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1 Vorlesung Bau-, Stil- und Kulturgeschichte: Handout Klassizismus und Historismus DAS 19. JH. Das 19. Jh. besitzt eine große Zahl von Stilrichtungen, die sich künstlerisch oft nicht klar voneinander abgrenzen lassen und die häufig auch zeitlich nebeneinander auftreten. Als einziger wirklicher Stil, der relativ einheitlich Architektur, Malerei, Skulptur und Ornament vereint, gilt der Klassizismus, der schon vor dem 19. Jh. beginnt und der auf die antike griechisch-römische Kunst zurückgreift. Der Klassizismus wird von der Romantik als Ge- genbewegung begleitet, die sich hauptsächlich in der Malerei manifestiert. Beide gehen vielerorts in den Histo- rismus, der viele Stile der Kunst imitiert, jedoch nicht kopiert, über. Der Realismus orientiert sich an der politi- schen wie sozialen Wirklichkeit, vermiedet jedoch das Krasse, Schockierende, welches der Naturalismus oft schonungslos und hart darstellt. Klassizismus (ca. 1750-1840) Architektur, Malerei, Plastik, Ornament. Vorbild ist die Antike, vor allem die griechische Kunst, die auch wissenschaftlich erforscht wird Historismus (ca. 1830-1900) Vorwiegend Architektur, Malerei, Ornament, imitiert Stile, besonders die der Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko Romantik (1790-1850) Vorwiegend Malerei, Ausdruck von Gefühlen Realismus (ab ca. 1850) Vorwiegend Malerei, Skulptur, nimmt die Realität zum Anlass einer auf genauer Beobachtung fußenden Darstellung Impressionismus (ca. 1860-1900) Vorwiegend Malerei, Wiedergabe eines flüchtigen Augenblicks, helle strahlende Farben, betont malerische Ausdrucksweise DER KLASSISZUMUS Definition Der Stil, der zwischen 1770 und 1830 auf Barock und Rokoko folgte, war die Epoche der klassizistischen Kunst, in der Stiltendenzen vorangegangener Epochen, vorrangig der klassischen Antike Griechenlands und Roms wiederaufgenommen wurden. Wie der Barock war der Klassizismus eine weltumfassende Kunstrichtung, bot aber trotz verschiedener nationaler Ausformungen weniger Spielraum als Barock und Rokoko. Der Grund dafür war zum einen das Studium der gleichen Kunstdenkmäler in Griechenland, Rom und Ägypten, was zu ähnlichen Entwicklungsmustern führte, und zum anderen Übereinstimmung mit den Prinzipien der klassischen Kunst, die einen festgelegten Formenkanon hatte. Historischer Hintergrund des Klassizismus Die Epoche des Klassizismus begann Mitte des 18. Jh. und dauerte bis ca. 1820/1830. Der Klassizismus war eine Zeit politischen und gesellschaftlichen Wandels, wobei die Wiederentdeckung der antiken Städte Pompeji und Herculaneum in Süditalien eine wichtige Rolle spielte. Beide Städte wurden nach ihrer Freilegung 1738 und 1748, Thema gründlicher Studien vieler Archäologen, Architekten und Künstler. In Frankreich fällt der Klassizis- mus in die Regierungszeit Ludwigs XVI., die Zeit der französischen Revolution 1789 und die Herrschaft Napole- ons. In Italien wurde in dieser Zeit die Republik in eine Monarchie umgewandelt. In Deutschland erfolgte 1803

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1 Vorlesung Bau-, Stil- und Kulturgeschichte: Handout Klassizismus und Historismus

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Das 19. Jh. besitzt eine große Zahl von Stilrichtungen, die sich künstlerisch oft nicht klar voneinander abgrenzen

lassen und die häufig auch zeitlich nebeneinander auftreten. Als einziger wirklicher Stil, der relativ einheitlich

Architektur, Malerei, Skulptur und Ornament vereint, gilt der Klassizismus, der schon vor dem 19. Jh. beginnt

und der auf die antike griechisch-römische Kunst zurückgreift. Der Klassizismus wird von der Romantik als Ge-

genbewegung begleitet, die sich hauptsächlich in der Malerei manifestiert. Beide gehen vielerorts in den Histo-

rismus, der viele Stile der Kunst imitiert, jedoch nicht kopiert, über. Der Realismus orientiert sich an der politi-

schen wie sozialen Wirklichkeit, vermiedet jedoch das Krasse, Schockierende, welches der Naturalismus oft

schonungslos und hart darstellt.

Klassizismus (ca. 1750-1840)

Architektur, Malerei, Plastik, Ornament. Vorbild ist die Antike, vor allem die

griechische Kunst, die auch wissenschaftlich erforscht wird

Historismus (ca. 1830-1900)

Vorwiegend Architektur, Malerei, Ornament, imitiert Stile, besonders die der Romanik,

Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko

Romantik (1790-1850)

Vorwiegend Malerei, Ausdruck von Gefühlen

Realismus (ab ca. 1850)

Vorwiegend Malerei, Skulptur, nimmt die Realität zum Anlass einer auf genauer

Beobachtung fußenden Darstellung

Impressionismus (ca. 1860-1900)

Vorwiegend Malerei, Wiedergabe eines flüchtigen Augenblicks, helle strahlende

Farben, betont malerische Ausdrucksweise

DDEERR KKLLAASSSSIISSZZUUMMUUSS

Definition

Der Stil, der zwischen 1770 und 1830 auf Barock und Rokoko folgte, war die Epoche der klassizistischen Kunst,

in der Stiltendenzen vorangegangener Epochen, vorrangig der klassischen Antike Griechenlands und Roms

wiederaufgenommen wurden. Wie der Barock war der Klassizismus eine weltumfassende Kunstrichtung, bot

aber trotz verschiedener nationaler Ausformungen weniger Spielraum als Barock und Rokoko. Der Grund dafür

war zum einen das Studium der gleichen Kunstdenkmäler in Griechenland, Rom und Ägypten, was zu ähnlichen

Entwicklungsmustern führte, und zum anderen Übereinstimmung mit den Prinzipien der klassischen Kunst, die

einen festgelegten Formenkanon hatte.

Historischer Hintergrund des Klassizismus

Die Epoche des Klassizismus begann Mitte des 18. Jh. und dauerte bis ca. 1820/1830. Der Klassizismus war

eine Zeit politischen und gesellschaftlichen Wandels, wobei die Wiederentdeckung der antiken Städte Pompeji

und Herculaneum in Süditalien eine wichtige Rolle spielte. Beide Städte wurden nach ihrer Freilegung 1738 und

1748, Thema gründlicher Studien vieler Archäologen, Architekten und Künstler. In Frankreich fällt der Klassizis-

mus in die Regierungszeit Ludwigs XVI., die Zeit der französischen Revolution 1789 und die Herrschaft Napole-

ons. In Italien wurde in dieser Zeit die Republik in eine Monarchie umgewandelt. In Deutschland erfolgte 1803

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Mäander Palmette

Perlstab Eierstab Girlande Akanthus

das Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (seit 962), die Niederlegung der Kaiserkrone durch

Franz II., der Wiener Kongress 1815 und die anschließende Gründung des Deutschen Bundes. England war zur

Zeit des Klassizismus eine Monarchie unter Georg III. (1760 – 1820).

Wegbereiter des Klassizismus

Zu den bedeutendsten Förderern des Klassizismus zählte in Europa Johann Joachim

Winkelmann (1717-1768), der seit der Mitte des 18. Jh. Rom als Zentrum seiner

Forschungen gewählt hatte. Winckelmann war Kunstschriftsteller und Archäologe und

lebte seit 1755 in Rom. Dort erwarb er sich umfangreiche Kenntnisse der antiken

römischen Kunst und erkannte die unerreicht künstlerische Qualität der älteren

griechischen Kunst. In seinen viel beachteten Schriften wies er auf die „edle Einfalt und

stille Größe“ der Griechen des Altertums hin, die er zum Vorbild erklärte. Winckelmann

verhalf dem Klassizismus entscheidend zu seinem Durchbruch.

Abb. 1: Anton Raffael Mengs, Johann Joachim Winckelmann, 1761

Charakteristika des Klassizismus I

Hauptmerkmal klassizistischer Baukunst ist das Streben nach rationalen, verbindlichen und allgemeingültigen

ästhetischen Regeln. Zu den Prinzipen dieser Architektur zählen die Verwendung griechischer oder römischer

Tempelmotive wie z.B. der Dreiecksgiebel oder der Säulenportikus und der Einsatz der Säulenordnung; die Säu-

len schmückten nicht mehr nur wie in der Renaissance die Wand, sondern sie hatten eine konstruktive Funktion,

in dem sie u.a. das Gebälk (wie in der Antike) trugen. Die meisten klassizistischen Bauten zeichnen sich durch

eine einfache blockhafte und monumentale Bauweise und sparsamen Dekor aus. Die Architekten und Bauherren

zur Zeit des Klassizismus strebten eine auf Großzügigkeit, Großflächigkeit und klare Überschaubarkeit angeleg-

te Stadtplanung mit großen und symmetrischen Achsen an. Insbesondere bei der Betonung von Einfachheit und

Schlichtheit wurde die griechische Kunst der römischen vorgezogen, wodurch es zu einer Gegenbewegung in

Italien kam, wo stärker die römischen Prinzipien in den Vordergrund gestellt wurden. Zudem hatte der Klassizis-

mus bei seinem Streben nach Vollkommenheit durch die Berufung auf die Antike, insbesondere die griechische,

den Anspruch, die antiken Prinzipen geistig nachempfinden zu können und nicht nur zu kopieren. Somit verwar-

fen viele Klassizisten die Überlieferungen der Renaissance und suchten sich direkt an das Vorbild der Antike

anzuschließen

Dekor des Klassizismus

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Die Abbildungen zeigen die für den Klassizismus typischen Dekorelemente, die für Fassadengestaltung und

Innenraumausschmückung von Gebäuden dienten und zur Dekoration von Möbeln verwendet wurden.

Mäander:

Geometrische Ornamentformen stammen aus frühgriechischer Zeit, in Europa ab ca. 1 Jahrtausend v. Chr.

