DAS ABC, Deleuze

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1 DAS ABC... ...von Gilles Deleuze mit Claire Parnet... A - L Regie von Pierre-André Boutang 1996 Ein Überblick vorbereitet von Charles J. Stivale Wayne State Universität Arbeistmanuskript Hergestellt und übersetzt von Christian Malycha für die Ausstellung DELEUZE UND DIE KÜNSTE im ZKM - Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Berlin und Karlsruhe 2oo3 Das ABC... ...von Gilles Deleuze mit Claire Parnet... A WIE IN ANIMAL (TIER) 4 B WIE IN BOIRE/BOISSON (TRINKEN/GETRÄNK) 8 C WIE IN CULTURE (KULTUR) 9 D WIE IN DÉSIRE (BEGEHREN) 15 E WIE IN ENFANCE (KINDHEIT) 22 F WIE IN FIDELITÉ (TREUE/FREUNDSCHAFT) 27 G WIE IN GAUCHE (LINKS) 30 H WIE IN HISTOIRE (GESCHICHTE) DER PHILOSOPHIE 38 I WIE IN IDEE 48 J WIE IN JOIE (GLÜCK) 52 K WIE IN KANT 57 L WIE IN LITERATUR 61 Der vorliegende Text ist ein Arbeitsmanuskript. Er folgt einer von Prof. Charles J. Stivale erarbeiteten Zusammenfassung der achtstündigen Gespräche zwischen Claire Parnet und Gilles Deleuze. Daß dieser Text weder Transkription noch vollständige Übersetzung sein kann,

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gilles Deleuze, Das ABC, Auf Deutsch

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DAS ABC... ...von Gilles Deleuze mit Claire Parnet...

A - LRegie von Pierre-André Boutang

1996Ein Überblick vorbereitet von

Charles J. StivaleWayne State Universität

 Arbeistmanuskript

Hergestellt und übersetzt von Christian Malychafür die Ausstellung

DELEUZE UND DIE KÜNSTEim ZKM - Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.

Berlin und Karlsruhe 2oo3Das ABC...

...von Gilles Deleuze mit Claire Parnet...

A WIE IN ANIMAL (TIER) 4B WIE IN BOIRE/BOISSON (TRINKEN/GETRÄNK) 8C WIE IN CULTURE (KULTUR) 9D WIE IN DÉSIRE (BEGEHREN) 15E WIE IN ENFANCE (KINDHEIT) 22F WIE IN FIDELITÉ (TREUE/FREUNDSCHAFT) 27G WIE IN GAUCHE (LINKS) 30H WIE IN HISTOIRE (GESCHICHTE) DER PHILOSOPHIE 38I WIE IN IDEE 48J WIE IN JOIE (GLÜCK) 52K WIE IN KANT 57L WIE IN LITERATUR 61

Der vorliegende Text ist ein Arbeitsmanuskript. Er folgt einer von Prof. Charles J. Stivale erarbeiteten Zusammenfassung der achtstündigen Gespräche zwischen Claire Parnet und Gilles Deleuze. Daß dieser Text weder Transkription noch vollständige Übersetzung sein kann, liegt also auf der Hand. Für den von Pierre-André Boutang gedrehten Film, der eigentlich bestimmt war, nach Deleuzes Tod ausgestrahlt zu werden und schließlich, mit dessen Einverständnis, doch einige Monate vor seinem Tod gesendet wurde, ist er als erster Überblick und zur Orientierung hoffnungsvoll dennoch zu gebrauchen.

Er umfaßt in groben Zügen die Hauptstränge der Unterhaltung mit Parnets Fragen, Deleuzes Erwiderungen, beider Schweigen, Gedankensprünge und Scherze. Die Übersetzung ist von Charles Stivale autorisiert, nimmt aber zur besseren Lesbarkeit

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gegenüber einem fortlaufenden Fließtext eine eigenständige Neuordnung der thematischen Blöcke und inhaltlichen Absätze vor. Einige Anmerkungen sind bereits hinzugefügt, ebenso bislang noch unvollständige Literaturangaben zu den im Gespräch erwähnten Büchern.

Was die Sprache angeht, sind vielleicht einige Beobachtungen hilfreich, die der Übersetzer Christian Enzensberger gemacht hat. Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Lewis Carrolls ALICES ABENTEUERN erwähnt er, daß viele Kritiker dem zweiten Alicebuch vorgeworfen haben, "es wirke 'künstlich', 'ausgedacht' und viel weniger 'lebendig'" . Mitunter trifft diese Kritik auch auf den vorliegenden Text zu. Im Gegensatz zum eigentlichen Gespräch, sind Deleuze und Parnet selbstredend "nicht mehr so reich ausgemalt" , scheinbar laufen sie sogar Gefahr sprachlich "bloße Marionetten" zu werden und die "eintönige Wiederholung des 'sagte sie', 'sagte er'" tritt in den Dialogen auch noch störend hinzu. Allerdings entsteht aus diesem protokollierten Sprechen eine Art Stottern, das nicht das Stottern an sich ist, sondern eine holpernde und zum Stottern gebrachte Sprache, die den gesamten Text durchzieht. Ob zum Guten oder Schlechtem, sei jedem selbst überlassen. Aber wir haben es hier eben auch mit der Nacherzählung einer Nacherzählung zu tun, in welcher die "der Kopie entsprechende maximale Modifikation enthalten" ist. Die Übersetzungen, Einfügungen und erneuten Nacherzählungen könnten also auch "eine Art Zeitlupe, Erstarrung oder Stillstand des Textes darstellen: nicht nur des Textes, auf den sie sich beziehen, sondern auch des Textes, in den sie sich einfügen. So daß sie eine Doppelexistenz führen und einem doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Textes entsprechen".

Und unabhängig davon lassen sich im gesamten Text erfrischende, bewegende, amüsierende und aufregende Gedanken finden, die ohne Frage lesenswert sind.

CM

Gilles Deleuze sitzt vor einem Kamin, über ihm hängt ein Spiegel. Ihm gegenüber sitzt Claire Parnet. Pierre-André Boutang steht mit der Videokamera links hinter ihr, so daß sie nach dem jeweiligen Bildausschnitt entweder teilweise von hinten oder ebenfalls im Spiegel zu sehen ist.

Vor dem eigentlichen Beginn des ABCs erwähnt Deleuze die Umstände und Bedingungen der Gespräche: Parnet und Boutang haben die Form des ABCs gewählt und ihm die groben Themen mitgeteilt, nicht aber die eigentlichen Fragen. Er wird die Fragen also beantworten, ohne sich darauf vorbereitet zu haben. Etwas, was er eigentlich nicht tun würde. Da die Aufnahmen aber erst nach seinem Tod zugänglich gemacht werden sollen, ist er einverstanden und erleichtert. Fast als sei er ein unbeschriebenes Blatt Papier, vielleicht sogar eine Spielart des reinen Geistes. Wobei er sich lachend fragt, was das bringen soll. Denn schließlich weiß doch jeder, daß ein reiner Geist, nicht

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gerade jemand ist, der auf die gestellten Fragen sehr überzeugende und intelligente Antworten gibt.

A WIE IN ANIMAL (TIER)

Claire Parnet beginnt mit einem Zitat von W.C. Fields, das sie Deleuze vorschlägt: "Ein Mann der Tiere und Kinder nicht mag, kann so schlecht nicht sein." Sie läßt die Kinder beiseite und fragt Deleuze nach seiner Beziehung zu Tieren. Sie weiß, daß er sich nicht groß um Haustiere schert, bemerkt aber, daß er das, was er schreibt, durchaus mit einem gewissem Bestiarium - mit weniger Ablehnung, besonders gegenüber Zecken und Flöhen - bevölkert. Und daß er und Félix Guattari das Tier sich in ihrem Begriff des TIER-WERDEN entwickeln lassen. Also fragt sie sich, wie seine Beziehung zu Tieren aussehen könnte.

Deleuze antwortet eher langsam auf die Frage, um schließlich damit zu beginnen, daß es ihm weniger um Katzen und Hunde geht oder Tiere als solche. Er weißt darauf hin, daß er empfänglich ist für etwas in der Art von Tieren. Doch was er nicht ausstehen kann, sind familiäre, häusliche Tiere. Er führt jenen fatalen Moment an, als eines seiner Kinder eine streunende Katze mit nach Hause brachte. Mit dem Ergebnis, daß es seitdem immer ein Tier in seinem Haus gab. Was er daran unerfreulich findet, ist, daß er Dinge nicht mag, die sich reiben. Und besonders meidet er Hunde, wegen des Bellens. Der dümmste Schrei, wie er es nennt, die Schande des Tierreichs. Eher als Bellen, jedoch auch nicht zu lange, verträgt er das Wolfsgeheul an den Mond.

Überall, bemerkt er, haben die Leute, die Katzen und Hunde wirklich mögen, mit diesen keine menschliche Beziehung, wie Kinder, die kindliche Beziehung mit Tieren führen. Was essentiell ist, behauptet Deleuze, ist, eine animalische Beziehung zu Tieren. Deleuze berichtet von den Eindrücken einiger Leute, die ihre Hunde in seiner ruhigen Straße spazieren führen. Die Art zu sehen, wie sie mit ihren Hunden sprechen, beschreibt er als erschreckend.

Auch hält er sich fern von der Psychoanalyse, dafür, daß sie Bilder von Tieren in bloße Symbole von Familienmitgliedern umwandelt, wie in Freuds TRAUMDEUTUNG. Deleuze schließt mit der Frage, welche Beziehung man mit einem Tier haben soll oder haben kann und vermutet, daß es besser ist, eine animalische Beziehung, nicht eine menschliche mit einem Tier zu führen. Sogar Jäger haben diese Art von Beziehung zu ihrer Beute. Sein eigenes Bestiarium betreffend, räumt Deleuze seine Faszination von Spinnen, Zecken und Flöhen ein, hebt aber hervor, daß sogar sein Haß auf bestimmte Tiere von dieser Faszination genährt wird. Das Erste, was ihn fasziniert und was ein Tier ausmacht, ist, daß jedes Tier eine außergewöhnliche, ihm entsprechende Welt besitzt, die nur von sehr wenigen Affekten bestimmt wird. Ausgehend von Uexkülls STEIFZÜGEN führt er die Welt der Zecke noch etwas weiter aus und ist besonders fasziniert von der Kraft dieser Welten. Die zweite Sache, die ein Tier ausmacht, ist, daß es ein Territorium

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besitzt. Deleuze weist darauf hin, daß er gemeinsam mit Félix, fast einen philosophischen Begriff des Territoriums entwickelt hat.

Die Gründung eines Territoriums ist beinahe die Geburt der Kunst: Durch das Markieren eines Territoriums, was nicht nur eine Sache der Säuberung und des Setzens von urinalen Marken ist, sondern eben auch die einer Reihe von Gesten - Stehen und Sitzen eines Tieres -, einer Reihe von Farben, die ein Tier anlegt, eines Lieds. Das sind die drei Grundzüge der Kunst: Farben, Linien, Lied, sagt Deleuze. Farben, Linien, Lied, Kunst in ihrer reinsten Form. Überall muß man territoriales Verhalten auf der Ebene von Besitz und Eigentum einschätzen. Das Territorium als meine Eigenschaften, mes propriétés, als meine Requisiten, meine Ausstattung in der Art von Beckett oder Henri Michaux.

Deleuze schweift leicht ab, um auf den gelegentlichen Bedarf der Philosophie hinzu-weisen, sich mots barbares zu schaffen, barbarische Wörter. Sogar wenn ein bestimmtes Wort in einer anderen Sprache existieren könnte, wie einige der Begriffe, die er und Félix zusammen erschaffen haben. Um mit dem Begriff des Territoriums umgehen zu können, schufen sie den Begriff der Deterritorialisierung. Deleuze sagt, daß er ein englisches Äquivalent des Deterritorialisierten bei Herman Melville, in dessen outlandish gefunden hat. In der Philosophie ist die Erfindung von barbarischen Wörtern manchmal nötig, um einen neuen Begriff anwenden zu können: Es gäbe keine Territorialisierung ohne einen Flucht-Vektor, der das Territorium verläßt, eben die Deterritorialisierung und es gäbe kein Verlassen des Territoriums, keine Deterri-torialisierung, ohne einen Vektor der Reterritorialisierung irgendwo anders.

Bei Tieren werden diese Territorien durch das endlose Aussenden von Zeichen ausgedrückt und fortgesetzt, welche wiederum auf Zeichen reagieren, beziehungsweise Zeichen produzieren. Wie eine Spinne und ihr Netz oder so etwas wie eine Wolfsspur, das von Jägern und von Spurensuchern in einer Art animalischer Beziehung wahrgenommen wird.

An dieser Stelle fragt Parnet, ob es eine Verbindung zwischen dem Aussenden von Zeichen, dem Territorium und dem Schreiben gibt. Deleuze erwidert, daß sie verbunden sind, durch eine Art von Leben, das immer auf der Lauer ist. Wie ein Tier, ein Schriftsteller, ein Philosoph niemals gelähmt sind, dafür aber immer über die eigene Schulter blicken.

Man schreibt für die Leser, fährt er fort. Für meint hier für ihre Aufmerksamkeit. Doch genauso, schreibt man für die Nicht-Leser. Für meint hier anstelle von, wie Antonin Artaud es tut, wenn er sagt, daß er für die literarisch Ungebildeten, die Idioten schreibt, an ihrer Stelle. Deleuze argumentiert, zu denken, das Schreiben sei eine kleine, betuliche und private Angelegenheit, ist schändlich. Schreiben heißt vielmehr, sich in eine alles umfassende Angelegenheit zu werfen, sei es nun ein Roman oder die Philosophie.

Parnet erwähnt beiläufig Hoffmanstahls Lord Chandos und dessen "widernatürliche Anteilnahme" , die Félix und er in TAUSEND PLATEAUS verarbeitet haben. Worauf Deleuze hervorhebt, Schreiben heißt, die Sprache, die Syntax bis zu einer bestimmten

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Grenze zu treiben. Eine Grenze, die eine Sprache des Schweigens sein kann oder eine Sprache der Musik oder auch die Sprache einer schmerzvollen Klage, wie in Kafkas VERWANDLUNG.

Für Deleuze sind es nicht die Menschen, sondern die Tiere, die zu sterben wissen und er kommt wieder auf die Katzen zu sprechen: Wie eine Katze eine Ecke sucht, um zu sterben, ein Territorium für den Tod. So treibt der Schreiber die Sprache an die Grenze des Schreis, des Lieds und ein Schreiber ist verantwortlich für das Schreiben für, das Schreiben ANSTELLE-VON. Anstelle der Tieren, die sterben, sogar als Philosoph. Hier, sagt er, ist man auf der Grenze, die Denken von Nicht-Denken trennt.

B WIE IN BOIRE/BOISSON (TRINKEN/GETRÄNK)

Parnet fragt, was es für Deleuze bedeutete, als noch getrunken hat. Deleuze meint, er hat viel getrunken, es aber dann aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben. Trinken, sagt er, ist eine Frage der Quantität. Die Leute machen sich lustig über Abhängige und Alkoholiker, die vorgeben, in der Lage zu sein aufzuhören. Aber was sie wollen, so Deleuze, ist den letzten Drink, das letzte Glas erreichen. Ein Alkoholiker hört nie auf zu Trinken, er hört nie auf, den letzten Drink zu erreichen. Den letzten heißt hier, daß er kein Glas an diesem besonderen Tag mehr trinkt. Es ist das letzte, das in seiner Kraft steht gegenüber dem letzten, das über seine Kraft hinausgeht, das ihn kollabieren läßt. Also ist es die Suche nach dem vorletzten Drink, dem finalen Drink... bevor man den nächsten Tag beginnt.

Parnet will wissen, wie man aufhört zu trinken und Deleuze bemerkt, Michaux hat dazu schon alles gesagt.

Trinken ist mit Arbeiten verbunden - Alkohol und Drogen können eine absolute Gefahr darstellen, die einen von der Arbeit abhält. Alkohol und Drogen sind nicht nötig, um zu arbeiten, aber ihre einzige Rechtfertigung ist, daß sie einem helfen zu arbeiten, sogar unter dem Risiko der eigenen Gesundheit. Deleuze bezieht sich auf einige Amerikanische Schriftsteller und zitiert mit Thomas Wolfe F. Scott Fitzgerald als alkoholische Serie. Das Trinken half ihnen, etwas zu erzeugen, das zu stark für das Leben ist. Deleuze sagt, daß er getrunken hat und das Trinken ihm half, philosophische Begriffe zu erschaffen, er aber dann erkannte, daß es ihn überhaupt nicht weiterbrachte.

Als Parnet nach Alkoholiker-Schriftstellern in Frankreich fragt, antwortet Deleuze, selbstverständlich, da sind viele. Aber es gibt einen Unterschied in den Betrachtungs-weisen von Französischen Schriftstellern und denen der Amerikanischen. Er schließt mit einer Bemerkung zu Paul Verlaine, der es pflegte, auf dem Weg zu seinem täglichen Glas Absinth durch Deleuzes Straße zu laufen: "Einer der größten Französischen Dichter".

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C WIE IN CULTURE (KULTUR)

Als Parnet den Titel vorliest, antwortet Deleuze lakonisch, ja, warum nicht.

Parnet möchte wissen, was es für Deleuze bedeutet, kultiviert zu sein. Sie führt an, daß er gesagt habe, nicht kultiviert zu sein, daß er aber doch regelmäßig liest, Filme ansieht und die Dinge nur als Funktionsteil einer laufenden Arbeit betrachtet. Und doch gibt sie zu, daß er stets eine ganz offensichtliche Anstrengung unternommen hat, um auszugehen, zu Filmen, in Kunstausstellungen. Als ob eine Art von Übung in dieser kulturellen Anstrengung läge, als ob er eine Art von systematischer, kultureller Übung besäße. Sie fragt sich nun, was er unter diesem Paradox versteht und unter Kultur im allgemeinen.

Deleuze erwidert, daß er nicht als Intellektueller lebt, noch sich als kultiviert sieht, denn wenn er auf jemanden kultiviertes trifft, er ist einfach erschüttert und nicht notwen-digerweise vor Bewunderung. Für ihn sind kultivierte Leute im Besitz eines savoir effarant, eines erschreckenden Körpers an Wissen, allwissend, in der Lage über alles zu sprechen. Wenn er also sagt, daß er weder intellektuell noch kultiviert ist, behauptet er, daß er keine Wissensreserven besitzt, kein vorsorgendes Wissen. Alles, mit dem er sich beschäftigt, ist Teil einer bestimmten Beschäftigung und sobald diese abgeschlossen ist, vergißt er alles und muß wieder von Neuem anfangen. Ausgenommen davon sind bestimmte Dauerbeschäftigungen, wie Spinoza, der in seinem Herz und seinem Denken steckt. Warum also, sollte er dieses erschreckende Wissen bewundern?

Parnet fragt, ob diese Art von Wissen erlernt sei oder nur eine Meinung und Deleuze erwidert, nein, kein Lernen. Einen kann er aber dennoch nennen, für den er voll von Bewunderung ist: Umberto Eco. Der, was ihn verwundert, wie wenn man bei ihm einen bestimmten Knopf drückt, über alles sprechen kann und sogar weiß, daß er dies tut. Doch wie er erwähnt, erschreckt ihn dies und er beneidet es in keiner Weise.

Deleuze fährt fort mit etwas, das er entdeckt hat, seitdem er in Rente gegangen ist, seitdem er nicht mehr lehrt. Das Sprechen ist ein wenig dreckiger, sagt er, wohingegen das Schreiben klarer geworden ist. Beim Sprechen geht es um das Charmant-Sein und Deleuze verknüpft dies mit dem Besuch von Konferenzen. Etwas, das er nie ausstehen konnte. Aus gesundheitlichen Gründen verreist er nicht mehr, aber für ihn sind reisende Intellektuelle Nonsens. Die Entrückung um miteinander reden zu gehen, sogar während des Essens, um mit den örtlichen Intellektuellen zu sprechen. "Ich kann das nicht ausstehen, Reden, Reden, Reden..." Daß in diesem Sinn, die Kultur mit dem gesprochenen Wort verbunden wird, läßt ihn die Kultur hassen.

Parnet gibt zu bedenken, daß die Unterscheidung zwischen Schreiben und gesproch-enem Wort mit dem Buchstaben P wiederkehren wird, wenn sie über die Betrachtungen des Worts in Deleuzes Seminaren sprechen.

Sie kommt dann erneut auf die Anstrengung, mitunter sogar Disziplin, der Deleuze sich nichts desto weniger selbst aussetzt, um auszugehen, um Ausstellungen oder Filme zu

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sehen. Sie fragt, was für ihn dieser kulturellen Übung entspräche, dieser Anstrengung. Ob sie eine Vergnügung für ihn wäre. Deleuze stimmt ihr zu, sicherlich Vergnügen, wenn auch nicht immer. Für ihn ist es Teil seines Betrags zum Immer-Auf-Der-Lauer-Sein. Er fügt hinzu, daß er nicht an etwas wie die Kultur glaubt, eher glaubt er an Begegnungen, aber diese Begegnungen treten nicht mit anderen Leuten auf. Die Leute denken, daß Begegnungen mit anderen Leuten stattfinden, wie zwischen Intellektuellen auf Kolloquien. Doch Begegnungen finden vielmehr mit Dingen, mit einem Bild, mit einem Musikstück statt. Mit anderen Leuten, wie auch immer, seien diese Treffen in keiner Hinsicht Begegnungen - diese Art von Begegnungen sind gewöhnlich arg enttäuschend, katastrophal.

Am Samstag oder Sonntag, wenn er ausgeht, ist er nicht sicher, auf eine Begegnung zu stoßen. Er geht einfach aus, auf der Lauer für eine Begegnung. Um zu sehen, ob es Material für eine Begegnung gibt, in einem Film, in einem Bild.

Er besteht darauf, wann auch immer jemand etwas tut, die Frage stets auch ist, weiterzugehen, davon weg zu kommen, darüber hinaus. Ist man beispielsweise Philosoph, ist das in der Philosophie bleiben, zugleich ein aus der Philosophie Herauskommen. Was nicht heißt, etwas ganz anderes zu tun, sondern herauszukommen, während man doch drinnen bleibt und nicht unbedingt indem man einen Roman schreibt. Deleuze bemerkt, er wäre gar nicht dazu in der Lage, in jeder Hinsicht, aber selbst, wenn er es könnte, wäre es völlig nutzlos. Deleuze besteht darauf, daß er aus der Philosophie heraus oder über sie hinaus gelangt, mit den Mitteln der Philosophie selbst.

Parnet ist nicht sicher, was er meint, so daß Deleuze betont, da die Aufnahme nach seinem Tod gehört werden wird, er nun auch ohne Bescheidenheit sprechen kann. Er bezieht sich auf sein letztes Buch über Leibniz, in welchem er den Begriff der Falte aufwirft. Ein Buch über den kleinen, bizarren Begriff der Falte. In der Folge erhielt er eine Menge an Briefen, manche von Intellektuellen und zwei andere Briefe, die aus der Menge herausfielen. Der eine war von der Vereinigung der Papierfaltenden, welche schrieben, sie wären exakt derselben Überzeugung - was Deleuze täte, täten sie ebenfalls! Und der zweite Brief, dessen Absender etwas ganz ähnliches sagte: Die Falte ist in uns! Für Deleuze ist dies erstaunlich. Mehr noch, da es ihn auf eine Geschichte von Platon bringt, der, zumindest für Deleuze, wie alle großen Philosophen nicht in Abstraktionen schreibt, sondern sie alle auch große Schriftsteller sind, von sehr konkreten Dingen. Deleuze schlägt also eine Geschichte vor, in welcher Platon eine Definition der Frage Was ist ein Politiker? versucht. Ein Politiker ist ein Pastor der Menschheit. Und mit dieser Definition treten nun viele Leute auf und sagen: Wir sind Politiker! Der Schafhirt, der Kleidung für die Menschheit bereitstellt oder der Metzger, der die Menschheit füttert. Diese Rivalen treffen nun aufeinander und Deleuze meint, mit der Geschichte fertig zu sein: Die Papierfaltenden auf der einen, die sagen, wir sind die Falte! Und die auf der anderen Seite schreiben, sie seien Surfer, sie verstünden, sie sind einverstanden. Wir hören nie auf, uns selbst in die Faltungen der Natur einzubringen. Für sie ist die Natur eine bewegliche Falte und sie sehen ihre Beschäftigung in einem Leben in den Falten des Meeres. Mit solchen Begegnungen kann man über die Philosophie hinaus und durch die Philosophie hindurch gehen und er hat

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diese Begegnungen mit den Papierfaltenden, mit den Surfern, ohne dafür aus dem Haus gehen zu müssen, um sie zu treffen: So gesehen, durch diese Begegnungen mit den Surfern und Papierfaltenden gelangt Deleuze aus der Philosophie heraus mit den Mitteln der Philosophie selbst.

Wenn er also ausgeht, zu einer Ausstellung, hält er Ausschau nach einem Bild, das ihn berührt, ihn affiziert. Das Theater bietet nicht viele derartige Gelegenheiten für eine Begegnung, sagt Deleuze. Umso mehr seit er Schwierigkeiten hat, lange zu sitzen. Allerdings gibt es gewisse Ausnahmen, wie Bob Wilson und Carmelo Bene.

Parnet fragt, ob das ins Kino gehen ebenfalls Arbeit ist, sofern es kein Kino gibt, das eine Ablenkung wäre. Deleuze meint, es gehört nicht zur Kultur und Parnet will wissen, ob alles, was er tut, sich in seine Arbeit einschreibt. Für Deleuze ist es keine Arbeit, es ist einfach eine Art von Aufgeregt-Sein, auf der Lauer für etwas, das vorübergeht, etwas, das einem Schwierigkeiten bereitet, etwas, das einen amüsiert.

Parnet wendet ein, daß er nur Benny Hill ansähe and Deleuze stimmt zu, meint aber, es gibt andere Gründe, warum ihn Benny Hill interessiert.

Wonach Deleuze Ausschau hält, wenn er ausgeht, ist, zu sehen, ob es da eine Idee gibt, die er aus seinen Begegnungen herausziehen kann, aus Filmen, zum Beispiel. Er erwähnt Vincente Minelli und Joseph Losey und beschreibt, was ihn in ihren Arbeiten berührt: Diese Künstler werden von einer Idee überwältigt, was Deleuze eben als eine Begegnung bezeichnet. Parnet unterbricht Deleuze, da er sich schon an den Buchstaben I mache und doch aufhören solle. Der verteidigt sich damit, daß er nur klarstellen will, was eine Begegnung für ihn bedeutet und daß es nicht die Begegnung mit Intellektuellen ist. Wenn er aber eine Begegnung mit einem Intellektuellen hat, ist es vielmehr der Charme dieser Person, innerhalb der Arbeit, die er selbst gerade macht, der zu einer Begegnung führt, nicht aber die Leute. "Diese Art von Leuten ist mir scheißegal, vollkommen..." Parnet meint, daß sie sich vielleicht wie Katzen an ihm reiben und Deleuze stimmt ihr lachend zu, entweder ist es das oder ihr Bellen.

Da er kulturell reiche, wie auch kulturell arme Zeiten erlebt hat, fragt Parnet ihn, ob die jetzige eine reiche oder arme sei. Deleuze fängt an zu Lachen, in seinem Alter, nach allem was er gesehen hat, ist es nicht die erste armselige. Die Zeit der Befreiung und danach war so reichhaltig, was nur schwer vorstellbar ist. Als er und andere ständig neue Dinge entdeckten, Kafka, die Amerikanische Literatur, Sartre und in der Malerei. Es gab jede Art von Polemiken, die einem heute kindisch vorkommen, aber es war eine sehr stimulierende, produktive Atmosphäre. Und die Zeit vor und nach dem Mai '68 war auch sehr vielfältig. Dann jedoch, gab es eine verarmte Zeit, wobei es nicht die Armut ist, die ihn verwundert, sondern die Beschränktheit und Anmaßung der Leute, die sich in solchen Zeiten breit machen. Je dümmer sie sind, desto fröhlicher sind sie und verkünden dann, die Literatur ist eine kleine Privatangelegenheit.

Wie dem auch sei, er kommt zu etwas, das ihm reizvoller erscheint. Neulich hat er einen Russischen Film gesehen: Der Kommissar, der wunderbar ist, perfekt. Ganz ähnlich den

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Filmen, wie sie die Russen vor dem Krieg gemacht haben, so wie Eisenstein. Als ob seit dem Krieg nichts geschehen wäre, als ob der Regisseur so isoliert in seiner Arbeit gewesen ist, daß er einen Film machen konnte wie vor zwanzig Jahren, da er in einer Wüste aufgewachsen ist. Was furchtbar ist, in einer Wüste geboren zu werden, besonders für einen Achtzehnjährigen heutzutage.

Niemand bemerkt, wenn solche Dinge einfach verschwinden, stellt er fest. Beispielsweise verschwand unter Stalin die Russische Literatur im Stil des neunzehnten Jahrhunderts und niemand hat etwas davon mitbekommen. Heute gibt es bedeutende Leute, vielleicht neue Becketts, aber solange sie nicht veröffentlicht werden, scheint doch nichts zu fehlen. Niemand vermißt so eine neue Schöpfung. Deleuze erzählt von der dreistesten Erklärung, die er je gehört hat: Heute riskieren wir solche Fehler, wie Gallimard sie noch gemacht hat, nicht mehr, als er abgelehnte, Proust zu veröffentlichen. Denn heute haben wir die Mittel, die neuen Prousts und Becketts zu entdecken. Was Deleuze sehr amüsiert: Dann können sie auch gleich sagen, sie hätten eine Art Geigerzähler, der ihnen hilft, einen neuen Beckett zu identifizieren, ihn durch irgendeinen Ton oder ein Schimmern dingfest zu machen.

Die gegenwärtige Krise, die wüste Zeit, zeichnet sich durch drei Dinge aus:

1. Die Journalisten haben das Buch erobert. Mittlerweile schreibt jeder Journalist ein Buch, über Sachen, für die noch nicht mal einen Zeitungsartikel nötig ist.

2. Es gibt die allgemeine Auffassung, daß jeder schreiben kann, da das Schreiben zur nichtigen Privatangelegenheit des Individuums, des Familienarchivs, der Archive im Kopf von sonst wem gehört. Jeder macht die unterschiedlichsten persönlichen Erfahrungen und entscheidet, einen Roman zu schreiben.

