucher war.

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Das Leben mit den illegalen Hausbesetzern war wie geschaffen für Max. Nirgendwo in der Stadt tauchte ihr Name in einer Akte auf. Außerdem kam sie mit der reizenden, naiven Kendra gut klar, und die beiden wurden schon bald Freundinnen.

Auch die Freundschaft von Max und Cindy hatte sich vertieft. Nicht zuletzt weil Max die beiden Fahrräder besorgt hatte, ohne die sie beim Jam Pony Xpress überhaupt keine Chance gehabt hätten. Die zwei verbrachten fast jede freie Minute zusammen, und auch im Trio mit Kendra hatten sie viel Spaß.

Schon nach einer Woche hatte Original Cindy eine kleine Wohnung für sich gefunden. Von da an war sie nicht nur unabhängiger, die Wohnung lag auch näher an der von Max und Kendra. Max holte morgens zuerst Theo von nebenan ab, dann gabelten sie Original Cindy an einer Ecke auf und fuhren zusammen zur Arbeit. Unterwegs besorgten sie sich meistens Kaffee und Bagels, hielten in einem Park zum Essen und rollten schließlich beim Jam Pony Xpress ein.

Während der unbeschwerten Zeit beim Frühstück lernten Original Cindy, Max und Theo sich immer besser kennen. Max war völlig bewusst, dass die anderen mehr von sich preisgaben als umgekehrt. Und manchmal spürte sie, wie enttäuscht Original Cindy darüber war.

Doch O.C. und Theo waren nun mal keine genetisch aufgepeppten Killermaschinen aus einem supergeheimen Forschungslabor, und so hatten sie auch ein paar Geheimnisse weniger zu verbergen als Max.

Mittlerweile war ein Monat vergangen, seit sie Moody und den Chinese Clan verlassen hatte, und es gab noch immer nicht die geringste Spur von Seth. Auch in den Nachrichten war der junge Komplize von Eyes Only nicht mehr erwähnt worden.

Max hatte eine enorm ausgeprägte Beobachtungsgabe, aber Seth war im Verstecken noch viel besser. Er hatte die gleiche

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Ausbildung wie Max hinter sich, und er war – genau wie sie – schon seit langer Zeit auf der Flucht. Seth wusste sehr gut, wie man seine Spuren verwischte. Besser als Max wusste, wie man sie aufdecken konnte. Nach all den Jahren fiel es ihr schwer, die Sache nicht aus der Perspektive des Gejagten, sondern aus der des Jägers zu betrachten.

Eines war jedoch ganz sicher: Sie würde niemals aufgeben. Unnachgiebigkeit war eine Eigenschaft, die in ihr steckte. Ob diese von Manticore-Genen oder ihren eigenen herrührte, das wusste sie selbst nicht. Sie wusste nur, dass sie Seth irgendwann finden würde.

Ihr einziger Zweifel bestand darin, dass sie ihre Zeit damit verschwendete, jemanden zu suchen, der möglicherweise überhaupt kein X5 war. Schlimmer noch, was, wenn er aus einer neuen Generation von X5 stammte und Lydecker ihn mit Hilfe der Medien als Lockvogel einsetzte.

Abseits dieser Gedanken hatte Max sich ein neues Leben aufgebaut. Sie hatte sogar eine neue Familie gefunden, denn einige der Jam Pony-Kuriere waren echt in Ordnung.

Normal, der Boss des Ladens, war genauso zickig wie Theo ihn beschrieben hatte. Sein Spitzname war um einiges besser als sein wirklicher Name, Reagan Ronald. Er war ein Konservativer bis auf die Knochen und ein begeisterter Anhänger beider Bush-Regierungen. Der ständig abgelenkt wirkende Normal hatte ein beinahe rechteckiges Gesicht, eine lange, gerade Nase und dünne Lippen. Das Headset schien ein genauso fester Bestandteil seines Körpers zu sein wie Hände und Ohren. Die bräunlich blonden Haare trug er kurz und streng nach hinten gekämmt. Und mit dem schwarzen Brillengestell und seinem permanenten Stirnrunzeln sah er aus wie ein Bibliothekar.

Für Normal waren Max und alle anderen Angestellten nichts weiter als ein Haufen fauler Versager, was sie nicht unbedingt zu Höchstleistungen antrieb. Sein Geheimcode „Bip, bip, bip“

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– was so viel bedeutete wie „Beeilung“ – hatte ihm natürlich keine neuen Freunde beschert. Genauso wenig wie sein nicht gerade einfallsreiches „Wo zum Henker ist...?“ An die Stelle der Auslassungspunkte setzte er dann immer einen gerade in Ungnade gefallenen Jam Pony-Kurier, wie zum Beispiel...

... Herbal Thought, ein Rastafari mit kahl geschorenem Kopf, kurzem Bärtchen und einem ewig fröhlichen Grinsen. Ein großzügiger und ständig philosphierender Zeitgenosse. Seine gute Laune war manchmal frustrierend, und er war immer bereit, das Wenige, das er besaß, zu teilen... sogar sein Ganja, bei dem Max freundlich ablehnte. Außerdem versuchte er ständig, alle für seinen Glauben an Jah und die Theorie „Alles ist gut“ zu begeistern.

Da war noch ein anderer Kurier, der sich gleich am ersten Tag um Max und Original Cindy kümmerte. Ein Kerl, schlaksig wie eine Vogelscheuche, mit langem, glattem schwarzem Haar. Über seinen dunklen Augen hingen ständig ein paar fettige Strähnen. Alle nannten ihn Sketchy, ein Spitzname, der wohl mehr mit seiner Denkweise als mit einem besonderen künstlerischen Talent zu tun hatte.

Er war mehr als nur ein bisschen durchgeknallt. Original Cindy bezeichnete ihn scherzhaft als den Vierten der Three Stooges. Sketchy hatte vor seiner Zeit bei Jam Pony gegen Bezahlung an Experimenten in einer psychiatrischen Versuchsanstalt teilgenommen. Hierin vermuteten die meisten seiner Freunde den Ursprung seines eigenartigen, sprunghaften Verhaltens.

Wie an den meisten anderen Tagen, hingen Max, Original Cindy, Sketchy und Herbal auch an diesem Tag über die Mittagspause zusammen ab. Sie hatten sich Sandwiches von einem Laden um die Ecke geholt und waren zu ihrem Treffpunkt gefahren – eine Betonmauer, an der sie Fahrradkunststücke machten oder einfach nur faulenzten.

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Herbal bevorzugte einen Joint als Mittagessen – nicht viel größer als Max’ Daumen – und inhalierte tief.

„Ah, das ist ein Geschenk Gottes“, sagte er und lehnte sich entspannt zurück.

„Ich sollte auch ein Rasta werden“, meinte Sketchy bewundernd. „Genau so stelle ich mir ein Sakrament vor.“

Herbal schüttelte den Kopf. „Der Glaube an Jah hat nichts mit dem Ganja zu tun, Mann. An Jah zu glauben bedeutet zu vertrauen und innerlich zu wachsen.“

„Ja, das Ganja wachsen zu lassen“, warf Original Cindy ein und alle lachten, auch Herbal.

Der intensive Geruch kitzelte Max in der Nase. „Jetzt wundert es mich nicht mehr, dass für dich immer ,alles gut’ ist.“

„Hei, wie sieht’s aus?“, rief Sketchy plötzlich in einem Tonfall, als wäre die Idee, die er gleich mitteilen wollte, eine völlig Neue – auch wenn er sie schon zum tausendsten Mal vorgeschlagen hatte. „Kommt ihr heute Abend ins Crash?“

„Original Cindy wäre dabei, wie steht’s mit dir, Boo?“ Max zuckte mit den Schultern. „Ich denk, ich komm auch

vorbei.“ Tagsüber, im Job, war jeder auf sich allein gestellt. Das hielt

sie davon ab, sich miteinander zu langweilen. Abends trafen sie sich dann umso lieber und erzählten ihre „Kriegsberichte“ oder tauschten Anekdoten über Normal, heikle Lieferungen und bescheuerte Kunden aus.

„Cool!“ Sketchy drehte sich zu Herbal. „Und du?“ „Wenn seine Brüder und Schwestern ihn dort brauchen, wird

Herbal zur Stelle sein, das weißt du.“ „Sprich nicht in der dritten Person von dir, Bruder“, drohte

Original Cindy stirnrunzelnd. „Original Cindy kann eine derart affektierte Scheiße nicht ausstehen.“

Jeder in der Runde fragte sich, ob sie es ernst meinte. Doch keiner erhielt letztlich eine Antwort.

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„Super“, sagte Sketchy mit leuchtenden Augen, stolz darauf, etwas organisiert zu haben, was ohnehin jeden Tag passierte, „Dann treffen wir uns im Crash!“

„Okay.“ Max stand auf. Sie hatte nur die Hälfte ihres Sandwiches gegessen. „Ich muss leider los... Normal hat mir heute sämtliche Scheiß-Lieferungen aufgedrückt.“

Original Cindy zuckte grinsend mit den Schultern. „Er weiß eben, dass er dich in die schlimmsten Ecken der Stadt schicken kann, weil du deinen Arsch auch immer wieder heil rauskriegst.“

Am Nachmittag erledigte sie vier Lieferungen. Die erste ging ans obere Ende der Hamlin Street, fast schon bei der Portage Bay. Die zweite konnte sie auf dem Rückweg in der East Aloha Street, an der Ecke zur Dreiundzwanzigsten Straße Ost loswerden und die dritte in der Boylston beim Broadway. Mit der letzten kam sie zurück ins Stadtzentrum. Der Adressat war ein Laden mit dem Namen Sublime Laundry.

Der Waschsalon bot zusätzlich eine chemische Reinigung an, sah jedoch bei weitem weniger erhaben aus, als sein Name vermuten ließ. Er war zu schmuddelig, als dass man irgendetwas dort waschen mochte, außer vielleicht Geld. Die Asiatin hinter dem Ladentisch war in etwa so freundlich wie ein Ausbildungsoffizier in Manticore. Sie war kleiner als Max, hatte ihr Haar in einem strengen Knoten nach hinten gesteckt und ihr rosinenförmiges Gesicht – mit den rosinenförmigen Augen – wirkte alles andere als vertrauensvoll.

„Lieferung für Vogelsang“, verkündete Max. „Ich nehmen.“ „Ich glaube nicht ganz, dass Sie Daniel Vogelsang sind.“ „Ich nehmen.“ „Mr Vogelsang muss den Empfang bestätigen. Ich muss es

ihm persönlich geben und er muss unterschreiben.“ „Ich nehmen.“

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Zur Hölle damit, dachte Max und rollte ungeduldig mit den Augen. „Also, wenn Mr Vogelsang nicht hier ist, dann komme ich eben ein anderes Mal wieder.“

„Ich nehmen.“ „Sie können es nicht nehmen, weil sie nicht er sind und es

demzufolge nicht unterschreiben können!“ Max drehte sich um und ging zur Tür. Die Frau wechselte schlagartig von Englisch in Chinesisch, und auch ihr Vokabular wuchs plötzlich weit über das hinaus, was Max bisher gehört hatte.

Während ihrer Ausbildung hatte Max genügend Chinesisch gelernt, um zu verstehen, dass ein Großteil dieser Worte ausreichte, um der Frau das Mundwerk mit Seife zu stopfen. Und die war selbst in diesem dreckigen Loch keine Mangelware.

Doch Max besann sich darauf, ihre Auseinandersetzungen in Grenzen zu halten. In Seattle Aufmerksamkeit zu erregen, das stand nicht in ihrem Reiseführer.

Sie wollte gerade aus der Tür gehen, als eine Männerstimme aus dem hinteren Teil des Ladens dröhnte: „Wei, was zum Teufel ist denn da draußen los?“

Max drehte sich um und da stand ein schwergewichtiger Mann mit blondem Bürstenschnitt und einem Ziegenbärtchen. Er trug ausgebeulte Hosen und ein Hawaiihemd, in dem er sichtlich schon mehrere Nächte verbracht hatte.

„Sie Lieferung hat“, sagte Ahm Wei. „Sie nicht gehen darf.“ „Ahm Wei, du weißt doch genau, wenn meine Unterschrift

benötigt wird, musst du mich holen... junge Frau! Warten Sie einen Augenblick!“

Max seufzte und drehte sich wieder um. „Sie Vogelsang?“ „Ja, gut möglich.“ „Sie nehmen?“ Max war mittlerweile ziemlich genervt und

hielt ihm das Päckchen entgegen. „Ich darf diese Sendung nur an Vogelsang aushändigen. Er muss persönlich unterschreiben. Also, keine Unterschrift, kein Päckchen, kapiert?“

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„Unverschämtes Miststück“, murmelte er. „Ja, ja, ja. Ich bin Vogelsang. Kommen Sie nach hinten... ich mache meine Geschäfte nicht hier draußen.“

Max hatte eigentlich von diesem Theater die Schnauze voll, sie hatte aber auch keine Lust, sich mit Normal über ein zurückgewiesenes Paket zu streiten. Also seufzte sie noch einmal tief durch und folgte Vogelsang durch eine Doppeltür in sein Büro. Ihre geschulten Augen begriffen sofort: Chaos, Waschmaschinen, Kanister mit Reinigungschemikalien, Kisten ohne Aufschrift... typischer Hinterzimmerkram.

Ziemlich in der Mitte des Raumes, vor einem zerbeulten Aktenschrank, auf dem noch mehr Kisten und Papiere gestapelt waren, stand ein Schreibtisch. Er quoll fast über mit Papieren und leeren Imbisskartons. Hinter dem Tisch stand ein Drehstuhl und davor ein bequemer Stuhl für Besucher. An den beigefarbenen Wänden hingen überall Fahndungsmeldungen der Polizei und Ähnliches. Was zum Teufel macht dieser Kerl hier?, ging es Max durch den Kopf.

Sie reichte ihm den Unterschriftenblock. „Was machen Sie eigentlich hier hinten drin?“ Er setzte seine Lesebrille auf und unterschrieb an der gewünschten Stelle.

„Dies ist ein Detektivbüro.“ Max wurde langsam neugierig. „Sie sind ein Detektiv? Aha...

und was genau untersuchen Sie?“ Er gab ihr den Block zurück und sie ihm das Päckchen – es

war etwas kleiner als ein Schuhkarton und in braunes Packpapier eingewickelt.

„Scheidungen, Ausreißer, solche Sachen.“ Er hob seine Augen von dem Päckchen und schaute sie an. In diesem Geschäft war selbst ein Kurier potenzieller Kunde. „Warum fragen Sie?“

„Angenommen ich suche jemanden, könnten Sie diese Person ausfindig machen?“

„Möglicherweise.“

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Unaufgefordert ließ sich Max in den Besucherstuhl fallen und schwang ein Bein über die Armlehne. „Und... wie viel würde so etwas kosten?“

Vogelsang strich sich über sein Ziegenbärtchen, nahm die Brille ab und legte sie auf den Schreibtisch. Sein Päckchen schien er bereits völlig vergessen zu haben. „Kommt drauf an.“

„Tolle Antwort.“ „Kommt drauf an, nach wem wir suchen... und ob die Person

selbst überhaupt gefunden werden will.“ Max verspürte ein unwohles Gefühl in der Magengegend,

denn sie ahnte, worauf das hinauslief: eine Menge Geld. Seit sie mit Original Cindy nach Seattle gekommen war, hatte sie ein von Grund auf ehrliches Leben geführt. Kein einziger Diebstahl, nichts... und sie fühlte sich gut dabei. Doch um ihre Geschwister zu finden...

„Okay, Mr Vogelsang. Schlagen Sie mir einen Preis vor?“ Er zuckte ein wenig mit den Schultern. „Tausend Dollar

Anzahlung und zweihundert pro Tag... plus Spesen.“ Sie verzog das Gesicht. „Sind sie verrückt? Ich bin nur ein

einfacher Fahrradkurier!“ Er sah sie gelangweilt an, setzte die Brille wieder auf und

widmete sich dem Päckchen. „Ihr Büro liegt nicht gerade im besten Viertel“, stellte Max

fest. „Wieso verlangen Sie solche Preise?“ „Weil die Detektive in den besten Vierteln nicht

zwangsläufig auch die besten Verbindungen haben. Sie müssen wissen, dieses Business ist sehr schmierig.“

„Aha, und deswegen haben Sie Ihr Büro auch im Hinterzimmer eines Waschsalons.“

Er schielte über den Brillenrand. „Ist sonst noch was?“ „Okay, Mr Vogelsang... nehmen wir mal an, ich krieg das

Geld zusammen...“ Er nahm die Brille wieder ab und legte sie auf den Tisch. „So

viel Bargeld?“

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„Ich kann es besorgen.“ „Ein kleines Mädchen wie Sie?“ „Stecken Sie ihre Nase nicht in meine Geschäfte, Mr

Vogelsang.“ Er grinste sie an. „Verstanden, es sei denn... jemand bezahlt

mich dafür.“ „Falls das jemals einer in Auftrag gibt, verdopple ich die

Summe von dem, was er Ihnen geben würde. Ich zahle für Diskretion und Loyalität.“

Der Detektiv betrachtete sie aufmerksam. Ihre selbstbewusste Art beeindruckte ihn sehr, aber ihr junges Alter schien ihn etwas zu beunruhigen.

Max ignorierte seinen Blick. „Wann ist mit Resultaten zu rechnen?“

„Es geht also um eine vermisste Person?“ „Ja.“ „Haben Sie Informationen?“ „Wenn ich Informationen hätte, bräuchte ich Sie nicht,

oder?“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Die Suche nach Leuten

ist keine exakte Wissenschaft, Fräulein... wie heißen Sie eigentlich?“

„Max.“ „Nur Max?“ „Haben Sie ein Problem damit?“ „Nicht, wenn Sie bar zahlen.“ „Darauf können Sie sich verlassen.“ „Vielleicht reicht ein Tag, vielleicht finden wir die Person

nie... sobald ihre Anzahlung aufgebraucht ist, reden wir weiter. Dann können Sie entscheiden, ob Sie noch mehr Kohle in die Sache stecken wollen. Ich bin ja kein Gauner, Max.“

Max dachte kurz darüber nach. „Einverstanden, wann können Sie anfangen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wann haben Sie das Geld?“

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Sie zuckte zurück. „Morgen, spätestens übermorgen.“ Er nickte. „Genau dann hätte ich auch Zeit. Schön, wie das

funktioniert.“ „Ja, alles ist gut.“ Max stand auf und ging zur Tür. „Ich

werde Ihnen die Kohle sobald wie möglich bringen. Dann bekommen Sie die restlichen Informationen.“

Vogelsang lächelte wie ein großer Teddybär, nur eben nicht ganz so liebenswert. Er tippte seinen dicken Zeigefinger an die Schläfe. „Ich habe Sie hier drin schon notiert.“

Max fuhr auf direktem Weg ins Crash. Sketchy, Herbal und Original Cindy hatten schon einen Tisch besetzt und waren bereits bei der zweiten Runde Bier angelangt.

Das Crash gab es bereits seit Jahren, auch schon vor dem Puls. Ähnlich wie bei Jam Pony hatte man auch hier ein altes Fabrikgebäude umfunktioniert. Es bestand aus drei Bereichen, die durch Bogengänge voneinander getrennt waren. Auf Videomonitoren und einer riesigen Leinwand liefen Stockcar-Rennen, Dirt Bike-Events und Skateboardwettbewerbe mit jeder Menge verrückter Crashs, die dem Laden letztlich auch seinen Namen gaben.

Überall im Raum verstreut standen kleine Tische mit jeweils vier oder fünf Stühlen. An einer Wand lungerte eine Jukebox, aus der harte Rockmusik dröhnte, und durch den nächstgelegenen Bogengang gelangte man zu den Billardtischen und zum Tischfußball. Die Wand hinter der Bar war eine riesige Skulptur aus Fahrradrahmen.

„Hei, Boo“, rief Original Cindy, als Max in den Laden kam. Sie ließ sich mit einem müden Lächeln auf einen Stuhl fallen

und Sketchy schenkte ihr sofort ein Bier ein. „Na, wie läuft das Geschäft, Schwester?“, fragte Herbal. Max’ Lächeln hellte sich etwas auf. „Alles ist gut, mein

Bruder.“ Herbal nickte zufrieden, als hätte er Max für seinen Glauben

bekehrt.

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„Eine Runde Billard, Süße?“, fragte Original Cindy. Sketchy schüttelte den Kopf und selbst Herbal kniff warnend

seine Augen zusammen. „O.C. zieht dich übern Tisch, Max“, sagte Sketchy. „Pass

bloß auf!“ „Mein Bruder sagt die Wahrheit“, fuhr Herbal fort. „Unsere

Schwester hat uns beide total abgezockt.“ „Aber es ist doch alles immer noch gut, oder?“ Max blickte

zu Original Cindy. „Was soll ich sagen?“, beteuerte Cindy unschuldig.

„Offenbar kann Original Cindy mit Kugeln besser umgehen als die beiden Jungs hier.“

Sketchy dachte kurz nach und Max amüsierte sich köstlich. „Dann zeig mal, was du drauf hast!“

Sie ließen die beiden Jungs zurück und gingen hinüber zu einem der freien Billardtische – verfolgt von den Blicken einiger männlicher aber auch weiblicher Gäste.

Max verlor drei Spiele hintereinander. Irgendetwas hatte sie abgelenkt, denn mit ihrer enormen Sehkraft und sonstigen ungewöhnlichen Fähigkeiten war sie ihrer Freundin eigentlich haushoch überlegen.

Die Begegnung mit Vogelsang ließ sie nicht mehr in Ruhe. Jam Pony zahlte mies, und das Geld, das sie von Moody bekommen hatte, war für die Fahrt, die Lebenshaltung und nicht zuletzt für den korrupten Bullen draufgegangen. Sie brauchte dringend Cash, möglichst innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Und sie hatte noch keine Idee, wo sie es auftreiben konnte.

„Keinen Bock mehr, Schätzchen?“, unterbrach Original Cindy ihre Gedanken.

Max nickte und die beiden gingen zurück zu ihrem Tisch. „Ist mit dir alles in Ordnung, Boo? Du scheinst irgendwie

abwesend.“ „Nur etwas nachdenklich.“

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Sketchy und Herbal saßen mit gläsernen Augen vor ihren leeren Bierkrügen.

„Kann Original Cindy dir helfen?“ „Ich muss mir nur über was klar werden.“ „Kannst mich von der Ersatzbank holen, wenn das Spiel in

die entscheidende Phase tritt.“ „Wirklich?“ Max lächelte. Cindy war eine wahre Freundin,

vielleicht sogar ihre beste. „Na klar.“ „Die Runde zahl ich!“ Max schnappte sich den Krug und

ging zum Tresen. Auf dem Weg fielen ihr zwei Typen auf, die sich etwas abseits in einer Ecke unterhielten. Um diese Zeit war im Crash noch nicht viel los, und so mussten die beiden ihrem Radar unweigerlich auffallen.

Mit einem scheinbar zufälligen Blick zur Seite erkannte sie, wie ein Geldbündel in die eine Richtung und ein braunes Päckchen in die andere den Besitzer wechselten.

Ein Drogendeal. Max verabscheute harte Drogen, möglicherweise wegen der

medizinischen Experimente, die man an ihr durchgeführt hatte. Plötzlich spürte sie, wie tief aus ihrem Innern ein Lächeln aufstieg. Denn nun war ihr klar, woher sie das Geld für Vogelsang bekommen würde...

Sie hatte schon immer am liebsten richtige Gauner als Opfer. Typen, die keine anständigen Bürger waren. Sich das Drogengeld zu schnappen war ein bisschen so, wie die Brood auszunehmen, nur ohne die ganze Akrobatik... einfach und einträglich.

Der Barmann schob ihr den Bierkrug rüber, sie bezahlte und ging fröhlich lächelnd zu den anderen zurück.

„Nektar!“, rief Sketchy und übernahm den Krug wie eine Auszeichnung für den Besten Fahrradkurier 2019.

Als Sketchy ihr einschenken wollte hielt Max eine Hand über ihr Glas. „Danke, für mich nichts mehr.“ Aus den

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Augenwinkeln beobachtete sie immer noch die beiden Drogentypen, die sich gerade im Aufbruch befanden.

Und sie war es nun auch. „Ich muss los“, verabschiedete sie sich. Original Cindy schaute sie enttäuscht an. „Hei, Boo! Du bist

doch gerade erst gekommen. Was kann denn wichtiger sein, als dich mit deinen Liebsten zu amüsieren?“

„Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch was erledigen muss... was Privates. Hat nichts mit Normal zu tun.“

„Pass auf dich auf, Schwester.“ Herbals Segen hatte sie jedenfalls schon mal.

„Dann sehen wir uns morgen.“ Original Cindy beobachtete Max’ besorgte Miene, konnte jedoch nicht im Geringsten erahnen, was gerade in ihrer Freundin vorging.

Sketchy war bereits auf dem Planet der Sprachlosigkeit gelandet und hob sein Glas zum Abschied.

Die beiden Dealer hatten sich über zwei verschiedene Ausgänge verflüchtigt. Max folgte dem mit der Kohle, denn mit Drogen zu handeln war für sie Tabu.

Draußen war es nicht viel heller als in der Bar. So konnte Max nur erkennen, dass der Typ groß und dünn war und in seiner teuren braunen Lederjacke ziemlich verloren wirkte. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie kurzes braunes Haar, große Ohren und einen schleppenden Gang. Mit Ausnahme der kurzen Haare hätte er auf diese Entfernung auch durchaus Sketchy sein können.

Sie verfolgte ihn über mehrere Blocks, blieb jedoch immer ein gutes Stück hinter ihm auf der anderen Straßenseite, damit er sie nicht bemerkte. Die braune Lederjacke führte sie nun in einen ziemlich heruntergekommen Teil der Stadt, den Max noch nicht kannte. Sie hielt sich immer noch etwa einen Block von ihm entfernt, als drei Typen aus dem Dunkeln auftauchten und sich ihm in den Weg stellten.

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Offensichtlich hatten die Kerle dasselbe vor wie Max, und das kotzte sie an.

Max schlich sich nach vorne. Zwei der Gauner hatten den Dealer bereits in die Zange genommen, und der Dritte stand direkt vor ihm. Sie waren hart und zäh, kurzgeschorene weiße Kerle in Muskelshirts mit aufgepumpten Armen und Beinen. Und ohne Hals. Aller Wahrscheinlichkeit nach gehörten sie zu einer Gruppe Neonazis, den Swatzis. Sie waren dafür bekannt, dass sie Dealer ausraubten, um dann über Zwischenhändler den mittlerweile gestreckten Stoff an Minderheiten zu verkaufen. Eine Art hausgemachter Völkermord, sozusagen.

Der Kerl mit dem Teufelsbart, direkt vor dem Dealer, war offenbar der Anführer. Er war kleiner als seine Mitstreiter, auch sehr kräftig, aber schien mehr auf Hirnmuskeln als auf Arm- und Beinmuskulatur Wert zu legen. Außerdem hielt er in diesem Moment eine 9-Millimeter-Automatik in der Hand...

„Rück das Geld raus, dann lassen wir dich vielleicht gehen!“ Verkehr war keiner um die Uhrzeit. Also sprintete Max

ungehindert innerhalb von Sekundenbruchteilen über die Straße und sprang in die Höhe. Wie aus dem Nichts landete sie geschmeidig inmitten der vier Typen und stand sofort in Kampfstellung.

Alle vier starrten sie mit weit geöffnetem Mund an. Und sie schloss einen nach dem anderen auf ihre ganz

spezielle Art. Der Typ mit dem Teufelsbart und der Knarre war als Erster

dran. Sie verpasste ihm einen Schwinger mit der Linken und schlug ihm die Automatik aus der Hand. Dann warf sie sich auf den Boden, fegte den zweiten Möchtegern-Nazi mit einem Tritt von den Füßen und platzierte als Nächstes von unten einen Aufwärtshaken zwischen die Beine des Dealers. Beim Hochkommen versetzte sie dem letzten Nazi mit voller Wucht einen Kopfstoß, dass er schwankte und bewusstlos – wie der Asphalt, der ihn erwartete – auf die Straße stürzte.

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Der schlaksige Dealer mit den großen Ohren wälzte sich auf dem Boden und umklammerte vor Schmerz sein Skrotum. Der Nazi, dem Max die Füße weggezogen hatte, kam gerade rechtzeitig auf die Knie, um gleich wieder einen Tritt ins Gesicht zu empfangen. Dann küsste auch er bewusstlos den Asphalt. Der Anführer hatte die Pistole wieder gefunden und hielt sie siegessicher in die Höhe.

Als er seine Waffe dann auf sie richtete, ließ Max sich fallen, rollte auf ihn zu und schlug ihm mit der enormen Kraft, die sie aus der letzten Rolle mitnahm, die Automatik aus der Hand. Ein zweiter Schlag brach ihm das Nasenbein, und auch er landete blutend und bewusstlos auf der Straße, direkt neben seinen kurzgeschorenen Kompagnons.

„Ich hasse Schusswaffen“, sagte Max. Sie war nicht einmal außer Atem.

Der Dealer hingegen hatte gewaltige Atemprobleme. Seine Hände hielt er immer noch schützend zwischen den Beinen und rang nach Luft wie nach der zweiten täglichen Zigarettenschachtel. Er schaffte es dennoch auf die Knie zu kommen. „Du... du hast mir das Leben gerettet“, keuchte er.

„Das siehst du völlig richtig.“ „Aber ich glaube, du hast meine Eier gequetscht...“ Sie schaute zu ihm hinunter und sagte: „Ich glaube, Eisbeutel

sind da ganz hilfreich. Ich wollte nur dafür sorgen, dass du dich nicht aus dem Staub machst.“

Er riss seine Augen auf wie ein bettelndes Hündchen. „Aber... warum? Wenn du mich doch retten wolltest... warum...?“

Max stand zwischen den besiegten Nazis, die alle noch schlummerten, und verschränkte die Arme. „Ich wollte nur sicher gehen, dass du nicht abhaust, ohne zu bezahlen.“

Dealer „Dumbo“ mit den großen Ohren wurde blass. „Wie bitte?“

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„Denkst du, ich habe dein Leben aus reiner Nächstenliebe gerettet?“

„Äh, also... irgendwie dachte ich das schon.“ Max schüttelte den Kopf. „Du glaubst wohl noch an den

Weihnachtsmann, oder? Also, her mit der Kohle!“ Die Stimme des Dealers überschlug sich. „Du willst mich

ausrauben?“ „Dieser Ausdruck gefällt mir gar nicht. Nennen wir es doch

einfach eine Belohnung dafür, dass ich deinen dürren Arsch gerettet habe.“

„Aber... ich hab gar kein Geld.“ „Ah, ich verstehe, du willst, dass ich ein bisschen an dir

rumfummle“, sagte Max. „Das ehrt mich... in der linken vorderen Tasche. Da ist das Geld aus dem Deal vorhin im Crash.“

Er zuckte zusammen. „Du hast uns beobachtet?“ „Fürs nächste Mal empfehle ich eine dunkle Seitenstraße.

Hat sich über Jahrhunderte bewährt. Los, rück’s endlich raus.“ Er löste die Hände von seinem Privatesten und faltete sie

zum Gebet. „Bitte, bitte, bitte... du darfst mir das Geld nicht wegnehmen... wenn ich es nicht abliefere, bin ich ein toter Mann!“

„Also, nochmal ganz langsam zum Mitschreiben... du hast gerade eine Galgenfrist von mir bekommen. Ist es dir lieber, wenn ich dich auch bewusstlos schlage, damit du dann gemeinsam mit der Herrenrasse hier aufwachst?“

„Ich mein es echt ernst, Lady. Mein Boss ist ein extrem fieser Kerl... er wird mich umbringen... ganz langsam und schmerzhaft.“

Max seufzte ungeduldig und schüttelte den Kopf. „Junge, wenn du dich mit solchen Kerlen einlässt, musst du mit so was rechnen...“

„Mein Gott! Ich erzähl dir doch hier keine Witze!“

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Der Typ mit der Knarre bewegte sich und so versetzte sie ihm sicherheitshalber einen Fußtritt an den Kopf. „Wenn du hier abhaust, hast du vielleicht ’ne Chance. Fang irgendwo neu an oder mach dir ein ruhiges Leben in Portland oder Frisco.“

Er stand auf. „Und wie soll ich das machen? Ich hab doch keine Kohle!“

„Sei froh, dass du noch lebst! Versetz deine Jacke.“ Sie trat einen Schritt zurück, bereit, ihm wieder einen Schlag zu verpassen. „Oder ich schalt dir die Lichter aus...“

„Okay, okay!“ Er zog das Bündel aus seiner linken vorderen Tasche und übergab es ihr.

„Wie viel ist es?“, fragte sie. „Tausendfünfhundert... wie wär’s, wenn du nur...“ Sie sah ihn drohend an. „Hau ab!“ Er beherzte ihren Rat und lief davon. Max machte sich auf den Weg zurück ins Crash, um ihr

Fahrrad zu holen. Hinter sich hörte sie das immer leiser werdende Echo seiner Schritte auf dem Asphalt.

Vogelsang bekam am folgenden Nachmittag Besuch von Max. Er saß an seinem Schreibtisch und steckte sich einen Keks in den Mund.

„Hm, was richtig Gesundes“, sagte sie und trat aus dem Schatten hervor.

Vogelsang erschrak. Er hatte sie nicht hereinkommen hören. Seine Augen schossen verunsichert zwischen Max und der Eingangstür zum Laden hin und her, denn eigentlich sollte dort die asiatische Lady seine Besucher überprüfen.

„Ich hab einen anderen Weg hier rein gefunden“, erklärte Max.

„Was zum Teufel... was zum Teufel wollen Sie hier?“ „Sie hatten mich doch notiert, oder?“, sagte sie erstaunt und

näherte sich dem Schreibtisch. „Eintausend sagten Sie, richtig?“

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„Ja. Und?“ Max warf einen dicken Umschlag auf seinen Schreibtisch. Er

begutachtete ihn vorsichtig, hob ihn an und jonglierte ihn in seiner Hand als wollte er sein Gewicht prüfen. Dann blickte er in den unversiegelten Umschlag und studierte mit Verehrung die Dichte der grünen Masse.

„Das sind eintausend“, erklärte sie. „Sieht so aus.“ „Los, zählen Sie ruhig nach.“ „Oh nein, ich vertraue Ihnen.“ Er legte die Kekse beiseite,

wischte seinen Mund mit dem Handrücken ab und lehnte sich zurück. „Also... wen soll ich für Sie finden?“

„Zwei Personen.“ „Aber das sind nur eintausend. Sind die zwei denn

zusammen?“ Max schüttelte den Kopf. Er hielt zwei Finger hoch. „Max, das sind aber zwei Fälle...

eins... zwei.“ „Auch gut“, erklärte sie und griff nach dem Umschlag.

„Dann suche ich mir eben jemanden, der mein Geld mag.“ „Moment, nicht so schnell... wer wird denn gleich in die Luft

gehen... ich mag Ihr Geld sehr wohl... sagen wir also, das hier ist eine Unterbezahlung. Sie verstehen sicherlich, dass zwei Fälle mehr Arbeit bedeuten... aber für den Anfang lässt sich auch mit der Summe arbeiten.“

Max stand lange Zeit regungslos da. Dann aber entspannte sie sich langsam und ließ sich in den Sessel hinter ihr fallen.

„Erzählen Sie mir etwas über die zwei Personen“, ermunterte Vogelsang seine neugewonnene Klientin und ließ den Umschlag in einer Schublade verschwinden.

„Die Erste ist männlich, weiß, etwa in meinem Alter, durchtrainiert, ein schlimmer Finger.“

„Besondere Kennzeichen?“ Sie dachte kurz nach. „Ein Barcode im Nacken.“

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Vogelsang schaute auf. „Was?“ Max wiederholte den Satz und fügte hinzu: „Sie wissen

schon, ein cooles Tattoo, wie wir durchgeknallten jungen Leute es heutzutage tragen.“

Der Detektiv schien mit der Antwort zufrieden zu sein. „Haben Sie eine Idee, wo er sich aufhalten könnte?“

„Hier, in Seattle.“ „Seattle ist eine große Stadt.“ „Und es ist Ihre Stadt, Mr Vogelsang. Deswegen arbeiten Sie

für mich. Wenn es einfach wäre, hätte ich ihn schon längst gefunden.“

„Okay. Können Sie ihn etwas genauer beschreiben?“ Max dachte darüber nach. Dann antwortete sie: „Etwa eins-

neunzig groß, fünfundneunzig Kilo schwer, dunkles Haar... denke ich.“

Vogelsangs Augen verengten sich zu Schlitzen. „Denken Sie?“

„Ich hab ihn nur zehn Sekunden lang auf einem schlechten Videoband gesehen.“

Sie erzählte ihm von dem Bericht in den Nachrichten, und dass sie davon überzeugt war, in ihm einen seit langem verschollen geglaubten „Verwandten“ erkannt zu haben.

„Ich kenne jemanden bei SNN. Vielleicht kann ich das Video von ihm bekommen“, murmelte Vogelsang vor sich hin. „Hat er auch einen Namen, Ihr verschollener Verwandter?“

„Seth.“ „Nachname?“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Er benutzt

sicherlich verschiedene Namen. Möglicherweise benutzt er sogar andere Vornamen.“

Vogelsang las sich seine Notizen noch einmal durch. „Noch was? Das hier ist etwas dürftig.“

„In den Nachrichten wurde er in Zusammenhang mit einem Journalisten aus dem Untergrund genannt... Eyes Only?“

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Der Detektiv riss beide Augen weit auf, und eines zuckte sogar nervös. Irgendwie schien er auch blasser geworden zu sein. „Ist das wahr...?“

„Wieso? Ist das ein Problem?“ Vogelsang zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Dieser Eyes

Only steht auf der Abschussliste der Regierung. Und politischer Kram macht mich grundsätzlich nervös. Außerdem hat dieser Bursche einigen Leuten ganz schön in die Suppe gespuckt... und ich will damit nicht in Verbindung gebracht werden. Meiner Meinung nach nimmt der sich soundso viel zu ernst...“

Max lächelte ihren Ermittler aufmunternd an. „Sie finden Seth für mich und ich kümmere mich um diesen Eyes Only. Wenn’s heiß wird, bin ich da.“

Vogelsang schlug eine neue Seite in seinem Notizbuch auf. „Gut. Und wer ist die zweite vermisste Person?“

Max seufzte. „Ich befürchte, das wird auch recht kompliziert, wenn nicht noch komplizierter. Es geht um eine Frau namens Hannah, ihren Nachnamen weiß ich nicht.“

„Wie sieht sie aus?“ Max dachte nach und spielte die ersten Momente ihrer

Freiheit in jener Nacht noch einmal durch. Die Szene, wie sie als Neunjährige diese Frau vom Fußboden des Autos aus betrachtet hatte, war plötzlich so lebendig wie damals. „Die Frau war um die dreißig, vielleicht auch etwas älter, hatte spülwasserblondes schulterlanges Haar und Augen so blau wie ein Gebirgsbach.“

„Noch was?“ Max versuchte, sich an weitere Details zu erinnern und

wühlte noch tiefer in ihren Gedanken: Der Tahoe verschwand in einem Tal und tauchte dann wieder auf. Er kam ins Schleudern, als der Fahrer wegen mir heftig auf die Bremse trat. Ich konnte das Autokennzeichen AGT 249 aus Wyoming

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erkennen. Der Fahrer hatte seinen Wagen wieder unter Kontrolle und brachte ihn zum Stillstand.

An Vogelsang gab sie das Autokennzeichen weiter. „Ist das alles?“ „Ich nehme an, sie war Krankenschwester oder etwas

Ähnliches im medizinischen Bereich. Vielleicht war sie für eine staatliche Einrichtung tätig.“

Vogelsang machte weiter seine Notizen und lächelte sie freundlich an. „Okay... lassen Sie mir eine Woche Zeit. Sind Sie telefonisch erreichbar?“

„Ich gebe Ihnen die Nummer meines Piepsers.“ „Okay, Max, ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas

Näheres weiß.“ „Für tausend Dollar wäre das keine schlechte Idee.“ Max verließ den Waschsalon und fuhr auf der Ninja zurück

in ihre Wohnung. Noch nie hatte sie sich ihren Geschwistern so nah und gleichzeitig doch so fern gefühlt.

Wenn Seth sich nicht auf Grund des Medienberichtes aus dem Staub gemacht hatte, dann war er hier in Seattle, und zwar genau zu diesem Zeitpunkt...

Während Vogelsang seinem Auftrag nachging, wollte sie die Zeit nutzen und sich mehr mit ihrer neuen Familie beschäftigen, ihren Freunden bei Jam Pony.

Das war schon seltsam... während ihrer kurzen Zeit auf diesem Planeten hatte Max bereits drei Familien durchlebt... und sie alle auch wieder verloren: zuerst ihre Geschwister in Manticore, dann die Barretts und zuletzt den Chinese Clan.

Von ihren Geschwistern in Manticore war sie durch ein eigenartiges Zusammenspiel aus Unterdrückung und Schicksal getrennt worden. Die Barretts zu verlassen, hingegen, war ein purer Akt des Selbstschutzes gewesen.

Immer noch, manchmal spät in der Nacht... und in dieser Nacht ganz besonders... spürte sie, wie ihr Gewissen sich regte,

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wie Schuldgefühle aufkamen, weil sie Lucy im Stich gelassen hatte, weil sie nicht bei Moody und Fresca geblieben war.

Und sie fragte sich, ob ihre neuen Freunde bei Jam Pony letztlich auch nicht mehr als eine vorübergehende, vergängliche Erscheinung waren.

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7. Kapitel__________________________ IN DER HÖLLE

Chinese Theater Los Angeles, Kalifornien, 2019

Zwei Tage zuvor hatte alles angefangen.

Vier von Moodys Leuten – alle zwischen vierzehn und achtzehn Jahren – waren von Heckenschützen von den Ruinen des Roosevelt Hotels aus beschossen worden. Die zwei Jungs und die zwei Mädchen hatte es böse erwischt. Blutüberströmt stürzten sie zu Boden, genau an der Stelle, wo längst vergessene Berühmtheiten einst ihre Hand- und Fußabdrücke hinterlassen hatten.

Jeglicher Versuch, das Gebäude zu verlassen, egal durch welchen Ausgang, war mit einem neuerlichen Kugelhagel beantwortet worden, und viele von Moodys Leuten hatten diese Angriffe nicht überlebt. Die Essens- und Munitionsvorräte waren knapp. Etwa eine Woche lang würden sie der Belagerung standhalten können. Diese Zeit sollte eigentlich ausreichend sein, um einen wirkungsvollen Gegenschlag zu planen, oder wenigstens die Zeit zu überbrücken, bis die städtische Polizei oder die Bundespolizei eingreifen konnte.

Der niedrige Altersdurchschnitt des Clans stellte allerdings ein Problem dar. Obwohl das Theater viel Raum bot, machte sich ein Gefühl von Klaustrophobie breit. Es gab keinen Weg nach draußen, es sei denn, man riskierte im Kugelhagel zu sterben. Aus Sandsäcken, Möbelstücken, Holzkisten, ausrangierten Kinosesseln und allem Sonstigen, was nicht niet- und nagelfest war, hatten sie sich überall verteilt kleine oberirdische Bunker gebaut. Wie ein Schatten mit nach hinten zu einem Zopf gebundenem silbergrauem Haar lief Moody

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unermüdlich hin und her – sein wehender schwarzer Bademantel über schwarzem T-Shirt und Jeans sorgte für einen zusätzlichen melodramatischen Effekt. Moody versicherte seinen Leute mit allen möglichen Worten und Gesten, dass ihre Festung uneinnehmbar war.

„Die Welt da draußen wird von unserer Notlage bald erfahren“, beruhigte er sie. „Wir müssen nur ausharren, bis Hilfe eintrifft.“

Ob er wirklich davon überzeugt war, wusste er selbst nicht. Seine Kids jedenfalls glaubten ihm.

Er schaute durch die gläsernen Eingangstüren in der Lobby hinaus auf die Straße, wo die vier toten Körper nun schon seit über fünfzig Stunden in dem bereits festgetrockneten Blut auf dem Boden herumlagen. Mittlerweile hatten sich sogar schon Fliegen über die Leichen hergemacht. Der charismatische Anführer des Chinese Clan gab seine Hoffnung auf Hilfe langsam aber sicher auf.

Der Gegner hatte sie fest im Griff. Moody und seine Leute befanden sich in vergleichbarer Lage wie einst die Blaukittelsoldaten in einem Fort unter den Attacken endloser Indianerhorden. Und der Gegner hatte bis zu diesem Zeitpunkt seine Kriegsbemalung noch nicht enthüllt. Sämtliche Versuche, schwer bewaffnete Kundschafter hinauszuschicken – egal durch welchen Ausgang – waren fehlgeschlagen und hatten für die Spähtrupps schon nach wenigen Metern tödlich geendet.

Ganz offensichtlich wussten die Angreifer über das Gebäude bestens Bescheid. Sie kannten die geheimen Ausgänge, das unterirdische Katakombensystem, durch das man in die Abwasserkanäle gelangte, und den Tunnel zum angrenzenden Gebäude. In Zweierteams hatten die Kids versucht durch diese Ausgänge nach draußen zu gelangen. Sie waren alle gescheitert und vom Gegner eliminiert worden.

Moody wusste genau, wer hinter der Belagerung steckte: die Brood, wer sonst. Natürlich hatte er mit einer

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Vergeltungsaktion für den Diebstahl der Museumspläne und des Herz des Ozeans gerechnet... aber dieser brutale und mörderische Angriff überraschte ihn völlig. Niemals im Leben hatte er von den Brood und ihrem russischen Anführer eine solch gnadenlose Belagerung erwartet...

Es gab aber auch mehrere Lichtblicke. Trotz des niedrigeren Altersdurchschnitts, war der Chinese Clan den Brood zahlenmäßig um etwa ein Drittel überlegen. Außerdem besaßen sie ein größeres Arsenal an Kampfgeräten, hauptsächlich Handfeuerwaffen und Gewehre, die sie ein Jahr zuvor aus einem Waffenlager in Orange County geplündert hatten. Des Weiteren waren sich die Brood noch nicht der Tatsache bewusst, dass die Furcht erregende Kampfmaschine Max gar nicht mehr dem Clan angehörte...

Dennoch, Moody war beunruhigt über die von den Brood in den letzten Tagen eingesetzte Ausrüstung: Infrarotvisiere, Selbstladefeuerwaffen... Dinge, die man sich nicht an jeder Straßenecke besorgen konnte.

Trotz all seiner taktischen Fertigkeiten, die er sich irgendwann in der Vergangenheit beim Militär angeeignet hatte, sah Moody einfach keine Möglichkeit, wie er das Abschlachten seiner Leute verhindern konnte.

Und was die „Hilfe“ betraf, deren baldiges Eintreffen er seinen Kids immer wieder versicherte, war er in der Zwischenzeit davon überzeugt, dass die Brood die Bullen geschmiert haben mussten, damit sie sich nicht in die Auseinandersetzungen einmischten. Das war nichts Ungewöhnliches in LA. Die Polizei kassierte teilweise auf beiden Seiten der rivalisierenden Gangs ab und ließ dann die „wahren bösen Buben“, die Straßengangs, das Ganze unter sich ausmachen. Es war immer das gleiche Lied: Wen zum Teufel interessierte es schon, wenn sich der Mob gegenseitig abschlachtete?

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Dass sich jedoch auch von staatlicher Seite niemand blicken ließ, beunruhigte Moody am meisten. Im Falle eines solchen Blutbades, das zudem ungehindert von der örtlichen Polizei über die Bühne gehen konnte, musste normalerweise die Nationalgarde einschreiten.

Doch wie konnten die Brood auch auf dieser Ebene einen derartigen Einfluss haben? Für so etwas benötigte man eine Menge Geld... und sehr gute Verbindungen... weit mehr als dieser Abschaum von Kafelnikov jemals besitzen konnte. Selbst wenn das Los Angeles Police Department offenbar mit dem Russen kooperierte, für ihn die Gegend absperrte und eine Nachrichtensperre organisierte... die Bundespolizei musste darüber informiert sein, dass sich auf dem Hollywood Boulevard ein Blutbad abspielte.

Was zum Teufel war hier los? Gabriel trug ein graues T-Shirt und Baumwollhosen. Mit

einer UZI bewaffnet und einem Munitionsgürtel um der Hüfte bewachte er seinen Boss, als dieser nach draußen auf die Straße spähte.

Einige schwer bewaffnete, ältere und erfahrenere Clan-Mitglieder – vorwiegend Männer – gingen rechts und links der gläsernen Eingangstür in Stellung. Mit einer Kopfbewegung deutete Moody seinem Stellvertreter Gabriel an, dass er ihn an der ehemaligen Verkaufstheke sprechen wollte.

„Ich vermute, sie haben größeres vor“, flüsterte Moody ihm zu. „Nicht uns auszuhungern, sondern uns mit einer großen Truppe anzugreifen und das Gebäude zu stürmen.“

„Wir haben schon einige Leute verloren“, meinte Gabriel und schüttelte den Kopf. „Die Moral der Truppe ist nicht besonders gut.“

„Sie werden sich zusammenreißen... für uns alle, und für sich selbst.“

Moody warf einen Blick auf das halbe Dutzend Kids um ihn herum. Keines war älter als achtzehn. Sie trugen T-Shirts,

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Jeans, Turnschuhe und Baseballmützen mit Schild nach hinten. Und jeder von ihnen hielt eine Halbautomatik in den Händen. Fresca mit den Sommersprossen und Niner, das neue Mädchen in der Truppe, standen bei der Gruppe neben Moody und Gabriel.