Palmette:

Die Palmette, ein fächerförmiges Blattornament, ist in der Antike seit dem 7. Jh. v. Chr. gebräuchlich. Oft tritt sie

in Verbindung mit dem ägyptischen Lotosblütenmotiv auf:

Eierstab und Perlstab:

Schmückende Elemente dieser Art kommen erstmals häufig als Zierleisten an Tempeln ionischer Ordnung vor.

Girlande / Feston:

Das Feston (franz. „Gehänge“) ist ein in nahezu allen Kunstgattungen der bildenden und der angewandten Kunst

verbreitetes Ornament. Er findet insbesondere in der Architektur und Raumausstattung Verwendung.

Akanthus:

Der Akanthus ist die häufigste und wichtigste Ornamentform der europäischen Kunst überhaupt. Sie entstand

Mitte des 5. Jh. v. Chr. Diese stark gezackte Blattform, die nach einer im Mittelmeerraum vorkommenden Bären-

klauenart genannt ist, überdauerte in mehr oder minder abgewandelten Formen über 2400 Jahre europäischer

Ornamentgeschichte und tritt praktisch in jeder Epoche mehr oder minder häufig auf.

FFRRAANNKKRREEIICCHH

In Frankreich setzte sich der Klassizismus zuerst durch und wurde dann in ganz Europa aufgenommen. Die Zu-

wendung zum Klassizismus war eine bewusste Abkehr vom verspielten Rokoko, hatte jedoch auch politischen

Hintergrund. Das Revolutionsjahr 1789 gilt als Wendepunkt in der Geschichte Frankreichs und bildete zugleich

die äußerte Konsequenz einer sich lange vorher abzeichnenden Krise. Wirtschaftliche Probleme, Zusammen-

bruch der Staatsfinanzen, Missernten und Hungersnöte trugen zu wachsender Unzufriedenheit der Bevölkerung

bei, der die politische Schwäche des Königtums unter Ludwig XVI. nichts mehr entgegenzusetzen vermochte.

Zudem stellte die Philosophie der Aufklärung die gottgegebene Stellung der absoluten Monarchie in Frage und

postulierte die Gleichheit aller Menschen. Sie hatte dem sogenannten Ancien Régime (d.h. dem alten Reich) die

Grundlage ihrer Ideologie entzogen und die

geistigen Voraussetzungen für einen

politischen Umsturz geschaffen. Die

kulturelle Entwicklung in Frankreich war

dadurch in hohem Maße berührt und

reagierte vielfach auf die äußeren

Veränderungen der folgenden Jahre, die sich

in den wechselnden Herrschaftsformen

manifestierten, vom Nationalkonvent 1792

über das Direktorium 1795, das Konsulat

1799 und dem Empire Napoleons bis zur

bourbonischen Restauration und dem

Bürgerkönigtum Louis Philippes (1814/15-

1848).

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Abb. 2.: Ange-Jacques Gabriel. Paris, Place de la Concorde, Baubeginn 1755

Eines der großzügigsten städtebaulichen Projekte der Hauptstadt, der Entwurf von Ange Jacques Gabriel (Abb.

2) für die Place Louis Quinze, die heutige Place de la Concorde, stammt aus den Jahren um 1750. Die Verwirkli-

chung dieses Bauvorhabens zog sich jedoch bis in die 1770er Jahre hin. Das große von Wassergräben einge-

fasste Rechteck des Platzes ist in die umgebende Stadtbebauung integriert. Die Abbildung 2 zeigt die beiden

sich an der Nordseite des Platzes befindlichen und mit gleichen Fassaden von Ange-Jacques Gabriel Gebäude,

einmal das Hôtel de Crillon (heute Hotelanlage) sowie das Marineministerium, ursprünglich das „Garde-Meubles“

genannte königliche Möbel- und Gerätelager genannte Stadtpalais des Königs Die Gliederung der Gebäude

durch Eckrisalite und der Verzicht auf ein betontes Zentrum sind auf die offene Mittelachse des Platzes abge-

stimmt. Die doppelgeschossige Kolonnade der wird durch die Verwendung von Einzel- anstelle von Doppelsäu-

len in eine leichtere, zugleich weniger spannungsreiche Fassung im Sinne des 18. Jh. übersetzt. Die kraftvolle

Rustika betont das Untergeschoss hingegen mit architektonischen Details, wie den kleinen Balkonkonsolen, dem

Gebäude an Strenge genommen wird.

.

Abb. 3. Links : Jacques-Germain Soufflot, Das Pantheon in Paris, 1754-80 Abb. 4 Mitte: Griechischer antiker Tempel auf der Akropolis Abb. 5 rechts: Bramante, Tempietto in Rom

Einer der frühesten klassizistischen Sakralbauten war das Pantheon (Abb. 3) in Paris, das 1754-80 nach Plänen

Jacques-Germain Soufflots erbaut wurde. Mit diesem Projekt versuchte man die bedeutendsten Kirchen Euro-

pas, wie z.B. den Petersdom oder St. Paul’s in London zu übertreffen. Der helle durchlichtete Raum wurde von

Soufflots Zeitgenossen als epochales Bauwerk und als Inbegriff einer neuen Kirchenarchitektur bezeichnet. Die

Eleganz der schlanken Säulen und die weitgehende Öffnung der Wandflächen durch große Fenster waren eine

technische Meisterleistung, die vor allem durch den neuartigen Einsatz von Entlastungs- und Strebebögen sowie

verborgenen Eisenankern erreicht wurde. Die anfänglich in spätbarocker Tradition vorgesehene reiche Dekorati-

on wurde im Laufe des Planungsprozesses zunehmend reduziert und durch antikische Motive ersetzt. Die Kup-

pel wurde, ungeachtet einer heftigen Diskussion über die Tragfähigkeit der Konstruktion und trotz 1776 aufgetre-

tener Mauerwerksrisse nochmals vergrößert; zuletzt erhielt sie einen umlaufenden Ring aus korinthischen Säu-

len. Die ebenfalls von korinthischen Säulen getragene Tempelvorhalle mit dem dreieckigen, skulpturenge-

schmückten Tympanon bildet den monumentalen Kontrast zu dem von einer mächtigen Kuppel bekrönten Kir-

chenbau. Der Säulenportikus des Pantheons folgt antiken griechischen Vorbildern (Abb. 4), während die mächti-

ge Tambourkuppel an Donato Bramantes Tempietto in Rom, 1502 (Abb. 5) erinnert.

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Abb. 6 links: Claude-Nicolas Ledoux, Schloss Bénouville, Baubeginn 1768, Fassade Abb. 7 rechts: Claude-Nicolas Ledoux, Schloss Bénouville, Baubeginn 1768, Treppenhaus

Zu den bedeutendsten Architekten der zweiten Jahrhunderthälfte gehört Claude-Nicolas Ledoux (1736 – 1806).

Er erbaute 1768 für den Marquis de Livry das Schloss Bénouville (Abb. 6) in der Normandie. Der blockhaft ge-

schlossene Baukörper wird durch eine ionische Kolossalordnung gegliedert, die zum Garten hin aus Pilastern

besteht und hart mit dem Quadermauerwerk der Fassadenflächen und den eingeschnittenen Fensteröffnungen

kontrastiert. Der mit einer Bekrönung geschmückte Säulenportikus der Ehrenhofseite ist durch das umlaufende

Gebälk und die hohe Attika horizontal eingebunden. Das Stiegenhaus (Abb. 7) besitzt ein Scheitelgewölbe und

zeugt von einem auffällig hohen gesellschaftlichen Anspruch. Dieser geht auf die großen Schlosstreppen des 17.

Jh. zurück (Vgl. Barock).

Abb. 8 links: Jean-Francois Chalgrin, Arc de Triomphe, Paris, 1806 Abb. 9 rechts: Konstantinsbogen in Rom, 313 n. Chr.

Der Hauptmeister des Klassizismus in Frankreich war Jean-Francois Chalgrin. Sein 1806 begonnener Arc de

Triomphe in Paris (Abb. 8) am Beginn des Champs-Elysées in Paris bildet unter Verzicht auf Säulenstellungen

das antike Vorbild des Triumphbogens selbständig weiter. Der Arc de Triomphe zählt zu den unverkennbaren

Stadtwahrzeichen von Paris. Die römischen Imperatoren des Altertums errichteten in ihrer Hauptstadt Rom und

in den Provinzen ihres antiken Weltreiches zur Erinnerung an ihre militärische Übermacht monumentale und

reliefgeschmückte Triumphbögen. Napoleon nahm diesen klassischen Brauch zur Verherrlichung seines eige-

nen Ruhmes wieder auf, um ebenfalls seine militärischen Siege zur Schau zu stellen. Der Bau wurde allerdings

1813 nach der Niederlage Napoleons eingestellt und erst von François Rude 1823-1836 vollendet. Der reiche

Skulpturenschmuck des Triumphbogens ist dem in sich geschlossenen monumentalen Bauwerk gewissermaßen

nur äußerlich aufgesetzt und nicht organisch daraus erwachsen (⇔ Barock). Der Triumphbogen Napoleons un-

terscheidet sich im Vergleich von dem Triumphbogen Konstantins durch die kolossale Übersteigerung aller Pro-

portionen.

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Abb. 10: Pierre Alexandre Vignon, Ste-Madeleine in Paris, 1807

Der wichtigste Beitrag zur Sakralarchitektur in Frankreich war die Errichtung der Èglise de la Madeleine (Abb.

10). Nachdem Napoleon in Frankreich an die Macht gekommen war, propagierte er eine klassizistische Staats-

kunst zur Legitimation seines Herrschaftsanspruchs. Napoleon ließ 1807 einen Wettbewerb für die Errichtung

einer Ruhmeshalle für die Grande Armée ausschreiben. Den Bauauftrag erhielt jedoch nicht der erste Preisträ-

ger Claude-Ètienne de Beaumont, sondern der vom Kaiser favorisierte Ledoux-Schüler Pierre Alexandre Vignon

(1763-1828), der 1807 die Kirche Ste-Madeleine in Paris zu einem Tempel mit korinthischen Säulen umbauen

ließ. Die Kirche war bereits 1764 erbaut worden und zählte zu den reinsten offiziellen Werken des französischen

Klassizismus. Vignon führte den Bau in Form eines antiken Peripteros (Tempel, dessen Cella von einem Säu-

lenkranz umgeben ist) weiter aus. Über einem hohen römischen Podest steigt die griechische Tempelfront mit

umlaufenden korinthischen Säulen auf. Der Bau wurde nach den militärischen Niederlagen Napoleons wieder in

eine Kirche umgewandelt und nach Vignons Tod erst 1842 von Jacques Marie Huvé vollendet.