3. Doch auch die eigentlichen Abnehmer haben sich verändert: Beim Fernsehen sind nicht mehr die Zuschauer die Konsumenten, sondern die Ansager, die Werbeleute und bei den Büchern sind es die Leute im Vertrieb, nicht mehr die potentiellen Leser. Das Ergebnis ist eine brutale Übernahme, die Herrschaft der Bestseller. Literatur à la Beckett, schöpferische Literatur wird dabei zerrieben. Zeiten wie diese werden inzwischen von Leuten wie Bernard Pivot bestimmt, erst mit der Literatur-Talkshow Apostrophes und nun in der Fleischbrühe der Kultur - die Nichtigkeit, das Verschwinden jeglicher Literaturkritik außerhalb der Werbung.

Wie auch immer, schließt er, das ist alles nicht so ernst. Es wird immer einen Parallelkreislauf des Ausdrucks geben oder eine Art Schwarzmarkt. Die Russen haben ihre Literatur zwar verloren, doch waren sie irgendwie in der Lage, sie wieder zu erobern.

Parnet meint, daß es ihr in den letzten Jahren so scheine, als ob nichts Neues aufgekommen wäre und fragt, wie sich etwas Neues entwickle und ob er derartiges schon erlebt habe. Deleuze erwidert, ja, wie er schon gesagt hat, die Zeit zwischen der Befreiung und der Nouvelle Vague, die frühen Sechziger waren sehr reich. Ein wenig,

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wie Nietzsche sagt, ein Pfeil durchzieht einen Raum, eine bestimmte Zeit also, oder ein Kollektiv schießt einen solchen Pfeil ab, der irgendwann zu Boden fällt, so daß sich die literarische Produktion der heutigen Zeit in der Wüste wiederfindet.

D WIE IN DÉSIR (BEGEHREN)

Parnet beginnt mit einem Zitat aus dem biographischen Eintrag zu Deleuze, Gilles im PETIT LAROUSSE von 1988, das sich unter anderem auf seine Arbeit mit Félix Guattari über das Begehren bezieht und mit einem Verweis auf den gemeinsam geschriebenen ANTI-ÖDIPUS . Da Deleuze vorgestellt wird als ein Philosoph des Begehrens, fragt Parnet, was das sein soll.

Deleuze fängt damit an, daß "es nicht das ist, für das es die Leute gehalten haben, schon damals nicht. Es gab da eine große Ungenauigkeit und ein großes Mißverstehen, vielleicht sogar eher ein kleines." Wie dem auch sei, schließlich geht er auf die Frage im allgemeinen, doch auch in bewegenden Details ein.

Zu Anfang, wohl wie die meisten Leute, die ein Buch schreiben, dachten sie, etwas Neues zu sagen. Im Besonderen, daß die Leute, die vor ihnen geschrieben hatten, nicht verstanden hatten, was Begehren bedeutet. Als Philosophen, sahen Félix und er ihre Aufgabe darin, einen neuen Begriff des Begehrens auf den Tisch zu bringen. Und Begriffe, entgegen dessen, was einige Leute denken mögen, beziehen sich auf Dinge, die erstaunlich einfach und konkret sind.

Was sie ausdrücken wollten, war die einfachste Sache der Welt: Bis heute, spricht man vom Begehren als Abstraktion, da man ein Objekt isoliert, das man schließlich für das Objekt des Begehrens hält. Deleuze betont, daß man niemals etwas oder jemanden begehrt, sondern vielmehr ein bestimmtes Ensemble. Sie fragten sich also, wie die Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen funktionieren müssen, damit Begehren entsteht, damit die Elemente begehrenswert werden. Deleuze spricht mit Proust, wenn er das auf eine Frau gerichtete Begehren weniger als das Begehren einer Frau beschreibt, als das einer Landschaft, welche die begehrte Frau in sich trägt. So auch beim Begehren eines bestimmten Objekts, eines Kleides zum Beispiel, geht das Begehren nicht auf das Objekt allein, sondern auf den gesamten Kontext, das gesamte Ensemble: "Ich begehre innerhalb eines Ensembles."

Deleuze kommt noch einmal auf den Buchstaben B und das Trinken, den Alkohol und auf das Begehren nicht bloß zu Trinken, sondern das Begehren eines wie auch immer gearteten Ensembles, in welchem man das Begehren zu Trinken entwickelt und situiert, mit anderen Personen, in einem Café, etc.

Es gibt also kein Begehren, so Deleuze, das nicht innerhalb eines Ensembles fließt und für ihn ist Begehren immer ein Herstellen, das Hervorbringen eines Gefüges, eines Ensembles: Das Ensembles eines Rockes, das eines Sonnenstrahls, einer Straße, das

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einer Frau, eines Blicks, einer Farbe... das Herstellen eines Gefüges, das Hervorbringen einer Region, Verkopplungen. Deleuze hebt hervor, es gibt nie zuviel Begehren, Begehren ist immer auch Produzieren.

Parnet fragt, ob, da das Begehren immer ein Gefüge ist, Deleuze zwei sein mußte, gemeinsam mit Guattari, um produzieren zu können. Deleuze stimmt ihr zu, daß er zusammen mit Félix ein Gefüge hergestellt hat. Ein Gefüge aber kann, selbst wenn man ganz allein ist, so gut wie zu zweit oder sogar zwischen zwei verschiedenen Gefügen zustande kommen. All das, fährt er fort, hat mit physikalischen Phänomenen zu tun und einem eintretenden Ereignis, das differente Vermögen, verschiedene Kräfteverhältnisse freisetzt, wie ein Blitz oder ein reißender Strom. So bildet sich eine Ebene des Begehrens. Jedesmal, wenn nun jemand davon spricht, ich begehre dies oder das, befindet sich diese Person im Prozeß der Herstellung und des Erzeugens eines Gefüges. Nichts weiter, Begehren ist nichts anderes.

Parnet verbindet dies mit dem ANTI-ÖDIPUS, wenn sie feststellt, daß es das erste Buch ist, in dem er über das Begehren spricht, als auch das erste, das er mit einem anderen schreibt. Deleuze stimmt ihr zu, sie mußten sich in etwas begeben, das für sie selbst so etwas wie eine neue Verkopplung war, Zu-Zweit-Schreiben, durch die vielleicht etwas verschwinden würde. Und dieses Etwas war eine fundamentale Feindschaft gegenüber dem vorherrschenden Begriff des Deliriums, besonders in der Psychoanalyse. Und da Félix mit der Psychoanalyse durch war und Deleuze daran interessiert, fanden sie eine gemeinsame Ebene, um einen produktiven Begriffs des Begehrens zu entwickeln.

Parnet bittet ihn, etwas ausführlicher darüber zu sprechen, worin für ihn die Differenz zwischen einem produktiven und einem analytischen Ansatz liegt. Deleuze sieht diesen ganz offen liegen, die Psychoanalytiker sprechen vom Begehren wie Priester unter dem Mantel des großen Klagens über die Kastrationsangst, was für ihn ein enormer und erschreckender Fluch ist, der auf dem Begehren lastet.

Mit dem ANTI-ÖDIPUS versuchten sie der Psychoanalyse mit drei Hauptlinien entgegenzutreten, von denen er keine auch nur annähernd ändern wollte:

1. Entgegen dem psychoanalytischen Begriff des Unbewußten als ein Theater, mit seiner permanenten Repräsentation durch Hamlet und Ödipus, erscheint ihnen das Unbewußte als Fabrik, als Produktionsstätte. Das Unbewußte produziert, wie eine Fabrik, der psychoanalytischen Sichtweise vollkommen entgegengesetzt.

2. Das Delirium, verbunden mit dem Begehren, ist das Gegenteil des Deliriums, das einsam mit Vater oder Mutter verbunden ist. Vielmehr derilieren wir über alles, über die ganze Welt, Geschichte, Geographie, über Stämme, Wüsten, Völker, Rassen, Klimate, was Rimbaud mit "Ich bin ein Tier, ein Neger" meint: wo sind meine Stämme, wie sind meine Stämme angeordnet, die in der Wüste überleben? Das Delirium, so Deleuze, ist geographisch und politisch, wohingegen die Psychoanalyse es immer mit familiären Bezugsgrößen verbindet. Die Psychoanalyse hat nie etwas davon verstanden, von den Ereignissen des Deliriums. Wir derilieren die Welt und nicht bloß eine kleine Familie.

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Und all die Abwege: Wie die Literatur, die er nicht als kleine, private Angelegenheit von sonst jemandem beschreibt, sondern als Delirium, das ohne Vater und Mutter auskommt.

3. Das Begehren muß erzeugt werden und produziert innerhalb eines Gefüges, wobei immer verschiedenste Faktoren ins Spiel kommen, die in der Psychoanalyse auf einen einzigen reduziert werden - Vater, Mutter, Phallus -, was das Vietheitliche, das Produktive, die Gefüge vollkommen außer Acht läßt. Deleuze führt das Tier an, als Bild des Vaters und das Beispiel vom kleinen Hans , welches er und Guattari verwendet haben, doch auch ein zweites Beispiel, warum ein Tier, ein Pferd beim kleinen Hans, nie das Bild des Vaters sein kann, da Tiere stets in einem Rudel, einer Meute auftreten. Deleuze erzählt von Freuds Reduktion eines Traums, den Carl Gustav Jung ihm erzählt hatte - Freud bestand darauf, Jung der Knochen, singular, sagen zu hören, obwohl Jung eigentlich gesagt hatte, von einem ganzen Haufen Knochen geträumt zu haben, einer Vielzahl von Knochen. Das Begehren produziert innerhalb eines Kollektivs, einer Vielheit, einer Meute und man fragt immer nach der Stellung von sonst wem in bezug auf eine Gruppe, draußen, seitlich, drinnen, im Zentrum. Alles Phänomene des Begehrens.

Parnet faßt mit dies der Frage zusammen, ob der ANTI-ÖDIPUS als ein nach dem Mai '68 entstandener Text eine Auseinandersetzung mit den kollektiven Gefügen und Grup-pen der Zeit war. Vollkommen, erwidert Deleuze, der Angriff auf die Psychoanalyse and der Begriff des Deliriums der Rassen, der Stämme, der Völker, der Geschichte, der Geographie. All das kommt von '68. Der Versuch frische Luft, eine wohltuende Region zu schaffen, innerhalb all dessen, das blockiert und gesättigt war. Ein Delirium, das kosmisch ist, ein Delirium des Endes der Welt. Die "hervorragende Entdeckung der Partialobjekte, dieser Welt der Explosionen, Rotationen und Vibrationen" , der Teilchen und der Elektronen. Parnet fragt, angeregt durch die kollektiven Gefüge, ob Deleuze einige der amüsanten und weniger amüsanten Anekdoten erzählen könnte, von den Mißverständnissen die auftauchten, beispielsweise in Vincennes bei der Umsetzung dieser Begriffe. Sie erwähnt, daß, als sie die Schizoanalyse gegen die Psychoanalyse ins Feld führten, viele der Studenten dachten, Félix und er wären der Meinung, es sei chic, verrückt zu sein. Ohne groß auf die lustigen Geschichten einzugehen, liegen für Deleuze die Mißverständnisse in zwei Punkten, die mehr oder minder dieselben sind: Einige dachten, das Begehren sei eine Form der Spontaneität, andere dachten, es sei eine Gelegenheit zum Feiern. Für Félix und ihn war es keins von beidem. Was allerdings nicht groß störte, da ja Gefüge errichtet wurden, sogar diejenigen, die Parnet und Deleuze die Verrückten nennen, hatten ihren eigenen Auseinandersetzungen und errichteten ihre eigenen Gefüge.

Deleuze fährt theoretisch fort, daß diese Mißverständnisse - Spontaneität oder Feiern -nicht die sogenannte Philosophie des Begehrens sind. Diese lautet vielmehr: Laß' dich nicht analysieren, hör' auf zu interpretieren, geh' produzieren und suche Dir das Ensemble, das zu dir paßt. Was aber ist ein Gefüge? Nicht das, was sie dachten. Für ihn besitzt es vier Komponenten oder Ebenen:

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1. Die Assemblage: Eine Ansammlung von Dingen, jeder von uns muß also die Ansammlung von Dingen finden, die ihm entspricht, wie das Trinken, sogar wenn man nur Kaffee trinkt und wir meinen, daß Kaffee-trinken uns entspricht, als Zusammenkommen, als Ansammlung von Dingen.

2. Die Aussage, auch noch so kleine Bemerkungen, als eine Art von Stil , denn ein jeder von uns erfindet eigene Ausdrucksweisen, wie nach der Russischen Revolution ein neuer Stil des Kinos ausgebildet wurde, die neuen Ausdrucksweisen nach dem Mai 68.

3. Das Territorium: Ein Gefüge beinhaltet immer auch ein bestimmtes Territorium, jeder von uns wählt oder erschafft ein Territorium, selbst wenn man bloß einen Raum betritt.

4. Die Deterritorialisierung: Ein bestimmtes Gefüge bringt auch immer Deterritorialisierungen mit sich, Deterritorialisierungsbewegungen.

Zwischen diesen Komponenten fließt das Begehren, sagt Deleuze.

Parnet fragt, ob sich Deleuze für all die Leute verantwortlich gefühlt hat, die Drogen nahmen, und den ANTI-ÖDIPUS allzu einseitig gelesen haben, fast so, als ob er die Jugendlichen dazu angeleitet hätte, dumme Sachen zu machen, worauf Deleuze sehr bewegt eingeht. Er sagt, sie haben sich immer für den verantwortlich gefühlt, für den die Dinge schlecht liefen. Persönlich hat er immer versucht, zu tun was er konnte, damit die Dinge gut gehen. Er hat solche Sachen nie auf die leichte Schulter genommen. Seine einzige Auszeichnung mag sein, niemals jemandem gesagt zu haben weiterzumachen: Gut, geh', schieß' dich ab. Sondern er versuchte, den Leuten zu helfen, das durchzuste-hen.

Er fährt damit fort, daß er sehr sensibel für jene Kleinigkeiten ist, die jemanden plötzlich in vollständige Leere gleiten ließen. Nie hat er jemanden beschuldigt, gesagt jemand täte etwas Schlechtes und doch hat er die enorme Last eines bestimmten Lebensweg gespürt. Leute und besonders junge Leute, die Drogen bis zu dem Punkt des Zusammenbrechens nehmen oder sich durch das Trinken bis an den Punkt bringen, an welchem sie in einen Zustand der Wildheit fallen. Er war nicht dazu da, irgendjemanden von etwas abzuhalten, als Polizist oder Elternersatz zu dienen, doch trotzdem versuchte er, sie davor zu bewahren, auf Abschaum reduziert zu werden. Es gab Momente, in denen jemand davor war, zu zerbrechen, "ich unterstütze das nichts". Ein alter Mann, der zerbricht, der Selbstmord begeht, hat zumindest sein Leben gelebt. Aber eine junge Person, die zerbricht, sagt Deleuze, ist nicht zu ertragen.

Er war immer gespalten, schließt er, mit der Unmöglichkeit jemanden zu verurteilen auf der einen und dem absoluten Widerstand auf der anderen Seite, daß jemand auf Abschaum reduziert wird. Er spricht von den Schwierigkeiten, auf wen welche Prinzipien abzuwenden sind. Man behandelt immer nur jeden einzelnen Fall und das Mindeste, das man tun kann, ist zu verhindern, daß jemand darauf hinläuft, sichzu Abschaum erklären zu lassen.

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Parnet treibt diese Richtung weiter und fragt nach den Effekten des ANTI-ÖDIPUS und Deleuze greift dies auf. Der ANTI-ÖDIPUS wollte verhindern, daß die Leute in jenen abscheulichen Zustand versetzt wurden, den klinische Schizo-Zustand. Parnet erwidert, daß die Kritiker des Buches es als Rechtfertigung für jegliche Ausschweifungen sahen. Worauf Deleuze meint, wenn es genau gelesen wird, kann man sehen, daß es immer die Spielarten extremer Prüderie herausgearbeitet hat. Was das Buch sagen will ist: Werde kein zerschlissener Lumpen, um den Schizophrenierungen durch einen repressiven Typ von Hospital entgegenzuwirken. Für Félix und ihn war der größte Horror, eine Hospitalskreatur zu erschaffen. Der Wert dessen, was die Anti-Psychiater Trip und Reise des schizophrenen Werdens nannten, war gerade, daß es die Produktion von Hospitalsabschaum verhinderte, von abscheulichen Hospitalskreaturen.

Parnet möchte wissen, ob der ANTI-ÖDIPUS diese Effekte immer noch hat und Deleuze sagt, ja, es ist ein wunderschönes Buch. Das einzige Buch, das einen derartigen Begriff des Unbewußten hervorbringt, mit den drei Linien der Vielheiten des Unbewußten und Delirenden, des kosmischen Deliriums gegenüber dem familiären und des Unbewußten als Fabrik, als Maschine, nicht als Theater. Nichts muß er davon zurücknehmen und er hofft, daß es noch immer ein entdeckenswertes Buch ist.

E WIE IN ENFANCE (KINDHEIT)

Parnet erzählt, daß Deleuze sein gesamtes Leben im 17ten Arrondissement von Paris verbracht hat und fragt sich, ob er in einer großbürgerlichen Familie mit politisch sehr konservativen Ansichten aufgewachsen ist.

Deleuze spricht mit einem gewissen Amüsement von seinem früheren Leben. Das 17te ist gewissermaßen ein Abstieg aus dem doch chicen Viertel nahe des Triumphbogens, wo er geboren wurde. Ein Absturz über verschiedene Wohnungen während des Krieges, dann für einige Jahre in der rue d'Aubigny mit seiner Mutter und schließlich, als Erwachsener, in sein Viertel, in der rue de Bizerte. Ein Handwerker aus dem 17ten, ein Prolet ist er, meint Deleuze lachend. Sicher sei er nicht, bei dieser Quote, wo er in ein paar Jahren landen wird.

Zu seiner Familie, ja, sie waren Großbürger, rechts und konservativ. Vieles aus seiner Kindheit weiß er aber nicht mehr, selbst seine frühesten Eindrücke verschwinden, doch er ist ja auch kein Archiv. Was er noch weiß sind gewisse Krisen wie das wenig Geld, das ihn davor bewahrte, bei den Jesuiten studieren zu müssen. So kam er auf eine öffentliche Schule kam und nicht auf eine private, katholische. Wegen der finanziellen Schwierigkeiten der Familie. Also die Zeit vor dem Krieg und der Schrecken des konservativen Großbürgertums vor der Volksfront, welche für sie das absolute Chaos darstellte. Sie waren Antisemiten, besonders gegenüber Leon Blum, Sozialist, Jude und Führer der Volksfront Regierung, der für sie schlimmer als der Teufel war. Deleuze besteht darauf, daß man nicht nachvollziehen kann, wie Philippe Pétain an die Macht kommen konnte, ohne den Haß vor dem Krieg auf Blums Regierung zu erkennen.

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Er kommt aus einer vollständig unkultivierten großbürgerlichen Familie, einer rechten dazu. Seinen Vater beschreibt Deleuze liebevoll, doch auch die krisengeschüttelte Atmosphäre und die grausamen Gefühle seines Vater gegen die Linke als Veteran der ersten Weltkriegs. Er war Ingenieur, ein Erfinder, dessen erste Arbeiten unmittelbar vor dem Krieg daneben gingen, dann in einer Fabrik arbeitete, die Lenkungen herstellte und später von den Nazis übernommen wurde, um Gummiflöße zu machen.

Als die Nazis eintrafen, so Deleuze, von Belgien her einfallend, war er in Deauville, in der Normandie, wo seine Familie die Sommer verbrachte. Also ging er für ein Jahr dort zur Schule. Er beschreibt, wie sich das Bild Deauvilles durch die immensen sozialen Verschiebungen durch die Volksfront geändert hätte. Mit der Einführung von kosten-losem Urlaub, konnten Leute, die noch nie verreist waren, das erste Mal an den Strand gehen und das Meer sehen. Deleuze erzählt, wie er aus dem Auto heraus, ein junges Mädchen sah, das mit reger Aufmerksamkeit fünf Stunden lang am Strand stand und dem außergewöhnlichen Schauspiel des Meeres zusah. Und das es ein Privatstrand gewesen ist, für die bourgeoisen Landbesitzer. Und er erzählt von dem Klassenhaß, den ein Satz seiner Mutter trug - "Ach", seufzt Deleuze, "die Unmöglichkeit einen Strand zu besuchen, an den solche Leute gehen." Für Großbürger wie seine Eltern, waren Ferien für die Arbeiter der Verlust an Privilegien, wie auch an Territorium, schlimmer noch als die Deutschen, die den Strand mit ihren Panzern besetzten.

Deleuze sagt, dort in Deauville war er, ohne seine Eltern und seinen jüngeren Bruder, eine absolute Null in der Schule. Bis etwas passierte und er es aufgab, ein Idiot zu sein. Vor Deauville und dem Jahr im Lyceum, das er dort während dieses lustigen Krieges verbrachte, war er eine Null in der Schule. Aber in Deauville traf er einen jungen Lehrer, Pierre Halbwachs, der Sohn des Soziologen Maurice Halbwachs, mit labiler Gesundheit und nur einem Auge, was ihn vom Militärdienst freistellte. Für ihn war diese Begegnung wie ein Erwachen und er wurde so etwas wie ein Schüler dieses jungen Meisters. Halbwachs nahm ihn im Winter mit an den Strand, in die Dünen und machte ihn mit, als einem Beispiel, Gides UNS NÄHRT DIE ERDE bekannt. Mit Anatole France, Baudelaire, anderen Werken von Gide und dies veränderte ihn vollkommen. Aber da sie so viel Zeit miteinander verbrachten, begannen die Leute zu reden und die Dame, in deren Pension Deleuze und sein Bruder wohnten, warnte ihn vor Halbwachs, schließlich schrieb sie an seine Eltern. Die Brüder mußten zurück nach Paris, aber die Deutschen fielen ein und so nahmen sie ihre Fahrräder, um ihre Eltern in Rochefort zu treffen... Und unterwegs, stießen sie mit Halbwachs und seinem Vater zusammen. Später, traf Deleuze Halbwachs wieder, doch nicht mit derselbe Bewunderung. Mit 14 Jahren aber, so meint er, war das wunderbar in Ordnung.

Parnet fragt, wie er, wieder in Paris, das Lyceum Carnot erlebt hat. Deleuze kam in eine Klasse mit einem Philosophielehrer namens Vialle, wobei er auch in eine Klasse hätte kommen können, die von Maurice Merleau-Ponty unterrichtet wurde. Er weiß nicht sicher warum, doch Halbwachs half ihm etwas Bedeutendes in der Literatur zu spüren undauch hier in seiner allerersten Philosophieklasse wußte er um dieses Besondere. Etwas, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigt hat. Für Deleuze schien es das Richtige zu sein, nachdem das Massaker der Deutschen in dem Französischen Dorf

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Oradour bekannte wurde und eine angespannt politische Stimmung herrschte. Merleau-Ponty kam ihm sehr melancholisch vor, wohingegen Vialle, der kurz vor seiner Pensionierung stand, jemand war, den Deleuze außerordentlich mochte.

Die Begegnung mit philosophischen Begriffen traf ihn mit derselben Kraft, wie manche Leute von literarischen Figuren berührt werden, Vautrin oder Eugenie Grandet. Die gesamte Philosophie ist lebendig, so lebendig wie die gesamte Literatur. Seitdem hatte er keine schulischen Schwierigkeiten mehr und auch während des Studiums lief es recht gut.

Parnet möchte etwas über die politische Stimmung hören und laut Deleuze, gab es Leute jeglicher politischer Couleur, aber nicht dieselbe politische Aufmerksamkeit oder Aktivität als zu Friedenszeiten. Seine Klassenkameraden hatten ein bestimmtes politisches Bewußtsein, daß durch seinem Mitschüler Guy Moquet beeinflußt war. Ein Schüler, der in der Resistance war und ein Jahr darauf von den Deutschen ermordet wurde. Deleuze aber beschreibt die Politik als etwas Geheimes während der Besatzung, es gab Mitschüler aller politischen Richtungen von der Resistance bis zu Vichy-Sympathisanten.

Parnet meint, für Deleuze hätte die Kindheit nur wenig Bedeutung. Deleuze antwortet, ja, notwendigerweise. Für ihn ist das Schreiben keine individuelle Angelegenheit, sondern unpersönlich. Schreiben ist Werden, sagt er, Tier-Werden, Kind-Werden und man schreibt für das Leben, um zu werden, was immer man will, außer zu einem Schriftsteller und einem Archiv. Er respektiert das Archiv, aber seine Bedeutung hat mit anderen Dingen zu tun. Er besteht darauf, daß das Von-Sich-Selbst-Sprechen, nichts Interessantes hat, noch das Sein-Eigenes-Archiv-Sein.

Deleuze nimmt ein Buch des russischen Dichters Ossip Mandelstam, das neben ihm liegt und liest eine Passage, in der Mandelstam davon spricht, wie gering die Bedeutung der Erinnerung ist, besonders für das Schreiben. Deleuze stimmt dem vollkommen zu und übernimmt von Mandelstam den Gedanken, daß man nicht lernt zu sprechen, sondern zu stottern. Das ist, was das Schreiben ausmacht, sagt er, in der eigenen Sprache stottern, die eigene Sprache zu stottern bringen, die Sprache an ihre Grenze treiben, Tier-Werden, Kind-Werden, nicht das der eigenen Kindheit, eher das der Kindheit der Welt.

Jemand, der schreibt, bezieht sich nicht direkt auf sein Privatleben. Was Deleuze wie eine Widerwärtigkeit, wahre Scheiße vorkommt. Man durchwühlt nicht die Familienarchive. Vielmehr bleibt man ein Kind der Welt. Jemand der schreibt, wird, aber weder Schriftsteller, noch seine eigene Erinnerung.

Mit der Frage, ob Nathalie Sarrautes KINDHEIT eine Ausnahme bilde, spielt Parnet nun des Teufels Advokaten. Eine "sehr gefährliche Rolle", albert Deleuze. Ob in Sarrautes Arbeit der Begriff von Kindheit eine Art von Schwäche aufweise, so Parnet weiter, worauf Deleuze widerspricht. DIE KINDHEIT hat nichts mit ihrer Kindheit zu tun, sondern sie erfindet ein Kind der Welt, indem sie zwar von festen Formeln und Ausdrücken ausgeht, aber um eine Sprache der Welt zu erfinden.

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Parnet fragt ihn, ob er sich einer strengen Übung unterziehen mußte, um dieses Interesse an der Kindheit zu begrenzen, daß es doch irgendwie hervorbrechen müßte und Deleuze schlägt vor, daß sowas ganz von allein geschieht. Er fragt, was Interessantes an der Kindheit dran sein könnte? Vielleicht die Beziehung zu den Eltern, Geschwister, was alles nur einem persönlichen Interesse entspräche, einem individuellen, nicht aber dem Schreiben. Interessanter sind die Gefühle eines Kindes, nicht des Kindes, das man einmal war, sondern in dem Sinn eines Kind-Seins, welches Kind auch immer.

Deleuze bezieht sich auf jemanden, der auf der Straße ein Pferd sterben sieht, vor der Zeit der Automobile und bringt dies auf die Beschäftigung, jemand zu werden, der schreibt: Er führt Dostojewskij an, den Tänzer Nijinksi, Nietzsche, von denen jeder ein sterbendes Pferd auf der Straße gesehen hat. Parnet meint und Deleuze stimmt ihr zu, daß es für ihn, die Volksfrontdemonstrationen gewesen sind und sein leidender Vater zwischen Aufrichtigkeit und Antisemitismus.

Deleuze besteht darauf, "ich war ein Kind", auf der Bedeutung dieses unbestimmten Artikels für die Vielfältigkeit eines Kindes. Ein Kind: der unbestimmte Artikel trägt einen überquellenden Reichtum.

F WIE IN FIDELITÉ (TREUE/FREUNDSCHAFT)

Nach Parnets Einleitung ist es offensichtlich, daß der Buchstabe A durch ANIMAL besetzt ist, so daß sie ihn nicht mehr für amitié, Freundschaft, verwenden kann und sie also nun fidelité, Treue, für Freundschaft wählt.

Sie zählt eine Reihe von Deleuzes engen Freunden auf, mit welchen er über viele Jahre hin treue Freundschaften unterhält und fragt, ob Treue und Freundschaft notwendigerweise verbunden sein müssen und Deleuze erwidert prompt, daß dies keine Frage der Treue sei. Für ihn ist Freundschaft eher eine Angelegenheit der Wahrnehmung. Was bedeutet es, mit jemandem etwas gemeinsam zu haben? Nicht dieselben Gedanken, aber dieselbe Sprache und sogar ein gemeinsames Vor-Sprachliches. Es gibt Leute, die man niemals verstehen oder mit denen man niemals sprechen kann, selbst über die einfachsten Dinge nicht und dann wieder andere, mit denen man überhaupt nicht übereinstimmt, aber sie eingehend und umfassend versteht, sogar in den abwegigsten Fällen, auf einer unbestimmten Grundlage, die arg mysteriös scheint. 

Deleuzes vermutet, daß ein jeder von uns, eine bestimmte Art von Charme erzeugt. Ein wahrnehmbarer Charme, wie in einer bestimmten Geste, einem Gedanken, sogar bevor der Gedanke bezeichnet wird, eine gewisse Bescheidenheit. Ein Charme, der den Grund der Wahrnehmung trifft, einen lebendigen Grund und dies die Freundschaft erhält.

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So wie man beiläufig von irgendjemand einen Satz hören könnte, einen vulgären, ab-stoßenden Satz, der einen unabänderlichen Eindruck hinterläßt, ganz gleich, was die Peson später tun mag. Dasselbe gilt für den Charme, nur in einer anderen Richtung. Der unabänderliche Affekt des Charmes als eine Frage der Wahrnehmung, indem man jemanden wahrnimmt, der uns entspricht, der uns etwas zeigt, uns etwas anderes eröffnet, uns aufweckt, der Zeichen aussendet und wir sensibel für diese Zeichen werden, man nimmt sie wahr oder nicht, aber man wird sich ihnen öffnen können. Und dann kann man mit jemandem Zeit verbringen und über völlig unwichtige Dinge reden.