„Obwohl wir schon Leute verloren haben“, erklärte Moody und legte eine Hand auf Gabriels Schulter, „sind wir diesen Bastarden zahlenmäßig immer noch überlegen.“

„Aber ihr Durchschnittsalter ist zweiundzwanzig. Und unseres liegt bei sechzehn.“

„Dennoch sind wir mehr. Und genau deswegen haben sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie starten einen Überfall und schicken nur ihre besten Leuten, bis zu den Zähnen bewaffnet, in der Hoffnung uns zu erledigen... oder...“

„Oder..,“, fuhr Gabriel fort, „...sie überrennen uns mit allem, was ihnen zur Verfügung steht.“

„Und in diesem Fall können sie nicht wie bisher jedes Schlupfloch im Visier haben.“, sagte Moody. „Bei einem Gebäude dieser Größe brauchten sie dafür bereits ein Drittel ihrer Mannschaft.“

Gabriel überlegte kurz. „Das heißt also, wenn wir eine Horde dieser Arschlöcher auf das Gebäude zustürmen sehen, rennen wir alle sofort zu den anderen Ausgängen.“

„Und bekämpfen sie auf unserem Weg nach draußen“, nickte Moody. „Wir schlagen sie mit ihren eigenen Mitteln.“

„Wie meinst du das?“ Moody grinste wölfisch. „Wir machen uns sofort auf den

direkten Weg zum Cap... und tauschen mit diesen Dreckskerlen einfach das Hauptquartier!“

Gabriel lachte. „Der Moodman hat’s immer noch voll drauf, wie ich sehe.“

„Ja, immer noch... so, jetzt müssen wir umgehend dafür sorgen, dass alle Bescheid wissen.“

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Sie liefen von einer Gruppe zur nächsten und erzählten von ihrem Plan. Die Moral der Truppe stieg sichtbar an, auch wenn die Angst letztlich zurückblieb. Moody wusste, sein Plan war gut. Dennoch war er beunruhigt, weil sich immer noch keine Polizei gezeigt hatte. Er vermisste Max. Mit ihr wäre es ein Kinderspiel gewesen, den Spieß umzudrehen und sogar den Kampf zu gewinnen.

Tippett, Moodys Leibwächter, wirkte in seinen Lederklamotten und tätowierten Armen gelassen wie immer. Seine Piercings hatte er abgenommen, denn im Kampf waren sie ein möglicher Angriffspunkt für den Gegner.

„Brauchst du mich im Foyer?“, fragte Tippett. „Nein, das können sie haben. Sie werden sicherlich die ,Tür

zu meinem Büro’ öffnen, und dann werden wir auch hören, wann sie dort sind. Kümmer dich lieber um diesen Hintereingang da“, antwortete Moody und zeigte in die entsprechende Richtung. „Möglicherweise hält dort noch einer von ihnen Stellung, also pass auf deinen Arsch auf!“

„Klar!... Mann, ich hatte schon ewig nicht mehr solchen Spaß!“

Moody lächelte. „Heute Abend werden wir sicher noch viel mehr Spaß haben...“

Mit wehendem schwarzem Mantel setzte Moody seine Runde durch das Gebäude fort und sorgte dafür, dass jeder über den Plan Bescheid wusste – und somit auch dafür, dass die Moral wieder stieg. Dann ging er die Treppen hinauf zu der ehemaligen Vorführkabine, in der Max gewohnt hatte, und klopfte.

„Ja, Sir? Kann ich was tun, Sir?“, antwortete Fresca mit den Sommersprossen.

„Ist Niner bei dir?“ „Ja, Sir. Sie... ich musste sie ein bisschen beruhigen, Sir.“ „Ihr habt hoffentlich nichts getan, was ich nicht auch tun

würde?“

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„Glaube nicht, Sir.“ Fresca grinste breit. Fres schien der Einzige unter allen Kids zu sein, dem die

Situation keine Angst bereitete. Ob er allerdings wirklich so mutig war oder einfach nur naiv, das konnte Moody nicht so recht einschätzen.

„Du und Niner, ihr geht runter und blockiert die Türen.“ „Womit?“ „Nehmt die Sandsäcke, die wir gestern an der Treppe

aufgeschichtet haben. Ich möchte, dass ihr sie direkt gegen den Haupteingang stapelt.“

„Schon erledigt.“ Als Moody fünfzehn Minuten später das Foyer kontrollierte,

waren Fres und seine neue Freundin schon eifrig bei der Arbeit.

„Kannst mir glauben, Niner“, sagte der Junge. Obwohl er um einiges jünger war als seine neugewonnene Freundin, klang seine Stimme nach jahrelanger Erfahrung. „Du wirst schon sehen.“

„Glaubst du echt, Max wird kommen?“, fragte Niner. „Klar. Sie muss nur etwas erledigen, oder so. Bald kommt sie

mit ihrer Mühle hier reingefahren, und dann reißt sie diesen Brood-Typen den Arsch auf!“

Moody hatte das Gespräch belauscht und hoffte, dass der Junge Recht behielt.

Plötzlich stand Gabriel neben ihm. „Meinst du, die Brood kennen unsere geheimen Ausgänge?“, sagte er leise. „Könnte Max sie ihnen verraten haben, was denkst du?“

„Pass auf, dass Fresca das nicht hört.“ „Also, was denkst du?“ „Nein. Das weiß ich ganz sicher.“ Moody führte Gabriel weiter weg von den Leuten. Niemand

sollte etwas von dieser Unterhaltung mitbekommen. Gabriel hatte immer noch die UZI in der Hand. „Vielleicht

haben sie Max geschnappt und sie gefoltert?“

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Moody sah ihn an. „Kannst du dir vorstellen, dass irgendjemand etwas aus diesem Mädchen herauskriegt?“

Die Besorgnis in Gabriels Gesicht löste sich. „Was rede ich hier eigentlich für ’ne Scheiße... muss so ’ne Art Lagerkoller sein.“

„Dir wird es im Cap sehr gefallen“, sagte Moody. „Heute Abend sieht alles schon viel besser aus, wart’s ab.“

In diesem Moment explodierte die Eingangstür. Fresca und seine Freundin schleuderte es durchs Foyer und sie flogen – begleitet von einem heftigen Glasregen – direkt in die ehemalige Verkaufstheke. Niners Kopf war durch eine übergroße Glasscherbe abgetrennt worden, aber nirgends zu sehen. Möglicherweise war er verbrannt. Neben ihrem Körper lag Frescas verkohlte Leiche mit herausgequollenem Eingeweide. Der einzige Trost war, dass keiner der beiden zusehen musste, wie der andere gestorben war.

Auch die Wachen neben dem Eingang hatten von den herumfliegenden Glassplittern ihren Anteil abbekommen, es schien jedoch niemand schwerwiegende Verletzungen davongetragen zu haben. Man konnte es allerdings nicht genau sagen. Denn bevor sich der Rauch verzogen hatte, rannten alle wie wild durcheinander in Richtung Kinosaal... und wurden auf halbem Weg – wie hoch gewachsenes Gras unter einer Sense – von Maschinengewehrsalven niedergemäht.

Dann kamen die Angreifer. Ihre unverständlichen Schlachtrufe schallten durchs Foyer, als sie mit Maschinengewehren und wütendem Blick durch die zerbombten Türrahmen über Glasscherben und die Sandsäcke rannten, die Fresca und Niner noch hatten aufstapeln können, bevor sie starben...

Moody und Gabriel hatten es in den großen Saal geschafft. Die Clan-Mitglieder hatten sich dort bereits mit ihren Handfeuerwaffen und Gewehren hinter behelfsmäßigen Barrikaden aus Sandsäcken und Kinosesseln verschanzt. Die

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beiden Anführer erteilten in Windeseile ihre Anweisungen und befahlen ihren Kids, die Eingangstüren zum Saal mit Sandsäcken zu blockieren. Dann schickten sie kleine Gruppen los, um die verschiedenen Ausgänge zu testen. Jetzt, wo die Brood den Angriff in voller Besetzung durchzogen, mussten einige der Fluchtwege unbewacht sein.

Doch das war nicht der Fall. Sobald eine Gruppe einen Ausgang erreicht hatte und die Tür öffnete, stand dort bereits der Feind – Soldaten... in schwarzen Gefechtsanzügen und schwer bewaffnet.

Tippett sah sie als Erster und erstattete Moody sofort Bericht. „Das sieht definitiv nicht nach Brood aus“, stellte Moody

fest. „Nicht mal annähernd! Das ist irgend so ein verdammtes

militärisches Einsatzkommando...“ „Irgendwelche Verluste?“ „Keine. Sie haben nicht auf uns geschossen. Wir waren

wieder drin, bevor sie loslegen konnten.“ Vier weitere, etwas ältere Clan-Mitglieder tauchten auf und

berichteten dasselbe von anderen Ausgängen. „Diese Bastarde haben das Gebäude umstellt!“, rief Gabriel.

„Sie blockieren die Ausgänge, während die Brood vorne einmarschieren und eine Höllenparty veranstalten!“

Plötzlich war Moody klar, was hier Schreckliches gespielt wurde: die Belagerung, die plötzliche waffentechnische Überlegenheit der Brood. Der Russe hatte Unterstützung aus höchster Ebene erhalten...

Moody warf einen Blick zu den Türen hinaus ins Foyer, wo die Sandsäcke hüfthoch gestapelt waren. Die Angreifer waren vor etwa fünf Minuten zur Vordertür hereingeplatzt, hatten bisher aber noch keinen Vorstoß in den Kinosaal gewagt.

Wo zum Teufel stecken die nur?, fragte sich Moody. Eine Explosion links vom großen Saal – begleitet von ein

paar Schreien – gab ihm prompt die Antwort. Die Brood waren

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an Moodys ‚falsches’ Büro geraten und hatten die C4-Ladung abgekriegt, die an der Tür angebracht war. Das verriet ihm zwei Dinge. Erstens, der Feind breitete sich überall im Gebäude aus, um dann den Saal von mehreren Seiten gleichzeitig zu stürmen. Und zweitens, seine Falle hatte funktioniert.

Moody wünschte sich, dass es wenigstens eine ordentliche Anzahl von ihnen erwischt hatte.

Gleichzeitig wurde ihm kristallklar, dass es kein Entkommen mehr gab. Tod oder Leben... Sieg oder Niederlage, das stand zur Debatte... und Moody mochte diese Auswahl nicht im Geringsten...

Gabriel erteilte immer noch seine Befehle, aber die Kids waren vor Angst förmlich erstarrt und hörten ihm kaum noch zu. Der Teufel klopfte an die Tür, und aufmunternde Worte konnten diesen Klang nicht übertönen.

Moodys Ziel war es immer nur gewesen, aus diesen jungen Leuten eigenständige Diebe zu machen, er hatte sie nie zu Kriegern ausbilden wollen – Kinder waren dafür nicht geschaffen.

Die Brood eröffneten das prasselnde Maschinengewehrfeuer vom Balkon. An den Türen explodierten zeitgleich ein paar Plastikbomben und die Angreifer stürmten in den Saal. Sie sprangen mühelos über die Sandsack-Barrikaden und leerten ohne jegliche Zurückhaltung und mit blutrünstigem Blick ihre Magazine über den Clan-Mitgliedern aus.

Moody liebte seine Kids, auf seine spezielle Art... aber diese Situation war aussichtslos. Er überlegte, ob er seine Haut retten, vielleicht sogar das Herz des Ozeans aus seinem Versteck holen sollte, um dann irgendwie damit zu verschwinden.

Tippett war Moody bei diesem eigennützigen Entschluss behilflich, schmiss sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Er beschützte seinen Boss mit dem eigenen Körper. Aus dieser

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eingezwängten Lage beobachtete Moody das nun folgende Massaker...

Überall um ihn herum durchschlugen Kugeln die jungen Körper und schleuderten sie zu Boden. Die Brood breiteten sich in einer mörderischen Welle fächerförmig aus und zielten auf alles, was sich bewegte, auch auf jene, die ihre Hand als Zeichen der Kapitulation in die Höhe gestreckt hielten. Trotz des unglaublichen Lärms der Gewehrsalven hörte Moody die Schreie, die Hilferufe und – was am schlimmsten war – das Weinen seiner Kids. Überall verbreiteten sich der beißende Gestank von verbranntem Schießpulver und der Nebel vom Rauch der Gewehre, durch den die Brood vorwärts marschierten wie schwer bewaffnete Killerzombies.

Gabriel versuchte sich in einem letzten Aufbäumen mit einem alten Kinosessel zu schützen, aber gegen Maschinengewehre konnte das bisschen Holz nichts ausrichten. So musste Moody hilflos zusehen, wie mindestens dreißig Kugeln in Gabriel einschlugen und seinen Körper zu einem unfreiwilligen Tanz zwangen, bei dem er zunächst vom Boden abhob, um danach als blutiger Klumpen nicht weit entfernt von Moodys Gesicht zu landen.

Gabriels Augen starrten Moody vorwurfsvoll an... Endlich wurde es stiller im Kinosaal. Nur wenn ein

vereinzeltes Clan-Mitglied sich vielleicht doch noch irgendwo geregt hatte, hörte man einen Schuss – wie beim Auströpfeln eines Feuerwerks am Nationalfeiertag.

In einem knielangen braunen Ledermantel und Schlangenlederstiefeln tauchte plötzlich Mikhail Kafelnikov aus den Rauchschwaden auf. Seine hohen Wangenknochen wirkten unmenschlich, wie aus Stein gemeißelt. Es sah beinahe so aus, als schwebte er in seinem gelben Seidenhemd auf den Boden des Auditoriums herab. Dann betrachtete er das Blutbad. Alle waren sie tot, der gesamte Chinese Clan... fast alle, jedenfalls.

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Einer der Brood, ein schlanker, hoch gewachsener Leutnant, trat auf ihn zu. Kafelnikov stieß den Lauf seines Gewehrs von sich weg.

„Tut mir Leid“, sagte der Leutnant. „Bisher keinen Hinweis auf das Mädchen.“

„Schaut euch alle Leichen genau an, aber seid vorsichtig! Wenn sie noch am Leben ist und sich nur tot stellt, dann habt ihr eine Raubkatze am Hals. Denkt an die Instruktionen!“

Die Erwähnung von Max in diesem Gespräch ließ Moodys Lebensgeister wieder erwachen. Er stieß Tippett von sich weg, stand auf und zog dabei heimlich ein Messer aus dem Stiefel. Dann versteckte er es in seinem Ärmel.

Sofort richteten einige Brood-Mitglieder mit durchbohrendem und betäubtem Blick ihre Waffen auf ihn. „Nein! Denkt an die Instruktionen!“, brüllte Kafelnikov.

Zwei seiner Männer schnappten sich Tippetts Arme und stellten ihn auf die Füße. Der groß gewachsene ehemalige Linebacker hatte seinen Kampfgeist verloren. Seine Augen waren auf den Boden gerichtet... der Anblick der abgeschlachteten Kinder überall, das war zu viel für ihn.

Moody näherte sich langsam dem russischen Anführer, postierte sich ein bis zwei Meter von ihm entfernt und verschränkte die Arme. Das Messer hielt er verdeckt. „Du hast sie angewiesen, mich nicht zu töten. Das überrascht mich nicht.“

„Und warum nicht, Moody?“ Der Anführer des Chinese Clan ignorierte die Frage

Kafelnikovs. „Ich habe schon immer vermutet, dass du ein Barbar bist.“ Er sah sich um und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Dutzenden von toten Kindern, deren Blut wie ein verschütteter Softdrink in den Boden sickerte. „Heute hast du es bestätigt.“

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Der Anführer der Brood lächelte milde. „Unerschrocken bis zur letzten Minute... dafür hab ich was übrig, Moody. Ich würde sagen, dafür hast du einen schnellen Tod verdient.“

Ein verbittertes Lächeln ätzte sich in Moodys Gesicht. „Du wirst mich nicht töten, Mikhail... noch nicht.“

Der Russe zog eine Augenbraue hoch und lächelte amüsiert zurück. „Du hast Recht. Wir haben schließlich noch etwas Geschäftliches zu besprechen.“

Moody schaute um sich und betrachtete seine abgeschlachtete Familie. „Ach ja? Und warum sollte ich plötzlich die Lust verspüren, mit einem Metzger Geschäfte zu machen?“

„Weil du im Innern auch nur an dich selbst denkst, Moody. Auch wenn du deiner so genannten ‚Familie’ dieses Gesabber von ‚Loyalität’ eingebläut hast. Und weil du zwei Dinge hast, die ich unbedingt haben will.“

„Den Diamanten“, sagte Moody. „Genau, und...“ „Das Mädchen. Max. Das hab ich schon mitgekriegt. Ich

versteh nur nicht, warum?“ Moodys Augen verengten sich. „Rache? Ist es dir peinlich, dass sie dich in deinem eigenen Haus in Verlegenheit gebracht hat? Tut mir Leid für dich...“

Kafelnikov schnippte mit den Fingern und sofort war Moody von einer Meute Brood-Typen umzingelt, die ihre Waffen auf ihn richteten. Mit seinem Messer konnte er hier nicht viel ausrichten... vielleicht dem Russen die Kehle durchschneiden und dann der neue Anführer werden...

Irgendwie war ihm aber klar, dass diese Idee so nicht läuft, auch wenn sie sich in einem Filmtheater befanden.

„Wo ist der Diamant?“, fragte Kafelnikov. „Ich muss dich leider enttäuschen, aber den habe ich schon

verkauft. Das Geschäft ist schon gelaufen und das Geld ist nicht mehr in diesem Gebäude... ich habe es bei einer Schweizer Bank angelegt und...“

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Der Russe nickte kurz und die zwei stämmigen Kerle, die Tippett festhielten, ließen ihn los und traten einen Schritt zurück. Moody fragte sich, was das zu bedeuten hatte...

Kafelnikov hatte plötzlich eine Pistole in seiner Hand, zielte links an Moody vorbei und drückte ab...

Ein Schuss und Tippetts Schrei hallten durch die Stille im Kinosaal. Als Tippett sich ans Bein griff, erblühte zwischen seinen Fingern eine rote Blume und umklammerte sein rechtes Knie.

Die Knöchel von Moodys Hand färbten sich weiß, so fest umklammerte er das Messer. Er ging einen Schritt auf Kafelnikov zu, blieb jedoch stehen, als dessen Leute Waffen auf ihn richteten. Tippett war jetzt still. Seine Hände hielten sich immer noch an dem zerschmetterten Knie fest.

„Moody, ich bin okay“, sagte Tippett. „Kümmer dich nicht um mich.“

„Was sagtest du gerade, Moody?“, fragte Kafelnikov. „Ich habe gesagt, das Herz des Ozeans ist bereits verkauft...

aber ich kann dir sagen, wer ihn gekauft hat, dann kannst du ihn dir ja von ihm zurückholen. Von mir aus mach den Typen fertig, ist mir scheißegal.“

Erneut hob Kafelnikov die Waffe und drückte ab. Ein weiterer Schuss, ein weiterer Schrei hallten durch den Kinosaal. Und auch eine weitere Blume erblühte, dieses Mal in Karminrot und aus Tippetts linkem Knie. Er fiel hart zu Boden und winselte wie ein geschlagenes Hündchen.

„Moody“, seufzte der Russe. „Ich habe nie deine Intelligenz unterschätzt. Warum also beleidigst du meine? Ich weiß, wer dein potenzieller Käufer ist... er hat mit mir einen besseren Preis ausgehandelt und gleichzeitig dich noch um etwas Zeit gebeten, angeblich weil er das Geld für deine unverschämte Forderung zusammenkratzen musste. Das heißt, er bekommt das Herz des Ozeans von mir... also, wo ist der Diamant, Moody?“

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„Sag mal, Mikhail“, fragte Moody. „Finden deine Männer dich in diesem gelben Hemd nicht ein bisschen... weibisch?“

Das Gesicht des Russen verdunkelte sich und er drückte in Richtung Tippett ab. Eine Kugel traf ihn genau zwischen die Beine, die nächste in den Oberschenkel. Er krümmte sich vor Schmerzen und gab grünes Licht, ihn doch zu töten. Aber keiner rührte auch nur einen Finger.

„Wo ist der Diamant?“, fragte Kafelnikov zwischen zwei Schreien.

Moody beantwortete die Frage, indem er sich blitzartig umdrehte und sein Messer direkt in... Tippetts Brust rammte.

„Du hast es immer noch voll drauf, Moody“, flüsterte Tippett ein letztes Mal. Dann schloss er seine Augen für immer.

Kafelnikov stürzte nach vorne und schlug Moody mit seiner Pistole ins Gesicht.

Mit einer klaffenden Wunde unter dem Auge sackte Moody auf die Knie, als wollte er von dem Russen höchstpersönlich zum Ritter geschlagen werden. Doch der spielte nicht mit und packte stattdessen Moodys silbergrauen Pferdeschwanz, zog den alten Mann nach unten und knallte sein Gesicht auf den Boden.

Moody stöhnte fast unhörbar, als er sich wieder aufrichtete. Seine Nase war gebrochen und das Blut lief ihm über die Vorderseite seines schwarzen T-Shirts.

„Wenn du mir nicht sagen willst, wo du den Diamanten hast“, sagte Kafelnikov, „dann sag mir wenigstens, wo das Mädchen steckt.“

„Wer... wer zum Teufel hat dir geholfen?“ „Ich stell hier die Fragen. Also, sag’s mir, und ich lass dich

am Leben. Ich geb dir zusätzlich einen Anteil am Diamanten und mache dich, wenn’s sein muss, sogar zu meinem Stellvertreter, Moody...“

Warum war Max plötzlich um so viel wertvoller als das Herz des Ozeans?, ging es Moody durch den Kopf. Und er

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versuchte, trotz der Schmerzen, einen Sinn in dem Ganzen zu finden.

„Wo steckt sie, Moody? Oder willst du auch deine Kniescheiben verlieren?“

Moody schluckte. Es schmeckte nach Blut. „Weg. Sie ist weg.“

„Lüg mich verdammt noch mal nicht an!“ „Siehst du sie hier irgendwo? Ich sag’s dir doch, sie ist weg!“ „Wohin?“ „Das hat sie mir nicht gesagt. So ist sie eben...“ Kafelnikov schnappte sich wieder den Pferdeschwanz und

knallte Moodys Kopf ein zweites Mal auf den Boden. Sein Gesicht bestand nun förmlich nur noch aus Blut.

In diesem Augenblick, obwohl kaum noch bei Bewusstsein, hörte Moody Schritte, schwere Schritte. Jemand hatte den Raum betreten, stand ganz in der Nähe... und schaute ihnen zu...

„Also Moody, deine letzte Chance. Wo ist sie?“ „Mach dir keine Sorgen, Kafelnikov“, zischte Moody

zwischen ausgeschlagenen Zähnen und blutenden Lippen hindurch. „Wenn sie erfährt, was du ihrer Familie angetan hast, brauchst du sie nicht mehr zu suchen. Dann wird sie von alleine hier aufkreuzen.“

Die schweren Schritte kamen näher. Moody drehte seinen Kopf und sah einen Mann in

schwarzem Gefechtsanzug näher kommen. Er war blond, Ende vierzig. Seine Gesichtszüge hatten beinahe etwas Jungenhaftes, aber seine Schlitzaugen verliehen ihm den gnadenlosen Blick einer Schlange.

Sofort war Moody klar, mit wem er es zu tun hatte. Er konnte das Beherrschende, das Militärische in diesem Mann förmlich riechen. Kein Zweifel, Kafelnikov machte seine Geschäfte mit dem Teufel höchstpersönlich.

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„Ist das der Anführer?“, fragte der blonde Mann. „Ist das Moody?“

Kafelnikov richtete sich auf. „Ja, Colonel Lydecker“, flüsterte er. „Zumindest das, was

von ihm übrig ist. Er sagt...“ Der Blonde und der Russe standen bei Moody, von den

anderen konnte keiner ihre Unterhaltung verfolgen. Lydeckers Lippen zuckten – in einem ansonsten eher

teilnahmslos wirkenden Gesicht. „Ich hab gehört, was er gesagt hat, Mikhail.“

Moody sah ihn an. Der Blonde in Schwarz lächelte zurück, seine Stimme klang verhältnismäßig harmlos. „Wenn Sie wissen, wo sich das Mädchen aufhält, sagen Sie es uns... ich werde dafür sorgen, dass Sie hier lebend rauskommen und den Diamanten behalten können.“

Moody spürte, wie sich langsam Bewusstlosigkeit in ihm ausbreitete. „Wenn ich es wüsste... würde ich es Ihnen sagen...“

„Aber Sie wissen es nicht?“ Er schüttelte den Kopf und dabei spritzten ein paar

Blutstropfen durch die Luft. „Nein... auch wenn ich nur... zu gerne sehen würde... wie sie euch allen den Arsch aufreißt...“

Lydecker kniete sich neben Moody und streckte Kafelnikov seine offene Hand entgegen. „Ihre Waffe, bitte.“

Der Russe schob die Automatik in die geöffnete Handfläche. „Glauben Sie an Gott, Moody?“, fragte der Colonel. „Nein.“ „Gut, dann sparen wir uns die Zeit für das Gebet.“ Dennoch schickte Moody noch ein kurzes letztes Gebet für

Max – wohin auch immer –, bevor der Colonel abdrückte und ihm eine Kugel in die linke Schläfe jagte, die an der rechten wieder aus dem Kopf drang, um schließlich ihr Ende irgendwo im Boden zu finden.

„Verdammt!“, brüllte der Russe. „Warum haben Sie das getan?“

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Lydecker nahm Kafelnikov wie eine Geliebte in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr: „Warum haben Sie das getan, Mikhail? Sie haben mich dazu veranlasst, ihn zu töten. Sie haben in seiner Gegenwart meinen Namen genannt... obwohl ich gar nicht hier war... erinnern Sie sich nicht mehr?“

Seine Lippen zuckten vor Abscheu. Er schob dem Russen die Waffe wieder in die Hand und stieß ihn zurück.

Die Brood-Typen in der Nähe waren sichtlich überrascht, dass sich ihr Anführer einen solchen Umgang protestlos gefallen ließ.

Der Colonel ging zum Ausgang. „Wie zum Teufel soll ich den Stein finden, jetzt wo Moody tot ist?“, rief Kafelnikov ihm hinterher.

„Er wird schon irgendwo hier im Gebäude sein. Suchen Sie ihn... die Polizei wird erst in ein paar Stunden hier sein, dafür habe ich gesorgt.“, antwortete Lydecker ohne sich umzudrehen.

„Sie haben genügend Männer zur Verfügung... helfen Sie uns...“

Lydecker war mittlerweile an der Tür angelangt und drehte sich um. „Ich habe Ihnen heute schon genug geholfen... wenn Sie etwas über das Mädchen erfahren, lassen Sie es mich wissen.“

Er schenkte Kafelnikov ein sanftes Lächeln und warf einen letzten Blick auf die toten Clan-Mitglieder.

„Schrecklich, Kindern so etwas anzutun“, murmelte er und verschwand.

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8. Kapitel__________________________ KUNSTKRITIKER UNTER SICH

Sterlings Villa Seattle, Washington, 2019

Im Schutz des dichten Nebels steuerte Max ein kleines zerbeultes Motorboot über den Puget Sound. Sie hatte es sich bei einem nahe gelegenen Bootsverleih „ausgeborgt“. Natürlich hätte sie ein schnittigeres schnelleres Boot bevorzugt – dieses hier klang eher wie ein erschlaffter Staubsauger –, aber die Abwesenheit eines solchen hätte einfach zu viel Aufmerksamkeit erregt. Typische Denkweise für einen X5.

Es wehte zwar kein Wind in dieser Nacht, doch es war kühl, beinahe schon kalt. Ihr Ziel war Vashon Island, irgendwo in diesem Nebel. Max trug ein hochgeschlossenes schwarzes Shirt, schwarze Hosen, Stiefel und ihre neue schwarze Lederweste mit Taschen für all ihre Utensilien. Sie hätte durchaus ein Kommandotrupp auf einem Ein-,Mann’-Angriff sein können, war es aber nicht. Ihre Ausrüstung hatte sie sicherlich ein kleines Vermögen gekostet, aber sollte nicht auch ein Dieb das Recht auf ein ordentliches Styling haben?

Die fröstelnde Kälte versprach, dass man in dieser Nacht mit tieferen Temperaturen zu rechnen hatte und Max war froh, dass sie nicht schwimmen musste. Auch wenn sie als genetisch hochfrisierte Kriegerin dafür geschaffen war, solche Trivialitäten – wie sich den Arsch abzufrieren – zu ignorieren, sah sie dennoch keinen Grund, unbedingt einen Härtetest durchführen zu müssen.

Das Boot tuckerte immer tiefer in die Erbsensuppe. Max drosselte das Tempo, einerseits aus Sicherheitsgründen. Andererseits wollte sie ihre Ankunft nicht zu lautstark

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ankündigen. Vielleicht wartete in diesem wohlhabenderen Teil der Welt aber auch eine gewisse Geborgenheit und Sicherheit auf sie, von der sie noch gar nichts wusste.

Von einer anderen Art Sicherheit wusste sie allerdings sehr wohl. Das Sterling-Anwesen war ein abgelegenes millionenschweres Schloss auf Vashon Island in der Southwest Shawnee Road. Es lag hinter einer hohen Ziegelstein- und Betonmauer und war vermutlich mit dem modernsten Alarmsystem gesichert. Auf die Insel kam man mit kostenpflichtigen Fähren. Eine fuhr ans nördliche Ende, die andere an die Südspitze der Insel. Max hingegen kannte ganz andere Wege.

Das Objekt ihrer Begierde war bestens bewacht: Video, Infrarotschranken, Druckalarm und was weiß Gott noch alles. Dennoch für Max ein Vergnügen. Ohne Minen diesmal und ohne Laserstrahlen war diese Invasion ein Spaziergang... oder besser: eine Bootsfahrt über den See.

Inmitten dieser Fahrt durch die beschlagenen Luftmoleküle verfiel sie gleichzeitig in eine Art persönlichen Nebel: Sie war enttäuscht über sich selbst und darüber, dass ihr neu geordnetes Leben diesen betrügerischen Seitenhieb erforderlich machte. Es wäre ihr lieber gewesen, den geradlinigen Pfad nie mehr verlassen zu müssen...

Es war schön kein Dieb zu sein. Ihr gefiel die Idee, sich in die lange Reihe der rechtschaffenen Menschen einzureihen. Doch das wäre auf Dauer Selbstbetrug gewesen. Sie war alles andere als normal. Sie war nicht geradlinig. In Wahrheit war alles nur eine Fassade, um nicht aufzufallen.

Die Benzinkosten für ihre Ninja – zwei Dollar pro Liter. Lebensmittel. Hin und wieder ein Bier. Das Schmiergeld für die Wohnung, selbst mit Kendras Beteiligung. Dafür reichte ihr klägliches Gehalt als Fahrradkurier gerade mal so aus. Ein normaler, anständiger Mensch konnte vielleicht damit zufrieden sein und sich damit durchschlagen.

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Doch bei ihr kamen noch andere Ausgaben hinzu. Für Tryptophan, um ihre Anfälle – ein hübsches Erbstück aus ihrer Manticore-Vergangenheit – unter Kontrolle zu halten. Und im Besonderen die Kosten für die Suche nach Seth und ihren Geschwistern. Im Prinzip hatte sie es immer gewusst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder zu dem von Moody erlernten Handwerk zurückkehren würde. Vielleicht war das Klauen ja tatsächlich ihre wahre Berufung?

Sie hatte sich nur gewünscht, dass dieser Zeitpunkt nicht ganz so schnell kommen würde. Die steigenden Kosten waren jedoch vorprogrammiert, vor allem für den Privatschnüffler, den sie auf Seths und Hannahs Fährte gesetzt hatte. Sicher, Vogelsang war ein seltsamer, vergammelter Bursche, aber einen seriösen Detektiven hätte Max sich nicht leisten können. Dem fehlten, wie Vogelsang gesagt hatte, zudem die hilfreichen dunklen Verbindungen. Oder er war mit den höheren Riegen der Stadt verwebt. Eine Ebene, der sie um jeden Preis aus dem Weg gehen wollte.

Seit sie nach Seattle gekommen war, hatte sie regelmäßig – mit Hilfe von Kendras Labtop – im Internet die Lokalzeitungen durchgesehen, immer auf der Suche nach Informationen über Eyes Only und Seth. In letzter Zeit nutzte sie das Netz aber auch, um mit ihrem von Moody trainierten Auge nach lohnenswerten Zielen Ausschau zu halten.

Über Eyes Only hatte sie leider nicht viel herausgefunden. Der Bürgermeister bezeichnete ihn als „Bedrohung“ und hatte eine großzügige Belohnung ausgesetzt. „... für Hinweise, die zur Ergreifung blablabla...“ Was Seth betraf, war die Situation nicht anders. Seit dem Beitrag auf SNN war er nirgendwo mehr erwähnt worden.

Dafür war sie auf einen Bericht über einen milliardenschweren Kunstsammler gestoßen, der auch politisch aktiv war, Jared Sterling.

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Sterlings letzte „große“ Errungenschaft stand im Mittelpunkt der jüngsten Pressemeldungen, ein Originalgemälde von Grant Wood mit dem Namen „Tod auf dem Gebirgskamm“. Die Berichte enthielten auch Farbfotos des Sammlers. Auf den Bildern war er Ende zwanzig und sah nicht übel aus: dickes blondes Haar, gepflegter Bart, stechende blaue Augen, kurze gerade Nase und dünne entschlossene Lippen, mit einem verstohlenen Lächeln... auf einem Foto zumindest.

Sieht gut aus und ist stinkreich, dachte Max, als sie auf den Labtop-Monitor blickte. Vielleicht sollte ich die Einbrüche aufgeben und mir stattdessen einen Millionär angeln...

Auf einigen der Fotos war auch das Gemälde zu sehen – neben Sterling, auf einer Staffelei. Sein Stil hatte etwas cartoonhaftes. Es zeigte einen alten roten Lastwagen, der auf ein schwarzes Auto zuraste, welches offensichtlich auf der kurvigen Straße ins Schleudern geraten und quer zur Fahrtrichtung zum Stehen gekommen war. Neben der Signatur stand das Jahr der Entstehung des Gemäldes zu lesen: 1935...

Max kannte das Bild selbst zwar nicht, aber dank Moodys Ausbildung wusste sie Grant Wood einzuordnen und erkannte seinen kennzeichnenden Stil. Außerdem wusste sie, dass ein Gemälde von Wood immerhin zwischen neunzig und hunderttausend Dollar einbrachte. Gerade jetzt, wo amerikanische Künstler besonders gefragt waren.

Als Folge ihrer etwas seltsamen Erziehung hatte Max nur wenig Ahnung von dem, was Amerika einst verkörperte. Sie wusste nur, dass Moody oft über die Entwicklung in ihrem Land deprimiert war. Er konnte sich mächtig darüber aufregen, dass die Baseball Hall of Farne nun in Kyoto, Japan zu bewundern war. Oder die Freiheitsstatue dem Sultan von Brunei gehörte. Die USA und all ihre historischen Schätze wurden ganz offensichtlich – so schimpfte er gerne – an den „gottverdammten Meistbietenden“ verschachert.

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Für Max bedeutete dieses spezielle Gemälde jedenfalls nur, dass Vogelsangs Kosten damit für eine ziemlich lange Weile gesichert waren.

Max wusste sehr viel über Kunst, Künstler, Juwelen, Antiquitäten, Sammlerstücke... sie kannte sich sogar mit Baseballkarten aus. Moody hatte sie das alles gelehrt. Nicht weil er ihren Horizont erweitern wollte oder weil er einfach nur ein Menschenfreund war.

Er wusste vielmehr, dass es in LA einfach jede Menge Sammler gab. Selbst nach dem Puls und nach dem Großen Beben war die Stadt noch randvoll mit wertvollen Kunstwerken. Mit dieser Voraussicht und der Gewissheit, dass der Chinese Clan auf seinen Raubzügen immer wieder solche Kunstwerke entdecken würde, hatte Moody sich darauf konzentriert, das Wesentliche zu erkennen und dieses Wissen an Max weiterzugeben. Gleichzeitig hatte er sich konsequenterweise an den Beutezügen selbst immer weniger beteiligt.

Die Schülerin lernte schnell. Sie verschlang sämtliche Informationen, die Moody ihr gegeben hatte und darüber hinaus. Ihr enormer Eifer war rein praktischer Natur. Dennoch ließ die Kunst an sich sie nicht völlig kalt.

Schon bald konnte sie in jeden x-beliebigen Antiquitätenladen in Lala-Land gehen und mit einem Blick potenzielles Diebesgut von Ramsch unterscheiden. Sie hatte durch bloßes Betrachten sofort erkannt, dass das Herz des Ozeans keine Fälschung war. Schon allein die enormen Sicherheitsvorkehrungen waren natürlich Hinweis genug. Doch auch der Stein selbst hatte ihr verraten, welch einträgliches Geschäft er war.

Sie hatte ihre Online-Hausaufgaben gemacht und sich über Jared Sterling, sein Gemälde und den Aufbewahrungsort schlau gemacht. Rein theoretisch war ein Großteil der Informationen für jeden anderen mit einer einfachen Internetverbindung auch

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zugänglich. Doch speziell für Max – als ein in Manticore geschulter Hacker – war die Cyberwelt wie eine Auster, die eine Perle nach der anderen ausspuckte.

Witzigerweise war es ausgerechnet Sterling gewesen, der nach dem Puls das Internet, zumindest an der Westküste, wieder zum Laufen gebracht und damit auch sein Geld verdient hatte. Es funktionierte anfänglich zwar noch nicht annähernd so gut wie in früheren Tagen, aber dank des guten alten Jared wurde es sehr schnell und von Tag zu Tag besser.

Er war eben zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Und so hatte sich Jared Sterling allmählich ein Vermögen aufgebaut, das vergleichbar war mit dem eines Bill Gates vor dem Puls – vor Gates’ spektakulärem Pleitegang, versteht sich. Die schwer getroffene Ostküste hatte sich an Sterling gewandt, ihr ebenfalls beim Neuaufbau des Netzes behilflich zu sein. Weil sie jedoch seinen finanziellen Vorstellungen nicht entsprechen wollte – oder konnte –, ließ er sie kurzerhand draußen im Regen stehen. Falls sie eines Tages dann doch wieder angekrochen wäre, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen, hätte sich der Preis bestimmt verdoppelt oder sogar verdreifacht.

Sterlings knallhartes Geschäftsgebaren diente vielen freiheitlich denkenden Journalisten als Zielscheibe. Das größte linksorientierte Magazin, der Hustler, hatte ihn vor nicht allzu langer Zeit zum „Raubtier des Jahres“ gewählt und ihm Skrupellosigkeit bescheinigt.

„Sehr viele Geschäftsleute wurden als Hai bezeichnet“, meinte der Herausgeber Laurence Flint III. „Aber Sterling übertrifft sie alle. Es geht das Gerücht, dass er sich sogar kleine Schlitze in die Rückseite seiner Tausend-Dollar-Anzüge schneidern lässt, durch die er dann seine Rückenflosse stecken kann.“

Politik interessierte Max überhaupt nicht. Ihr Verständnis davon reduzierte sich auf die Vorstellung, dass Manticore in

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Verbindung mit der Regierung stand und demzufolge man der Regierung nicht trauen konnte.

Was das Gemälde betraf, wusste Max bereits, dass „Tod auf dem Gebirgskamm“ 1935 entstanden war. Übers Internet fand sie heraus, dass es ein in Öl auf Hartfaserplatte gemaltes Werk und zweiundachtzig mal neunundneunzig Zentimeter groß war... was es einem Fassadenkletterer auf Grund der Größe und Sperrigkeit nicht einfach machte. Doch der Lohn würde die Mühe um einiges wettmachen.

Cole Porter, ein Songwriter aus dem 20. Jahrhundert, hatte das Bild im Jahre 1947 dem William College Museum of Art in Massachusetts geschenkt – die Webseite enthielt zusätzlich eine Liste der berühmtesten Titel des Musikers, von denen Max nicht einen einzigen kannte. Nach dem Puls war der „Tod“ zehn Jahre lang verschwunden, bis er plötzlich unbeschädigt auf der Staffelei neben Sterling auftauchte.

Als man ihn fragte, wo er das Gemälde erworben hatte, machte der Internetmagnat jegliche Spekulation, dass es sich um Diebesgut handelte, lächelnd zunichte. Derlei Besitzfragen standen ganz besonders nach dem Puls auf der Tagesordnung.

„Ich habe es von einem privaten Sammler erworben.“ Das war alles, was er dazu sagte.

Zwei Tage nach der Veröffentlichung von Sterlings Foto mit dem Grant Wood, war die Leiche eines Kunsthändlers aus Miami namens Johnson an die Küste des Golfs von Mexiko gespült worden. Angeblich hatte es sich um einen Bootsunfall gehandelt. Dass zwischen den beiden Fällen möglicherweise ein Zusammenhang bestanden hatte, war den Medien nie aufgefallen.

Letztere Vermutung hatte Max nicht aus dem Internet. Sie kam mit freundlicher Genehmigung eines ihrer anderen Interessensgebiete... während Max und Original Cindy bei Jam Pony auf ihren nächsten Kurierauftrag warteten, waren die

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SNN-Schlagzeilen plötzlich von einer Eyes Only-Sondersendung unterbrochen worden.

„Dieser Eingriff in das Kabelprogramm wird sechzig Sekunden dauern“, erklärte eine zwingende Stimme und zwei energisch blickende Augen starrten – zwischen einem roten Band am oberen Bildrand und einem blauen am unteren – aus dem Bildschirm. In weißen Großbuchstaben eingeblendet war zu lesen, dass es sich hierbei um ein STREAMING FREEDOM VIDEO handelte. „Er kann weder zurückverfolgt noch gestoppt werden. Und er ist die einzig freie Stimme, die es in dieser Stadt noch gibt.“

„Außer der von Original Cindy“, stellte Original Cindy fest. Sketchy mischte sich ein. „Ich steh auf den Typen – er ist

voll cool.“ „Der verarscht uns doch genauso wie die anderen“, meinte

Max scheinbar unbeeindruckt. „Die Medien scheinen sich nicht besonders für diese

Nachricht zu interessieren. Doch Eyes Only fragt sich, ob der Tod des Kunsthändlers Harold Johnson in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kunstsammler Jared Sterling steht.“

Max steuerte das Boot ans Ufer, versteckte es zwischen ein paar Büschen und befestigte es. Dann schlich sie wie auf Katzenpfoten über einen hügeligen Rasen in Richtung der Mauer um Jared Sterlings Anwesen. Der Nebel hatte sich immer noch nicht verzogen. Im Gegenteil, er klebte wie eine Wolke, die sich zufällig hierher verirrt hatte, am Boden fest. So war Max auf den Überwachungsvideos beinahe unsichtbar.

Die Mauer war über zwei Meter hoch und an jeder Ecke mit Überwachungskameras bestückt. Für Max nur wenig Herausforderung. Mit einem Satz landete sie auf der Mauer, sprang nach unten und landete wieder sanft auf Gras. Ihr sensibles Gehör vernahm nichts, außer Stille. Und von dem Haus erkannte sie im Nebel nur die Umrisse.

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Sie hielt sich sicherheitshalber nah bei der Mauer, um dem Blick der Kameras aus dem Weg zu gehen, auch wenn sie wusste, dass sie bei diesem Nebel nicht zu sehen war. Bis zu dem undeutlich sichtbar werdenden sandsteinfarbenen Gebäude waren noch knappe hundert Meter billardtischgrüner Rasen zu überwinden – kein Hang, sondern schön flach. Max legte den Weg in einer Zeit zurück, um die sie jeder Olympionike beneidet hätte.

Sie hatte unter Umständen mit Hunden gerechnet, konnte jedoch mit ihrer Katzennase nichts dergleichen wahrnehmen. Ihre nächste Sorge galt den Bewegungsmeldern, die plötzlich irgendwelche Lichter auslösen konnten. Doch da war nichts. Die einzig sichtbaren Lichter strahlten durch zwei Fenster aus dem Erdgeschoss auf der Rückseite des Gebäudes.

Der Überwachungsraum, dachte Max. Aus der Nähe wirkte das dreistöckige Gebäude riesig. In

einem Artikel des Online-Magazins Architectural Digest stand zu lesen, dass es sieben Schlafzimmer, zwei Küchen und vier Badezimmer beinhaltete. In einem Haus gegenüber war Sterlings zehnköpfiges Sicherheitsteam untergebracht – Max hatte den Namen der Firma, die mit dem Schutz des Anwesens vertraut war, der offiziellen Homepage von Sterling Enterprises entnommen. Dann hatte sie sich in die geheimen Seiten der Security Company eingehackt und die gewünschten Informationen erhalten.

Zwischen den Fenstern standen über zwei Meter hohe immergrüne Pflanzen wie riesige Wachposten. In der Mitte der nahe gelegenen Seite des Hauses befand sich eine Terrassentür mit zwei Fenstern auf jeder Seite. Das ganze war mit dem Überwachungsraum auf der Rückseite des Gebäudes verkabelt.

Dieser Weg kam für Max nicht in Frage. Die meisten Einbrecher vermieden es, über die Eingangstür

in ein Haus einzudringen. Es war grundsätzlich zu erwarten,

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dass im Moment des Öffnens umgehend Alarm ausgelöst wurde.

Das lag daran, dass die meisten Einbrecher nicht über Max’ einzigartiges Geschick verfügten.

Max blieben gut dreißig Sekunden, um den richtigen Sicherheits-Code einzugeben, bevor das Zehn-Mann-Team auftauchen würde. Die Angelegenheit war etwa in der gleichen Zeit erledigt, die man benötigte, um einem Baby den Schnuller zu klauen.

Vier Stufen aus Beton – davor rechts und links jeweils ein riesiger Löwe, ebenfalls aus Beton – führten geradewegs zu dem Treppenabsatz vor einer gewaltigen grünen Tür mit einem fantasievollen Türgriff aus Messing und einem Türklopfer in der Mitte darüber, ebenfalls aus Messing. Erinnert mich stark an eine Dollarnote, dachte Max und war sichtlich erfreut, dass die Lichter am Vorbau über ihr ausgeschaltet waren.

Auf beiden Seiten der Tür befand sich jeweils ein etwa achtzig Zentimeter breites Fenster mit dunklen großen Vorhängen. Einen Moment lang dachte Max darüber nach, einfach eine Scheibe einzuschlagen, reinzuklettern und den Sicherheitsbubis den Arsch aufzureißen... einfach der Übung halber... und nur zum Spaß.

Max hatte richtig Lust darauf, erinnerte sich aber an Moodys Leitspruch: Nur Amateure gehen ein unnötiges Risiko ein. Sie holte also ihr Klappmesser aus der Jackentasche und setzte die Spitze am Schloss der großen grünen Tür an. In weniger als zehn Sekunden öffnete sich der überdimensionale Dollarschein und Max begann leise zu zählen.

Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig... Als sie eintrat, wurde sie erst einmal von der Dunkelheit im

schlummernden Haus verschluckt. Sofort setzte auch schon ihre Nachtsichtfähigkeit ein. Max klappte das Messer wieder zusammen und steckte es weg. Es war unglaublich still im

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Haus. Die einzig hörbaren Geräusche waren das Ticken einiger Uhren, ihr eigener Atem und die Zahlen in ihrem Kopf.

Fünfundzwanzig, vierundzwanzig... Das Keypad befand sich an der Wand rechts vom Eingang.

Jede einzelne Taste war gut sichtbar. Unten rechts leuchtete ein rotes Licht und links unten befand sich ein grünes – dazwischen ein kupferfarbenes Display zur Eingabe der Geheimnummer. Wie sie vermutete hatte: zehn Ziffern. Also ein vierstelliger Code.

Zweiundzwanzig, einundzwanzig.., Ihre außergewöhnliche Sehkraft ermittelte die vier in Frage kommenden Ziffern: 1-3-7-8... eine von vierundzwanzig Kombinationsmöglichkeiten musste es sein.

Sechzehn, fünfzehn, vierzehn... Ihre beiden Hände flogen über die Tastatur. Ihre Augen,

Ohren und ihr Gehirn arbeiteten in einem Tempo nur Nanosekunden langsamer als das eines Computers.

Zehn, neun... Elf Kombinationen gecheckt. Acht, sieben... Siebzehn Kombinationen gecheckt. Sechs, fünf, vier... Endlich... das stimmige Quartett, und das rote Licht blinkte

grün. Es hätte bestimmt mehr Spaß gemacht, ein Fenster einzuschlagen, ging es ihr durch den Kopf. Dennoch lächelte sie zufrieden. Sie drückte die „EIN“-Taste und das Licht blinkte wieder rot.

Das Haus war wieder gesichert... ... würden jetzt zumindest Jared Sterlings Sicherheitsleute

denken. Max’ enorme Sehkraft war nun in vollem Einsatz. Sie befand

sich in einem ziemlich großen Foyer. Der Boden war aus Marmor – in blassem Gelb, auf den Fotos online. Die Wände waren grob verputzt und die Möbel hier und im Rest des

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Hauses wirkten edel und teuer. Darunter einige sehr auserlesene Stückchen, auch ein paar Originale von Frank Lloyd Wright. Dies hier war eine völlig männliche Welt, in der jedes einzelne Stück, so alltäglich es auch sein mochte, ein richtig wertvolles Kunstobjekt verkörperte.

Geradeaus führte eine Treppe in die erste Etage, breit genug für zehn Leute nebeneinander. Und von dort aus erstreckte sich nach beiden Seiten ein langer Flur bis zum jeweiligen Ende des Hauses. Max schaute hinauf zum oberen Treppenabsatz und konnte ein paar dunkle Holztüren erkennen, die das gesamte erste Stockwerk, mit seinen grob verputzten Wänden, ironischerweise wie den Korridor in einem billigen Hotel erschienen ließen.