EENNGGLLAANNDD UUNNDD AAMMEERRIIKKAA

In England hatte sich der pompöse Barock und das überschwängliche Rokoko nie ganz durchsetzen können.

Dort gab es zwei Ausrichtungen des Klassizismus, zum einen den palladianisch-römischen (in Anlehnung an

den bedeutenden Renaissance-Architekten Andrea Palladio) und einen griechisch geprägten Stil.

Abb. 11 links: William Chambers, Somerset House in London, ab 1775, Hofansicht des Nordflügels Abb. 12 Mitte: Robert Adam, Syon House, Eingangshalle 1761-65 Abb. 13 rechts: Robert Adam, Syon House, Vorzimmer 1761-65

William Chambers (1723-96) prägte mit Robert Adam die klassizistische Architektur in England. Eines der größ-

ten Bauprojekte von Chambers ist das Somerset House in London (Abb. 11), bei der er versuchte, den französi-

schen Klassizismus mit dem englischen Palladianismus und anderen Vorbildern aus der römischen Antike bis

zur italienischen Renaissance zu vereinen. Somerset House, das auf einem weitläufigen, aber unregelmäßigem

Grundstück am Ufer der Themse in London errichtet wurde, war eines der ersten öffentlichen Gebäude, das

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ausschließlich zur Unterbringung von Institutionen der Regierung sowie der Bildung entworfen wurde. Der Kom-

plex ist als vierflügelige Anlage um einen großen Innenhof und zwei schmale seitliche Höfe gruppiert. In Anleh-

nung an den italienischen Palastbau erhebt sich über einem rustizierten Erdgeschoss eine Kolossalordnung aus

Pilastern bzw. Halbsäulen, die das Piano nobile (1. Stockwerk) umgreifen. Die Fenster sind durch Dreiecksgie-

bel oder horizontale Verdachungen ausgezeichnet. Robert Adam griff wie William Chambers auf eine große

Bandbreite von Vorbildern von der Antike über die Renaissance bis zum Barock zurück, doch anders als Cham-

bers suchte Adams nicht nach den ewig gültigen Regeln der Architektur, sondern verwendete seine Vorlagen

mit großer Freiheit um seine eigenen Ideen umzusetzen. Seine größten Erfolge verzeichnete Adams im privaten

Wohnhausbau, sowohl in London als auch auf dem Lande. Dabei gestaltete er häufig ältere oder bereits begon-

nene Häuser um und wurde so zum vielgefragten Spezialisten für die Modernisierung von Innenräumen. In Sy-

on House zeigte Adam seine spezifische Gestaltungsweise, die sich durch Abwechslung und prunkvolle Gestal-

tung auszeichnet. Die Längsstreckung der querrechteckigen Eingangshalle (Abb. 12) milderte Adam, indem er

auf der Nordseite eine Apsis, auf der Südseite einen rechteckigen, mit einer Quertonne gewölbten Rücksprung

einfügte. Dort setzte er eines seiner charakteristischen Motive ein: Säulen. In die Öffnung des Rücksprungs sind

zwei schlanke römisch-dorische Säulen eingestellt, die wie eine Brücke ein Gebälk tragen. Nische und Haupt-

raum sind auf diese Weise gleichzeitig voneinander getrennt und gleichzeitig miteinander verbunden. Das Ge-

bälk verläuft als vereinheitlichendes Element weiter und die flache Decke ist mit einem schweren Rahmen und

diagonal geführten Rippen gegliedert, deren Aufteilung der schwarz-weiß gemusterte Fußboden wiederholt.

Sowohl in der Eingangshalle als auch im Vorzimmer (Abb. 13) erkennt man die Vorliebe Adams, Kopien antiker

Statuen in die Gesamtkomposition einzubeziehen. Das Vorzimmer überrascht durch eine ungewöhnliche

Raumkomposition und insbesondere durch den in der englischen Architektur bis dahin völlig ungewöhnlichen

Farbreichtum. Adam umgab den Raum an allen Seiten mit freistehenden Säulen aus grün-grauem Marmor, die

direkt aus Rom stammten. Die Säulen sind mit goldenen ionischen Kapitellen ausgestattet, der Fries und die

Rankenreliefs darüber mit vergoldeter Ornamentik auf blau-grünem Grund. Das Gebälk springt über den Säulen

vor, so dass auf ihnen wiederum, vergoldete antikisierende Statuen Platz finden. Die Decke ist in Gold und

Weiß, der Fußboden aus Stuckmarmor in rotbraun, gelb und grau gehalten.

Abb. 14 links: Robert Adam, Bibliothek in Kenwood House, Residenz William Murray, 1767 Abb. 15 Mitte: John Soane, Wimpole Hall, Cambridgeshire, Gelbes Geschäftszimmer, 1791 Abb. 16 rechts: John Soane, Camerwell, Dulwich College, Gemäldegalerie 1811-1814

Die Abbildung 14 zeigt den Innenraum der Bibliothek in Kenwood House, die Robert Adam 1767 entworfen hat-

te. In den beiden "Apsiden", die von kannelierten Säulen mit korinthischen Kapitellen begrenzt werden, befinden

sich Bücherregale. Dieser Saal mit seiner tonnenförmig gewölbten Decke und je eine durch Säulen abgetrennte

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Apsis an den beiden Enden sollte, wie Adam erklärte, für gesellschaftliche Empfänge dienen. Die geschmückten

und vergoldeten Blenden über den Vorhängen und die Wandspiegel zwischen den Fenstern mit ihren klassizisti-

schen Abschlüssen sind neuartige Möblierungselemente. Das Mahagonilesepult ist dem Entwurf nach reines

Rokoko, während die Sofas und Armlehnstühle auf den ersten Blick zur Zeit der Palladio-Manier zu gehören zu

scheinen, tatsächlich aber von griechischen Vorbildern angeregt wurden.

John Soane (1753-1837) zählt ebenfalls zu den bedeutendsten Formgestaltern Englands. Sein Stil orientiert

sich im Gegensatz zu Chambers und Adam eher an der strengeren griechischen Klassik. In seinen Bauten gab

er gegenüber der korinthischen der dorischen und ionischen Säulenordnung den Vorzug. Die Reduktion archi-

tektonischer Elemente und die Anwendung von sparsamem Dekor steigern sich in der Gemäldegalerie (Abb.

16), die Soane 1811-1814 für das Dulwich College in London baute. Neu sind dort nicht nur die formale Gestal-

tung, sondern auch das Bauwerk an sich und seine Konstruktion. Es handelt sich um den ersten freistehenden

Museumsbau Englands und einen der ersten Ausstellungsbauten Europas mit Oberlicht. Die lang gestreckte

Folge der fünf Ausstellungsräume tritt mit zwei Flügeln nach Westen vor.

Abb. 17. – 18: John Nash: Cumberland Terrace, 1827

Dem Ideal des englischen Adels entsprach ein stilvolles Leben in vornehmen Villen und Landhäusern. Palladio

hatte dafür in seinen oberitalienischen Villen (vgl. Handout Renaissance) vorbildliche Lösungen gefunden, die

als „klassisch“ galten und im englischen Bereich oft variiert und nachgeahmt wurden. John Nash entwarf für ein

westliches Stadtgebiet Londons eine neue Straßenachse, die mit Villen, den so genannten terraces bebaut

wurden. Heute zählt die Gegend in dem Stadtteil St. Marleybone zu den vornehmsten Wohnadressen Londons.

Die terraces haben generell vier Stockwerke, ein meist rustiziertes Sockelgeschoss und zwei Obergeschosse.

Zudem weisen sie häufig eine große Ordnung (Kolossalordnung) von Pilastern oder vorgesetzten Säulen und

eine Attika über dem Gebälk auf. Die Längserstreckung unterbricht Nash durch Risalite oder Portiken mit Drei-

ecksgiebeln; zum Teil sind die terraces durch offene Bogenstellungen nach dem Vorbild von Triumphbögen

miteinander verbunden.

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Abb. 19 links: Thomas Jefferson: Wohnhaus in Monticello / USA, ab 1771 Abb. 20 rechts: Rotunda Palladios

Das klassizistische Wohnhaus des amerikanischen Präsidenten Thomas Jefferson in Monticello /USA (Abb. 19)

wurde ab 1771 nach seinen eigenen Entwürfen errichtet. Jefferson geht von der englischen Idealvorstellung des

mit der Natur verbundenen römischen Landhauses und den repräsentativen Villen Palladios aus. Der Vergleich

beider Villen zeigt deutlich die Anlehnung Jeffersons an das Vorbild der Renaissance und beweist, dass insbe-

sondere in den USA der Rückgriff auf die Renaissance für viele klassizistische Bauwerke typisch ist. Wie bereits

erwähnt, haben die Säulen im Klassizismus im Unterschied zur Renaissance wieder ihre eigentliche Funktion

als tragende Konstruktionselemente. Zur Zeit der Renaissance hatten sie fast ausschließlich einen dekorativen

Zweck.

DDEEUUTTSSCCHHLLAANNDD

Die klassizistische Architektur in Deutschland entwickelte in verschiedenen Zentren eigene Lösungen. Berlin,

die preußische Hauptstadt, war im späten 18. und 19. Jh. eine der aufstrebenden Metropolen Europas. Die kö-

niglich-preußische Regierung erbaute in der Stadt eindrucksvolle klassizistische Monumente, nahm Stadterwei-

terungen vor, legte breite Alleen an und vergrößerte die Stadtgrenze in bisher unbebautes Gelände.

Abb. 21: Simon Louis Du Ruy, Museum Friedericanum, Kassel, 1769-1779

Das Gebäude von Simon Louis du Ruy ist der erste öffentliche Museumsbau in Europa. Der klassizistische Stil

drückt sich in dem, in der Mitte durch einen strengen Rechteckrisalit (= ein in seiner ganzen Höhe einschließlich

Dach aus der Bauflucht vorspringender Gebäudeteil mit vorgesetztem ionischem Portikus) gegliederten und

dem breit gelagerten Bau, aus. Gegen Ende des 18. Jh. hatte sich der Klassizismus in ganz Deutschland

durchgesetzt und fand zu seinem reinsten Ausdruck.