Deleuze lacht, während er sagt, daß er Freundschaft als etwas sehr Komisches empfindet und Parnet will wissen, wie er die Freundschaft innerhalb eines Paares sieht. Deleuze erzählt von einen guten Freund, Jean-Pierre, mit welchem er lange befreundet ist und sie bilden nun eine Art von Paar, daß für ihn Becketts Mercier und Camier entspricht. Wohingegen er zusammen mit Félix mehr ein Paar in der Art von Flauberts Bouvard und Pécuchet bildet, die versuchen ihre riesige, alle Bereiche des Wissens berührende Enzyklopädie zu erschaffen. Es geht nicht darum, wie er sagt, diese großen Paare zu imitieren, aber Freundschaft besteht aus solchen Beziehungen, selbst wenn ihm jemand widersprechen sollte.

Für Deleuze liegt in der Freundschaft etwas Geheimnisvolles, was direkt mit der Philosophie verbunden ist. Wie der Begriff des Freundes, den die Griechen entwickelten. Der Philosoph ist ein Freund der Weisheit, ein Begriff, den die Griechen erfunden haben: Jemand mit einer Neigung, mit einer bestimmten Sympathie zur Weisheit ohne selbst weise zu sein, mit einer ganzen Reihe von Herausforderern, die aus den Rivalitäten der freien, aus allen gesellschaftlichen Bereichen kommenden Männern treten und durch sie funktionieren, mit großer Rhetorik, den Schiedsgerichten, die sie veranstalteten. Der Herausforderer ist für ihn "das Griechische Phänomen par exellence". Die Philosophie ist eine Rivalität mit einem bestimmten Bezug und wenn man die Philosophiegeschichte betrachtet, sieht man bei einigen, die geschrieben haben, daß die Philosophie eben diese Verkopplung durch die Freundschaft ist und für andere, eine Verkopplung als Verlobung, wie Kierkegaard und seine fiançailles rompues, seine gelöste Verlobung.

Parnet zitiert Maurice Blanchot und seinen Begriff der Freundschaft und Deleuze meint, beide, Blanchot und Dionys Mascolo sind Konkurrenten, die der Freundschaft die größte Bedeutung zugestehen als ausgezeichnete Kategorie oder Verfassung in der Übung des Denkens. Kein wirklicher Freund, aber Freundschaft als Kategorie oder Verfassung des Denkens.

Deleuze schließt damit, daß er es bewundert, dem Freund zu mißtrauen. Mit einen Deutschen Dichter meint er, daß mit der Dämmerung eine Stunde kommt, in der man selbst dem Freund mißtrauen muß und erzählt, daß auch er seinem Freund Jean-Pierre misstraut. Aber mit solcher Freude, daß es nicht schaden kann. Es gibt stets große Gemeinsamkeiten in einer Freundschaft, die sie funktionieren lassen.

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Aber er besteht darauf, das dies alles nicht bloße Gegebenheiten sind, keine kleinen Privatangelegenheiten. Wenn man von einem Freund spricht oder von einer gelösten Verlobung, muß man auch bedenken, unter welchen Umständen bestimmte Gedanken aufkommen können. Proust sagte, daß Freundschaft nichtig sei, persönlich und im Denken, kein Gedanke an die Freundschaft, eher ist es die eifersüchtige Liebe, welche den Grund von Prousts Denken bildet.

Zuletzt stellt Parnet fest, seine Freundschaft mit Michel Foucault, die keine Paarbeziehung war, sei zwar eingehend, aber entfernt gewesen. Foucault war für ihn eines der größten Geheimnisse, mitunter weil sie sich erst spät kennenlernten. Deleuze spricht von seiner großen Trauer über Foucaults Tod, da er ihn enorm schätzt. Er meint, Foucault ist der seltene Fall eines Mannes, der einen Raum betritt und sich alles verändert. Foucault, wie jeder von uns, war nicht bloß eine Person, eher war er eine Art Luftzug oder eine atmosphärische Störung, eine Erscheinung. Mit Foucault war es so, wie er schon zuvor beschrieben hat, der Wunsch anerkennend zu sprechen und einander zu verstehen. Für Deleuze sind es besonders Foucaults Gesten, trockene, seltsame, faszinierende, metallische oder hölzerne Gesten, die ihn reizen.

Letztlich aber, entsteht Charme aus den Verrücktheiten der Leute. Charmant ist gerade jene Seite, die zeigt, daß man ein wenig verdreht ist. Wenn man bei jemanden nicht zumindest ein wenig Verrücktes entdeckt, wird man nicht befreundet sein können. Aber wenn man auf diese Verwirrungen bei einer Person stößt, dort, wo sie ängstlich oder gar freudig ist, wird dieses Verrücktsein der regelrechte Ursprung jeden Charmes.

Er hält inne, lächelt und sagt: "Was uns zum G bringt..."

G WIE IN GAUCHE (LINKS)

Parnet führt an, daß Deleuze, obwohl er aus einer Familie mit rechtem Hintergrund stammt, seit der Befreiung ein Mann der Linken, ein Linker ist, während viele seiner Freunde aber in die Kommunistische Partei (PCF) eintraten, er dies nicht tat. Warum? Deleuze erwidert, ja, alle sind sie durch die PC gegangen, aber was ihn davon abgehalten hat, war schlicht, die Arbeit, die ihn stets beschäftigt und er es dazu nie ausstehen konnte, deren Treffen besuchen zu müssen.

Er erzählt, es war die Zeit des Stockholmer Appells und seine ganzen Freunde, Leute mit großem Talent, verbrachten ihre Zeit damit, durch die Gegend zu laufen und Unterschriften für Petitionen zu sammeln. Eine ganze Generation wurde davon in Bann geschlagen. Für ihn war das ein Problem. Er hatte eine Menge Freunde, die kommunistische Historiker waren und er empfindet, daß es weitaus wichtiger für die Kommunistische Partei gewesen wäre, wenn diese Freunde ihre Kraft auf das Fertigstellen ihrer Dissertationen verwendet hätten, anstatt für Unterschriften. Ihn interessiert das alles nicht, noch war er je sehr gesprächig, das ganze Unterschriftensam-meln hat ihn in vollkommene Panik versetzt.

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Parnet fragt, ob er sich nicht trotzdem den Anstrengungen der Partei nahe gefühlt hätte und er antwortet, nein, das hat nie betroffen, etwas, das ihn vor den aufreibenden Diskussionen um Stalin und die schiefgehende Revolution bewahrte. Deleuze sagt glucksend, wen wollen sie denn verarschen, all die Neuen Philosophen, die entdeckt haben, daß die Revolution schief lief. Wozu man schon ziemlich dämlich sein muß, nachdem sich das mit Stalin über lange Zeit hin offen abzeichnete. Deleuze greift diesen Gedanken äußerst heftig auf: "Wer in aller Welt denkt denn, daß aus einer Revolution etwas wird? Wer? Wer?"

Die Leute sagen, die Engländer hätten keine Revolution machen können, was nicht stimmt: Sie haben es gemacht und Cromwell als Ergebnis bekommen, die gesamte Englische Romantik ist eine lange Klage über das Scheitern der Revolution. Die haben doch nicht etwa auf André Glucksmann gewartet, so Deleuze, um über das Scheitern der Revolution nachzudenken. Niemand redet über die Amerikaner, die hatten ihre Revolution, genauso, wenn nicht sogar mehr als die Bolschewiken ihre. Sogar noch vor dem revolutionären Bürgerkrieg, war dieser ein neuartiger Begriff, der über sich selbst hinausging, genauso wie Marx später vom Proletariat sprach: Das es ein neues Volk erschafft und eine wahre Revolution hervorbringt.

Wie die Marxisten die universale Proletarisierung entdeckten, zählten die Amerikaner auf die universale Einwanderung, die beiden Säulen des Klassenkampfs. Das ist absolut revolutionär, betont Deleuze. Es ist das Amerika von Jefferson, das Amerika von Melville, ein absolut revolutionäres Amerika, das den Neuen Menschen ausgerufen hat, genauso wie die bolschewistische Revolution den Neuen Menschen. Eine gescheiterte Revolution, wie alle Revolutionen scheitern und jetzt geben die Leute vor, das wiederentdeckt zu haben. Dazu mußt man schon arg beschränkt sein, wiederholt er...

Jeder verstrickt sich in dem heutigen Revisionismus. François Furet, der entdeckt hat, daß die Französische Revolution nicht so großartig gewesen ist, wie zuvor angenommen, daß sie daneben ging. "Aber jeder weiß das. Die Französische Revolution schenkte uns Napoleon!" Die Leute machen Entdeckungen, die, so Deleuze, nicht gerade durch ihre Neuartigkeit beeindrucken. Die Englische Revolution endete mit Cromwell, der Amerikanische Bürgerkrieg hatte schlimmere Folgen, die politischen Parteien und Reagan, der kein Stück besser scheint. Deleuze folgt dem weiter: Die Leute befinden sich in einem Zustand von Verwirrung über die scheiternden Revolutionen, schieflaufende Revolutionen. Sowas hat die Leute aber noch niemals davon abgehalten revolutionär zu werden.

Er argumentiert, die Leute bringen zwei vollkommen unterschiedliche Dinge durcheinander: In einer Situation, in welcher der einzige Ausweg für die Menschen das Revolutionär-Werden ist, findet die Verwechslung von Werden und Geschichte statt. Denn wenn die Leute revolutionär werden, sind die Historiker verwirrt. Die Historiker sprechen von der Zukunft der Revolution, was aber gar nicht die Frage ist. Das konkrete Problem ist, wie und warum werden die Leute revolutionär. Und glücklicherweise können die Historiker sie davon nicht abhalten.

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Ganz offensichtlich, stellt Deleuze fest, befinden sich die Süd-Afrikaner zur Zeit in einem revolutionären Werden, ganz wie die Palästinenser. Dann aber, falls ihm hinterher jemand sagen sollte, selbst wenn ihre Revolution erfolgreich ist, wird sie scheitern, würde er erwidern: Vor allem anderen sind es andere Probleme, die sich ihnen stellen. Neue Verhältnisse werden sich bilden, ein Revolutionär-Werden wird entfesselt werden. Die Anstrengungen der Leute in Verhältnissen von Unterdrückung und Tyrannei sind in ein Revolutionär-Werden zu treten. Und sollte jemand sagen, "Oh, das wird nicht funktionieren", sprechen wir nicht von derselben Sache, wie wenn wir in zwei verschiedenen Sprachen sprächen. Die Zukunft der Geschichte und die Zukunft des Werdens sind nicht annähernd dieselbe Sache, schließt er.

Parnet nimmt eine andere geläufige Debatte aus dem Tagesgeschehen auf, die feierliche Würdigung der Menschenrechte von 1988, die derzeit so modisch sind, nicht aber revolutionär, eher das Gegenteil davon. Deleuze entgegnet sanft, fast müde, daß die Würdigung der Menschenrechte zum armseligen Denken einer intellektuell noch ärmeren Zeit gehört, über die sie schon zuvor unter C WIE IN CULTURE gesprochen haben. Eine bloße Abstraktion sind sie, diese Menschenrechte, völlig abstrakt, vollkommen leer. Das war es, was er über das Begehren sagen wollte: Begehren bildet sich nicht dadurch, daß man ein Objekt erhebt, indem man sagt, ich begehre es... Wir begehren nicht bloß ein Objekt, das taugt überhaupt nichts. Vielmehr befinden wir uns in einem bestimmten Ensemble mit unterschiedlichsten Verhältnissen und Milieus.

Deleuze führt ein weiteres Beispiel aus den Nachrichten an, die Situation der Armenier: Eine Enklave in einer Sowjetischen Republik, um zu beginnen, dann gibt es ein Massaker, das von einer Art Türkischen Gruppierung verübt wird. Die Armenier ziehen sich auf ihr Gebiet zurück und dann, dann gibt es ein Erdbeben. Man hat das Gefühl sich in den Schriften des Marquis de Sades zu befinden. Diese armen Leute unter diesen grauenhaften Umständen. Wenn jemand von den Menschenrechten spricht, ist das lediglich eine intellektuelle Auseinandersetzung von verabscheuungswürdigen Intellektuellen, die keine Ideen haben. Deleuze besteht darauf, daß solche Erklärungen niemals zur Unterstützung der Völker gemacht werden, die direkt betroffen sind, wie die Armenier. Deren Probleme sind nicht die Menschenrechte.

So etwas nennt Deleuze ein Gefüge: "Was muß man tun, um diese Enklave zu unterdrücken oder um es ihr zu ermöglichen zu überleben?" Es sind die Territorien, nicht die Menschenrechte, nicht die Rechtsprechung, sondern das Recht. Jeder Schrecken, den die Menschen auf sich nehmen müssen, ist ein einzelner Fall, nicht Teil eines abstrakten Gesetzes. Furchterregende Fälle sind es, mit derart vielschichtigen Rechtsproblemen wie dem Armenischen Problem, ohne die Armenier einfach retten oder ihnen helfen zu können, sich selbst zu retten. Und dann gibt es ein Erdbeben und alles gerät durcheinander.

Für die Freiheit zu kämpfen, revolutionär werden, heißt, mit Rechten umzugehen, wenn man sich mit Rechtssystemen auseinandersetzt. Die Frage lautet also nicht, wie stimmt man für die Menschenrechte, sondern vielmehr, wie erfindet man Formen des Rechts, so daß, gleich in welchem Fall angewandt, dieses sich selbst erübrigen. Deleuze bietet ein

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Beispiel an, um zu erklären, was das Recht ist: Er erzählt, daß das Rauchen lange Zeit in Taxis verboten war. Dann verweigerte sich jemand diesem Verbot und die ganze Sache wurde in die Öffentlichkeit gezerrt, der Raucher wegen. Nebenbei erwähnt er, daß er, hätte er nicht Philosophie studiert, Jura studiert hätte, nicht aber die Menschenrechte. Eher hätte er das Recht studiert, welches das Leben selbst ist. Es gibt keine Menschenrechte, nur das Recht zu leben, Fall für Fall. Er kommt wieder zu dem Taxi: Eines Tages also will irgendein Kerl nicht aufhören zu rauchen, er verklagt das Taxi, das Taxi verliert den Fall und zwar deshalb, da, wenn jemand ein Taxi nimmt, er es mietet und ein Mieter das Recht hat, an dem von ihm gemieteten Ort zu rauchen. Das Taxi wird zu einem rollenden Appartement und der Fahrgast ist der Mieter. Zehn Jahr später hört man davon nichts mehr, das Taxi wird nun zu einem Teil des öffentlichen Verkehrs und überhaupt niemand hat mehr das Recht zu rauchen. Es ist eine Frage der Verhältnisse, die auftauchen und im Kampf für die Freiheit nimmt man am Kampf für das Recht teil. In Armenien, wo sind da die Menschenrechte? Die Türken haben kein Recht, die Armenier zu massakrieren: "Wohin führt uns sowas?" Die Dämlichen und die Heuchler, ärgert er sich, sprechen von ihrer Idee der Menschen-rechte. Das Hervorbringen von Rechten ist die Erschaffung des Rechts und die Kämpfe dafür. Das macht die Linke aus, Rechte zu erschaffen.

Parnet bestätigt dies, die Bekräftigung der Menschenrechte geht mit der Verneinung des Mai '68 einher und ebenso wie mit der Verneinung des Marxismus. Deleuze aber, obwohl er nie in der Kommunistischen Partei war, arbeitet noch immer mit Marx, der eine stete Bezugsgröße für ihn ist. Und Deleuze ist, Parnet zufolge, einer der Letzten, die nicht tönen, der Mai '68 sei bedeutungslos, ein Dummer-Jungen-Streich und überhaupt hätte man sich ja geändert. Und sie bittet ihn etwas über den Mai zu sprechen.

Deleuze besänftigt sie und meint sie übertreibt, er ist nicht einer der Letzten, viele Leute denken gut über den Mai '68. Parnet wendet ein, daß das seine Freunde sind. Dennoch bleibt er dabei, viele Leute haben den Mai nicht verneint und sich selbst verleumdet. Für ihn ist der Mai '68 eine einfache Sache: "Der Mai '68 war eine Demonstration, ein Hereinbrechen des Werdens im Reinzustand." . Gewisse Leute wollen ihn als etwas aus dem Reich des Imaginären hinstellen, aber es ist etwas Wirkliches, ein Ausbruch des Wirklichen in seiner reinsten Form. Es ist das Wirkliche, wiederholt er, die Leute verstehen das nicht, was erstaunlich ist. Leute, die sich in der Wirklichkeit befinden, wirkliche Leute, was sonst ist das Werden. Sicher gibt es Fälle von schlechtem Werden, aber es sind die Historiker, die das nicht verstanden haben, glaubt er, in solchen Augenblicken, tritt die Differenz zwischen der Geschichte und einem Werden zutage und der Mai '68 war ein Revolutionär-Werden ohne eine eine revolutionäre Zukunft. Hinterher kann man sich immer darüber lustig machen. Das Werden aber hatte von den Leuten Besitz ergriffen, war durch sie hindurch gegangen, selbst ein Tier-Werden, selbst ein Kind-Werden, das Frau-Werden für die Männer, das Mann-Werden für die Frauen. Das sind alles Teile des Bereichs, auf welchem Deleuze und Parnet sich seit dem Beginn ihrer Fragen bewegen.

Parnet möchte wissen, ob Deleuze sich zu der Zeit ebenfalls in einem Revolutionär-Werden befand, worauf er entgegnet, daß ihr Lächeln offenbart, wie wenig es der Frage

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an Spott fehlt. Sie stellt sie also anders: Wie funktionieren sein Zynismus als Mann der Linken auf der einen und sein Revolutionär-Werden als Linker auf der andern Seite miteinander, welche Bedeutung hat es für ihn auf der Linken zu sein. Deleuze hält kurz inne, bevor er antwortet. Er bezweifelt, daß es eine linke Regierung gibt, was nicht besonders ermutigend ist. Das Beste, auf das man hoffen kann, ist eine Regierung, die man in Hinsicht auf gewisse Forderungen der Linken bevorzugen würde. Aber eine linke Regierung gibt es nicht, die Linke ist keine Angelegenheit der Regierung.

Was aber ist nun die Linke, fährt er fort. Zweierlei:

Erstens ist es eine Frage der Wahrnehmung: Was würde es bedeuten, nicht auf der Linken zu stehen? Es hat etwas von einer Adresse, die sich von einer Person aus nach Außen fortsetzt: Die Straße, in der du lebst, die Stadt, das Land, andere Länder, weiter und weiter weg. Es beginnt mit dem Selbst und dem Ausmaß der eigenen Privilegien entsprechend, in einem reichen Land lebend, mag man fragen: Was kann man tun, damit dies so bleibt? Man spürt eine bestehende Gefahr, daß es nicht so bleiben könnte, den ganzen Wahnsinn, was bleibt also zu tun, damit Europa bestehen bleibt?

Links sein bedeutet gerade das Gegenteil: Es ist schöpferisch... Und die Leute sagen, die Japaner sind auf diese Weise schöpferisch, wir aber nicht... Sie stellen erst die Ränder, die Peripherie her, sie würden sagen: Die Welt, der Kontinent - mitunter Europa -, Frankreich, etc., etc., die rue de Bizerte, ich: Es ist ein Phänomen der Wahrnehmung, den Horizont wahrzunehmen, auf einer Horizontlinie wahr zunehmen. Parnet führt an, daß die Japaner nicht gerade ausgesprochene Linke wären, was Deleuze zu einer abschätzigen Geste veranlaßt, ihr Einwand ist nicht stimmig, sie sind in einem bestimmten Sinne links, in dem, wie sie die Dinge adressieren, in ihren Postanschriften.

Zuerst, sieht man den Horizont. Und man weiß, daß die Millionen an Hungernden nicht bestehen werden, was kein Spaß ist, sondern ein abgehalftertes Justizsystem, keine Frage der Moral, sondern ein Problem der Wahrnehmung. Zu sagen, die Geburtenrate muß reduziert werden, ist ein weiterer hübscher Weg, die Privilegien in Europa zu halten. Vielmehr gilt es, wahre Gefüge und Ensemble zu errichten, weltweite Gefüge. Oft sind einem auf der Linken, die Probleme der Dritten Welt näher als die der unmittelbaren Nachbarschaft. Eine Frage der Wahrnehmung, nicht der Schöngeister und Gutmenschen - das macht die Linke aus.

Und zweitens ist es ein Problem des Werdens, niemals aufzuhören, minoritär zu werden, minder zu werden, sich zu entziehen. Die Linke gehört nie zur Mehrheit, aus einfachem Grund: Die Mehrheit nimmt an, daß die Massen sich nicht für etwas entscheiden können, sondern fester Normen bedürfen - im Westen zählt zu den Standards jeder Mehrheit: 1. Männlich, 2. Erwachsen, 3. Kräftig, 4. Städtisch... Selbst Ezra Pound und Joyce sagen solche Sachen, völlig genormt. Die Mehrheit wird also ihrer Natur nach von welchem Zustand auch immer in einen anderen, standartisierten übergehen und so ab einem bestimmten Punkt ihren Standard etabliert haben - das strahlende Bild des städtischen, kräftigen, erwachsenen Manns -, so daß die Mehrheit, worauf Deleuze besteht, nie irgendjemand ist, sondern ein leerer Standard.

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Und dann erkennt eine Vielzahl von Leuten diesen entleerten Standard. Die Frauen werden sich entweder durch einen Eingriff in diese Mehrheit behaupten oder in den Minderheiten, den Milieus entsprechend, in welchen sie dem Standard zufolge plaziert wurden. Deleuze klärt dies: Eine Frau zu sein, ist nichts Natürliches, Frauen haben ihr eigenes Frau-Werden und wenn Frauen ein Frau-Werden erzeugen können, können auch Männer ihr eigenes Frau-Werden bilden. Er greift noch einmal das Tier-Werden auf und die Kinder, die ebenso ihre Arten von Werden besitzen, ohne unbedingt Kind sein zu müssen. Parnet findet es hart, daß Männer kein Mann-Werden besitzen. Ist es nicht, sagt er, keineswegs, es ist ein mehrheitlicher Standard, kräftig, erwachsen, männlich... Sie können Frauen werden und eben dann auf minoritäre Weise werden. Die Linke, schließt er, besteht aus den Produktionsverhältnissen eines Minder-Werdens.

Die Mehr heit ist also niemand, eine Minderheit hingegen die ganze Welt und das ist es auch, was die Linke ausmacht: Zu wissen, daß eine Minderheit die gesamte Welt umfaßt und daß nur dort die Phänomene des Werdens auftauchen. Ganz egal für wie mächtig sie sich halten, vor jedem Ausgang einer Wahl zittern sie aufs Neue.

H WIE IN HISTOIRE (GESCHICHTE) DER PHILOSOPHIE

Parnet zählt Deleuzes frühe Arbeiten aus seiner ersten Phase zur Geschichte der Philosophie auf -Hume, Nietzsche, Kant, Bergson, Spinoza - und meint, daß wenn jemand danach auf seine späteren Werke stieße - DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG, LOGIK DES SINNS und auf die mit Guattari geschriebenen Bücher -, dieser Deleuze durchaus eine Dr. Jekyll & Mr. Hyde-artige Persönlichkeit unterstellen könnte. Und dann, hält sie fest, schreibt er 1988 ein Buch über Leibniz. Sie fragt sich, was ihm an der Philosophiegeschichte gefiel und wohl noch immer gefällt?

Deleuze läßt sich Zeit, es ist ein komplizierter Fall, denn die Philosophiegeschichte schließt die Philosophie als solche mit ein. Er vermutet, daß eine Menge Leute davon ausgehen, die Philosophie sei recht abstrakt und hauptsächlich für Spezialisten. Ihm erscheint es allerdings eher so, das sie mit Spezialistentum überhaupt nichts zu tun hat, sondern vielmehr wie Musik oder Malerei betrachtet werden sollte. Er schlägt vor, zu versuchen, das Problem anders zu stellen.

Gemeinhin, so Deleuze, ist die Geschichte der Philosophie erst auf zweiter Ebene abstrakt, da sie nicht darin besteht, über abstrakte Ideen zu sprechen, sondern abstrakte Ideen bildet, um über scheinbar abstrakte Ideen sprechen zu können. Für ihn lag der Schwerpunkt stets anderswo, wie in der Malerei. Er führt die Briefe Van Goghs an, in denen Van Gogh eine Unterscheidung zwischen Porträt- und Landschaftsmalerei vornimmt, in LOGIK DES SINNS hat er bereits darüber gesprochen. Für ihn ist die Philosophiegeschichte eine Art von Porträtkunst, ähnlich der Malerei, die das Porträt eines Philosophen schafft. Aber ein philosophisches Porträt eines Philosophen, ein mentales oder geistiges Porträt. Es ist ein aktives und schöpferisches Vorgehen, das voll und ganz zur Philosophie gehört, so wie die Porträtmalerei zur Malerei selbst.

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Er fragt sich, ob er nicht ein wenig zu schnell auf diese Gegenüberstellung mit der Malerei gekommen ist, doch wenn er Maler wie Van Gogh oder Gaugin anführt, dann weil etwas in ihren Bildern einen enormen Eindruck bei ihm hervorruft: Der ungeheure Respekt oder bisweilen die Angst und sogar Panik, die sie durch ihre Farben offenlegen. Diese Maler, sind zwei der größten Koloristen, in ihren Bildern jedoch, arbeiten beide mit größter Vorsicht. Am Beginn ihrer Karrieren, benutzen beide erdige Farbtöne, nichts Umwerfendes. Sie wagten es noch nicht, in Farbe zu malen. Es ist ein bewegender Punkt, als ob sie sich noch nicht für würdig genug hielten, in Farbe zu malen, noch nicht bereit oder fähig, es auf sich zu nehmen und wirklich zu malen. Sie brauchten Jahre, bis sie soweit waren. Betrachtet man beide Gesamtwerke, muß man sich dieser immensen Langsamkeit bewußt sein, die nötig war, um derartige Arbeiten zu ermöglichen. Farbe kann eine Malerin, einen Maler in den Wahnsinn treiben, ihn verrückt machen. Ein äußert schwieriges Problem, es braucht Jahre, um ihr nahe zu kommen.

Sonderlich bescheiden sei er im Grunde nicht, gesteht Deleuze, aber es schockiert ihn sehr, wenn ein Philosoph hergeht und schlicht feststellt, 'Oh, auf in die Philosophie, jetzt mache meine eigene Philosophie.' So etwas sind dümmliche Aussagen. Philosophie ist wie das Malen mit Farben. Bevor man damit anfangen kann, gilt es, viele Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um die philosophische Farbe zu erobern und die philosophischen Farben sind Begriffe und Konzepte. Eine enorme Menge an Arbeit ist nötig, bevor man zum Erfinden von Begriffen und Konzepten übergehen kann. Deleuze sieht die Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte als langsame Bescheidenheit, die einige Zeit braucht, um Proträts zu machen. Ganz ähnlich einem Romanautor, schlägt er vor, der sagen könnte, ich schreibe zwar Romane, aber lesen kann ich überhaupt keinen: Ich würde riskieren, meine Inspiration zu gefährden. Deleuze berichtet von jungen Autoren, die derart erschreckend daherreden, daß sie seinetwegen gar nicht erst schreiben müßten. Alles in allem besitzt die Philosophiegeschichte nicht bloß diese vorbereitende Rolle, sie kommt zudem sehr gut mit sich selbst aus. Wie die Porträtkunst erlaubt sie einem, zu etwas Bestimmten zu gelangen, etwas bestimmtes auszudrücken. Und an diesem Punkt wird das Ganze etwas mysteriös, so Deleuze. Und er bittet Parnet, vielleicht eine weitere Frage zu stellen, an der er dies deutlich machen kann.

Parnet meint, der Nutzen der Philosophiegeschichte für ihn, sei in seinen Ausführungen klar geworden. Aber der Nutzen der Philosophiegeschichte für die Leute ganz pauschal, was soll das sein, gerade wenn sie keine Spezialisierung sein soll?

Für Deleuze ist das sehr einfach. Man kann nur verstehen, was Philosophie ist, nämlich in der Art, daß sie genauso wenig abstrakt ist, wie ein Gemälde oder ein Musikstück, durch die Philosophiegeschichte. Vorrausgesetzt, man benutzt sie auf die richtige Weise. Nur wie soll die aussehen? Eins ist sicher: Ein Philosoph ist niemand, der sich der Kontemplation oder Reflexion hingibt. Er ist jemand, der erschafft und herstellt und zwar äußert besondere Dinge: Nicht Sterne, die man im Himmel angafft, sondern ganz konkrete Begriffe. Immer muß man Begriffe produzieren und machen. Viele Fragen entstehen hier: Wozu? Warum Begriffe erfinden? Und was sollen das für Dinger sein? Deleuze läßt diese Fragen beiseite, um ein Beispiel zu geben: Wir wissen, daß Platon einen Begriff erfunden hat, den es vor ihm nicht gab, allgemein bekannt als die Idee.

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Das, was er Idee nennt, ist wahrlich ein platonistischer Begriff. Was aber ist das konkret, will Deleuze wissen. So muß man das Problem stellen. Eine Idee ist ein Ding, das nichts anderes sein wird, sie ist, was sie ist… Er unterbricht sich und fragt: Ist das abstrakt? Nein, fährt er fort und gibt ein weiteres Beispiel, das er dismal nicht bei Platon gefunden hat: Eine Mutter ist nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Ehefrau oder die Tochter einer Mutter. Stellt man sich vor, daß eine Mutter einzig eine Mutter wäre, wie vielleicht die Jungfrau Maria, selbst wenn es so etwas eigentlich nicht gibt, wäre eine Mutter, die nichts anderes wäre, die Idee der Mutter, also ein Ding, das nur das ist, was es ist. Dies versichert Deleuze, meinte Platon, als er sagte, daß nur die Gerechtigkeit gerecht ist, nur die Gerechtigkeit ist nichts anderes als gerecht. Und Platon hört hier nicht auf, er hat so den bemerkenswerten Begriff einer Idee wie des Puren, Reinen entwickelt.