An der linken Seite des Treppenaufgangs, etwa auf halber Höhe, war eine kleine Videokamera installiert, die den Eingangsbereich überwachte.

Die Türen rechts und links von Max im Erdgeschoss waren geschlossen. Sie führten zu Wohnzimmern, Billardzimmern, Arbeitszimmern und ein paar anderen Räumen, deren genaue Funktion in ihrer Online-Recherche nicht beschrieben war. Max hatte versucht, sich detaillierte Pläne zu verschaffen, doch trotz ihrer Hackerkünste war einfach nicht an die Information ranzukommen. Weder die Website des Sicherheitsunternehmens noch die von Sterlings Firma und auch nicht die des Architekten ließen einen tiefergreifenden Einblick zu. Ihr Zugriff war geschützt, als handelte es sich um ein Staatsgeheimnis. Alles was Max wusste, hatte sie Architectural Digest zu verdanken...

Die Vorhänge an den Fenstern neben der Eingangstür waren aus schwerem männlichem Brokat und kastanienbraun. Sieht cool aus, dachte Max, wenn ich da an meine Wohnung mit ihren unverputzten Wänden und Plastikplanen denke... Am liebsten wäre Max mit einem Lastwagen vors Haus gefahren,

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um den Rest der Nacht damit zu verbringen, die wertvollsten Stücke einzupacken und dann mit neunzehn in Rente zu gehen.

Dicht an die Wand gepresst schlich sie sich durchs Foyer bis zur linken Seite des Treppenaufgangs. Dann stieg sie die Stufen hinauf, näherte sich behutsam der Kamera, schraubte sie vorsichtig von ihrer Halterung ab und löste das Koaxialkabel auf der Rückseite. Max hatte natürlich die ganze Zeit über nach Schritten gelauscht, was ein Indiz dafür gewesen wäre, dass man sie beobachtet hatte.

Sie hörte rein gar nichts. Außer wieder jene Uhren... und selbstverständlich ihren gleichmäßigen Pulsschlag.

Max griff in eine ihrer Westentaschen und zog eine Art Pistole hervor. Sie hielt es an das Kabel und drückte ab. Mit einem kräftigen Hochspannungsstoß war nun auch das komplette Überwachungssystem lahm gelegt.

Plötzlich hörte sie Schritte im Haus und flüsternde Stimmen, die offensichtlich darauf bedacht waren, potenzielle Eindringlinge nicht zu erschrecken. Schnell steckte sie die Kamera wieder in ihre Halterung, in der Hoffnung, die Sicherheitsleute nicht aufmerksam zu machen. Dann versteckte sie sich hinter einem der Brokatvorhänge. Vier Männer in Hemd und Krawatte näherten sich der Eingangshalle.

Zwei dieser eleganten Herren hatten ihre 38er gezogen. Die beiden anderen trugen je eine Heckler & Koch MP7A Maschinenpistole. Max fühlte sich irgendwie unwohl, und das brachte ihre ansonsten bemerkenswerte Selbstbeherrschung ins Wanken.

Das war immer so, wenn sie Waffen sah, nicht dass sie Angst vor ihnen hatte...

... sie konnte sehr gut mit ihnen umgehen. Seit Evas Tod allerdings konnte Max diese verdammten Teile einfach nicht mehr ausstehen.

Jeder der Männer trug einen Ohrhörer und – Max setzte ihren Katzenblick ein – winzige Mikrofone am Ärmelaufschlag.

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Sterling nahm die Bewachung seines Besitztums offensichtlich sehr ernst. Anzug und Krawatte beiseite, jeder dieser Jungs war einsachtzig groß – oder mehr – und zwischen Mitte zwanzig und Anfang vierzig. Zwei Weiße, ein Schwarzer, ein Latino. Sie wirkten alle gut in Form und äußerst professionell. Ihr Blick war erbarmungslos und hatte jene wie eingemeißelt wirkende Emotionslosigkeit, die man sonst nur von Berufssoldaten her kannte.

Max lächelte. Langsam wurde es spannend... Nicht etwa, weil die Männer ihr Angst einflößten oder sie

einschüchterten. Nein, es war vielmehr die Vorstellung, dass der Hausherr nicht ohne Grund solch enorme Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben konnte. Irgendetwas in diesem Haus musste ziemlich wertvoll sein... viel wertvoller noch als der Grant Wood.

Und außerdem reizte sie der Gedanke, es hier mit würdigen Gegnern zu tun zu haben.

Der älteste der Vier übernahm das Kommando. Er war hoch gewachsen, hatte einen grauen Bürstenhaarschnitt, schmale blasse Lippen, eine Zehn-Cent-große Narbe auf jeder Wange, und er war – genau wie Max – von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet... Hemd und Krawatte eingeschlossen.

„Maurer“, befahl er. „Nach oben.“ Einer der Jungs mit den MP7A – schwarze Hautfarbe,

breitschultrig, mit goldfarbenem Hemd und gestreifter Krawatte – rannte die Treppe hinauf an der Kamera vorbei, mit der Max das Überwachungssystem außer Kraft gesetzt hatte.

„Jackson“, schnauzte der Anführer. Der zweite Typ mit einer MP7A, Jackson, trat vor. Er war

der jüngste der Vier, stämmig, weiße Hautfarbe. Irgendwie sah er aus wie ein athletischer Sportschüler in viel zu engen Klamotten am Abend einer Preisverleihung – weißes Hemd, graue Hosen, rot und blau gestreifte Krawatte.

„Sie durchsuchen das Gelände“, fuhr der Anführer fort.

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„Jawohl, Sir“, antwortete Jackson forsch militärisch, ging hinüber zur Eingangstür und drückte ein paar Tasten, bis das grüne Alarmlicht leuchtete. Nachdem er das Haus verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, drückte der Vierte des Teams – ein muskulöser junger Latino in hellblauem Hemd, Marinehosen und Marinekrawatte – den „EIN“-Knopf und aktivierte somit wieder den Alarm.

Max beobachtete durchs Fenster, wie Jackson sich vom Haus entfernte. Ihr Atem stockte, denn es war leicht möglich, dass er sich umdrehte und sie im Fenster entdeckte... doch zum Glück hatte ihn schon nach wenigen Metern der Nebel verschluckt.

„Morales“, sagte der Teamführer mit weicher Stimme. „Sie gehen nach rechts, ich nach links.“

Der Anführer ging in den Raum links, Morales in den Raum rechts. Kurz bevor Morales die Tür hinter sich schloss, erblickte Max ganz hinten an der Wand ein Gemälde in einem goldenen Rahmen.

Sie beschloss, in diesem Raum mit ihrer Suche zu beginnen. Eine Minute verging. Max kontrollierte alles ganz genau,

zuerst die Richtung in die der Anführer verschwunden war, dann die Treppe. Sie musste sich vergewissern, dass keiner der beiden Männer auf dem Rückweg war.

Dann setzte Max sich in Bewegung. Sie verließ ihr Versteck und schlich durchs Foyer. Langsam, vorsichtig, ruhig öffnete sie die Tür und warf einen kurzen Blick in den Raum...

... Morales war nirgends zu sehen. Sie trat beruhigt ein. Das Zimmer war groß... beinahe riesig, wie ein

Museumsraum. Hohe Decken, sauber polierter Parkettboden, Täfelung aus dunklem Mahagoniholz. An den fensterlosen Wänden hing Gemälde an Gemälde, teilweise in Dreier- oder Viererreihen, wie eine sündhaft teure Tapete. Mit Ausnahme einiger Stühle war der Raum ansonsten unmöbliert und – was für Max viel wichtiger war, es war niemand zu sehen.

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Morales hatte den Raum offensichtlich durch die gegenüberliegende Tür verlassen – nachdem er niemanden entdeckt hatte – und checkte gerade die Zimmer dahinter.

Max spazierte bis zur Mitte des Raumes und schaute sich die Gemälde etwas genauer an. Einige kannte sie aus Moodys Büchern, aus Magazinen oder dem Internet. Bei anderen war sie sich nicht sicher, auch wenn ihr der Stil bekannt vorkam.

Was Max hier sah, hatte sie vorher nicht zu träumen gewagt. Wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, am liebsten alle

Gemälde einzupacken und sich zur Ruhe zu setzen. Auf den Lastwagen konnte sie ja verzichten. Einfach Bild für Bild aus dem Rahmen schneiden, zusammenrollen und mitnehmen. Wenn Moodys Ausbildung etwas getaugt hatte, dann konnte sie auf Vogelsangs Dienste bei der Suche nach Seth verzichten... eine eigene Detektei, das wär’s gewesen... oder zum Teufel, warum nicht gleich Manticore kaufen?

So schnell dieser Wunschtraum aufgetaucht war, so schnell musste Max ihn auch wieder aus ihrem Kopf verbannen. Alles viel zu zeitaufwendig und zu riskant. Sie musste sich den gottverdammten Wood schnappen – vielleicht ein, zwei Gemälde mehr – und sich dann schleunigst vom Acker machen.

Der Grant Wood hing an der rechten Wand, ziemlich genau in der Mitte. Max machte kurzen Prozess, überbrückte den Alarmdraht, nahm das Bild herunter und befreite es aus seinem reich verzierten, antiken Goldrahmen. Einen Moment lang bedauerte sie diesen Entschluss, denn schon allein der Rahmen brachte einen guten Preis.

Aber das Ding war mit seinen achtzig auf hundert Zentimetern einfach zu sperrig und zu schwer. Und an seiner Stelle ein paar andere Leinwände mitgehen zu lassen, das war ein Risiko. Der Wood hingegen war eine todsichere Sache.

Erstelle einen Plan und führe ihn exakt aus, hatte Moody immer gesagt. Alle Abweichungen gehen auf deine Kappe.

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Max schob das Gemälde vorsichtig in eine wasserdichte Tasche mit Reißverschluss, die sie zusammengefaltet in ihrer Weste verstaut hatte. Dann sah sie sich um und überlegte, ob sie sich doch noch ein Beutestück unter den Nagel reißen sollte, bevor die Sicherheitsjungs wieder zurückkamen.

In einer Ecke am hinteren Ende des Zimmers erregte ein etwa basketballgroßer Plexiglaskasten auf einem Sockel ihre Aufmerksamkeit. In seinem Innern lag irgendetwas auf einem Stück Samt. Da dieser Kasten das einzige Ausstellungsstück seiner Art im Raum war, lag die Vermutung nahe, dass er nur vorübergehend hier platziert war, bis man einen besseren Standort für ihn gefunden hatte.

Je näher sie der Vitrine kam, desto klarer wurde ihr, was sie hier vor sich hatte... ihr wurde ordentlich mulmig im Magen und es fühlte sich an, als ob ein ganzes Nest voller Schlangen, eine nach der anderen, durch ihren Körper glitt.

Selbstgefällig lag er auf schwarzem Samt, ähnlich wie vor nicht allzu langer Zeit im Hollywood Heritage Museum: ein Diamant, das Herz des Ozeans.

Die Luft um sie herum schien dünner zu werden, und sie atmete in kurzen schnellen Zügen. Die Fragen prasselten wie ineinander fallende Dominosteine eine nach der anderen auf sie ein...

Wie kam der Stein an diesen Ort? War Sterling der Käufer, mit dem Moody verhandelt hatte? Oder war es ein Hehler gewesen, der ihn an Sterling

weiterverkauft hatte? Seit dem Diebstahl im Museum war ausreichend Zeit für

derlei Transaktionen vergangen. Dennoch war es ihr ein Rätsel, wie das Schmuckstück aus Moodys Tasche in dieses Haus gelangt war. Irgendetwas stimmte hier nicht...

Es überlief sie heiß und kalt und überall auf ihrem Körper machte sich Gänsehaut breit – ein Gefühl, das sie nicht mehr

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erlebt hatte... seit jener Nacht in den Wäldern um Manticore, auf der Flucht vor Lydecker...

„Bezaubernd, nicht wahr?“, durchbrach eine warme Stimme plötzlich ihre Gedanken.

In der Tat ließ die Stimme sie jedoch fast zu Eis erstarren. Die Tasche mit dem Grant Wood baumelte immer noch in ihrer rechten Hand, wie eine überdimensionale Handtasche.

Sie hatte sich zwar noch nicht umgedreht, erkannte die Stimme aber aus den Videoclips, die sie sich zuvor auf Kendras Labtop angeschaut hatte. Hinter ihr stand Jared Sterling höchstpersönlich.

Max starrte immer noch auf den wunderschönen blauen Stein. „Jemand hat mir mal gesagt, Diamanten seien der beste Freund einer Frau.“

„Falscher Film. Wären Sie bitte so freundlich, das Gemälde abzustellen?“

Max schüttelte den Kopf. „Eigentlich ungern. Ich musste ziemlich hart dafür arbeiten.“

„So wie ich.“ Eine Tür ging auf und eine Stimme meldete sich zu Wort:

„Sir!“ „Ah, Morales. Würden Sie bitte übernehmen? Ich hole mir

ein Glas Milch. Sie wissen ja, mein Geschwür.“ Hinter ihr wurde eine Waffe entsichert. „Lassen Sie die Dame möglichst am Leben, Morales“, fuhr

Sterling fort. „Sie hat einen hübschen Hintern.“ Eine andere Tür öffnete sich und eine bisher unbekannte

Stimme erklang in einem mexikanischen Akzent: „Dreh dich um, du... ganz langsam!“

Max war ein braves Mädchen und tat, was man ihr befohlen hatte. Morales stand nun vor ihr und richtete seine Waffe in Richtung ihrer Brust.

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„Und jetzt“, sagte er, „setz die Tasche schön artig und vorsichtig auf den Boden, als wäre sie deine arme alte Großmutter!“

Noch einmal tat sie, was er ihr befohlen hatte, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, jemals eine „arme alte“ Großmutter gehabt zu haben.

Morales hob seine freie Hand an den Mund und sprach in seinen Ärmelaufschlag: „Eindringling in der Galerie gestellt. Ich wiederhole, in der Galerie.“

Aus Morales’ Ohrhörer hörte Max ein knisterndes „Zehn-vier“.

Morales kam langsam näher auf sie zu. Sein Gesichtsausdruck wirkte zwar ungerührt und professionell, aber dennoch strahlten seine Augen eine gewisse Lüsternheit aus, als er sagte: „Ich muss dich abtasten.“

„Müssen Sie nicht.“ „Hände hinter den Kopf, Kleine, Ellbogen angewinkelt!“ Morales ging in die Hocke – seine Augen und die Waffe

waren konzentriert auf seine Gefangene gerichtet – und griff nach der Tasche. Dann richtete er sich wieder auf. Aus dem Foyer erklangen Schritte, und er drehte sich für den Bruchteil einer Sekunde um. Zeit genug für Max.

Blitzschnell beugte sie sich nach vorne und rammte Morales mit einer leichten Drehung einen ihrer oben erwähnten Ellbogen an die Schläfe.

Er stürzte zur Seite und löste dabei versehentlich einen Schuss aus. Die Kugel landete in der Wand, genau zwischen zwei jener so wertvollen Kunstwerke. Dann folgte ein Tritt an seine Kehle, und er geriet – nach Atem ringend – völlig aus der Balance. Noch bevor er auf den Boden knallte, war die Waffe nach einem gezielten Schlag bereits aus seiner Hand gefallen, über den gewachsten Holzboden geschlittert und landete nun lautstark an der gegenüberliegenden Wand.

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Morales gluckste zwar und schien noch ein wenig bei Bewusstsein, machte jedoch keine Anstalten aufzustehen.

„Stehen bleiben!“, dröhnte es von der Tür, durch die Sterling den Raum verlassen hatte.

Von wegen, dachte Max, schlug ein Rad, dann noch eines und setzte gerade zu einem weiteren Überschlag an, als der groß gewachsene Anführer mit dem Bürstenschnitt zwei Schüsse auf sie abgab. Glücklicherweise verfehlten beide ihr Ziel. Eine landete in der Wand, die andere folglich in einem Gemälde.

Max hingegen landete ganz woanders, nämlich einen Meter vor ihrem Gegner. Das war ausreichend Platz, um ihm die Knarre aus der Hand zu schlagen. Erst folgte eine Pirouette, dann ein Tritt in die Magengegend. Der arme Kerl klappte wie ein Taschenmesser zusammen, flog gleichzeitig durch den Raum und schmetterte hart genug an die Wand, um sogar einige Bilder aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die Waffe jedoch hielt er immer noch in der Hand. Als er versuchte aufzustehen und dorthin schaute, wo sie eben noch gestanden hatte, war Max bereits pfeilschnell verschwunden. Er drehte sich nach rechts.

„Tut mir Leid, ich hab leider keine Zeit zum Spielen“, ertönte von dort ihre Stimme.

Ihr linker Fuß erwischte ihn zwischen den Beinen, er schrie heftig auf und sackte zusammen. Sie ließ ihm keine Chance. Kaum war ihr linker Fuß wieder am Boden angelangt, schnellte auch schon der rechte nach oben, traf ihn knallhart am Kinn und er rodelte wie ein Kind auf dem Schlitten bewusstlos übers gewachste Parkett.

Max spurtete zurück zu Morales – auch er hatte mittlerweile das Bewusstsein verloren – und schnappte sich die wasserdichte Tasche. Dann zerschlug sie mit einem gezielten Tritt den Glaskasten, schnappte sich – nun schon zum zweiten

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Mal – das kostbare Herz des Ozeans und löste damit einen Krach machenden Summalarm aus.

Schnell steckte sie den Diamanten in eine ihrer Westentaschen, schloss den dazugehörigen Reißverschluss und eilte mit dem Gemälde in der linken Hand in Richtung Foyer. Sie hatte das Haus von vorne betreten, also wollte sie es auch wieder auf dem gleichen Weg verlassen.

Auf dem Weg zur Eingangstür lief Max direkt dem schwarzen Sicherheitsmann in die Arme. Maurer war gerade von oben gekommen, noch etwas verschwitzt und aufgelöst von der anscheinend anstrengenden und ergebnislosen Durchforstung der beiden riesigen oberen Stockwerke. Als er sie erblickte, nahm er umgehend seine MP7A in Anschlag und zielte...

... direkt auf Max, die jedoch ohne zu zögern in asiatischer Kampfsportmanier das Gewehr aus seinen Händen beförderte. Als es hart auf den Marmorboden aufschlug, lösten sich einige Schüsse und zerhackten einen der unbezahlbaren Frank Lloyd Wright-Stühle zu Kleinholz.

Maurer war jedoch kein Kinderspiel. Mit erhobenen Fäusten stürzte er sich auf seine Gegnerin.

„Boxkampf gefällig?“, fragte Max. Eine saubere Rechts-links-Kombination brach ihm die Nase

und kurz danach schickte sie ihn mit einem krachenden Schlag auf den Kiefer zu Boden. Maurer knallte mit dem Hinterkopf so heftig auf den Marmor, dass nicht ganz klar war, ob er seinen Knock-out durch die Faust von Max oder die Bekanntschaft mit dem Boden erlitten hatte.

Auf die Gameboy-Nummer an der Eingangstür verzichtete sie freiwillig, denn mittlerweile war ihre Präsenz jedem im Haus bewusst geworden. Das lästige Hupen der Alarmanlage – nachdem sie die Eingangstür geöffnet hatte – stand zwar in einem dissonanten kontrapunktischen Verhältnis zum Summton aus der Galerie, doch Max schien zweifelsohne

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davon beeindruckt... zumindest von der Tatsache, dass unterschiedliche Klänge auf unterschiedliche Sicherheitssysteme schließen ließen.

Riesendummheit, ging es ihr durch den Kopf und sie ärgerte sich über ihre Nachlässigkeit, nicht den letzten Schritt per Codeeingabe erledigt zu haben. Moody hätte in dieser Situation sicherlich heftig die Stirn gerunzelt und ordentlich den Kopf geschüttelt.

Mit dieser Aktion hatte sie nicht nur den Rest der Sicherheitsmannschaft auf sich aufmerksam gemacht, sondern auch die Bullen, Nachbarn und jeden im Umkreis von einem Quadratkilometer, der nicht gerade stocktaub war.

Auf halbem Weg über den Hof in den sicheren Nebel kam ihr bereits Jackson mit seiner MP7A im Anschlag entgegen.

Noch bevor er agieren konnte, warf sich Max auf eine Seite und tauchte in den Nebel ein.

Jackson war schlau genug, nicht auf sie zu schießen. Immerhin konnte es sich bei der undefinierbaren Silhouette um einen seiner Kollegen handeln. Als er sie verfolgte, in der Annahme, dass sie flüchtete, stand er plötzlich unerwartet vor ihr.

Er riss erstaunt die Augen auf und noch bevor er abfeuern konnte, erhielt er einen wuchtigen Schlag an den Kopf. Im Nu lag Jackson auf dem Rasen wie ein umgekippter Gartenzwerg.

Die Sirenen plärrten immer noch wie dissonante Musik in einem Horrorfilm. Max hatte die wasserdichte Tasche unter den Arm geklemmt, rannte um das Gebäude, sprang über die Mauer und näherte sich dann vorsichtig ihrem versteckten Boot. Sie wollte sichergehen, dass niemand von Sterlings Sicherheitsteam sie verfolgt hatte.

Glücklicherweise wartete außer ihrem Boot hier niemand. Sie schob es zurück ins plätschernde Wasser und verschwand mit dem Grant Wood und dem Herz des Ozeans in der Sicherheit des sie umschlingenden Nebels.

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Nicht unbedingt alles war gut gelaufen, doch es hatte sich gelohnt. Sie wusste, dass Moody sehr stolz auf sein Mädchen sein würde, trotz der Schnitzer. Dies war ein angenehmer siebenstelliger Abend, ausreichend um die Suche nach Seth zu finanzieren und in die Anonymität eines geordneten Lebens zurückzukehren... für eine Weile zumindest.

Ein paar Stunden später, als die Sonne im Osten aufging, saß Max endlich zu Hause auf ihrer Couch und starrte auf den blauen Diamanten.

Sie fragte sich immer noch, wie der Stein bei Sterling gelandet war und was sie selbst nun damit anfangen sollte. Für das Gemälde brauchte sie einen Hehler, aber leider hatte sie in Seattle auf diesem Gebiet keine Verbindungen... noch nicht.

Seit Max in diese Stadt gekommen war, hatte sie Moody noch nicht in LA angerufen. Sie hatte das Bedürfnis nach einem klaren Schlussstrich gehabt. Doch jetzt musste sie dringend mit ihm reden. Um diese Uhrzeit, so früh am Morgen, wollte sie ihn noch nicht belästigen. In ein paar Stunden jedoch würde sie wissen, was zum Teufel es mit dem Schmuckstück wirklich auf sich hatte.

Max packte den Stein in ein schwarzes Samtsäckchen und versteckte es in ihrem Schlafzimmer. Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, um sich ein bisschen zu entspannen – an Schlaf war bei ihr nach einem Bruch nie zu denken – saß zu ihrer Überraschung Kendra auf dem Sofa vor dem Fernseher.

„He, noch wach?“, fragte Max. Kendra lächelte neckisch. „Bin gerade nach Hause

gekommen. Hatte ’ne Verabredung.“ „Echt?“ Max setzte sich zu ihr und schaute sie verschmitzt

an. „Netter Typ?“ Kendra grinste breit. „Nein. Er war ein böser böser Junge...

aber auf eine nette nette Art.“

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Beide lachten. Kendra war ein wenig angetrunken und Max irgendwo zwischen total erschöpft und hellwach.

„Details!“, forderte Max. „Los, ich will Details!“ „Nichts da!“ „Ich würde dir alles erzählen.“ Kendra täuschte Verwunderung vor. „Würdest du nicht, das

weißt du so gut wie ich. Ich kenne niemanden auf diesem Planeten, der so geheimnisvoll tut, wie du... und ausgerechnet du willst mich rumkriegen, dass ich hier Details ausspucke?“

„Ich will dich gar nicht rumkriegen“, lachte Max. „Ich will nur wissen, wer dich herumgekriegt hat.“

„Hm, du bist echt gemein...“ Sie wurden plötzlich von einem weißen Rauschen aus dem

Fernsehgerät unterbrochen. Beide wussten, was das bedeutete. Sie verlagerten umgehend ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und das kühle, aber auch eindringliche Augenpaar zwischen einem blauen und einem roten Streifen und den Worten STREAMING FREEDOM VIDEO.

„Dies ist keine Störung“, intonierte eine ruhige – aber auch intensive – Stimme und zitierte die bekannte Einleitung über Länge und Art der folgenden Sendeunterbrechung durch die einzige freie Stimme in der Stadt.

„Hei, schau dir diese Augen an“, schwärmte Kendra. „Psst“, antwortete Max. „Der dürfte in mein Kabelnetz auch jederzeit eindringen...“ „Ruhe, Kendra!“ „Dieser Bericht enthält die Darstellung von Gewalt. Wir

senden zu später Stunde, um besonders jugendlichen Zuschauern den Anblick zu ersparen. Die Medien in Los Angeles – der Ort, an dem die Bluttat sich vor zwei Tagen ereignete – haben diesen Vorfall bewusst verschwiegen. Folgende Aufnahmen sind ein Beispiel dafür, was man Menschen antut, die für die Freiheit in dieser Welt eintreten.“

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Max überkam eine fürchterliche Angst, als sie in den Amateuraufnahmen die Fassade des Chinese Theater erkannte.

„Amtlichen Dokumenten zu Folge handelt es sich hierbei um die Gräueltat einer Gangsterbande namens Brood“, fuhr die elektronisch manipulierte Stimme fort. „Doch das scharfe Vorgehen gegen die Medien und die Berichte über uniformierte, schwer bewaffnete Soldaten deuten auf eine bewusste Verdunklung seitens der Regierung hin.“

Eine Nahaufnahme vom Vorplatz des Theaters zeigte vier blutüberströmte Leichen. Max krallte sich am Sofa fest.

„Mitglieder des Chinese Clan, Freiheitskämpfer in Los Angeles...“

Freiheitskämpfer?, dachte Max. Wohl kaum... Die Kamera zeigte nun Aufnahmen aus dem Inneren des

Gebäudes. Im Foyer tummelten sich noch mehr Leichen. Einige davon waren Mitglieder der Brood. Max war gespannt, ob Moodys Leute Widerstand hatten leisten können, vielleicht sogar den Angriff abgewehrt und überlebt hatten...

„... wurden während einer Auseinandersetzung mit der Brood niedergeschossen, angeblich wegen Streitigkeiten um Diebesgut.“

Max sah Frescas Leiche zwischen Trümmern neben dem kopflosen Rumpf eines Mädchens – Niner?– am Boden liegen. Seine original Dodgers-Jacke in Blau war nur noch ein roter Klumpen Blut.

„Keiner dieser Freiheitskämpfer konnte der Rache der Brood entkommen.“

Die Kamera war im Kinosaal angelangt. Überall lagen Leichen wie kaputtes ausrangiertes Spielzeug.

„Voll krass, da kann man ja kaum hinsehen“, sagte Kendra und starrte dennoch gebannt auf den Bildschirm.

Max spürte, wie etwas Warmes und Feuchtes über ihre Wangen floss, blieb im Übrigen jedoch zurückhaltend. Sie saß

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einfach nur da und sah sich unbeteiligt die Aufnahmen ihrer toten Clan-Familie an.

„Eyes Only hat Informationen darüber, dass die Brood ihr Territorium nach Seattle ausdehnen wollen“, fuhr die Stimme fort. „Wenn diese kriminelle Gang tatsächlich unter dem Schutz der Regierung steht, bedeutet das eine zusätzliche Versklavung unserer Stadt.“

Die Kamera schwenkte rund um den Kinosaal bis zu der Stelle, die Eyes Only als Höhepunkt des Berichts ausgewählt hatte: Moodys Kopf – aufgespießt auf einem Pfahl. Rechts und links davon prangten auf dieselbe Weise die Köpfe von Tippett und Gabriel..

„Mach das aus!“ Max verschlug es den Atem. Sie wendete sich vom Bildschirm ab.

Kendra griff nach der Fernbedienung, doch die Berichterstattung war ohnehin beendet und SNN wieder auf Sendung. Sie sah die Tränen in Max’ Gesicht und war plötzlich wieder völlig nüchtern.

„Was ist los, Max? Du bist doch sonst nicht so empfindlich.“ „Ich kenne diese Leute... kannte sie.“ „Was, wirklich?“ „Ich gehörte zu ihnen... zum Chinese Clan. Sie waren...

meine Familie...“ Kendra legte einen Arm um Max’ Schultern. „Oh, mein Gott,

wie furchtbar, Max. Es tut mir so Leid. Kann ich dir irgendwie helfen?“

Max stellte ihre Gefühle einfach ab wie einen Herd. „Du kannst mir helfen, Eyes Only zu finden. Ich muss

unbedingt mit ihm reden... und herausfinden, was genau in Los Angeles passiert ist.“

Kendra schaute sie mit großen Augen an und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Schätzchen, ich weiß null über diesen Typen, niemand tut das. Er erscheint auf der Bildfläche wann er will, macht sein Ding und verschwindet wieder.“

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Max schüttelte den Kopf. „Es kann doch nicht sein, dass keiner ihn kennt. Hier in der Stadt gibt es bestimmt so was wie ’ne Untergrundbewegung.“

„Kann sein, aber selbst wenn, dann weiß ich nichts darüber. Und ich kenne auch niemanden, der Eyes Only kennt... ist mit dir alles okay?“

Max nickte. „Alles okay.“ „Nein, ist es nicht, das sehe ich doch. Du frisst es in dich

rein, das ist nicht gesund. Du musst es rauslassen...“ „Das wird ihnen jetzt auch nicht mehr helfen.“ Kendra sah sie besorgt an. „Bist du sicher, dass du nicht

darüber sprechen willst?“ „Ja, das bin ich.“ „Okay...“ Max’ Mitbewohnerin stand auf und gähnte. „Dann

leg ich mich mal aufs Ohr... es sei denn...“ „Kendra, leg dich ruhig hin. Ich komm schon klar.“ Nachdem Kendra sich ins Bett verzogen hatte, ging auch

Max in ihr Zimmer und holte das schwarze Samtsäckchen mit der Diamantkette aus seinem Versteck.

Dieser Stein hatte Moody und den anderen das Leben gekostet... und sie war nicht da gewesen, um ihnen zu helfen...

Sie hielt die Hände vors Gesicht und weinte leise, einige Minuten lang. Dann begannen ihre Gedanken sich langsam wieder zu ordnen.

Eyes Only, Seth, der Diamant, die Brood, der Kunstsammler Jared Sterling und vielleicht sogar Manticore und Lydecker höchstpersönlich... sie alle schienen in irgendeiner Weise mit dieser Tragödie in Verbindung zu stehen.

Nur wie? Ihr war klar, wo sie ihre Suche beginnen musste. Nicht bei

Eyes Only, sein Aufenthaltsort und seine Identität waren geheim. Seth war seit seinem Zusammenstoß mit den Bullen wie vom Erdboden verschluckt. Der Diamant war ein stummer Zeuge. Die Brood waren in LA und Lydecker in Manticore...

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Blieb nur noch eine Möglichkeit. Das zehnköpfige Sicherheitsteam würde zwar auf sie gefasst

sein, aber Max hatte keine andere Wahl: Sie musste an den Ort ihres Verbrechens zurückkehren.

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9. Kapitel__________________________ EYES ONLY

Logan Cales Apartment Seattle, Washington, 2019

Selbst in den Zeiten nach dem Puls war das Läuten einer Türglocke im Allgemeinen eine ganz normale Sache.

Als es jedoch zu recht später Stunde – es war fast Mitternacht – an der Tür zu Logan Cales Apartment klingelte, war das schon außergewöhnlich und ließ auf unangekündigten Besuch schließen. Das Gebäude war gut gesichert und der Wächter in der Eingangshalle meldete sich normalerweise, bevor er einen Besucher nach oben ließ.

Bisher jedoch hatte sich – außer der Glocke – niemand gemeldet.

Der Frage einer Türklingel zu antworten konnte für Logan Cale das definitive Ende auf diesem Planeten bedeuten.

Es bestand durchaus die Gefahr, dass jemand von der Regierung – oder auch ein regierungstreuer Mitbürger, der auf eine Belohnung scharf war – hereinspazierte und das hoch technisierte Studio entdeckte, von dem aus Logan die Berichte seines Alter Ego Eyes Only verbreitete.

Zudem stammte Logan aus einer langen Reihe in Wohlstand geborener Amerikaner. Er schämte sich für dieses privilegierte Leben, hatte sogar Schuldkomplexe. Ein Umstand, der dazu führte, dass er sich aufrichtig dem Wohle der Gesellschaft verschrieben hatte. Seine Identität im Untergrund als Eyes Only war, bisher zumindest, geheim. Im öffentlichen Leben hingegen war er als linksgerichteter Journalist ein bunter Hund.

Sein politischer Hintergrund verschaffte Logan zwangsläufig Feinde. Der Reichtum der Cales hatte nur geringfügig unter

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dem Puls und seinen Auswirkungen gelitten, und somit bestand jederzeit die Gefahr, dass er Opfer einer Entführung und Lösegeldforderung wurde.

Wie in der Zeit der Großen Depression im zwanzigsten Jahrhundert hatte eine große Zahl von Gaunern – vom einfachen Straßendieb bis hin zum intellektuellen Berufsverbrecher – dieses einträgliche Geschäft für sich entdeckt. Die Kidnapper schreckten in vielen Fällen nicht davor zurück, ihr Opfer zu töten, auch wenn sie die volle Lösegeldsumme erhalten hatten.

Wenn also dieser unangekündigte Besucher nicht derjenige war, den Logan erwartete, würde er vielleicht zum letzten Mal in seinem Leben diese Tür öffnen.

Sein Leibwächter Peter – ein einhundertzwanzig Kilo schwerer ehemaliger Polizist – hatte an diesem Abend frei. Falls es sich nun nicht um einen groß angelegten Überfall handelte, den die Tür ohnehin nicht unbeschadet überstanden hätte, konnte Logan beruhigt mit seiner Arbeit fortfahren und das Klingeln ignorieren.

War der Besucher allerdings die erwartete Person, dann war auch Peters Abwesenheit äußerst praktisch. Der Leibwächter bekam aus oben genannten Gründen nur sehr selten frei. Und an diesen speziellen Abenden öffnete Logan grundsätzlich nie unbewaffnet die Tür.

Es klingelte ein zweites Mal. Paranoia runs deep, sang Logan mit süßsaurem Lächeln vor

sich hin und erhob sich von seinem Arbeitsplatz – ein riesiges Sammelsurium von Computern, Bildschirmen und Labtop fürs Internet. Was immer auch jetzt passieren würde, er musste jeder Prüfung standhalten, die ihm sein so wichtiger Kampf gegen die Windmühlen des Verbrechens auferlegte.

Logan war über einsachtzig groß und dunkelblond. Seine blauen Augen blickten durch eine rahmenlose Brille. Schon in Yale hatte er einer Rudermannschaft angehört und hielt sich

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seither regelmäßig fit. Er hatte immer noch einen gut durchtrainierten Körper, schlank und muskulös wie damals auf dem College. Logans Kleidung – Jeans, Sweatshirt und Turnschuhe – vermittelte den Eindruck eines ewigen Studenten, dessen er selbst gar nicht bewusst war.

Sein modernes großes Apartment war geschmackvoll und hochwertig eingerichtet – das war zumindest seine Meinung. Und es war der einzige Luxus, den er sich leistete. Jedes Zimmer war mit Parkettboden und dem einen oder anderen zusätzlichen Teppich ausgelegt. Die Beleuchtung durchflutete die gesamte Wohnung – und die lichtdurchlässigen Raumteiler – wie ein Meer aus orange-, pfirsich- und gelbfarbenen Wellen. Alles in allem herrschte hier eine sehr männliche Atmosphäre.

Die Wände im Wohnzimmer waren in unterschiedlichem erdigem Farbton gestrichen. Da zwei der Wände in Fenstern mündeten – die zusammen die Außenecke des vorrangig aus Glas bestehenden Hochhauses bildeten – war das Zimmer tagsüber sehr hell. Auch wenn die Designermöbel aus Massivholz sehr teuer waren, konnte man die Gesamtstimmung als minimalistisch bezeichnen. Das zentralste Möbelstück war ein braunes Plüschsofa zwischen zwei schlichten weiß-silbernen Seitentischchen und einem passenden Couchtisch davor. Zwei rechtwinklig zum Sofa aufgestellte Sessel komplettierten das Feng Shui-Ensemble.

Mit einer Waffe in der Hand näherte sich Logan der vorderen Eingangstür. Ein kleiner Überwachungsbildschirm auf der rechten Seite diente sozusagen als elektronisches Guckloch.

Der Besucher war etwa so groß wie Logan, zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt und wirkte trotz seines mürrischen Ausdrucks attraktiv. Er hatte kurzes braunes Haar, grüne Augen und ein längliches knochiges Gesicht. Seine Kleidung bestand aus einer schwarzen Lederjacke, einem dunkelblauen T-Shirt und schwarzen Jeans.

Logan öffnete die Tür.

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„Wie lange soll ich denn noch warten?“, sagte der junge Mann recht aufgebracht und unbeherrscht. Seine Stimme klang dabei um einiges tiefer und älter als sein Alter es vermuten ließ.

„Hallo, Seth“, antwortete Logan. „Tut mir Leid, wird nicht mehr vorkommen. Von jetzt an werde ich den ganzen Tag neben der Tür sitzen und auf deinen unangekündigten Besuch warten.“

Seth antwortete in Form eines brummenden humorlosen Lachens.

Logan bemühte sich, Seths Verhalten nicht persönlich zu nehmen. Der junge Mann war immer so und hielt seine stille Verachtung auch vor nichts und niemandem zurück.

Er bat Seth einzutreten und schloss die Tür hinter ihm zu. Dabei checkte er vorsichtshalber den Überwachungsmonitor, um sicherzugehen, dass niemand Seth gefolgt war. Der war mittlerweile schon zum Wohnzimmer gelaufen und hatte sich mit der Selbstverständlichkeit eines Familienmitglieds aufs Sofa fallen lassen.

„Mach’s dir bequem“, sagte Logan trocken, als er gemächlichen Schrittes ins Wohnzimmer kam.

„Wäre noch bequemer, wenn ich was zu trinken hätte.“ Ein herablassendes Lächeln kam über Seths dünne Lippen.

Logan atmete tief ein und ganz langsam wieder aus, um seiner Verärgerung Luft zu verschaffen. Dieser durchgeknallte Jungspund brachte es fertig, Fröhlichkeit und Traurigkeit zugleich auszustrahlen – wie jener längst verstorbene Schauspieler... wie hieß er doch gleich? Logan erinnerte sich: genau, James Dean.

Logan beschloss, ihm sein selbstgefälliges Grinsen nicht aus dem Gesicht zu schlagen. „Scotch gefällig?“

„Mit Bosco habe ich schon lange nichts mehr am Hut.“

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Was für ein Schwindler, dachte Logan, ging zur Küche und kam mit einem Glas Eiswürfel in einer klaren Flüssigkeit wieder zurück.

„Das ist ja Wasser“, stellte der junge Mann auf den ersten Blick fest.

„Dir kann man nichts vormachen.“ „Was geht ab? Bist du mein Papa, oder was? Ich will jetzt

einen beschissenen Scotch.“ „Vielleicht will ,Papa’ dein Urteilsvermögen nicht noch

weiter beeinträchtigen?“ Seth war anscheinend sofort klar, was Logan damit meinte.

Er nahm einen Schluck und stellte das Glas – nachdenklich – auf einen Untersetzer auf dem Couchtisch.

Die Beziehung der beiden war von Anfang an sehr gespannt gewesen. Keiner konnte die Art und Weise des anderen ertragen. Aber sie waren aufeinander angewiesen. Koabhängigkeit, dachte Logan. Jeder konnte dem Anderen etwas bieten, das er selbst nicht hatte. Seth mit dem Talent, jeden vor den Kopf zu stoßen, vor allem denjenigen, der ihm zu nahe kam. Und Logan, der unablässig mit seinem Kampf gegen das Verbrechen beschäftigt war, mit dem Unverständnis für Leute, die seine Leidenschaft nicht teilten.

Sie hatten sich etwa einen Monat zuvor über einen gemeinsamen Bekannten kennen gelernt. Ben Daly war ein schüchterner medizinisch-technischer Angestellter mittleren Alters, der sich von der Untergrundbewegung und Eyes Only erhoffte, eine andere Identität zu bekommen, um sich in Kanada ein neues Leben aufzubauen zu können.

Daly war auf der Flucht vor seinem ehemaligen Arbeitgeber, einer Privatfirma, die von einer Spezialtruppe der US-Regierung übernommen worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Forschungen von Daly und seinen Kollegen mit der möglichen Verbesserung menschlicher Lebensqualität beschäftigt. Das neue geheime Vorhaben – Projekt Manticore –

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bedeutete die Verlagerung der Forschung hin zur Erstellung und Verwendung neukombinierter DNS zum Zweck der Schöpfung eines hoch entwickelten Infanteristen. Als man in Manticore damit begann, Kinder als Versuchskaninchen zu missbrauchen, entschied Daly sich dafür, das Projekt zu verlassen.

Die Kündigung eines anderen Wissenschaftlers des Projekts ermutigte Daly in seiner Entscheidung, und auch er reichte seinen Rücktritt ein. In der folgenden Nacht wurde sein Kollege das Opfer einer Fahrerflucht. Der Leiter des Projekts, Colonel Lydecker, hatte den Vorfall Daly gegenüber mit leiser, scheinbar bedauernder Stimme erwähnt: „Es passieren so viele schreckliche Dinge da draußen... Worüber genau wollten Sie mit mir sprechen, Mr Daly?“

Ben war daraufhin eingeschüchtert. Nach außen hatte er sich zwar mit seiner Arbeit abgefunden, doch insgeheim wartete er auf seine Chance. Manticore war keine Firma, bei der man einfach kündigen konnte... man musste fliehen, wie aus einem Gefängnis. Kurz nach dem Puls machte er sich aus dem Staub... und hielt sich nun seit drei Jahren als einfacher – aber zumindest lebendiger – Laborassistent in Seattle versteckt.

Eines Tages stand Seth vor seiner Tür. Daly dachte zuerst, dass Manticore den X5 geschickt hatte, um ihn unschädlich zu machen. Es stellte sich jedoch schon bald heraus, dass der junge Mann nur nach einer Lösung für die Anfälle suchte, unter denen er und seine Geschwister schon seit frühester Kindheit litten. Seths Auftauchen machte Daly bewusst, dass er die Stadt verlassen und sich einen neuen Unterschlupf suchen musste. Wenn dieser junge Mann ihn ohne fremde Hilfe ausfindig machen konnte, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Lydecker bei ihm auftauchte.

Daly hatte zwar keine Medizin gegen Seths Anfälle gefunden, doch er konnte dem wild gewordenen X5 durch einen Hinweis auf den homöopathischen Neurotransmitter

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Tryptophan wenigstens einen Weg zeigen, die Symptome zu kontrollieren. Um den aufbrausenden jungen Mann zu besänftigen, hatte Daly dann die Verbindung zu Logan hergestellt.

Natürlich hatte Ben keine Ahnung davon, dass Logan zugleich Eyes Only war. Aber er kannte ihn zumindest als kritischen Journalisten und Sohn einer reichen Familie.

„Vielleicht können Sie jemanden ausfindig machen, der Seth hilft. Einen Arzt oder einen Wissenschaftler“, hatte Daly vorgeschlagen. „Jemand der seinen Gesundheitszustand wieder in Ordnung bringt. Vielleicht können Sie mit Eyes Only in Verbindung treten.“

„Ja, vielleicht“, hatte Logan geantwortet. Er hatte den Verdacht, dass es Daly letztlich egal war, was

mit dem X5 geschah. Vielleicht wollte Daly ihn nur loswerden und hoffte, dass Seth sich nun Logan als neues Opfer auswählen würde. Wenn dem so war, dann war sein Plan aufgegangen. Er hatte sich mittlerweile in eine kleine Stadt am Nördlichen Polarkreis verkrochen, und der X5 befand sich noch immer in Seattle und ließ seine Launen an Logan aus.

Seth hatte sich auf der Couch breit gemacht, es nicht einmal für nötig empfunden die Schuhe auszuziehen – wie ein Patient in der Praxis eines Psychiaters. Er erzählte von Ryan Devane, einem korrupten Sektorenleiter, der unterm Tisch Sektorenpässe verkaufte, aber auch Minderjährige als Sklaven in andere Länder verschiffte. „Problem gelöst.“

Nur noch wenige Leute in Seattle – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung – glaubten an Devanes weiße Weste... für viele verkörperte er das Böse. Doch seine Stellung war derart abgesichert, dass niemand ihm etwas anhaben konnte... außer Eyes Only.

„Gelöst“, wiederholte Logan. „Hab getan, was du wolltest“, erklärte Seth. „Was ich wollte und noch ein bisschen mehr.“

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„Du wolltest, dass ich ihn stoppe.“ Seth lächelte Logan – der gerade auf einem der beiden Sessel Platz genommen hatte – unschuldig zu. „Und ich habe ihn gestoppt.“

„Du hast ihn umgebracht.“ Seth zuckte mit den Schultern, faltete seine Hände überm

Bauch und starrte an die Decke. „Nun, das ist eben die einfachste Art, jemanden zu stoppen.“

Logan schüttelte den Kopf. „Die einfachste Art ist nicht immer die Beste.“

„Stimmt. Aber in diesem Fall schon. Und halte mir jetzt bloß keinen Vortrag über diesen ,Der-Zweck-heiligt-nicht-die-Mittel’-Scheiß, okay? In diesem beschissenen Manticore habe ich genug über Ethik gelernt.“

„Das glaub ich dir gern. Haben sie dir auch etwas über Gerechtigkeit beigebracht?“

Seth dachte für einen langen Moment darüber nach. Dann entschied er: „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Und was kommt jetzt?“

„Ist doch egal.“ Logan war völlig aufgebracht und stand auf. „Wie um alles in der Welt kannst du nur glauben, dass der Gerechtigkeit durch einen Mord Genüge getan wird?“

„Sind in letzter Zeit irgendwelche Kinder als Sklaven verkauft worden?“, spottete Seth.

„Das rechtfertigt noch lange nicht...“ „Klar tut es das. Der Schweinehund hat bekommen, was er

verdient hat.“ Logan vergrub seine Hände in den Hosentaschen und lief

unruhig hin und her. „Seth... das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun, das ist Rache.“

„Und wo liegt da der Unterschied?“ Seth setzte sich auf, lehnte sich zurück und breitete seine Arme über der Rückenlehne des Sofas aus.

„Ich wollte ihn stoppen, ihn bloßstellen, in die Falle laufen lassen...“

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„Halt, halt, halt... ist das nicht illegal? Ich dachte der Zweck heiligt nicht die Mittel.“

„Wenn in einer Gesellschaft die gesetzgebende Gewalt total korrupt ist, muss man gegebenenfalls zu extremen Mitteln greifen. Da geht es um Nuancen, Seth. Einige Gesetze sind jenseits der Politik. Gesetze die mit gesellschaftlichen Regeln zu tun haben, mit Kultur, ja sogar mit Religion.“

„Oh Scheiße, du wirst mir jetzt nicht mit diesem religiösem Mist daherkommen, oder?“

„Nein... nein. Aber ,Du sollst nicht töten’ gehört unumgänglich zu diesem gesellschaftlichen Abkommen, Seth. Du kannst nicht...“

„Bockmist! Seit dem Puls ist dieses Abkommen nicht mehr existent. Übrigens, wo war denn dieses Abkommen, als ich in Manticore geschaffen wurde, wie eine Fertigsuppe in einem gottverdammten Reagenzglas?“

Logan setzte sich wieder in einen der beiden Sessel. „Bring mich nicht so weit zu bereuen, dass ich dich ins Vertrauen gezogen habe.“

„Dachtest wohl, mit mir hättest du dir einen Supersoldaten geangelt, den du nach Belieben hin- und herschieben kannst, was? Und jetzt geht dir der Arsch auf Grundeis, dass ich eine wandelnde Bombe bin... hab ich Recht, Eyes Only?“

„Seth, bitte... gemeinsam haben wir eine Chance. Wir müssen nur zusammenarbeiten...“

„Das tun wir doch schon!“ Seth sprang auf und war nun derjenige, der im Raum auf und ab lief. „Logan, du hast darunter gelitten, dass ein korrupter Beamter Menschen zu Grunde gerichtet und Kinder versklavt hat... und jetzt willst du mir einreden, dass du immer noch leidest, obwohl wir diesen Dreckskerl gestoppt haben!“

„Ich leide nicht, weil du ihn gestoppt hast...“ „Aber du leidest, weil dieser Misthaufen tot ist. Hast du den

Arsch offen?“

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Logan seufzte tief. „Du solltest für mich arbeiten. Und jetzt fühle ich mich für seinen Tod verantwortlich. Das gefällt mir überhaupt nicht, nicht im Geringsten.“

Seth blieb direkt vor Logan stehen und faltete seine Hände wie zum Gebet. „Wirklich rührend... dein Schuldgefühl ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Aufgabe erfüllt ist und wir damit Hunderte, vielleicht Tausende von Kindern vor der Sklaverei bewahrt haben.“

Logan musste einsehen, dass er sich in dieser Auseinandersetzung nicht durchsetzen konnte. Er befürchtete, Seth würde seine moralischen Einwände niemals nachvollziehen können. Höchstwahrscheinlich hatte der genetische Cocktail ihn nicht nur zu einem Supersoldaten, sondern auch zu einer gewissenlosen Killermaschine werden lassen.