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Abb. 22 links: Carl Gotthard Langhans., Brandenburger Tor in Berlin, 1789-1793 Abb. 23 rechts: Brandenburger Tor, Quadriga

Das Brandenburger Tor ist eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt und wurde von Carl Gotthard Lang-

hans zwischen 1788 und 1791 erbaut. Die Säulenstellungen sind offensichtlich der griechischen Antike ent-

lehnt, während die Attika (niedrige Wand über dem Hauptgesims eines Gebäudes, mit der das Dach verdeckt

werden soll.) eher römischen Stadt- bzw. Triumphtoren verwandt ist. Am Beispiel des Brandenburger Tors wird

deutlich, dass der Klassizismus nicht einfach die Nachahmung antiker Vorbilder bedeutet, sondern zu Eigen-

schöpfungen führen kann, die zwar klassisches Formgut aufweisen, welches aber einer neuen und eigenen

Idee untergeordnet ist. Das Bauwerk ist Tor und Triumphbogen zugleich, beides in höchster Einfachheit und

strenger Formensprache, in klarer Trennung der vertikal stützenden und horizontal getragenen Elemente, de-

ren vorspringender Mittelteil den Sockel für die bronzene Quadriga (lat. Quadrigae = Viergespann, von vier ne-

beneinander gespannten Pferden gezogener nach hinten offener Streitwagen der Griechen) von Gottfried

Schadow bildet. Die Eigenwilligkeit des Brandenburger Tores manifestiert sich in der Tatsache, dass die grie-

chische Antike keinen Triumphbogen kannte, der römische Triumphbogen keine dorischen Säulen und rundbo-

gige Öffnungen besaß. So spiegelt der Baukörper das neue Verhältnis zur antiken Tradition wider, das sich

ebenso der griechischen und römischen Antike wie auch der italienischen Renaissance bediente. Die Quadriga

von Johann Gottfried Schadow verschleppte Napoleon 1806 nach Paris, 1814 wurde sie zurückgeführt. Das

Brandenburger Tor ist seitdem preußisches Nationaldenkmal.

Abb. 24 links: Karl Friedrich Schinkel, Die neue Wache, 1816 - 1817 Abb. 25 rechts: Karl Friedrich Schinkel, Neue Wache im Vergleich mit griechischem Tempel, 425 v. Chr.

Karl Friedrich Schinkel zählt zu den wichtigsten Architekten des Klassizismus in Deutschland. Sein Interesse

galt sowohl der mittelalterlichen Baukunst, die ihn zu bereits auf den Historismus hinführenden gotisch-

romantischen Entwürfen inspirierte, als auch der Antike. Seine Berliner Werke, die Neue Wache, das Schau-

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spielhaus am Gendarmenmarkt und das Alte Museum markieren Höhepunkte des Klassizismus. Die harmoni-

sche Zusammenfügung klarer, übersichtlicher Bauformen ist bei aller Monumentalität charakteristisch für

Schinkels Werk, was auch deutlich bei dem Bau der Neuen Wache zu Tage tritt. Der wuchtige gelagerte und

doppeltürmige Bau besitzt eine Geschlossenheit, der die vorgelagerte dorische Tempelfront zusätzlich Würde

und Ernst verleiht. Auf der Tempelfront ruht ein niedriger Dreiecksgiebel. Schinkel wählte für die Säulenhalle

der Neuen Wache die strenge dorische Ordnung, um den wehrhaften, militärischen Charakter zum Ausdruck zu

bringen, noch verstärkt durch die blockhaft verfestigten, niedrigen Ecktürme, die an ein römisches Castrum (lat.

Bezeichnung für Burg) erinnern sollen. Der Vergleich der Neuen Wache mit dem antiken griechischen Tempel

offenbart die starke Anlehnung Schinkels an die Antike. Gleichzeitig ist das Bauwerk Schinkels aber auch eine

architektonische Neuinterpretation, die nicht die Funktion eines Tempels hat.

Zur Funktion: Die Neue Wache ist die Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer

von Krieg und Gewaltherrschaft in Berlin. Ursprünglich wurde es unter dem preußischen König Friedrich Wil-

helm III. zwischen 1816 und 1818 als Wachhaus für die Wache des Königs und Gedenkstätte für die Gefalle-

nen der napoleonischen Kriege errichtet. Bis Ende des Ersten Weltkrieges (und dem Ende der Monarchie)

diente die Neue Wache als „Haupt- und Königswache“. Im Jahre 1931 wurde das Gebäude von Heinrich Tes-

senow zu einem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgestaltet. Nach der fast völligen Zerstö-

rung während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gebäude 1960 als Mahnmal für die Opfer des Faschismus

und Militarismus neu eingeweiht. Seit dem Volkstrauertag 1993 dient die Neue Wache als Zentrale Gedenkstät-

te der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Abb. 26 links: Karl Friedrich Schinkel, Das Alte Museum in Berlin, 1824-1828 Abb. 27 rechts: Karl Friedrich Schinkel, Das Alte Museum in Berlin, Blick in die Rotunde

Schinkels Altes Museum in Berlin auf der Museumsinsel gehört zu den frühesten öffentlichen Museumsbauten

in Deutschland. Der Außenbau wirkt vor allem durch seine ausgewogenen Proportionen. Achtzehn ionische

Säulen bilden eine luftige Vorhalle, die sich als Schaufassade zum Lustgarten hin öffnet. Nur an den schmuck-

los gehaltenen Seitenfronten wird die Zweistöckigkeit des Gebäudes ablesbar. Im Inneren führt ein zum Garten

hin offenes, lichtdurchflutetes Treppenhaus zur großen Mittelrotunde, die dem römischen Pantheon nachgebil-

det ist, und den Mittelpunkt des Baues bildet. Die Mittelrotunde beherbergt wertvolle antike Statuen, die zwi-

schen den Säulen und auf der umlaufenden Galerie in Nischen aufgestellt wurden. Die weiten Schauräume

gruppieren sich, nur jeweils durch Säulen voneinander abgetrennt, um zwei Binnenhöfe.

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Abb. 28 links: Karl Friedrich Schinkel und Friedrich August Stühler, Burg Stolzenfels bei Koblenz, 1825 – 45, Außenansicht Abb. 29 und 30 Mitte und rechts: Karl Friedrich Schinkel, Friedrich August Stühler, Burg Stolzenfels, 1825 – 45, Großer und kleiner Rittersaal

Die beiden Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen und Maximilian von Bayern ließen sich ruinöse mittelal-

terliche Burgen als Landschlösser ausbauen. In den Jahren nach den Freiheitskriegen waren mittelalterliche

Burgen als Symbole nationaler Freiheit und als Zeugnisse deutscher Kultur und Vergangenheit wieder entdeckt

worden. Mit dem Bau von Burgen schuf man sich eine romantisch-patriotische Umgebung, die die Besitzer in

eine ideale Welt jenseits der gesellschaftlichen Realität und der beginnenden Industrialisierung versetzte. Auch

die Burg Stolzenfels bei Koblenz war ein Wiederaufbau einer bestehenden mittelalterlichen Burg mit ihren

Wehrmauern, Festungen, Zinnen und Türmen. Die beiden Rittersäle sind in klassizistischem Mobiliar ausgestat-

tet, die mit Gold überzogenen Gewölberippen und bilden einen reizvollen Kontrast zu den weißen Gewölbefel-

dern.

Abb. 31 links: Leo von Klenze, Glyptothek, 1816-1830 Abb. 32 rechts: Leo von Klenze, Walhalla, Regensburg, 1830 - 1842

In München entwickelte sich die klassizistische Baukunst erst spät. Der Wunsch Ludwigs I. nach neuer urbanis-

tischer Gestaltung inspirierte viele klassizistische Baukünstler zu neuen Bauten. Der unbestrittene Hauptvertre-

ter des Münchener Klassizismus war Leo von Klenze. Er schuf die Glyptothek für den Bayernkönig Ludwig I, der

selbst ein bedeutender Förderer der klassizistischen Kunst war. Die Glyptothek sollte zur Aufnahme seiner grie-

chischen Skulpturensammlung dienen. Wie bereits erwähnt war das Interesse an der Archäologie eine Beson-

derheit des Klassizismus. Die berühmten Stätten des Altertums wie Pompeji und Herculaneum wurden durch

Ausgrabungen erforscht, die vorhandenen Sammlungen neu geordnet und systematisch erweitert. Die klassizis-

tischen Museumsgebäude sollten auf den ersten Blick erkennen lassen, dass es sich um „Tempel der Kunst“

handelte. Bei der Glyptothek gelang Leo von Klenze durch eine äußerst harmonische Verbindung des schlich-

ten, durch übergiebelte Skulpturennischen gegliederten horizontalen Baukörpers mit einer hochstrebenden ioni-

schen Tempelfront ein bedeutender Museumsbau. Der Bau ist eine Synthese aus griechischen (ionischer Porti-

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kus) und römischen Stilelementen sowie italienischer Renaissance, wofür die Ädikulanischen (Ädikula = kleines

offenes Giebelgebäude von geringer Tiefe, das von Stützen getragen und mit der Rückseite an eine Wand ge-

baut ist) in den Wandflächen neben dem Portikus sprechen. Ein weiteres Meisterwerk von ihm war der Bau der

Walhalla (Abb. 32). Diesen Auftrag erhielt Klenze ebenfalls von Ludwig I., der den Plan realisieren wollte, als

eine deutsche Ruhmeshalle die Walhalla bei Regensburg, hoch über der Donau, zu errichten. Dem König

schwebte dabei als Vorbild die hochragende Akropolis von Athen mit dem Parthenon vor. Aufschlussreich für

die Haltung des Klassizismus im Vergleich zu der griechischen Klassik des 5. Jh. v. Chr., auf die sich Ludwig I.

beruft, sind die völlig verschiedenen geistigen Voraussetzungen. Der Parthenon der griechischen Klassik wurde

als Tempel zu Ehren der Stadtgöttin Athene errichtet. Die klassizistische Walhalla dagegen ist ein der eigenen,

romantischen Idealvorstellung entsprungener „Ruhmestempel“, in dem Standbilder bedeutender Männer aus

vergangenen Epochent aufgestellt werden sollten. Dabei versuchte der Klassizismus seine Ideale in einer im

Grund glaubenslosen bzw. aufgeklärten Epoche in monumental übersteigerten Formen zu verkörpern