Deleuze gibt zu, daß dies alles noch recht abstrakt bleibt. Bloß warum? Liest man Platon weiter, wird nach und nach alles sehr konkret. Platon hat den Begriff der Idee nicht aus dem Nichts gegriffen. Er sagt, was auch immer in einer konkreten Situation geschieht, was auch immer in ihr zusammen kommt, es gibt Rivalen, Also Leute, die sagen werden: 'Für diese Sache bin ich das beste Beispiel.' Bei Platon gibt es das Beispiel des Politikers mit einer ersten Definition als Pastor der Menschheit, jemand, der sich um die Menschen sorgt. Was zur Folge hat, daß einige Leute vortreten und behaupten, sie wären der wahre Pastor der Menschheit - der Schafhirt, der Metzger, der Händler, der Arzt. Es gibt demnach unterschiedliche Ebenen. Anders ausgedrückt, es gibt Rivalen und mit diesen beginnen die Dinge sich ein wenig zu konkretisieren.

Ein Philosoph erschafft Begriffe, wie den der Idee. Ein Ding, das in sich geschlossen und pur ist. Als Leser versteht man nicht unmittelbar worum es hierbei geht oder wozu ein solcher Begriff gut wäre. Denkt man jedoch weiter darüber nach, erkennt man den Grund: Es gibt alle Arten von Rivalen, die allesamt auftreten, als hätten sie und nur sie Anspruch auf sonst etwas. Das Problem für Platon ist also nicht, was eine Idee sein könnte. Auf diese Weise bleiben die Dinge abstrakt. Eher geht es darum, wie man die Bewerber auseinander hält. Wie erkennt man den einen Guten? Und dies tut die Idee, also das Ding in einem puren Zustand. Sie erlaubt die Auswahl der Bewerber und sie wird denjenigen auswählen, der ihr am nächsten kommt.

Nun bewegt sich das Gespräch ein Stück vorwärts, meint Deleuze, denn jeder Begriff bezieht sich auf ein bestimmtes Problem, in diesem Fall auf die Auswahl der Bewerber. Betreibt man die Philosophie auf abstrakte Weise, wird man das eigentliche Problem niemals erkennen, wenn man aber an diesen Punkt kommt... Man mag sich fragen, warum dieses Problem bei keinem Philosophen, klar formuliert, auftaucht, obwohl es doch deutlich Teil seiner Arbeit ist. Doch Deleuze halt dem entgegen, daß man schließlich nicht alles auf einmal machen kann. Die Beschäftigung eines Philosophen ist erst einmal die Dar- und Ausstellung der Begriffe und Konzepte, in deren Fertigungsprozeß er sich gerade befindet. Er hat gar keine Zeit sich mit der Erläuterung von den darüber liegenden Problemen zu beschäftigen und zumindest kann man diese Probleme durch entwickelten Begriffe entdecken. Wenn man also das konkrete Problem, das einem Begriff entspricht, nicht findet, wird alles abstrakt. Hat man es hingegen

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entdeckt, wird alles sehr konkret und einfach. Deshalb treten bei Platon auch allenthalben jene Bewerber und Rivalen auf.

Deleuze wirft die Frage auf, warum diese Probleme in der griechischen Polis und bei Platon entstehen. Der Begriff ist die Idee, in ihrer Bedeutung als Auswahl der Bewerber. Doch warum kommen dieser Begriff und dieses Problem aus einem griechischen Millieu? Weil es ein typisch greichisches Problem ist, der demokratischen, griechischen Stadt. Selbst wenn Platon nichts für den demokratischen Charakter der Polis übrig hat. Es ist die griechische Stadt. Beispielsweise die Regierungsgeschäfte, sie sind Teil eines Possenspiels, in dem sich irgendjemand für eine bestimmte Funktionsrolle als Kandidat aufstellen läßt. In einem kaiserlichen System werden die Funktionäre vom Kaiser ernannt, Athen dagegen ist Produkt der Rivalitäten unterschiedlichster Bewerber. Das ist ist ein vollkommen griechisches Millieu, eine Zivilisation, in der die Konfrontation von Rivalen unentwegt auftaucht: Darum haben sie die Gymnasien, Olympischen Spiele, die Rechtsprechung und all das erfunden. Und in der Philosophie gibt es diese Rivalitäten genauso, betrachtet man nur Platons Ärger über die Sophisten. Er glaubte die Sophisten beanspruchten etwas, das ihnen nicht zustand. Was zeichnet nun einen rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Bewerber aus, stellt Deleuze in den Raum. Das ist alles genauso faszinierend wie ein großer Roman oder ein Gemälde, doch in der Philosophie geschehen zwei Dingen zugleich: Die Erschaffung eines Begriffs taucht immer als Funktion eines bestimmten Problems auf. Ohne konkrete Probleme bleibt die Philosophie abstrakt.

In der Regel beachten die Leute Probleme nicht, sie bleiben verborgen. In der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte jedoch, geht es darum, eben jene Probleme erneut herzustellen und aufleben zu lassen und so zu entdecken, was an diesen Begriffen innovativ und aktuell sein könnte. Schlechterdings verfährt die Philosophiegeschichte mit Begriffen aber meistens so, als ob man nicht über sie sprechen müßte, als ob sie nicht erschaffen worden wären, was schließlich zu totaler Ignoranz allen Problemen gegenüber führt.

Als letztes Beispiel bietet Deleuze Leibniz an: Lange nach Platon erfand Leibniz einen außerordentlichen Begriff, dem er den Namen Monade gab. In einem Begriff gibt es immer ein bisschen Verrücktes. Die Monade, fährt er fort, gehört zu einem Subjekt, zu irgendjemandem, zu Dir oder mir. Und sie drückt für diesen die Totalität einer Welt aus. Und in diesem totalen Ausdruck einer Welt, drückt sie doch nur eine winzige Region der Welt aus, ihr Territorium oder wie Leibniz es nannte, ihr Gebiet. Eine subjektive Einheit drückt also eine gesamte Welt aus, die doch nur ein Teil der Welt ist: Das ist eine Monade. Ein Begriff, den Leibniz erfunden hat, aber warum taucht er hier auf? Man muß das Problem finden, das ist der Charme einer philosophischen Lektüre, so charmant wie jedes andere gute Buch. Leibniz stellt ein Problem, nämlich das alles nur in gefalteter Form existiert... Er sieht die Welt in einem Zustand, in dem alle Dinge ineinander gefaltet sind. Deleuze halt es für angebracht, ein wenig zurückzutreten: Warum sieht Leibniz die Welt auf jene Weise? Was war geschehen? Was zählt, ist die Idee der Falte, alles ist gefaltet und alles ist die Falte einer weiteren Falte. Nie erreicht man einen Zustand des absoluten Entfaltet-Seins. Alle Materie besteht aus sich unentwegt selbst

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überlappenden Falten und die Dinge des Geistes, die Wahrnehmungen, Gefühle, Ideen sind bis in die Seele gefaltet. Was zutrifft, denn diese Wahrnehmungen, Gefühle, Ideen falten sich bis in die Seele. Eine Seele, die Leibniz erschaffen hat. Ein Begriff der Seele, der eine gesamte Welt umfaßt und ausdrückt und Leibniz so darin eine zusammen gefaltete Welt entdecken läßt.

Abrupt fragt Deleuze, was ein schlechter oder ein guter Philosoph sei. Der schlechte, erschafft keine Begriffe, er benutzt bereits fertige, vorgefundene Ideen. Was zwar Ansichten ausstellt, aber weder Philosophie macht, noch Probleme aufwirft. Philosophiegeschichte ist demnach etwas wie eine lange Lehrzeit, in der man lernt oder man ist ein wirklich Lernender in diesem Feld der Problemstellungen und dem Erschaffen von Begriffen. Wie aber kann das Denken idiotisch oder hirnrissig sein? Manche Leute reden einfach, ohne Begriffe zu erzeugen, sie leihern bloß irgendwelche Ansichten herunter. Doch schwerwiegender ist es, nicht zu wissen, welches die Probleme sind, über die man spricht. Und am Schlimmsten ist es, wenn man die Frage kennt, doch nicht die Probleme hinter gewissen Fragen. Die Frage 'Gibt es Gott?' zum Beispiel wift keinerlei Problem auf, das hinter ihr liegen könnte... Wenn man weder Begriff noch Problem hat, so Deleuze, macht man auch keine Philosophie. All dies gehört zu den amüsanten Seiten der Philosophie. Philosophiegeschichte betreiben, heißt, nichts anderes zu entdecken, als bei der Betrachtung eines Gemäldes oder dem Hören eines Musikstücks.

Parnet kommt nochmals auf Gaugins und Van Goghs angstvolles Beben und Zittern vor dem Gebrauch der Farbe. Was geschah mit ihm, Deleuze, als er von der Philosophiegeschichte zu seiner eigenen Philosophie überging? Der antwortet unmittelbar, daß Folgendes geschah: Die Philosophiegeschichte gab im die Chance die Dinge kennenzulernen, sie versetzte ihn in die Lage, sich auf das zuzubewegen, was die Farbe der Philosophie ist. Und er entgegnet, warum die Philosophie nicht aufhört zu existieren, warum es heute immer noch Philosophie gibt. Weil es immer Gelegenheiten gibt Begriffe zu erfinden und zu erschaffen. Heute jedoch wird das Erschaffen von Begriffen und Konzepten von den Medien und der Werbung vereinnahmt. Mit Computern, wird gesagt, kann man Begriffe und Konzepte erschaffen. Ihr ganzes Vokabular gestohlen aus der Philosophie zu Gunsten der 'Kommunikation'. Aber was diese Leute Begriffe, Konzepte, Erschaffen nennen, bemerkt Deleuze abschätzig, ist grotesk, ohne Bedeutung. Es bleibt die Aufgabe der Philosophie.

Deleuze erzählt, daß ihn Leute, die vom Ende der Philosophie, von der Überwindung der Philosophie usw. sprechen, nie berührt haben. Er hat sich stets nur gefragt, was das Heißen soll. So lange wie es ein Begehren gibt, Begriffe zu erschaffen, wird es Philosophie geben, das ist die Definition der Philosophie. Wir müssen Begriffe hervorbringen und wir erschaffen sie als Funktionen von Problemen und Probleme tauchen stets auf. Sicherlich, man kann heute Platonist, Leibnizianer, Kantianer sein, gerade deshalb, weil jemand bestimmte Probleme - gewiß nicht alle -, die Platon aufgebracht hat, noch immer Gültigkeit besitzen. Und unter der Voraussetzung, daß man einige Veränderungen vornimmt, ist man auch heute noch Platonist, solange man seine Begriffe noch gebrauchen kann. Wenn sich uns aber Probleme ganz anderer Natur

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stellen, dann besteht das Philosophie-Machen im Erschaffen von neuen Begriffen, die Teil von heutigen Problemen sind.

Der letzte Aspekt bestrifft die Entwicklung von Problemen. Man könnte sie historisch gesehen soziale Kräfte nennen, doch gibt es da noch etwas anderes, Weiterreichendes. Wiedermal ist alles äußerst mysteriös, meint Deleuze. Vielleicht bleibt auch nicht die Zeit, um in dem Interview all dem nachzugehen, schließlich aber spricht Deleuze weiter, das Werden des Denkens und die Entwicklung des Denkens, führen dazu, daß nicht nur neue Probleme aufgeworfen werden, sondern dies auch auf neue Art und Weise geschieht. Es gibt eine drängende Kraft, eine Notwendigkeit, selbst neue Begriffe wieder und wieder neu zu erschaffen. Die Philosophiegeschichte kann also nie auf soziologische Einflüsse reduziert werden. Es gibt ein Werden des Denkens, etwas sehr Mysteriöses, das uns dazu bringt, nicht mehr wie noch vor 1oo Jahren zu denken. Neues Denken bildet sich, gedankliche Ellipsen. Für Deleuze gibt es eine Geschichte des reinen Denkens und eben das ist die Geschichte der Philosophie, der immer nur eine einzige Aufgabe zukam. Der Punkt ist also nicht über sie hinaus zu kommen, da sie nur diese einzige Funktion besitzt.

Parnet erwähnt das Problem der Zeit und Deleuze führt doch noch ein weiteres Beispiel an: Die größte Sorge der Philosophen im 17. Jahrhundert war die Abwehr von Fehlern, den Schrecken des damaligen Denkens. Wie verhindert man, daß der Geist fehlgeleitet wird? Es gibt dann eine lange und unmerkliche Verschiebung und im 18. Jahrhundert taucht dann ein gänzlich anderes Problem auf: Nicht mehr müssen Fehler des Denkens abgewehrt werden, sondern Illusionen. Zu der Idee, daß der Geist nicht nur von Illusionen umgeben ist, tritt der Schrecken, daß der Geist selbst Illusionen produzieren kann. Das ist die Geißel des 18. Jahrhunderts, die Abwehr der Trugbilder und des Aberglaubens und obwohl es dem 17. so ähnlich scheint, entsteht doch etwas vollkommen anderes im 18. Jahrhundert. Man kann das auf soziale Ursachen schieben, doch gibt es nach Deleuze eine geheime Geschichte des Denkens, die es lohnte, leidenschaftlich verfolgt zu werden.

Im 19. Jahrhundert werden die Dinge dann erstaunlich simpel, geradezu roh. Die Dinge haben sich verändert. Nicht länger müssen Illusionen verhindert werden. Nein, als Geisteswesen gibt der Mensch vielmehr ununterbrochen Dümmlichkeiten von sich, was nicht dasselbe ist, wie auf Illusion hereinzufallen: Wie aber verhindert man Dümmlichkeit? Die Beschäftigung mit dem Problem der Dummheit sieht man deutlich bei solchen Personen, die sich auf der Grenze zur Philosophie bewegen, wie Flaubert oder Baudelaire. Und auch hier machte die soziale Entwicklung, die Entwicklung des Bürgertums das Problem der Dummheit zu einem dringenden Problem. Dennoch gibt es etwas, das weiterreicht in dieser Art von Problemgeschichte, das das Denken konfrontiert. Jedes Mal, wenn ein Problem sich stellt, tauchen auch neue Begriffe auf, so daß, wenn wir die Geschichte der Philosophie derart verstehen - Erschaffen von Begriffen, die Funktionen von Problemensind und Probleme, die eigentlich versteckt und unscheinbar sind und entdeckt werden müssen -, sehen können, daß die Philosophie nichts mit den Kategorien von Wahr oder Unwahr zu tun hat. Die Suche nach Wahrheit hat überhaupt nichts zu bedeuten. Das Erschaffen von Begriffen und Problemstellungen

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sind bedeutend, Wahrheit und Unwahrheit hingegen keineswegs. Ein Problem mit Bedeutung, ein bedeutendes Problem. Philosophie-Machen heißt, sich Probleme stellen, die Sinn machen und Begriffe erschaffen, die uns dazu bringen, uns auf das Verstehen von Problemen und die Auseinandersetzung mit ihnen zuzubewegen.

Parnet kommt auf zwei besondere Fragen für Deleuze: Als er im letzten Jahr die Philosophiegeschichte in DIE FALTE, seinem Buch über Leibniz, wieder aufgenommen hat, war es auf dieselbe Art wie vor 2o Jahren, also bevor er seine eigene Philosophie gemacht hat? Deleuze antwortet, ganz sicher nicht. Früher gebrauchte er die Philosophiegschichte als unersetzliche Lehrzeit, um nach den Begriffen anderer, den großen Philosophen, zu suchen und nach den Problemen, auf die ihre Begriffe eine Antwort gaben. In dem Buch über Leibniz hingegen - und es gibt nichts zu Bedauern, in dem, was er sagen wird, merkt Deleuze an -, vermischte er Probleme des 2o. Jahrhunderts, die auch seine eigenen sein könnten, mit denen, die sich Leibniz stellten. Gerade weil er von der Aktualität der großen Philosophen überzeugt ist. Was heißt es also so zu handeln wie ein bestimmter Philosoph es tun würde? Es geht nicht darum, diesen sklavisch zu imitieren, sondern vielmehr dessen Beschäftigungen weiterzuführen. Begriffe zu bilden in Bezug und als Entwicklung zu den Begriffen, die er erschaffen hat. In dem Buch über Leibniz ging die Arbeit mehr in diese Richtung. In den frühen Büchern zur Geschichte der Philosophie befand er sich noch in einer vor-farbigen Phase.

Parnet fragt nach seiner Beschäftigung mit Spinoza und Nietzsche, über die Deleuze sagte, er hätte bei den beiden ein bisher verteufeltes und unentdecktes Gebiet der Philosophie betreten. Was meint er damit? Für Deleuze zeichnet sich dies verborgene Gebiet durch Denker aus, die alle Transzendenz, alle Universalien, Ideen oder Begriffe, die universellen Wert besitzen sollen, jede Instanz, die jenseits der Welt und den Menschen liegt, von sich weisen... Das wundersames Land der Autoren der Immanenz.

Parnet nimmt dies auf und bemerkt, das seine Bücher zu Nietzsche und Spinoza wahre Ereignisse waren. Bücher, mit denen er bekannt geworden ist, ohne das man sagen könnte, er sei Nietzschaner oder Spinozist. Deleuze ging durch all das hindurch, schon während seiner Lehrzeit, schon damals war er Deleuzianer. Deleuze scheint ein wenig beschämt, es wäre ein enormes Kompliment, sollte es zutreffen. Was er immer hoffte, ob die Arbeit nun gut oder schlecht war und er wußte, daß er jeder Zeit scheitern konnte, war zu versuchen, solche Probleme und Begriffe aufzubringen, die auf seine Rechnung gingen und ihn weiterbrachten. Extrem übertrieben, schwebt ihm eine Quantifikation der Philosophie vor, nach der jedem Philosophen eine Art magische Zahl zu geordnet würde, die der Anzahl von Begriffen entspricht, die er wirklich erschaffen hat und die sich auf konkrete Probleme beziehen. Wie bei Descartes, Leibniz, Hegel. Er findet, es sei ein reizvoller Einfall, auch wenn er selbst nur eine sehr kleine magische Zahl trüge. Zuletzt ist die einzige Ehre einfach die, daß egal welche Art von Begriff er zu erfinden suchte, er sagen kann, auf welches Problem er bezogen sei. Andernfalls ist alles leeres Geschwätz gewesen.

Parnets letzte Frage betrifft die Zeit um 1968, als jeder damit beschäftigt war, Marx und Wilhelm Reich zu lesen. War es da nicht eine leichtherzige Provokation, sich mit dem

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als Faschist verschrienen Nietzsche zu beschäftigen und mit Spinoza und dem Körper, als überall Reich gepredigt wurde? War die Philosophiegeschichte für ihn nicht auch ein Wagnis, eine Provokation?

Deleuze erwidert, das hat mit all dem zu tun, über das sie schon eine ganze Weile sprechen, mit derselben Frage. Wonach er suchte, auch mit Félix, war eine wirklich immanente Ebene des Unbewußten. Die Psychoanalyse ist bis oben hin angefüllt mit transzendentalen Elementen, dem Gesetz, dem Vater, der Mutter. Das Feld der Immanenz aber erlaubt ihm, das Unbewußte als Region zu faßen, in die Spinoza am weitesten vorgedrungen ist, so wie Nietzsche ebenfalls, weiter als je ein anderer vor ihnen. Es war also keine Provokation, sondern Spinoza und Nietzsche bilden in der Philosophie vielleicht die größte Befreiung des Denkens, auf fast explosive Weise. Und sie erfinden die ungewöhnlichsten Begriffe, da ihre Probleme lang verdrängte Probleme sind, die sich zu der Zeit niemand zu stellen wagte.

Deleuze halt ein und lächelt in Parnets Richtung. Sie reagiert recht befremdend, beinahe in der Art von vorwurfsvollen Eltern: "Da Du ja nicht antworten willst, gehen wir weiter." Deleuze gibt einen sanften und verwundert klingenden Laut von sich, als Parnet ankündigt:

I WIE IN IDEE

Parnet stellt fest, daß sich die Idee nicht mehr in Platons Besitz befindet. Auch Deleuze hat leidenschaftlich für Ideen von Denkern im Kino, den Regisseuren, aber auch von anderen Künstlern oder Malern gesprochen. Immer war es ihm lieber, von einer Idee zu sprechen, als von Erklärungen oder Kommentaren. Warum nehmen Ideen also vor allen anderen Dingen diese Stellung ein?

Deleuze stimmt ihr zu: Ideen, so wie er sie gebraucht, durchziehen alle schöpferischen Tätigkeiten. Schöpferisch-Sein heißt, Ideen zu haben. Es gibt aber Leute - ganz ohne Verachtung gesprochen -, die ihr ganzes Leben ohne auch nur eine Idee verbringen. Allerdings sind Ideen recht seltene Dinge, die einfach nicht jeden Tag auftauchen. Und ein Maler hat nicht weniger Ideen als ein Philosoph, nur daß sie verschiedene Ideen haben. Deleuze überlegt, in welcher Form eine Idee in einem bestimmten Fall auftritt. In der Philosophie wenigstens auf zwei Arten: Als Begriff oder in der Erschaffung eines Begriffs.

Er ist begeistert von den Filmemachern: Einige haben keinerlei Ideen, manche jedoch eine ganze Menge. Ideen sind recht geisterhafte Erscheinungen, die kommen und gehen und ständig die ihre Erscheinung wechseln. Betrachtet man den Regisseur Minelli, so sieht man in seinen Filmen, daß er sich fragt: Was bedeutet es, sich plötzlich in den Träumen von irgendjemandem zu bewegen? Das reicht vom Komischen zum Tragischen, selbst zum Abartigen. Sich in den Träumen einer anderen Person zu befinden, kann zu schreckenerregenden Dingen führen, Horror in seiner reinsten Form.

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In Minellis Filmen wird man so in den Alptraum des Krieges geworfen. Was dann den bewundernswerten Film FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE hervorbringt. Krieg nicht als Krieg gesehen, sondern als Alptraum. Wie wäre es aber, sich in den Träumen eines jungen Mädchens wiederzufinden? Da kommt dann eine Musikkomödie heraus, in der Fred Astaire und Gene Kelly - Deleuze ist sich nicht ganz sicher mit den Namen - vor Tigern und Panthern flüchten. So etwas ist eine Idee. Dennoch, hält er fest, ist das noch kein Begriff und Minelli auch kein Philosoph, aber er macht Kino.

Deleuze führt drei Ebenen an, die zu unterscheiden sind und an welchen er gerade mit Guattari arbeitet:1. Zuerst gibt es Begriffe, die in der Philosophie erfunden und erschaffen werden.

2. Dann gibt es die Perzepte in der Kunst. Ein Künstler erzeugt Perzepte, ein Wort, das nötig war, um diese Dinge von der Perzeption, der Wahrnehmung zu trennen. Was will ein Romanautor? Er will in die Lage kommen, eine Reihe an Wahrnehmungen und Ereignissen zu erschaffen, die ihre Lektüre überdauern. Tolstoi oder Tschechow, jeder auf seine Weise, haben es fertig gebracht zu schreiben, so wie ein Maler es schließlich schafft zu malen. Es geht immer darum, den unzähligen Ereignissen, die das Kunstwerk durchziehen, eine radikale Eigenständigkeit gegenüber dem, der sie erfährt, zu verleihen. Tolstoi erschafft Atmosphären, Faulkner und ein weiterer großer Amerikanischer Schriftsteller, Thomas Wolfe, haben das in ihren Kurzgeschichten fast wörtlich bestätigt: Jemand tritt am Morgen auf die Straße, er riecht frischen Toast, sieht ein Vogel fliegen und empfindet unzählige Ereignisse um ihn herum.

Was geschieht nun, wenn jemand, der von einem Ereignis getroffen wird, etwas ganz anderes tut. Es ist, so Deleuze, nahezu wie in der Kunst, dort liegt die Antwort auf die Frage. Man muß einem Ereignis Dauer oder Ewigkeit verleihen, so daß es nicht mehr als irgendeine persönliche Erfahrung betrachtet werden kann oder von Draußen gesehen, daß es nicht länger für die Erfahrung einer literarischen Figur gehalten wird. Was macht ein Maler? Er gibt den Perzepten Konsistenz und Stärke, er entreißt die Perzepte der Wahrnehmung. Die Impressionisten, amüsiert sich Deleuze, haben die Wahrnehmung vollends verdreht. Ein Begriff erzeugt einen Knacks im Kopf, eine vollkommen neue Art zu Denken. Und die Leute können nicht damit umgehen, plötzlich neu zu Denken. Sie sind es nicht gewohnt, mit einem Mal einen Sprung in der Schüssel zu haben. Und Begriffe verdrehen nun mal das gesamte Nervensystem. Deleuze fällt ein Satz von Cézanne ein, den er sinngemäß zitiert: 'Wir müssen dem Impressionismus Dauer verleihen.' Was heißt, daß neue Ausdrucksweisen nötig sind, um diese Dauer zustande zu bringen und den Perzepten größere Eigenständigkeit zu verleihen.

3. Und dann gibt es noch die Dinge, die die Verbindung zwischen all dem bilden: Die Affekte. Ohne Affekte gibt es keine Perzepte, auch wenn diese eigenständig sind. Sie sind Teil eines Ereignisses, eine Art von Werden, das weit über denjenigen, der von ihm erfaßt wird, der es erfährt, hinausgeht. Bringt nicht auch die Musik solche Kräfte mit sich, die weit über unser Verständnis hinausreichen? Wahrscheinlich schon, meint Deleuze. Nimmt man einen philosophischen Begriff, so ermöglicht er es, Dinge zu sehen. Alle großen Philosophen haben diese Eigenschaft des 'Sehens', zumindest die

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Philosophen, die er schätzt: Spinoza macht sehend, einer der hellsichtigsten und weitblickendsten Philosophen. Nietzsche ebenfalls. Diese Philosophen wirbeln alle Arten fantastischer Affekte auf, sie sind erfüllt von Musik. Und umgekehrt läßt einen die Musik die seltsamsten Dinge sehen: Farben und Perzepte. Er ist überzeugt, daß es zwischen diesen Ebenen Überschneidungen und Zirkulationen gibt und es ist nicht überraschend, daß da Resonanzen auftreten. Es mögen zwar Arbeiten unterschiedlicher Leute sein, die philosophischen Begriffe, die malerischen Perzepte und die musikalischen Affekte durchdringen einander dennoch.

Parnet kommt darauf, daß Deleuze schon immer sehr angetan war von den Ideen der Maler, Künstler und Philosophen. Doch wundert sie sich, warum er niemals etwas ansieht oder etwas liest, das schlichtweg unterhaltsam sein will oder nichts mit einer Idee zu tun hat. Ist es nicht möglich, daß es auch dort Ideen gibt? Nach seiner Einschätzung der Idee, hat Deleuze Schwierigkeiten nachzuvollziehn, wie das möglich ware. Wenn man ihm ein Gemälde zeigt, das keine Perzepte besäße oder ein Musikstück vorspielt, ohne jeden Affekt, wie wollte er dann empfinden und verstehen, was das alle zu bedeuten hat. Und ein dümmliches Philosophiebuch, auch damit hätte er Schwierigkeiten. Außer sehr absonderlichen, was für ein Vergnügen sollte er denn davon haben. Parnet hält dagegen, daß man ja ein völlig triviales Buch nehmen könnte, worauf Deleuze einwendet, daß vielleicht gerade ein solches Buch voller Ideen steckt. Er erzählt, daß er nirgends soviel gelacht hat wie bei Beckett und Kafka. Und er ist eigentlich sehr empfänglich für jede Art von Humor, aber es stimmt schon, die Komik im Fernsehn kann er nicht ausstehen. Außer Benny Hill, lächelt Parnet und Deleuze ist einverstanden. Aber Benny Hill "has an idea"! Wobei einige andere Amerikanische Komiker auch eine Menge Ideen haben.

Was geschieht, möchte Parnet wissen, wenn Deleuze an seinem Schreibtisch sitzt und überhaupt keine Idee hat, was er tun nur könnte, also ohne überhaupt eine Idee zu haben. Gar nichts, sagt Delueze, wenn er keine Ideen hat, was soll dann passieren, er setzt sich dann nicht zum Schreiben hin. Was aber geschieht, ist, wenn eine Idee noch nicht entwickelt ist, daß sie ihm entflieht, sie verschwindet einfach, es mag da Löcher geben Er hat damit einige schmerzvolle Erfahrungen gemacht. Gerade weil Ideen keine Ready-Mades sind. Es sind schreckliche Momente, teils sogar verzweifelte. Parnet schlägt einen Satz vor: Eine Idee, die ein Loch macht, das nicht anwesend ist. Deleuze antwortet, es ist unmöglich, das auseinanderzuhalten. Habe ich eine Idee, die ich nicht ausdrücken kann oder habe ich überhaupt keine Idee? Für ihn ist das dieselbe Sache: Wenn er etwas nicht ausdrücken kann, hat er auch keine Idee. Oder es fehlt noch ein Teil. Ideen kommen einem nie als fertiger Block, die einzelnen Teile stammen aus verschiedenen Horizonten. Und fehlt eines, ist alles unbrauchbar.

J WIE IN JOIE (GLÜCK)

Zu diesem Begriff, beginnt Parnet, hegt Deleuze eine besondere Zuneigung, da es ein Begriff Spinozas ist. Denn Spinoza verwandelt das Glück in einen Begriff des

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Widerstands und des Lebens: Laßt die traurigen Leidenschaften keine Rolle spielen. Lebt glücklich, um eure Vermögen vollkommen ausagieren zu können. Eben deshalb muß man sich vor Resignation, schlechtem Glauben, Schuldgefühlen und Affekten der Trauer hüten, in denen sich die Richter und Psychoanalytiker so gern suhlen. Man sieht bereits, fährt Parnet fort, warum Deleuze sich zu diesem Begriff hingezogen fühlt. Wie unterscheidet man allerdings nun Trauer von Glück, nach Spinoza und Deleuze? Entspricht Spinozas Begriff seinem eigenen? Und was hat er empfunden, als er das erste Mal auf Spinozas Begriff stieß?

Ja, diese Texte sind durch und durch aufgeladen mit Affekten, sagt Deleuze. Bei Spinoza bedeutet das - einfach gesagt -, daß Glück darin besteht, ein Vermögen zum Wirken zu bringen. Was mag das sein? Er greift ein früheres Beispiel auf: Man erobert, ganz gleich wie klein es auch sein mag, man erobert ein winziges Stück Farbe. Man wagt sich etwas weiter in die Farbe hinein, dort ist das Glück zu finden. Glück heißt, ein Vermögen zu verwirklichen, es zum Wirken zu bringen. Es ist vielmehr der Begriff des Vermögens, der schwer zu fassen ist.