Vielleicht gelang es Logan auf lange Sicht, Seth beizubringen, dass Gerechtigkeit nicht zwangsläufig bedeutete, jeden dem sie hinterher waren gleich umzubringen. Er hoffte, Colonel Lydeckers gefährliche Laborratte unter Kontrolle halten zu können, um ihn vielleicht sogar zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft werden zu lassen.

Seth ließ sich in den anderen der beiden Sessel fallen. Ein angewidertes Lächeln machte sich auf seinem mürrischen aber attraktiven Gesicht breit. „Es wird Zeit.“

„Zeit wofür?“ „Dass wir uns um Manticore kümmern.“ Logan seufzte. „Dafür ist die Zeit noch nicht reif.“ „Das denk ich aber schon.“ Das ist also das Niveau unserer Auseinandersetzung, dachte

Logan. Das ist so. Ist es nicht. Das ist so. Ist es nicht... Er schaute direkt in Seths regungslose Augen. „Wir wissen

noch nicht genug. Eigentlich überhaupt nichts. Wir haben keine Ahnung, wo die Zentrale sitzt und wo du gezüchtet und

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großgezogen wurdest. Wir wissen nicht mehr, als dass es irgendwo in den Bergen von Wyoming liegt...“

Seth platzte aus seinem Sessel. „Was hast du denn die ganze Zeit hier getrieben, während ich meinen Arsch riskiert habe?“ Er gestikulierte wild mit Händen und Armen. „Was machst du denn mit all dieser Computerkacke? Pornos downloaden? In Cyber-Casinos rumhängen?“

„Das braucht seine Zeit.“ Seth stampfte aufgebracht mit den Füßen auf den Boden.

„Wie lange hattest du Zeit? Drei Wochen? Vier Wochen? Ich hab derweil Devane ausgeschaltet... und du?... nichts hast du...“

Logan kochte vor Wut. Am liebsten hätte er Seth mitsamt seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten aus der Wohnung gejagt. Doch er konnte sich noch einmal beherrschen. „Ich habe bereits nach alten Fabriken, stillgelegten Gefängnissen und Militärbasen gesucht. Aber diese Kerle sind sehr clever und gefährlich. Sie verstecken sich gut. Wenn das nicht so wäre, hättest du sie bestimmt auch schon gefunden.“

Seth schmollte, beinahe kindlich. „Aber du hattest drei Wochen, Mann!“

„Du hattest... wie viele Jahre? Und hast sie auch nicht gefunden, hab ich Recht?“

„Ich hab sie nicht gesucht... ich war auf der Flucht. Jetzt ist es was anderes. Du bist da, mit all deinen Möglichkeiten... wir können sie aufspüren, Logan! Und dann erledigen wir sie!“

„Das werden wir tun. Versprochen. Ich habe auch schon eine Spur...“

Seth riss die Augen auf, wie ein Kind bei der weihnachtlichen Bescherung. „Was für eine Spur?“

„Du scheinst meinen Bericht über das Blutbad in LA nicht gesehen zu haben. Er lief gestern drei Mal.“

„Nein, ich war... beschäftigt.“ „Ist schon okay. Komm mit!“

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Logan führte Seth in sein Büro, von wo aus er auch seine Eyes Only-Berichte sendete. Der Hauptcomputer, ein monströses Ungetüm, lief – wie immer – auf vollen Touren, und auf jedem der Monitore waren mehrere Fenster gleichzeitig geöffnet. Dann spielte er den Bericht über das Massaker im Chinese Theater ab. Als Seth die schwarz uniformierten Soldaten erblickte, die vermeintlich die Brood bei ihrem Angriff unterstützt hatten, lehnte er sich aufgeregt nach vorne.

„Das sind Leute aus Manticore... das müssen die Leute aus Manticore sein.“

Logan spielte den Bericht ein zweites Mal ab, ohne Ton. „Warum sollte Manticore sich in einen Bandenkampf einmischen?“

„Auf diese Frage hätte ich gern die Antwort.“ Logan lächelte. „Gut, und genau damit fangen wir an... es sei

denn, du bringst unser Zielobjekt gleich wieder um, bevor wir überhaupt was rausgefunden haben...“

Seth grinste selbstgefällig. „Und wer ist unser Zielobjekt?“ „Es ist ein ,er’... aber eigentlich ist es mehr als nur ein er. Es

ist ein ,sie’.“ „Sind es die Brood?“ „Die Brood sind ein Teil davon. Du hast den Bericht

gesehen: Sie werden ihr Territorium nach Seattle ausdehnen.“ „Wen haben sie denn hierher geschickt?“ „‚Geschickt’ ist nicht das richtige Wort. Der Kopf der Bande

selbst – Mikhail Kafelnikov – ist hier.“ Logan öffnete ein Bild auf dem Monitor. Zu sehen war ein

muskulöser blonder Mann, mit dem Outfit eines Rockstars vor dem Puls. Und – auf einem zweiten geöffneten Fenster – sein umfangreiches Strafregister, das in etwa dem eines Serienmörders entsprach. „Angeblich war er an mindestens einhundert Morden in Los Angeles beteiligt.“

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„Du hast wirklich Recht, Logan“, meinte Seth und ließ seine Augen nicht von dem Bild. „Manticore und eine Straßenbande... das passt einfach nicht zusammen.“

„Seth, Anfang des letzten Jahrhunderts entwickelten sich die Straßenbanden italienischer Kids zum größten und erfolgreichsten Gangstersyndikat aller Zeiten.“

„Und weswegen jetzt diese kleine Geschichtsstunde?“ „Weil etwas Ähnliches mit den Brood geschehen könnte, vor

allem wenn sie tatsächlich im Geheimen von Manticore unterstützt werden.“

„Also, was hat dieser... Hasselhoff hier in Seattle vor?“ „Er heißt Kafelnikov...“ „Wie auch immer.“ „... und er verkauft Kunstwerke und amerikanische

Kulturgüter ins Ausland. Jedes nur annähernd wertvolle Überbleibsel unserer Vergangenheit, das er in seine Finger bekommt... verkauft er an den Meistbietenden.“

Seth zog eine Augenbraue hoch. „Und das wollen wir warum genau verhindern...?“

„Weil er unbezahlbare Stücke amerikanischer Kultur einfach aus Profitsucht verhökert.“

Der X5 konnte der Ausführung nicht ganz folgen. „Was genau stört uns daran?“

Logan wusste, er würde Seth niemals klarmachen können, was er dabei empfand und warum dieser Kampf so wichtig war.

Wenn es keine amerikanischen Kulturgüter mehr im eigenen Land gab, dann würde dieses Amerika irgendwann aufhören zu existieren. Logan hatte diesen Effekt bei anderen Ländern beobachtet, die in der finanziellen Krise nach dem Puls ihr kulturelles Erbe zu Geld gemacht und somit ihre Seele verkauft hatten. Die Menschen brauchten diese kulturelle Grundlage, um darauf eine Gesellschaft aufzubauen. Und wenn man diese Basis an andere Länder verkauft hatte, war damit auch

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jegliches Gefühl für Beständigkeit und Heimat verloren gegangen. Die Menschen wohnten sozusagen zur Miete im eigenen Land.

„Das ist nicht so einfach zu erklären“, begann Logan. „Wie lange warst du in Manticore gefangen?“

„Zehn Jahre. Aber was hat das damit zu tun?“ „Manticore war dein Zuhause, auch wenn du es gehasst hast

und davor geflüchtet bist. Hast du es denn seither nie vermisst?“

„Du bist high, Mann!“ Seths Augen entflammten förmlich. „Zum Teufel, nein!“

Logan legte eine Hand auf Seths Schulter. „Willst du damit sagen, dass du deine Geschwister nie vermisst hast...? Kennst du nicht das Gefühl, in einer Gruppe Menschen zu leben, denen du vertrauen kannst, die immer für dich da sind, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit? Du willst mir erzählen, dass du das alles nie vermisst hast?“

Seth sah ihn einen Moment lang an, dann senkte er seinen Blick.

„Genau darum geht es, wenn diese Kerle amerikanische Kunst verscherbeln“, fuhr Logan fort. „Unsere Identität wird dadurch Stück für Stück zerstört... wir fühlen uns dann nicht mehr als Amerikaner zusammengehörig, wir entfernen uns voneinander. Letztlich sind wir jetzt alle misshandelte Kinder, Seth. Und diese Misshandlung unseres nationalen Geistes dürfen wir nicht zulassen.“

„Warum wirst du nicht beschissener Politiker, hä? Diese Kunstverschieberei... ist das der erste Ärger, den die Brood in unserem Revier über die Bühne bringen?“

„Ja.“ „Sag das doch gleich, Logan... lass uns die Schweinehunde

stoppen.“ Logan schmunzelte, auch wenn er wegen seiner

aufgeblasenen Rede etwas verlegen war. „Kafelnikov scheint

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das Zeug nicht über LA aus dem Land zu bringen, sondern über Seattle.“

„Und du willst herausfinden, wie er das anstellt?“ „Genau. Mit wem arbeitet er zusammen und wo gehen die

Deals über die Bühne? Vielleicht können wir wenigstens ein paar Dinge retten.“

„Cool“, sagte Seth, immer noch unbeeindruckt von Logans kultureller Fahnenschwingerei. „Wo fangen wir an?“

Logan beugte sich nach vorne und öffnete ein Fenster auf einem der anderen Monitore. Es erschien das Bild eines blonden Endzwanzigers mit gepflegtem Bart neben einem Gemälde mit dem Titel „Tod auf dem Gebirgskamm“.

„Das ist Jared Sterling“, erklärte Logan. „Sieht wie ein aufrechter Amerikaner aus.“ „Aufrecht ist gar kein Ausdruck...“, antwortete Logan. „Er ist

einer der größten Kunstsammler des Landes, ein ausgewiesener Menschenfreund und Milliardär. Sein Geld hat er hauptsächlich mit Computern gemacht.“

„Sterling... Sterling. Ist das dieser Internettyp?“ „Genau, der Internettyp.“ Seth lehnte sich nach vorne und betrachtete den Grant Wood

etwas genauer. „Scheint, dass er auch etwas mit diesen – wie nanntest du das Zeug? – amerikanischen Kulturgütern zu tun hat.“

„Das hat er.“ Logan klickte weitere Fenster mit Bildern amerikanischer Kunstwerke auf. „Sterling hat all diese Bilder – ,American Gothic’... ,Whistlers Mutter’... ,Key’ von Jackson Pollock, Arbeiten von Thomas Hart Benton, Winslow Homer und diversen anderen wichtigen amerikanischen Malern... angeblich legal erworben... und dann sind sie verschwunden.“

„Verschwunden?“ „Vielleicht ist der Begriff etwas übertrieben. Er erwirbt die

einzelnen Stücke – meistens unter großem Brimborium –, behält sie eine Weile, leiht sie für ein oder zwei Ausstellungen

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an Museen aus und lässt sie dann in seiner ‚Sammlung’ verschwinden, für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.“

„Wenn sie ihm gehören, hat er doch auch das Recht dazu, oder?“

„Also... ich möchte nicht schon wieder über moralische Verpflichtungen diskutieren, Seth. Du solltest nur wissen, dass Jared Sterling als einer der rücksichtslosesten und, ja, unmoralischsten Geschäftemacher nach dem Puls gilt.“

„Selbst wenn er das Zeug ins Ausland verkauft, dann ist das doch kein Verbrechen, Logan. Der Scheiß gehört ihm doch auch, oder?“

„Ja, der ,Scheiß’ gehört ihm, dennoch ist es ein Verbrechen. Nach dem Debakel mit Cooperstown und der Freiheitsstatue gab es heftige Reaktionen, und es wurden einige Gesetze zum Erhalt des Kulturerbes verabschiedet. Das ,Kulturschutzgesetz’ von 2015 bestimmt, dass kein Gemälde auf der Schutzliste ins Ausland verkauft werden darf.“

Seth runzelte die Stirn. „Es gibt eine Liste für diese Bilder? Ist das so was wie die Liste der bedrohten Tierarten?“

„Eher eine Liste für historische Wahrzeichen. Wichtige Gebäude, die nicht für eine neue Haftanstalt abgerissen werden dürfen, so was in der Art. Jared Sterling besitzt einige der Gemälde aus der ,Liste amerikanischer Meisterwerke’.“

„Das heißt, Sterling darf diese Bilder zwar besitzen, sie aber nicht verkaufen.“

„Nicht ins Ausland. Die Gemälde würden konfisziert und er des Verbrechens angeklagt werden. Im Übrigen, so vermute ich, verschiebt er auch gestohlene Kunstwerke. Und einige seiner ‚legalen’ Transaktionen enden zum Beispiel damit, dass – wie im jüngsten Fall – der ursprüngliche Besitzer seiner Neuerwerbung kurz darauf tot an einen Strand gespült wird.“

Das Erwähnen eines Mordes hatte nun endgültig Seths Aufmerksamkeit geweckt. „Und welche Rolle spielen wir?“

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„Sterling geht ganz offensichtlich sehr besonnen vor. Möglicherweise benutzt er dieselben dunklen Kanäle wie Kafelnikov, oder die beiden arbeiten sogar zusammen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Russe genau deswegen nach Seattle gekommen ist.“

„Willst du damit sagen, dass Sterlings Machenschaften uns zu den Machenschaften des Typen aus LA führen?“

„Mein Instinkt sagt, es sind ein und dieselben Machenschaften.“ Logan reichte Seth ein Stück Papier mit einer Adresse und ein paar Geheiminformationen, die er sich auf seine Art aus dem Internet besorgt hatte. „Dein nächster Stopp...“

Seth warf einen schnellen Blick auf das Papier und prägte sich alles in Sekundenbruchteilen ein. Dann legte er das Blatt beiseite. „Du bist der Boss“, sagte er leicht sarkastisch.

Logan begleitete ihn zur Tür. „Und tu mir bitte einen Gefallen, Seth.“

„Welchen?“ „Bring ihn nicht gleich um!“ „Wen meinst du jetzt? Sterling oder den Russen?“ „Keinen von beiden.“ Seth zuckte mit den Schultern. „In Ordnung. Obwohl... nimm

den Russen, zum Beispiel. Schau dir an, wie er die Kids massakriert hat. Der Kerl ist ein echter Schweinehund, und er steht mit Manticore in Verbindung! Wäre die Welt ohne ihn nicht besser dran?“

„Mir geht es nur um Informationen, Seth.“ Seth schüttelte den Kopf. Er konnte Logan nicht begreifen.

„Wenn dieser Kasselrock das Problem ist...“ „Kafelnikov.“ „... dann wäre das Problem mit seinem Tod doch aus der

Welt geschafft... zumindest der Teil, den er dazu beiträgt.“ Logan ergriff den Arm des X5. „Seth, wenn du ihn

umbringst, werden wir niemals erfahren, was mit den Bildern

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passiert ist, die er schon geschmuggelt hat... vorausgesetzt, er hat überhaupt etwas mit der Sache zu tun.“

„Wenn die Bilder weg sind, dann sind sie eben weg. Was soll’s?“

Logan war nicht sicher, ob Seth ihn nur auf den Arm genommen hatte oder tatsächlich so blutrünstig war. Wünschenswerterweise Ersteres. Doch allein die Tatsache, dass er auch die andere Möglichkeit in Betracht ziehen musste, beunruhigte ihn...

„Seth, wir müssen herausfinden, ob Kafelnikov mit Manticore unter einer Decke steckt. Und wenn ja, wie und warum. Das ist im Moment unsere heißeste Spur!“

„Es macht dir hoffentlich nichts aus, wenn ich mich von diesem Umstand eher motivieren lasse als davon, irgendwelche amerikanischen Kulturgüter zu retten!“, sagte Seth.

„Nicht im Geringsten. Aber pass mir gut auf deinen amerikanischen Hintern auf, mein Freund. Dieser Russe, dessen Name du dir einfach nicht merken willst...“

„Kafelnikov“, erwiderte Seth und offenbarte somit, dass er die ganze Zeit nur Spaß gemacht hatte.

„Genau. Jedenfalls ist er sehr gefährlich, Seth.“ Seth war schon beinahe aus der Tür, als er sich noch einmal

kurz umdrehte. „Ich bin sehr gefährlich!“ Logan wusste darauf nicht zu antworten.

Manticore, Zentrale Gillette, Wyoming, 2019

Colonel Donald Lydecker trommelte mit den Fingern ungeduldig auf seinem Schreibtisch.

Hätte Max ihn sehen können, wäre ihr sicherlich aufgefallen, wie wenig er sich seit dem Ausbruch der X5 vor zehn Jahren verändert hatte. Lydecker sah für sein Alter immer noch gut

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aus, trotz des Alkoholproblems, das er seit langem mit sich herumschleppte. Sein blondes Haar wies zwar bereits ein paar graue Strähnen auf, aber es war so dicht wie eh und je. Die kalten blauen Augen hatten sich insofern verändert, dass er nun eine Lesebrille benötigte und in den Augenwinkeln sich die Anzahl der „Lachfalten“ erhöht hatte. Seinen Körper hielt er weiterhin gut in Form, auch wenn es ihm mit zunehmendem Alter etwas schwerer fiel. Er war immer noch straff und muskulös.

Lydeckers Büro enthielt nichts, was nicht mit seinem Job zu tun hatte. Die Wände und die Decke waren pastellgrün. Die Aktenschränke, die Stühle, der Schreibtisch und sein Computertisch dagegen einheitsgrau. Nicht ein einziger persönlicher Gegenstand schmückte seinen Schreibtisch oder irgendeinen anderen Teil dieses humorlosen Raumes. Nur sein schwarzes T-Shirt, die Hosen und eine Lederjacke ragten aus der ansonsten äußerst nüchternen Umgebung hervor.

Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Schreibtisches, standen zwei Untergebene: Jensen – ein Jungspund Anfang zwanzig – und Finch, ein Afroamerikaner Mitte bis Ende dreißig. Sie standen stramm, trotz Zivilkleidung – Anzug und Krawatte –, und Lydecker glaubte bei beiden ein leichtes Zittern erkannt zu haben.

Es gefiel ihm, dass sie Angst vor ihm hatten, denn Angst bedeutete für ihn dasselbe wie Respekt. Er atmete langsam aus, um sich zu beruhigen und seine Gedanken zu fixieren, genau so wie er es seinen Kindern beigebracht hatte.

„Ich habe einen Bericht über einen unserer männlichen X5 gesehen.“

„Ja, Sir“, antworteten die beiden gleichzeitig. „Und was denken Sie, woher ich diesen Bericht habe?“ Die beiden sahen sich kurz an, drehten die Köpfe wieder

zurück und hielten ihre Augen geradeaus, wortlos.

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„Vielleicht habe ich ihn von unserem Informationsdienst? Was denken Sie, Mr Jensen? Habe ich den Bericht von unserem Informationsdienst?“

„Nein, Sir.“ „Und was denken Sie, Mr Finch?“ „Ja, Sir... ich meine... nein, Sir...“ Lydecker seufzte, ein wenig zumindest. „Ich habe ihn von

SNN.“ Die beiden starrten geradeaus, als wären sie aus Stein

gemeißelt... nur dass Stein eben nicht zitterte. „Können Sie mir erklären, wie SNN eines unserer Kinder

finden kann, wir aber nicht?“ Finch und Jensen wussten darauf keine Antwort. „Mr Finch, ich möchte, dass unsere Leute spätestens in einer

Stunde bei SNN sind.“ „Ja, Sir“, antwortete Finch. „Mr Jensen, ich will wissen, woher diese Aufnahmen

stammen.“ „Ja, Sir.“ „Und ich will die Informationen nicht erst morgen.

Wegtreten.“ Die zwei Männer salutierten und verließen das Büro. Lydecker widmete sich wieder seinem Fernsehgerät und dem

Videorekorder auf einem Wagen neben seinem Tisch. Er spielte das Band erneut ab. Die grobkörnige Aufnahme zeigte einen jungen Mann. Lydecker erkannte sofort, dass es sich um einen X5 handelte. Die athletischen Bewegungen des Jungen deuteten entweder auf Zack oder Seth hin. Die beiden waren nicht nur die ältesten, sondern auch immer die besten Sportler des X5-Programms gewesen.

Er bewunderte die Gewandtheit des jungen Mannes auf dem Video, die Schönheit seiner Bewegungen und die Disziplin. Wenn alle seine Kinder sich nur annähernd so entwickelt hatten wie dieses Exemplar, dann hatten sich seine

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Erwartungen und Träume voll erfüllt. Als er seine Schöpfung dabei beobachtete, wie er fünf Polizisten in weniger als vierzig Sekunden das Licht ausknipste, wallte in ihm auch ein gewisser elterlicher Stolz auf.

Dreizehn von ihnen waren in jener Nacht entkommen, eine Gruppe von zwölf Kindern und ihr Anführer, Zack. Seth war sofort gefasst worden, konnte jedoch die zwei Wächter überwältigen und im folgenden Durcheinander wieder entwischen. Seither hatte der Colonel seine Zeit ausschließlich mit der Suche nach den entflohenen Kindern verbracht.

Die Unzufriedenheit seiner Vorgesetzten über die unrühmliche Fangquote war ihm sehr wohl bewusst. Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn er hatte seine Kinder so gut ausgebildet, dass er bei der Suche nach ihnen nun wie ein unfähiger Idiot aussah. In zehn Jahren hatte er gerade mal zwei von ihnen aufgespürt. Er dachte immer noch an die Verachtung in den Augen des Generals: „Sie wollen mir erzählen, dass sie nicht fähig sind, eine Horde kleiner Kinder einzufangen?“

Kleine Kinder. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs war das jüngste der Kinder

sieben Jahre alt gewesen. Das bedeutete sechs Jahre harte Manticore-Ausbildung... Kavi war der Erste gewesen, den sie erwischt hatten, nach mehr als fünf Jahren. Und eigentlich war es Zufall, als sie in Wolf Point, Montana, über ihn gestolpert sind.

Finch war zu dieser Zeit in der Region unterwegs und hatte angehalten, um einigen Jungs beim Baseballspielen zuzuschauen. Kavi, er war gerade mal zwölf, warf den Ball vom Outfield bis zum Home Plate – jeder Profispieler hätte ihn darum beneidet – und Finch wusste sofort, woher das Kind diesen goldenen Wurfarm hatte.

Zweieinhalb Jahre später hatten sie Vada, ein Mädchen, das zum Zeitpunkt des Ausbruchs elf gewesen war, in der Wüste

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vor dem Amargosa Valley in Nevada eingekreist. Sie war mittlerweile zu einer wohlgeformten jungen Frau in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen mit weichem braunem Haar, riesigen braunen Augen und vollen, sinnlichen Lippen herangewachsen.

Lydecker wurde im Angesicht der sexuellen Anziehungskraft eines seiner Kinder von einem eigenartigen Schuldgefühl... oder Verlegenheitsgefühl erfasst. Er konnte jedenfalls nicht leugnen, dass Vadas erblühender Körper für weitaus andere Sünden bereit war, als die, für die man ihn vorgesehen hatte.

Nachdem sie drei seiner besten Leute außer Gefecht gesetzt hatte ohne selbst ins Schwitzen zu kommen, hatte Lydecker seine Waffe gezogen und sie gewarnt.

Sie verfluchte ihn und rannte wie eine wildgewordene Bestie mit geballten Fäusten auf ihn zu.

Als Lydeckers Kugel sie zwischen ihren hübschen Brüsten traf, überkam ihn überraschenderweise das Gefühl, etwas verloren zu haben.

Es war Notwehr, versuchte er sich einzureden. Aber so einfach war das nicht. Immerhin war Vada ein Teil

von ihm. Er hatte sich immer wieder gesagt, dass dies nun mal seine Aufgabe war. Und wenn jemand seine Kinder töten musste, dann am besten er selbst, denn im Grunde war er für die X5 verantwortlich.

Außerdem war Vada schließlich nicht die Erste. Nach der unerfreulichen Sache in Los Angeles – mit dem

Russen und seinem Mob Geschäfte zu machen war ihm zutiefst zuwider – war Lydecker erneut mit leeren Händen nach Manticore zurückgekehrt. Den verblüffenden Berichten über eine dunkelhaarige junge Frau zufolge konnte es sich nur um eine X5 handeln, vielleicht Jondy... oder Max.

Er hatte dieses Massaker im Chinese Theater unterstützt, es sogar ein bisschen herausgefordert... aber es war absolut nichts dabei herausgesprungen.

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Das Videoband bedeutete nun eine erneute Möglichkeit, einen X5 zu stellen. Und dieses Mal wollte er sich die Chance nicht entgehen lassen...

Lydecker nahm den Telefonhörer ab und gab Anweisungen für seinen Flug nach Seattle. Was auch immer seine Männer bei SNN herausfanden oder nicht herausfanden, er musste dorthin.

Eines seiner Kinder war in Seattle aufgetaucht... ... und „Daddy“ wollte es wieder sehen.

Engidyne Software Seattle, Washington, 2019

Das Kind, hinter dem Lydecker her war, schlich durch den Flur im obersten Stockwerk von Engidyne Software, der Firma von Jared Sterling. Seth hatte die Alarmanlage überbrückt und war über ein Fenster in der Kantine eingestiegen.

Dieses Stockwerk des vorrangig aus Stahl und Glas gebauten sechsstöckigen Vorstadtkastens war dem obersten Management vorbehalten – sechs Typen, die dank der Engidyne-Aktien zu Millionären geworden waren. Während in den anderen Stockwerken noch vereinzelt unterbezahlte Computerverrückte in ihren Kaninchenställen heftig auf eine nie eintretende Beförderung hinarbeiteten, hatten die sechs Manager es nicht mehr nötig, so spät abends noch zu arbeiten. Entsprechend war die Etage gespenstisch still. Nur eine kleine Wächtermannschaft war zu ihrer Sicherung anwesend. Sie hatte ihre festgelegte Runde bereits beendet.

Der Flur, den Seth entlanglief, war mit einem feudalen Teppich ausgelegt. An den mit teurer Eiche verkleideten Wänden hing eine Auswahl von Sterlings goldgerahmter Kunstsammlung. Optisch zumindest war die Etage wie ein weiterer Teil seines Landhauses und erinnerte nicht im

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Geringsten an das Flair einer Firma. Um dem Blick der Überwachungskameras zu entgehen, hielt sich Seth wie eine Spinne eng an die Wand gepresst. Die Kameras waren zwar raffiniert versteckt und fielen somit kaum auf, hatten jedoch einen Schwachpunkt: Sie waren unbeweglich, das hieß, man konnte sie ausmanövrieren.

So gelangte Seth – auch mit Hilfe von Logans Hinweisen – problemlos in Sterlings Büro. Doch selbst ohne Logans Hilfe hätte Seth die egomanische Aufschrift in Gold auf schwarzer Tafel an Sterlings massiver Bürotür garantiert nicht übersehen. Seth knackte das Schloss und trat ein.

Er befand sich nun in einem großzügig angelegten Empfangsraum. Rechts stand der Schreibtisch von Sterlings Assistentin Alison Santiago, wie das Namensschild verriet.

Die Tür zu Sterlings eigentlichem Büro war abgeschlossen. Dreieinhalb Sekunden später hatte Seth das Schloss geknackt, trat ein, machte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie wieder. Falls einer der Wächter doch noch einen Kontrollgang absolvierte, würde eine verschlossene Tür keinerlei Aufsehen erregen. Das bedeutete zwar, dass er seinen Auftrag im Dunkeln verrichten musste, doch mit ein bisschen Mondlicht – er hatte die Jalousien leicht geöffnet – und seiner angeborenen Nachtsicht war das alles kein Problem.

Dann begann er mit seiner ausgiebigen Durchsuchung. Die Oberfläche des Schreibtisches war gähnend leer und

nicht ganz so groß wie eine Kunsteisbahn. Sterlings Computer stand auf einem kleineren Tisch dahinter. Und die Wand an der Rückseite des Computers war ein einziges riesiges Gemälde...

Seth sah sich abgeschlagenen Armen und Stierköpfen gegenüber, weinenden Frauen und toten Menschen... das bizarrste Gemälde, das er jemals gesehen hatte. Er fragte sich, welch durchgeknallte Gedanken wohl im Kopf eines Künstlers gehaust hatten, der eine solch grauenhafte und zugleich so unbestreitbar schöne Szene schaffen konnte.

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Und er fragte sich, was im Kopf eines Mannes abging, der sich ein derartiges Bild ins Büro hängte und Tag für Tag dieser Collage aus grausamen Eindrücken ausgesetzt war. Wer um alles in der Welt konnte diesen Albtraum in Öl nur im Geringsten entspannend oder inspirierend finden?

Seth setzte sich an den Computer, berührte eine Taste und der Flachmonitor schaltete sich automatisch an. Der Computer selbst lief bereits.

Welch aufmerksamer Gastgeber, dachte Seth und begann damit, Sterlings Code zu knacken.

Das Sicherheitssystem gab überraschend schnell nach, denn immerhin befand man sich in den Räumlichkeiten einer nicht unbedeutenden Computerfirma. Andererseits waren die X5 während ihrer Ausbildung besonders gut auf solche Aufgaben vorbereitet worden und hätten wohl das beste System auf den Prüfstand gestellt. Als Seth das System geknackt hatte, durchsuchte er Tausende von Dateien, ohne Erfolg.

Ein Ordner schien viel versprechend, aber er war verschlüsselt und hatte ein spezielles Passwort. Was immer er auch versuchte, der Ordner ließ sich nicht öffnen. Seth war ziemlich schnell angepisst – seine Toleranzgrenze war zugegebenermaßen sehr niedrig.

Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen gab er auf und kopierte die Daten auf eine CD. Dann verwischte er seine Spuren und machte sich auf den Weg nach draußen. Im Büro der Assistentin öffnete er vorsichtig die Tür zum Korridor und schaute sich um. Wunderbar, niemand zu sehen.

Seth hatte die Hälfte des Weges zur Kantine zurückgelegt, durch die er das Gebäude wieder verlassen wollte, als eine Wache auftauchte. Der Typ war ziemlich beleibt und etwa Mitte fünfzig, wahrscheinlich ein Expolizist, der hier die Zeit bis zu seiner Pensionierung absaß. Er besaß keine Feuerwaffe, aber einen Tazer und trug ein Walkie-Talkie am Gürtel.

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Seth folgte dem Mann den Flur entlang bis zur Kantine. Sofern er einfach weiterging, konnte Seth problemlos abhauen.

Der Wächter warf einen flüchtigen Blick in die Kantine... und blieb stehen.

Seth konnte sich nicht vorstellen, dass der Typ tatsächlich das offene Fenster entdeckt hatte, aber zum Teufel, er hatte! Hier stand er nun, Seth, ein junger schlanker, genetisch hochfrisierter Supersoldat, keine fünf Meter vom Ausstiegsort entfernt, und dieser fette alte Typ musste ausgerechnet jetzt unter Beweis stellen, wie gut er seinen Job beherrschte.

Der Fettsack griff nach dem Funkgerät an seiner Hüfte und drehte seinen Kopf den Flur entlang in die andere Richtung. Offenbar suchte er nach weiteren Anhaltspunkten für einen möglichen Eindringling.

Seth hatte gehofft, hier ein- und wieder aussteigen zu können, ohne Spuren zu hinterlassen. Das schien nunmehr unmöglich. Die Wache hielt das Walkie-Talkie in der Hand und war bereit, einen Warnruf zu senden. Wenn Seth nicht sofort eingriff, würden weitere – vermutlich schlankere – Wachen innerhalb kürzester Zeit hier aufkreuzen. Die Alternative, den Typen gleich auszuschalten, hätte letztlich aber auch nicht verhindert, dass Sterling von dem Einbruch erfuhr...

In Manticore und in seinem bisherigen Leben auf der Straße hatte Seth gelernt, immer das kleinere Übel in Kauf zu nehmen.

Der Wächter hatte gerade sein Funkgerät vors Gesicht gehalten und noch einmal tief durchgeatmet, als Seth ihm einen harten Schlag ins Genick verpasste. Er sackte zusammen wie ein fetter Klapptisch und schlug etwas ungeschickt gemeinsam mit dem Walkie-Talkie auf dem Teppichboden auf. Seth schnappte ihn am Kragen und wollte ihn wegziehen.

„Hei!“ Die Stimme kam von hinten. „Was zum Teufel...?“

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Da war noch eine Stimme. „Was ist denn hier los?“ Und noch eine! Seth drehte sich zum Eingang der Kantine und sah vier

weitere Wachen mit Sandwiches um einen großen Tisch sitzen. Zwei der Stühle waren noch leer. Acht überraschte Augen waren nun schlagartig auf den schockierten Seth gerichtet.

Scheiße, dachte der X5. Der Fettsack hatte das offene Fenster überhaupt nicht registriert. Er hatte einfach nur den Letzten des Sicherheitsteams zu einer gemeinsamen mitternächtlichen Pause einladen wollen.

So viel zum Thema ‚sauberer Einbruch’. Seth zögerte keine Sekunde. Man hatte ihm beigebracht,

immer den Überraschungseffekt zu nutzen... und die Überraschung auf ihren Gesichtern empfand Seth als Einladung, ihnen in der Kantine Gesellschaft zu leisten.

Als die erste Wache sich vom Tisch erhob, schob Seth ihm erstmal seine Faust unter die Nase. Der Schlag war so hart, dass der Typ bewusstlos – vielleicht sogar tot – umkippte.

Noch bevor er auf den Boden knallte, schnappte sich Seth dessen Tazer und zielte damit auf den Kerl auf der anderen Seite des Tischs – einen Jungen etwa im gleichen Alter. Zwei Pfeile landeten in seiner Brust, und die elektrische Ladung ließ ihn zu Boden fallen, um dort einen zuckenden Tanz auf dem Rücken zu vollführen.

„Ich bring dich um!“, brüllte einer der übrig geblieben Wachen – ein Exsoldat mit Quadratschädel –, stand auf und griff nach seinem Tazer. Urplötzlich, wie im Film, stand Seth neben ihm und feuerte die Waffe noch in ihrer Halterung ab. Die mit Strom geladenen Pfeile versenkten sich durch die Hose in das Bein der Wache und überzeugten ihn davon, eine eigene Variante des Riverdance zum Besten zu geben, bevor er schließlich als verkrampftes Häufchen zusammenbrach, um

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gemeinsam mit seinem Kollegen am Boden ein Duett zu präsentieren.

Seth genehmigte sich ein Lächeln. Das gab offensichtlich dem Letzten der Viererbande – eine weitere übergewichtige Verschwendung an Uniformstoff – den Rest, und erweckte in ihm den Drang, einfach abzuhauen.

Der X5 lief ihm hinterher – rennen war nicht notwendig –, packte ihn am Hinterkopf und lenkte ihn durch gezielte Führung, mit dem Gesicht nach vorne, direkt in den Türrahmen. Mit einer glänzend roten Clownsnase inmitten einer bemitleidenswerten Mimik, sackte er dort umgehend auf die Knie.

Der rotnasige Wächter war noch nicht bewusstlos und hatte somit ausreichend Zeit für ein „Bitte nicht!“, bevor ihn Seth mit einem rechten Haken ans Kinn ins Bettchen brachte. Dort schlummerte er friedlich wie eine umgefallene Topfpflanze und versperrte den Weg zur Kantine.

Nach dieser Aktion gab es für Seth keine Möglichkeit mehr, die Spuren seines Einbruchs zu verdecken. Er konnte aber dafür sorgen, den Sinn und Zweck der Operation zu vertuschen. Und so ganz nebenbei auch seine finanzielle Situation etwas aufzufrischen.

Er sprang über die schlummernde rotnasige Wache und spurtete zurück in den Flur mit den Gemälden, wo er mit der letzten Wache zusammenprallte. Die beiden formten einen Hügel sich krümmenden Fleisches, und jeder versuchte erstmal, sich in eine günstige Position zu bringen. Seth war natürlich der Stärkere, doch der Wächter war beweglich, jung und bewahrte einen kühlen Kopf.

Es gelang ihm sogar, einem Großteil von Seths Schlägen auszuweichen und ihn mit einem Ellbogenschlag zwischen die Beine – was zu einem Anflug von Brechreiz führte – und einem anderen ins linke Auge – was den X5 benommen machte – zu überraschen.

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Kaum war der Wächter dann auch noch zum Stehen gekommen, um erfolgreich nach seinem Tazer zu greifen, war erstmal wieder Seth an der Reihe und fegte seinen Gegner umgehend wieder von den Beinen. Er knallte – mit seinem Hinterteil voran – auf den Boden, und der Tazer flog irgendwohin durch die Luft davon.

Nun stand Seth wieder auf den Beinen, und sein Widersacher versuchte, das soeben selbst erlittene Fegemanöver in umgedrehter Variante zu wiederholen. Doch Seth sprang rechtzeitig hoch und wich dem Schlag geschickt aus.

Von oben blickte er respektvoll auf den Wächter herab. „Gut gemacht. War’s das jetzt?“

Der Wächter schaute heftig blinzelnd nach oben und versuchte offenbar zu begreifen, was hier vor sich ging.

„Haben Sie Handschellen?“, fragte Seth beiläufig. „Ich werde Sie Ihnen anlegen und dann verschwinden.“

Der Wächter schüttelte den Kopf. Ob aus Protest oder einfach nur um den Kopf frei zu bekommen, konnte Seth nicht beurteilen. Als der Wächter sich noch einmal aufbäumte, schickte ihn Seth nun endgültig mit einer knallharten Rechten und einem daraus resultierenden Kieferbruch in einen tiefen Schlaf.

„Das ist auch eine Art, sich Handschellen anlegen zu lassen“, brummelte Seth vor sich hin.

Nun hatte er endlich ein wenig Zeit, sich ein paar der Gemälde in Ruhe anzuschauen. In seinem bisherigen Leben hatte es keinen Moody gegeben, und in Manticore war Kunstgeschichte kein Hauptfach gewesen. Er entschied sich für sechs Bilder, die ihm einfach nur gefielen und schnitt sie mit einem Klappmesser aus ihren schweren Rahmen. Dann rollte er sie wie eine Tapete zusammen und machte sich wieder auf den Weg in die Kantine.

Die Wachen dort waren immer noch bewusstlos – einer oder zwei lagen im Koma oder waren sogar tot –, aber Seth war das

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völlig egal. Er fühlte sich großartig. Diese Aktion hatte ihm so richtig Spaß gemacht. Er kletterte aus dem Fenster und verschwand in der Dunkelheit.

Logan Cales Apartment Seattle, Washington, 2019

Logan Cale nahm Seth die CD aus der Hand und legte sie in das Laufwerk seines Computers. Währenddessen erzählte der X5 von seinem nächtlichen Abenteuer.

„Was hast du gemacht?“ Seth grinste selbstzufrieden. Logan hatte ihn noch nie so

glücklich gesehen. „Es sieht jetzt aus wie ein Raubüberfall“, erklärte der X5.

„Wenn wir Glück haben, bemerkt Sterling von dem Einbruch in sein Computersystem rein gar nichts.“

Ein wirklich kluger Schachzug, musste Logan zugeben. Seths letzter Auftrag hatte schließlich mit einem Mord geendet... und dieses Mal war es nur schwerer Diebstahl, tätliche Bedrohung und Körperverletzung. Vielleicht ließ sich das bei zukünftiger Zusammenarbeit sogar auf einen einfachen Verkehrsdelikt reduzieren.

Dennoch schüttelte Logan den Kopf. „Was hast du mitgehen lassen?“

„Sechs Bilder.“ „Und wo sind sie, Seth?“ „Im Kofferraum. Kennst du ’nen guten Hehler?“ Logan starrte Seth an, als würden ihm Blumen aus den Ohren

wachsen. „Du machst Witze, oder? Diese Bilder sind möglicherweise wichtige Beweismittel in einer Verhandlung gegen Sterling. Und vielleicht können wir sie sogar in Zusammenhang mit dem Russen bringen.“

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Seth zuckte mit den Schultern. Es interessierte ihn nicht die Bohne. „Da hängen noch ein paar mehr rum. Dachte mir, ich verdiene ’n bisschen Kleingeld damit.“

Kleingeld, dachte Logan. Die bringen bestimmt einige Millionen...

„Hol sie hoch!“, befahl er Seth. „Hei, die gehören mir! Deinen beschissenen Auftrag habe ich

erledigt... und der Rest ist – wie nennst du das immer?– schmückendes Beiwerk.“

„Seth!“ Logan versuchte ihn zu beruhigen. „Hier geht es um mehr als Geld.“

„Du kannst so was leicht sagen, Donald Trump!“ „Sterling ist vielleicht die Verbindung zu Manticore.“ Seth atmete ganz langsam. „Okay, du darfst sie dir

anschauen... mehr aber nicht.“ Während Seth die Bilder holte, versuchte Logan an die Daten

auf der CD zu kommen. Er bemerkte jedoch schon bald, dass dies einige Zeit und Konzentration in Anspruch nehmen würde und entschied daher bis später zu warten.

Der X5 kam schon bald zurück und breitete die Bilder auf dem Sofa und auf dem Boden der Wohnung aus.

Eyes Only traute seinen Augen nicht. Natürlich hatte er gewusst, dass Sterlings Kunstsammlung

äußerst exquisit war, doch von derlei Dimensionen war er nie ausgegangen. Allein die Vorstellung, dass diese Gemälde – N.C. Wyeth, Charles Russell, Norman Rockwell, Frederick Remington, Jackson Pollock und John Singer Sargent – völlig beiläufig im Korridor von Sterlings Firma aufgehängt waren, machte Logan regelrecht sprachlos.

„Lass sie mir hier“, schlug er schließlich vor. „Ich werde sie einem Kunstexperten vorlegen.“

Seth sah ihn entrüstet an. „Ich bin doch nicht bescheuert! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich die Bilder hier lasse, oder?“

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„Wir müssen sie auf ihre Echtheit prüfen lassen, Seth.“ „Sehe ich wirklich so bescheuert aus?“ „Ist das eine Fangfrage? Ich meine, wenn du einen guten

Preis aushandeln willst, musst du erstmal wissen, was das Zeug wert ist.“

Seth dachte kurz über diesen Vorschlag nach. Dann schüttelte er den Kopf. „Du kümmerst dich um den Kunstexperten. Und wenn du einen hast, pieps mich an... dann komm ich mit den Bildern.“

„Okay“, seufzte Logan. „Okay.“ Seth rollte die Gemälde wie billige Kunstdrucke zusammen.

„Wenn ich bis morgen Abend nichts von dir gehört habe, versuch ich’s auf eigene Faust bei einem Hehler.“

„Und wenn ich bis dahin niemanden auftreibe?“ „Was das betrifft, hab ich vollstes Vertrauen in dich. Das ist

doch umgekehrt nicht anders Logan, oder?“, antwortete Seth und grinste mit einer Jungenhaftigkeit, die selbst James Dean in diesem Moment nicht hätte überbieten können.

Dann packte er die zusammengerollten Gemälde unter den Arm und ließ sich zur Tür begleiten.

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10. Kapitel_________________________ DIE PARTY

Sterlings Villa Seattle, Washington, 2019

Max durchstöberte Kendras Klamotten auf der Suche nach etwas, mit dem sie sich in Schale werfen konnte. Diese knappen sexy Kleidchen hatte sie bisher immer gemieden. Wenigstens war das schwarze trägerlose Minikleid, das sie sich nun überstreifte, nicht so trashig wie die anderen. Im Gegenteil, es strahlte eine gewisse Eleganz aus. Und mit dem schicken Kristallgürtel kam das gesamte Outfit – vor allem ihre hübschen Beine, ihr Dekolletee und ihre makellosen gebräunten Schultern – noch besser zur Geltung. Sie setzte sich an den Schminktisch ihrer Mitbewohnerin und schlüpfte in schwarze, knöchelbrecherisch hohe Pumps, die mit jeder in Manticore praktizierten Foltermethode locker hätten konkurrieren können.

„Du siehst toll aus, Mädchen“, bemerkte Kendra mit einem bewundernden und beinahe neidischen Lächeln. „Scharf und stilvoll.“

Auch Original Cindy, die vorbeigekommen war, um fürs passende Styling zu sorgen, wollte ihren großen schönen braunen Augen kaum trauen und schüttelte überrascht den Kopf.

„Wenn du so weitermachst, nimmt dich Original Cindy sofort in ihr Team auf, Boo!“

Max konnte sich vor Lachen kaum zurückhalten und auch Kendra und Cindy genehmigten sich eine kleine Kicherrunde.

„Das habt ihr zwei verdammt gut gemacht. Ihr solltet euch mal beim Fernsehen bewerben.“ Max schaute in den Spiegel

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und bemusterte sich von allen Seiten. „So sehr ich mich auch bemühe, von der knallharten Lederbraut ist nichts mehr zu erkennen...“

„Die Lederbraut steckt schon noch in dir“, beruhigte sie Original Cindy. „Wart’s ab, sobald einer an dir rumschraubt, kommt sie gleich wieder zum Vorschein.“

„Aber diese Schuhe...“, sagte Max und versuchte die Balance zu halten. „... die sind ja noch straffer als Normals Hintern.“

O.C. lachte, aber Kendra zuckte nur mit den Schultern. „Bessere hab ich nicht, tut mir Leid. Meine Füße sind eben ein bisschen kleiner als deine... Cin, hast du vielleicht was Passendes?“

„Wie kommst du denn darauf? Mit meinen Riesenfüßen könnt ihr es doch beide nicht aufnehmen... versteht mich nicht falsch, Original Cindy ist trotzdem verdammt schmackhaft!“, konterte Cindy und sorgte für die nächste Kicherrunde.

„Die Pumps sind okay.“ Max schwindelte, ein wenig zumindest. Aber was blieb ihr anderes übrig? Sollte sie vielleicht ihre Turnschuhe dazu tragen?

Original Cindy stemmte die Hände in die Hüften. „Wie hast du das gedreht, Boo, wie bist du an die Einladung für Daddy Dollars Fette-Beute-Party gekommen? Sag schon.“

„Es ist keine Fette-Beute-Party, nur eine Cocktailparty“, grinste Max verlegen zurück.

Original Cindy zog eine Augenbraue hoch. „Gibt es wenigstens Musik?“

„Davon gehe ich mal aus.“ Original Cindy zog die zweite Augenbraue hoch. „Da hängen

bestimmt auch jede Menge Knackärsche mit ’ner Beule in der Hose rum, oder?“

„Ganz sicher, das weißt du doch“, lächelte Max und seufzte erleichtert auf.

Cindy drehte sich zu Kendra und die beiden begannen ein spontanes Hüft-Tänzchen. „Beute-Party, Beute-Party.“

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„Ihr seid ja drauf“, lachte Max unschuldig. Die beiden anderen konnten sich das Lachen nicht mehr

verkneifen. Kendra ging hinüber zu ihrem Nachttischchen, öffnete die Schublade, nahm etwas heraus und drückte es Max in die Hand: ein flaches, fünf Zentimeter hohes quadratisches Päckchen in einer Plastikfolie.

Nun war Max’ Augenbraue auf dem Weg nach oben. „Du denkst aber auch an alles, wenn du dich fürs Ausgehen fertig machst.“

Original Cindy jauchzte vor Freude und tanzte aufgeregt durchs Zimmer. „Schwester, Schwester, das wird ein Spaß!“

Max fing langsam an, sich zu amüsieren. „Ich glaube zwar nicht, dass ich das brauche, nehme es aber vorsichtshalber mal mit... man kann ja nie wissen.“

Jetzt kicherten alle drei. Die Wahrheit war für Max jedoch nicht ganz so lustig. Vor kurzem hatte sich nämlich der Spritzer Katzen-DNS in ihrem genetischen Cocktail gemeldet und ihre Hormone ziemlich durcheinander gebracht. Etwa drei Mal im Jahr verwandelte sie sich in eine läufige Katze und ging vor lauter Geilheit die Wände hoch. Das war einer der eher erniedrigenden Aspekte ihrer Reagenzglas-Vergangenheit. Im Moment allerdings waren die Symptome am Abklingen, wenn auch noch spürbar.

Seit einer Viertelstunde waren Kendra und Original Cindy damit beschäftigt, Max zu schminken. Sie hatten ihr bereits das Nötigste über Eyeliner, Wimperntusche, Lidschatten, Rouge und Lippenstift erklärt. Weibliche Kriegstechniken, die Manticore nicht trainiert hatte, und die auch Moody irgendwie übersehen haben musste.

Max’ Geduld war langsam am Ende. „Muss ich wirklich aussehen wie ein Pornostar?“

Kendra war etwas enttäuscht. „Du willst doch einen guten Eindruck machen, oder?“

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Max grinste. „Aber doch nicht in der Hose eines dieser Typen!“

„Boo!“, rief O.C. „Du musst einfach denen mit der nötigen Erfahrung in solchen Dingen vertrauen. Original Cindy und Schwester Kendra kennen sich da bestens aus.“

Ihr Outfit an diesem Abend war wirklich wichtig. Max hatte ihren Freundinnen erzählt, sie ginge auf eine Cocktailparty – was der Wahrheit entsprach. Und dass ein sehr reicher Mann sie dazu eingeladen hatte – was eine Lüge war. Den wahren Grund hatte sie natürlich verschwiegen.

O.C. wackelte mit dem Zeigefinger. „Wenn du dir heute Abend einen reichen Fisch angelst, Boo, dann vergiss bitte nicht, wer dich so herausgeputzt hat!“

Max bewunderte ihr Spiegelbild. Sie war überrascht, wie gut sie aussah – ziemlich gut. „Trotzdem ist es letztlich auch mein Charme, der ihn angelt, oder?“

„Das bestreitet niemand, Schwester... wirklich nicht“, sagte Original Cindy und sah ihre Freundin wehmütig an.