DDIIEE KKLLAASSSSIIZZIISSTTIISSCCHHEE SSTTAADDTT

Die klassizistischen Städte in Europa wandeln ihr Gesicht im Dienst einer politischen Strategie. Auf die barocke

Konzeption der Stadt, der es eher um Einzelobjekte, um szenischen Wirkungen und um die Einfügung in den

urbanen Kontext ging, folgt jetzt die Idee der Stadt, als eines von nüchternen Gebäuden charakterisierten Or-

ganismus, der ein homogenes Bild vermitteln kann. Die Architektur passt die Bautätigkeit Begriffen eines neu-

en, anderen Verhältnisses von Nutzen und Schönheit an. Die Umsetzung der neuen Stadtplanung wird an zwei

exemplarischen Beispielen deutlich:

Abb. 33: Carlo Iwanowitsch Rossi, Rossi Straße, Sankt Petersburg, 1828-1834 Abb. 34: John Nash, Regent’s Street und Regent’s Park, London, 1812-1830

Auf der einen Seite, in Sankt Petersburg (Abb. 33), der Verzicht auf die traditionellen byzantinisch-russischen

Formen zugunsten eines von Carlo Rossi ausgearbeiteten Programms, das vorsieht, die großen öffentlichen

Gebäude innerhalb eines gegliederten Systems von Plätzen miteinander zu koordinieren; auf der anderen Seite,

in London, die Umgestaltung von Regent’s Park durch John Nash (Abb. 34), der damit jener Fassadenpolitik

nachkommt, die auch in den Cumberland terraces zum Ausdruck kommen. Abb. 33: Der Siegeszug des Klassi-

zismus kommt in Russland in bedeutenden städtischen Komplexen zum Ausdruck, er steht für die Macht des

Zaren Alexander I. Im urbanistischen Konzept von Rossi, der ab 1816 Chefarchitekt in Sankt Petersburg ist,

findet die Idee von Monumentalität und Größe ihre gelungene Umsetzung im Komplex des Alexandrinskij-

Theaters und in der Rossi-Straße: die Flucht der Arkaden und der Kolonnade knüpft an die Idee des kaiserli-

chen Roms an und führt auf die rückseitige Fassade des Theaters zu.

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Abb. 34: Die regelmäßige Grundrissgestaltung und die Uniformität machen aus der klassizistischen Umgestal-

tung eines ganzen Londoner Wohnviertels nach einem Schema, das die harmonische Verbindung von Straßen

und Gärten vorsieht, einen exemplarischen Fall der urbanistischen Planung des frühen 19. Jh.: ein Programm,

das ein kontrolliertes Design vorschreibt, in dem aber auch die geschwungenen Formen des Halbmondes, die

Unterbrechungen in Form von Straßenverbreiterungen und Plätzen, sogar regelrechte Dörfchen und über den

Platz verstreute Villen ihren Platz haben.

SSKKUULLPPTTUURR

Aus der Antike sind – im Gegensatz zu der weitgehend verlorenen Malerei – viele Werke der Bildhauerei über-

liefert. Ein Großteil kam erst durch archäologische Ausgrabungen in der Neuzeit wieder zu Tage, dabei orien-

tierte sich der Klassizismus eher an der römischen Skulptur mit ihrem Realismus und ihrem Präsentationsbe-

dürfnis als an der griechischen Skulptur mit ihrem irrealen Schönheitsbild. Die Skulptur des Klassizismus be-

stand in erster Linie, im Gegensatz zur Antike, in der die meisten Tempel und Statuen bemalt gewesen sind,

aus weißem Marmor. Weiterhin wandte sich die Skulptur des Klassizismus gegen den Schwung des Barock und

das verspielte Rokoko und forderte klassische Würde und Größe, Strenge der Komposition und eine neue Ge-

setzmäßigkeit. Alles Bizarre und Verspielte wurde abgelehnt. Die Künstler des Klassizismus studierten in den

Akademien aus diesen Gründen bis auf das Genaueste die antiken Skulpturen und zeichneten sie nach Gips-

abgüssen. Einer der bedeutendsten Bildhauer des Klassizismus ist Antonio Canova (1757 – 1822), der in Wien

das Grabmal der Erzherzogin Maria Christina (Abb. 36) in Form einer ägyptischen Pyramide errichtete. Bei die-

sem Grabmal kommen deutlich die Vorliebe des Klassizismus zur Monumentalität zum Vorschein und sein Be-

dürfnis, Kunstwerke für die Ewigkeit zu schaffen. Viele Bauaufgaben waren beispielsweise Mausoleen und re-

präsentative Grabmäler. Bei diesem Grabmal kommt das Motiv der Pyramide zum Einsatz, welches bei den

Ägyptern ein Symbol für das Ewig Bestehende war. Antonio Canova war in der Lage, dem klassizistischen Ge-

schmack seiner Auftraggeber entgegenzukommen. Abb. 35 zeigt eine Skulptur, die die Schwester Napoleons,

Paolina Borghese, als ruhende Venus oder vornehme Römerin darstellt und diese in klassisch stilisierter und

schmeichelhaft idealisierter Weise wiedergibt. Dabei erhöht das römische Prunkbett noch ihren gesellschaftli-

chen Rang (sie war mit dem römischen Fürsten Camillo Borghese verheiratet). Komposition, Faltenwurf, Hal-

tung und Frisur entsprechen dem erhabenen französischen Empire-Stil Napoleons. (Der Klassizismus unter

Napoleons Herrschaft wird im spezifischen auch als der Empire-Stil bezeichnet und umfasst den Zeitraum von

ca. 1804 – 1814). Kaiser Napoleon I. war als “Emporkömmling” besonders auf imposante künstlerische Verherr-

lichung bedacht und somit kam der klassizistische Empirestil seinem Herrschaftsanspruch entgegen.

Abb. 35 links: Antonio Canova, Maria Paolina, 1805 – 1807 Abb. 36 rechts: Antonio Canova, Grabmal der Erzherzogin Maria Christina

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In Frankreich fand die Bildhauerein ein weites Betätigungsfeld, vor allem in der Hauptstadt Paris. Die Giebelfel-

der der klassizistischen Tempel mussten nach antikem Vorbild mit plastischen Reliefs und Figurengruppen ver-

sehen werden. Der Bildhauer François Rude (1784-1859) schuf in den Jahren 1833-1836 das monumentale

Relief La Marseillaise (Abb. 37) für den Triumphbogen (Abb. 38). Die überlebensgroße Figurengruppe zeigt eine

Schar vaterländischer Ahnen, die dem Ruf der Siegesgöttin folgen. Trotz des leidenschaftlichen Ausdrucks der

Dargestellten bleibt der Bauplan der klassizistischen Komposition klar gegliedert und überschaubar. Deutlich

zeigt sich an diesem Beispiel die Vorliebe des Klassizismus für Pathos und das große Format. Sie wirkte noch

lange in der Bildhauerei des 19. Jh. nach und war besonders geeignet für Ruhmesdenkmäler und vaterländische

Monumente.

Abb. 37 links: François Rude, Monumentalrelief am Arc de Triomphe, 1833 – 1836 Abb. 38 rechts: Jean-Francois Chalgrin, Arc de Triomphe, Paris, 1806

DDIIEE MMAALLEERREEII

In der Malerei lösen sich die Künstler von dem meist allegorischen Programm der Barockzeit und malten Szenen

aus der griechischen und römischen Antike, die oft einen „patriotischen“ Hintersinn haben. Wichtig sind Gesten,

Gebärden und die Komposition der Figuren in der Gruppe, was der Malerei einen theatralischen Zug verleiht.

Die Konturen werden klarer und die pastose Farbgebung verschwindet zugunsten eines flächigen Farbauftrages

mit klar abgegrenzten Farben. Manche Kunsttheoretiker sehen daher im Klassizismus eine Art „Zäsur“ zwischen

Rokoko und Impressionismus. In Illustrationen sind Umrissradierungen für den Klassizismus charakteristisch.

Die Maler des Klassizismus suchten ihre Vorbilder in Werken der Antike und der italienischen Renaissance. Es

entstand eine künstlerische Gegenbewegung zu der als frivol empfundenen Rokokokunst, die mythologische

und historische Stoffe zum Zweck der moralischen Erziehung des Menschen einsetzte. Dementsprechend war

das Historienbild die ranghöchste Gattung, gefolgt von idealisierenden Porträts.

Als Begründer der klassizistischen Malerei gilt der vom Archäologen und Kunsttheoretiker Winckelmann beein-

flusste deutsche Maler Mengs (1728-1779) mit seinem Deckengemälde Parnass (Abb. 39), in der Villa Albani,

1771. Mengs beherrschte virtuos die im Barock entwickelte und praktizierte illusionistische Deckenmalerei. Sei-

ne Deckenfresken Verherrlichung des Hl. Eusebius in Rom, die Verherrlichung des Herkules im Palazza Real

von Madrid und die Allegorie der Geschichte im Vatikan sind in der Tradition des barocken Illusionsimus ver-

pflichteten Manier gemalt. Unter dem Einfluss von Winckelmann malt er für die Villa Albani in Rom das Decken-

bild Der Parnass, das sich gründlich von den genannten unterscheidet. In der Art eines gerahmten Tafelbildes

zeigt das Bild Apollo im Kreise der Musen mit deren Mutter Mnemosyne. Die Erweiterung um eine Person er-

laubt dem Maler eine streng symmetrische Anordnung der Figuren.

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16 Vorlesung Bau-, Stil- und Kulturgeschichte: Handout Klassizismus und Historismus

Abb. 39: Mengs, Deckengemälde „Parnass“, 1761 Abb. 40 Raffael, Deckengemälde „Parnass“, 1761

Das Bild spielt auf das berühmte Parnassbild (Der Parnass ist ein 2.455 Meter hoher Gebirgsstock in Zentral-

griechenland. Am südwestlichen Fuß des Massivs liegt bei Delphi. Er bietet einen malerischen Rundblick auf

Olivenhaine. In der griechischen Mythologie ist der Berg Apollon geweiht und die Heimat der Musen, der Göttin-

nen der Künste. Deswegen gilt „Parnass“ in übertragener Bedeutung als Sinnbild und Inbegriff der Lyrik). seines

großen Vorbildes Raffael (Abb. 40) an, wobei Mengs die Zahl der Figuren drastisch reduziert und die Figuren

nach dem damaligen Kenntnisstand der antiken Kunst kleidet und ausstattet. Die Komposition des Bildes ist in

der Tradition Poussins angelegt: Flache Reihung der Personen, statuarische Gestalten, Verzicht auf Hell-

Dunkel-Effekte, kein Verschmelzen der Farben. Das Bild ist eine Verherrlichung Kardinal Albanis als Mäzen der

Künste. Der Parnass gilt weiterhin als beispielhafte Vergegenwärtigung der Kunsttheorie Winckelmanns, wie er

sie in den 1755 in Dresden erschienenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Male-

rei und Bildhauerkunst dargelegt hatte. Es gilt als Gründungswerk des deutschen Klassizismus.