Was ist mit dem Gegenteil, öffnet Deleuze. Was ist Traurigkeit? Sie taucht dann auf, wenn man von einem Vermögen getrennt ist, dessen man sich, berechtigter- oder unberechtigterweise, sicher war: Man hätte etwas tun wollen, aber die Umstände verhinderten es oder es war verboten etc. Alle Traurigkeit ist das Ergebnis von Macht, die über einem ausgeübt wird. Was eine Menge an Problemen mit sich bringt, ganz offensichtlich. Einige Details mehr sind von Nöten, denn es gibt keine schlechten Vermögen oder Kräfte. Was schlecht ist, ist die niedrigste Form einer Kraft und genau das ist Macht. Die Niederträchtigkeit der Macht besteht darin, jemanden davon abzuhalten, das zu tun, was er kann, seine Vermögen und Kräfte zu verwirklichen. Schlechte Kräfte gibt es nicht, nur niederträchtige Mächte... Vielleicht ist jede Macht notwendigerweise schändlich und niederträchtig, doch Deleuze vermutet, daß dies wahrscheinlich zu einfach gesprochen ist.

Die Verwirrungen zwischen Kräften und Mächten haben schwerwiegende Folgen, denn die Mächte versuchen stets, die Leute, die ihnen unterstehen, von dem zu trennen, zu dem sie fähig sind. An diesem Punkt tritt dann Spinoza auf, hält Deleuze fest. Und er kommt erneut auf Parnet erste Frage. Traurigkeit ist immer Sache der Priester, Tyrannen und Richter. Sache derjenigen, die unentwegt das Entstehen von Kräften verhindern und den Leuten verbieten, ihre Vermögen auszubilden. Nimmt man Nietzsches Antisemitismus, sind sie auch wieder bei I WIE IN IDEE. Es ist eine bedeutende Frage. Nietzsches Texte können sehr verwirrend sein, liest man sie auf zuvor erwähnte, vorschnelle Art. Deleuze wundert sich, was an den Texten Nietzsches, in denen er angeblich gegen die Juden schreibt, dran sein soll. Was wirft er ihnen vor? Was mag ihm den antisemitischen Ruf eingebracht haben? Nietzsches Vorwurf besagt schlicht, daß die Juden in sehr besonderen Verhältnissen eine Figur erfunden haben, die es bis dahin nicht gab: Die Figur des Priesters. Seiner Einschätzung nach, gibt es keinen Text Nietzsches, der die Juden im Allgemeinen angreift. Wen er angreift, das sind die jüdischen Erfinder der Figur des Priesters. Nietzsche erwähnt auch, daß man in ganz verschiedenen

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Gesellschaften Zauberer, Schreiber usw. finden kann, nichts jedoch, was dem Priester gleich kommt.

Nietzsches Größe als Philosoph besteht eben darin, nie aufgehört zu haben, das zu bewundern, was er angreift. Für ihn ist der Priester eine ganz unglaubliche Erfindung, etwas äußerst Bemerkenswertes. Daraus ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zum Christentum, wenn auch nicht mit demselben Typ des Priesters. Die Christen haben zwar eine andere Art von Priester, behalten aber die Priesterfigur als solche bei. Hier sieht man auch, meint Deleuze, wie konkret die Philosophie ist. Nietzsche ist der erste Philosoph, der einen Begriff des Priestertums erfindet und erschafft. Von da an, stellen sich gravierende Probleme: Worin besteht wahre, absolute Macht? Was ist der Unterschied zwischen wahrer, absoluter Macht und königlicher Macht etc.? Für ihn sind das aktuelle Fragen, an denen man zeigen kann, wie sich Philosophie weiterführen und erweitern läßt. Foucault hat auf seine Weise, der pastoralen Macht Ausdruck gegeben. Ein Begriff, der nicht derselbe ist wie Nietzsches, aber direkt mit ihm verbunden, und so eine Geschichte des Denkens entwickelt.

Was hat der Begriff des Priesters nun mit der Traurigkeit zu tun, fragt Deleuze. Nietzsche zufolge, steht der Priester für die Idee, daß die menschliche Existenz ein Zustand ewiger Schuld ist. Auch vor dem Priestertum gibt es eine Geschichte der Schuld und die Ethnologen täten gut daran, ein wenig Nietzsche zu lesen. Es gibt viele Untersuchungen aus diesem Jahrhundert über die sogenannten primitiven Gesellschaften, in welchen die täglichen Geschäfte mit kleinen Schuldstücken funktionieren, endlichen Schuldblöcken. Man erhält sie und gibt sie wieder zurück, jedoch immer nur auf Zeit, diese herumgereichten Schuldpakete. Es ist ein enormes Forschungsfeld, seitdem es heißt, so Deleuze, daß Schuld den Austausch und Handel bedingt. Und es sind wohl auch philosophische Probleme. Nietzsche hat allerdings lange vor den Ethnologen darüber gesprochen. Und soweit wie Schuld mit endlicher Herrschaft verbunden ist, kann der Mensch sich von ihr befreien. Der jüdische Priester aber, schmiedet aus eigenen Stücken einen ewigen Bund der Schuld zwischen dem jüdischen Volk und Gott. Die Christen haben die Idee der ewigen Schuld mit dem Sündenfall in anderer Form übernommen. Hierin zeigt sich der außergewöhnliche Charakter der Figur des Priesters. Und es ist die unbedingte Aufgabe des Philosophen einen entsprechenden Begriff zu erschaffen. Vorsichtig räumt Deleuze jedoch ein, daß die Philosophie nicht zwingend atheistisch ist. Doch in Spinozas Fall zeigt sich bereits im THEOLGISCH-POLITISCHEN TRAKTAT die Analyse des jüdischen Priesters. Philosophische Begriffe sind wirkliche Wesenheiten, durch welche die Philosophie konkret wird. Es gibt philosophische Begriffspersonen, ein Begriff, an dem er zur Zeit mit Félix arbeitet. Die Erschaffung des Begriffs des Priesters ist so zu verstehen, wie die Arbeit eines Malers am Bild eines Priesters.

Die Entwicklung des Begriffs des Priesters, zunächst mit Spinoza, dann Nietzsche und schließlich mit Foucault, bildet eine aufregende Genealogie. Deleuze erzählt, daß er gern auch etwas dazu beigetragen hätte. Vielleicht einige Überlegungen zur pastoralen Macht, die von den meisten für überholt gehalten wird. Man muß aber sehen, wo sie wieder aufgenommen wurde. Wie in der Psychoanalyse, dem neuen Avatar der pastoralen

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Macht. Wie beschreibt man das? Es ist nicht dieselbe Sache wie Tyrannen oder Priester. Gemeinsam haben sie zumindest, daß sie ihre Macht aus den traurigen Leidenschaften ziehen, zu denen sie die Leute drängen: Bereue ihm Namen der ewigen Schuld. Du bist Teil dieser ewigen Schuld. Und so weiter. Deshalb haben sie ihre Macht, deshalb ist ihre Macht ein Hindernis bei der Verwirklichung jedes Vermögens, jeder Kraft. Jede Macht ist traurig, betont Deleuze, selbst wenn die Mächtigen sie feierlich zelebrieren. Es ist dennoch ein trauriges Glück.

Dagegen ist Glück die Verwirklichung aller Kräfte und Vermögen. Ihm ist nicht bekannt, daß Kräfte je niederträchtig waren. Bei Glück und Vergnügen liegen die Vergnügungen gerade in dem, was man ist, wenn man zu sich findet. Allerdings hat es nichts mit Selbstbefriedigung zu tun oder mit Selbstgerechtigkeit. Es sind vielmehr die Freuden der Eroberung, wie Nietzsche sagte. Es geht nicht darum, irgendwem zu dienen oder irgendjemanden in Dienst zu stellen. Wenn ein Maler Farbe gebraucht, liegt die Eroberung darin, sie mit einem Mal auf sich nehmen zu können. Das ist Glück, selbst wenn man scheitern sollte. In der Geschichte der Vermögen und Eroberungen geschieht es, daß man Kräfte spürt, die zu stark für einen selbst sind. Daran zerbricht man, wie Van Gogh.

Das Gespräch wird am nächsten Tag fortgesetzt, neue Kameraeinstellung.

Parnet meint, Deleuze solle sich glücklich schätzen, der ewigen Schuld entronnen zu sein. Stattdessen beklagt er sich aber von morgens bis abends. Warum ist er ein solcher Verfechter der Klage und der Elegie? Lächelnd erwidert dieser, "Eine sehr persönlich Frage." Die Elegie ist die erste Quelle der Dichtung, eine große Klage. Man sollte eine Geschichte der Elegie schreiben, wobei das wahrscheinlich schon geschehen ist. Die Klage des Propheten ist das Gegenteil des Priesters. Der Prophet wimmert, warum hat Gott mich ausgewählt? Was passiert, ist einfach zu viel für mich. Wenn man will, ist eine Klage etwas, dem man nicht jeden Tag begegnet. Und ganz bestimmt ist es nicht "Au, Au, Au! Oh, Schmerz!" Obwohl es doch sein kann, denn die klagende Person weiß manchmal nicht, warum sie denn klagt. Die alte Dame, die über ihr Rheuma klagt, fragt diese nicht auch, welche Kraft hat von meinem Bein Besitz ergriffen, daß ich es nicht mehr aushalten kann?

Die gesamte Geschichte hindurch ist die Elegie Quelle der Dichter, wie bei den Römern Catull und Tiberius. Was ist eine Elegie? Sie ist Ausdruck des völligen Verlusts jeglichen gesellschaftlichen Status'. Klagen - sei es als kleiner, alter Mann oder als Gefangener -, hat überhaupt nichts mit Traurigkeit zu tun. Es ist etwas anderes, etwas Begehrendes. In der Klage liegt etwas Bemerkenswertes, eine Art Bewunderung, wie in einen Gebet. Worum es Parnets besonderes geht, ist die Klage des Propheten. Obwohl es ihm scheint, als ziele sie eher auf die Klage des Hypochonders. Die Intensität ihrer Klagen ist wunderschön, sehr sublim. Es sind die gesellschaftlich Ausgestoßenen, die in der Stimmung sind zu klagen. Es gibt einen Ungarischen Spezialisten, Tökei, der die Chinesische Elegie studiert hat. Diese wird nicht länger von denen fortgeführt, die um einen gesellschaftlichen Platz ringen, sondern beispielsweise von einem befreiten Sklaven. Ein Sklave, wie unglücklich er auch sein mag, hat zumindest eine

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gesellschaftliche Stellung. Ein befreiter Sklave steht außerhalb von allem. Wie nach der Sklavenbefreiung und dem Verbot der Sklaverei in Amerika oder auch in Russland. Für sie ist kein gesellschaftlicher Status vorgesehen. Sie sind aus jeder Gesellschaft ausgeschlossen, wie sie bereits in TAUSEND PLATEAUS mit Tökei gezeigt haben. Dort entsteht die große Klage. Trotzdem drückt die große Klage nicht den Schmerz aus, den sie empfinden, es ist eher eine Art von Lied als Ausdrucksweise. Deshalb ist die Elegie eine derart große Quelle der Dichtung.

Unter großem Gelächter Parnets gesteht Deleuze, daß er, wenn er kein Philosoph, sondern eine Frau geworden wäre, ein Klageweib hätte werden wollen. Die Klage erhebt sich und sie ist eine Kunst. Zudem besitzt die Klage eine verräterische Seite, wenn man hört: Hör' nicht auf mein Klagen, kümmer' Dich nicht um mich, mach' Dir keine Gedanken, ich schaff' das schon selbst. Wenn man sich jedoch selbst darum kümmert, verändert sich die Klage: Was geschieht, ist zu überwältigend für die eigene Person. Es ist Glück, Glück in seiner reinsten Form. Aber wir geben uns alle Mühe, das zu verbergen, denn es gibt eine Reihe von Leuten, die es gar nicht gern sehen, daß man glücklich ist. Also versteckt man es in einer Art Klage oder Seufzer. Auch wenn die Klage nicht immer Glück ist, sie kann ebenso unbequem sein. Man erkennt, daß eine Kraft ihren Preis fordert: Man fragt sich dann, lohnt es sich, die eigene Haut zu riskieren. Jedes Mal, wenn man eine Kraft spurt - wie der Maler, der einer Farbe näher kommt -, riskiert man dann etwa nicht sein Leben? Deleuze beharrt darauf, Van Goghs vorsichtige, zögernde Annäherung an die Farbe zu bedenken und das Glück, das er empfunden hat. Was mehr mit seinem Wahnsinn zu tun hat, als all die psychoanalytischen Geschichtchen einem weismachen wollen. Man riskiert, an etwas zu zerbrechen, das überwältigend ist. Das zeichnet eine Klage aus. Etwas, das zu stark ist, das über einen selbst hinausreicht. In Glück oder Unglück. Leider meistens im Unglück.

K WIE IN KANT

Parnet stellt fest, daß von allen Philosophen, über die Deleuze geschrieben hat, Kant am weitesten entfernt von seinem eigenem Denken scheint . Trotzdem räumt Deleuze ein, daß alle Autoren, über die er geschrieben hat, etwas Gemeinsames besitzen. Gibt es nun eine Gemeinsamkeit zwischen Kant und Spinoza? Denn allzu offensichtlich sei diese nicht.

Deleuze zieht es vor, wenn er sich traut, zunächst auf den ersten Teil der Frage einzugehen. Warum Kant? Wo man doch gemeinhin sagt, daß weder Kant und Spinoza , noch Kant und Nietzsche etwas Gemeinsames haben, obwohl Nietzsche Kant aufmerksam gelesen hat, auch wenn sie ganz unterschiedliche philosophische Konzepte verfolgen. Was hat ihn also an Kant fasziniert? Zwei Dinge, nämlich, daß Kant ein solcher Wendepunkt gewesen und in der Philosophie so weit wie nur möglich gegangen ist. Er hat etwas entfesselt, das zuvor noch nicht vorgebracht worden ist. Außerdem hat er Gerichtshöfe errichtet, wahrscheinlich unter dem Einfluß der Französischen Revolution.

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Bisher, so Deleuze, haben sie versucht, über Begriffe in der Form von Charakteren oder Wesenheiten zu sprechen. Vor Kant, im 18. Jahrhundert, entsteht eine neue Art des Philosophen, die des Forschers. Erforschungen überall, Bücher erscheinen als Erforschung von dem oder jenem. Der Philosoph sah sich selbst als Forscher und Ermittler. Im 17. Jahrhundert noch, Leibniz ist der letzte der diese Richtung verkörpert, sah er sich als Anwalt, der in einem Fall verteidigt. Und das Beste ist, daß Leibniz Gottes Anwalt spielte. Zu der Zeit muß es einige Klagen über Gott gegeben haben. Leibniz schreibt dann ein wunderbares kleines Buch DER FALL GOTTES - Fall im juristischen Sinn von Fall -, den es zu verteidigen gilt. Das Ganze ist eine Serie von Charakteren: Der Anwalt, der ermittelnde Forscher und dann mit Kant die Ankunft des Gerichtshof, eines Gerichtes der Vernunft. Von da an werden alle Dinge als Teile und Funktionen dieses Gerichtshof der Vernunft beurteilt. Und alle Vermögen, im Sinne des Verstehens - Vorstellungskraft, Wissen, Moral - werden an ihrer Funktion innerhalb des Gerichts gemessen. Kant bedient sich selbstredend einer bestimmten Methode, die er erfunden hat. Eine gewaltige Methode, die er kritische Methode nennt, eine vollkommen Kantianische Methode.

Deleuze gesteht, daß er all diese Aspekte bei Kant furchterregend findet, doch vor Faszination und Schrecken, gerade weil sie so außergewöhnlich sind. Und durch die Beschäftigung mit den Begriffen, die Kant erfunden hat, erwägt Deleuze, daß der Begriff des Gerichtshof der Vernunft nicht zu trennen ist von der kritischen Methode. Letztlich aber ist es ein Gerichtshof des Menschenverstands, ein System menschlicher Urteile, die nicht länger Gott nötigen haben, sondern einzig die Vernunft.

Nebenbei, bemerkt Deleuze, kommt es oft vor, daß man sich mit dem beschäftigt, das einem seltsam vorkommt. Warum beschäftigt man sich mit einer bestimmten Art von Problemen und nicht mit einer anderen? Worin besteht die Zuneigung zu einer besonderen Art von Problemen? Es mag sogar Schicksal sein, schließlich beschäftigt man sich nicht mit jedem beliebigen Problem. Deleuze kommt es so vor, daß dies auf jeden Fall auf die Forscher in den Wissenschaften zutrifft, die Neigung zu einem besonderen Problem. Die Philosophie ist ein Ansammlung von Problemen, mit ganz eigenen Zusammenhängen und sie gibt glücklicherweise nicht vor, mit allen Problemen zu tun zu haben. Für seinen Teil fühlt er sich zu Problemen hingezogen, die Wege suchen, mit dem System der Gerichtshöfe und Richter fertig zu werden, ein großes "Nein!". Man sollte etwas völlig anderes zu tun.

Deleuze muß an etwas denken, das Parnet bereits gesagt hat, Kant ist eine andere Erweiterung. Betrachtet er Spinoza und Nietzsche, in der Literatur D.H. Lawrence und schließlich mit Artaud einen der größten und zugleich jüngsten Schriftsteller, dann muß man die Bedeutung von Artauds SCHLUSS MIT DEM GOTTESGERICHT nicht als die Worte eines Verrückten ansehen, sondern sie wörtlich nehmen, betont er.

Und im Untergrund, beharrt Deleuze, immer muß man auch in die Abgründe der Begriffe blicken, gibt es einige aufregende Aussagen Kants, wundervoll. Kant war der erste, der auf aufregendste Weise durch ihre Umkehrung Begriffe neu erschaffen hat. Es macht ihn traurig, wenn die Leute, besonders junge Leute, die sich auf eine Prüfung

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vorbereiten, abstrakt und leblos unterrichtet werden, aber noch nicht einmal den Versuch unternehmen, an Problemen teilzuhaben, die eigentlich fantastische Probleme sind. Beispielsweise wurde vor Kant die Zeit aus der Bewegung hergeleitet, sie war als Zahl oder Maß stets in Bezug zur Bewegung gesetzt. Was tut nun Kant? Deleuze stellt heraus, daß alles, was er gerade darstellt, der Klärung der Frage nach dem Erschaffen von Begriffen dient. Kant schafft einen Begriff, indem er die Hierarchien umkehrt, so daß nun, die Bewegung von der Zeit abhängt. Und plötzlich ändert die Zeit ihre Natur, sie hört auf zikulär zu sein. Zuvor, als die Zeit von der Bewegung abhing, der großen, periodischen Bewegung schwerer Körper, war sie zirkulär. Auf der anderen Seite, sobald die Zeit von der Bewegung befreit wird und die Bewegung nun von der Zeit abhängt, wird die Zeit zu einer geraden Linie. Deleuze führt etwas an, das Luis Jorge Borges sagte - auch wenn es nicht viel mit Kant zu tun hat -, erschreckender ist nicht das runde, also zirkuläre Labyrinth, sondern das auf einer geraden Linie, wunderbar, aber es war Kant der die Zeit entfesselt hat.

Und der Gerichtshof, Deleuze weiter, der jedem Vermögen eine bestimmte Rolle als Funktion eines bestimmten Ziels zuwies, mit eben dem geriet Kant zum Ende seines Lebens aneinander. Er ist einer der wenigen Philosophen, die als alter Mann ein Buch schreiben, das alles verändert und erneuert, DIE KRITIK DER URTEILSKRAFT. Er kommt zu der Idee, daß alle Vermögen ungeordnete Beziehungen zueinander haben, daß sie miteinander kollidieren und wieder in Einklang geraten usw., aber nicht länger von einem objektiven Urteil abhängig sind. Er führt den Begriff des Sublimen ein, durch den die Vermögen miteinander in Konflikt treten können, so daß sich dissonante Akkorde bilden. Das Labyrinth und die Umkehrung seiner Bezugsgrößen bereiten Deleuze größte Freude: Jede moderne Philosophie entspringt an diesem Punkt, mit der Zeit und ihrer Umkehrung in Bezug auf die Bewegung, als auch mit Kants Begriff des Sublimen und den dissonanten Akkorden. Deleuze ist sehr bewegt von diesen Dingen. Kant ist ohne Frage ein großer Philosoph und es gibt eine Menge Dinge, die in seinem Werk im Untergrund passieren, was Deleuze enthusiastisch macht. Alles, was darüber gebaut ist, kümmert ihn nicht, doch will er es nicht bewerten. Es ist ein Gerichtssystem und er würde sich lieber fern davon halten und ohne Maßregeln und Urteile auskommen.

Parnet versucht, Deleuze nach Kants Leben zu fragen, da das Videoband ausläuft, und Deleuze erklärt, darüber hätten sie zuvor nicht gesprochen. Also stellt Parnet eine andere Frage: Es gibt einen Aspekt in Kants Werk, der auch ihm sehr gefallen könnte. Ein Aspekt den Thomas De Quincey in DIE LETZTEN TAGE DES IMMANUEL KANT anführt, das faszinierend geregelte Leben, voll mit Gewohnheiten, Beschäftigungen und Schrullen, seinem kleinen täglichen Spaziergang, das fast mythische Bild eines Philosophen. Parent schließt damit, dieses Bild träfe ebenso auf Deleuze zu, die Regelmäßigkeiten und die enorme Zahl an Gewohnheiten...

Deleuze lacht, und meint, er versteht, worauf sie hinaus will und De Quinceys Buch ist äußerst spannend, ein wirkliches Kunstwerk. Aber er findet diesen Aspekt bei allen Philosophen, nicht mit denselben Gewohnheiten, aber zu sagen, daß sie Gewohnheitstiere sind, schließt ein, daß sie nicht vertraut sind mit... Er führt den Satz nicht zu Ende. Gewohnheitstiere zu sein, wird schon fast von ihnen erwartet... Spinoza

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genauso... Deleuzes Eindruck von Spinoza ist, daß es nichts Überraschendes in seinem Leben gibt, er polierte seine Linsen, empfing Besucher. Ein sehr aufregendes Leben ist es nicht gewesen, bis auf die politische Ungewißheit zu der Zeit. Kant lebte auch in politisch sehr angespannten Zeiten. Das, was die Leute so über Kants Ankleideapparaturen sagen mögen, seine Strumpfhalter, etc., empfindet er eher als charmante Verschrobenheit, sofern man solche Dinge braucht. Es ist ein wenig, wie Nietzsche sagt, Philosophen sind in der Regel einfach und arm, aber Nietzsche fügt die Frage hinzu: Wie macht man diese Einfachheit und Armut nutzbar? Kant hatte seinen kleinen Spaziergang, was als solches überhaupt nichts ist: Was aber geschah auf diesem kleinen Spaziergang? Was sah er sich an? Auf lange Sicht entspricht das Gewohnheitsmäßige der Philosophen einer gewissen Art des Denkens, dem Nachsinnen über etwas. Was seine Gewohnheiten angeht, so gibt es da einige. Aber auch diese sind eine gewisse Art des Denkens und zugleich eine gewisse Art von Dingen, die sich nur ihm zeigen.

L WIE IN LITERATUR

Deleuzes Leben, beginnt Parnet, besteht aus Literatur und Philosophie. Wieder und wieder liest er die große Literatur (la grande literature) und behandelt die großen Schriftsteller wie große Denker. Zwischen den Büchern über Kant und Nietzsche hat er PROUST UND DIE ZEICHEN geschrieben, das er in drei erweiterten Fassung erneut veröffentlicht hat. Er hat über Lewis Carroll und Emile Zola in LOGIK DES SINNS geschrieben, über Sacher-Masoch , über Kafka und sowohl über Englische als über Amerikanische Literatur . So daß man den Eindruck bekommen könnte, er schöpfe eher aus der Literatur als aus der Geschichte des Denkens eine neue Art des Denkens. Ist er schon immer ein Leser gewesen?

Ja, antwortet Deleuze, obwohl es einen Punkt gab, als er fast ausschließlich Philosophie gelesen hat, während seiner Lehrzeit, da blieb nicht viel Zeit für Romane. Durch sein ganzes Leben hindurch hat er aber gelesen, mehr und mehr. Hilft einem das in der Philosophie, fragt er. Ganz gewiß, er verdankt Fitzgerald und Faulkner eine Menge, selbst wenn die beiden nicht unbedingt als philosophische Schriftsteller gelten. Wobei er gar nicht so recht weiß, welche Autoren wichtig für ihn sind.

Er fährt fort damit, daß das Lesen eine Funktion innehat, über die sie bereits gesprochen haben. In der Geschichte des Begriffs ist der Begriff niemals allein: Im selben Moment, in dem er erschaffen wird, bringt er uns dazu, Dinge zu sehen. Es gibt da Verbindungen mit den Perzepten. Entdeckt man ein Perzept in einem Roman, so findet ein unmittelbarer Austausch zwischen Begriff und Perzept statt. Es gibt ebenfalls stilistische Probleme, die in Philosophie und Literatur dieselben sind. Deleuze schlägt vor, das Problem in einfachen Worten zu fassen: Die großen literarischen Figuren sind stets auch großartige Denker. Immer wieder liest er Melville und Kapitän Ahab schätzt er als großen Denker. Bartleby ebenfalls, auf seine eigene Weise. Ihretwegen hat man den Eindruck, daß ein literarisches Werk eine Menge an Begriffen bergen muß, wie auch

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eine Menge an Perzepten. Was den Schriftsteller aber nicht zu kümmern braucht, schließlich kann der nicht alles auf einmal tun. Ist er doch hinreichend mit den Problemen der Perzepte und dem Erschaffen von Visionen und Ereignissen beschäftigt. Perzepte hervorrufen und Figuren erschaffen - eine erschreckende Aufgabe. Auch ein Philosoph erschafft Begriffe und es gibt große Überschneidungen. In bestimmter Hinsicht wird der Begriff zu einer Figur, einer Begriffsperson, und die literarische Figur verkörpert einen Begriff.

Deleuze sieht die Entsprechung zwischen großer Literatur und großer Philosophie darin, daß sie beide Zeugnis über das Leben ablegen. Was er zuvor Kraft oder Vermögen genannt hat, ist immer auch ein Zeugnis des Lebens. Und bei weitem sind nicht alle großen Schriftsteller in guter gesundheitlichen Verfassung. Es gibt Ausnahmen wie Victor Hugo, aber deshalb kann man noch nicht sagen, daß Schriftsteller krank sein müssen, da viele es eben nicht sind. Warum gibt es aber so viele Schriftsteller, die eine angegriffene Gesundheit haben? Sie erfahren, meint Deleuze, den Fluß des Lebens, sei es in der schwachen Gesundheit Spinozas oder Lawrences. Das entspricht der Klage, über die sie bereits sprachen: Diese Schriftsteller haben etwas gesehen, das zu groß, zu überwältigend für sie gewesen ist. Sie sind Seher, Visionäre, die dennoch das, was sie sehen, nicht ertragen und aushalten können. Also zerbrechen sie daran. Warum ist Tschechow ein dermaßen gebrochener Mann? Er sah etwas. Philosophen und Schriftsteller sind in derselben Lage, argumentiert Deleuze. Wir schaffen es, Dinge zu Gesicht zu bekommen, von denen wir uns manchmal nicht wieder erholen und nicht wieder zurück kommen. Das trifft teils auf Schriftsteller zu, eigentlich sind dies aber Perzepte auf der Grenze des Faß- und Denkbaren. Zwischen der Erschaffung einer großartigen literarischen Figur und eines großartigen Begriffs gibt es so viele Entsprechungen, deren Entdeckung ein ebenso abenteuerliches, aufregendes und mitreißendes Unternehmen darstellt.

Parnet möchte wissen, ob Deleuze sich für einen Schriftsteller im philosophischen Sinn hält, so wie man über einen Schriftsteller im literarischen Sinn spricht. Ob er ein philosophischer Schriftsteller ist, weiß Deleuze nicht, aber daß jeder große Philosoph auch immer ein großer Schriftsteller gewesen ist. Parnet stellt einen Hang der großen Philosophen zur Erfindung von Fiktionen fest. Aber Deleuze widerspricht ihr, das ist genauso wenig treffend, wie einen Maler zu fragen, warum er es nicht mal mit Komponieren versucht. Sicher kann es einen Philosophen geben, der Roman schreibt, warum auch nicht. Aber Sartre beispielsweise ist für ihn kein Romancier, auch wenn der es versucht hat. Eigentlich gibt es keinen großen Philosophen, der auch ein bedeutender Romanautor gewesen wäre. Und dennoch erschaffen auch die Philosophen Figuren und ihr ganz eigenes Personal: Allen voran Platon und sicher auch Nietzsche mit seinem ZARATHUSTRA. Es gibt Gemeinsamkeiten, die ständig auftreten. Der ZARATHUSTRA ist seiner Einschätzung nach ein enormer Erfolg, politisch wie literarisch, genau wie das Personal, das Platon auftreten läßt. Es gibt zwar auch Unsicherheiten, wenn man nicht sicher weiß, ob man es mit einem Begriff oder einer literarischen Figur zu tun hat. Aber das sind vielleicht sogar die bezaubernsten Augenblicke.