Kendra legte ihre Hände auf Max’ Kopf. „Jetzt halt mal still, sonst schaffen wir es nie, diesen Kürbis in das Gesicht einer schönen Prinzessin zu verwandeln.“

Original Cindy schien über diesen Kommentar nachzudenken. Etwas stimmte da nicht.

Danach ließ Max eine 45-minütige Tortur über sich ergehen. Am Ende war sie ziemlich erstaunt, wie sorgfältig ihre beiden Freundinnen gearbeitet hatten. Es sah wirklich so aus, als trüge sie überhaupt kein Make-up. Sie zog das schwarze Minikleid an, machte eine letzte Drehung vor dem Spiegel und war völlig entzückt vom Glanz ihrer dunklen Locken und von der Feststellung, wie anschmiegsam das Kleid sich anfühlte – beinahe wie ein angenehmer Liebhaber. Sie war zufrieden und bereit zur Arbeit zu gehen...

Nach ihrem letzten Besuch in Sterlings Villa – als Einbrecherin auf Katzenpfoten mitten in der Nacht – hatte sich

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Max eine neue Strategie überlegt, wie sie sich Zugang zum Haus beschaffen und Informationen vom Schlossherren verschaffen konnte. Mittlerweile hatte sie einiges mehr über Jared Sterling herausgefunden.

Zum einen war Sterling nicht der aufrichtige Vorzeigebürger, den die offizielle Medienwelt der Öffentlichkeit so gerne präsentierte. So sehr er sich auch darum bemühte, sich als ein Vorbild für verantwortungsbewussten Umgang mit Reichtum auszugeben, war er letztlich doch kein Förderer der Künste.

Sonst wäre Max’ kleiner Einbruch garantiert in den Nachrichten gewesen, bei SNN, auf den Titelseiten im Internet und allen sonstigen Medien der so genannten freien Welt.

Aber es wurde nirgends darüber berichtet. Die Polizeimeldungen der Tageszeitungen hatten nicht einmal einen Einzeiler nach dem Motto „Polizei reagierte auf den Alarm in...“ veröffentlicht. Wie privat Sterlings Leben auch immer war, der Einbruch hätte für Aufregung sorgen müssen. Zweifelsohne hatte die Polizei reagiert. Aber sie wurde entweder zurückgewiesen oder die Untersuchungen wurden von der Presse geheim gehalten.

Warum? Weil Sterling etwas vorhatte, das man gemeinhin als nicht

gut bezeichnet. Was das genau war konnte Max nicht sagen, aber er war

definitiv in schmutzige Geschäfte verwickelt. Ein Beweis dafür war, dass sich das Herz des Ozeans in seinem Besitz befand.

Falls es Sterling war, der die Ermordung des Chinese Clan wegen des Steines befohlen hatte, dann hätte sie ihm mit Sicherheit ordentlich zugesetzt.

Zuerst musste sie jedoch von seiner Schuld überzeugt sein. Falls er nicht mehr war als ein Sammler, der heiße Ware von einem Hehler kaufte, bedeutete das, er war nur ein Bindeglied zum eigentlichen Bösewicht. Und unter dem Aspekt, dass Manticore möglicherweise in das Massaker am Chinese Clan

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verwickelt war, konnte dieser Bösewicht durchaus Colonel Donald Lydecker höchstpersönlich sein.

Was die eher alltägliche... aber hilfreiche Ebene betraf, hatte Max erfahren, dass der Kunstsammler ein eingefleischter Single war. Er sammelte sowohl schöne Frauen als auch Gemälde, und an diesem Abend gab er eine Party, um seinen neuen Grant Wood vorzuführen... zu Hause, in seiner Villa.

In Manticore hatte Max gelernt, jede Chance zu nutzen. Und an diesem Abend bot sich eine sehr gute Gelegenheit, Jared Sterling noch einmal zu begegnen. Bei ihrem ersten kurzen Aufeinandertreffen hatte er sie nur von hinten gesehen, und soviel sie wusste, war ihr Gesicht auf keinem Sicherheitsvideo aufgezeichnet.

Bis zum Ablegeplatz der Fähre wäre Max normalerweise auf die sparsamste – und vor allem – erregendste Weise gekommen: mit ihrer Ninja. Ihr Outfit war dafür allerdings viel zu unpraktisch, und so musste sie die zehn- oder zwölffache Summe für ein Taxi investieren. Die Fähre nach Vashon Island war auch nicht kostenlos, und vom Anlegeplatz zum Eingangstor der Sterling-Villa musste sie ein weiteres Taxi nehmen.

Nachdem sie die Kosten zusammengerechnet hatte, verdrehte Max die Augen. Jetzt wusste sie, warum ausschließlich die Reichen hier draußen wohnten. Wer sonst hätte sich diesen Spaß erlauben können?

Der Taxifahrer – ein älterer dünner Typ, der aussah, als hätte er seit dem Puls nichts Ordentliches mehr gefuttert – brachte den Wagen vor dem Eingangstor zum Stehen. Ein Sicherheitsmann in schwarzem Anzug und Krawatte – dunkelhaarig, mediterraner Typ... nicht einer ihrer Spielkameraden aus jener Nacht – näherte sich mit einem Clipboard in der Hand.

Max drehte das Fenster nach unten.

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„Haben Sie eine Einladung, Miss?“, fragte er in freundlichem Ton. Sein dunkles ernstes Gesicht und seine braune Augen waren jedoch wie Laserstrahlen auf sie gerichtet.

„Oh, verdammt!“, antwortete sie und wühlte in ihrer kleinen Handtasche. „Ich habe sie irgendwo...“ Sie schaute ihn mit großen und – wie sie hoffte – reizvollen Augen an. „Ich denke nicht... und dann auch noch diese lange Fahrt hierher.“

Er lehnte eine Hand ans Fenster. „Wenn Sie mir Ihren Namen sagen, könnte ich auf der Gästeliste nachschauen.“

Aus den verschiedenen Abbildungen von Sterling mit hübschen jungen Frauen – es hatte Dutzende davon in den letzten Jahren gegeben – suchte sich Max eine kleine Brünette aus, die ihr ein bisschen ähnlich sah.

„Ich war schon einmal hier gewesen“, sagte sie. „Vor ein paar Monaten, Marisa Barton.“

An seinem Mundwinkel machte sich ein kleines Lächeln breit. „Ms Barton ist bereits im Haus.“

Max’ Lächeln erstarrte. „Okay... ich möchte ehrlich sein. Ich bin Journalistin und dies hier ist meine große Chance.“ Sie zog einen kostbaren 20-Dollar-Schein aus der Tasche. Der Guard schüttelte beinahe amüsiert den Kopf.

„Sie werden mich nicht reinlassen, oder?“ „Schlechte Karten für Sie ,Miss Barton’... ich bin schwul.

Sagen Sie ihrem Fahrer, er soll umdrehen, damit wir den nächsten Schritt nicht tun müssen. Sie würden diesen Schritt sowieso nicht mögen.“

„Ich glaube nicht.“ Sie hatte die zwanzig Dollar bereits wieder verschwinden lassen.

Max befahl dem Fahrer, den Wagen umzudrehen. Noch bevor er den Gang eingelegt hatte, lehnte sich der Guard nach unten, wie ein Erwachsener, der zu einem Kind spricht und sagte: „Übrigens, damit Sie beim nächsten Mal Bescheid wissen, Ms Barton ist jetzt blond... für eine Journalistin sind sie erstaunlich wenig heiß auf Details.“

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„Ich spare gerade für einen Assistenten“, grinste sie. Der Fahrer drehte und fuhr in Richtung Fähre. Als sie sich

außerhalb der Sichtweite befanden, bat Max den Fahrer anzuhalten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass aus beiden Richtungen kein Auto kam, stieg sie aus. Die Straße war dunkel und Sterlings Villa lag zwei Blocks zurück.

„Wenn Sie vorhaben, in diesem Kleid über den Zaun zu springen...“, sagte der Fahrer, als sie ihn durch das heruntergekurbelte Fenster bezahlen wollte. „...dann würde ich gerne hier bleiben und zuschauen.“

Sie nahm den Zwanziger wieder aus der Tasche. „Hier.“ „He, danke, Süße... wie großzügig von Ihnen.“ „Nein... das ist die Bezahlung für Ihre Amnesie. Falls Sie den

Guard warnen, hätte ich meinen Andy Jackson gerne wieder.“ „Kein Problem.“ Er nahm den Schein und sie umklammerte

sein dünnes Handgelenk. Ganz fest. Sie schaute ihm auch ganz fest in die Augen. „Wenn Sie vorhaben, mich zu verpfeifen“, sagte sie, „dann

werden Sie überrascht sein, wozu ein kleines Mädchen in solch einem Kleid fähig ist.“

„Alles klar... kein Problem“, sagte er und fuhr los. Max lief zurück in Richtung der Villa, vermied es aber

sicherheitshalber, die Straße zum Haupttor zu benutzen. Sie passierte die Stelle, an der sie bei ihrem letzten Besuch das Boot festgemacht hatte und lief weiter. Die Mauer war – trotz Minikleid – genauso wenig ein Hindernis wie beim letzten Mal, dennoch hätte der Taxifahrer mehr als genug zu sehen bekommen...

Sie schlich sich zur Vorderseite des Gebäudes und wartete, bis eine größere Gruppe von sechs oder sieben Leuten aus einer ziemlich langen Limousine ausgestiegen war und die breite Treppe in Richtung der massiven grünen Dollarnote hinaufstieg. In Höhe der Löwen schloss Max sich ihnen

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unbemerkt an und betrat zum zweiten Mal in ihrem Leben Sterlings Haus.

Auf der einen Seite des Foyers saß ein Streichquartett und sorgte mit seinen sanften unaufdringlichen Melodien für die musikalische Untermalung. Dank Moody erkannte Max das Stück als eine Komposition von Bach, auch wenn der Titel ihr im Moment nicht einfiel. Schließlich war das auch nichts, was man stehlen konnte.

Als Max das letzte Mal im Foyer gestanden war – bei ihrem Einbruch –, hatte sie sich bei weitem entspannter gefühlt als inmitten dieser Gesellschaft. Man plauderte in kleinen Grüppchen, nippte Champagner und knabberte kleine Appetithäppchen – von Kellnern in Smokinghose, weißem Hemd und schwarzer Fliege auf Silberplatten serviert. Die männlichen Gäste waren Ende dreißig bis Mitte vierzig, trugen maßgeschneiderte Anzüge und einen Hauch von Erfolg. Wie so oft waren die weiblichen Gäste gut zehn Jahre jünger als ihre Verabredungspartner, sie trugen knappe Cocktail-Kleider und einen Hauch von Überfluss.

Max hatte mit einer kurzen Panikattacke zu kämpfen. Seit den ersten Monaten nach ihrer Flucht aus Manticore hatte sie sich nicht mehr so deplatziert gefühlt wie hier.

Manche reichen Leute hatten den Puls nicht gut überstanden und waren in eine Spirale des Misserfolgs und der Armut geraten. Andere wurden reich geboren oder waren Kapitalisten – wie etwa Jared Sterling. Für diese Leute hatte es einen Puls anscheinend nie gegeben. Wohlstand war für sie wichtiger als Atmen. Vor allem die reich Geborenen hätten den Verlust ihres Reichtums nie verkraftet und wären verwelkt und verendet.

Dieser Lebensstil war Max völlig fremd. Sie hatte schon immer jeden Cent hart verdient oder gestohlen. Natürlich hatte sie in Los Angeles auch ihren Spaß auf schicken Partys und piekfeinen Veranstaltungen gehabt. Sie war allerdings immer draußen gestanden, um nach einem Juwel oder einer Tasche

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Ausschau zu halten, sobald die Reichen sich auf den Weg nach Hause gemacht hatten.

Trotz der Mühe, die Kendra und Original Cindy sich gemacht hatten, damit Max sich gut in die Partygesellschaft einfügte, war sie bisher nicht erfolgreich gewesen. Irgendwie hatten die beiden ihre Arbeit zu gut gemacht. Max hatte mit ihrem tiefgeschnittenen Dekolletee, das ihre exotische Schönheit noch mehr betonte, die Augen der Männerwelt an diesem Abend vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen. Und die Frauen brauchten nur wenige Sekunden mehr, bis ihnen Max’ einzigartige Aura aufgefallen war... und urplötzlich war Max nicht die einzige Frau im Raum mit Katzen-Genen. Sämtliche Vorzeigefrauen und -freundinnen fuhren ihre Krallen aus und warfen Max verächtliche Blicke zu.

Als ein Kellner ihr ein Glas Champagner servierte und sie anlächelte, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, nicht völlig allein in diesem Museum der Dekadenz gefangen zu sein. Er lief weiter und sie nahm einen Schluck Champagner, um sich zu beruhigen... gab sich allerdings die Anweisung, es bei einem Glas zu belassen... denn schließlich war sie hier am Arbeiten.

Auf dem Weg zur Galerie war sie wieder den Blicken faszinierter Männer ausgeliefert. Selbst wenn ich heiß wäre, dachte sie, hättet ihr Katerchen nicht die geringste Chance.

In dem riesigen Raum – wo sie sich vor nicht allzu langer Zeit mit einem Sicherheitsmann auseinanderzusetzen hatte – waren etwa fünfzig Leute versammelt. Die meisten liefen umher, bewunderten die Kunstwerke, würdigten murmelnd Sterlings Kollektion und etwa jeder oder jede Dritte versuchte, mit seinen oder ihren Kenntnissen zu imponieren.

Max schaute sich um. Sterlings Leute hatten gute Arbeit geleistet. Das Chaos, das sie bei ihrem letzten Besuch hinterlassen hatte, war nahtlos beseitigt. Die Löcher aus der Pistole des Sicherheitschefs waren nicht mehr zu sehen. Den von Maurers MP7A ruinierten Jackson Pollock hatte man

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abgehängt und durch einen anderen Pollock ersetzt. Und – zu Max’ Erstaunen – stand hinten in der Ecke, dort wo sie das Herz des Ozeans gefunden hatte, ein neuer Plexiglaskasten. Natürlich interessierte es sie sehr, welches neue Objekt man an Stelle der Halskette dort ausgestellt hatte.

Um keinen Verdacht zu erwecken, lief Max die linke Seite des Raumes entlang. Sie stellte sich hinter eine Reihe von Gästen, die sich gerade mit den Gemälden beschäftigten. Eine sehr attraktive Blondine in blauem Samtkleid – die anscheinend vor kurzem ihren Hochschulabschluss in Kunst absolviert hatte – erklärte gerade ihrem um einiges älteren Begleiter den Sinn einer Blume auf dem Gemälde von Georgia O’Keeffe. „Ein aussagekräftiges Symbol des Lebens und entstehender Weiblichkeit...“

Als Max an dem Paar vorbeihuschte, bemerkte sie, wie die Blondine ihrem Begleiter – der genauso verwittert aussah wie O’Keeffes Kuhkopf – die Hand auf den Schenkel legte. In Gedanken vertieft schaute er die Blonde an – nicht das Gemälde – und verstand die Symbolik der Blume anscheinend sehr gut.

Max schüttelte den Kopf, als sie auf der gegenüberliegenden Wand eines von Andrew Wyeths „Helga“-Bildern entdeckte. Sie ärgerte sich ein wenig, dass sie es sich bei ihrem ersten Besuch nicht unter den Nagel gerissen hatte, doch es bestand ja immer noch die Möglichkeit, die Villa demnächst ein drittes Mal zu besuchen...

Immer noch kein Zeichen von Sterling oder einem seiner Sicherheitsmänner. Max bewegte sich durch die Bündel aufgeblasener Kunstkenner, bis sie vor einem Grant Wood stehen blieb, der den Platz von „Tod auf dem Gebirgskamm“ eingenommen hatte. „Spring Turning“ war ein weiteres in Öl auf Hartfaserplatte gemaltes Bild und stammte aus dem Jahr 1936. Es zeigte unendlich weite grüne Felder, sich unter blauem Himmel windende Hügel und weiße bauschige

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Wolken. Unten im Vordergrund waren ein kleiner Mann und ein vom Pferd gezogener Pflug abgebildet. Mit seinen 46 mal 102 cm war „Spring“ ein sehr unhandliches Gemälde. Falls sie noch einmal wiederkommen sollte, würde sie es sicherlich zurücklassen.

Wieder suchte sie den Raum nach Sterling ab, er war nirgends zu sehen. Bevor sie ins nächste Zimmer ging, um ihre Suche fortzusetzen, wollte sie natürlich wissen, welches Ausstellungsstück Sterling in dem Plexiglaskasten präsentierte. Sie wartete kurz, bis die zwei Pärchen, die ihr gerade den Weg versperrten, weiterliefen. Dann trat sie nach vorne und schaute auf das schwarze Samtkissen...

... sie hielt den Atem an. Das Herz des Ozeans! Was zum Teufel...? Wie konnte der Stein wieder in Sterlings

Besitz gekommen sein? Unmöglich... der Diamant war in ihrer Wohnung versteckt und selbst Kendra wusste nichts davon.

Die Kette im Schaukasten war atemberaubend und sah genauso wie das Original aus... das war vollkommen verrückt. Mit pochendem Herz und schweißnassen Händen trat Max näher und lehnte sich nach vorne, um die Sache genauer zu betrachten. Vor dem Ausstellungsstück lag ein goldenes Schild mit folgender Aufschrift: „Das Herz des Ozeans. Eine von zwei Requisitenketten aus dem berühmten Film Titanic. Die zweite befindet sich im Hollywood Heritage Museum.“

Max dachte gerade über die Echtheit des Schmuckstückes nach, als sie plötzlich spürte, wie jemand hinter ihr auftauchte.

„Wunderschön, nicht wahr?“ Max erkannte sofort die warme maskuline Stimme. Sie

drehte sich um und sah Jared Sterling – ein großer blonder Mann, Ende zwanzig, mit stechenden blauen Augen und einem gepflegten, leicht dunklen Bart. Er trug einen schwarzen Anzug und ein bis nach oben zugeknöpftes, schwarzes kragenloses Hemd. Keine Krawatte – lässig, aber formell.

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„Wunderschön!“, sagte sie. „Für eine Fälschung.“ „Ja, eine wunderschöne Fälschung“, bestätigte Sterling mit

dem Hauch eines Lächelns. „Genau wie Sie, meine Liebe.“ Max schauderte. „Wie bitte?“ „Ist die Musik zu laut? Verstehen Sie mich schlecht?“ Er

stand jetzt direkt neben ihr und lehnte sich seitwärts in ihre Richtung. „Die Kette ist wie Sie – sehr schön, aber nicht das, was sie vorgibt zu sein“, sagte er in einem angenehmen und zugleich bösartigen Ton.

Sie lächelte. „Und was gebe ich denn vor zu sein?“ „Eine der zahlreichen hübschen, jungen Frauen, die ich auf

meine Party eingeladen habe... Sie allerdings nicht, oder?“ „Nicht hübsch?“ „Nicht eingeladen“, sagte Sterling mit einem leisen Lachen.

„Was man früher einen Party Crasher nannte.“ Sie drehte sich ein wenig, sodass sie jetzt direkt voreinander

standen – so nahe, als ob sie beabsichtigten, sich zu küssen. Der Plexiglaskasten stand keinen Fußbreit von ihrer linken und seiner rechten Hand entfernt. Sie konnte sein Eau de Cologne riechen. Es duftete nach Zitrus und war sehr einladend. Zwischen ihnen herrschte eine Spannung und ihre Augen hielten einander förmlich fest.

Sie fragte: „Woher wissen sie, dass ich keine Einladung habe? Vielleicht bin ich mit einem ihrer Gäste hier?“

„Meine Liebe“, sagte er herablassend. „Ich bin derjenige, der dies Party schmeißt... und ich persönlich habe jede einzelne Einladung bestätigt. Keiner meiner Gäste bringt jemanden mit, ohne die Sache vorher mit mir abzuklären... es sei denn, er möchte nie wieder eingeladen werden.“

„Und ich dachte, Sie wären ein angenehmer Gastgeber.“ „Oh, das bin ich auch.“ Er nickte in Richtung der Gäste, die

seine Gemälde bewunderten. „Sie sind alle mit mir befreundet und ich kenne eigentlich jeden, außer Ihnen. Auch wenn Sie

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mir irgendwie bekannt vorkommen. Sind wir uns schon mal begegnet, meine Liebe?“

Sie erschauerte. „Vielleicht in ihren Träumen.“ Wieder einmal huschte der Hauch eines Lächelns über seinen

gepflegten Bart. „Wenn ich nur solch eine lebendige Fantasie hätte... möchten Sie noch einen Drink? Noch etwas Champagner vielleicht?“

Sie hob ihr leeres Glas. „Warum nicht?“ „Sagen Sie mir bitte vorher noch, warum Sie denken, dass

meine berühmte Filmrequisite eine Fälschung ist?“ „Oh, es könnte durchaus eine Filmrequisite sein. Ich bin

sicher, es gab eine Kopie der echten Kette, als der Film gedreht wurde.“

„Echte Kette?“, fragte er unschuldig. „Nur wenige Leute wissen, dass die Kette im Hollywood

Heritage Museum – die übrigens gestohlen wurde – wirklich wertvoll ist – mit 48 kleinen Diamanten, die das Herz um den blauen Diamanten formen.“

„Das ist einfach absurd“, sagte er ohne Überzeugung. „Und“, fuhr sie mit einem lässigen und beinahe verächtlichen

Blick in Richtung Schaukasten fort. „Diese Arbeit hat 50 Steinchen.“

Er blickte auf die Kette und wieder zu ihr zurück. „Nun... Sie sind eine durchaus intelligente junge Frau. Möchten Sie jetzt gerne den Champagner?“

„Ich habe doch Recht, oder?“ Sie umschlang seinen Arm und ließ sich von ihm ins Foyer begleiten.

„Die hier ausgestellte Halskette ist jedenfalls eine Filmrequisite. Sie glauben doch nicht, dass ich hier das Original ausstellen würde. Die Wertvollere der beiden Ketten wurde nur für die Nahaufnahmen benutzt, gerade weil ihre Herkunft so umstritten ist.“

„Sie meinen, weil sie gestohlen wurde... ist die echte Kette irgendwo in einem Safe oder einer Bank.“

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„Ich weiß nicht, wo sie ist.“ „Wieso nicht?“ „Hören Sie mit dieser Koketterie auf, meine Liebe. Sie haben

sie doch gestohlen. Können Sie sich nicht mehr erinnern?“ Ihre Augen trafen sich. Max war mulmig zu Mute. Sie

konnte sich nicht vorstellen, dass Sterling ihr hier eine Szene machen würde, das war zu riskant, immerhin war er im Besitz heißer Ware.

Sie holten sich frischen Schampus von einem Butler und gingen eine der Treppen zum hinteren Teil des Hauses hinunter. Hier gab es weniger Gäste.

„Wohin gehen wir?“, fragte sie. „Ins Wohnzimmer. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“ Sie lächelte. „Falls es eine Pistole ist... bin ich nicht daran

interessiert. Falls es etwas anderes ist... danke... habe ich auch schon mal gesehen.“

„Sie sind ein drolliges Kind“, sagte Sterling mit einem leisen Lächeln. „Sehr amüsant, aber das war nicht, was ich meinte. Ich möchte Ihnen gerne ein weiteres Kunstwerk zeigen.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Okay.“ Sterling schloss eine Tür auf und sie betraten ein großes

Wohnzimmer mit einem lilafarbenen Plüschsofa aus Samt. „Damit wir hier ganz privat bleiben, muss ich die Tür abschließen. Ist Ihnen das angenehm?“

Sie hatte keine Angst. „Nur zu.“ Er schloss die Tür ab und bald schon saßen sie

nebeneinander auf dem samtweichen Sofa. Vor ihnen standen ein Couchtisch aus Walnussholz und rechts und links jeweils ein Sessel. An einer Wand standen Bücherregale mit in Leder gebundenen Bücherbänden. Auf der anderen Seite hingen schwere Samtvorhänge, passend zum Sofa – sie verdeckten allem Anschein nach ein riesiges Fenster mit Blick auf den hinteren Teil der Villa.

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An der Wand hinter der Couch hing ein Bild, von dem Max vermutete, dass es sich um das Original der „Nachtwache“ von Rembrandt handelte. Neben der abgeschlossenen Tür hing ein von ihr als „The Snow Trail“ von Remington identifiziertes Gemälde.

„Sind das die Stücke, die sie mir zeigen wollten?“ „Nein.“ Der Sammler nippte an seinem Champagnerglas,

dann lächelte er wieder – ein weißes Lächeln, beinahe zu weiß, zu weit. „Haben Sie dem Guard draußen wirklich erzählt, Sie seien Marisa Barton?“

Plötzlich beunruhigte sie die abgeschlossene Tür. Sie ließ sich auf ein Spielchen mit ihm ein. „Ein Mädchen muss tun, was ein Mädchen tun muss... um den Mann kennen zu lernen, den sie kennen lernen will.“

„Und Sie wollten mich kennen lernen?“ Max berührte sein Bein. „Gut aussehend... wohlhabend... Sie

haben einige Pluspunkte, Mr Sterling.“ Er legte seine Hand auf die ihre. „Danke für das ,gut

aussehend’ vor dem ‚wohlhabend’.“ Nun war er derjenige, der zur Tür blickte. „Was denken Sie sollen wir mit Marisa machen?“

Max rückte näher. „Vergessen Sie sie.“ „Das ist eine Alternative“, sagte er. Sie waren sich wieder

zum Küssen nahe. „Oder... wir können sie hierher einladen, uns Gesellschaft zu leisten.“

Zum zweiten Mal an diesem Abend herrschte Spannung zwischen den beiden. Dieses Mal war es jedoch ein wenig anders. „Ich mag es nicht, gute Sachen zu teilen.“

Dieser Teil des großen Hauses war sehr ruhig. Waren sie die Einzigen, die nicht vorne am Feiern waren?

„Bevor wir uns entscheiden, was wir mit Marisa tun“, sagte er und lockerte sich, „sollten wir uns vielleicht entscheiden, was wir mit Ihnen tun.“

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Er zog ein Stück Papier aus seiner inneren Jackentasche und warf es auf den Couchtisch...

... ein Foto von Max, geschossen von einer Sicherheitskamera in der Galerie der Sterling-Villa mit dem Original des Herz des Ozeans in der Hand.

„Das hier...“, sagte er und sein Lächeln war mittlerweile verschwunden, „... ist das Kunstwerk, das ich Ihnen zeigen wollte.“

So viel zum Thema „Wie lege ich ein Überwachungssystem lahm...“

Er fuhr fort: „Ich glaube, Sie sind heute Abend gekommen, um zu... wie heißen Sie, meine Liebe?“

Sie sagte nichts. Sterling sprach weiter: „Ich glaube, Sie sind gekommen, um

über die Rückgabe der Kette und des Grant Wood zu reden, richtig?“

„Nein“, antwortete sie mit leerer Miene. „Spielen Sie nicht die Unschuldige. Warum sonst sollten Sie

heute Abend hier aufgetaucht sein, wenn Sie wissen, dass Sie eine Gefängnisstrafe riskieren... fürs Rumschleichen, wie eine gewöhnliche Diebin.“

„Eigentlich bin ich eine ungewöhnliche Diebin, Mr Sterling.“ Er lächelte wieder, weniger weiß, weniger weit. „Das stimmt,

meine Liebe, wirklich.“ Sie faltete die Arme wie eine Indianerin und sagte: „Wir

könnten, schätze ich, über den Preis für die Rückgabe reden. Sie werden erstaunt sein, wie günstig der Preis ist.“

Seine Augen wurden schmäler. Er war fasziniert. „Testen Sie mich.“

Sie senkte die Intensität und Dringlichkeit ihrer Stimme. „Verraten Sie mir einfach, woher Sie sie hatten.“

„Die was, meine Liebe?“

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„Das Herz des Ozeans. Sagen Sie es mir und Sie kriegen das Stück zurück. Für den Grant Wood werde ich etwas Geld verlangen, aber...“

„Meine Liebe“, sagte Sterling. „Sie verstehen doch sicher, dass jemand wie ich, der in der Unterwelt des Kunsthandels aktiv ist, nicht nur sich selbst, sondern auch seine Quellen schützen muss. Jedenfalls... warum interessieren Sie sich dafür, woher ich das Schmuckstück habe?“

„Ich muss es wissen“, sagte sie. Und dieses Mal blutete sie vor Intensität.

Er dachte über ihre Antwort nach und sagte: „Ich könnte durchaus mit Ihnen handeln, aber ich muss mich schützen. Ich muss Sie nochmals fragen, warum wollen Sie es wissen?“

Sie wollte keine neuen Antworten erfinden, also sagte sie ihm die Wahrheit: „Ich bin diejenige, die das Schmuckstück aus dem Museum in LA gestohlen hat.“

„Ich bin beeindruckt.“ „Ich hinterließ die Kette bei Freunden, als ich weggezogen

bin. Diese Freunde sind mittlerweile tot. Und dann ist diese Kette bei Ihnen gelandet. Ich muss wissen, wie das zu Stande kam.“

Er war amüsiert und bemerkte in drolligem Tonfall: „Um ihre Freunde zu rächen.“

„Natürlich, um meine Freunde zu rächen“, antwortete Max. „Und das ist wichtiger als Geld?“ „Für mich schon, Mr Sterling... Jared, können wir jetzt zum

Geschäft kommen? Wollen sie Ihre Kette wieder haben?“ „Sicher... Gentlemen!“ Die Tür öffnete sich und Morales und Maurer betraten das

Wohnzimmer. Die Guards waren nicht anders gekleidet als bei der ersten Begegnung: schwarzer Anzug, Krawatte. Maurer hatte zwei Veilchen und eine Bandage über der gebrochenen Nase, und Morales hatte jede Menge Wunden und Quetschungen. Ihre Blicke waren finster.

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Sterling sagte mit kalter Stimme: „Hier ist mein Angebot. Geben Sie mir das, was mir gehört und ich lasse Sie laufen.“

„Sehr großzügig, aber warum sollte ich annehmen, dass Sie ihr Versprechen halten?“

Er lächelte. Kein Weiß dieses Mal. „Weil Sie einzigartige Fähigkeiten haben, meine Liebe... und ich könnte jemanden wie Sie gut gebrauchen, stimmt’s, Jungs?“

Weder Maurer noch Morales hatten eine Meinung dazu. „Ich arbeite alleine“, sagte sie. „Was den Rest Ihres

Angebots betrifft... vielen Dank!“ „Wenn Sie meinen Besitz nicht zurückgeben, werde ich

Ihnen einen langsamen und unangenehmen Tod bescheren. Wenn Sie ihn mir zurückgeben, lasse ich Sie laufen. Wer weiß? Vielleicht werden Sie mein Arbeitsangebot nochmals überdenken.“

„Ich passe.“ „Meine Liebe, das ist der beste Deal, den Sie machen

können. Sie sollten wirklich meine Großzügigkeit ausnutzen.“ Sie hätte beinahe gelacht. „Glauben Sie wirklich, dass es

Ihnen möglich ist, diese Dinge durchzuziehen? Ich habe den beiden Jungs hier und noch ein paar anderen den Arsch aufgerissen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Das ist wahr, aber wir haben jetzt Verbündete in der Stadt... Morales! Holen Sie unseren Freund herein!“

Morales nickte und ging aus dem Zimmer. „Sie hätten mit mir einen Deal machen sollen, Max“, sagte

Sterling. Max... „Wie zum Teufel Sind sie an meinen Namen gekommen?“,

fragte sie. Morales kam zurück und nahm seinen Platz an der einen

Türseite wieder ein, Maurer postierte sich auf der anderen. Einen Moment später betrat ein dritter Mann das Zimmer. Er

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war ziemlich groß, schlank, gut aussehend wie ein Rockstar, und er trug einen braunen knielangen Ledermantel über einem hellblauen Seidenhemd und eine schwarze Lederhose.

Kafelnikov! Sterling sagte: „Ich glaube, Sie kennen meinen Freund

Mikhail.“ Das Lächeln des Russen war nicht weniger reptilartig wie

seine Schlangenlederschuhe. „Genießen Sie die Party, Max?“ Sie fiel auf den Boden... und spürte den Druck einer Waffe

auf ihren Rippen. „Nun“, sagte Sterling, der hinter ihr stand und ihr wie ein

Liebhaber ins Ohr flüsterte: „Seien Sie nicht voreilig!“ Kafelnikov und die zwei Guards zogen gleichzeitig ihre

Waffen. Sie schüttelte den Kopf ein wenig. „Ich denke, ich war schon einmal voreilig gewesen.“

„Wie es aussieht...“ Er drückte die Spitze seiner Pistole fester auf ihre Rippen

und küsste ihren Hals. „Jetzt, meine Liebe“, sagte er. „Ich möchte einige Dinge von Ihnen... das Herz des Ozeans, den Grant Wood... und noch etwas.“

„Das ist alles“, sagte sie emotionslos. Ihre Augen waren auf den Russen fixiert, der ihr zulächelte. Offensichtlich war er über ihren Hassmoment recht amüsiert.

„Nicht alles“, sagte Kafelnikov. Er schritt nach vorne und blieb einige Zentimeter von Max entfernt stehen. „Erzählen Sie uns über den anderen.“

Max runzelte die Stirn. „Wie bitte?“ Sterling flüsterte liebevoll: „Erzählen Sie uns etwas über

ihren Partner... der in meine Geschäftstelle eingebrochen ist.“ Max fühlte, wie Blut in ihr Gesicht stieg. Partner? Sterling kam zu ihr, lief um sie herum. Die Spitze der Waffe

folgte seinem Weg. „Seien Sie nicht so schüchtern, Liebes. Das passt wirklich nicht zu Ihnen. Wer ist er?“

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„Ich weiß nicht, wovon sie reden“, antwortete sie in zerhackten Silben.

„Morales!“, bellte Sterling. „Zeig es ihr.“ Der Guard schritt nach vorne und übergab ihr ein weiteres

Bild. Es zeigte einen jungen Mann, der zwischen toten Bodyguards

stand. Und wieder einmal sah Max das Bild eines jungen Mannes, der vermutlich ihr Bruder Seth war... ihre Hoffnung wuchs, trotz der gefährlichen Situation, in der sie sich gerade befand.

Mit seiner freien Hand griff Sterling nach dem Foto. „Jetzt, meine Liebe. Sagen Sie mir, wo er ist und was Sie beide mit meinem Eigentum gemacht haben.“

„Ich kenne den Typen nicht“, sagte Max und zuckte dabei mit den Schultern. „Tut mir Leid.“

Kafelnikov lachte bösartig. „Ich habe Sie in Aktion gesehen, Max... und ich habe das Video mit diesem Mann gesehen, auf dem er die Bullen wie Puppen behandelte. Wenn Sie nicht Geschwister sind, dann hatten Sie zumindest den selben Lehrmeister.“

Max’ Augen wurden kleiner. „Warum denken Sie, dass wir Geschwister sind?“

Der Russe zuckte mit den Schultern. „Sie bewegen sich ähnlich und kämpfen im selben Stil. Die Bewegungen Ihrer Hände, der Füße, des Kopfes... alle gleich. Entweder stammen Sie aus der gleichen Familie oder sie haben bei demselben Meister gelernt. Möglicherweise zur gleichen Zeit. Wie auch immer, Sie kennen diesen Mann. Wer und wo ist er?“

„Sie möchten das wissen, weil Ihr Partner hier bestohlen wurde“, sagte Max zu dem Russen. „Oder gibt es eine Belohnung für diesen Rebellen? Vielleicht auch für mich?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Kafelnikov. Die Lüge war offensichtlich. Max warf seitwärts einen Blick auf ihren Gastgeber.

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„Fragen Sie ihn nach seinem Freund Lydecker – fragen Sie ihren russischen Freund, welche Art von Kunst Manticore sammelt.“

Sterling schaute zu Kafelnikov. „Was labert sie da?“ „Nichts. Das ist alles Gelaber.“ Max lächelte, und Sterling, die zwei Bodyguards und sogar

der Russe waren scheinbar verunsichert, weil sie keine Angst zeigte.

„War eine sehr nette Party“, sagte sie. „Mr Sterling, ich bin Ihnen sehr dankbar. Ihnen auch, Mikhail, ich habe genau das bekommen, wofür ich gekommen bin – und sogar noch viel mehr.“

„Was zum Teufel redet sie da?“, fragte Sterling. „Wer ist dieser Lydecker?“

Sterlings Aufmerksamkeit gehörte jetzt dem Russen, und die Guards schauten in dieselbe Richtung. Die Augen des Russen waren auf Max gerichtet, doch seine Waffe hing locker an seiner Seite.

Sie wünschte sich, dass sie diese gottverdammten Pumps nicht trüge.

Ihre Hand bewegte sich so schnell, dass keiner reagieren konnte. Sie drehte Sterlings Pistole weg von ihrer Brust, und er löste aus Reflex einen Schuss aus. Die Kugel flog ziellos durch den Raum. Der Russe und die zwei Bodyguards duckten sich. Max brach Sterlings Ringfinger – er schrie vor Schmerz – und riss ihm die Waffe aus der Hand.

Mit einer flüssigen Bewegung hob sie die Pistole hoch und schleuderte sie wie einen Ball auf Maurer, der gerade auf sie gezielt hatte. Die Waffe brach seine Nase – zum zweiten Mal – und verlieh seinem Gesicht einen puterroten Teint. Dann sank er auf den Boden.

Dem Sammler schlug sie mit dem Ellbogen ins Gesicht, und beendete sein Schreien, indem sie ihn mit einem zusätzlichen harten Schlag auf die Matte schickte. Sie entfernte sich gerade

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von der Couch – mit dem Rücken zum Fenster –, als Morales mit einer Stange auf sie zu rannte. Sie wich geschickt aus, riss ihm die Stange aus der Hand und drückte ihn mit einem kräftigen Stoß auf den Vorhang und durch das Fenster.

Sie drehte sich um und sah Kafelnikov, der gerade seine Pistole zog. Als er abdrückte, wich sie aus, und die Kugel verschwand durchs Fenster in die dunkle Nacht, während Max die Stange in Kafelnikovs Rippen presste. Die Waffe fiel aus seiner Hand, und er fiel bewusstlos auf den Boden.

Max starrte ihn an. Zack oder Seth hätten ihn auf der Stelle getötet. Das wusste

sie. Aber sie war nicht sicher, ob es einen Vorteil brächte, sich an einem bereits geschlagenen Gegner zu rächen. Kaum hatte sie diese Entscheidung getroffen, flog die Tür auf und weitere Sicherheitsmänner stürmten in den Raum.

Max sprang durch das zerbrochene Fenster, während die Kugeln ihrer Verfolger Löcher in die Wände schlugen und überall Holz und Gipsbrocken durch den Raum flogen. Sie fiel auf den Boden – direkt neben Maurer –, sprang hoch und rannte. Die Nacht war plötzlich lebendig von dem Geschrei der Partygäste, die durch die Schießerei wachgerüttelt worden waren.

Als die Guards mit ihren Schüssen noch mehr für Stimmung sorgten, war Max schon längst verschwunden. Die Fähre zu nehmen war zu riskant. Ein Boot hatte sie auch nicht, also schleuderte sie ihre Schuhe weg und sprang ins kalte Wasser. Beim Schwimmen überlegte sie, warum sie nicht die Gelegenheit wahrgenommen hatte, Kafelnikov zu töten.

Diese Entscheidung war nicht das, was sie in Manticore gelernt hatte, aber sie hatte einen strategischen Vorteil, denn der Russe war die Verbindung zu Lydeckers und dessen Rolle beim Massaker in Mann’s Chinese Theater.

Sie dachte an Kendra, Original Cindy und die anderen ,normalen’ Menschen, die sie kennen gelernt hatte –

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einschließlich Normal. Vielleicht machte sie das Abhängen mit ihren Freunden irgendwie menschlicher.

Dann wiederum fragte sie sich, ob es eine gute Sache war, normaler und menschlicher zu sein.

Als Max in Kendras ruiniertem Kleid triefend nass in ihre Wohnung kam, dachte sie an den Jungen auf dem Foto, der nur Seth sein konnte. Sie musste ihn finden, dringend, nicht nur für sich selbst, sondern vielmehr um seinetwillen.

Seth war in Gefahr, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn warnen konnte. Aber sie musste einen Weg finden.

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11. Kapitel_________________________ F WIE FÄLSCHUNG

Logan Cales Apartment Seattle, Washington, 2019

Pepe Henderson – Kunstexperte aus dem Museum für Kunst in Seattle und ein Freund Logans – prüfte das John Singer Sargent-Gemälde wie ein Kriminologe auf Spurensuche. Er war Anfang vierzig und verdankte sein Äußeres der vielen Schreibtischarbeit und jeder Menge Junkfood. Pepe hatte dünnes dunkles Haar und auf seinem runden Gesicht saß wie immer eine dicke schwarze Hornbrille. Das weiße Hemd war bis zum Kragen zugeknöpft und schien eine permanente Herausforderung für seinen Bauch zu sein. Seine schwarze Hose rutschte ständig nach unten und machte den Blick auf einen Spalt frei, für den sich niemand gerne den Hals verrenkte.

Logan Cale, in Pullover und Jeans, saß scheinbar entspannt aber konzentriert in einem der beiden Sessel, die rechts und links neben seinem braunen Sofa standen. Er war nervös, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen.

Drei der Gemälde, die Seth bei Engidyne gestohlen hatte, waren auf dem Sofa ausgebreitet. Die restlichen drei lagen auf dem Teppich. So ganz ohne Rahmen wirkten sie – im wahrsten Sinne des Wortes – uneingesperrt und erinnerten stark an abgezogene Tierhaut. Der Raum war schwach beleuchtet, und so konnte der Kunstexperte mit seinem UV-Testgerät vernünftig arbeiten. Logan konnte immer noch nicht fassen, welch hochkarätige Künstlerriege sich auf seiner Couch und drum herum versammelt hatte: N.C. Wyeth, John Singer

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Sargent, Jackson Pollock, Norman Rockwell, Charles M. Russell und Frederic Remington.

In seiner schwarzen Lederjacke, blauen Jeans und einem schwarzen Hemd mit der Aufschrift LEXX – womit Logan rein gar nichts anzufangen wusste – schritt Seth immer wieder auf dem Holzboden hin und her, unweit von Logan und Henderson. Er war mürrisch wie immer und beobachtete völlig nervös die Untersuchung seiner Gemälde – wie jemand, der unter akutem Tryptophanmangel litt. Oder wie ein werdender Vater, der voller Vorfreude seine Videokamera in den Entbindungssaal mitgebracht hatte und dann feststellen musste, dass sich seine Frau gerade inmitten einer blutigen Kaiserschnittaktion befand.

„Ohne Zweifel!“, sagte Henderson beim Aufstehen und zog seine Hose hoch.

„Ich hab Ihnen ja gesagt, dass sie echt sind!“, rief Seth großspurig.

Henderson erhob die Hand, wie ein in Verlegenheit geratener Verkehrspolizist.

„Nein, tut mir Leid, mein Junge. Ohne Zweifel, es ist eine Fälschung.“

Mit entsetztem Blick stürzte Seth in Richtung Logan und kam ihm bedrohlich nahe. „Was ist das für ’ne Verarsche? Du hast ihn angewiesen, genau das zu sagen!“

Logan schüttelte den Kopf. „Nein, Seth, das habe ich nicht. Du weißt, dass ich genügend Geld habe. Ich brauch dich nicht zu verarschen.“ Er seufzte. „Offen gestanden hatte ich schon geahnt, dass es sich um Fälschungen handelt.“

Seth streckte seine Hand in Form einer Pistole auf das Gemälde, als ob er es erschießen wollte. „Nur weil das Scheißding eine Fälschung ist, heißt das noch lange nicht, dass die anderen es auch sind!“

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„Das stimmt“, sagte Logan beruhigend. „Dennoch, Seth, das ist kein gutes Zeichen. Mach dir also keine falschen Hoffnungen.“

Henderson kam herübergeschlendert und mischte sich ein. „Versteht mich nicht falsch, Jungs. Das Ding ist wirklich gut gelungen.“ Er schüttelte bewundernd den Kopf. „Die beste Fälschung, die ich je gesehen habe. Aber eine Fälschung ist eine Fälschung.“

„Ist eine Fälschung“, stimmte Logan zu und nickte. „Und was ist mit den anderen?“ Seth schäumte vor Wut. „Ich brauche noch ein paar Minuten“, meinte Henderson und

nahm seine Untersuchungen wieder auf. Logan legte eine Hand auf Seths Schulter. „Komm jetzt“,

lächelte Logan und war etwas verwundert, dass sich Seth seiner Annäherung nicht entzogen hatte. „Wir gehen in die Küche und lassen Pepe in Ruhe hier arbeiten.“

„Geht ruhig, ich komm schon alleine klar“, antwortete Henderson freundlich.

„Bist du etwa high, Logan?“, fragte Seth und fegte Logans Hand von seiner Schulter. „Ich rühre mich hier nicht vom Fleck. Dein Kumpel könnte ja die Gemälde austauschen.“

„Womit denn?“, fragte Logan genervt. Er hatte nun genug von Seths Paranoia. „Pepe hat nicht mehr mitgebracht, als diesen kleinen Kasten mit seinem Apparat. Was glaubst du, wo er die sechs Fälschungen versteckt hat?“

„Er... er hat sie vielleicht unter der Hose um seine Beine gewickelt.“

Henderson blickte herüber. „Leute, ich überprüfe gerne eure Gemälde, und es macht mir auch jede Menge Spaß. Wenn ihr aber denkt, dass ich euch ärgern will, dann lass ich das lieber.“

Logan hob seine Hand. „Nein, es ist alles in Ordnung, Pepe... mach bitte weiter“, sagte er stirnrunzelnd. „Seth, und komm du bitteschön wieder runter auf den Boden der Tatsachen.“

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Seth war leicht verlegen und wandte sich Henderson zu. „Hören Sie... ich hab das nicht so gemeint... denken Sie wirklich, dass das alles Fälschungen sind?“

Henderson beugte sich – mit ziemlich locker sitzender Hose – über eines der Gemälde. „Bei diesem hier zum Beispiel weiß ich noch nichts Genaues. Selbst kultivierte Kenner der Materie können von einer Fälschung getäuscht werden, und in so mancher Sammlung hängt dann ein Fake direkt neben einem Original... wir wissen mehr, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin. Bis dahin hängen wir in der Luft.“

Logan nahm Seths Arm. „Lass uns was trinken. Ich möchte mit dir reden.“

Seth folgte nur ungern. Logan war bereits in der Küche und servierte den Kaffee. Sie setzten sich auf zwei gegenüberstehende Barhocker an einer hohen Theke.

Seth hatte sich wieder etwas beruhigt, dafür machte sich nun langsam seine Enttäuschung breit. „Verdammt nochmal! Ich dachte wirklich, das ist die Chance meines vermasselten Lebens.“

Logan nippte an seinem Kaffee und ließ dem Jungen etwas Zeit, sich abzureagieren und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Doch Seth hielt es auf dem Stuhl einfach nicht aus. Er lief ständig auf und ab, war sichtlich angewidert und fluchte vor sich hin. Die Küche war sehr modern und großzügig eingerichtet. Eine Kombination aus Edelstahl und Naturholz mit vielen Wandschränken. Logan war ein Ordnungsfreak. Er hielt diesen Raum genauso penibel sauber wie den Rest seiner Wohnung. Das Chaos der Welt da draußen in Ordnung zu bringen war etwas viel verlangt. Aber auf die Gestaltung seines persönlichen Wohnraums hatte er sehr wohl einen Einfluss.

„Ich kann es nicht fassen!“, sagte Seth. „Die ganze Arbeit für umsonst!“

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„Das war auf keinen Fall für umsonst“, antwortete Logan mit leiser Stimme.

„Was redest du da?“ Logan nahm einen langen Schluck aus der Tasse. „Denk mal

nach, Seth. Manticore hat dir viel mehr als nur deine außergewöhnlichen kämpferischen Fähigkeiten vermacht. Du hast auch einen außergewöhnlich hellen Verstand. Nutze ihn.“

„Erschieß mich!“ „Keine Lust, aber danke fürs Angebot“, sagte Logan. „Pass

auf, es gibt nur zwei Gründe, warum ein Sammler eine Fälschung an die Wand hängt.“

Seth schaute ihn an. „Erstens...“, fuhr Logan fort. „Besagter Sammler möchte

seine Kollektion sichern, indem er sie irgendwo versteckt hält...“

„... und stattdessen Duplikate aufhängt“, verlängerte Seth. „Ja, wie eine reiche Frau mit einer fantastischen Kollektion

verschiedenster Juwelen, die eine billige Variante trägt, wenn sie in die Stadt geht.“

„Und du glaubst, Sterling hat das genauso gemacht?“ „Ehrlich gesagt, nein.“ Seth runzelte die Stirn. „Und warum nicht?“ Logan zuckte mit den Schultern. „Unser Freund Jared hat

eine Menge Geld für Fälschungen dieser Qualität ausgegeben. Sie waren gar nicht als Schutz vor einem möglichen Einbruch gedacht. Sondern nur dafür, alle zu täuschen, selbst Pepe.“

„Dein Kumpel Pepe hat das doch sofort erkannt, oder?“ „Nein, nicht ganz so einfach. Er musste die modernsten

Werkzeuge und all seine fachlichen Fähigkeiten dabei einsetzen. Frag ihn mal, ob er diese Fakes auch durch bloßes Betrachten in einem Museum überführt hätte... ich gehe davon aus, dass selbst er sich hätte täuschen lassen.“

„Wo zum Teufel liegt dann der Sinn dieser Fälschungen?“

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Logans Augen wurden schmaler. „Ich glaube, Sterling wollte einfach davon ablenken, dass die wahren Originale bereits ins Ausland verkauft worden waren.“

„Warum sollte er das tun?“, fragte Seth und blieb stehen. „Er hat doch schon genug Geld.“

„Leute wie Sterling haben niemals genug Geld. Sie wollen immer mehr.“

„Oh, du hast auch genug Geld“, sagte Seth sarkastisch. „Und würdest niemals auf die Idee kommen, mich auszutricksen.“

„Nein, das würde ich niemals“, fiel Logan ihm ins Wort und nahm nun ebenfalls sarkastische Züge an. „Aber Leute wie Sterling, sind mit Vorsicht zu genießen. Wenn du ihre Hand in deiner Hosentasche spürst, kannst du sicher sein, dass sie dich alles andere als begrabschen wollen.“

Seths Misstrauen war mittlerweile längst verflogen. „Du kennst dich scheinbar aus mit solchen Typen.“

„Das tue ich sehr wohl.“ Logan atmete tief. „Alles hautnah und persönlich erlebt.“

Das schien Seth zu interessieren. „Wie, wo? Erzähl“, fragte er und kehrte zu seinem Platz zurück.