Abb. 41 links: Jacques Louis David, „Der Schwur der Horatier“, 1784 Abb. 42 rechts: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Idealporträt Johann Wolfgang von Goethe, 1786

Ebenso bevorzugte der Klassizismus repräsentativen Pathos, wie es in dem Gemälde des französischen Malers

Jacques-Louis-David „Der Schwur der Horatier“ (Abb. 41) von 1784 deutlich wird. Der Römer in der Mitte hält

auffordernd die Schwerter empor, worauf die zum Freiheitskampf entschlossenen Republikaner entschlossen

den Eid leisten, während die Gruppe der Frauen und Kinder, rechts, noch ahnungslos im Schlaf liegt. In diesem

Gemälde zeigen sich die typischen Charakteristika der klassizistischen Malerei: ein übersichtlicher Bildaufbau,

die klare Zusammenfassung der Figuren und Gruppen zu festen, pyramidenartigen Grundformen, die bühnen-

hafte Anordnung und Beleuchtung, die präzise Zeichnung, eine plastische Körperlichkeit und reine Farben in

größeren Flächen. In Tischbeins Gemälde (Abb. 42) offenbart sich der andere Bildtypus des Klassizismus: das

Idealporträt. Charakteristisch für die Malerei des deutschen Klassizismus ist die Beimischung lyrischer und ro-

mantischer Innerlichkeit. Das Idealporträt Goethes zeigt den deutschen Dichter umgeben von antiken Ruinen der

römischen Landschaft. Trotz des großformatigen Aufbaus vermittelt das Bild Goethes durch den Hinweis auf die

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17 Vorlesung Bau-, Stil- und Kulturgeschichte: Handout Klassizismus und Historismus

vergangene Größe Roms, deren „Überreste“ in eine Landschaft eingebettet sind, Vergangenheitsbetrachtung

und Naturverehrung.

DDIIEE RROOMMAANNTTIIKK

Die Romantik (nicht zu verwechseln mit dem mittelalterlichen Baustil der Romanik) versteht sich als bewusster

Gegensatz zum gleichzeitigen Klassizismus. Die Romantiker widmeten sich der Natur und dem Mittelalter und

nicht der rationalen Aufklärung. Sie streben nach Individualisierung, betonen die Innerlichkeit, den Ausdruck von

Emotionen. Vorrangig ist nicht die Gestaltung der sichtbaren Wirklichkeit, sondern das Unsichtbare, welches

Geist und Seele beschäftigt. Die romantische Kunst wendet sich den Exotischen, Irrationalen, Phantastischen,

Visionären zu, aber auch dem Märchenhaft-Beschaulichen. In der Romantik ist in der bildenden Kunst die Male-

rei maßgebend, Die romantische Architektur äußert sich in der Neugotik, die landschaftlich reizvolle Parkanlagen

schafft aber auch öffentliche Gebäude in der Besinnung auf nationale Eigenheiten (Bildung der Denkmalpflege).

Die Skulptur spielt eine geringere Rolle. Die romantische Malerei ist an keine bestimmte Darstellungsweise ge-

bunden, sie ist eher an der gefühlsmäßigen Grundhaltung zu messen.

Abb. 43 links: Hünengrab im Winter, 1807 Abb. 43 links: Der Sommer, 1807

Caspar David Friedrich (1774-1840), der vor allem Landschaftsmaler (Abb. 43 und 44) war, gilt als der typische

Vertreter der deutschen Romantik. In seinen Bildern vermag die Naturdarstellung starke Gefühlswerte unter-

schiedlicher Art zu vermitteln: Der Mensch ist in seinen Gemälden nur eine Nebenfigur, er steht meist klein vor

einer Landschaft, in die er voller Sehnsucht blickt. Dennoch malte er auch heitere und fröhliche Themen

Friedrich stand in seiner Auffassung von Natur im Gegensatz zum Realismus der Klassizisten. Er sah die Natur

als Spiegel menschlicher Empfindungen. Friedrich folgte nicht dem italienischen Kunsttrend und war auch kein

Anhänger der antiken Meister. In seinem Verständnis sollte Kunst zwischen den beiden Werken Gottes, Mensch

und Natur, vermitteln. Aus dieser Sicht heraus näherte er sich den Naturschönheiten, in deren Darstellungen er

Stimmungen und Empfindungen verarbeitete. Seine Werke sind demzufolge keine Abbilder der Natur, sondern

sie vergegenständlichen das Unfassbare, das metaphysische Empfinden. Die realistisch-emotionale Darstel-

lungsweise der Landschaften wird unter anderem durch eine unendlich scheinende Weite verstärkt.

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DDEERR RREEAALLIISSMMUUSS

Der Realismus, vorwiegend Malerei, aber auch Skulptur, nimmt die Realität zum Anlass der künstlerischen

Gestaltung (meist Sozialkritik, Tätigkeiten des alltäglichen Lebens und der Arbeitswelt unterer Volksschichten).

In Gegensatz dazu steht der Idealismus, der nicht die tatsächliche Wirklichkeit schildern will, wie sie ist, sondern

wie sie im Idealfall aussehen könnte. Courbet (1818-1877) gilt als der Begründer der realistischen Malerei im 19.

Jh. Sein Gemälde „Die Steinklopfer“ aus dem Jahre 1849 (Abb. 45) war eine Sensation für das an Klassizismus

und Salonmalerei mit ihren idealisierenden Inhalten gewöhnte Kunstpublikum.

Abb. 45 links: G. Courbet: Die Steinklopfer, 1849 Abb. 46: G. Courbet: Die Kornsieberinnen, 1855

VVOOMM KKLLAASSSSIIZZIISSMMUUSS ZZUUMM HHIISSTTOORRIISSMMUUSS

Die Abgrenzung zum nachfolgenden Historismus ist weder chronologisch noch stilistisch ganz einfach. Einer-

seits ist der Klassizismus selbst ein "historisierender" Stil, der sich an die Antike und ihre Interpretation in der

Renaissance anlehnt. Andererseits hat der Historismus zum Teil dasselbe Formenrepertoire, was sich deutlich in

der Neorenaissance bemerkbar macht. Dazu kommt noch, dass der späte Klassizismus durchaus eine Vorliebe

für bestimmte Dekorationsformen, etwa aus der byzantinischen oder arabischen Kunst, zeigt. Der Grundzug des

Historismus ist dann auch nicht so sehr die "Ablösung" vom Klassizismus, sondern sein Einfügen in einen plura-

listischen Kanon von Stilen. Ein relevanter Unterschied ist die weitaus größere Opulenz und Dekorfreudigkeit der

historistischen Bauten und Ausstattungen, die dem in der Gründerzeit reichgewordenen Bürgertum eher zusagte

als der spartanische Stil der ersten Jahrhunderthälfte. Der Ausdruck Historismus bezeichnet somit in der Stilge-

schichte eine Stilrichtung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, bei der man auf ältere Stilrichtungen zurückgriff

und diese nachahmte. Anders als im Klassizismus wurde nicht nur versucht, die Architektur der klassischen An-

tike (wie sie in Rom gefunden wurde) zu kopieren, sondern es wurden Architekturformen anderer Epochen, die

nunmehr als gleichwertig anerkannt wurden, nachgeahmt. Einen großen Einfluss übte dabei die Romantik aus,

die einen Sinn für das historisch Bedingte entwickeln half. Gelegentlich wurden auch mehrere Stile in einem Ge-

bäude gemischt, diese teilweise recht wahllosen Kombinationen nennt man Eklektizismus. Andere Bauwerke

zitieren historische Motive, lassen sich aber keinem konkreten Stil zuordnen. Zu jener Zeit stand die Architektur

vor neuen Aufgaben: Die Industrielle Revolution erforderte den Bau von Bahnhöfen, Fabriken und Wassertür-

men. Zur Linderung der Wohnungsnot mussten mehrstöckige Zinshäuser errichtet werden, das aufstrebende

und zusehends wohlhabende Bürgertum verlangte nach Villen und großen Stadtwohnungen in repräsentativen

Gebäuden. Bedeutend war auch die Integration neuer Technologien in Architektur und Design. Entscheidend

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19 Vorlesung Bau-, Stil- und Kulturgeschichte: Handout Klassizismus und Historismus

war die Weiterentwicklung der Stahlerzeugung (Bessemer-Verfahren). Der nur aus Gusseisen und Glas beste-

hende Crystal Palace auf dem Gelände der Londoner Weltausstellung von 1851 galt als revolutionär und weg-

weisend für spätere Jahrzehnte. Teilweise wurden verschiedenen Baustilen unterschiedliche Funktionen zuge-

schrieben: Kirchen wurden im Stil der Gotik oder der Romanik gebaut, Banken und Bürgerhäuser im Stil der

Renaissance (der großen Zeit der Stadtkultur vor allem in Italien), Adelspalais und vor allem Theater im Barock-

stil, Fabrikhallen dagegen im „englischen Stil“ (meist mit unverputzten Backsteinfassaden). Viel Wert wurde da-

bei auf Repräsentation gelegt, wobei funktionale Aspekte gelegentlich untergeordnet wurden . Dies ist einer der

Gründe, warum der Historismus vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts häufig kritisiert wurde. Vor allem wurde

bemängelt, dass architektonische Zutaten wie Säulen, Medusenköpfe und Akanthusblätter rein dekorativ zur

Erzeugung einer „historischen Atmosphäre“ benutzt worden seien. Die Fassaden der Gebäude sollten nicht nur

in ihrer Größe und ihrem jeweiligen Reichtum, sondern bei Mehrfamilienhäusern auch in ihrem geschossigen

Aufbau die soziale Stellung ihrer Bewohner spiegeln. So etwa wurde die erste Etage oder das Hochparterre

meist „Bel Etage“ genannt und war mit ihren besonders hohen Decken und ihren reichen Stuckverzierungen

dem wohlhabenderen Bürgertum vorbehalten. Nach oben wurde die soziale Stellung der Bewohner mit abneh-

mender Geschosshöhe meist immer geringer. Dabei wurde die oberste Etage mit ihren oft nur noch lukenartig

kleinen Fenstern in der Regel von den Dienstboten und anderen Angehörigen der unteren sozialen Schichten

bewohnt. In vielen neu entstandenen Wohnvierteln wurden innerhalb der Blockrandbebauung auf früheren Gar-

tenflächen Hinterhöfe angelegt und in Hinterhäusern oftmals zahlreiche weitere Quartiere für die Arbeiter errich-

tet, häufig auch in räumlicher Nähe zu den Arbeits- und Werkstätten. Die überbelegten Einraumwohnungen der

Arbeiterklasse mit ihren oft miserablen und gesundheitsschädigenden unhygienischen Wohnbedingungen wur-

den von etlichen Reformern seit Ende des 19. Jahrhunderts beklagt. Der Historismus kam mit dem Ende des

Ersten Weltkriegs und dem Machtverlust der bis dahin stilbildenden Schichten des Adels und Großbürgertums

zu einem abrupten Ende.