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Parnet kommt auf Deleuzes Schwäche für sogenannte zweitklassige Schriftsteller wie Villiers de l'Isle-Adam oder Restif de la Bretonne und sie fragt sich, ob er diese Zuneigung erst kultivieren mußte. Deleuze bedeckt mit einer Hand sein Gesicht und ist empört, wie bizarr, mitanhören zu müssen, daß Villiers ein zweitklassiger Schriftsteller sein soll. Er lacht. Bedenkt man die Frage... er hält ein, zuckt mit den Schultern. Es gibt da ein peinliches Detail, sehr beschämend... Als er noch sehr jung war, hatte er eine Manie. Er wollte einen Schriftsteller ganz lesen, das gesamte Werk. Das führte dazu, daß seine Zuneigung nicht zwingend zweitklassigen Autoren galt, auch wenn manchmal beides zusammenkam, sondern solchen, die wenig geschrieben hatten. Manch ein literarisches Lebenswerk war einfach zu groß, zu überwältigend, wie das von Hugo. Die Manie ging sogar soweit, daß er fest davon überzeugt war, Hugo sein kein großer Schriftsteller. Die Bücher Paul-Louis Courriers hingegen konnte er aus der Tiefe seines Herzens hersagen. Es stimmt schon, gesteht er, einen sentimentalen Hang zu den 'Zweitklassigen' hegt er schon, aber Villiers ist kein zweitklassiger Schriftsteller, fertig. Mit Joubert war er ebenfalls sehr vertraut, wenn auch aus einem noch beschämenderen Grund: Für ihn war es eine Art Auszeichnung mit Schriftstellern vertraut zu sein, die kaum bekannt waren... Eine Manie eben, schmunzelt er und es hat eine ganze Weile gebraucht, bis er erkannte, wie groß Hugo wirklich und der Umfang eines Werkes kein guter Maßstab ist.

Wenn sie aber nun einmal dabei sind über zweitklassige Schriftsteller zu sprechen... in der Russischen Literatur, beharrt er, gibt es nicht nur Dostojewski und Tolstoi. Man kann Nikolai Leskow doch nicht zweitklassig nennen, man findet so viele aufregende Dinge bei ihm. Auch wenn es die großen Schriftsteller zweifelsohne gibt. Es kommt Deleuze allerdings so vor, als habe er hier nicht viel zu sagen, zu den zweitklassigen Autoren. Trotzdem ist er froh, daß er zumindest versucht hat, bei irgendeinem unbekannten Schriftsteller einem seltenen Begriff oder einer außergewöhnlichen Figur zu begegnen. Nur systematisch hat er es eben nicht betrieben, auf diesem Gebiet.

Parnet erwähnt das Buch über Proust. Es ist das einzige seiner Bücher, das voll und ganz einem einzelnen Schriftsteller gewidmet ist, wo die Literatur doch eine so bedeutende Rolle in seiner Philosophie spielt. Sie wundert sich, daß er bislang überhaupt noch kein Buch über die Literatur geschrieben hat, eine Art Buch des Nachdenkens über Literatur. Deleuze verteidigt sich, er hatte keine Zeit, aber er plant ein solches Buch. Parnet meint, es verfolgt ihn. Worauf Deleuze kontert, daß er es machen wird, weil er es machen will. Wird es ein kritisches Buch, fragt Parnet. Und Deleuze antwortet, daß es eher das Problem des Schreibens behandeln wird. Was es für ihn bedeutet, literarisch zu schreiben. Übrigens kennt Parnet ja all seine Vergnügungen und Beschäftigungen, man wird also sehen, was letztlich dabei rauskommt.

Die letzte Frage unter dem großen L bezieht sich auf Deleuzes beständige Auseinandersetzung mit den großen Autoren, den Klassikern. Scheinen ihn die zeitgenössischen Autoren doch nicht sonderlich zu kümmern. Deleuze meint, er versteht worauf sie hinaus will und kann so eine zügige Antwort geben: Es ist nicht so, daß er sie nicht lesen mag. Literatur ist allerdings eine sehr besondere Aktivität, in der man einige Übung haben muß. Besonders schwer ist es da mit der aller jüngsten Produktion. Es ist

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ein Frage des Geschmacks, so wie man einen neuen Maler entdeckt. Man muß lernen, mit ihm umzugehen, das Sehen muß sich erst daran gewöhnen. Deleuze bewundert die Leute, die in Galerien und auf Vernissagen gehen und spüren können, wenn sie es mit einem wirklichen Maler zu tun haben. Er kann das nicht: Er hat fünf Jahre gebraucht, um - nein, nicht Beckett, das klappte sofort - zu verstehen, welche Erneuerungen in Alain Robbe-Grillets Büchern stecken. So war er wenigstens nicht der Dümmste unter den Dummen als er das erste Mal über Robbe-Grillet sprach. In der Literatur war er sicherlich kein Entdecker, in der Philosophie dagegen ist er zuversichtlicher. Dort ist er empfänglicher und aufmerksamer für neue Töne und Stimmungen und deren Gegenteile, die Nullnummern und Nachäffer. Was den Roman angeht, ist er zumindest so empfindlich, daß er bemerkt, was bereits gesagt worden und somit belanglos ist. Doch, eine Entdeckung hat er auf seine Art gemacht, jemanden, den er für einen großartigen jungen Schriftsteller hält: Armand Farachi. In RHIZOM sprechen Félix und er über sein Buch LA DISLOCATION, das vom IV. Kreuzzug handelt und in dem "die Sätze auseinanderlaufen und sich zerstreuen oder sich drängeln und berühren, wo Buchstaben und Typographie in dem Maße tanzen, wie der Kreuzzug deliriert. Das sind Modelle einer nomadischen und rhizomatischen Schrift."

Parnets Frage ist aber durchaus berechtigt, findet Deleuze. Man sollte aber nicht glauben, ohne Erfahrung feststellen zu können, wenn etwas Neues entsteht und erschaffen wird. Und was er stets bevorzugt hat und was ihn ganz aufrichtig entzückt und glücklich macht, ist wenn einer seiner Begriffe ein Echo durch einen jungen Maler oder Schriftsteller erfährt. Auf diese Weise gibt es Begegnungen, die ganz und gar nicht alltäglich sind, eine andere Art schöpferisch zu sein. Seine eigene Nachlässigkeit wird durch diese Begegnungen wieder wett gemacht, von den Leuten, die seine Arbeiten aufnehmen und umgekehrt.

Malerei oder das Kino, sagt Parnet, sind besonders geeignet für solche Begegnungen, da er ja manchmal dann doch in Galerien und ins Kino geht. Aber sich vorzustellen, daß er in einen Buchladen schlendert, um sich unter den Neuerscheinungen der letzten Monate umzusehen, kommt ihr doch sehr abwegig vor. Stimmt, meint Deleuze, was allerdings damit zu tun hat, daß die Literatur zur Zeit nicht sonderlich umwerfend ist. Vielleicht auch ein Vorurteil seinerseits, aber die Literatur ist durch und durch korrumpiert von all den Verkaufsstrategien und unsäglichen Literaturpreisen. Das ist alles der Mühen nicht wert.

DAS ABC... ...von Gilles Deleuze mit Claire Parnet...

M - ZRegie von Pierre-André Boutang

1996Ein Überblick vorbereitet von

Charles J. StivaleWayne State Universität

 

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ArbeistmanuskriptHergestellt und übersetzt von Christian Malycha

für die AusstellungDELEUZE UND DIE KÜNSTE

im ZKM - Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.Berlin und Karlsruhe 2oo3

Das ABC......von Gilles Deleuze mit Claire Parnet...

M WIE IN MALADIE (KRANKHEIT) 66N WIE IN NEUROLOGIE 75O WIE IN OPER 81P WIE IN PROFESSOR 89Q WIE IN QUESTION (FRAGE) 99R WIE IN RESISTANCE (WIDERSTAND) 104S WIE IN STIL 111T WIE IN TENNIS 117U WIE IN UN (EINS) 121V WIE IN VOYAGES (REISEN) 123W WIE IN WITTGENSTEIN 127X UNBEKANNT, Y UNAUSSPRECHLICH 128Z WIE IN ZICKZACK 129

Personenregister 131

Der vorliegende Text ist ein Arbeitsmanuskript. Er folgt einer von Prof. Charles J. Stivale erarbeiteten Zusammenfassung der achtstündigen Gespräche zwischen Claire Parnet und Gilles Deleuze. Daß dieser Text weder Transkription noch vollständige Übersetzung sein kann, liegt also auf der Hand. Für den von Pierre-André Boutang gedrehten Film, der eigentlich bestimmt war, nach Deleuzes Tod ausgestrahlt zu werden und schließlich, mit dessen Einverständnis, doch einige Monate vor seinem Tod gesendet wurde, ist er als erster Überblick und zur Orientierung hoffnungsvoll dennoch zu gebrauchen.

Er umfaßt in groben Zügen die Hauptstränge der Unterhaltung mit Parnets Fragen, Deleuzes Erwiderungen, beider Schweigen, Gedankensprünge und Scherze. Die Übersetzung ist von Charles Stivale autorisiert, nimmt aber zur besseren Lesbarkeit gegenüber einem fortlaufenden Fließtext eine eigenständige Neuordnung der thematischen Blöcke und inhaltlichen Absätze vor. Einige Anmerkungen sind bereits hinzugefügt, ebenso bislang noch unvollständige Literaturangaben zu den im Gespräch erwähnten Büchern.

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Was die Sprache angeht, sind vielleicht einige Beobachtungen hilfreich, die der Übersetzer Christian Enzensberger gemacht hat. Im Nachwort zu seiner Übersetzung von Lewis Carrolls ALICES ABENTEUERN erwähnt er, daß viele Kritiker dem zweiten Alicebuch vorgeworfen haben, "es wirke 'künstlich', 'ausgedacht' und viel weniger 'lebendig'" . Mitunter trifft diese Kritik auch auf den vorliegenden Text zu. Im Gegensatz zum eigentlichen Gespräch, sind Deleuze und Parnet selbstredend "nicht mehr so reich ausgemalt" , scheinbar laufen sie sogar Gefahr sprachlich "bloße Marionetten" zu werden und die "eintönige Wiederholung des 'sagte sie', 'sagte er'" tritt in den Dialogen auch noch störend hinzu. Allerdings entsteht aus diesem protokollierten Sprechen eine Art Stottern, das nicht das Stottern an sich ist, sondern eine holpernde und zum Stottern gebrachte Sprache, die den gesamten Text durchzieht. Ob zum Guten oder Schlechtem, sei jedem selbst überlassen. Aber wir haben es hier eben auch mit der Nacherzählung einer Nacherzählung zu tun, in welcher die "der Kopie entsprechende maximale Modifikation enthalten" ist. Die Übersetzungen, Einfügungen und erneuten Nacherzählungen könnten also auch "eine Art Zeitlupe, Erstarrung oder Stillstand des Textes darstellen: nicht nur des Textes, auf den sie sich beziehen, sondern auch des Textes, in den sie sich einfügen. So daß sie eine Doppelexistenz führen und einem doppelten Ideal der wechselseitigen Wiederholung des alten und des gegenwärtigen Textes entsprechen".

Und unabhängig davon lassen sich im gesamten Text erfrischende, bewegende, amüsierende und aufregende Gedanken finden, die ohne Frage lesenswert sind.

M WIE IN MALADIE (KRANKHEIT)

Als Parnet den Titel verkündet, wiederholt Deleuze leise das Wort maladie. Parnet rekonstruiert, daß er 1968, kurz nach der Fertigstellung von DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG, mit einer schwerwiegenden Tuberkuloseerkrankung ins Krankenhaus kam. Seit '68, also kurz nachdem er sich erstmals auf Spinozas und Nietzsches schlechten Gesundheitszustand bezogen hat, ist Deleuze selbst gezwungen, mit einer Krankheit zu leben. Wußte er damals, daß er schon seit einiger Zeit krank war?

Deleuze erzählt, er wußte schon eine ganze Zeit, daß er irgendetwas hat, aber wie eine Menge Leute auch keinerlei Lust verspürte, zu wissen, was es ist. Er nahm an, daß es Krebs war und es war ihm nicht eilig, herauszufinden, was es sein könnte. Daß es Tuberkulose war, wußte er nicht, zumindest solange nicht, bis er Blut spuckte und hustete. Er war das Kind von jemandem mit Tuberkulose. Bei der Diagnose gab es dann aber keine lebensgefährliche Situation, sondern Antibiotika. Es war durchaus ernst und ein paar Jahre früher hätte er wahrscheinlich nicht überlebt. '68 aber war das kein Problem mehr. Es ist auch eine Krankheit ohne viele Schmerzen und so konnte er gut sagen, es ist eine Krankheit. Ein großes Privileg dazu, eine Krankheit ohne Schmerzen zu haben und dann noch heilbar, eigentlich gar keine richtige Krankheit. Und vorher war seine Gesundheit auch nicht im besten Zustand, er wurde sehr schnell müde.

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Die Frage, geht Deleuze weiter, ob eine Krankheit die Dinge leichter macht. Nicht unbedingt. Förderlicher und bevorzugter ist, besonders als gedankliche Unternehmung, ein sehr schwacher Gesundheitszustand. Man ist nicht mit einem Mal mit seiner eigenen Gesundheit konfrontiert. Ihm kam es so vor, als würde er von da an lebendig werden. Das Lebendig-Werden ist etwas ganz anderes als das Nachdenken über die eigene Gesundheit. Ein kritischer Gesundheitszustand ist eher dazu geeignet, lebendig zu werden. Wie mit Autoren wie Lawrence oder Spinoza, über die er sprach, und daß sie etwas sahen, das so überwältigend, so intensiv war, daß es zuviel für sie wurde. Das bedeutet, es ist unmöglich zu denken, daß es genügt, etwas auf sich zu nehmen, das die eigenen Kräfte übersteigt, um diesen kritischen Zustand zu erreichen. Er selbst hatte zeitlebens eine schwache Gesundheit, was unterbewertet wurde, als man die Tuberkulose feststellte. Danach beanspruchte er allerdings alle Rechte, die mit schwacher Gesundheit einhergingen.

Von diesem Moment an, stellt Parnet fest, änderte sich Deleuzes Einstellung zu Ärzten und Medikamenten: Er mußte Ärzte aufsuchen, regelmäßig Medikamente nehmen und es war ein auferlegter Zwang, wo er doch keine Ärzte mag. Es ist zwar keine persönliche Angelegenheit, aber ja, sagt Deleuze. Auch wenn er von einigen sehr charmanten, köstlichen Ärzten behandelt wurde. Was er nicht ausstehen kann, ist die ärztliche Macht oder die Art wie sie Kräfte manipuliert - wie in den Fragen zuvor, als ob die Hälfte der besprochenen Buchstaben wieder aufgenommen und in den Blickpunkt gebracht worden wäre.

Deleuze findet es abscheulich, wie Ärzte Macht mißbrauchen. Er haßt das, niemanden persönlich, aber die medizinische Macht und die Art mit der sie gebraucht wird. Nur eine Sache hat ihn glücklich gemacht, so wie sie die Ärzte verärgerte. Es war als sie all ihre Maschinen und Test an ihm ausprobierten. Es war sehr unangenehm, besonders weil einem alle Test vollends nutzlos vorkommen. Als würden sich hinterher nur die Ärzte besser fühlen und in einer Diagnose bestätigen, die sie vorher schon kannten. Wenn sie so talentiert sind, ärgert sich Deleuze, dann spielen all die Ärzte mit diesen grausamen Tests nur, um sich später besser zu fühlen. Was ihn nun aber glücklich machte, war, daß sie jedes Mal, wenn er von einer Maschine getestet werden sollte - sein Atem war immer zu schwach, um von ihren Maschinen aufgezeichnet zu werden oder sie waren nicht in der Lage eine Herzuntersuchung durchzuführen -, wütend wurden. Und sie haßten diesen armen Patienten. Zu akzeptieren, daß die eigene Diagnose falsch war, ist eine Sache. Daß aber die Maschinen versagen, eine Unmöglichkeit.

Ihm kamen sie immer sehr roh und unkultiviert vor, auch wenn sie versuchten äußerst kultiviert zu wirken. Die Ergebnisse waren auf jeden Fall katastrophal. Ärzte sind seltsame Leute, aber sie verdienen viel Geld, das sie dann nicht ausgeben können und das ihnen rein gar nichts bringt, weil sie keine Zeit und ein anstrengendes Leben haben. Es stimmt, attraktiv findet er Ärzte nicht, aber manch einer kann durchaus ausgezeichnet sein. Auch wenn die meisten ihre Patienten wie Hunde behandeln. Ein bißchen ist das wie im Klassenkampf. Weil der eine mehr verdient, ist er umso unfreundlicher, mit Ausnahme der Chirurgen. Chirurgen sind eine ganz andere Sache. Einen Arzt neuen Typs brauchen wir, fordert Deleuze.

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Parnet will wissen, ob Deleuze ständig Medikament nehmen muß? Der bejaht, er mag das, selbst, wenn sie ihn müde machen. Parnet wundert sich, daß es ihm gefällt, Medikamente nehmen zu müssen und Deleuze bestätigt, ja, aber nur, wenn es viele sind! Zur Zeit ist die kleine Morgentablette eher zum Kapputtlachen! Aber er hält sie für nützlich und gesteht, daß er schon immer eine Schwäche für Drogen hatte, selbst in der Psychiatrie.

Während des ganzen Gesprächs reibt Deleuze sich die Augen und Hände, auch während er zuhört oder antwortet.

Parnet stellt eine Verbindung zwischen Müdigkeit und Krankheit her, sie denkt an Maurice Blanchot, wenn er über Müdigkeit und Freundschaft schreibt. In Deleuzes Leben hat die Müdigkeit stets eine große Rolle gespielt, doch es kommt ihr so vor, als sei diese ein Vorwand, um Dingen aus dem Weg zu gehen, die ihn langweilen. Die Müdigkeit ist also sehr hilfreich gewesen. Derartige Affekte führt Deleuze auf den Begriff des Vermögens zurück, was es bedeutet, eine kleine, unscheinbare Kraft zu spüren, zu tun, was man vermag. Er hält dies für einen schrecklich komplizierten Begriff, der auch mit dem verbunden ist, das zum Verlust der Kräfte und zur Kraftlosigkeit führt: Beispielsweise schwache Gesundheit oder eine Krankheit. Weiß man aber, wie man diese zu gebrauchen hat, so kann man wenigstens eine kleine Kraft erhalten. Er ist überzeugt, daß eine Krankheit zu irgendetwas gebraucht werden sollte, doch nicht bloß in Bezug auf das Leben. Auch wenn man durch eine Krankheit dafür ein ganz gutes Gespür bekommt.

Deleuze kommt es so vor, daß eine Krankheit keinen Feind darstellt und ebenfalls nichts, das den Tod ahnen läßt. Vielmehr erzeugt sie ein Gefühl für das Leben, aber nicht in der Art von "Ich möchte noch leben und sobald ich geheilt bin, dann fange ich an zu leben." Für Deleuze gibt es nichts Abscheulicheres als das Klischee des 'Lebemanns'. Eigentlich ist ein 'Lebemann' jemand mit schwacher Gesundheit. Das Problem ist sehr klar: Krankheit schärft eine Art von Vision des Lebens oder einen Sinn für das Leben. Er betont, wenn er Vision sagt, Vision des Lebens, heißt dies, das 'Leben zu sehen'. Eine Krankheit und alle Schwierigkeiten schärfen trotzdem den Blick und die Aufmerksamkeit. Sie machen empfänglich für eine Vision des Lebens, für das Leben in seiner ganzen Kraft, in seiner ganzen Schönheit. In diesem Fall ist er sich sehr sicher, sagt Deleuze.

Wie nutzt man nun aber eine Krankheit, fragt er sich. Man muß sie nutzen, sogar um sich ein wenig mehr Freiraum zu schaffen, sonst ist es sehr anstrengend. So wie, wenn man zuviel arbeitet. Man sollte das nicht tun, zu hart arbeiten. Die Frage ist, ob man daran arbeitet eine Kraft zu verwirklichen, was es wert ist, oder ob man gesellschaftlich zu hart arbeitet. Deleuze versteht die Ärzte nicht, die viel zu hart arbeiten, weil sie zu viele Patienten haben. Zu erkennen, wo der Nutzen einer Krankheit liegt, bedeutet, sich von Dingen zu befreien, von denen man sich im gesunden Leben nicht befreien könnte. Persönlich konnte er das Reisen nie ausstehen, er wußte nie wie, auch wenn er großen Respekt für die wirklichen Reisenden hat. Seine Gesundheit war allerdings so angegriffen, daß er ohne Skrupel Reiseeinladungen ablehnen konnte. Spät ins Bett zu

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gehen war auch immer ein Problem für ihn, mit schwacher Gesundheit stellte sich dieses Problem jedoch nicht mehr. Das hat alles nichts mit den Personen zu tun, die ihm sehr nahe stehen, seiner Familie, den Freunden, sondern mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen. Eine Krankheit ist außerordentlich befreiend, auf diese Art hat sie viel Gutes.

Ist Müdigkeit eine Krankheit, fragt Parnet. Deleuze meint, es ist etwas anderes, für ihn heißt das: Ich habe heute getan, was ich konnte, das war's, der Tag ist vorüber. Biologisch gesehen, sagt Müdigkeit aus, daß der Tag vorüber ist. Vielleicht gibt es auch andere Gründe, gesellschaftliche Gründe. Aber biologisch bedeutet Müdigkeit schlicht, das war's für heute, der Tag ist vorbei. Es bedeutet, daß man sich an diesem Tag nicht mehr abverlangen kann. Betrachtet man Müdigkeit auf diese Weise, ist sie kein lästiges Gefühl, sondern ein sehr angenehmes. Es sei denn, man hat den Tag über nichts getan, dann kann sie sehr quälend sein. Er ist immer empfänglich für die Zustände der Müdigkeit gewesen, diese zerfließenden, flirrenden Augenblicke. Er mag den beginnenden Zustand der Müdigkeit, das Ende von etwas. Fast wie in der Musik, wie eine Coda, die Müdigkeit als Coda.

Bevor sie auf das Alter kommen, möchte Parnet über seine Beziehung zum Essen sprechen. Nebenbei flüstert Deleuze "Ach, das Alter." Parnet resümiert, daß Deleuze Essen als etwas schätzt, das ihm Kraft gibt und ihn lebendig macht, so wie Knochenmark oder Hummer. Er hat eine sehr eigene Einstellung zum Essen, da er den Vorgang des Essens, das Verzehren nicht leiden kann. Das stimmt, nickt Deleuze, für ihn gibt es nichts Langweiligeres auf der Welt. Trinken ist äußerst reizvoll. Aber Essen? Sterbenslangweilig. Allein zu essen, ist furchtbar, aber mit jemandem zu essen, den man mag, verändert alles. Es verändert zwar nicht das Essen, aber es hilft, es durchzustehen, es ist dann nicht mehr so langweilig, selbst wenn man nichts zu sagen hat. Jeder sagt das über das Alleinessen. Das zeigt doch, so Deleuze, wie langweilig es ist. Die meisten Leute sagen, daß Alleinessen eine scheußliche Angelegenheit ist.

Deleuze erzählt, daß es aber gewiß auch Dinge gibt, die er genießt, wie seine kleinen Gesellschaften, auch wenn diese Feiern sehr selten sind, wegen einer allgemeinen Abscheu seinerseits. Was er durchaus ertragen kann, ist, wenn jemand Käse ißt - Parnet wirft ein, daß Deleuze keinen Käse mag - und für jemanden, der Käse haßt, Deleuze weiter, ist er erstaunlich tolerant. Er steht nicht auf und geht oder wirft den Käseresser hinaus. Ihm kommt der Geschmack von Käse immer wie Kannibalismus vor, Parnet muß nun sehr laut lachen, ein vollkommener Horror. Deleuze stellt sich vor, daß er nach seinem Lieblingsessen gefragt wird, ein komplett schwachsinniges Unterfangen. Zudem sind die drei Dinge, auf die er wieder und wieder kommt und als sehr sublim empfindet, eigentlich ziemlich ekelerregend: Zunge, Hirn und Knochenmark. Aber sie sind alle sehr nahrhaft. Es gibt ein paar Restaurants in Paris, wo man Knochenmark essen kann und dort kann er gar nichts anderes essen. Sie bereiten diese kleinen quadratischen Markstücke zu, sehr faszinierend, schwelgt er, Hirn, Zunge...

Deleuze versucht, diese Vorliebe etwas anders zu umschreiben, in Bezug auf das, was sie schon besprochen haben: Diese Dinge bilden eine Art Dreifaltigkeit, wenn man so

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wollte - Deleuze fürchtet, das es nun zu anekdotisch wird -, das Hirn ist der Gottvater, das Knochenmark ist der Sohn, denn die Rückenwirbel sehen wir kleine Krabben aus. Also Gott ist das Hirn, die Rückenwirbel sind der Sohn, Jesus, und die Zunge ist der Heilige Geist, die Kraft der Verkündung. Oder, Deleuze zögert ein wenig, das Hirn ist der Begriff, das Mark der Affekt und die Zunge das Perzept. Deleuze bittet Parnet, ihn nicht zu fragen warum, ihn scheint es zumindest eine Trias zu sein, so wie... Er bricht den Satz ab.

Was zeichnet nun ein fantastisches Mal aus? Und er fragt sich, ob er einmal alle drei Dinge zusammen gegessen hat. Vielleicht mit Freunden, auf einem Geburtstag? Parnet fängt an zu lachen, sie machen Dir ein Essen mit solchen... Deleuze muß grinsen, 'Na, das war eine Feier.' Er lacht und ist sehr amüsiert. Parnet faßt sich, denn neben dem Verzehr dieser Dreifaltigkeit sollten sie auch noch über das Alter sprechen. Deleuze gluckst, ja, ja, alle drei auf einmal zu essen, das wäre zuviel und Parnet prustet, 'Ja, ekelig!"

Wieder flüstert Deleuze "Ach, das Alter..."

Für ihn ist Raymond Devos jemand, der sehr treffen über das Alter gesprochen hat , wahrscheinlich sogar am treffensten. Das Alter ist eine blendende Zeit, findet Deleuze. Es gibt zwar kleine Wehwehchen, wie die Langsamkeit, die einen überkommt. Schlimm ist es allerdings, wenn jemand sagt, 'So alt bist Du doch gar nicht.' Dieser jemand hat gar nicht verstanden, was mein Klagen soll. Ich klage, sagt Deleuze, oh, ich bin alt. Aber doch nur, um die Kräfte des Alters herbeizurufen. Und dieser jemand versucht dann, mich aufzuheitern: 'Nein, Du bist doch gar nicht alt.' "Also verpasse ich ihm einen Schlag mit meinem Stock", amüsiert sich Deleuze - Parnet lächelt -, "weil er so frei war, mir eine Altersdepression zu unterstellen." Er hätte besser gesagt, 'Genau, eigentlich hast Du recht.' Denn es ist das reinste Glück, Glück überall, bis auf die Langsamkeit dann und wann.

Was im Alter furchtbar ist, setzt Deleuze neu an, sind Schmerzen und Elend, aber sie sind nicht Teil des Alters. Was das Alter sonst so erschütternd und traurig macht, sind die armen Leute, die weder Geld, noch Gesundheit haben, nur schwache Gesundheit und viele Schmerzen. Das ist grauenerregend, aber es gehört nicht zum Alter, denn das ist ganz und gar nicht böse. Mit ein wenig Geld und einem Rest an Gesundheit, ist das Alter großartig, das man erreicht hat. Es ist kein Triumph, bloß das Gefühl es bis hierher geschafft zu haben, nachdem es auf der Welt auch Kriege und tödliche Viren gibt, denen man im Laufe des Lebens nun mal begegnet.

Und es ist ein Alter, in dem es nur noch eine Frage gibt: Das Leben. "Was war es denn nun, was ich während meines ganzen Lebens gemacht habe?" Es ist nicht mehr wichtig, das zu sein oder jenes, das Alter ist eine Zeit, in der man einfach lebt. Das ist alles. Er lebt, ganz einfach. Wer hat denn sonst das Recht zu so etwas? Eine alte Person kann zwar sagen, sie hat Pläne, das trifft zu und auch wieder nicht. Auf jeden Fall sind es andere Pläne als die mit 3o. Deleuze hofft, noch zwei Bücher schreiben zu können, eines über die Literatur und ein anderes philosophisches. Aber letztlich ist er frei von allen

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Plänen. Wenn man alt ist, ist man nicht mehr so leicht aus der Ruhe zu bringen. Es gibt dann keine großen Enttäuschungen mehr. Es kümmert einen viel weniger und man schätzt die Leute, so wie sie sind. Das Alter bringt für ihn eine Wahrnehmung von Dingen mit, die er nie zuvor gesehen hat: Elegante Dinge (des élégances), um die er sich sonst nie geschert hat. Er sieht inzwischen auch besser, denn er betrachtet die Leute wie er einem Bild entgegentreten würde, dem Perzept einer Person.

Es gibt Tage, berichtet er, die mit ihrer Müdigkeit nur so dahin schwinden, aber Müdigkeit ist eben keine Krankheit. Sie hat nichts mit dem Tod zu tun, ehr ist sie ein Anzeichen dafür, daß der Tag sich gen Ende neigt. Sicher gibt es die kleinen Qualen des Alters, aber man lernt, wie man sie verscheucht, sehr leicht sogar. Sie sind wie kleine Werwölfe oder Vampire und allein sollte man nicht sein, wenn es kalt wird, man ist zu langsam, um zu überleben. Mit einigen Dingen schlägt man sich halt herum, aber was hervorragend ist, ist, daß die Leute von einem ablassen, die Gesellschaft entläßt dich. Diese gesellschaftliche Entlassung ist wunderbar. Nicht daß die Gesellschaft ihn dermaßen hart in ihren Klauen gehabt hätte. Aber jemand der nicht so alt ist wie er, der nicht in Rente ist, kann sich nur schwerlich vorstellen, wie erleichternd dieses Gefühl des Glücks ist. Offensichtlich wollen die Leute, die über das Alter klagen, nicht alt sein oder nicht so alt wie sie es sind. Sie ertragen es nicht, in Rente zu sein, was Deleuze nicht nachvollziehen kann. Sie könnten doch etwas neues entdecken. Er ist überzeugt davon, daß Rentner durchaus noch eine neue Beschäftigung finden können.

Man muß sich einmal kräftig durchschütteln, schlägt er vor, daß all die lebenslang angesammelten Parasiten und Schmarotzer von den Schultern fallen. Was bleibt dann? Nichts, außer den Personen, die man liebt. Die Personen, die einen unterstützen und die einen lieben, wenn das nötig werden sollte. Den Rest kann man ruhig über Bord werfen. Schlimm ist nur, wenn diese Dinge wieder zurückkommen. Deleuze kann gesellschaftliche Verpflichtungen nicht ausstehen. Etwas, das auch mit der Rente zusammengeht. Er gefällt sich sehr als gesellschaftlich Unbekannter. Katastrophal ist es aber, wenn nun jemand hergeht und denkt, er gehöre noch zur Gesellschaft, und nach einem Interview fragt. Er hält ein und meint dieses ABC sei etwas anderes, denn es paßt ausgezeichnet in seine Vorstellung des Alters. Wenn ihn aber nun jemand um ein Interview bittet, würde er ihn am liebsten fragen, ob er noch ganz richtig im Kopf sei. Sind sich solche Leute gar nicht bewußt, daß er alt ist und die Gesellschaft ihn entlassen hat? Er lacht.