„Das ist lange her“, antwortete Logan. „Und wie aus einem anderen Leben.“

Er sah keine Veranlassung, Details über sich und seine Familie auszuplaudern. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er immer wieder daran gearbeitet, diesen Teil seiner Vergangenheit zu vergessen. Und er wollte auch jetzt auf keinen Fall darüber reden. Zumal Seth für ihn nicht mehr war als ein Soziopath, der sowieso mit dem Begriff Eltern nichts anzufangen wusste.

Henderson räusperte sich, um seine Anwesenheit anzukündigen, als er erschöpft in die Küche eintrat. Er nahm sich eine Tasse Kaffee und setzte sich neben Logan. „Alles Fakes, habe ich Recht?“, fragte Seth beinahe weinerlich.

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Der Experte nickte. „Es tut mir Leid... bitte schieß nicht auf den Überbringer dieser schlechten Nachricht.“

„Scheiße!“, rief Seth. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Henderson nahm einen Schluck Kaffee. „Falls es euch

tröstet, es sind immerhin die besten Fälschungen, denen ich jemals begegnet bin.“

„Wirklich?“, fragte Logan neugierig. „Oh ja! Die Leinwand stammt aus der richtigen Zeit, die

Farbe ist alt und das Gemälde ist hervorragend krakeliert.“ „Hervorragend was?“, fragte Seth ahnungslos. „Krakeliert... der Schutzanstrich des Bildes zeigt

charakteristische Risse“, erklärte Henderson. „Ich habe nicht die geringste Idee, wie man etwas derart genial tricksen kann.“

Logan rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. „Wie kommst du eigentlich zu deinen Ergebnissen, Pepe?“

„Nicht ich, sondern das UVIN kam zu den Ergebnissen“, grinste er mit weit geöffneten Augen.

„Sie haben meine Gemälde in einen Ofen gelegt?“, fragte Seth stirnrunzelnd.

Der Experte schüttelte den Kopf. „Ultra-Violet Imaging Network, auf Englisch... ein Gerät, mit dem man mit Hilfe ultravioletter Strahlen alles Mögliche messen kann...“

Logan nickte. „Verstehe, und was genau hat dir das UVIN verraten?“

„Dass die chemische Zusammensetzung auf ein Alter von etwa vier Jahren schließen lässt, auch wenn die Farbe alt und rissig wirkt“, erklärte Henderson. „Nehmen wir zum Beispiel den Sargent – ‚Alpine Road’.“

„Was ist mit dem?“, fragte Seth. „Das Original wurde zirka 1907 gemalt.“ Seth fasste sich an die Stirn – als wollte er seine Temperatur

messen – und starrte ins Leere. „Verdammt! Ich hätte es wissen müssen. Was bin ich nur für ein Trottel!“

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„Das bist du nicht“, sagte der Experte. „Wenn ich diese Gemälde in einem Museum oder in einer privaten Sammlung gesehen hätte, wäre mir rein gar nichts aufgefallen.“

Seth und Logan schauten sich an. Henderson hatte gerade bestätigt, was Logan kurz zuvor dem Jungen erklärt hatte.

„Remington starb 1909, Russell 1926, Wyeth 1945, Pollock 1956 und Rockwell 1978. Diese Bilder jedoch wurden alle in den letzten drei bis fünf Jahren gemalt“, fuhr Henderson mit seiner Erklärung fort.

Seth schien etwas in sich gekehrt, er sah überhaupt nicht gut aus.

Henderson stellte seine Tasse auf die Theke. „Es tut mir Leid, meine Herrn, dass ich keine besseren Nachrichten habe. Auch ich wäre gerne gemeinsam mit den Originalen im gleichen Raum gewesen.“ Er stieg vom Hocker. „Ich werde meine Sachen zusammenpacken.“

Der X5 und der Cyberjournalist waren wieder unter sich. „Seth, diese Gemälde sind ein Bonus, aber nicht das, wonach wir wirklich suchen. Denn das hast du.“

Seths Augen wirkten teilnahmslos, fast leblos. „Bitte?“ „Die CD, erinnerst du dich?“ Der X5 schwieg. Logan war sichtlich bemüht, Seths Verkrampfung zu lösen.

„Der Diebstahl der Gemälde war ein Ablenkungsmanöver. Es war deine Absicht, Sterling zu irritieren, erinnerst du dich? Wahrscheinlich hat er nicht die geringste Ahnung, dass wir die Dateien auf CD haben.“

Seth nickte ziemlich lustlos. „Wahrscheinlich nicht.“ „Und...“, fuhr Logan fort, „... wenn ich den Code knacken

kann, werden wir vielleicht etwas finden, das uns dabei hilft, Sterling und Kafelnikov zu Fall zu bringen.“

„Zum Beispiel?“

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Logan seufzte. „Alles Mögliche – Buchungen oder eine Liste von Käufern. Keine Ahnung. Vielleicht auch einen Hinweis auf Lydecker und Manticore.“

„Ich bin startklar!“, rief Henderson draußen im Wohnzimmer. Logan unterbrach für einen Moment das Gespräch mit Seth und begleitete den Experten zur Tür.

„Ich werde dich später anrufen“, verabschiedete sich Logan und schüttelte ihm die Hand.

„Kommst du klar, alleine mit dem Jungen?“, flüsterte Henderson.

„Ja, bestens.“ „Ich bin nicht sicher, Logan, aber er kommt mir irgendwie

gefährlich vor.“ „Das ist er auch.“ Henderson verdrehte die Augen und verschwand mit seinem

kleinen schwarzen Köfferchen in der Hand nach draußen. Als Logan wieder in die Küche zurückgekehrt war, sagte er:

„Du wirst dich freuen. Die Bilder sind alle noch im Wohnzimmer.“

„Großartig! Und was ist so ein Haufen Scheißfälschungen wert?“

Logan stellte sich neben den Jungen. „Genau das versuche ich dir die ganze Zeit zu erklären, Seth. In Zusammenhang mit dem, was wir erreichen wollen, eine ganz schöne Menge.“

„Werde ich wenigstens reich dabei?“ Logan seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Aber du hast dabei

geholfen, Kafelnikov und vielleicht sogar Sterling – der jetzt schon ganz schön beschissen dasteht – das Handwerk zu legen.“

Das konnte Seth nicht über seinen Frust hinwegtrösten. „Mein Leben besteht nur aus solchen Dingen wie ständig auf der Flucht zu sein und mich zu verstecken. Dafür benötige ich jede Menge Geld. Im schlimmsten Fall schnappt mich Lydecker und bringt mich um – da ich ums Verrecken nicht

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nach Manticore zurückkehren würde. Das Beste, was mir passieren kann, ist an ausreichend Geld ranzukommen, um abzutauchen. Ich meine, so richtig abzutauchen. Nur dann kann ich damit aufhören, mich ständig nach Verfolgern umzudrehen. Diese Bilder hätten mein Ticket sein können.“

„Bist du endlich fertig?“, fragte Logan. Seth starrte ihn wütend an. „Was meinst du mit ,ob ich fertig

bin’?“ „Fertig mit dieser Selbstmitleidsgeschichte? Was zum Teufel

ist aus dem Rebellen geworden, der gemeinsam mit mir Manticore aus dem Weg räumen wollte? ,Das Beste, was dir passieren kann’ ist doch, dass Manticore entlarvt und zerstört wird, und dass Lydecker für immer aus deinem Leben verschwindet...“

Seth starrte ihn wortlos an. Logan wusste nur zu gut, dass er gerade eine Killermaschine

an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen hatte. Ihm war klar, dass Seth ihm jederzeit skrupellos und ohne Gewissensbisse den Hals umdrehen konnte.

Die Stille wurde langsam unerträglich. „Hilf du mir dabei, Kafelnikov aus dem Weg zu räumen und

herauszufinden, wie weit Sterling in die Sache verwickelt ist. Dafür werde ich im Gegenzug alles dransetzen, Manticore für immer von diesem Planeten zu verbannen. Oder zumindest mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dafür zu sorgen, dass du irgendwo in Sicherheit ein neues Leben beginnen kannst.“

Seth atmete tief durch. „Es tut mir Leid.“ „Was denn?“ „Es tut mir Leid, dass ich mich die ganze Zeit wie ein

Jammerlappen verhalten habe. Was soll ich dazu sagen... Scheißerziehung eben.“

Logan riskierte ein vorsichtiges Lächeln. „Ja, irgendjemand hat dich richtig versaut.“

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Der Knoten war geplatzt und beide verfielen in schallendes Gelächter.

„Abgemacht, Partner“, sagte Seth. „Abgemacht“, wiederholte Logen, und die beiden schüttelten

sich die Hände. „Okay“, fuhr Seth fort, nachdem er sich einen Schluck

Kaffee genehmigt hatte. „Was ist mit dieser berühmt-berüchtigten CD?“

Logan setzte sich wieder. „Nun ja... ich lasse gerade mein bestes Dekodierprogramm drüberlaufen. Kann ein paar Minuten dauern. Oder ein paar Stunden. Vielleicht sogar ein paar Tage. Keine Ahnung. Sicher ist jedenfalls, dass es funktionieren wird. Es hat mich bisher noch nie im Stich gelassen.“

„Weißt du, was?“ „Was?“ „Ich habe seit vier Tagen kein Auge mehr zugemacht“,

gähnte Seth. „Kann ich mich auf der Couch breit machen?“ „Nein.“ „Nein?“ „Leg dich ins Gästezimmer.“ „Zeig mir den Weg.“ Logan begleitete seinen Gast zum Schlafzimmer. Seth ließ

sich sofort ins Bett fallen. „Weck mich, sobald dein Computer gute Nachrichten für uns hat.“

„Das werde ich.“ „Du könntest auch ein Schläfchen gebrauchen. Siehst echt

Scheiße aus, Partner.“ Ein verschmitztes Lächeln fiel über Logans Dreitagebart.

„Wie’s aussieht hat man euch in Manticore so was wie Takt auch nicht beigebracht.“

Die beiden lächelten einander zu, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlten sie sich wie Freunde.

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FBI-Zentrale Seattle, Washington, 2019

Donald Lydecker war farblos vor Wut. Er war ein Mann, der normalerweise seine Emotionen nicht zeigte. Nun aber stand er wütend bis zum Anschlag in einem Büro der FBI-Zentrale, Ecke Zweite Straße und Madison – in einer grauen Jacke mit Reißverschluss, schwarzem T-Shirt und schwarzen Jeans.

„Sie wollen mir also in einer die nationale Sicherheit betreffenden Angelegenheit nicht helfen?“, sagte er.

„So habe ich das nicht gesagt“, antwortete der stellvertretende Special Agent Gino Arcotta hinter einem Schreibtisch voller unerledigter Akten. „Nicht wirklich.“

Arcotta war schlank und gut trainiert, achtunddreißig Jahre alt, trug kurzes schwarzes und lockiges Haar, ein kantiges und sauber rasiertes Gesicht, und seine braunen Augen waren wachsam und hatten einen scharfen Blick.

„Ich habe gesagt, dass ich Ihnen momentan keine Männer zur Verfügung stellen kann“, fuhr er fort.

„Vielleicht habe ich mich noch nicht klar genug ausgedrückt“, sagte Lydecker. „Das ist eine Sache...“

„... nationaler Sicherheit“, brachte Arcotta den Satz in müdem Ton und leicht genervt zu Ende. „Colonel, lassen Sie mich deutlicher werden...“

Richard Nixon, 1968, dachte Lydecker. „Washington hat für dieses Büro nur sechs Leute angestellt.

Drei davon arbeiten tagsüber und drei in der Nacht. Das ist alles... und trotz dieser kleinen Besatzung kommen wir mit dem Budget nicht klar.“

„Ich habe auch ein knappes Budget, aber das bedeutet nicht, dass ich mich um meine Verantwortung drücke.“

Arcotta fuhr fort, als hätte er Lydecker nicht gehört. „Zwei der drei Agenten im Frühdienst arbeiten gerade an einem Banküberfall. Die drei aus der Nachtschicht untersuchen eine

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Entführung und sind in diesem Moment...“ Er schaute auf seine Uhr. „... in der sechzehnten Arbeitsstunde.“

„Ein einziger Mann würde mir schon helfen, Agent Arcotta.“ „Colonel, ich bin der dritte Mann im Frühdienst. Dieser

Arbeitsplatz darf leider nicht unbesetzt bleiben. Das ist eine Vorschrift. Verraten Sie mir, Sir, woher ich den Mann für Sie holen soll.“

„Ich wüsste schon, woher“, sagte Lydecker auf ironisch süße Art und verließ das Büro wie auf der Flucht aus einem brennenden Gebäude.

Es war klar, dass vom FBI keine Hilfe zu erwarten war. Seine eigenen Männer würden in den nächsten 24 Stunden ebenfalls nicht auftauchen, denn die schlechten Witterungsverhältnisse hielten ihre Maschine in Wyoming auf dem Boden. Wenn ihn also das FBI im Stich ließ, musste er sich seine Hilfe eben etwas weiter unten auf der Nahrungskette holen.

Zwanzig Minuten später stand er am Schreibtisch eines Leutnants.

„Ich brauche nur vier Männer für 24 Stunden. Das ist alles.“ Der vierzigjährige Leutnant – zigarettengebräunte Zähne und

haselnussbraune Augen, von herabhängenden Tränensäcken umhüllt – sagte: „Wie wär’s mit vierundzwanzig Männern für vier Stunden? Nicht einmal das könnte ich machen.“

Lydecker öffnete seine Faust, zeigte ein Bündel Geldscheine und machte sie wieder zu. „Sie scheinen ein vernünftiger Mann zu sein. Ich denke nicht, dass wir keine Lösung finden.“

Der Leutnant war von Lydeckers Faust förmlich hypnotisiert. Lydecker öffnete sie von Zeit zu Zeit – wie bei einer Art Fingergymnastik – und erweckte damit offensichtlich grüne Hoffnungen.

„Was ich brauche Leutnant, sind vier... okay... verdammt... zwei Leute für vierundzwanzig Stunden, bis meine Männer eintreffen.“

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„Abgemacht, lassen Sie uns darauf die Hände schütteln“, antwortete der Leutnant.

Lydecker drückte ihm kurz die Hand und zog sie leer wieder zurück. Dann warf er eine Visitenkarte auf den Tisch. „Meine Hoteladresse steht auf der Rückseite. In einer Stunde...“

Eine Stunde später saßen Lydecker und seine Tasse Kaffee in der Hotelbar zwei Kriminalbeamten und zwei Glas Bier gegenüber. Aus einem kratzigen Lautsprecher krächzten Frank Sinatra-Balladen aus alten Tagen, und der abgestandene Rauch im Raum durfte etwa aus der selben Zeit stammen.

Der Ältere der beiden Zivilschnüffler, um die fünfzig, schien noch gut in Form zu sein, auch wenn sein Gesicht etwas blass, seine Augen etwas traurig und sein kurz geschnittenes braunes Haar etwas angegraut wirkten. Er hieß Rush, obwohl er überhaupt nicht nach Eile aussah. Der jüngere Schnüffler, Davis, war etwa dreißig, trug rötliches Haar, einen hellen Teint und hellblaue Augen.

„Der Leutnant meinte, Sie brauchten Hilfe“, sagte Rush. „Ja, es geht um eine nationale Angelegenheit.“ „Normalerweise unterstützen wir keine ‚nationale

Angelegenheit’, Colonel. Ging was schief beim FBI?“ „Man hat mir den Tipp gegeben, dass wenn ich in dieser

Stadt etwas gerne schnell erledigen möchte, der beste Weg derjenige zum Police Department wäre. Und... hat man mir zu viel versprochen?“

„Selten treffendere Worte gehört“, meinte Rush. „Hat denn Ihr Problem auch einen Namen?“

„In gewisser Weise.“ Er schaute von Rush zu Davis und wieder zurück. „Eyes Only.“

Die beiden Kriminalbeamten wechselten vorsichtige Blicke. „Ich muss ihn unbedingt finden.“ Rush schnaubte. „Viel Erfolg und viele Grüße an ihn.“

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„Es muss einen Weg geben ihn zu finden. Ihr habt doch die Sektorengrenzen im Griff, und ich sehe überall eure Überwachungsdrohnen...“

„Colonel“, mischte sich Davis zum ersten Mal ein. „Wir suchen schon seit Jahren nach Eyes Only und sind nicht einen Deut schlauer als am ersten Tag. Er ist sehr vorsichtig, und er ist clever. Scheinbar hat er diese ganze Maschinerie selbst finanziert. Und vor allem, jeder seiner Freundchen ist ihm gegenüber absolut loyal.“

„Das wäre so was wie ein Sektenmitglied dazu zu bewegen, seinen durchgeknallten Messias zu verraten“, fügte Rush hinzu.

Lydecker zuckte mit den Lippen. „Es gibt da noch einen zweiten Verdächtigen – einen Verbündeten von Eyes Only.“ Aus seiner Jackentasche holte er ein paar Abzüge von Seth aus dem SNN-Video. „Erkennen Sie den hier?“

Jeder der beiden Schnüffler nahm ein paar Bilder und blätterte sie durch. Dann wechselten die beiden scharfe Blicke. Rush lockerte sich wieder auf und fragte: „Kennen Sie diesen Typen?“

„Ich habe gehofft, dass Sie ihn kennen“, antwortete Lydecker freundlich. „Ich weiß, dass Sie auf den Fotos einige seiner Spielkameraden erkennen. Diese Bullen aus Seattle, zum Beispiel, die er wie Konfetti durch die Luft gewirbelt hat.“

„Hören Sie...“, sagte Rush und beugte sich nach vorne. „Wir wissen nur, dass dieser Junge einigen wirklich guten Leuten den Arsch aufgerissen hat... und dasselbe würden wir ihm auch gerne verpassen...“

„... und es ihm so richtig besorgen“, verlängerte Davis. „Hört sich an, als ob wir im gleichen Film gelandet wären“,

meinte Lydecker. „Aber, ist das alles, was Sie über den Jungen wissen? Haben Sie keine Ahnung, warum es zu diesen Auseinandersetzungen mit ihren uniformierten Brüdern gekommen ist? Hat er Tante Emma-Läden oder Schulkinder überfallen? Sagen Sie schon.“

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Rush warf einen Blick zu Davis. „Da ist ein Typ, Ryan Devane... Sektor-Chef. Ein sehr einflussreicher Mann. Der Junge hat sich in seine Geschäfte eingemischt.“

„Er hat sich das Geld geschnappt“, fuhr Davis dazwischen. „Und ist dabei unseren Jungs über den Weg gelaufen“,

erklärte Rush weiter. „So etwas haben Sie noch nie gesehen... er kam völlig unbeschadet davon. Und jetzt ist Devane seit ein paar Tagen verschwunden.“

Lydecker war völlig stolz auf seinen rebellischen Schüler. „Dann ist Devane sicher tot. Dieser junge Mann ist bemerkenswert.“

„Der Kerl hat meinem Schwager das Genick gebrochen“, sagte Davis.

„Und keiner hat den Jungen bisher gefunden“, fügte Rush hinzu. „Glauben Sie mir, das Police Department hat jeden verdammten Winkel nach ihm gecheckt.“

„Wird immer noch nach ihm gesucht?“, fragte Lydecker. Rush zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

Davis auch. „Na schön, ich denke, wir sollten gehen und uns auf die

Suche machen“, sagte Lydecker und stand auf. Die nächsten sechs Stunden verbrachte Lydecker mit Rush

und Davis. Jedem zeigten sie Seths Fotos, boten großzügige Summen für Hinweise auf Eyes Only. Sie rüttelten jeden Penner, jeden Bastard wach, den sie jemals im Leben getroffen hatten – und davon gab es wirklich eine Menge –, aber alles ohne Erfolg.

Lydecker setzte sich wieder auf den Rücksitz des Autos und sie setzten ihre Fahrt durch die Stadt fort.

„Wie zum Teufel ist das nur möglich?“, fragte Lydecker schließlich. „Dieser Hurensohn Eyes Only arbeitet seit Jahren verdeckt in dieser Stadt und keiner hat auch nur den Hauch einer Ahnung?“

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Rush antwortete in selbstgefälligem Ton: „Soll ich jetzt sagen ,Ich habe es Ihnen doch gesagt’?“

Lydecker widerstand dem Drang, über diesen Satz nachzubrüten und dachte stattdessen über Sinnvolleres nach. „Vielleicht haben wir die Sache falsch angepackt.“

„Gibt es überhaupt etwas, das wir noch nicht versucht haben?“, fragte Davis hinterm Lenkrad.

„Ja, gibt es. Der junge Mann, den wir suchen, hat ein gesundheitliches Problem.“

„Welches denn?“, fragte Rush. „Er leidet unter Anfällen. Das Einzige, mit dem er die

Symptome unter Kontrolle bekommt, ist Tryptophan... ein Enzym. Diese Substanz gehört nicht zu den verbotenen Drogen. Aber jemand, der beim Kauf kein Aufsehen erregen möchte, holt sich das Zeug sowieso auf dem Schwarzmarkt. Haben Sie eine Idee, wo wir uns diesbezüglich umschauen könnten?“

Die beiden Schnüffler tauschten ein paar kurze zustimmende Blicke aus.

„Lehnen Sie sich zurück und haben Sie etwas Geduld, Colonel“, sagte Davis. „Wir fahren zum anderen Ende der Stadt. Es wird eine gute Stunde dauern.“

Unterwegs erzählte Davis, dass der Typ, den sie jetzt aufsuchen wollten, schon zweimal innerhalb der letzten drei Jahre wegen illegalen Verkaufs von Drogen in Schwierigkeiten geraten war.

„Und warum ist er auf freiem Fuß?“ „Weil Johnnie Cochran hinter ihm steht.“ Lydecker schmunzelte über diese Formulierung und

überlegte, ob der Polizist wusste, dass es vor dem Puls tatsächlich einen berühmt-berüchtigten Anwalt namens Johnnie Cochran gegeben hatte. Er fragte: „Wie heißt der Typ?“

„Johan Bryant.“

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Das Auto hielt schließlich vor einem Haus in der Vorstadt. Es war eines dieser Retro-Bauernhäuser, die sich die Neureichen in letzter Zeit hatten bauen lassen und hatte bestimmt eine siebenstellige Summe gekostet – wie jedes Haus in dieser Straße.

„Nettes Häuschen für einen Dealer“, kommentierte Lydecker.

Auf dem gepflegten Rasen davor stand ein Schild mit der Aufschrift Wachsamer Nachbar.

„Wir sind hier völlig fehl am Platz“, sagte Rush. Davis nickte zustimmend. „Colonel, in diesem Stadtteil ist

praktisch jeder in ein krummes Geschäft verwickelt. Wie sonst könnten sie sich solche Häuser leisten... bei der wirtschaftlichen Situation!“

„Warum verhaften Sie diese Leute nicht?“ „Das tun wir ja“, antwortete Rush. „Leider ist jeder in dieser

Nachbarschaft, der nicht kriminell ist, ein Strafverteidiger.“ Das meinen sie also mit ‚Wachsamer Nachbar’, dachte

Lydecker. Eine attraktive dreißigjährige Blondine in einer

champagnerfarbenen Hose öffnete die Haustür. Sie erkannte Rush ziemlich schnell und führte die drei ohne sich vorzustellen – es sollte letztlich ein Geheimnis bleiben, ob sie Haushaltshilfe, Ehefrau oder Freundin des Hausherren war – in ein großes Zimmer auf der rechten Seite des Gebäudes.

Die Wände waren in hellem Gelb gestrichen und die Dekoration war komplett in Weiß, genauso wie der dicke schwere Teppichboden. Dies hätte durchaus das Wohnzimmer sein können.

Doch Lydecker nahm an, dass es sich um eine Art Musikzimmer handelte, denn das einzige Möbelstück war ein weißer Flügel, auf dessen dazugehörigem Stuhl ein Mann saß, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Johan Bryant handelte. Seine Hände ruhten auf der Tastatur.

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Der Mann blieb sitzen, als das Trio das Zimmer betrat. Rush war vorne und Lydecker stand hinter den beiden. Bryant war groß, blond und hatte einen gut trainierten Körper. Er hätte der Hitlerjugend angehören können, aber sein hippiemäßig nach hinten zusammengebundenes Haar war eindeutig zu lang dafür.

„Rush... Davis... wie steht’s?“, grinste er breit mit unglaublich weißen Zähnen – der gleiche Farbton wie seine Hose, übrigens. Er trug einen gelben Pullover mit V-Ausschnitt und Sandalen. Auf einem Untersetzer auf dem Flügel stand ein Glas klare Flüssigkeit mit Zitrone.

„Ich denke nicht, dass wir uns schon begegnet sind“, sagte Bryant leutselig und blickte, an den zwei Polizisten vorbei, in Richtung der uneindrucksvollen Gestalt in grauer Jacke mit Reißverschluss.

„Noch nicht“, bestätigte Lydecker mit einem Grinsen. „Uncle Sam braucht Sie“, sagte Rush zu Bryant und deutete

auf den Colonel. „Dieses Mal also nicht die Kranken- und

Rentenversicherungsanstalt für Polizeibeamte“, sagte Bryant und nudelte leise auf dem Klavier.

„Vergessen Sie’s“, antwortete Rush ernsthaft. Bryant lächelte ironisch. Die beiden Detektive traten näher. Lydecker stellte sich auf

Bryants andere Seite. Er zog die Fotos aus der Jackentasche. Der Dealer schlängelte weiterhin über die Tastatur.

„Wir sind auf der Suche nach einem Verdächtigen“, sagte Lydecker. „Hat nichts mit Drogen zu tun.“

Bryant nudelte weiter. „Diese Person benutzt Tryptophan“, fuhr Lydecker fort. „Das Zeug kriegen sie in jeder Apotheke“, kommentierte der

Dealer. „Die Apotheken führen Buch über solche Verkäufe. Der

Kunde muss unterschreiben, diese Person aber wird sich davor hüten. Schauen Sie sich bitte diese Bilder an.“

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Bryant nudelte ein wenig mehr. Lydecker hielt ihm eines der Fotos vors Gesicht. „Haben Sie

den schon mal gesehen?“ „Nein“, antwortete Bryant, seinen Blick auf die Tastatur

gerichtet. Lydecker griff nach dem blonden Haarzopf und schob – wie mit einem Hebel – Bryants Gesicht auf die Tasten. Der schmerzvolle, überraschte Schrei war von unmusikalischen, dissonanten Klängen begleitet.

Die Frau kam sofort angerannt, mit einer großen Pistole in ihrer kleinen Hand. Davis pflückte sich die Waffe – wie eine Blume – und verschwand mit der Dame aus dem Zimmer.

Lydecker trat einen Schritt zurück, um dem Dealer die Gelegenheit zu geben, sich wieder aufzurichten. Bryant fasste sich ans Gesicht. Da waren nur ein paar kleine Schnitte und Striemen. Doch die weinten jede Menge roter Blutstränen auf den gelben Pullover. Als der Dealer versuchte aufzustehen, drückte Rush ihn wieder nach unten. „Das Interview ist noch nicht beendet.“

Bryant starrte Rush wütend an. Doch der schüttelte nur den Kopf. Diese Geste war für Lydecker ein Hinweis darauf, dass zwischen dem Dealer und den Polizisten eine Vereinbarung existierte... die jedoch in diesem Fall keine Bedeutung hatte.

Der Dealer legte seine Hände wieder automatisch auf die Tasten, dieses Mal ohne zu nudeln.

Lydecker reichte ihm ein Taschentuch und Bryant wischte sich das Blut von der Stirn. „Danke“, sagte der Dealer.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich das Foto noch einmal genauer anzuschauen?“

Der Dealer schluckte. „Jetzt, aus dieser Entfernung, kann ich sagen, dass er mir bekannt vorkommt. Ich habe ihn schon einmal gesehen.“

„Erinnern Sie sich, wo?“ „Ja, ich erinnere mich. Ich könnte Ihnen dabei behilflich sein,

ihn zu finden... sehr gerne sogar.“

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Lydecker grinste und klopfte auf Bryants Schulter. „Es ist immer wieder eine Freude, einen aufrichtigen Bürger kennen zu lernen.“

„Wenn... wenn ich Ihnen sage, wo er sich versteckt hält, war’s das dann?“

„Für Sie, ja“, antwortete Lydecker. Und mit etwas Glück auch für diesen rebellischen X5, ging

es ihm durch den Kopf.

Logan Cales Apartment Seattle, Washington, 2019

Seth war noch am Schnarchen, als Logan mit der Nachricht ins Zimmer kam. Logan schaltete die Nachttischlampe an und weckte den Jungen behutsam auf, um ihn nicht zu erschrecken. Er hatte nämlich keine Lust darauf, die Rolle des Weckers zu übernehmen, auf den Seth normalerweise schlug, nachdem er erwachte.

„Hat... hat dein Computer was für uns?“, fragte Seth noch völlig müde. Er setzte sich aufrecht und gähnte.

„Geduld wird immer belohnt“, lächelte Logan. „Und das Knacken von Software auch.“

Seth war plötzlich hellwach und munter. „Was hast du denn herausgefunden?“

Ein paar Sekunden später saßen die beiden im Wohnzimmer, auf dem Ledersofa. Logan hielt ein paar Blätter in der Hand. „Als du die CD gebrannt hast, mein Freund, hast du alles für uns mitgenommen.“

„Alles? Was heißt ,alles’?“ „Na, alles!“ Logan legte die Blätter auf den Tisch. „Daten,

Uhrzeit, Gemälde, Summe... einfach jedes krumme Geschäft, das Sterling und Kafelnikov gemeinsam gedreht haben.“

„Kein Scheiß?“

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„Hier kannst du alles nachlesen, Seth. Jede einzelne Transaktion. Die nächste steht auch schon dabei.“

Seths Augen weiteten sich. „Du weißt schon, was sie als Nächstes machen werden?“

„Wir wissen es, Seth.“ „Wo und wann?“ „Wir müssen nur noch das FBI verständigen.“ Seths Augen verkleinerten sich wieder. „Wie bitte?“ Logan zuckte mit den Schultern. „Ein Verstoß gegen das

,Kulturschutzgesetz’. Wir rufen dort an und lassen die Kerle verhaften.“

„Das ist doch nicht dein Ernst, Logan?“ „Warum nicht?“ „Eyes Only arbeitet mit dem FBI zusammen? Die sind doch

korrupt! Das sagst du doch auch immer.“ „Klar gibt’s da Korruption“, gab Logan zu. „Jede Menge,

sogar. Aber ich habe gute Kontakte zu aufrichtigen Agents.“ „Oh ja! Und ich werde dich den Jungfrauen unten im

Striplokal vorstellen.“ Seth schüttelte den Kopf. „Hör zu... wir können hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, Logan. Diese Kriminellen stoppen und uns das Geld unter den Nagel reißen.“

„Das letzte Mal, als du einen Kriminellen ‚stopptest’, hast du ihn umgebracht, Seth.“

„Darum geht’s dir also, Logan. Ich würde keinen von ihnen killen, jetzt zumindest nicht. Sie sind schließlich unsere Verbindung zu Manticore. Außerdem ist Manticore das FBI. Lydecker ist ein gottverdammter FBI-Agent.“

Logan wusste, dass Seth Recht hatte. Aber er spürte immer noch das Blut aus der letzten Aktion mit Seth an seinen Händen kleben.

„Hör mal“, sagte Seth. „Wir werden bei ihrem nächsten Deal eingreifen und zur Beruhigung deines Gewissens ein paar schöne Stücke amerikanischer Kultur retten. Eyes Only wird

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dann das Ganze der Öffentlichkeit im Rahmen eines Sonderbeitrags mit dem Titel ,Seths Überlebenstelethon’ verkünden.“

Logan schüttelte den Kopf, stand vom Sofa auf ließ sich in einen der beiden Sessel fallen. „Wenn du deinen Kopf noch einmal verlierst, bin ich für einen weiteren Mord verantwortlich. Vielleicht sogar mehr als einen.“

Seth sprang auf. „Du kapierst es wohl nicht, oder? Du bist nicht dafür verantwortlich, wenn ich jemanden umbringe. Ich bin es!“

„Wir sind ‚Partner’, schon vergessen?“ „Jetzt nicht mehr“, schnaubte Seth. „Ich werde von nun an

nur noch für mich arbeiten. Du nimmst dir sowieso immer das saftige Fleisch und lässt mir die trockenen Knochen übrig.“

„Sind dir die Details auf der CD nicht saftig genug?“ „Die CD, die ich für dich gestohlen habe, Logan. Du kannst

diese Typen fertig machen oder auch nicht. Die Entscheidung liegt bei dir.“

Logan seufzte wie er noch nie zuvor geseufzt hatte. „Okay... mach, was du für richtig hältst... versuch, so gut es geht, einen Mord zu vermeiden. Dann bringst du mir das Gemälde, und das Geld kannst du behalten.“

„Was ist das Ding wohl wert?“, fragte Seth und versuchte locker zu wirken.

„,Kuhkopf in Rot, Weiß und Blau’ von Georgia O’Keeffe“, las Logan laut vom Blatt ab. „Die Käufer sind Koreaner und der Preis beläuft sich auf eine Million einhunderttausend.“

Seth ließ sich wieder auf die Couch fallen und grinste wie ein Kind, das sich auf zwei Kugeln Eis freute.

„Das ist nicht schlecht, Mann... nicht schlecht.“ „Und nachher willst du wirklich verschwinden? Was machen

wir mit Manticore?“

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„Lass mich erstmal mein Geld zählen, dann komme ich hierher zurück. Wann genau und wo geht der Deal über die Bühne?“

Logan blickte auf den Ausdruck. „Auf der Space Needle...“ Er schaute auf die Uhr. „... in etwa vier Stunden.“

„Dann wird es höchste Zeit, mir noch schnell ein paar Touristenattraktionen anzuschauen“, sagte Seth.

„Die Needle ist in letzter Zeit keine Attraktion mehr gewesen.“

„Wie auch immer! Bis dahin ziehe ich mich erstmal in meine Hütte zurück, um mich vorzubereiten.“

Die beiden schauten sich in die Augen und lächelten verlegen, vielleicht sogar mit ein wenig Zuneigung.

„Viel Erfolg...“, sagte Logan. „... Partner.“ „Danke, Bruder.“ Vierzig Minuten später kam Seth in seiner Wohnung an. Sie

war kaum größer als eine Zelle, vor deren einzigem Fenster ein billiger Vorhang hing. In der Wohnung befanden sich ein Bett, eine Anrichte, ein kleiner Kühlschrank, Herdplatte, Mikrowelle, zwei Stühle, Tischchen, ein winziges Schränkchen und ein kleines Badezimmer mit einer kleinen Badewanne, in der man zwar duschen aber nicht baden konnte. Am Kopfende des Bettes lagen unordentlich gestapelt ein paar Bücher, hauptsächlich Horror und Fiction aus der Zeit vor dem Puls und Handbücher über diverse Waffen und Kampfsportarten.

Die Wohnung war, und Seth wusste das, nicht ganz so gemütlich wie die von Logan.

Nachdem er seine Arbeitsklamotten angezogen hatte – schwarze Uniform und schwarze Stiefel – legte er sich noch eine schwarze Jacke, Handschuhe und eine Strumpfmütze zurecht. Auf seinem Weg von Logans Wohnung nach Hause war das Wetter schlechter geworden. Es regnete ziemlich heftig und würde auch noch eine Weile so anhalten.

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Seit mehr als einer Woche hatte es nicht mehr geregnet. Das kam für die sonstigen Verhältnisse in Seattle schon fast einer Dürre gleich. Es schien, als würde Seth genau das bekommen, was er brauchte – eine dunkle sternenlose Nacht. Was er allerdings überhaupt nicht mochte war dieser unaufhörliche sintflutartige Regen. Seth hoffte sehr, dass er aufhörte, bevor er losmusste.

Er hatte noch etwas Zeit und nahm sich deshalb eines der Bücher aus dem Stapel, einen alten Reiseführer von Seattle. Damit konnte er sich schnell über die Space Needle informieren.

Sie wurde 1962 anlässlich der Weltausstellung erbaut. Mit ihren 184 Metern war die Needle damals das größte Gebäude westlich des Mississippi gewesen. Sie war durch 25 Blitzableiter geschützt und hatte drei Aufzüge, die zur Aussichtsplattform und einem darunter liegenden drehbaren Restaurant führten. In etwa 30 Metern Höhe standen Räumlichkeiten für Bankette zur Verfügung und im Erdgeschoss gab es einen Geschenkartikelladen. Der Reiseführer stammte noch aus der Blütezeit der mittlerweile stillgelegten ehemaligen Touristenattraktion und bot nur wenig Information, doch für Seth war das völlig ausreichend.

In diesem Moment hörte er draußen auf der Straße einen Wagen.

Das war ungewöhnlich für diese Gegend, in der Motorengeräusche noch seltener zu hören waren als ein Lachen. Die wenigsten hier konnten sich ein Auto leisten. Seth hielt seinen alten verbeulten Toyota ein paar Blocks weiter in einem Lagerhaus versteckt. Neun von zehn Autos in dieser Gegend waren Bullenautos, und das Geräusch eines solchen löste bei Seth jedesmal einen inneren Alarm aus.

Als er einen zweiten Wagen hörte, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er ging ans Fenster, zog den Vorhang ein kleines Stück zur Seite und schaute nach unten.

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Dort standen zwei Streifenwagen quer zur Fahrtrichtung, um die Straße zu blockieren. Und direkt dahinter war ein drittes Fahrzeug – ein SWAT-Bus – zum Stehen gekommen. Es war klar, sie waren hinter ihm her.

Er wartete noch eine Sekunde, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen und erkannte Lydecker, der gerade aus einem der Wagen stieg.

Wie zum Teufel konnte dieser alte Sack mich hier ausfindig machen?, schoss es Seth durch den Kopf.

Er schnappte seine Jacke, Handschuhe und Mütze, riss die Tür auf und flog förmlich die Treppe hoch. Lydecker und seine Leute hatten das Gebäude vermutlich bereits umstellt, aber sie mussten sich von unten nach oben durcharbeiten. Bis sie Seths Wohnung erreicht hatten, wäre er längst verschwunden.

Auf der Flucht nach oben streifte er seine Jacke über und zog schnell seine Handschuhe und die Mütze an. Die Tür zum Dach war abgeschlossen.

Er trat einen Schritt zurück und warf sich mit der Schulter an die Tür. Sie sprang auf, und Seth eilte nach draußen in den Regen, der wie ein Killer mit einem Messer auf ihn einschlug.

Dann schlug er die Tür wieder hinter sich zu und schob ein herumliegendes Stück Holz unter den Griff. Seth war schon nach wenigen Metern völlig durchnässt. Er kämpfte sich weiter durch den Platzregen bis zum Rand des Daches. Der Abstand zwischen diesem und dem Nachbargebäude – beide waren gleich hoch – betrug etwa fünf Meter. Er warf einen Blick nach unten, den unaufhörlichen Regentropfen folgend, und sah Bullen und SWAT-Leute um das Gebäude rennen. Ein paar von ihnen kamen ihm bereits auf der Feuerleiter entgegen.

Seth trat ein gutes Stück zurück, beschleunigte und sprang über die Kluft auf das andere Wohnhaus. Er landete sicher, rollte sich ab und rannte weiter zur anderen Seite dieses Daches. Von hier aus sprang er auf zwei weitere Gebäude und kam schließlich auf dem Eckhaus der Straße an. Er atmete tief

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durch und machte sich in aller Ruhe übers Treppenhaus auf den Weg nach unten auf die Straße. Dort blieb er einen Moment lang stehen und schaute zurück in Richtung seiner Wohnung. Lydecker stand noch immer davor und schlug mit seiner Faust auf einen Polizeiwagen.

Es war für Seth immer wieder eine Freude, den stets beherrschten Lydecker so unkontrolliert und verärgert zu sehen.

Er drehte sich um und vergrößerte langsam aber sicher den Abstand zu seinen Verfolgern. Seth war klar, dass dieser Abend das Ende der noch so jungen Zusammenarbeit mit Logan Cale bedeutete. Seattle hatte ausgedient.

Er war Lydecker dieses Mal zwar entkommen, aber sein ehemaliger Befehlshaber würde nie damit aufhören, ihn zu suchen. Das Geld, das Seth bei Kafelnikovs und Sterlings Deal absahnen konnte, war nunmehr wichtiger als je zuvor... es war eine Art Hoffnung für Seth, vielleicht die einzige, die er überhaupt hatte.

Bisher war an diesem Abend alles gut gelaufen, und das machte ihn stolz. Die X5 waren von Anfang an für schwierige Einsätze vorgesehen. Je mehr Druck sie ausgesetzt waren, desto besser funktionierten sie.

Seth war überzeugt, der Beste von ihnen zu sein, mit Ausnahme von Zack vielleicht.

An diesem Abend hatte er die Chance, es unter Beweis zu stellen... auch wenn er wusste, dass sein ehemaliger Lehrmeister wenig Gefallen an diesen Abschlussfeierlichkeiten gefunden hätte.

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12. Kapitel_________________________ SCHLECHTE GESCHÄFTE

Sublime Laundry Seattle, Washington, 2019

In dunklem Hemd, blauen Jeans und Turnschuhen saß Max auf dem Stuhl vor Vogelsangs Schreibtisch. Das Büro des spitzbärtigen und übergewichtigen Detektivs hatte sein eigenes unverwechselbares Aroma – eine Kombination aus Cremerollen, Waschpulver, Zigarettenrauch und etwas, das entweder Putzmittel oder Barbecuesoße war.

Max’ finanzieller Beitrag zu diesem kleinen Unternehmen floss bestimmt nicht in die Pflege dieser Bude. Es deutete auch keinerlei Anzeichen darauf hin, dass Vogelsang damit seine Garderobe auf Vordermann brachte: Er war immer noch so angezogen, als würde er seine Kleidung in einem dunklen Raum per Zufallsprinzip auswählen. Es sei denn, die Kombination eines beim Schlafen getragenen himmelblauen Hemdes mit einer alarmierend hellgrünen Hose beabsichtigte, seine Taille als bizarren, nach außen gewölbten Horizont irgendwo zwischen Himmel und Gras darzustellen.

„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Max kurz angebunden, denn sie hatte keine Lust, mehr Zeit als nötig an diesem miefigen Ort zu verbringen. Sie überlegte, ob der seltsame Geruch jemals wieder aus ihren Kleidern verschwinden würde... sicherlich nicht, wenn sie die Waschautomaten im vorderen Teil des Ladens benutzte. Außerdem hatte sie an diesem Tag noch einiges zu erledigen. Es sah nach anhaltendem Regen aus und sie wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis die ersten Tropfen zu spüren waren.

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„Ich habe nichts über die Frau oder den Tahoe herausfinden können“, sagte der Detektiv und blätterte durch seine Unterlagen auf dem Tisch. Er vermied den direkten Blickkontakt mit Max.

„Nichts.“ Vogelsang hob seinen Kopf, lächelte nervös und zuckte mit

den Schultern. „Es ist zehn Jahre her. Ich habe es Ihnen gesagt... wir brauchen etwas Zeit dafür.“

„Und etwas über unseren schlimmen Finger gehört?“ Er schüttelte den Kopf. „Nichts... auch über ihn, nichts. Mein

Kontaktmann bei der Polizei hat die Datenbanken nach dem Barcode-Tattoo durchsucht. Ohne Erfolg.“

Max saß weit vorne auf der Stuhlkante. Ihre Augen waren sehr konzentriert. „Dieser Junge hat mit Eyes Only zu tun – und die Bullen interessieren sich für jemanden wie Eyes Only... deswegen sollte es eigentlich...“

„Mit Eyes Only in Verbindung zu stehen ist nichts anderes als sich mit Zorro rumzutreiben.“

„Mit wem?“ „Eine Geschichte aus der Zeit vor dem Puls. Tut mir Leid.

Verdammt, sind sie jung. Egal... ob er nun mit oder für Eyes Only arbeitet. Wir werden jedenfalls eine Menge dafür tun müssen, überhaupt etwas herauszufinden. Eyes Only ist viel mehr als nur eine Stimme und ein Augenpaar. Es ist ein ganzes Netzwerk. Alle, die Eyes Only unterstützen sind treu, zuverlässig und absolut verschwiegen.“

Max spürte, wie ihre Hoffnung zu schwinden begann. Sie hatte diesen Detektiv aufgesucht, um Hilfe zu finden. Die Stadt alleine zu durchstöbern machte keinen Sinn, dafür war sie einfach zu groß. Aber Vogelsang kannte Seattle in- und auswendig. Und Max war ein hervorragend ausgebildeter Soldat, wie ihr Bruder. Warum also sollte es nicht möglich sein, Seth gemeinsam mit Vogelsang ausfindig zu machen?

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„Sie sind keinen einzigen Schritt vorwärts gekommen, sehe ich das richtig? Können Sie mir verraten, wofür ich Sie eigentlich bezahle?“

Vogelsang nippte an seiner Tasse. Ihr Inhalt war nicht auszumachen, wie seine Gedanken. Etwas in seinen Augen aber – ein Flackern – sagte, dass er nachdachte. Mal angestrengt, dann gelöst, dann angestrengt und wieder gelöst...

„Mr Vogelsang!“ Er sprang fast aus seinem Stuhl und konnte seine Tasse

gerade noch festhalten. „Sie haben mich angepiepst“, erinnerte sie ihn mit strengem

Blick. „Warum eigentlich? Nur um mir diese Scheiße zu erzählen?“

Der Privatdetektiv stellte die Tasse auf den Tisch und lächelte nervös. „Ich glaube, ich hab doch etwas für Sie.“

Ihre Hoffnungen kehrten schlagartig zurück, auch wenn sie derlei Emotionen normalerweise vorsichtig kontrollierte. „Was ‚glauben’ Sie denn für mich zu haben?“

„Ich bin nicht der einzige, der diesen Typen sucht.“ Ihre Augen wurden größer, wie die eines geschlagenen

Robbenbabys. Sie lehnte sich zurück. Wer außer mir könnte noch auf der Suche nach meinem Bruder sein?, ging es ihr durch den Kopf. Sie dachte sofort an Lydecker und Sterling... und an einen dritten Kerl: Kafelnikov. „Woher wissen Sie das?“

„Man hört das überall.“ Max rutschte wieder nach vorne. „Erzählen Sie!“ „Ein Pfandhausbesitzer namens Jacobs... nicht gerade das,

was man unter einem ehrenwerten Bürger versteht... eher ein, na ja...“

„... eine schmierige Ratte“, unterbrach sie schroff. „Kaum vorstellbar, dass Sie mit solchen Leuten verkehren. Was hat er Ihnen erzählt?“

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Er ging auf diese Beschreibung nicht näher ein. „Wie dem auch sei, Jacobs hat mir jedenfalls erzählt, dass ich nicht der Erste war, der sich in den letzten Tagen nach dem Jungen erkundigt hatte.“

„Wer sucht ihn denn noch?“ „Ab hier wird die Sache gefährlich. Jemand aus den oberen

Etagen. Vielleicht sogar ein FBI-Agent. Zwei entschlossene Polizisten... entschuldigen Sie die überflüssige Verdopplung... haben diese Person die ganze Zeit über begleitet.“

„Welche Person?“ „Ich habe keinen Namen – ein blonder Typ, nicht allzu groß.

Jacobs meinte, er hatte etwas Beängstigendes an sich. Sie müssen wissen, Jacobs hat es tagaus, tagein nur mit Bastarden zu tun... jedenfalls, ich habe ihn noch nie so ängstlich gesehen.“

Vogelsang war völlig nervös und wollte einfach nicht aufhören zu erzählen. Max hörte ihm zwar zu, doch ihre Gedanken kreisten immer wieder um das eine Thema: War der Blonde nun Lydecker, Sterling oder Kafelnikov? Die beiden letzteren waren schon schlimm genug. Wenn aber Manticore Seth auf den Fersen war, musste sie schnell handeln und ihren Bruder vor Lydecker finden.