Stilrichtungen des Historismus:

In den unterschiedlichen Stilrichtungen greift der Historismus auf beliebige geschichtliche Vorbilder zurück, de-

ren er sich eklektizistisch (auswählend) bedient. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. werden so gleichzeitig mehrere

historische Stile verwendet, so dass unterschiedliche Stilrichtungen nebeneinander vorkommen, nicht jedoch

eigene originale Schöpfungen hervortreten. Das Ende des Historismus ist etwa um 1900 anzusetzen.

1. Neuromanik:

Neben Kirchen sind insbesondere Militärbauten und

Türme an Brücken häufig gelungene Interpretationen

der originalen Romanik.

Abb. 47: Schloss Neuschwanstein

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Das Schloss Neuschwanstein ist ein Schloss im Allgäu auf dem Gebiet der Gemeinde Schwangau bei Füssen,

das Ludwig II. von Bayern erbauen ließ. Es ist das berühmteste seiner Schlösser und eines der bekanntesten

Touristenziele in Deutschland. Architektur und Innenausstattung treiben den romantischen Historismus und Ek-

lektizismus des 19. Jahrhunderts auf die Spitze. Es wird daher von Touristikunternehmen auch als „Märchen-

schloss“ bezeichnet. In unmittelbarer Nähe liegt auch das Schloss Hohenschwangau. Obwohl es nicht vollendet

wurde, beherbergt das Schloss eine große Zahl bedeutsamer Innenräume der Neoromanik. Zu den wichtigsten

zählt hierbei der nach dem Vorbild der Allerheiligen-Hofkirche in der Münchner Residenz gestaltete und von Juli-

us Hofmann entworfene Thronsaal, dessen Wandmalereien Wilhelm Hauschild schuf. Dieser doppelstöckige,

zweitgrößte Saal des Schlosses endet in einer Apsis, welche den – nie fertiggestellten – Thron Ludwigs aufneh-

men sollte. Der Fußboden ist mit Pflanzen- und Tierdarstellungen versehen.

Abb. 48: Der Thronsaal im Schloss Neuschwanstein

Abb. 49 und Abb. 50: Paulskirche, ab 1898

Die Pauluskirche ist eine reformierte Kirche in der Schweizer Stadt Basel und befindet sich im Ring-Quartier in

der Nähe der Schützenmatte. Erbaut wurde die Kirche zwischen Mai 1898 und November 1901 von der Archi-

tektengemeinschaft Curjel und Moser auf einem dreieckigen, völlig freistehenden Grundstück in leicht erhöhter

Lage. Durch diese Lage und den monumentalen kreuzförmigen Zentralbau mit dem quadratischen Turm sowie

der weit sichtbaren Fensterrose ist sie vom Weiten gut sichtbar. Die Formensprache erinnert in ihren Grundfor-

men an die späte Romanik.

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Die Neugotik

Die Übernahme gotischer Einzelformen erfolgte erstmals um 1750 beim Bau des Schlosses Strawberry Hill für

Horace Walpole.

Abb. 41.a.: Horace Walpole, Strawberry Hill, 1750

Das neugotische Schlösschen Strawberry Hill hat sich der englische Politiker und Schriftsteller Horace Walpole

bereits um 1750 errichten lassen. Walpole verwendete äußere Formen von Kathedralen im Inneren seines Hau-

ses, außen war der Bau eine Mischung aus einer Burg mit Zinnen und Türmen und gotischem Kirchenbau mit

Spitzbogenfenstern. Das dekorative Maßwerk an der Decke der Galerie (Abb. 52) lässt überdeutlich die goti-

schen Formen erkennen. Im 19. Jh. versuchte man aus der Gotik einen systematisch durchgestylten Möbel- und

Einrichtungsstil zu machen (Abb. 51). Charakteristische Elemente der Neugotik waren Kreuzblumen, Spitzbögen

und Fialen aus Eiche oder anderen dunklen Hölzern.

Horace Walpole, Strawberry Hill, Bibliothek (Abb. 51) und Große Galerie (Abb. 52), 1754 und 1759-63

Abb. 53: House of Parliament, 1855

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Beeinflusst durch literarische Werke entstand im 19. Jh. eine romantisierende Vergangenheitssehnsucht, die das

Rittertum verherrlichte und gotische Formen im Zusammenhang mit einem poetisch gefärbten Christentum sah.

Die Gotikbegeisterung erfasste ganz Europa und es entstanden Kirchen, Schlösser, Bahnhöfe, Rathäuser und

Parlamentsgebäude und prächtige Säle. Das House of Parliament in London (Abb. 53) ist ein historistisches

Gebäude im neugotischen Stil. Insbesondere in England war die Neugotik ein gefragter Stil, England erlebte

sozusagen ein Gothic-Revival. Die gotische Formensprache und die Vorliebe für feingliedrige Konstruktionen in

Architektur, Kunst und Möbelbau war in England nie ganz untergegangen und sicherlich ein Grund, weshalb sich

die Renaissance in England nie in dem Maße durchsetzen konnte wie beispielsweise in Italien.

Die Neorenaissance

Der Gedanke der Neorenaissance stammt ursprünglich aus Frankreich, wird aber in München erstmals im gro-

ßen Stil umgesetzt, wie es z.B. an Teilen der Ludwigstraße durch Leo von Klenze zu erkennen ist. Weiterhin

wird der Stil wird häufig für Schulen, Theater, Opern und Museen verwendet, wobei der Architekt Semper eine

führende Rolle spielt. Ihre höchste Ausprägung findet die Neorenaissance bei den Gebäuden der Ringstraße in

Wien. Einzelne Elemente, vorwiegend Ädikulafenster und Pilaster, werden im Mietshausbau nach 1871 verwen-

det. Oftmals sind in Gebäuden, die im Stil der Neorenaissance errichtet sind, auch Elemente der barocken Archi-

tektur, insbesondere was den architektonischen Aufbau betrifft, wiederzufinden.

Abb. 54 links: August Sicard und Eduard van der Nüll, Opernhaus in Wien, ab 1861 Abb. 55 rechts: Gottfried Semper, Semperoper am Theaterplatz in Dresden

Das Gebäude der Wiener Oper (Abb. 54) wurde als erstes aus dem Wiener Stadterweiterungsfond bestrittenes

Monumentalgebäude der Ringstraße im Jahr 1860 ausgeschrieben. Bereits Ende 1861 begann der 1869 fertig-

gestellte Bau nach Plänen der Architekten August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll im Stil der

Neorenaissance. Das Gebäude wurde jedoch von der Öffentlichkeit nicht sehr geschätzt und wurde heftig kriti-

siert. Beide Architekten erlebten die Fertigstellung ihres Baues nicht mehr.

Von 1838 bis 1841 errichtete der Baumeister Gottfried Semper (1803-1879) ein neues königliches Hoftheater,

welches allerdings schon am 21. September 1869 den Flammen zum Opfer fiel. Schon bald wurde von Gottfried

Semper ein zweites Gebäude entworfen (Abb. 55), das unter Leitung seines ältesten Sohnes Manfred Semper

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(1838-1913) von 1871 bis 1878 am Theaterplatz erbaut wurde. Über dem Portal erhebt sich eine bronzene Pan-

therquadriga mit Dionysos und Ariadne von Johannes Schilling. Die Oper besitzt ein klares Aufbauschema, da-

bei wurden die Wandgliederung und die Schmuckformen nun ins Schwere und Prachtvolle gesteigert. Die Ges-

taltung der Fassade, insbesondere die Rustika im Untergeschoss erinnern an die Hochrenaissance, die runden

Formen und die reiche Verzierung der Fassader lehnen sich an die Barockzeit an, während der Einsatz der klas-

sischen Motive, wie z.B. der triumphbogenartige Eingang (Exedra) in der Fassadenmitte sich an die Antike an-

lehnt. Dieser zweite Bau fiel in der des 13. Februar 1945 dem Luftangriff auf Dresden zum Opfer.

Abb. 56 rechts: Das Hamburger Rathaus

Das Hamburger Rathaus ist der Sitz der Bürgerschaft (Parlament) und des Senats (Landesregierung) der Freien

und Hansestadt Hamburg. Nachdem das alte Hamburger Rathaus an der Trostbrücke dem Großen Brand von

1842 zum Opfer gefallen war, wurde als Standort des neuen Rathauses ein Platz an der kleinen Alster, in Nähe

der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls neu zu bauenden Innenstadt, ausgewählt. Die Realisierung des Baus dauerte

allerdings 43 Jahre von den ersten abgelehnten Wettbewerbsentwürfen bis zur Fertigstellung 1897.

Das Hamburger Rathaus ist eines der wenigen vollständig erhaltenen Beispiele des Historismus in Deutschland.

Der dreiflügelige Granit- und Sandsteinbau besitzt eine 111 m breite Fassade mit einem 112 m hohen Mittelturm.