Die Leute verwirren zwei Dinge: Man sollte nicht über die Alten sprechen, außer über Elend und Leiden. Denn ist man alt, gibt es wenig andere Worte außer elendig oder leidend. Eine rein alte Person aber, die nichts anderes ist als alt, das bedeutet, daß man einfach lebt.

Parnet meint, mit dem kranken, müden und alten Deleuze - worauf der anfängt zu lachen -, ist es manchmal schwer für die Leute um ihn herum, die nicht so alt sind wie er: Seine Kinder oder seine Frau. Deleuze erwidert, für seine Kinder, Emilie und Jullien, sei das weniger ein Problem. Mitunter als sie noch jünger waren, aber mittlerweile sind sie alt genug und führen ihr eigenes Leben und er fällt ihnen nicht zur Last. Außer vielleicht in

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Dingen der Zuneigung, wenn sie sagen, ach, er sieht so müde aus. Für Fanny, seine Frau, ist es auch kein Problem, überlegt er, auch wenn es das sein könnte. Es ist recht schwer, jemanden, den man liebt zu fragen, was er in einem anderen Leben getan hätte. Er vermutet, daß Fanny wahrscheinlich gern mehr gereist wäre. Doch fragt er sich, was sie großartig anderes entdeckt hätte, wenn sie denn mehr gereist wäre. Denn sowohl Fanny, als auch Parnet, bemerkt er, haben einen weiten literarischen Hintergrund. Fanny konnte also ausgezeichnete Dinge beim Lesen von Romanen kennenlernen, das ist wie Reisen, "Denken ist Reisen." Es mag da bestimmt Probleme geben, aber die entziehen sich seiner Kenntnis.

Um ein Ende zu finden, will Parnet etwas über seine Pläne hören, über den literarischen und über WAS IST PHILOSOPHIE?. Wenn er solche Dinge in Angriff nimmt, was findet er als alter Mann angenehm daran? Sie kommt darauf, daß er eingeräumt hat, beide vielleicht nicht zu beenden, aber daß sie ihn amüsieren. Für Deleuze ist es eine fantastische Entwicklung, wenn man alt ist, bekommt man eine Ahnung dessen, was man zu tun hofft und diese wird klarer, immer und immer klarer. Inzwischen ist seine Arbeit fast wie diese berühmten Japanischen Tuschezeichnungen. Die einzelnen Linien sind so klar und rein und es gibt nicht außer diesen kleinen Linien. So arbeitet er an seinem Altherrenprojekt, das so klar und so rein, so unscheinbar und leicht sein wird. Und zugleich doch alles umfassen wird, wunderbar. Es ist gewissermaßen eine Nüchternheit, die man erst spät im Leben erreichen kann.

Er kommt auf WAS IST PHILOSOPHIE? und die gemeinsame Arbeit mit Félix daran: In seinem Alter ist es zunächst einmal sehr unterhaltsam, das Gefühl zu haben, die Antwort zu kennen und zudem der Einzige zu sein, der sie kennt. Als hätte er einen Bus genommen und keiner der anderen Fahrgäste wüßte davon, worauf Parnet lachen muß. All das amüsiert ihn sehr. Vielleicht hätte er ein Buch wie WAS IST PHILOSOPHIE? vor 3o Jahren schreiben können. Es wäre sehr verschieden von dem gewesen, an welchem er heute schreibt. Er ist da sehr nüchtern… ob es nun gelingt oder nicht… nun weiß er, daß er ein solches Buch schreiben kann. Früher wäre er dazu nicht in der Lage gewesen. Doch nun fühlt er, daß es ihm möglich ist, irgendetwas in der Art zu tun, in jedem Fall etwas, das nichts ähnelt, was... gut.

Deleuze er beendet den Satz nicht, das Bild friert ein und der Abspann der zweiten Kassette beginnt.

N WIE IN NEUROLOGIE

Parnet kündigt diesen Buchstaben als Verbindung zwischen Neurologie und dem Hirn an. Worauf Deleuze erzählt, daß ihm die Neurologie immer sehr schwer gefallen ist, ihn aber dennoch fasziniert. Um die Antwort geben zu können, bringt er die Frage auf, was wohl im Kopf vor sich geht, wenn man eine Idee hat. Gibt es keine Ideen, ist der Kopf nichts anderes als kaputter Flipper. Was spielt sich im Kopf ab? Es gibt da keine ausgetreten Pfade, denen man folgen könnte und auch keine vorgefertigten

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Assoziationen. Aber es passiert etwas, wenn man nur wüßte was. Und genau das fasziniert Deleuze. Denn wenn man das verstünde, versteht man alles, nur die Lösungsansätze wären eben sehr unterschiedlich. Er erklärt dies: Zwei Extreme im Hirn können sehr wohl in Austausch miteinander treten durch die elektrischen Ladungen der Synapsen. Und im anderen Fall ist es komplexer, den es gibt da auch Unterbrechungen und die Löcher müssen dann übersprungen werden. Das ganze Hirn, sagt Deleuze, ist voller Abgründe, so daß diese Übersprünge unentwegt innerhalb einer Art Wahrscheinlichkeitssystems stattfinden, es "funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen" . Er glaubt, daß die Beziehungen zwischen zwei Verbindungsteilen auf reinen Wahrscheinlichkeiten beruhen. Der Austausch im Hirn ist also durchweg unsicher, gerade weil von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit abhängt. Was bringt uns also zum Denken, man könnte zwar entgegenhalten, daß irgendjemanden überhaupt nichts einfällt, aber es bleibt die alte Frage nach der Assoziation, der Verbindung von Ideen. Man wundert sich doch, wenn man auf einen Begriff stößt oder ein Kunstwerk betrachtet. Man muß in einer solchen Situation einmal eine Karte des Hirn skizzieren, die Entsprechungen, all die Dingen, die den Austausch weiterbringen und an welchen Punkten er unterbrochen wird.

Eine Sache begeistert Deleuze besonders, die Geschichte, die von den Physikern gebraucht wird, die 'Bäcker-Umformung': Man nimmt ein Stück Teig und knetet es, breitet es zu einem Rechteck aus, faltet es einmal und zieht es dann wieder zu einem Rechteck auseinander usw. Man nimmt eine Reihe an Umformungen vor und nach x Umformungen entstehen notwendigerweise zwei Punkte, die zwar übereinanderliegen, dennoch aber sehr weit von einander entfernt sind. Es entstehen nach x Umformungen voneinander entfernte Punkte, die trotzdem deckungsgleich sind. Betrachtet man nun das Innenleben irgendeines Kopfes, fragt sich Deleuze, findet man dann auch derartig Punkte, die sich zwar nicht verbinden lassen, zudem nach unzähligen Umformungen aber dennoch deckungsgleich sind. Wie zwischen einem Begriff und einem Kunstwerk, so gibt auch zwischen einem mentalen Produkt und einem zerebralen Mechanismus einige sehr aufregende Übereinstimmungen. Für ihn sind die Fragen 'Wie denkt man?' und 'Was bedeutet Denken?', also das Denken und das Hirn auf engste miteinander verbunden. Und Deleuze räumt der Molekularbiologie des Hirns in der Zukunft weit mehr Chancen ein als Informatik oder jeder anderen Kommunikationstheorie.

Parnet erwähnt, daß Deleuze die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts stets hervorgehoben hat, die sich ausdrücklich mit der Neurologie und einer Wissenschaft des Hirns befaßt hat. Er hat die Psychiatrie immer der Psychoanalyse vorgezogen, gerade wegen der psychiatrischen Beziehungen zur Neurologie. Ist das auch jetzt noch der Fall, will sie wissen. Vollkommen, ja, antwortet Deleuze. Wie er schon gesagt hat, es gibt da auch einen Bezug zur Pharmazie mit der medikamentösen Behandlung des Hirns und der zerebralen Strukturen, die auf molekularer Ebene festgestellt werden können, beispielsweise im Fallen von Schizophrenie. Ihm kommt so was zukünftiger vor als eine spirituelle Psychoanalyse.

Parnet hat eine methodische Frage: Es ist ja kein Geheimnis, daß Deleuze eher ein Autodidakt in diesen Dingen ist, auch wenn er neurologische oder

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naturwissenschaftliche Zeitschriften und Journale liest. In Mathematik ist er auch nicht so bewandert wie einige der Philosophen, zu denen er gearbeitet hat. Bergson hatte einen Abschluß in Mathematik, Spinoza war sehr gut in Mathematik und bei Leibniz muß man nicht erwähnen, daß er sehr, sehr gut in Mathematik gewesen ist. Wie schafft es Deleuze also, all das zu lesen? Wenn er eine Idee hat und Material braucht, um diese zu entwickeln, allerdings überhaupt nichts von dem versteht, was er da gerade liest, was tut er dann?

Es gibt da etwas, meint Deleuze, das ihm große Annehmlichkeiten bereitet. Er ist fest von der Möglichkeit überzeugt, daß es vollkommen verschiedene Lesarten derselben Sache gibt. Auch in der Philosophie ist er davon überzeugt, kein Philosoph sein zu müssen, um sie zu lesen. Die Philosophie ist nicht nur offen für dieses doppelte Lesen, es ist sogar nötig, zur selben Zeit die Philosophie diesem doppelten Lesen zu unterziehen: Ein nicht-philosphisches Lesen ist absolut notwendig, ohne es gäbe es keine Schönheit in der Philosophie. Dem nicht-philosophischen Lesen der Philosophie fehlt gar nichts, es ist bestens dazu geeignet. Er räumt jedoch auch ein, daß nicht jede Philosophie für dieses doppelte Lesen geeignet ist. Kant nicht-philosophisch zu lesen, ist nur schwer vorstellbar. Aber Spinoza - ein Bauer oder ein kleiner Angestellter könnten ihn ohne Weiteres lesen und Nietzsche sogar noch viel eher. Alle Philosophen, die er bewundert, sind so.

Es kommt nie darauf an, etwas zu verstehen, das Verstehen ist nur eine Ebene der Lektüre. Wenn man ein Bild Gaugins loben soll, gibt es zwar eine Expertise, die man auch brauchen wird, aber zudem gibt es einige außergewöhnliche Empfindungen. Wirkliche, vollkommen reine, außerordentlich gewalttätige Empfindungen, die nichts mit einer klassischen Bildbeschreibung zu tun haben. Es ist doch offensichtlich, daß man von einem Bild wie von einem Blitz getroffen werden kann, ohne auch nur irgendetwas über darüber zu wissen. Genauso kann man von einem Musikstück überwältigt werden, ohne auch nur eine Note zu verstehen. Deleuze berühren Alban Bergs Opern LULU und WOZZECK sehr, auch sein kleines Konzert ANDENKEN AN EINEN ENGEL bewegt ihn wie nichts sonst.

Er weiß zwar, daß es besser ist, über eine ausgebildete Wahrnehmung zu verfügen und trotzdem zählt im Reich des Geistes einzig, offen für jene doppelte Lektüre zu sein. Besonders wenn man nur von Zeit zu Zeit davon Gebrauch macht oder gar ein Autodidakt sein sollte. Man fängt doch ständig mit Problemen an, die von sonst woher kommen. Deleuze meint, sein Philosoph-Sein ist der Grund, auf welchem er eine nicht-philosophische Beziehung zur Musik pflegt. Was die Musik von Zeit zu Zeit aber auch sehr verwirrend für ihn macht. Genauso gut kann man auch als Musiker oder Maler, also als ausdrücklicher Nicht-Philosoph, philosophische Bücher lesen. Wenn es diese zweite Lesart, die keineswegs zweitklassig ist, nicht gibt, wenn es dieses gleichzeitige, doppelte Lesen nicht gibt, geht es einem wie dem Vogel mit nur einem Flügel. Man braucht beide. Und sogar ein Philosoph muß lernen, gerade der, argumentiert Deleuze, wie man einen anderen, großen Philosophen auf nicht-philosophische Weise liest. Das beste Beispiel ist hierfür Spinoza: Man muß Spinoza als Taschenbuch lesen, wann und wo man nur kann. Es entstehen dabei Empfindungen so groß wie in einem Musikstück. In

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seinen Seminaren ging es nie darum, irgendetwas zu verstehen. Es war ganz einfach, manchmal verstand man etwas, manchmal nicht. "Und wir alle mochten das: Mal was verstehen, das andere Mal dann eben nicht."

Deleuze kommt wieder auf Parnets Frage zur Wissenschaft, auch hier sind es Extreme: Manchmal ist es völlige Unkenntnis, manchmal aber läßt man sich auf etwas ein. Wissen oder bewußtes Nicht-Wissen, was aber dasselbe ist, um etwas zu sagen. Wenn er gewartet hätte, bis er wußte, was er schreiben wollte, also wenn er gewartet hätte, bis er wußte, wovon er sprechen wollte, dann hätte er nur gewartet, weil er nichts aufregendes zu sagen gehabt hätte. "Man schreibt nur auf dem vordersten Posten seines eigenen Wissens, auf jener Spitze, die unser Wissen von unserem Nichtwissen trennt und das eine ins andere übergehen läßt. Nur auf diese Weise wird man zum Schreiben getrieben. Behebt man die Unwissenheit, so verschiebt man das Schreiben auf morgen oder macht es vielmehr unmöglich. Vielleicht existiert hier eine noch bedrohlichere Beziehung als diejenige, die das Schreiben, wie man sagt zum Tod, zum Schweigen unterhält." Wenn man dieses Risiko nicht eingeht, sondern umweht von gebildeter Luft spricht, dann ist es nur ein weiterer Fall reiner Belanglosigkeit. Es ist die Grenze, die Wissen von Nicht-Wissen trennt, auf der man sich einrichten muß, wenn man etwas ausdrücken will. Nirgends sonst.

In der Wissenschaft ist es dasselbe, so Deleuze, und die Bestätigung dafür hat er in den wunderbaren Beziehungen zu einigen Wissenschaftlern gefunden. Sie hielten ihn nie für einen der ihren und dachten auch nicht, daß er viel von dem versteht, was sie da reden. Einige haben ihm aber auch bestätigt, daß es funktioniert, was er da tut. Wahrscheinlich funktioniert es, vermutet er, weil er so empfänglich für Echos und Resonanzen ist. Auch wenn ihm keine besseren Worte dafür einfallen. Ein Maler, den er sehr bewundert, ist Delaunay. Aber warum? Bei ihm entdeckt er erstaunliche Dinge, wie bei der Frage, was es bedeutet, eine Idee zu haben. Delaunays Idee ist es, daß das Licht die Figuren formt. Gestalten, die vom Licht geformt werden. Er malt also Lichtgestalten und nicht unterschiedliche Lichtstimmungen, wenn das Licht auf einen Körper fällt. So löst sich Delaunay von allen Objekten, er erschafft Bilder, die ohne jedes Objekt auskommen. Deleuze erzählt, daß er einige wunderschöne Dinge von Delaunay gelesen hat, wo dieser den Kubismus verreißt. Delaunay sagt, Cézanne hat es geschafft, das Objekt aufzubrechen, er hat den Krug zerbrochen. Die Kubisten aber versuchen nun verzweifelt, den Krug wieder zusammen zu leimen. Dem Verschwinden der Objekte zu Gunsten fester und geometrischer Figuren setzt Delaunay also nun Gestalten aus reinem Licht entgegen. Das ist doch etwas! Ein bildnerisches Ereignis, ein Delaunay-Ereignis!

Für Deleuze hat das alles mit Relativität zu tun, mit der Relativitätstheorie. Man muß da nicht viel wissen, denn nur das, was man sich selbst beigebracht hat, kann gefährlich sein. Er weiß nun nur relativ wenig über die Relativität und zwar Folgendes: Zwischen einzelnen Lichtstrahlen, Strahlen, denen das Licht folgt, und den geometrischen Linien, die zu den Experimenten von Michaelson gehören, findet eine völlige Umkehrung statt. Die Lichtstrahlen hängen dort von geometrischen Linien ab. Aus wissenschaftlicher Sicht eine totale Umkehrung, die alles verändert, da ein Lichtstrahl nicht so konstant ist wie eine geometrische Linie. Und alles verändert sich. Auch das ist Relativität, die

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wunderbar mit Michaelsons Experimenten einhergeht. Delaunay wendet nun zwar nicht unbedingt die Relativitätstheorie an, doch ist es eine Begegnung. Eine Begegnung zwischen einem bildnerischen und einem wissenschaftlichen Unternehmen, die beide sonst nichts miteinander zu tun haben.

Ein anderes Beispiel ist der Riemannsche Raum. Deleuze kennt zwar nicht alle Details, aber er weiß, daß der Raum Stück für Stück konstruiert wird und daß die einzelnen Verbindungen zwischen den Stücken nicht vorherbestimmt sind. Aus ganz anderen Gründen allerdings benötigte Deleuze vor einiger Zeit einen räumlichen Begriff, in dem es unsichere und nicht vorherbestimmte Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen gab. "Ich brauchte ihn!", entfährt es ihm. Also konnte er nicht fünf Jahre mit dem Versuch zubringen, Riemann zu verstehen. Das hätte ihn und seinem philosophischen Begriff kein einziges Stück weitergebracht. Und dann plötzlich, sieht er im Kino eine seltsame Art von Raum, dessen Verwendung jeder aus den Filmen Robert Bressons kennt: Kein fertiger, umfassender Raum, sondern ein wankender Raum, der sich Stück um Stück aufbaut. Man sieht kleine Stücke eines Raumes, die sich ins Blickfeld schieben und langsam zusammensetzen. Wie die Zelle in CONDAMNÉ À MORT, deren Anlage ebenfalls nicht vorherbestimmt erscheint. Warum das so ist? Es ist das Manuelle, der Tastsinn, nur so kann man die Bedeutung der Hände für Bresson ermessen. In PICKPOCKET ist es die Geschwindigkeit, mit der das gestohlene Objekt von einer Hand in die andere gelangt, die eine Verbindung herstellt zwischen den, in Großaufnahme gefilmten, einzelnen, kleinen Räumen. Bresson filmt wahrscheinlich nicht in Riemannschen Räumen, aber auch hier gibt es eine erstaunliche Begegnung zwischen einem philosophischen Begriff, einer wissenschaftlichen Funktion und einem künstlerischen Perzept. Perfekt, was will man denn mehr!

Von der Wissenschaft weiß er immerhin soviel, sagt Deleuze, daß es ihm auffällt, wenn er eine Begegnung hat. Wüßte er mehr, wäre er Wissenschaftler und nicht Philosoph. Dafür spricht er aber recht gut über etwas, von dem er nichts versteht. Aber er spricht schließlich von etwas, das er nicht versteht, als Teil dessen, was er weiß. Immerhin. Es ist alles eine Frage des Taktgefühls - ganz ohne sich darüber Lustigmachen zu wollen -, es geht doch nicht darum, sich mit einem allwissenden Duft zu umgeben, wenn man nichts weiß. Aber er ist einigen Malern begegnet und es waren die schönsten Tage seines Lebens. Keine körperlichen Begegnungen, sondern im Schreiben. Die Überwältigenste war wohl jene mit dem Ungarischen Maler Simon Hantaï in DIE FALTE , bei der wirklich etwas zwischen ihnen geschah. Auch seine Begegnung mit Carmelo Bene war etwas in dieser Art . Er hat nie Theater gespielt und versteht nichts davon, aber auch dort geschehen bedeutende Dinge. Und es gibt Wissenschaftler, denen diese Dinge genauso passieren. Deleuze erzählt, daß er einige Mathematiker kennt, die freundlich genug waren und gelesen haben, was er geschrieben hat und sie meinten, es funktioniert ganz gut.

Deleuze meint, die Luft würde zunehmend schlechter, da er immer selbstherrlicher daher rede. Ihm scheint es aber, daß es nicht darauf ankommt, viel über die Wissenschaft zu wissen oder in der Lage zu sein, sie zu verstehen, sondern schlichtweg kein dummes Zeug zu reden. Man muß Echos erzeugen. Resonanzen zwischen Begriffen, Funktionen

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und Perzepten. Mit dieser Perspektive brauchte Deleuze den Riemannschen Raum, ohne genau zu wissen, was das war. Aber es reichte.

O WIE IN OPER

Parnet beginnt damit, daß diese Überschrift zugegebenermaßen etwas von einem Scherz hat. Da, abgesehen von Alban Bergs WOZZECK und LULU, es sicher ist, daß die Oper nicht zu Deleuzes Beschäftigungen oder Vergnügungen gehört. Gegenüber Foucault oder François Chatelet, die die italienische Oper mochten, hat Deleuze niemals wirklich Musik oder Oper gehört. Was ihn reizt, ist vielmehr das populäre Lied, besonders Edith Piaf, für die er eine große Leidenschaft hegt. Sie fragt ihn also nun, ob er etwas darüber sprechen könne.

Deleuze erwidert, daß sie ein wenig hart in ihrem Urteil ist. Er hat schon eine Menge Musik gehört, allerdings vor langer Zeit. Doch hat er aufgehört, weil er zu dem Schluß kam, daß es ein bodenloses Loch ist, das zu viel Zeit verschlingt und er zu viel zu tun hat - keine gesellschaftlichen Verpflichtungen, sondern sein Begehren, zu schreiben. Er hat einfach keine Zeit, Musik zu hören oder genug von ihr zu hören.

Parnet erwähnt, daß Chatelet, während er arbeitete, Opern gehört hat, worauf Deleuze meint, er kann das nicht und er nicht sicher ist, ob Chatelet bei der Arbeit Opern gehört hat. Vielleicht und gerade, wenn er Gäste bei sich zuhause unterhalten hat. Die Oper deckte manchmal das zu, was die Leute sagen, wenn man genug davon hat. Doch für ihn funktioniert sowas nicht.

Er würde es allerdings bevorzugen, die Frage mehr auf seine Vorlieben hin zu verschieben, indem man sie dazu umwandelt: Was ist es, das eine Entsprechung zwischen einem populären Lied und einem musikalischen Kunstwerk herstellt? Dies ist ein Problem, das Deleuze faszinierend findet. Der Fall Edith Piaf, beispielsweise: Er schätzt sie als eine große Chanteuse, mit einer außergewöhnlichen Stimme. Vor allem ihre Art schief zu singen, durchweg die falsche Note zu treffen und diese richtig klingen zu lassen. Eine Art aus dem Gleichgewicht geratenes System, das sich ständig wieder fängt und behauptet. Für ihn scheint dies der Fall mit jeder Art von Stil zu sein. Etwas, das Deleuze sehr mag, da es die Probleme, die er sich stets stellt, auf die Ebene des populären Lieds anwendet: Er fragt sich, was bringt es mir an Neuem. Besonders die Arbeitsweisen, sie sollten etwas Neues hervorbringen.

Wenn etwas 1o, 1oo, 1ooo Mal gemacht wird, vielleicht sogar recht gut gemacht wird, trifft es für Deleuze, was Alain Robbe-Grillet einmal gesagt hat: Balzac war ohne Frage ein großartiger Schriftsteller, aber was für ein Interesse sollte man daran haben, heute Romane zu schreiben, wie Balzac sie geschrieben hat? Diese Art zu Arbeiten ist es, die Balzacs Romane eher beschmutzt und auf die man ebenso in allen anderen Bereichen stößt.

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Was er an der Piaf besonders bewegend findet, ist, daß sie gegenüber der vorherigen Generation, wie Frehel und Adabia, etwas Neues geschaffen hat, sogar in der Weise wie sie auftrat und in ihrer Stimme. Bei den zeitgenössischen Sängern, denkt man unmittelbar an Charles Trenet. Bezeichnenderweise meint Deleuze, noch nie jemanden wie ihn singen gehört zu haben. Er besteht darauf: Für die Philosophie, für die Musik, für die Malerei, für die Kunst, sei es ein populäres Lied oder sonst etwas, selbst Sport, die Frage ist dieselbe: Was ist Neues darin? Etwas, das nicht im Sinne einer Mode interpretiert werden kann, ganz im Gegenteil: Etwas das neu ist, ist etwas, das nicht modisch ist, vielleicht wird es dazu, aber es ist gewiß nicht modisch, da es die Leute nicht erwarten. Wenn Trenet gut gesungen hat, haben die Leute gesagt, er wäre verrückt. Das sagen sie heute nicht mehr, aber man wird ewig merken, daß er verrückt war und bleiben wird. Und die Piaf erschien uns allen grandios.

Parnet will etwas über seine Bewunderung für Claude François wissen und Deleuze sagt, daß, richtig oder falsch, er etwas Erfrischendes bei François gefunden hat: Den Versuch etwas anderes zu entdecken. Wohingegen so viele dies noch nicht einmal versuchten. Für ihn ist es dieselbe Sache, etwas Frisches zu erzeugen und versuchen, anderes zu entdecken. Die Piaf, was suchte sie? Deleuze kommt einmal darauf, was er über die schwache Gesundheit und das starke Leben gesagt hat, die Piaf ist das beste Beispiel für jemanden, der die Dinge im Leben sah, die Kraft des Lebens, die sie schließlich zerbrochen hat. Deleuze nimmt Claude François wieder auf, da er eine neue Art von Show hervorbrachte, eine Lied-Show, indem er eine Art von getanztem Lied erfindet, die ganz offensichtlich Playback beinhaltet. So viel besser oder so viel schlechter, meint er, daß sie ihm es sogar erlaubte, einige Versuche über den Klang zu unternehmen. Am Ende jedoch, war François mit einer Sache unzufrieden, die Texte seiner Lieder waren eher flach und dumm. Er versuchte, seine Texte zu arrangieren, um größere textuelle Qualitäten zu erhalten, wie in ALEXANDRIE, ALEXANDRA, einem guten Stück.

Heute, meint Deleuze, hat er nicht mehr viel mit Musik zu tun, wenn er aber einmal das Fernsehen einschaltet - ein Privileg, das er mittlerweile besitzt, seit er pensioniert ist, das Fernsehen einzuschalten, wenn er müde ist -, bemerkt er, je mehr Kanäle es gibt, desto gleicher sehen sie aus und umso nichtssagender werden sie, eine radikale Nichtigkeit. Die Herrschaft der Konkurrenz, untereinander zu konkurrieren, erzeugt dasselbe, ewige Nichtigkeit. Und die Anstrengungen, die unternommen werden, um in Erfahrung zu bringen, was den Zuschauer hier zuschauen läßt und nicht dort, sind erschreckend. Was man hört, kann man noch nicht mal mehr Lied nennen, seitdem es keine Stimmen mehr gibt, niemand besitzt mehr die geringste Stimme.

Doch meint er, laßt uns nicht klagen. Was wir doch alle wollen, fährt er fort, ist ein gewisser Bereich, der doppelt berührt würde, vom populären Lied und der Musik.

Deleuze kommt nun zu etwas, daß er und Félix entwickelt haben, zu etwas, das er für einen sehr wichtigen philosophischen Begriff hält, dem Ritornell, welches dieser derartige Bereich wäre. Für ihn ist das Ritornell dieser gewisse Bereich.

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Deleuze schlägt vor, das Ritornell als kleine Melodie zu beschreiben, "tra-la-la". Wann sage ich "tra-la-la "?, will er wissen. Er besteht darauf, daß es ein philosophisches Problem ist, sogar dann, wenn er sich fragt, wann er für sich selbst sänge. Zu drei Gelegenheiten:

Er singt diese Melodie, wenn er sich durch sein Territorium bewegt, die Möbel abwischt und das Radio im Hintergrund spielt. Er singt also, wenn er zuhause ist.

Dann singt er für sich selbst, wenn er in der Abenddämmerung noch nicht zuhause ist, die Stunde des Leidens, wenn er seinen Weg sucht und sich mit dem Singen etwas Mut macht, "tra-la-la". Auf dem Nachhauseweg also.

Und er singt für sich, wenn er sagt, "Adieu, ich gehe und ich werde dich in meinem Herzen tragen", wie das populäre Lied, das ich singe, wenn ich mein Haus verlasse, um woanders hinzugehen.

Mit anderen Worten, so Deleuze weiter, ist das Ritornell absolut - was uns wieder zu A WIE IN ANIMAL (TIER) bringt - mit dem Problem des Territoriums und ebenso dem Verlassen und Betreten desselben verbunden, beispielsweise mit der Deterritoriali-sierung. Ich kehre in mein Territorium zurück, versuche es zumindest oder ich deterritorialisiere mich selbst, ich gehe, ich verlasse mein Territorium.

Was hat das mit Musik zu tun? fragt er und hebt die Bedeutung des Herstellens von Begriffen hervor, deshalb kommt er auf das Bild des Gehirns. Mit seinem Gehirn als Beispiel, bricht es plötzlich aus ihm heraus, "das Lied". Was ist "das Lied"? Immer ist es die Stimme in einem Lied, die ihren Gesang, aus ihrer eigenen Position heraus, zu einer Funktion erhebt, die stets einem Territorium gegenübersteht. Mein Territorium, das Territorium, das ich nicht länger besitze, das Territorium, das ich wieder zu erreichen versuche, das ist es, was das "Lied" ausmacht. Sei es nun bei Schumann oder Schubert, dies ist, was grundlegend ist.

Es ist auch das, was Deleuze einem Affekt zuschreibt. Als er vorher sagte, die Musik sei die Geschichte des Werdens und in ihr die Kräfte des Werdens, war, was er meinte, etwas in dieser Art, ob bedeutsam oder unscheinbar. Er überlegt, was wirklich große Musik ist. Für ihn ist es der künstlerische Umgang mit Musik, der Produktionsprozeß. Alles fängt mit Ritornellen an, was, so Deleuze, auch noch für die abwegigsten Musiker gilt. Jeder Musiker besitzt seine eigenen Arten von Ritornellen. Spricht man nun von kleinen Melodien, sind es kleine Ritornelle. Wie auch bei Vinteuil und Proust, erst drei Töne, dann zwei, ein kleines Ritornell, das sich nicht nur in sich selbst komponiert, wie das kleine Thema der Sonate von Vinteuil, sondern sich mit anderen wechselnden Empfindungen, der einer unbekannten Passantin, der des Gesichts von Odette, der des Blattwerks im Bois de Boulogne verbindet - und alles endet im Unendlichen mit dem großen Ritornell, dem Thema des Septetts in fortwährender Verwandlung. Es sind die Ritornelle, die in jeder Musik zu entdecken sind und sogar darunter, sie sind das Wunderbare, das ein großer Musiker erschafft: Nicht bloß hintereinander aufgereihte Ritornelle, sondern vielmehr Ritornelle, die sich im Unendlichen mit dem einen großen

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Ritornell verbinden. Überall finden sich territoriale Ritornelle, die zu einem bestimmten Territorium gehören, doch genauso zu einem anderen, das sich im Herzen eines außerordentlichen Ritornells, eines kosmischen Ritornells, bilden wird.