„Jedenfalls meinte Jacobs, dass die zwei Bullen und der Blonde anscheinend jeden Gauner auf der Straße angequatscht hätten, vom Penner bis zu denen mit Connections und sie seien dabei auch nicht vor Gewalt zurückgeschreckt.“ Seine Besorgnis war nicht gespielt, nun ja, ein bisschen vielleicht... für Max. „Hören Sie, Max. Wir spielen hier mit dem Feuer. Also, falls das FBI hinter ihm her ist, dann...“

„Alles klar“, sagte Max. „Zurück auf den Boden der Tatsachen.“

Der Detektiv nickte zustimmend und rang nach Luft. „Haben Sie eine Ahnung, wer dieser blonde Kerl sein könnte?“

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„Nein... vielleicht sollten Sie einen Detektiv engagieren, um das herauszufinden!“

Er fühlte sich ein wenig angegriffen. „Sehr lustig.“ „Wusste Ihr Freund Jacobs etwas über den Jungen mit dem

Barcode?“ Vogelsang schüttelte den Kopf. „Nein, aber seine Ohren sind

spitz. Und auch ich habe meine Fühler überall in der Stadt ausgestreckt.“

„Sehr gut“, sagte sie und atmete langsam aus. „Weiter so.“ Er nickte verlegen. „Das Geld geht leider viel zu schnell aus,

junge Frau.“ Sie starrte ihn an. Er hob seine Hände. „Was kann ich dafür? Ich muss Leute

schmieren, um an Informationen ranzukommen. Und von irgendwas muss ich schließlich auch noch leben.“

Sie rutschte wieder nach vorne auf die Stuhlkante. „Wenn Sie mehr Geld wollen, Mr Vogelsang...“, sagte Max ohne mit der Wimper zu zucken, „... dann müssen Sie mir dabei behilflich sein, es zu verdienen.“

Er schob seine Handflächen durch die Luft, wie ein schlechter Pantomime im Kampf gegen einen imaginären Wind. „Ui, ui, ui... ich bin ein Justizbeamter, wissen Sie das? Ich habe einen Eid geschworen. Ich darf nichts Verbotenes tun.“

Max antwortete mit einer hochgezogenen Augenbraue. Vogelsang zuckte mit den Schultern. „Außerdem habe ich

keine Zeit für so etwas.“ „Sagen Sie schon... ich brauche nur einen Namen.“ Vogelsang war etwas irritiert. „Wessen Name denn?“ „Lassen Sie es mich anders formulieren. Angenommen...

ohne Sie als Justizbeamten beleidigen zu wollen... also, angenommen sie hätten ein wertvolles Kunstwerk. Wen würden Sie aufsuchen, wenn Sie es verkaufen wollten?“

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Er dachte nach. „Ich setze voraus, dass dieser Verkauf streng geheim durchgeführt werden soll, richtig?“

Sie nickte. „Eine Transaktion, über die nicht Buch geführt wird.“ „Da soll einer behaupten, Sie seien kein schlaues

Bürschchen.“ Vogelsang wurde neugierig. „Fette Beute?“ „Oh ja! Damit können Sie sich bis an ihr Lebensende mit

Cremerollen einwickeln.“ Vogelsang war sichtlich angespornt und dachte einige

schwere Sekunden lang nach. „Vergessen Sie den Typen, den ich vorhin erwähnte... Jacobs. Was fette Beute anbelangt, das liegt weit außerhalb seiner Reichweite. Für solche Dinge gibt es einen besseren, nicht weit von hier. Er heißt Sherwood.“

„Wo finde ich ihn?“ „Das Glück ist momentan nicht auf seiner Seite, aber er ist

gut. Im Moment hat er sein Geschäft in diesem alten Gebäude abseits der Broad Street.“

Nun war Max die Überraschte. „Sollte ich mich bei Mr Sherwood vorher anmelden?“

„Ja, das sollten Sie.“ „Und wer könnte das für mich erledigen?“, fragte Max. Vogelsang lächelte und rieb sich die Hände. „Hm... ich

könnte mich dazu überreden lassen.“ Mit beiden Händen auf dem Tisch beugte sich Max zu ihm

hinüber. „Möchten Sie gerne weiterhin etwas Geld verdienen?“ Der Detektiv legte den zweiten Gang ein. „Ich könnte ihn

anrufen, als eine Art Gefälligkeit für einen guten Kunden und bei ihm ein gutes Wort für Sie einlegen.“

„Rufen Sie ihn an.“ Er rief an. Sie hörte Vogelsang aufmerksam zu, als er sich mit

Sherwood, den er „Woody“ nannte, einigte. Sein freundlicher Umgangston überzeugte Max davon, dass sie wohl nicht der

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erste Kunde war, den er dem Hehler vermittelt hatte. Vogelsang sicherte ihm zu, dass die Ware von höchster Qualität und der Verkäufer absolut vertrauenswürdig war... und so weiter. Dann deckte er den Hörer mit seiner Hand zu und drehte sich zu Max. „Wie wäre es in einer Stunde?“

„Geht in Ordnung.“ Vogelsang gab die Information weiter und konzentrierte sich

wieder auf seinen Gesprächspartner. „Ich sag’s ihr.“ Er legte auf und gab Max eine ausführliche Wegbeschreibung, die mit „die dritte Tür auf der rechten Seite“ endete.

Max bedankte sich. „So...“, sagte Vogelsang sichtlich vergnügt, seine Hände

flach auf dem Schreibtisch. „... wenn wir uns das nächste Mal treffen, sollten Sie etwas Bargeld mitbringen.“

„Sicher“, antwortete sie auf dem Weg zur Tür. „Und Sie sollten ein paar Informationen liefern.“

Zu Hause wechselte Max ihre Kleidung, sie trug nun einen schwarzen Pullover mit Kapuze, Lederjacke und Hose, um sich unterwegs gegen das schlechte Wetter zu schützen. Dann schnappte sie sich die Tasche mit dem Grant Wood und dem Herz des Ozeans und fuhr auf ihrer Ninja in Richtung der Adresse, die sie von Vogelsang erhalten hatte.

Max wusste, dass es jeden Moment anfangen konnte heftig zu regnen und somit die Gefahr bestand, dass das Gemälde trotz verschlossener Tasche nass wurde. Also gab sie Gas.

Die ersten Tropfen trafen Max, als sie durch die Einfahrt zum Gebäude fuhr, ein dreistöckiges verfallenes Ziegelsteinhaus mit eingeschlagenen Fensterscheiben und einsturzgefährdeten Wänden. Das Dach schien wenigstens in Ordnung zu sein.

Max machte den Motor aus, stieg ab und sah sich um. Sie stand in einem breiten Flur, dessen beide Seiten früher Büros gewesen waren. Jetzt waren nicht einmal mehr Türen vorhanden, und wenn doch, dann standen sie offen und ihr Glas war eingeschlagen. Die inneren Wände hatten Löcher und

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überall huschten Ratten umher. Das scheinbar verlassene Gebäude war unbeleuchtet, und ohne ihre spezielle Nachtsichtfähigkeit wäre Max völlig hilflos gewesen.

Vielleicht hat Vogelsang mich verpfiffen, dachte Max. Und ich laufe geradewegs in eine Falle. Wer weiß, möglicherweise sind das überhaupt keine Ratten hier, sondern Lydecker, Sterling oder Kafelnikov.

Mit der Tasche in der Hand – als ob sie eine bestellte Pizza abliefern wollte – lief sie den Flur entlang bis zur dritten Tür auf der rechten Seite, die einzig geschlossene auf dem Korridor. Zu ihrer Erleichterung sickerten durch den Türschlitz ein paar Lichtstrahlen.

Natürlich konnte das immer noch eine Falle sein. Doch Vorsicht stand an diesem Abend nicht auf ihrer

Tagesordnung. Sie öffnete die Tür und trat ein. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes war dieser Raum in einwandfreiem Zustand – abgesehen von dem kopfgroßen Loch an der rechten Wand, das als Fenster zum nächstgelegenen Büro gedacht war. Alle anderen Wände waren in Ordnung. Die Tür hatte ein Schloss, und für die Beleuchtung sorgte eine Neonlampe.

In der Mitte standen ein alter Schreibtisch aus Metall, daneben eine Kiste mit einem Fernsehgerät und davor zwei Klappstühle, ebenfalls aus Metall. Neben der geöffneten Tür an der hinteren Wand, die in ein kleines Badezimmer führte, stand ein Tischchen mit einer Kochplatte. Ein zusammengerollter Schlafsack lag gemütlich in der Ecke, und der kleinste aller Kühlschränke surrte gemütlich vor sich hin. Der Raum war zwar spartanisch eingerichtet, aber tadellos sauber.

Hinter dem Schreibtisch, in einem veralteten Drehstuhl, saß – mit auf dem Tisch gefalteten Händen – ein alter grauhaariger Mann. Er war um die siebzig und trug eine Nickelbrille, die seine dunklen lebhaften Augen zusätzlich hervorhob. Sein kräftiger Pfeffer- und Salzschnurrbart und ein langer grauer Kinnbart waren gepflegt und sauber gestutzt. Er trug einen

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dunklen altmodischen – jedoch nicht abgetragenen – Anzug und ein bis oben zugeknöpftes weißes Hemd ohne Krawatte. Trotz der eigenartigen Umgebung empfand ihn Max als durchaus respektablen Geschäftsmann.

„Mr Sherwood?“, fragte Max. Er stand auf und deutete auf einen der beiden Metallstühle.

„Es würde mich freuen, wenn Sie mich ,Woody’ nennen... sind Sie Max?“

„Ich bin Max.“ Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Interessante Geschäftsstelle. Wohnen Sie hier auch?“

Sie setzte sich und er auch. „Im Moment, ja... manchmal zwingt einen das Kunsthandelsgeschäft dazu, den Lebensstil neu zu bewerten und unter Umständen Abstriche zu machen.“

„Ein Bett, zum Beispiel?“ Er seufzte, blieb aber dennoch locker. „Ich muss zugeben,

dass ich in letzter Zeit viel Pech hatte... aber ich bin nur noch ein paar Meter von der Sonnenseite der Straße entfernt.“

„Ist diese Straße hier in Seattle?“ „Ist ein Ausdruck, meine Kleine... aus der Zeit vor dem

Puls.“ Ich muss unbedingt ein paar jüngere Leute kennen lernen,

dachte Max. „Sie sind sehr jung und sehr hübsch“, fuhr Sherwood fort.

„Und Sie sehen sehr gesund aus.“ Sie neigte den Kopf etwas zur Seite. „Danke... und hat das

etwas mit unserem eventuellen Geschäft zu tun?“ „Nein, das war nur eine Feststellung. Ich habe es meistens

mit Dieben zu tun. Die jungen sind oft Drogenabhängige, sie haben nicht Ihre robuste Ausstrahlung. Und die älteren haben eine Härte, die Sie hoffentlich nie bekommen werden.“

Max wusste darauf keine Antwort, wie auch immer. „Ich möchte damit nicht behaupten, dass eine Frau... eine junge Frau... keine Diebin, keine gute Diebin sein kann. Ich habe im

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Laufe der Jahre einige kennen gelernt... sie sind entweder unangenehm hart oder – offen gesagt – lesbisch... oder beides.“

Sie wusste nicht, ob sie darüber amüsiert oder irritiert sein sollte. „Fragen Sie sich jetzt, ob ich lesbisch bin?“

„Mein Kind, in meinem Alter ist das völlig irrelevant“, strahlte er durch die Barthaare.

Max lächelte zurück. Er war ein angenehmer alter Junge. „Möchten Sie sehen, was ich mitgebracht habe?“

„Oh ja!“, sagte er leicht ironisch. „Ich denke, wir haben bereits ausreichend Geselligkeit gepflegt, oder?“

Sie antwortete mit einem breiten Lächeln, drehte sich um und öffnete die Tasche. Dann schob sie die Halskette unbemerkt in ihre Jackentasche und holte das Gemälde hervor. Als sie sich ihm wieder zuwandte, fiel seine Kinnlade wie eine Falltür nach unten.

„Ist das... ist das Ding echt?“, fragte er, nachdem er das Gemälde längere Zeit angestarrt hatte.

„Sollte es sein“, lächelte sie. „Ich bin nicht beleidigt, wenn Sie es prüfen.“

„Ich bitte darum“, sagte er. Sie rollte das Kunstwerk auf dem breiten Tisch aus, während

Sherwood aus einer Schublade ein Gerät holte, das er UVIN nannte. Er stellte sich neben den Tisch – wie ein Arzt bei einer Operation. „Darf ich Sie bitten, das Licht auszuschalten, mein Kind?“

Max befolgte seinen Wunsch. Der Hehler startete das UVIN und die Strahlen fuhren über das Gemälde. Er schaute mit beunruhigtem Blick auf, dann wieder zurück auf das Gemälde, um es noch einmal zu testen. Ein plötzlicher Donner ließ Max erschaudern, schwere Regentropfen hämmerten an die Fenster und hallten durch den gesamten Korridor.

„Mein Kind“, sagte er schließlich. „Dies hier ist ein echter Grant Wood.“

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Sie versuchte, ihre innere Spannung zu verbergen. „Wieviel?“

„Normalerweise...“ Er zuckte mit den Schultern. „... sechs Stellen... locker. Aber Sie ahnen vielleicht schon, dass mir dieses Geld nicht zur Verfügung steht. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe überhaupt keines hier. Ich kenne jedoch einige Käufer, die diese Summe aufbringen könnten.“

Max’ Aufregung wuchs. „Und jetzt, wie geht’s weiter?“ Irgendwo in seinem Bart hatte Sherwood ein selbstgefälliges

Grinsen versteckt. „Ich nehme an, Ihr Vertrauen ist nicht groß genug, dass Sie mir dieses Bild für ein paar Tage hier lassen.“

„Ich mag Sie, Woody“, sagte sie. „Aber so sehr nun auch wieder nicht.“

„Ich kann es Ihnen nicht übel nehmen. Die Sache sieht jedoch folgendermaßen aus. Wenn wir dieses hübsche Stück für einen annähernd guten Preis verkaufen wollen, möchte der Käufer es natürlich erst einmal überprüfen. Und um dies zu ermöglichen, muss ich es hier behalten.“

Max war von dieser Idee nicht sonderlich begeistert. „Was sollte Sie davon abhalten, mich auszutricksen?“

„Sie meinen, außer meinem Alter und dem Preis für Viagra?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann Ihnen nur mein Wort darauf geben. Hat Mr Vogelsang nicht für mich gebürgt?“

„Natürlich... und wer gibt mir die Garantie für das Gemälde?“

„Ich verstehe... Max, ich versichere Ihnen, dass ich ehrlich bin.“

„Woody, Sie handeln täglich mit Diebesgut, schon vergessen?“

„Stimmt... aber auf eine ehrliche Art.“ Sie lachte über sich selbst. „Okay, Woody. Rufen Sie mich

an, sobald Sie einen Interessenten haben und ich bringe das Gemälde hierher.“

„Das ist machbar“, sagte er. „... unter zwei Bedingungen.“

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„Schießen Sie los.“ „Erstens... ich bin ihr Puffer gegenüber dem Käufer und

umgekehrt. Eine Art Isoliermaterial, falls... beispielsweise Sie oder mein Kunde uns in Schwulitäten bringen... ist Ihnen dieser Begriff aus der Zeit vor dem Puls geläufig?“

„Dieser schon“, antwortete sie. „Zweitens... es gießt in Strömen draußen. Sie können es nicht

riskieren, das Gemälde wieder mitzunehmen... auch nicht in dieser Tasche, trotz Reißverschluss.“

„Möglich, dennoch lasse ich das Bild auf keinen Fall hier. Sie sind wirklich sehr nett, aber ich habe Sie gerade erst kennen gelernt. Vielleicht sind Sie ein ehrlicher Gauner, das mag sein, aber Sie sind eben ein Gauner.“

Er blies seine Wangen auf. „Das ist natürlich ein Argument... außerdem könnte ich das Geld sehr gut gebrauchen.“

„Gut. Und?“ Der Hehler seufzte. „Na schön, junge Frau. Lassen Sie mich

kurz telefonieren. Ich glaube, den passenden Kunden für Sie gefunden zu haben.“

„Prima. Erzählen sie mir was über ihn... oder über sie?“ Zum ersten Mal an diesem Abend runzelte er die Stirn.

„Wenn ich Ihnen Namen oder Hintergründe nenne, setze ich damit mein Berufsethos aufs Spiel.“

Max schwieg, und auch sie runzelte die Stirn. Sherwood griff nach einem Handy in seiner Jackentasche.

„Soll ich anrufen? Ich werde mein Bestes tun, den Käufer davon zu überzeugen, sofort hierher zu kommen.“

„Ja... rufen Sie an.“ „Aber Sie können nicht hier bleiben.“ Sie war langsam verärgert. „Woody, ich kann nicht nicht hier

bleiben!“ „Nein, mein Kind... was ich damit sagen will... Sie können

ins nächste Zimmer gehen und mich durch das Loch beobachten und mir auch zuhören.“ Er deutete auf die

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kopfgroße Öffnung, die Max bereits beim Betreten des Zimmers aufgefallen war. Das Loch befand sich etwa einen Meter hinter Sherwood und war der perfekte Platz, um die Transaktion zu verfolgen.

„Mir wäre es dennoch angenehm zu wissen, wer der Käufer ist.“

„Kein Kompromiss, mein Kind. Vertrauen Sie mir, ich werde Sie beschützen.“

Max stand auf, schnappte sich den Stuhl und klappte ihn mit ihren kleinen Händen – in kleinen Lederhandschuhen – unter lautem Krachen zusammen.

Sherwoods Augen leuchteten. „Ich mag Frauen, die sich behaupten... er heißt Glickman. Das ist alles, was ich von ihm weiß. Eigentlich ist er auch ein Puffer... der Agent einer Gruppe von Käufern. Ich weiß zudem – und darüber werden Sie sich besonders freuen –, dass Mr Glickman sehr gut bezahlt... bar, und in nicht durchnummerierten Scheinen... Zehner, Zwanziger, Fünfziger... und er feilscht nicht um jeden Cent. Für gute Qualität zahlt er einen guten Preis... soll ich ihn anrufen?“

Auf ihren vollen Lippen machte sich ein Lächeln breit. „Nehmen Sie ruhig Ihren Telefonjoker!“

Sherwood lächelte entzückt. „Ich dachte, Sie kennen sich nicht aus mit Begriffen aus der Zeit vor dem Puls?“

Zwanzig Minuten später trommelte der Regen noch immer sein Staccato auf die Fensterscheiben, und sein Echo hallte immer noch wie Pistolenschüsse durch den Korridor. Max und ihre Ninja waren im Büro nebenan sicher versteckt, als sie hörte, wie draußen jemand eine Autotür zuschlug. Sie schlich zu dem Loch an der Wand und nahm eine versteckte Position ein, von der aus sie den mysteriösen Glickman beobachten konnte.

Sherwood zeigte nicht die geringste Spur von Nervosität. Und Max zweifelte keine Sekunde daran, dass sie nicht die

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erste Person war, die von diesem Versteck aus eine Transaktion beobachtet hatte. Dennoch fragte sie sich, ob das Loch möglicherweise entstanden war, als ein unzufriedener Kunde Sherwoods Kopf gegen die Wand geschlagen hatte.

Im Dunkeln beobachtete Max durch die kaputte Tür ihres geheimen Büros, wie zwei Männer im Flur vorbeiliefen und Sherwoods Büro betraten. Sie blieben in der Nähe der Tür stehen und so konnte Max nicht mehr als ihre Silhouette erkennen.

„Was ist mit dem Stuhl passiert?“, fragte einer der beiden mit nasaler Stimme und irgendwie gedämpft.

„Vandalen!“, sagte Sherwood in verärgertem Ton und stand auf. „Mr Glickman, es tut mir Leid, dass ich Sie bei diesem Wetter hierher bemühe. Aber, wie ich am Telefon bereits erwähnte, handelt es sich um einen bedeutenden Grant Wood.“

Sherwood nahm das Kunstwerk mit stolzem Lächeln vom Tisch.

„Ja, das ist es“, antwortete eine vornehme Stimme. „Ich... ich kenne Ihren Kollegen nicht. Das ist ein Verstoß

gegen die Etikette.“ „Verstoß gegen die Etikette?“ antwortete eine andere, rauere

Stimme. „Ich kann mir was Schlimmeres vorstellen.“ Max erschauderte. Sie hatte diese Stimme schon einmal

gehört... im Foyer von Jared Sterlings Villa... es war die eines seiner Sicherheitsmänner, Maurer – der schwarze, gepflegt aussehende Bodyguard.

„Schlimmeres?“, fragte Sherwood überrascht. Die beiden machten einen Schritt nach vorne, in Richtung

der Neonlampe und damit auch in Max’ Blickfeld. Rechts, in einem schwarzen tropfenden Regenmantel, stand Maurer mit bandagierter Nase. Links stand das andere ,Isoliermaterial’, Mr Glickman in einem London Fog-Mantel. Max erkannte ihn sofort – sein grauer Bürstenhaarschnitt und die Zehn-Cent-

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große Narbe auf jeder seiner Wangen. Sterlings Sicherheitschef.

„Ich meine... Sie versuchen mir gerade ein Gemälde zu verkaufen, das meinem Boss gestohlen wurde“, fuhr Glickman fort.

Sherwood war völlig verunsichert. „Ich... ich... ich hatte keine Ahnung...“

„Die gesamte Presse hat darüber berichtet. Sie arbeiten doch in der Kunstbranche und wissen sicherlich, dass dieses Gemälde hier Mr Sterling gehört?“

„Aber... meine Herren... ich hatte keine Ahnung, dass Mr Sterling ihr Kunde ist... ich nahm an, dass Sie eine Gruppe ausländischer Käufer vertreten... verzeihen Sie.“

„Nein“, sagte Glickman. Seine Hand griff in den London Fog. Max war klar, dass er

kein Taschentuch hervorzaubern würde, also nahm sie drei Schritte Anlauf und warf sich mit ihrem gesamten Körper gegen die Wand. Sie platzte im selben Moment in Sherwoods Büro, als Maurer den ersten Schuss abfeuerte. Max konnte ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen, doch aus Reflex, wenn auch sinnlos, schützte sich Sherwood, indem er das Kunstwerk direkt vor sein Gesicht hielt.

Die 9-Millimeter-Kugel durchbohrte das Gemälde und hinterließ ein Loch – etwa in der Größe eines Golfballs. Dann drang sie durch Sherwoods Kopf und entfernte dabei ein ordentliches Stück seiner Kopfhaut.

„Das Gemälde!“, rief Glickman entsetzt. Trotz dieser Warnung zerriss Maurers zweite Kugel einen

noch viel größeren Teil des Meisterwerks, ehe sie kurz darauf Sherwoods Brust spaltete und den Mann samt Stuhl und Gemälde nach hinten schleuderte. Grant Wood krachte gegen die Wand, und Sherwood lag ausgestreckt auf dem Rücken.

Max stürzte auf Maurer zu und trat ihm mit dem Stiefel so heftig gegen die bandagierte Nase, dass er schreiend auf den

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Boden knallte. Da es ihm beim Aufprall seine Waffe aus der Hand schlug, hatte er diese nun frei, um sich damit an die stark blutende Nase zu fassen.

Glickman hatte sich geduckt, als Max durch die Wand kam. Er beschoss sie von der Seite, geriet jedoch aus dem Gleichgewicht und verfehlte sie. Noch bevor er die Balance wiederfand, hatte Max ihn bereits erreicht, wich kurz einer Kugel aus und verpasste Glickman einen solch heftigen Fußtritt zwischen die Beine, dass er auf direktem Weg gegen die Wand krachte. Er rutschte langsam nach unten, landete auf dem Boden und blieb mit weit geöffnetem Mund dort liegen. Sterlings Sicherheitschef war jedoch kein Waschlappen, und den Begriff ,Schmerz’ kannte er nur als Fremdwort. Er war immer noch kampfbereit und feuerte erneut ab. Die Kugel zischte haarscharf an Max’ Schulter vorbei und landete wie ihre Vorgängerin in der Wand.

Auf dem Boden, neben dem toten Dealer – der auf dem Rücken liegend stur an die Decke starrte – grabschte Maurers blutverschmierte Hand nach der Pistole und zielte auf Max. Dummerweise stand Glickman direkt hinter ihr, und da sie dem nun folgenden Schuss ausweichen konnte, traf die Kugel ihn mitten in die Brust.

Seine Augen weiteten sich und er fiel zurück an die Wand. Er starrte auf seine Wunde, dann zu Maurer. „Du blöder Idiot!“, röchelte er zum Abschied.

„Scheiße!“, rief Maurer und wedelte mit seiner Pistole auf der Suche nach seinem Ziel, das anscheinend verschwunden war.

Plötzlich stand Max jedoch neben ihm, schnappte seinen Arm und drehte seinen Ellbogen entgegen der normalen Bewegungsrichtung. Maurer schrie vor Schmerz, seine Hand öffnete sich und die blutverschmierte Waffe fiel nach unten. Dann renkte sie ihm die Schulter aus und drückte den gebrochenen Arm nach hinten auf den Rücken.

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Maurers Schmerzen waren so groß, dass er nicht einmal mehr schreien konnte.

„Eine Frage“, sagte Max mit kalter Stimme. „Bei falscher Antwort breche ich ihren Arm.“ Sie drückte seinen Arm noch stärker an den Rücken. Maurer krümmte sich und heulte erbärmlich.

„Fragen Sie... fragen Sie!“ „Wo finde ich Sterling... jetzt?“ Er versuchte seinen Kopf zu drehen, aber sie kurbelte den

Arm ein Stück nach oben, sodass sein Kopf nach vorne fiel und er wieder vor Schmerzen aufschrie.

„Sagen Sie schon.“ Sie drehte zusätzlich seine Hand nach oben.

„Gut... gut! Er ist auf der Needle.“ Max runzelte die Stirn und lockerte ein wenig den Griff. All

die angestaute Luft wich aus Maurers Körper und er sackte ab. Sie wusste, wenn sie ihn losließ, würde er wie ein Arm voll Brennholz auf den Boden stürzen.

„Space Needle?“ „Was denn sonst... es gibt keine andere Scheißneedle... da

läuft gerade ein Deal.“ „Mehr Information“, fuhr sie fort und machte sich keine

Mühe ihre Bitte durch zusätzliche Folter zu betonen. Maurer war mittlerweile kooperativ genug.

„Der Boss und der Russe verkaufen ein Scheißgemälde an irgendwelche Koreaner, oben auf dem Dach.“

„Jetzt? Im Moment?“ „In etwa einer Stunde... ja.“ „Danke!“, sagte Max und ließ ihn los. Einen Moment lang stand er wacklig auf den Beinen, mit

dem Rücken zu ihr und sagte: „Ich werde... Ihnen keine Schwierigkeiten machen.“

„Das weiß ich“, antwortete sie und versetzte ihm einen Schlag ins Genick.

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Max hinterließ ein kaputtes Gemälde, einen toten Hehler, einen toten Sicherheitschef und einen bewusstlosen Untergebenen Sterlings, der noch jede Menge Erklärungen über das zerstörte Meisterwerk und seinen erschossenen Vorgesetzten abzuliefern hatte.

Immerhin hatte Max noch die Kette in ihrer Tasche. Jenes kostbare Juwel – das so viel Schaden und so viele Tote verursacht hatte – war plötzlich von noch viel größerer Bedeutung geworden. Nur mit seiner Hilfe konnte sie diesen Teufelskreis beenden und sich und ihren Bruder in Sicherheit bringen.

Sie blickte auf Sherwood und schüttelte den Kopf. Der alte Junge hätte nicht sterben müssen, aber es war nicht ihre Schuld und sie war auch nicht für seinen Tod verantwortlich. Er hatte diesen Weg gewählt, auch wenn er seine Sonnenseite nicht mehr erreicht hatte. Während ihrer kurzen – aber bedeutsamen – Beziehung hatte sie den exzentrischen Hehler sehr gemocht. Und nun war Sherwood ein weiterer Teil ihres Lebens, den ihr Sterling und Kafelnikov weggenommen hatten, ein weiterer abgeschlachteter Gefährte, wie jeder ihrer Freunde vom Chinese Clan...

Im Büro nebenan setzte sie ihre gelbe Brille auf und schob die Ninja den Flur entlang bis zum Eingang. Dann stieg sie auf, zündete den Motor und jagte die Maschine durchs Tor, hinein in den sie erwartenden Sturm.

Ein heftiger Windregen peitschte in ihr Gesicht, als sie die Broad Street entlang in Richtung Space Needle fuhr. Das störte Max jedoch nicht im Geringsten. Sie betrachtete es als eine Art Säuberung und wünschte sich, dass der Regen all den Dreck, den Abschaum und die Korruption aus dieser stinkenden verfaulten Stadt und diesem zerbrochenen Land wegspülen würde...

Sie parkte in einem ausgebrannten Gebäude, zwei Blocks von der Needle entfernt. Während sie sich erstmal neu

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orientierte, schaute sie nach oben und war überrascht, wie riesig diese Konstruktion war. Natürlich hatte sie die Needle schon mal gesehen. Es war undenkbar, in der Smaragdstadt zu leben und sie niemals bemerkt zu haben. Allerdings, so richtige Aufmerksamkeit, die hatte sie ihr nie geschenkt.

Mit mehr als einhundertachtzig Metern sah die Needle aus wie eine gigantische Metallblume. Die Nacht war so dunkel und der Regen so stark, dass Max den obersten Teil des Gebäudes nur erkennen konnte, wenn es blitzte. Während der Bauzeit in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war die Needle das Leuchtfeuer einer hoffnungsvollen Zukunft gewesen. Und jetzt war sie nur noch ein Skelett, ein makabres Überbleibsel jener naiven Zeit voller Hoffnungen und Visionen, die der Puls völlig zunichte gemacht hatte.

Seit dem Puls war, bedingt durch den Niedergang der Wirtschaft, das Interesse an der Needle als Touristenattraktion stetig gesunken. Nacheinander wurden das Restaurant, die Aussichtsplattform – zu viele Leute sprangen von hier aus in den Tod – und letztlich auch die Räumlichkeiten für Bankette geschlossen. Mittlerweile diente das Gebäude hauptsächlich als Übungsort für Graffitikünstler, es war in über hundert verschiedenen Farbtönen bemalt. Rot, schwarz, gelb, weiß und jede nur erdenkliche sonstige Farbe. Der Geschenkartikelladen im Erdgeschoss, dessen Fenster längst zerschlagen waren, schien Max der vernünftigste Eingang zum Gebäude zu sein.

Die Umgebung dieses Wahrzeichens hatte das gleiche Schicksal erlitten und erinnerte Max an ein Video mit dem Titel Sarajewo und Beirut, das sie einst in Manticore gesehen hatte. Die einzigen unzerbrochen Fensterscheiben in dieser Gegend waren diejenigen der beiden Autos, die auf dem Needlegelände unter einer Blechmarkise geparkt waren, auf die pausenlos der Regen trommelte. Sie schlich näher und versteckte sich hinter einer Mülltonne auf dem Parkplatz. Von hier aus hatte sie einen besseren Blick.

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Eines der beiden Autos war eine schwarze Luxuskarosse, ein Lexus mit kalifornischem Nummernschild, wahrscheinlich der Schlitten des Russen. Das andere war ein alter Hummer, ein Mietwagen, der Max nur allzu sehr an die Tage in Manticore erinnerte. Jedes der beiden Fahrzeuge war von einem Mann bewacht. Der Typ neben dem Hummer – er war kleiner als sein Kollege nebenan – rauchte gerade eine Zigarette und lief auf der Fahrerseite ständig auf und ab.

Der andere Wachposten stand neben dem Lexus und war Max näher als sein Kollege. Er war gegen die Tür gelehnt und starrte in ihre Richtung. Für einen Moment dachte Max, er hätte sie entdeckt. Doch sie bemerkte schnell, dass er einfach ins Leere geschaut und sein Kopf nur zufällig in ihre Richtung gezeigt hatte. Trotzdem wäre es ihm aufgefallen, wenn sie sich bewegt und somit jeden Überraschungsversuch zunichte gemacht hätte.

Hinter der Mülltonne fand sie einen Stein – etwa in der Größe eines Zuckerwürfels – und warf ihn auf die Straße. Er landete – wegen des Regens – kaum hörbar auf dem Asphalt. Dennoch, alle Achtung, schauten beide Männer in die gleiche Richtung. Max nutzte die Ablenkung und versteckte sich vor dem Lexus.

„Was war das denn?“, fragte einer der beiden, ein Japaner – dem Akzent nach zu urteilen.

„Keine Ahnung“, antwortete der Wachposten neben dem Lexus gelangweilt. Er trug eine dunkelbraune Jacke mit Reißverschluss und schwarze Jeans.

Jetzt, wo sie etwas näher war, identifizierte Max ihn als Jackson, der kurzgeschorene Ringer, den sie von ihrem ersten Besuch in Sterlings Villa kannte.

„Sollen wir mal nachschauen?“, fragte der Japaner. „Tun Sie, was für richtig halten, und machen Sie sich ruhig

nass. Meine Order ist, mich nicht vom Fleck zu rühren.“

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Der Japaner ging zu seinem Hummer zurück und zündete sich eine Zigarette an. Jackson war gegen die Fahrertür des Lexus gelehnt und starrte ins Leere. Max entschloss sich, zuerst den Japaner auszuschalten. Sie rollte unter den Hummer und, als er nahe genug war, schnappte sie nach seinen Knöcheln und hob ihn hoch. Er flog, nach Atem ringend, durch die Luft.

Sie war bereits unter dem Wagen hervorgekrochen, als er mit dem Kopf voran auf dem Asphalt landete. Er streckte alle viere von sich, und als er Max mit glühenden Augen anstarrte, musste er wohl angenommen haben, dass das alles ein Traum war – vor allem dieses hübsche, auf ihn herabblickende Gesicht.

Der Eigentümer dieses hübschen Gesichts versetzte ihm einen Faustschlag an die Schläfe, und er blieb regungslos und kalt auf dem Rücken liegen.

„Haben Sie etwas gesagt?“, fragte Jackson. Als er keine Antwort erhielt, richtete er sich auf und schärfte

langsam seinen Blick. Er begann sich allmählich dafür zu interessieren, was passiert war und schaute sich um. Das einzige was Jackson erkennen konnte war einer von Max’ Stiefeln, der – nachdem sie in Kampfsportmanier über das Dach des Wagens geflogen war – ihm einen heftigen Kick mitten ins Gesicht verpasste. Jackson kippte um. Er spuckte die blutigen Zähne wie Obstkerne aus, versuchte aufzustehen und seine Zähne zusammenzubeißen – zumindest die übrig gebliebenen –, wurde jedoch umgehend wieder von einer knallharten Linken niedergestreckt.

Der Regen trommelte auf die Blechmarkise. Damals, als die Needle noch ein beliebtes Ausflugsziel für

die ganze Familie war, gab es drei Aufzüge. Auch wenn Max nicht beabsichtigte, einen davon zu benutzen, wollte sie dennoch wissen, ob die Teile noch da waren und ob sie funktionierten. Falls Sterling die Needle als regelmäßigen

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Treffpunkt für seine schmutzigen Geschäfte nutzte, hatte er sicherlich für die nötige Stromzufuhr gesorgt, die auch nur seine Leute bedienen konnten.

Max betrat den Geschenkeladen durch ein zerschlagenes Fenster und schaute sich um. Das einzig hörbare Geräusch war die Feuchtigkeit, die von ihrem Lederanzug abtropfte. Der Zugriff zum Strom musste sich auf dieser Etage befinden. Der Boden und auch die Theke waren ziemlich verstaubt. Sie konnte genau ausmachen, wo früher einmal die Registrierkasse gestanden hatte, bevor man sie abriss.

Max hielt einen Moment inne, hörte sich aufmerksam um, und da es nichts zu hören gab, schlich sie vorwärts...

Auf der linken Seite war eine Tür, die zu dem Korridor mit den Aufzügen führte. Er endete in einer unübersichtlichen Kurve, weswegen Max sich entschloss, erst einmal eine andere Richtung abzuchecken. Hinter der Theke führte eine zweite Tür zu einem Nebenzimmer. Sie lauschte aufmerksam – es gab immer noch nichts zu hören – und trat ein. Der Raum war stockdunkel, selbst Max konnte kaum etwas erkennen. Nachdem die X5 hier keine weiteren Türen entdeckt hatte, ging sie zurück in den vergleichsweise hellen Laden, der wenigstens ab und zu von einem Blitz beleuchtet wurde.

Max widmete sich nun wieder der ersten Tür und spähte auf den Korridor mit den Aufzügen. Niemand zu sehen. Langsam schlich sie nach vorne und erkannte auch schon bald die Fahrstühle auf der rechte Seite. Aus der leuchtenden Etagenanzeige schloss sie, dass die Aufzüge tatsächlich in Betrieb waren.

Einer der drei Aufzüge befand sich momentan in Höhe der Aussichtsplattform, die beiden anderen auf der gleichen Etage wie sie. Die linke Seite des Korridors war die ehemalige Glaswand des Ausstellungspavillons gewesen. Jetzt waren davon nur noch die Metallrahmen und ein paar Scherben übrig. Etwa zwei Meter hinter dem letzten Aufzug befand sich eine

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weitere Tür. Sie war nur angelehnt und so konnte sichtbar etwas Licht nach außen dringen.

Max spähte durch die Öffnung und entdeckte einen von Sterlings Männern.

Von der Decke hing – wie eine elektrische Frucht – eine Glühbirne und sorgte für die Beleuchtung. An einer Wand befanden sich die Schaltkästen, und vor der anderen saß Sterlings Handlanger auf einem Klappstuhl. Er blätterte in einem Sportmagazin mit einer Frau im Bikini auf der Titelseite. Diesem Typen war sie bisher noch nicht begegnet. Ein Rotschopf mit breiten Schultern und einem sehr kantigen Gesicht. Er trug eine braune Jacke mit Reißverschluss und eine dunkelbraune Hose.

Max trat unerwartet schnell ein. „Kann ich die lesen, wenn Sie damit fertig sind?“

Er hob seinen Kopf und starrte sie verwirrt an. Max verpasste ihm zuerst eine Rechte, dann eine Linke und noch eine Rechte. Die Zeitschrift fiel ihm aus der Hand, und der Typ kippte zusammen mit dem Stuhl um. Bevor sie – der Typ und der Stuhl – auf dem Boden aufschlugen, fing Max die beiden auf und stellte sie ganz leise, um Geklapper zu vermeiden, wieder aufrecht vor die Wand.

Sie überlegte, ob sie das Seil an ihrem Gürtel dafür benutzen sollte, den Mann zu fesseln, entschloss sich aber für den Gürtel des Typen, weil sie möglicherweise das Seil später noch gebrauchen konnte.

Den Aufzug zu benutzen war keine gute Idee. Also blieb ihr keine andere Wahl, als die Treppe nach oben

zu steigen, wo bereits ein böser Prinz und seine niederträchtigen Berater nichtsahnend auf sie warteten.

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13. Kapitel_________________________ TREFFPUNKT: SPACE NEEDLE

Space Needle Seattle, Washington, 2019

Treppenhaus stand auf der Tür an der Ecke der Aufzugshalle. Auf dem Boden davor lag ein Vorhängeschloss wie eine Metallblume, anscheinend frisch gepflückt und alles andere als das Ergebnis eines längst verjährten Vandalismus.

Sie öffnete die Tür ganz vorsichtig und richtete ihren Blick den Treppenstufen entlang nach oben in die Dunkelheit. Das Trommeln des immer noch heftigen Regens drang von oben herab wie das Echo einer konfusen Militärkapelle. Im Treppenhaus selbst entdeckte sie nasse Fußspuren. Max war anscheinend nicht der einzige Tourist, der an diesem Abend zur Space Needle gekommen war...

Aufgrund der Lautstärke des hämmernden Regens war es ihr unmöglich zu sagen, ob jener Tourist sich noch irgendwo im Treppenhaus befand oder bereits oben angekommen war.

Max betrachtete den vor ihr liegenden – 150 Meter langen – Aufstieg als eine Art Chance zu trocknen. Ihr Haar war von der Nässe verklebt, ihre Kleider waren mit Ausnahme der Lederteile komplett vollgesaugt, und wären da nicht diese besonderen Talente gewesen, hätte sie eigentlich schon längst erfroren sein müssen. So war ihr nur ein wenig kühl. Ganz vorsichtig und leise klammerte sich Max nun an die Wand und stieg Schritt für Schritt, den Fußspuren folgend, nach oben.

165 Stufen später – und nicht im Geringsten außer Atem – gelangte sie in einen Bankettraum, der weit weniger unter dem Vandalismus gelitten hatte als das Erdgeschoss – das Ergebnis von 30 Metern Fußmarsch. Die Lichter der Stadt waren von

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dem peitschenden Sturm zwar sehr gedämpft, doch dank ihrer Katzenaugen konnte sie sich einen verdienten Ausblick über die Umgebung genehmigen.

Im Raum standen mehr Tische als Max auf Anhieb zählen konnte. Viele waren umgekippt. Einige waren sogar noch mit weißen Tischdecken und andere mit dickem Staub bedeckt. Überall verstreut lagen lilafarbene Stühle, und die kleinen Dinge wie Porzellan, Silberbesteck, Gläser und Tischlampen waren größtenteils längst verschwunden. Die Fenster in dieser Etage waren in besserem Zustand als unten, und nur wenige von ihnen waren zerschlagen.

Sie lauschte nach eventuellen Geräuschen des ihr vorausgehenden Eindringlings, konnte jedoch außer dem heulenden Wind und dem trommelnden Regen nichts Außergewöhnliches feststellen.

Der Weg nach oben war noch lang. Aber sie widerstand dem Drang sich beeilen zu müssen. Trotz ihrer exzellenten Kondition wollte sie nicht riskieren sich überzustrapazieren. Vor allem, weil sie nicht abschätzen konnte, wie viel Kraft sie bei einem eventuellen Kampf auf dem Aussichtsdeck noch benötigen würde. Nach einem solch strengen Fußmarsch musste sie so frisch wie möglich sein. Ihre Energie auf dem Weg nach oben zu verschwenden wäre purer Selbstmord gewesen, und die nächste Möglichkeit, eine Rast einzulegen, war das noch etwa 120 Meter entfernte Aussichtsrestaurant. Zwischen hier und dort waren nur die Treppen und sie...

... und vielleicht der andere Tourist, der den selben Weg vor ihr genommen hatte. Während des Aufstiegs dachte sie darüber nach, was sie oben erwarten würde. Der Lexus konnte maximal sechs Personen befördern und der Hummer vielleicht acht. Sollte das alles sein? Nicht mehr als vierzehn Typen, von denen sie drei bereits erledigt hatte?

Übrig blieb also eine potentielle 11-Mann-Armee, der Mann im Treppenhaus vor ihr mitgerechnet. Wenn aber der andere

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Treppensteiger genau wie sie ein Eindringling war, dann warteten dort oben vielleicht zwölf Typen und zwölf Knarren auf sie.

Die leuchtende Etagenanzeige im Erdgeschoss hatte angezeigt, dass sich der Fahrstuhl in Höhe der Aussichtsplattform befand. Max überlegte, ob bei diesem Wetter der Kunst-für-Cash-Handel auf die Restaurantetage verlegt worden war. Also bereitete sie sich auf alle Eventualitäten hinter der Tür vor...

... doch von dort grüßten nur die Stille, der Staub und die Dunkelheit. Offenbar – Wind und Regen hin oder her – fand der Deal wohl doch am ursprünglich vorgesehenen Ort statt. Denn anscheinend konnten sich diese vertrauensunwürdigen Typen nur im Freien vertrauen – selbst mitten im Sturm.

Nach diesen zusätzlichen 640 Stufen und 120 Metern Kletterei verspürte selbst Max’ genetisch hochgetrimmte Muskulatur die ersten Ermüdungserscheinungen. Sie legte eine Pause ein und lehnte sich an die Wand.

Der Raum – in nunmehr 150 Metern Höhe – war so dunkel, dass selbst sie als X5 sich anstrengen musste, etwas zu erkennen. Ein paar Dinge konnte sie jedoch ausmachen. Die erhöhten Podeste, zum Beispiel, auf denen einst die Gäste selbst von der Mitte des Restaurants den wunderschönen Blick über die Stadt hatten genießen können. Oder die Ahorntäfelung, die dem Raum ein besonders elegantes – und bei Tageslicht sehr natürlich glänzendes – Ambiente verlieh. Und die Sitzkissen, deren ehemals leuchtendes Gelb man trotz der dicken Staubschichten immer noch erahnen konnte.

Max wischte sich den Schweiß von der Stirn, atmete leicht und kontrolliert. Sie fühlte sich gut und beinahe erfrischt, jedenfalls bereit für die letzten Meter auf dem Weg, der ganzen Geschichte ein Ende zu machen und Sterling und Kafelnikov, vielleicht sogar Lydecker höchstpersönlich zu erledigen...

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„Mein Gott! Mach doch wenigstens ab und zu ein paar Dehnübungen!“

Rechts von ihr war eine junge männliche Stimme aufgetaucht. Max bewegte sich vorsichtig in deren Richtung und hielt sich kampfbereit. „Und deine Fertigkeiten sind auch ziemlich eingerostet... verdammt, du hast nicht einmal bemerkt, dass ich hier bin“, fuhr die Stimme aus der Dunkelheit fort.

Max war wütend auf sich selbst, denn die Stimme hatte Recht. „Schluss mit dem Versteckspiel, komm raus und teste meine Kampfqualitäten aus erster Hand.“

Der Schatten trat langsam hervor. Er trug Schwarz vom Fuß bis zur Strumpfmütze, die sein kurzgeschorenes braunes Haar nicht völlig verdeckte. Sein schmales, knochiges Gesicht und die grünen Augen hatten sich kaum verändert, auch wenn er mittlerweile zu einem jungen Mann herangewachsen war. Max wurde in diesem Moment ganz schwach, sie spürte jeden einzelnen ihrer Muskel... und das hatte mit dem Klettern nicht das Geringste zu tun.

Seth. Nicht Zack, sondern Seth, der die Flucht in jener Nacht nicht

geschafft hatte... war er nun Lydeckers X5 oder der Rebell, wie ihn SNN beschrieben hatte?

Max lockerte ein wenig ihre Kampfstellung, blieb aber dennoch vorsichtig. „Was zum Teufel machst du hier, Seth?“, fragte sie.

„Ich fühle mich geschmeichelt, dass du mich erkannt hast“, antwortete er. „Welche bist du denn? Jondy... oder vielleicht Max?“

„Ich dachte, du erkennst mich...“ „Hab deinen Barcode gesehen, als du dich an die Wand

gelehnt hast, Schwester. Ich tippe auf Max.“ Sie nickte zustimmend und eine Welle von Gefühlen – eine

Art bittersüße Wärme – brach über sie herein, als sie registrierte, dass ihr Bruder sie erkannt hatte.

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Seths Blick wurde etwas strenger, und er deutete mit seinem Finger an die Decke. „Ist dir klar, was da oben gerade abgeht?“

Sie nickte. Er war immer noch sehr ernst, sein Blick leer und die Augen

völlig emotionslos. Nur Zack hatte einen noch härteren Gesichtsausdruck. „Das ist meine letzte Chance, Manticore für immer zu entkommen.“

„Entkommen?“, fragte sie. „Richtig. Vielleicht schaffen wir das gemeinsam.“ Max’ Emotionen kochten noch mehr, doch sie versuchte,

sachlich zu bleiben. „Woher soll ich wissen, dass du nicht für Lydecker arbeitest?“

Seths ernste Miene wirkte plötzlich verwirrt, etwas gekränkt und mürrisch. „Warum sagst du so etwas?“

„Als wir flüchteten, bist du zurückgeblieben!“, platzte es vorwurfsvoll aus ihr heraus.

„Sie haben mich erwischt!“, verteidigte sich Seth. „Das stimmt... und sie haben dich zurückgeschleppt.

Prüfungen mit Note 1 bestanden, Bruder?“ Sie schritt drohend in seine Richtung und er nahm dieselbe

Kampfstellung ein wie sie. „Ich konnte in der selben Nacht entkommen. Zwei der Bastarde dachten, sie hätten mich. Aber ich brachte sie durcheinander und nutzte die Gelegenheit davonzulaufen. Seitdem renne ich die ganze Zeit, wie du auch, wahrscheinlich.“

Auch wenn sie ihn immer noch misstrauisch beobachtete, wollten ihr Herz und jede einzelne Körperzelle ihm glauben. Wenn sie und die anderen in jener Nacht es geschafft hatten zu entkommen, warum also auch nicht er?

Trotz der genetischen Manipulation und der militärischen Ausbildung hatte sie gelernt, innere Regungen zuzulassen, nicht zuletzt dank Lucy und deren Mutter – und vor allem dank Moody und dem Chinese Clan, für deren Tod sie sich verantwortlich fühlte. Genau diese Emotionen, diese Impulse

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trieben sie jetzt dazu, Seth mehr zu glauben als sie jemals überhaupt an etwas geglaubt hatte. Sie sehnte sich so sehr nach einer Familie. Nach jemandem, der so war wie sie, den sie ihren Bruder oder ihre Schwester nennen konnte...

Ihre Gedanken wurden plötzlich von quietschenden Autoreifen auf dem Parkplatz unterbrochen. Nur sie – oder jemand, der war wie sie – konnte derlei Geräusche bei diesem Unwetter wahrnehmen. Sie rannten beide nach vorne und schauten durch den peitschenden Regen nach unten. Ein kurzer Blitz sorgte für bessere Sicht und sie erkannten, wie schwarze Manticore-Fahrzeuge die Wege abriegelten und die TAC-Teams aus allen Wagen strömten.

„Lydecker“, seufzte Seth. „Verdammt!“, rief Max mit einer Mischung aus Wut und

Enttäuschung. „Ich hätte wissen sollen, dass du mit ihm unter einer Decke steckst.“

Sie drehte sich um und versuchte, ihm einen Tritt in die Brust zu versetzen, doch er wehrte ab. Im Gegenzug setzte er einen Kick an, sie war jedoch bereits wieder im Gleichgewicht und konnte dem Fußschlag gekonnt ausweichen...