Das Dach ist kupfergedeckt. Die Kombination von italienischen und norddeutschen Renaissance-Elementen an

der Fassade erzeugt eine harmonische Gesamtwirkung.

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Die Industriestadt des 19. Jh. verbirgt hinter einem nach außen hin beeindruckende Bild eine zugleich erstaunli-

che wie erschreckende Realität, in der sich alle Unausgewogenheiten eines großen Wachstums zu erkennen

geben. Entstanden im Zeichen der erheblichen Veränderungen durch die industrielle und technologische Ent-

wicklung, dehnt die Stadt sich über ihren historischen Kern hinaus in ein weniger gestaltetes Vorstadtareal aus

und wird so schließlich zur Metropole. Ein großer Zustrom ländlicher Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit

macht ein System von Unterkunftsmöglichkeiten, Versorgungs- und Transportleistungen innerhalb dieses Areals

erforderlich. Planungen zur Landesentwicklung und die neue Disziplin der Urbanistik (Städtebauforschung) or-

ganisieren die Expansion in der Form von Regulierungs- oder Bebauungsplänen, die das Aussehen der großen

Städte Europas verändern. Die Lösungen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts, ohne Abkehr von den büh-

nenmäßigen barocken Perspektiven, gefunden werden, gehorchen den Kriterien Funktionalität. Dabei entstehen

neue städtische Verkehrswege mit elektrischen Bahnen über und unter der Erde.

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DDAASS EENNDDEE DDEESS HHIISSTTOORRIISSMMUUSS

Gegen 1900 setzte eine Abkehr vom Historismus ein. So wie man 1830 und 1840 die sehr schlichten Formen

des Frühklassizismus mit zusätzlichem Dekor versah und begann, verschiedene historische Stile zu vermischen,

wandten sich viele Künstler von dieser Richtung ab und strebten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Insbe-

sondere in der nachfolgenden Epoche des Jugendstils sah man die eine an floralen Formen orientierte Antithese

zu den historischen Stilen.

DDEERR IIMMPPRREESSSSIIOONNIISSMMUUSS

Der Impressionismus ist eine Stilrichtung der Malerei im späten 19. Jahrhundert, die sich von Frankreich aus

weltweit verbreitete. Dabei wurde der Stil nicht nur übernommen, sondern zum Teil auch regionalen Bedingun-

gen und Traditionen angepasst. Die impressionistische Malerei war mit ihren stilistischen und thematischen

Neuerungen der Wegbereiter der Modernen und Abstrakten Kunst. Impressionistische Malerei bedeutet: Wie-

dergabe der Lichterscheinung, nicht des Stofflichen; Festhalten eines flüchtigen Augenblickes, eines Eindruckes

durch extrem malerische Darstellungsweise ohne dunkle Schattierungen; Szenen des täglichen Lebens, meist

heiter, lebensbejahend. Die Gemälde, in der freien Natur entstanden (Freilichtmalerei) leuchten bisweilen wie

helle Lichterscheinungen.

Abb. 57: Claude Monet: Impression (Sonnenaufgang), 1874

Einer der typischsten Vertreter des Impressionismus ist der von Manet beeinflusste Monet (1840-1926), dessen

Bild „Impression soleil“ der neuen Stilrichtung den (damals abwertend gebrauchten) Namen gab. Claude Monet

entfernte sich entschieden vom durch die traditionellen Kunstakademien geprägten Zeitgeschmack und arbeitete

fast ausschließlich im Freien und berücksichtigte dabei stets die verschiedenen Lichtreflexe, die Spiegelung von

Licht auf Wasser und Bäumen. . Das Bild zeigt den Hafen von Le Havre am Morgen. Im Hintergrund liegen

Schiffe vor Anker, die im Nebel verschwinden. Im Vordergrund des Bildes sind drei kleinere Boote schemenhaft

zu erkennen. Auf dem Wasser spiegelt sich das Licht der aufgehenden Sonne. Monet malte den Großteil des

Bildes mit Blau und Violett, die Reflexion der Sonne auf dem Wasser malte er mit Orange. Als strukturierendes

Element dienen Schiffe im Hintergrund, deren Masten und Umrisse lineare Strukturen schaffen. Das Bild ist so

flächig gemalt, dass der Eindruck der räumlichen Distanz nur durch die diagonal angeordneten Boote deutlich

wird. Monet verzichtet auf Komposition und räumliche Wirkung. Ziel der Darstellung ist die unverfälschte Wie-

dergabe des Eindruckes und der damit verbundenen Stimmung. Die atmosphärische Wirkung steht im Vorder-

grund und drängt die Form von Gegenständen zurück. Zur Verwirklichung seiner Vorstellungen wandte Monet

eine Malweise mit kleinen, kurzen Pinselstrichen an, welche die ständige Veränderung des Lichts und das Flim-

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mern der Luft anschaulich macht. Die Farbe ist stellenweise so dünn aufgetragen, dass die Leinwand durch-

scheint, lediglich die Spiegelungen der Sonne heben sich ab.

Wegbereiter der modernen Malerei

Cezanne (1839-1906) ist zeitweise vom Impressionismus beeinflusst, löst sich aber ab etwa 1880 von ihm mit

der malerischen Zerlegung von natürlichen Vorbildern in geometrische Grundformen mit eigenwertiger Farbe.

Bahnbrechend wirkt besonders seine Abkehr von der Zentralperspektive. Er wird damit einer der Anreger der

modernen Kunst. Ebenso gilt auch Gauguin (1848-1903) mit seinen zur Flächigkeit tendierenden Südseebildern

als ein Überwinder des Impressionismus. Auch der Niederländer van Gogh (1853-1890) ist mit seinem expressi-

ven Farblinienspiel einer der Wegbereiter der Moderne (Abb. 61).

Abb. 58: Paul Cezanne, Montagne Sainte-Victoire, 1886-1890 Abb. 59: Paul Cezanne, Montagne Sainte-Victoire, 1904-1906

Paul Cézanne (Januar 1839 1906) war ein französischer Maler. Sein Werk wird unterschiedlichen Stilrichtungen

zugeordnet: Während seine frühen Arbeiten noch von Romantik und Realismus geprägt sind, gelangte er durch

intensive Auseinandersetzung mit impressionistischen Ausdrucksformen (Abb. 58) zu einer neuen Bildsprache,

die im Gegensatz zum Impressionismus im Licht nicht dessen auflösende, sondern seine zusammenfassende

Funktion suchte. Er gab die Zentralperspektive auf, brach die von den Vertretern der Akademischen Kunst auf-

gestellten Regeln und strebte eine Erneuerung klassischer Gestaltungsmethoden auf der Grundlage des im-

pressionistischen Farbraumes (Abb. 59) an. Bildthemen waren oft Badende, die Landschaft um das Gebirge

Montagne Sainte-Victoire, Stillleben und Porträts seiner Frau.

Abb. 60: Paul Gauguin, Tangsammlerinnen (II), 1889

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Eugène Henri Paul Gauguin (1848-1903) war ein französischer Maler. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er vor

allem durch seine Bilder aus der Südsee bekannt. Gauguin zählt mit seinen postimpressionistischen Werken zu

einem wichtigen Wegbereiter des Expressionismus.

Um die Wirkung seiner Gemälde zu erhöhen, griff Gauguin zum Mittel der Vereinfachung. Seine künstlerischen

Maßnahmen lassen sich beispielsweise an dem Bild Tangsammlerinnen (II) (Abb. 60), entstanden 1889 in der

Bretagne, gut beobachten: Gauguin reduzierte und vereinfachte die Formen der Personen und Dinge. Er ver-

wischte die Formen nicht mehr, wie noch in seiner impressionistischen Phase, sondern grenzte sie in ihrer un-

terschiedlichen Farbigkeit klar von einander ab. Häufig betont eine dunklere Umrandungslinie die Formen zu-

sätzlich (Cloisonismus). Auch die Vielfalt der Farben, die in der Natur durch die Wirkung von Licht und Schatten

entsteht, vereinfachte Gauguin, indem er sie zu einheitlichen Flächen zusammenfasste. Dabei orientiert sich die

Farbigkeit im Gemälde nicht unbedingt am natürlichen Aussehen der dargestellten Gegenstände. Der rosafarbe-

ne Strand, das türkis-grüne Meer, der gelbe Hund gehorchen Gesetzmäßigkeiten, die durch die Farbkomposition

innerhalb des Gemäldes bestimmt sind. Typisch für Gauguin, besonders für seine Bilder aus der Südsee, ist die

Verwendung außerordentlich leuchtender Farben, die oft in Komplementärkontrasten gegeneinander gesetzt

sind, ohne dass die Bilder dadurch schreiend oder disharmonisch wirken.

Abb. 61 links: Vincent van Gogh, die Kartoffelesser, 1885 Abb. 62 Mitte: Vincent van Gogh, Sonnenblumen in einer Vase, 1887 Abb. 63 rechts: Vincent van Gogh, Spaziergang im Mondlicht, 1890

Vincent Willem van Gogh (1853-1890) gilt als einer der Begründer der modernen Malerei. Sein Hauptwerk, das

stilistisch dem Postimpressionismus zugeordnet wird, übte starken Einfluss auf nachfolgende Künstler, vor allem

die Fauves und Expressionisten, aus. Während er zu Lebzeiten nur wenige Bilder verkaufen konnte, erzielen

seine Werke heutzutage bei Auktionen Rekordpreise.

Vincent van Gogh malte schnell, spontan und ohne im Nachhinein größere Korrekturen durchzuführen. Die zügi-

ge Malweise kam einerseits seinem Schaffensdrang entgegen, andererseits setzte er sie aber auch ganz be-

wusst als Ausdrucksmittel ein: Sie sollte seinen Bildern mehr Lebendigkeit, Intensität und Unmittelbarkeit verlei-

hen. Auch vereinfachte er die Motive zugunsten einer desto größeren Gesamtwirkung. Wenn er auch schnell

malte, so malte er dennoch nicht impulsiv oder gar ekstatisch; vor der Ausführung bereitete er seine Gemälde

gedanklich, teilweise auch in mehreren Zeichnungen sorgfältig vor.

Fast immer malte er „vor dem Motiv“, nur in sehr seltenen Fällen aus der Erinnerung oder Vorstellung. Wenn er

auch das Gesehene oft stark umformte, so blieb er doch immer der Wirklichkeit verpflichtet und überschritt nie

die Grenze zur Abstraktion.