... dann standen sich die beiden von Angesicht zu Angesicht in Kampfstellung gegenüber.

Seth schüttelte den Kopf, und sein Blick schien verzweifelt. „Max, ich schwör’s dir. Ich arbeite nicht für ihn. Keine Ahnung, wie er uns gefunden hat.“

Ihr Ton wurde jetzt sarkastisch: „Ist ein Rätsel, was?“ „Schwester... wir müssen beide hier raus.“ Sie wollte ihm mit einer Linken einen Stoß versetzen, aber er

lehnte sich zurück und der Schlag ging knapp an seiner Brust vorbei. Er wich einen Schritt zurück, packte sie am Arm, nutzte praktisch ihren Schwung und schleuderte sie über sich auf einen Tisch, der durch den Aufprall zerschmetterte.

„Wir müssen alle Aufzüge nach oben holen, um Lydecker aufzuhalten“, meinte Seth, als Max leicht betäubt wieder

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aufstand. Durch den Raum blitzte ein Licht und durch Max ein Zweifel... vielleicht sagte Seth ja die Wahrheit...

„Nein, mach das nicht!“, rief Max und deutete an die Decke. „Die da oben werden den Etagenanzeiger sehen!“

Jeder Überraschungsangriff – was Sterling, Kafelnikov und ihre kleine Armee betraf – wäre in diesem Fall dahin gewesen.

Doch es war schon zu spät für weitere Diskussionen. Seth hatte bereits die Knöpfe gedrückt und die zwei Aufzüge

aus dem Erdgeschoss zum Restaurant hochbestellt. Max hoffte, dass Sterling, Kafelnikov und ihre Käufer die Anzeiger im Moment nicht beobachteten.

„Das war’s wert“, sagte Seth ganz wild. „Immerhin sind wir jetzt vor Lydecker sicher.“

„Vielleicht ist er schon in einem der Aufzüge?“, sagte sie und biss die Zähne zusammen.

„Verdammt, Schwester! Wir brauchen Tische.“ „Wofür das denn?“ „Sobald der Aufzug da ist, halten wir damit die Türen offen,

dann bleibt der Fahrstuhl hier oben... und Lydecker muss mit seinen Jungs die große Bergtour abziehen.“

Endlich vertraute sie ihm. Sie zogen die Tische Richtung Aufzug. Als es klingelte und

die erste Tür sich öffnete, hielt Max einen Moment lang den Atem an und wartete gespannt, ob vielleicht Lydeckers Leute herausströmten...

... der Fahrstuhl war leer. Der zweite auch. Also schnappten sie sich die Tische und

blockierten damit die Türen. Bruder und Schwester grinsten sich zum ersten Mal an, ihr erster, wenn auch kleiner gemeinsamer Triumph.

Als Seth zur Treppe Richtung Aussichtsplattform eilte, blieb Max für einen kurzen Moment unentschlossen zurück. Ihre Gefühle waren immer noch durcheinander. Sie war schon so viele Jahre auf der Flucht, und das weckte in ihr die

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Wahnvorstellung, dass Seth möglicherweise doch für Lydecker arbeitete. War dies eine Falle?

Trotz der Zweifel blieb sie nicht lange stehen. Lydecker stand definitiv unten, und die blockierten Aufzüge würden sein Eintreffen zwar verzögern, aber nicht verhindern. Also blieb ihr als einzige Chance, Seth zum Aussichtsdeck zu folgen.

In Windeseile flog sie die letzten zweiunddreißig Stufen hoch und platzte durch die Tür auf das Deck.

Innerhalb 1,6 Sekunden machte sie eine Bestandsaufnahme: Der Regen prasselte unnachgiebig auf das synthetische Material des von Stahl gestützten Daches. Die Betonplattform selbst war umgeben von einer etwa ein Meter hohen Betonmauer mit Stahlstangen im Abstand von jeweils drei Metern. Jede Stange hatte vier Löcher. Sie dienten als eine Art Haken für Stahlkabel, die Menschen vom Todessprung abgehalten hatten – damals als die Needle noch in Betrieb war. Die Kabel waren mittlerweile längst gestohlen, nur noch die niedrige Mauer und die dicken Stahlstangen waren übrig geblieben. Der Wind peitschte unaufhörlich, und die Sichtweite war gleich Null. Die drei Aufzüge kamen normalerweise durch die Mitte der Needle nach oben und öffneten sich zum Deck. Rechts davon befand sich die Treppenhaustür, durch die Max gerade auftauchte...

Vor den Aufzügen war Seth bereits in einen Kampf mit zwei muskulösen Koreanern in schwarzen Regenmänteln verwickelt.

Rechts erkannte sie Jared Sterling in einem braunen Trenchcoat. Und einen weiteren, etwas älteren Koreaner in einem schwarzen. Die Haare der beiden standen vom Wind zu Berge, als hätten sie sich beim Betrachten des Kampfes zwischen dem jungen X5 und den koreanischen Gangstern zu Tode erschreckt.

Sterling hielt eine große schwarze Mappe in seiner Hand – zweifellos gefüllt mit Meisterwerken, die fürs Ausland bestimmt waren. Und der Asiat umklammerte mit seiner

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rechten Hand den Griff eines Aktenkoffers. Die beiden Herren waren offensichtlich bei einer Übergabe gestört worden. Kafelnikov war nirgends zu sehen, obwohl er natürlich einfach nur außer Sichtweite oder versteckt hätte sein können. Max war bewusst, dass Morales und wahrscheinlich einige andere aus Sterlings Sicherheitstruppe irgendwo herumschlichen.

Lydecker und sein TAC-Team konnten jederzeit auftauchen. Es gab noch einen dritten Aufzug, den sie und Seth nicht mit Tischen blockiert hatten... und so bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich urplötzlich dessen Tür öffnete, und Lydecker seinen eigenen melodramatischen Auftritt auf der regen- und sturmgepeitschten Showbühne präsentierte.

Seth verpasste gerade einem Koreaner einen Haken und zerschmetterte dabei dessen Nase zu scharlachroter Masse. Der Mann knallte auf den Betonboden und blieb regungslos liegen. Als der männliche X5 sich den zweiten Koreaner vorknöpfen wollte, entdeckte Max plötzlich Morales, der gerade mit gezücktem Revolver aus einer dunklen Ecke – für Seth nicht sichtbar – hinter den Aufzügen hervorkam.

Max eilte in Richtung Morales und erregte damit seine Aufmerksamkeit. Den Schüssen konnte sie geschickt ausweichen, war plötzlich direkt vor ihm und versenkte ihren Fuß zwischen seinen Beinen. Als ob er mit dem Wind konkurrieren wollte, blies Morales vor Schmerz unter Heulen all seine Luft aus. Er sackte zusammen und landete auf einem Knie, als ob er Max anbeten wollte und versuchte dann, seine Balance mit einer Hand zu halten. Die Pistole in der anderen ging blitzartig in Max’ Besitz über. Mit einem Schlag auf den Solarplexus brachte sie ihn wieder zum Stehen, drückte kurz und heftig ihren Kopf gegen den seinen und beobachtete mit Freude, wie er rückwärts auf dem Deck landete und dort bewusstlos – wie der Beton – liegen blieb.

Max hatte nicht bemerkt, dass Sterling und der Koreaner ihre Blicke auf den von Morales abgefeuerten Schuss gerichtet

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hatten. Der Koreaner verstand die Situation fälschlicherweise als einen Verrat Sterlings und versuchte demzufolge sich sowohl die schwarze Mappe als auch den Aktenkoffer unter den Nagel zu reißen.

Als Max sich in ihre Richtung drehte, veranstalteten die beiden Kunstsammler gerade ein lustiges Tauziehen, bei dem jeder die beiden Preise für sich gewinnen wollte.

In der Zwischenzeit krallte sich Seth den übrig gebliebenen koreanischen Gangster. Er verpasste seinem stämmigen Gegner eine Linke, dann zwei schnell aufeinander folgende Rechte. Der schwankende Koreaner ließ beide Arme nach unten fallen, als ob er Seth zum erneuten Schlag auffordern wollte, was dieser sich natürlich nicht zweimal sagen ließ. Seth sprang hoch und verpasste ihm einen Kick in die Brust. Der Koreaner flog nach hinten, donnerte mit dem Schädel gegen die Betonwand neben den Aufzügen und sank entweder bewusstlos oder tot zu Boden.

Auf dem Weg in Richtung Sterling und dem koreanischen Käufer sah sich Seth plötzlich einem weiteren Paar überdimensionierter asiatischer Bodyguards gegenüber, die gerade unterwegs zu ihrem Boss waren, um ihm beim Tauziehen mit dem amerikanischen Kunsthändler behilflich zu sein.

Im peitschenden Regen stand Seth zwischen den beiden Asiaten und hielt sie mit den verschiedensten Kampfsportkünsten von sich fern. Im gleichen Augenblick tauchten zwei weitere Männer Sterlings direkt vor Max auf: ein schlaksiger weißhäutiger Typ und ein kompakter, muskulöser Latino. Sie machte einen Flip nach hinten und setzte mit je einem Fußkick auch je einen der beiden Typen außer Betrieb.

Sie sprang auf und machte sich auf den Weg Richtung Sterling. Doch der schlaksige Sicherheitstyp war wieder erwacht, grabschte nach ihrem Knöchel und brachte sie hart zu Fall.

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Max war bei weitem mehr davon angepisst, als dass es ihr Schmerzen bereitete. Wie bei einer Turnübung kickte sie nach hinten, traf voll sein Gesicht, brach praktisch seine Nase samt Kiefer – ein kleines Krachen gefolgt von einem großen – und er ging schlafen wie ein lieber braver Junge...

Erst jetzt stand auch der Latino wieder auf den Beinen. Anscheinend war er schlauer geworden und beschloss, nicht mehr Schlag für Schlag gegen Max zu kämpfen. Er griff nach seiner Pistole... jedoch ohne Erfolg. Max sprang auf und ließ einen Fuß auf seinem Gesicht zwischenlanden. Der Schlag war nicht hart genug, um wirklich seine Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Augen rollten zwar wie Kugellager, doch seine Füße blieben fest unter ihm stehen. Max schnalzte in die Luft, drehte sich beim Anflug nochmal kurz und schnitt ihm beim Abdrehen die Nase aus dem Gesicht. Er fiel um und war sicherlich froh darüber, dass er nun bewusstlos auf dem Boden lag.

Sterling und der koreanische Sammler hatten sich bis zu der ein Meter hohen Betonwand vorgearbeitet, dort wo Wind und Regen das Sagen hatten. Sie waren immer noch beim Tauziehen um Mappe und Koffer, und keiner der beiden hatte es bisher geschafft, sich einen Vorteil zu verschaffen. Der Himmel grollte sie an, der Wind schlug sie... und der Regen prasselte auf sie und das Deck nieder und gefährdete ihre Standfestigkeit.

Sterling ließ die Mappe los und zog gleichzeitig ruckartig am Aktenkoffer. Ein plötzlicher Wechsel, der den Koreaner aus den Füßen hob und ihn nach hinten an den Rand des Decks warf. Er schien mit einer Hand nach Sterling greifen zu wollen, während seine andere Hand immer noch die Mappe festhielt und seine Augen um Hilfe flehten. Doch Sterling schaute nur zu, wie der Mann ungehindert in die Nacht hinein stürzte. Sein Schrei war durch den Sturm kaum zu hören, und die Mappe flatterte wie ein gebrochener Flügel im Wind, als sie

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gemeinsam mit dem Koreaner über 150 Meter tief dem sicheren Tod entgegenflog.

Max, wieder auf den Beinen, hatte die letzten Momente dieser Konfrontation beobachtet und wirbelte herum, auf der Suche nach Seth, um ihm zu helfen. Doch sie sah nur die beiden – wie zwei saftige Fleischstücke übereinandergestapelten – koreanischen Bodyguards.

Am Ende dieser Pirouette entdeckte sie endlich Seth, auf der Jagd nach Sterling und dem Geldkoffer. Ein Stück hinter ihrem Bruder konnte sie den Russen erkennen. Er kam vom anderen Ende der Aussichtsplattform. Seine langen blonden Haare waren etwas dunkler und glatter als sonst, das lag wohl am Regen, und er trug einen langen dunklen Mantel, der vom Knie bis zum Hals zugeknöpft war. Der Rockstar unter den Gangstern deutete auf Seth, jedoch nicht mit seinem Finger, sondern mit einer 9-Millimeter-Glock.

Seth sah Kafelnikov nicht, also schrie Max laut, um ihn zu warnen. Doch der Russe hatte bereits abgedrückt. Eine Kugel bohrte sich durch Seths linke Schulter und warf ihn aus der Balance. Seth schwankte auf Sterling zu, der mit einer Hand den Koffer festkrallte und seine andere hochhielt, als ob er sich vor dem auf ihn gerade zurollenden menschlichen Güterzug schützen wollte.

„Halt!“, schrie Sterling. Als ob es ihm geholfen hätte. Max rannte aus der einen, Kafelnikov aus der anderen

Richtung auf die beiden zu. Der zweite Schuss verfehlte sein Ziel, als Seth nach Sterlings Koffer griff. Kafelnikovs dritter Schuss traf Seths rechte Wade und der X5 fiel direkt auf Sterling. Der Schwung, den Seth mitgebracht hatte, drückte beide an den Rand des Decks.

Max absolvierte einen perfekten Sprung mit folgendem Kick, schlug Kafelnikov die Pistole aus der Hand und brachte ihn ordentlich aus dem Gleichgewicht. Sie nutzte diesen Vorteil

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schamlos aus und verpasste ihm einen zweiten Kick. Dann erwischte sie den Russen so hart, dass es ihn nach hinten schleuderte. Als er aufstehen wollte, schnappte sie einen Teil seines Mantels mit der linken Hand und verpasste ihm gleichzeitig eine saftige Rechte. Seine Augen klappten zu, und er sackte ab. Der große Mann hing nun in ihrer kleinen Hand.

Sie ließ ihn fallen, drehte den Kopf und sah Sterling und Seth bei einem gefährlichen Ringkampf an der Mauer. Gut, dass sie das Seil noch bei sich hatte. Sie formte ein Lasso und eilte in Richtung Seth und Sterling. Die beiden wankten bereits heftig, als Max sich näherte. Sterling rutschte auf dem nassen Boden aus und zog Seth mit sich über die Mauer.

„Seth!“, schrie Max. Sie rannte zur Mauer, schaute nach unten und sah, wie sich

Seth etwa zwei Meter entfernt mit den Fingern seines verwundeten Arms an einem Mauervorsprung festkrallte. An seinem gesunden Arm hing der Koffer, und daran wiederum hing Sterling – mit beiden Händen, wie ein Ohrring. Der heulende Nachthimmel lachte. Sterling winselte, seine Augen waren weit geöffnet und die Gefahr, dass er abrutschte, wurde immer größer.

Max wusste, sie hatte nur wenige Sekunden Zeit. Sie band das Seil um eine Stahlstange und ließ es zu Seth

hinunterfallen. Der ließ seine Hand von der Mauer los und schnappte sich das Seil. Sterling schrie kurz auf, da er fast den Halt verlor, konnte jedoch seine Hände am Koffer festhalten.

„Ich ziehe dich hoch!“, schrie sie in Wind und Regen. Seth nickte von unten – beinahe geschäftsmännisch – und Sterling brüllte: „Beeil dich, um Gottes Willen! Beeil dich, Mädchen! Ich zahl dir soviel du willst!“

Noch bevor Max jedoch etwas tun konnte, spürte sie, wie jemand ihren Körper hochhob und ihn wie ein Bonbonpapier in die Luft warf. Im Flug versuchte Max nach dem Seil zu

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greifen, verfehlte es allerdings und schnappte sich stattdessen ein Stück Stoff...

... und wieder einmal hing sie hoch über der Stadt und nur Kafelnikovs Mantel bewahrte sie vor dem Absturz. Ihre Füße schlugen gegen Seth und Sterling, die immer noch unter ihr baumelten, während sie sich an dem Russen festkrallte, der nunmehr selbst an die Mauer gepresst war und dagegen ankämpfen musste, nicht hinuntergezogen zu werden. Mit einer Hand kratzte und zog er an Max’ Händen, in der anderen hielt er seine Glock.

„Du elende Schlampe!“, knurrte er nach unten. Sie schaukelte hin und her und grinste ihn herausfordernd an.

„Voll das Deja Vu, Mikhail, oder?“ Er grinste mit einem schrecklichen sadistischen Lächeln auf

sie herab – wie das Leuchten eines nach einer Seite hängenden Mondes. „Ja... weckt die Erinnerung an wunderschöne Dinge... wie das Abschlachten deines geliebten Chinese Clan...“

Der Russe knöpfte seinen Mantel auf, damit er ihn ausziehen und zusammen mit Max fallen lassen konnte.

Sie schaute ihm in die Augen und ließ unbemerkt eine Hand von seinem Mantel los, um sich damit das Seil zu schnappen.

„Das hier ist für Fresca“, sagte sie mit eiskalter Stimme. Er hatte bereits die Hälfte seiner Jacke aufgeknöpft. „Wer

zum Teufel ist das?“ „Niemand. Nur eines deiner vielen Opfer.“ Sie riss kräftig an

seinem Jackenaufschlag, zog den Russen über die Mauer und über sich selbst hinweg und schleuderte ihn in die regengeschwängerte Nacht.

Kafelnikov schrie den gesamten Weg nach unten, und dank ihres feinen Gehörs konnte Max mit Genugtuung hören, wie er unten auf den Asphalt klatschte.

Sie kletterte am Seil nach oben, beförderte sich zurück über die Mauer und begann umgehend damit, die beiden anderen hochzuziehen. Seth verhielt sich ruhig, beinahe friedlich.

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Sterling hingegen weinte, betete und machte sich wahrscheinlich in die Hose... was jedoch nicht zu beurteilen war, da der Regen es sowieso überdeckt hätte.

Hinter ihr klingelten alle drei Aufzüge gleichzeitig. Max blickte ihrem Bruder in die Augen. Sie wussten es

beide... Lydecker war da. Er und sein TAC-Team würden jeden

Moment aus den Aufzügen stürmen. Max schaute hinunter zu Seth. Er schüttelte seinen Kopf

langsam und entschlossen, sagte keinen Ton, doch es war klar, was er in dieser Sekunde dachte. Seth war verwundet, konnte nicht fliehen und er wollte auf keinen Fall zurück nach Manticore...

Eine Träne lief ihm übers Gesicht... vielleicht war es aber auch nur ein Regentropfen.

„Es tut mir Leid, Max“, waren seine letzten Worte... ... dann ließ er das Seil los. Seth fiel leise. Max streckte ihm voller schwesterlicher

Sehnsucht die Arme hinterher. Jared Sterling hingegen schrie und flatterte mit den Armen,

als ob Gott ihm plötzlich die Erlaubnis zum Fliegen erteilt hätte. An diesem Tag hatte der Allmächtige anscheinend Sinn für Humor, denn trotz der wedelnden Bemühungen erhielt der wohlhabende Narr als Belohnung nicht mehr als einen geöffneten Geldkoffer, aus dem die Scheine – einer nach dem anderen – nach unten auf den Parkplatz regneten.

Max drehte sich um, noch bevor einer der beiden auf dem Erdboden aufschlug. Dieses Mal war ihr nicht danach zumute, die Vorzüge ihres feinen Gehörs zu genießen.

„Stehen bleiben!“, rief eine Stimme hinter ihr. Es war nicht Lydecker, nur einer aus dem TAC-Team.

„Keine Bewegung... Hände hoch... los, los, los!“ Unter anderen Umständen hätte sie wahrscheinlich gelacht

und sich seinen überraschten Gesichtsausdruck vorgestellt,

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wenn sie über die Mauer gesprungen und aus seinem Blickfeld verschwunden war – als ob die Tiefe der Nacht sie verschluckt hätte. Was sie dann auch tat.

Das TAC-Team konnte nicht sehen, wie Max das hängende Ende des Seiles ergriff und sich einmal nach außen, dann wieder nach innen durch ein scheibenloses Fenster ins Restaurant eine Etage tiefer katapultierte.

Sie landete sanft wie eine Katze – die sie zweifelsohne zum Teil auch war – mit wachsamen Augen und höchst konzentriert. Es ging um Sekunden. Lydecker würde ihr seine Männer sofort hinterherschicken, über die Treppe, aber auch über die Aufzüge. Blitzschnell drückte sie alle drei Unten-Knöpfe – um das Team zumindest etwas aufzuhalten – und nahm eilig den Weg übers Treppenhaus.

Ihr Bruder hatte sein Leben verschenkt, um nicht wieder in Lydeckers Hände zu fallen. Sie aber würde alles dafür tun, diesem Schicksal aus dem Weg zu gehen.

Mit trauern konnte sie noch ein wenig warten. Das Aussichtsdeck war wie ein Schiff auf stürmischer See

und Kapitän Lydecker war ziemlich angepisst. „Er sprang über die Mauer?“, brummte er.

Der Soldat – in schwarzer Uniform, Brille, Kevlar-Weste, Helm und MP7A – nickte. „Er sah aber nicht aus wie ein Mann, Sir.“

„Was zum Teufel erzählen Sie mir da?“ „Sir, die Bilder, die Sie uns gezeigt haben. Ich stand beim

Aufzug, und er... oder sie... war an der Wand, ein Mädchen, Sir... und all der Regen.“

„Wie, in Gottes Namen, können Sie einen 19-jährigen Mann mit einem ,Mädchen’ verwechseln?“

„Sir, ich...“ Lydecker brachte ihn mit einem einzigen Blick zum

Schweigen. Er schob ihn zur Seite, schritt an den Rand der Mauer und blickte nach unten. Das Blutbad war durch den

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Regen kaum zu erkennen, dennoch war das Chaos schwer zu vertuschen.

Dann bemerkte er das Seil. „TAC 5“, spuckte er in sein Funkgerät. Es knisterte und eine Stimme aus dem Erdgeschoss sagte:

„TAC 5.“ „Ist jemand mit dem Aufzug runtergekommen?“ „Nein, Sir.“ „Beobachten Sie die Aufzüge. Wir haben möglicherweise

einen weiteren X5 hier... einen weiblichen.“ „Ja, Sir.“ Lydecker kommandierte mit einer Kopfbewegung einen

seiner Männer ab. „An das Seil, Soldat.“ Der Soldat warf, ohne zu zögern, seine Waffe über die

Schulter und kletterte über den Rand nach unten. Lydecker kontrollierte das Aussichtsdeck und begutachtete die Opfer – immerhin sechs Leute. Die meisten waren noch am Leben und sammelten sich gerade wieder...

„TAC 2“, sprach er ins Funkgerät. „TAC 2.“ „TAC 2, nehmen Sie die Hälfte der Mannschaft und

durchsuchen Sie das Gebäude nach unserem Mann. Möglicherweise ist noch ein zweiter X5 vor Ort... ein weiblicher.“

„Ja, Sir.“ Er drehte sich zu dem ihm am nächsten stehenden Soldaten.

„TAC 3, beseitigen Sie die Körper und säubern Sie die Stelle.“ Der Mann zögerte. „Haben Sie Probleme, mich bei diesem Wetter zu verstehen,

Soldat?“ „Ja, Sir. Ich meine... nein, Sir.“ „Dann führen Sie meinen Befehl aus!“ „Ja, Sir.“

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Lydecker drehte sich um und marschierte zurück zu den Aufzügen, wo weitere sechs Männer in schwarzen Kampfanzügen warteten. Hinter sich hörte Lydecker einen Schuss... dann noch einen... und noch einen.

„Gibt es ein Problem?“, fragte er. „Die Aufzüge, Sir“, antwortete ein Soldat. „Die Türen gingen

zu...“ „Versuchen Sie es mal mit der Unten-Taste“, lächelte

Lydecker, auch wenn er alles andere als zufrieden war. „Vielleicht kommen sie dann wieder nach oben.“

„Ja, Sir.“ Etwas schlug ihm auf den Magen. Er schnappte das

Funkgerät. „TAC 2?“ „TAC 2. Im Treppenhaus, Sir. Niemand zu sehen.“ „Suchen Sie weiter, TAC 2. Die Zeit wird knapp.“ „Ja, Sir.“ Der mittlere Aufzug klingelte und die Tür ging auf. Lydecker sprach ins Funkgerät. „TAC 5.“ „TAC 5. Alles ruhig hier, Sir.“ Die beiden anderen Aufzüge kamen an und je drei Männer

verteilten sich auf die zwei seitlichen Fahrstühle. Lydecker stieg alleine in den mittleren Aufzug. Er fuhr eine Etage tiefer und die Tür öffnete sich zum leeren Restaurant – leer, das heißt mit Ausnahme des ihm entgegenkommenden Soldaten, den er übers Seil nach unten geschickt hatte.

„Etwas entdeckt?“, fragte Lydecker. Der Soldat deutete mit dem Finger. „Sir, nasse Fußspuren

überall. Mehr als nur ein paar.“ Das gefiel Lydecker überhaupt nicht. „Haben Sie die ganze

Etage durchsucht?“ „Ich bin den Schritten bis zum Treppenhaus gefolgt, Sir...

aber einige gingen nach oben und andere nach unten.“ Lydecker war wütend. „Bleiben Sie hier!“

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Unten in der Lobby trat Lydecker aus dem Fahrstuhl. Die Putzkolonne war mittlerweile eingetroffen – in gelben Giftmüll-Anzügen und unbewaffnet. Auf dem Parkplatz waren sie gerade damit beschäftigt, die zermantschten Überreste von augenscheinlich vier Körpern zusammenzukratzen.

Sie sammelten einzelne Körperteile ein und füllten sie in Leichensäcke. Einer von ihnen kam zu Lydecker herüber. Seine dicken Finger waren in gelbe Handschuhe gepresst und trugen einen Plastiksack.

„Sie werden das hier sehen wollen, Sir“, sagte der Mann im gelben Overall mit einer durch die Gesichtsmaske gedämpften Stimme.

Lydecker hielt die Tüte hoch in den Regen und sah ein Stück menschliches Fleisch, nichts von Bedeutung. Er nahm eine Minitaschenlampe und schaute sich den Beutelinhalt etwas genauer an: ein dickes Stück Haut mit einer schwarzen Nummernserie – vier Ziffern in einer Reihe – und einen Barcode. Die restlichen Nummern der Serie waren rechts und links abgeschnitten. Wahrscheinlich als Folge des Aufpralls auf dem zerklüfteten Beton, der den Kopf von Seths Körper abgetrennt hatte.

Das allein reichte Lydecker aus, um sicher zu sein, dass sie einen weiteren X5 erledigt hatten, beziehungsweise, dass dieser sich selbst erledigt hatte.

„Gute Arbeit, Soldat“, sagte er und drückte dem Putzmann die Tüte wieder in die Hand. „Bewahren Sie dieses Beweisstück bitte gesondert auf. Streng geheim.“

Colonel Donald Lydecker checkte sämtliche Positionen des TAC-Teams und erkundigte sich, ob jemand irgendetwas Verdächtiges aufgefallen war. Der junge Soldat von vorher hatte sich anscheinend vertan: Es war definitiv Seth, der ritterlich in den Tod gesprungen war, um nicht nach Manticore zurückkehren zu müssen.

Seine eigene Entscheidung.

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Lydecker griff wieder nach seinem Funkgerät. „Alle TAC-Einheiten ins Erdgeschoss. Der Verdächtige wurde gefasst... ich wiederhole... der Verdächtige wurde gefasst. Wir ziehen ab, Leute.“

Ein weiterer Typ im gelben Overall näherte sich dem Colonel mit einer Brieftasche in der Hand. „Einer der Verstorbenen ist anscheinend diese Computergröße... Jared Sterling.“

Lydecker schüttelte den Kopf. Scheißdreck, dachte er, antwortete jedoch mit: „Alles in Ordnung.“

Der Typ im gelben Overall kehrte zum blutverschmierten Parkplatz zurück, und Lydecker ging noch einmal ins Gebäude. Er suchte sich einen ruhigen und trockenen Platz, nahm sein Handy und informierte einen weiteren Manticore-Spezialisten. Der Anruf endete mit den Worten: „Deprimiert von den jüngsten Rückschlägen seines Unternehmens, nahm sich der berühmte Computermagnat in der letzten Nacht mit einem Sprung von der Space Needle das Leben.“

Die Stimme am Handy antworte: „Das können wir machen.“ „Ja, dann tun Sie das... und sorgen Sie dafür, dass das Geld

durch die üblichen Kanäle fließt.“ „Ja, Sir.“ Sie würden natürlich nicht sein gesamtes Geld einsacken, das

konnte bei reformorientierten Politikern und deren liberalen Lakaien bei der Presse unnötigen Verdacht erregen. Ein paar Millionen reichten, um den Eindruck zu verschaffen, dass es um den Kunstsammler finanziell sehr schlecht bestellt war. Vielleicht mussten sie zusätzlich eine Drogengeschichte oder ein paar belastende Fotos ins Spiel bringen. Den Rest der Welt würde der tragische Selbstmord eines armen Reichen sowieso nicht interessieren.

Lydecker ging auf den Parkplatz zurück, um das weitere Geschehen zu beaufsichtigen. Das TAC-Team war unten angekommen, und er befahl den schnellstmöglichen Abzug, bevor die Sache hier für Aufregung sorgen konnte. Vor allem

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Eyes Only sollte von diesem nächtlichen Vergnügen nichts erfahren.

Glücklicherweise war die Umgebung – bis auf ein paar Junkies, Säufer und sonstiges Gesindel – praktisch unbewohnt. Kein Ort jedenfalls, an dem jemand wegen ein paar Schüssen gleich die Polizei alarmierte. Lydeckers Gedanken wurden plötzlich von einem Geräusch – ein paar Blocks weiter – unterbrochen... ein Motorrad, das zuerst aufheulte und dann losdüste.

Er wendete sein regennasses Gesicht in die Richtung, von der das Geräusch kam, konnte jedoch nichts erkennen. Ein kurzer Gedanke ging ihm durch den Kopf... dieses Mädchen, dieses bemerkenswerte Mädchen aus LA, doch er zuckte mit den Schultern. Die Sache hier war erledigt, und ein weiterer X5 konnte von der Liste gestrichen werden.

Kein Mensch würde jemals erfahren, was in dieser Nacht passiert war. Die Leichen und das Blut waren entsorgt, wie Müll, der sie nunmehr auch waren, und das herumliegende Geld würde in Manticore landen.

Die Angelegenheit in Seattle würde schon bald abgeschlossen sein. Und sie würden die Heimreise antreten...

... doch ein Zweifel belagerte Donald Lydecker und nagte an seinem Verstand. Er hatte das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Lydecker befürchtete, dass ihm – trotz der erfolgreichen Eliminierung Seths – ein Fehler unterlaufen war...

Zwei Tage später, in Wyoming, rief Lydecker ein bestimmtes Mitglied des TAC-Teams in sein Büro: den jungen Mann, der den X5 bei seinem Sprung vom Aussichtsdeck beobachtet hatte. Nachdem Lydecker erfahren hatte, dass einer der Toten jener Russe war, dem er bei dem Massaker im Chinese Theater geholfen hatte, überlegte er, ob Kafelnikovs Anwesenheit auch ein Hinweis auf die Gegenwart des außergewöhnlichen

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Mädchens aus dem Clan war. Jener nicht identifizierte, vermeintliche X5.

„Schildern Sie mir nochmal, was Sie gesehen haben“, befahl Lydecker.

Der Soldat, Keenan, selbst noch ein Kind – aus Nebraska –, trug eine einfache schwarze Uniform, anstelle seiner TAC-Ausrüstung. Sein blondes Haar war kurz geschnitten, und er hatte während seiner anderthalbjährigen Dienstzeit seine Loyalität immer unter Beweis gestellt.

Er überlegte die Frage genauestens, bevor er eine Antwort gab. „Sir, ich habe den als Seth bekannten X5 gesehen. Er stand mit dem Rücken zu mir und...“

„Nein!“ Lydecker erhob sich von seinem Schreibtisch und stammte die Hände in die Hüften. „Erzählen Sie mir nicht das, was Sie denken, dass ich es hören möchte. Sagen Sie die Wahrheit... und erzählen Sie genau, was Sie wirklich in jener regnerischen Nacht gesehen haben.“

Keenan schaute seinem Vorgesetzten in die Augen. „Da war ein Mädchen, schon fast eine Frau... mit schwarzen Haaren, in schwarzer Kleidung, Sir. Leder, glaube ich... wie ein Motorradanzug.“

Lydecker erinnerte sich an das Geräusch des aufheulenden Motorrads und wie es losfuhr – einige Blocks vom Gelände entfernt. „Haben Sie ihr Gesicht gesehen?“

„Negativ, Sir.“ „Sind Sie sicher, dass es ein Mädchen war?“ Er nickte. „Ja, Sir. Ich bin sicher. Sie war...“ Er riskierte ein

Lächeln. „Sie war wie ein Mädchen geschaffen. Eine Frau.“ „Athletisch?“ „Oh ja... und... gute Figur.“ Lydecker seufzte. „Ich freue mich, dass ihr

Wahrnehmungsvermögen so präzise ist, Mr Keenan... gut gemacht. Noch eins... das Gespräch bleibt unter uns.“

„Ja, Sir.“

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„Wegtreten, Soldat.“ Keenan salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und schritt

hinaus. Lydecker setzte sich. Er dachte darüber nach, was er gerade

gehört hatte. Es war nicht auszuschließen, dass die X5 untereinander Kontakt hatten, aber führten sie auch gemeinsam etwas im Schilde?

Er dachte wieder über das aufheulende Motorrad nach und fragte sich, ob er selbst das Ganze vermasselt hatte? Möglicherweise waren an jenem Abend zwei X5 auf der Needle gewesen. Seth und eines der Mädchen... Jondy, Brin, Max. Es konnte jede von ihnen gewesen sein, mit größter Wahrscheinlichkeit die X5 aus LA, wegen der so viele Menschen im Theater hatten sterben müssen.

Er würde es herausfinden, sobald er sie alle gefangen hatte. Und dass er sie eines Tages alle erwischen würde, stand für ihn außer Frage.

Vorerst ging es ihm erstmal darum festzustellen, ob die X5 überhaupt miteinander kommunizierten. Und wenn ja, ob sie vielleicht sogar planten, ihn – Lydecker – aus dem Weg zu räumen.

Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken loszuwerden. Dann ging er zurück an die Arbeit. Die Idee... dass sie ihn verfolgten, so wie er sie verfolgte... dass die Kinder eines Tages heimkehrten, um sich an ihrem Vater zu rächen... diese Vorstellung ließ ihn einfach nicht in Ruhe.

Und würde ihn auch nie mehr in Ruhe lassen.

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Epilog____________________________ REFLEXIONEN IM REGEN

Logan Cales Apartment Seattle, Washington, 2019

Heftiger Regen schlug auf die Fenster der Hochhauswohnung, als Logan in die Nacht hinausblickte, doch außer ein paar verschwommenen Formen und Figuren nicht sonderlich viel erkennen konnte.

Zehn Tage waren seit dem schrecklichen Vorfall auf der Space Needle vergangen, und mit Ausnahme der Vermutung, dass Manticore darin verwickelt war, hatte Eyes Only nur wenig Vorstellung von dem, was dort wirklich passiert war.

Zuerst dachte er, Seth hätte mit ihm ein falsches Spiel getrieben. Das Geld und das Meisterwerk mitgenommen, alle umgebracht, um dann über die kanadische Grenze zu verschwinden. Dass praktisch die Mordlust des X5 sich mit Habgier und Furcht vereint hatte, um das Beste aus sich selbst herauszuholen.

Dann fing Logan langsam an, darüber nachzudenken, was bei dem Szenario schief gelaufen sein konnte. Auf dem Parkplatz hatte man Sterlings Leiche gefunden. Von einem koreanischen Kunsthändler oder einem berühmt-berüchtigten, ehrgeizigen russischen Gangsterboss aus LA hingegen fehlte jede Spur... auch wenn Gerüchte darauf hindeuteten, dass Letzterer dort gesichtet worden war.

Und was war mit Sterlings Bodyguards? Logan wusste, dass Sterling seine Muskelmänner ständig um sich hatte, selbst tagsüber, wenn er zum Mittagessen ausging. War es zu einem Feuergefecht gekommen, bei dem Sterling als einziges Opfer übrig geblieben war? Oder, falls auch Bodyguards unter den

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Opfern waren – was bei Anwesenheit des X5 durchaus möglich war –, warum hinterließ Seth nur Sterlings Leiche?

Je mehr Logan darüber nachdachte, desto absurder erschien ihm die Geschichte vom Selbstmord eines Milliardärs wegen finanzieller Rückschläge.

Sterlings Wagen wurde beispielsweise nie erwähnt. Wo war er? Hatte Seth ihn gestohlen? Falls ja, warum hatte man das Fahrzeug nicht gefunden? Seth hätte es sicherlich irgendwo stehen lassen. Was, wenn Seth das Auto gar nicht gestohlen hatte? Sterling war doch bestimmt keine dreißig Kilometer von seiner Villa bis zur Space Needle gelaufen, nur um sich dort in den Tod zu stürzen.

Wie gelangte er also dorthin? Wo war sein Chauffeur? Angespornt von diesen Widersprüchlichkeiten, machte

Logan es sich zur Aufgabe, über Sterlings vermeintliche finanzielle Rückschläge nachzuforschen. Auf den ersten Blick schien jeder Bericht zu stimmen, doch je näher sich Eyes Only damit beschäftigte, desto unglaubwürdiger wurden die offiziellen Fakten.

Die Aktien, mit denen Sterling angeblich Geld verloren hatte, waren nur geringfügig im Wert gesunken. Im Vergleich zur offiziellen Berichterstattung über die Fehlbeträge des Toten war die Verlustsumme der Aktien völlig unbedeutend. Die Tochterfirmen seiner Internetfirma hatten zwar an Wert verloren, doch ihre Bilanzen der letzten sechs Monate vor Sterlings Tod waren positiv.

Seit dem Puls und der folgenden Depression hatten die meisten Menschen ihren eigenen finanziellen Kummer. Also würde sich auch niemand für das Elend eines reichen Mannes wie Jared Sterling interessieren. Das Land war nicht in der Stimmung, einen Milliardär zu bemitleiden, der sich schon beim ersten Anflug eines Problems vom Dach eines Gebäudes gestürzt hatte.

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Nein, sagte sich Logan. Kein Mensch wird wissen wollen, was wirklich hinter dieser Sache steckt... außer Eyes Only. Und Eyes Only wusste genau, dass jemand hier kräftig manipulierte. Blieb nur die Frage wer?

Logan hatte weit mehr Fragen als Antworten. Immer wenn er diesen Fall beleuchtete, dachte er an Vertuschung. Wenn er über Vertuschung nachdachte, brachte er die Regierung damit in Verbindung. Und immer wenn er an die Regierung dachte... im Falle des auf mysteriöse Weise verschwundenen X5 allemal... kam er letztlich auf Manticore.

Er wusste mittlerweile einiges mehr über diese Organisation als noch vor geraumer Zeit. Dennoch hatte er immer noch wenige handfeste Beweise. Die Gruppe um Lydecker hatte anscheinend Einfluss genug, um eine Vertuschungsaktion dieser Größenordnung zu Stande zu bringen – Morde unter dem Teppich verschwinden zu lassen – und vielleicht in Zukunft noch mehr Morde zu begehen.

Warum aber sollte Manticore die Geschehnisse auf der Needle vertuschen? Das war die Frage, die Logan momentan am meisten beschäftigte.

Die unvermeidliche und Schauder erregende Antwort darauf konnte nur sein: Weil Manticore Seth geschnappt hatte.

Dieser Gedanke verursachte in Logans Kopf ein völlig neues Szenario der Geschehnisse in jener regnerischen, windigen Nacht an der Needle – ein Szenario, das ihn weit mehr beunruhigte als seine vorherige Theorie.

Zuerst war er davon ausgegangen, dass Manticore irgendwie Seth auf der Needle geschnappt haben musste. Blieb die Frage, warum Sterling sterben musste, als Lydecker seinen abtrünnigen X5 eingefangen hatte.

Und nicht nur Sterling, sondern auch die anderen Zeugen – der Koreaner, die Bodyguards und Gott weiß wie viele weitere ungelistete Opfer.

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Falls man Seth lebendig gefangen hatte... warum musste überhaupt jemand sterben? Alle Zeugen stammten aus der kriminellen Szene, und es wäre leicht gewesen, sie zum Stillschweigen zu bewegen. Sterling, Kafelnikov und der Rest hatten keine Ahnung von Manticore und dem X5-Programm. Für sie war Seth einfach nur ein außergewöhnlich kräftiger Zeitgenosse.

Die einzig vernünftige Antwort, die Logan sich vorstellen konnte, war die, dass Manticore versucht hatte, Seth während des Deals abzufangen. In diesem Falle hätte sich Seth aufs Heftigste zur Wehr gesetzt, und Manticore wäre gezwungen gewesen seinen flüchtigen Sohn zu töten.

In Gegenwart von Zeugen... ... die sterben mussten, damit Manticore seine Spuren

verstecken konnte. Der Cyberjournalist wendete sich vom Fenster ab und lief

ziellos durch sein Apartment. Er war sich nicht sicher, ob diese Theorie stimmte, aber er spürte, dass er von der Wahrheit nicht weit entfernt war. Bei diesem Gedanken wurde ihm speiübel...

Verbittert über sich selbst erinnerte sich Logan daran, was er Seth über Ethik erzählt hatte, und er fragte sich, ob er ihn letztlich rücksichtslos für seine Ziele benutzt hatte.

Wie ehrenwert auch immer Logans Motive waren, er hatte den jungen X5 für seine eigenen Ideale benutzt und ihn damit umgebracht.

Hätte er Seth dabei geholfen unterzutauchen, anstatt ihn für seinen Kreuzzug zu rekrutieren, wäre es dem Jungen vielleicht möglich gewesen, seinen nächsten Racheakt gegen Manticore von einem abgelegeneren und sichereren Ort aus zu führen – wie die kleine Ortschaft am nördlichen Polarkreis, wohin Logan den Labortechniker Ben Daly geschickt hatte.

Logan fiel wie ein Sack ins Bett. Er drehte sich auf den Rücken, nahm seine Brille ab und legte sie auf den Nachttisch.

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Dann schloss er die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken.

Es würde lange dauern, bis er einschlafen konnte in dieser Nacht... oder in jeder anderen folgenden Nacht. Das Gefühl der Schuld an Seths Tod würde an ihm nagen, wie ein kleines, unersättliches Tier, das ständig da war und ihn von innen heraus langsam auffraß. Wenn er doch einschlafen konnte, dann nur, nachdem er viel über Seth reflektiert und darüber spekuliert hatte, ob seine edlen Motive wirklich jede Tat rechtfertigten.

Einige Monate später wird Logan Cale – Eyes Only – einen weiteren X5 kennen lernen. Er wird die außergewöhnlichen Fähigkeiten dieser jungen Frau mit dem entsprechenden Barcode als die eines Manticore-Soldaten erkennen.

Doch das Gefühl der Schuld am Tod eines ihrer Geschwister wird Logan davon abhalten, ihr sein Verbrechen sofort zu beichten. Er wird mit ihr zusammenarbeiten – wie einst mit Seth – und weiterhin als Eyes Only seinen Kreuzzug verfolgen, jedoch ab sofort immer unter dem Eindruck seiner unglücklichen Erfahrungen mit Seth.

Der zweite X5 in seinem Leben wird sehr hübsch sein und ihm viel Vertrauen schenken. Wenn er sich in sie verliebt, wird Logans Geheimnis noch dunkler und es wird noch mehr an ihm nagen. Dennoch wird er ihr, aus Angst sie zu verlieren, nichts von dem Vergangenen erzählen.

Es sollte lange Zeit dauern, bis sie von diesem Geheimnis erfahren würde. Wenn es dann soweit war, fände das in einer für beide ungelegenen Zeit statt, mit irreparablen Folgen.

An diesem Abend jedoch war Logan Cales größtes Problem das Einschlafen. Er öffnete seine Augen und starrte an die Decke. Es sollte eine lange Weile dauern, bis er endlich einschlief.

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Space Needle Seattle, Washington, 2019

Es regnete wie in jener Nacht – noch nicht allzu lange her –, als so viele Menschen hier sterben mussten.

Max war nicht sicher, was genau sie an diesen Ort mit all seinen schrecklichen Erinnerungen zurückgeführt hatte. Sie saß einfach nur da und umklammerte ihre Knie. Die Regentropfen perlten von ihrer Lederjacke ab, und ihr Haar war zu dicken nassen Strähnen verklebt, was den Barcode auf ihrem Nacken entblößte. Ein paar Tränen, augenscheinlich, streiften über ihr regungsloses Gesicht... es waren Schweißperlen.

Sie war den ganzen Weg hinaufgestiegen. Nicht nur bis zum Aussichtsdeck, sondern weiter zu der gekrümmten Metallplatte ganz oben. Nun saß sie da. Der Wind peitschte um ihre Ohren, und sie fühlte sich seltsamerweise wohl. Die Lichter der Stadt lagen wie herabgefallene Sterne vor ihren Augen.

Max würde hier über vieles nachdenken, in den folgenden Tagen, Monaten und Jahren. Und manchmal würde sie sogar bis in die frühen Morgenstunden hier sitzen.

Sie überlegte, ob es ein Fehler war, nach ihrer eigentlichen Familie zu suchen. Mit ihren Ersatzfamilien hatte das nie so richtig geklappt. Die Barretts – ein Vater, der seine leibliche Tochter misshandelte; eine Mutter, die diese Schande zuließ und eine Schwester, die wie ihre Mutter verloren war. Der Chinese Clan mit Moody, Fresca und all den anderen. Bei ihnen hatte sie sich vielleicht am ehesten zu Hause gefühlt, bis zu dem Tag, an dem ihre eigene Manticore-Vergangenheit dieses entsetzliche Massaker veranstaltete.

Und natürlich war sie im Moment dabei, eine neue Familie aufzubauen – mit Original Cindy, Kendra, Herbal, Sketchy, selbst Normal... die gesamte Jam Pony Gang. Max wünschte sich, dass sie ihre neuen Freunde nie in Gefahr brachte. Sie

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würde immer ihr Bestes tun, um sie vor den dunklen Mächten zu beschützen, von denen sie selbst verfolgt wurde...

... dennoch würden auch sie niemals ihre wirkliche Familie sein. Sie hatte Seth wieder getroffen, wenn auch nur für eine kurze, tragische Zeit. Doch dieser Kontakt war für sie eine Offenbarung. Max musste ihre Brüder und Schwestern finden. Sie waren irgendwo da draußen. Irgendwo da draußen auf dieser Welt, die sich in diesem Moment vor ihrem Aussichtplatz auf der Space Needle bis in die Unendlichkeit erstreckte. Sie durfte nie aufgeben, nach ihnen zu suchen.

Warum auch sollte sie damit aufhören? Lydecker würde mit Sicherheit nie aufgeben.

Max lächelte und schüttelte den Kopf. Sie war aus dieser Geschichte nur mit einer handfesten Sache herausgekommen – dem Herz des Ozeans. Dieser blaue Stein war so wertvoll, so heiß, dass sie es fast nicht geschafft hätte, ihn zu verkaufen. Am Ende hatte sie ausreichend Bargeld, um Vogelsang damit ein oder zwei Monate finanzieren zu können.

Jetzt, nachdem all diese Gewalt vorbei war, war es würdevoll still hier draußen – nicht zu vergessen der fantastische Ausblick. Hier an diesem zwar schrecklichen aber auch heiligen Ort, wo ihr Bruder gestorben war, konnte sie reflektieren. Sie würde von Zeit zu Zeit hierher kommen, um nachzudenken... und um ganz nahe bei Seth zu sein.

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Über den Autor_____________________ MAX ALLAN COLLINS wurde sage und schreibe elf Mal für den „Shamus“, den großen Preis der Private Eye Writers of America, nominiert und gewann zwei der begehrten Trophäen für seine Nathan Heller-Romane True Detective (1983) und Stolen Away (1991). Bei den „Edgar“-Preisverleihungen der Mystery Writers of America wurde er in den Kategorien „Roman“ und „Sachbuch“ nominiert und gilt als der „Meister der Mystery-Fiction“. Zu seinen Werken gehören fünf Thriller-Reihen, des weiteren Filmkritiken, Kurzgeschichten, Songtexte, Trading-Card-Sets sowie Bücher zu Film- und TV-Serien, darunter In the Line of Fire, Air Force One und Saving Private Ryan.

Von 1977 bis 1993 schrieb Collins das Skript zur Comicserie Dick Tracy. Er ist Miturheber der Comicbücher Ms. Tree, Wild Dog und Mike Danger und verfasste das Batman-Comicbuch sowie die Miniserie Johnny Dynamite: Underworld. Sein Roman Road to Perdition wurde mit Tom Hanks und Paul Newman in den Hauptrollen verfilmt.

In seiner Heimat Iowa arbeitete Collins auch als Independent-Filmemacher. Er führte Regie und schrieb das Drehbuch zum Thriller Mommy mit Patty McCormack, der 1996 ausgestrahlt wurde; die Fortsetzung Mommy’s Day folgte 1997. Für seine Drehbücher erhielt er fünf Iowa Motion Picture Awards. Collins schrieb das Drehbuch zum Film The Expert, der 1995 Weltpremiere hatte. Als Drehbuchautor und Regisseur fungierte er 1999 bei dem preisgekrönten Dokumentarfilm Mike Hammer’s Mickey Spillane und im Jahr 2000 bei Real Time: Siege at Lucas Street Market.

Collins lebt mit seiner Frau – der Schriftstellerin Barbara Collins – und seinem Sohn Nathan in Muscatine, Iowa.

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