Alles, was Karlheinz Stockhausen über die Musik und den Kosmos gesagt hat, wie die Themen wiederkehren, die im Mittelalter und der Renaissance geläufig waren, ist eine Art die Dinge zu denken, die Deleuze sehr sympathisch findet, daß die Musik eine Beziehung zum Kosmos hat.

Er spricht dann von einem Musiker, den er sehr bewundert und der ihn stark berührt, Gustav Mahler und sein LIED DER ERDE. Für Deleuze kann man es nicht besser ausdrücken. Etwas Ewiges, wie in Teilen der GENESIS, in der sich ständig kleine Ritornelle entwickeln, manchmal bloß aus zwei Kuhglocken. Das außergewöhnlich Bewegende, beschreibt Deleuze, liegt in Mahlers Arbeiten darin, wie all die kleinen Ritornelle, die, musikalisch gesehen, schon meisterhaft gemacht sind - Kneipenritornelle, Hirtenritornelle, usw. - wie sie eine derartige Komposition bilden, eine Art großes Ritornell, welches das LIED DER ERDE werden wird.

Mit Bela Bartok schlägt er noch einen solchen Fall vor, einen meisterhaften Musiker. Bei Bartok bewundert er, wie sich lokale Ritornelle, nationale Ritornelle, Ritornelle von nationalen Minderheiten verkoppeln und immer weiter verbinden und Bartok sie in einem Werk zusammenfügt, das noch lange nicht ausreichend behandelt ist.

Deleuze geht soweit Musik und Malerei als dasselbe anzusehen. Er bezieht sich auf Paul Klee, der sagt: Der Maler 'zeigt nicht das Sichtbare, sondern zeigt auf sichtbare Weise' - es gibt hierin Kräfte, die nicht sichtbar sind und für einen Musiker ist es dieselbe Angelegenheit: Der Musiker zeigt nicht das Hörbare, vielmehr zeigt er auf eine hörbare Weise Kräfte, die nicht hörbar sind. Er macht die Musik der Erde hörbar, eine Musik, die er erfindet, wie der Philosoph. Der Philosoph zeigt denkbare Kräfte, die nicht denkbar sind, die ihrer Natur nach eher roh, eher brutal sind.

Die Verkopplung der kleinen Ritornelle mit dem großen Ritornell ist das, was, so Deleuze, jede Musik ausmacht, etwas sehr einfaches, wie er findet. Es ist die Kraft der Musik, eine Kraft die eine wahrhaft kosmische Ebene schafft, so als ob die Sterne anfingen, das kleine Lied einer Kuhglocke zu singen, ein Hirtenlied. Oder, schlägt er vor, es könnte auch umgekehrt sein, es sind die Kuhglocken, die plötzlich zu himmlischen oder infernalischen Klängen erhoben werden.

Parnet wendet ein, ohne es sich genau erklären zu können, nach Deleuzes musikalisch sehr versierten Ausführungen dennoch den Eindruck zu haben, daß er durch die Musik das Sichtbare suche, durch das Ritornell. Sie sieht ihn eher vom Sichtbaren gefesselt. Sie versteht nicht ganz das Ausmaß dessen, wonach das Hörbare mit den kosmischen Kräften verbunden ist, wie das Sichtbare, zudem erwähnt sie, daß Deleuze nicht auf Konzerte geht. Irgendetwas geht ihm dort auf die Nerven und daß er keine Musik hört, dafür aber mindestens einmal in der Woche als regelmäßige Übung Kunstausstellungen besucht.

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Deleuze gibt zu Bedenken, daß es einen Mangel an Möglichkeiten und einen Mangel an Zeit gibt, was ihn jedoch vor allem an der Literatur fesselt, ist Stil. Stil, was ihn beschäftigt, betrifft das reine Hören. Er würde keine Unterscheidung zwischen dem Sichtbaren und dem Hörbaren machen. Er gibt zu, kaum noch auf Konzerte zu gehen, da es mittlerweile so kompliziert geworden ist, im Voraus zu reservieren. Das alles sind die praktischen Details des Leben, wohingegen man bei einer Kunstausstellung keine Reservierungen braucht. Aber, jedes Mal wenn er auf ein Konzert gegangen ist, war es ihm zu lang, zumindest seit seine Aufmerksamkeit immer mehr schwindet, obwohl er stets starke Gefühle empfunden hat.

Er ist sich nicht sicher, ob Parnet vollkommen falsch liegt, er denkt, daß sie ihn mitunter mißversteht, da ihr Eindruck nicht ganz stimmig ist. Auf jeden Fall ist es schwieriger als von der Malerei zu sprechen. Es findet auf der höchsten Spitze statt, das Sprechen über Musik. Parnet meint, es gäbe eine Menge an Philosophen, die über die Musik gesprochen hätten. Deleuze unterbricht sie, um zu betonen, daß der Stil klanglich ist, nicht sichtbar und es ihm auf dieser Ebene nur um Klang geht. Parnet spricht weiter: Musik ist unmittelbar mit der Philosophie verbunden, also haben viele Philosophen darüber gesprochen, zum Beispiel Vladimir Jankélévitch - Deleuze stimmt ihr zu -, aber anders als Merleau-Ponty, gibt es nur wenige Philosophen, die über die Malerei gesprochen haben. Deleuze fragt: "Wirklich?" Er ist sich nicht so sicher, ebenso Parnet, wie sie zugibt, doch Roland Barthes, Jankélévitch, selbst Foucault haben über Musik gesprochen.

Deleuze macht eine abschätzige Geste als sie Foucault erwähnt. Foucault sprach nicht über Musik, sagt Deleuze. Es war ein Geheimnis für ihn, seine Beziehungen zur Musik waren ein völliges Geheimnis. Parnet beharrt aber darauf, daß er mit einigen Musikern sehr verbunden war. Deleuze will darüber nicht sprechen, das sind Geheimnisse, über die Foucault nicht sprach. Parnet nimmt dies auf und fährt fort, daß Foucault mit der musikalischen Welt sehr verbunden war, selbst im Geheimen. Worauf Deleuze bloß erwidert: Ja, ja, ja...

Parnet kommt zu Berg, der für ihn eine Ausnahme bildet... Er nimmt dies auf: Ja und um seine Bewunderung zu erklären, kommt er zu der Frage, warum jemand etwas liebt. Er wisse nicht genau warum, doch zur selben Zeit entdeckte er dieses Musikstück für Orchester... - wie schon zuvor, hat Deleuze Schwierigkeiten zu schlucken, hält ein und sagt: "Da sieht man, was ein alter Mann ist..." - Er räuspert sich: "Man findet die Namen nicht mehr... Das Orchesterstück von seinem Lehrer..." Parnet sagt ihm den Namen... "Von Arnold Schönberg." Vor nicht allzu langer Zeit, so Deleuze, hat er diese Orchesterstücke fünfzehnmal hintereinander aufgelegt und hatte einige ganz und gar überwältigende Augenblicke. Zur gleichen Zeit, entdeckte er Berg, dem er über Tage zuhören kann.

Aber auch dies ist ein Problem der Beziehung zur Erde. Mahler war jemand, den er erst viel später kennengelernt hat, doch es sind die Musik und die Erde. Bei sehr alten Musikern gibt es eine umfassende Verbindung von Musik und der Erde, das Ausmaß dieser Verbindung in den Arbeiten von Berg und Mahler jedoch, empfand er als etwas

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äußerst Überwältigendes. Das heißt, die Kräfte der Erde hörbar machen, wie im WOZZECK, einem der großen Texte, da es die Musik der Erde ist.

Parnet stellt fest, daß es darin viele Schreie gäbe und er Schreie sehr mag. Deleuze bejaht dies, es gibt eine Beziehung zwischen Gesang und Geschrei, sogar soweit, daß die Wiener Schule dazu in der Lage war, diese Beziehung wieder als Problem einzuführen. Die zwei Schreie, die ihn nie langweilen würden, der horizontale Schrei, der an der Erde entlang fließt im WOZZECK und der völlig vertikale Schrei der Gräfin in LULU, sie sind etwas wie ein dichtes Zusammenkommen jeglicher Schreie.

All das fasziniert Deleuze ebenso in der Philosophie, dort finden sich Lieder und Schreie, wirkliche Lieder der Philosophie. Auch Begriffe sind Lieder und es gibt Schreie in der Philosophie. Plötzlich sagt Aristoteles: Du mußt aufhören! Oder ein anderer, der sagt: Nein, ich werde nie aufhören! Wie Spinoza: "...was der Körper vermag..." Wir wissen nicht einmal, was ein Körper vermag. Die Beziehung Schrei-Lied oder Begriff-Affekt ist also beinahe dieselbe. Sie ist etwas, das er ganz und gar akzeptiert. Etwas, das ihn sehr stark berührt.

P WIE IN PROFESSOR

Parnet stellt fest, daß Deleuze mittlerweile 64 Jahre alt ist und seit nahezu 4o Jahren unterrichtet. Zuerst als Gymnasiallehrer, dann als Professor an verschiedenen Universitäten. 1988 hat Deleuze allerdings keine Seminare mehr vor sich und sie will nun wissen, ob er diese vermißt, da er ein leidenschaftlicher Lehrer gewesen ist. Vermißt er es, nicht mehr zu unterrichten? Nein, sagt Deleuze, ganz und gar nicht. Die Seminare waren zwar ein wichtiger Teil seines Lebens, aber seitdem er in Rente ist, hat er auch keine Sorge mehr, zu spät im Seminar zu erscheinen. Einfach gesprochen: Die Seminare haben zwar Entsprechungen in anderen Bereichen, aber ihre Vorbereitung hat enorm viel Zeit gekostet. Wie bei allen Tätigkeiten, für fünf oder zehn Minuten der Inspiration, bedarf es ewiger Vorbereitungen. Deleuze mochte das immer sehr, die umfangreichen Vorbereitungen, um diese kurzen Augenblicke der Inspiration zu erreichen. Mit den Jahren aber wurde, je länger er sich vorbereitete, die Inspiration stetig geringer. Es war an der Zeit, aufzuhören. Auch wenn es ihn nicht glücklich gemacht hat, ganz und gar nicht, er hat die Seminare wirklich genossen. Aber er brauchte sie mit der Zeit einfach nicht mehr. Und inzwischen hat er das Schreiben, das ihm andere Probleme bereitet. Den Unterricht hat er aber immer sehr geliebt.

Parnet fragt, worin diese Vorbereitungen bestanden und wie lange sie dauerten. Deleuze erzählt, es ist wie mit jeder anderen Sache auch. Man probt für das Seminar. Wie im Theater oder beim Singen gibt es Proben. Und wenn man nicht ausreichend geprobt hat, gibt es keine Inspiration. In einem Seminar muß es diese Augenblicke der Inspiration geben, sonst ist alles völlig bedeutungslos. Parnet kann sich nicht vorstellen, daß er im Seminarraum geprobt hat und Deleuze antwortet, sicherlich nicht. Jede Tätigkeit hat verschiedene Inspirationsmodi. Es kommt dabei darauf an, etwas in den Kopf des

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Gegenübers zu bekommen. Das bedeutet, man muß es schaffen, über etwas Bewegendes zu sprechen. Es ist offensichtlich, daß ein Sprecher, der sich nicht für das interessiert, was er da gerade sagt… und das kann man nur durch Sprechen herausfinden, was einen berührt und was man für wichtig hält. Das hat nichts mit Eitelkeit zu tun, wenn man die eigenen Gedanken für leidenschaftlich und wichtig halt. Es sind schließlich die eigenen Beschäftigungen, die man abhandelt und darstellt, da muß man leidenschaftlich sein. Und manchmal muß man sich dabei selbst hart angehen und vorwärts peitschen. Es kommt nicht so sehr darauf an, interessant zu sein, sondern in Bewegung zu geraten und angerührt zu sein. Man muß den Punkt erreichen, von dem man dann enthusiastisch und voller Leidenschaft sprechen kann.

Deleuze brauchte das jedoch weniger und weniger. Auch wenn die Seminare etwas ganz besonderes waren. Eine Art Würfel mit einer ganz eigenen Raum-Zeit, in dem so viele Dinge passierten. Vorträge mochte er nie besonders, die haben immer eine zu knappe Raum-Zeit. Ein Seminar ist etwas anderes, das sich von Woche zu Woche erstreckt. Es ist ein Raum und eine sehr, sehr spezielle Zeitlichkeit, etwas, das sukzessive voranschreitet. Es gibt völlig eigenartige Entwicklungen innerhalb eines Seminars. Auch die Leute verändern sich von Woche zu Woche. Das Publikum in einem Seminar, schwärmt Deleuze, ist immer sehr aufregend.

Parnet kommt auf den Beginn seiner Laufbahn als Gymnasiallehrer. Deleuze aber meint, daß bedeutet alles nichts mehr, da hat sich viel zu viel verändert seit damals. Junge Lehrer werden heutzutage an den Gymnasien niedergemacht und verheizt. Als er Lehrer wurde, kurz nach der Befreiung, war das ganz anders. Aber zurück zu ihrer Frage, da gab es zwei Städte in der Provinz, die eine mochte er, die andere nicht. Die eine war Amiens, das er mochte. Eine freie und sehr offenherzige Stadt. Die andere, die, die er weniger mochte, war Orleans, weil alles so streng und geregelt ablief. Zu der Zeit wurde ein Philosophielehrer noch sehr großzügig behandelt. Ihm wurde viel nachgesehen. Er war so eine Art Verrückter, der Dorftrottel. Und eigentlich hat er immer nur das gemacht, was er wollte. Deleuze erzählt, wie er seinen Schüler beigebracht hat, Singende Säge zu spielen, die er irgendwo aufgetrieben hatte und jeder fand das völlig normal. Heute wäre so was in keinem Gymnasium mehr möglich. Parnet fragt lachend, was er den Schülern denn mit der Singenden Säge beigebracht habe. Kurven, sagt Deleuze. Denn man muß die Säge biegen, um auf ihr spielen zu können. Der Klang entsteht aus diesen Biegungen und es waren sehr bewegende Kurven. Deshalb faszinierten sie ihn, damals. Deleuze muß nun ebenfalls lachen. Sie meint, also das war auch schon eine unendliche Variation. Immer noch lachend erwidert Deleuze, ja, ja, aber er hat die Schüler auch auf das Abitur vorbereitet. Er war ein sehr umsichtiger Lehrer. Wieder lacht er. Damals hat er auch Jean Poperen kennen gelernt. Der sei aber selten in Amiens gewesen, berichtet Deleuze, er reiste viel. Er selbst hatte einen kleinen Koffer und einen großen Wecker, weil er Uhren nicht mochte. Und so ging er nun jeden Tag zum Unterricht mit diesem enormen Wecker. Er findet das heute sehr charmant. Mit wem hatte er damals zu tun will Parnet wissen. Mit den Schülern, so Deleuze, den andern Lehrern, aber viel weiß er davon nicht mehr. Die Lehrerzimmer werden sich wohl auch sehr verändert haben. Als Schüler stellt man sich das Lehrerzimmer doch schon sehr

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bedrückend vor, sagt Parnet, was Deleuze nicht bestätigen kann. Es gab da alle Sorten von Leuten, ernste und groteske. Er ist trotzdem nicht oft hingegangen.

Nach Amiens and Orleans kam Deleuze wieder nach Paris an das… Der winkt ab, ja, ja, ja… Sie fragt ihn also, ob ihm noch einige der Namen seiner Schüler einfallen, gute wie schlechte. Deleuze wiederholt die Frage, aber es fallen ihm keine ein, vielleicht sind ein paar auch Lehrer oder Professoren geworden. Aber keiner, den er kennt, wurde Minister. Lachen muß er, bei einem, der Polizist geworden ist, doch sonst gibt es da nichts Ausgefallenes. Die gingen alle ihren Weg.

Parnet kommt auf die Jahre an der Sorbonne, die zugleich die Jahre der Philosophiegeschichte sind. Danach kam Vincennes, eine harsche und prägend Erfahrung, nach der erwürdigen Sorbonne. Parnet stellt zudem fest, die Zeit in Lyon übersprungen zu haben. Sie fragt, ob Deleuze glücklich darüber war, Universitätsprofessor zu werden. Glücklich ist nicht ganz das richtige Wort, antwortet Deleuze, das ist eine normale Laufbahn. Auch wenn er wieder Lehrer geworden wäre, dramatisch ware es nicht gewesen. Nur untypisch und ein Fehler, aber es lief ja alles ganz geregelt ab. Also gibt es dazu nichts zu sagen. Hat er sich auf seine Seminare anders vorbereitet als auf den Schulunterricht, will Parnet wissen. Nein, ganz genauso. Er hat sich immer auf dieselbe Weise vorbereitet. Parnet ist verwundert, waren denn seine Unterrichtsvorbereitungen genau so umfassend wie die Seminarsvorbereitungen. Deleuze wiederholt dreimal, sicher, sicher, sicher… Auf jeden Fall muß man mit dem Stoff vertraut sein, man muß lieben, worüber man spricht. Nur geht das nicht von allein und genau das muß man proben. Sich vorzubereiten bedeutet, die Dinge im Geist durchgehen und einen Aufhänger für sie finden. Als das Videoband ausläuft, amüsiert er sich, daß das alles wie eine Tür funktioniere, die man erst finden muß, bevor man sie durchschreiten kann. Nach dem Kassettenwechsel, stellt Parnet dieselbe Frage zum dritten Mal. Worauf Deleuze einfach entgegnet, daß für ihn keinen Unterschied in den Vorbereitungen gab.

Da sie bereits über die Universitätszeit sprechen, meint Parnet, könnten sie auch über seine Doktorarbeit sprechen. Wann hat er die Verteidigung gehalten. Deleuze weist sie darauf hin, daß er schon einige Bücher davor geschrieben hatte, was auch damit zusammenhing, daß er die Doktorarbeit nicht abschließen wollte. Ein ganz übliches Verhalten. Er arbeitete damals sehr viel, aber plötzlich erkannte er, daß er die Arbeit abschließen mußte. Es war sehr dringend. Er legte sich also ins Zeug und im Frühjahr 1969 fand die Verteidigung schließlich als eine der ersten nach dem Mai '68 statt. Das war eine sehr privilegierte Situation, denn das Prüfungskomitee hatte eigentlich nur eine Sorge, wie sie am besten den randalierenden Banden aus dem Weg gehen konnten, die die Sorbonne durchstreiften. Sie hatten ziemliche Angst, es war kurz nach den Mai-Unruhen und all diesen Ereignissen, sie wußten einfach nicht, was passieren würde. Deleuze erzählt, wie der Vorsitzende sagte: Es gibt zwei Möglichkeiten, entweder findet die Verteidigung im Erdgeschoß statt, wo der Vorteil in zwei Ausgängen besteht. Deleuze muß lachen, so daß sie schnell flüchten konnten. Der Nachteil bestand aber darin, das sich die Vandalenhorden meistens im Erdgeschoß trafen. Oder die Verteidigung würde im zweiten Stock stattfinden, wo es weniger Banden gibt, aber auch

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nur einen Ausgang. Wen also etwas passieren sollte, kommen sie nicht mehr heraus. Als er dann seine Verteidigung im zweiten Stock hielt, war es ihm unmöglich, den Blick auch nur eines Prüfers zu erhaschen, da alle wie gebannt auf die Tür starrten. Wieder muß er lachen, sie warteten nur darauf, daß die Tür aufgebrochen würde. Parnet fragt ihn, wer der Vorsitzende gewesen ist, aber Deleuze antwortet, daß ist ein Geheimnis. Parnet meint, sie könne ihn schwören lassen, aber Deleuze besteht auf seinem Nein. Die Qualen des Vorsitzenden hat er schließlich mit zu verantworten und dieser war letztlich recht charmant. Und kurioserweise ware er aufgeregter als er selbst, was selten genug ist, daß die Prüfer ängstlicher sind als ihr Prüfling. Parnet flachst, daß Deleuze wahrscheinlich schon zu der Zeit bekannter war als die gesamte Kommission. Aber der wiegelt ab, so bekannt war er nun auch wieder nicht. Seine Doktorarbeit war DIFFERENZ UND WIEDERHOLUNG, Deleuze nickt, und seine Bücher über Proust und Nietzsche waren damals schon sehr bekannt. Deleuze gibt anstelle einer Antwort einen grollenden Ton von sich, er ist sichtlich peinlich berührt und zuckt ohne ein Wort zu sagen mit den Schultern.

Parnet greift Vincennes wieder auf und Deleuze gibt ihr Recht. Vincennes war ein großer Einschnitt, nicht jedoch im Hinblick auf die Unterrichtsvorbereitungen, seine Proben. Auch änderte sich nicht der Stil seiner Seminare, aber seit Vincennes änderte sich das Publikum. Das war das Wunderschöne an Vincennes. Während alle anderen Universitäten wieder in die Normalität zurückfanden, war das in Vincennes vollkommen anders. Zumindest in der philosophischen Fakultät - ob es in der ganzen Universität so war, weiß Deleuze nicht - gab es eine völlig neue Hörerschaft. Es gab nicht mehr nur Studenten, sondern eine Mischung aus allen Alters- und Berufsgruppen, sogar Patienten aus psychiatrischen Einrichtungen. Es war ein bunt zusammen gewürfeltes Publikum, das in Vincennes zu einer geheimnisvollen Einigung gefunden hatte. Vollkommen unterschiedlich und völlig schlüssig zugleich als Produkt von Vincennes, das dieser zerstreuten Menge Zuflucht bot. Deleuze hat den gesamten Rest seiner Laufbahn dort verbracht, aber wenn man ihn mit der Zeit gedrängt hätte, die Fakultät zu wechseln, er hätte einen Lebensinhalt verloren. Und jedes Mal, wenn er eine andere Universität besucht hat, kam es ihm wie eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert vor.

In Vincennes hat er zu einem sehr gemischten Publikum gesprochen, zu jungen Malern, psychiatrischen Patienten, Musikern, Drogenabhängigen, Architekten, Leuten aus anderen Ländern. Es gab ganze Besucherströme, die sich von Jahr zu Jahr veränderten. Plötzlich waren da fünf, sechs Australier, Deleuze wußte nicht warum und im nächsten Jahr waren sie wieder fort. Japaner gab es immer, jedes Jahr und es gab auch Südamerikaner, Schwarze... Für ihn war es ein unschätzbares und fantastisches Publikum. Vielleicht deshalb, vermutet Parnet, weil er zum ersten Mal vor Nicht-Philosophen sprach. Deleuze stimmt ihr zu: Es war durch und durch philosophisch und sowohl an Philosophen als auch an Nicht-Philosophen gerichtet. So wie ein Bild an Maler und Nicht-Maler gerichtet ist oder Musik nicht nur für Musikspezialisten da ist. Es ist dieselbe Art von Musik die Berg oder sogar Beethoven an die Leute gerichtet haben, die keine Spezialisten und doch musikalisch sind. Für die Philosophie gilt genau dasselbe. Sie richtet sich ohne Einschränkung an Philosophen und Nicht-Philosophen. Philosophie sollte für Nicht-Philosophen nicht 'verständlicher' gemacht werden. So wie

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man auch für Nicht-Musikspezialisten Beethoven nicht zu 'vereinfachen' braucht. So was ist anmaßend. Für ihn braucht die Philosophie stets diese doppelten Zuhörer, die nicht-philosophischen wie die philosophischen. Wenn beide nicht zusammen existieren, kommt gar nichts dabei heraus.

Parnet bittet Deleuze eine kleine Raffinesse zu erklären: Auf Konferenzen gibt es auch Nicht-Philosophen, warum kann er sie dann nicht ausstehen. Ja, er haßt Konferenzen, sie sind künstlich und schlimmer noch ist das 'Davor' und das 'Danach'. Er mag das Unterrichten so sehr, weil man im Seminar anders spricht als auf Konferenzen. Dort spricht man vorher, da kommen die Vorträge, dann spricht man hinterher - Konferenzen besitzen nicht dieselbe Reinheit wie ein Seminar. Und Konferenzen haben immer etwas von einem Zirkus. Er räumt zwar ein, daß Seminare auch ein Zirkus sind, aber dort amüsiert er sich wenigstens und was einen großen Vorzug darstellt, ist, daß er im Seminar mitspielen darf. Außerdem sind Konferenzen verlogen. Die Leute, die man dort trifft, bereiten ihm überhaupt kein Vergnügen, gerade weil man mit ihnen reden muß. Konferenzen sind angespannt, hysterisch und ein großer Ausverkauf... vollkommen belanglos.

Parnet kommt nochmals auf sein "Liebes Publikum..." in Vincennes. Die ganzen Verrückten und Abhängigen, wie Deleuze erzählte, machten doch auch wilde Sachen. Sie rasteten aus, lagen auf dem Boden herum oder rauchten, aber ihn schien das alles nicht zu stören. Und trotz der Störungen liefen die Seminare nie aus dem Ruder, sie blieben stets Meisterkurse. Keine Störung, kein Zwischenruf besaß soviel Gewicht, daß das Seminar vom eigentlichen Thema hätte ablenkt werden können. Ein weiterer Aspekt eines meisterlichen Kurses, stellt sie fest.

Deleuze scheint das unangenehm, "Ja, ja, ja." Aber er drängt sie, ein anderes Wort für Meisterkurs zu finden. Das ist zwar ein universitäres Wort, aber ein neues ist dringend von Nöten. Für ihn gibt es zwei Arten ein Seminar zu gestalten: Die eine ist sehr in Mode zur Zeit, man fordert durch Fragen und Unterbrechungen Reaktionen der Zuhörer heraus. Auf der anderen Seite gibt es den sogenannten Meisterkurs mit dem Herrn, der spricht. Er bevorzugt keine von beiden. Es ist bloß so, daß er nur in der zweiten Übung hat. Deshalb ist ein neues Wort von Nöten.

Es ist wie in der Musik, fährt Deleuze fort. Man unterbricht Musik nicht, sei sie gut oder schlecht. Selbst wenn sie äußerst schlecht sein sollte, man unterbricht sie nur in den seltensten Fällen. Das gesprochene Wort unterbricht man allerdings nur zu leicht. Worin besteht aber nun die musikalische Anlage eines Seminars? Seiner Erfahrung nach, auch wenn er nicht glaubt, daß es der beste Weg sei, ist es ständig so, daß irgendjemand in einem bestimmten Augenblick nicht versteht, worum es geht. Es entsteht dann eine Art Verzögerungseffekt, wie in der Musik. Man kann in diesem Augenblick eine bestimmte Bewegung nicht nachvollziehen. Aber drei oder zehn Minuten später wird plötzlich alles klar: In der Zwischenzeit geschieht etwas. Durch diesen Verzögerungseffekt, fängt man an zuzuhören, da man gerade nichts versteht. Zehn Minuten später aber wird dann plötzlich alles ganz klar. Es gibt da eine Art Rückkopplung. Hätte er zuvor aber unterbrochen - deshalb taugen Unterbrechungen rein gar nichts, auch Zwischenfragen

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sind nur wenig hilfreich -, was hätte das gebracht. Anstatt Fragen zu stellen, wenn man sich mitten im Nicht-Verstehen befindet, sollte man lieber noch ein wenig damit warten und zuhören. Die besten Studenten sind die, die die Fragen in der folgenden Woche stellen. Er hat nicht darauf bestanden, aber zuletzt wurde ihm von Woche zu Woche ein kleiner Zettel zugesteckt - was er sehr schätzte -, auf dem bestimmte Probleme standen, die er dann nochmals aufgriff. Auch eine Form des Austausches.

Eine zweite wichtige Sache in seiner Ausrichtung der Seminare war die Zeit: Ein Seminar dauert in der Regel zweieinhalb Stunden und niemand kann solange zuhören. Ihm ging es allerdings sowieso nie darum, das Seminar in seiner Totalität zu begreifen. Ein Seminar ist so etwas wie bewegliche Materie, auch deshalb ist es musikalisch. Jeder soll sich das herausnehmen, was ihm gefällt. Ein schlechtes Seminar paßt niemandem. Aber man kann es auch nicht jedem Recht machen. Die Leute müssen lernen, zu warten. Manche Leute sind immer kurz davor einzuschlafen, um dann auf mysteriöse Weise genau in dem Augenblick aufzuwachen, der sie etwas angeht und betrifft. Man kann das nicht vorhersehen, was nun den einen oder den anderen betreffen wird. Es sind letztlich auch nicht die Themen, die interessant sind. Im Seminar gibt ebenso viele Empfindungen wie es Intelligenz gibt. Tauchen diese Empfindungen oder Leidenschaften nicht auf, ist an dem Seminar nichts dran, es taugt dann nicht. Man muß nicht allem folgen können oder überall zuhören. Vielmehr muß man auf der Lauer sein. Man wartet auf den richtigen Augenblick, um das, was einen selbst bewegt und angeht zu greifen. Das ist sehr persönlich und deshalb ist die sich ständig verändernde Hörerschaft so bedeutsam. Die Interessen verschieben sich dann unentwegt, die persönlichen Begehren springen von einem Punkt zum nächsten und erzeugen so einen ausgezeichneten Resonanzraum.

Parnet führt an, daß dies sowohl auf das Publikum zuträfe, aber auch auf sein ganz eigenes Konzert. Und schließlich ist Deleuze ja Erfinder der 'Pop-Philosophie' und des 'Pop-Philosophen'. Deleuze nickt, ja, das wollte er sagen. Parnet sagt, seine gesamte Erscheinung war etwas besonderes, wie bei Foucault. Sein Hut, seine Fingernägel, seine Stimme. Ist ihm seine eigene Mythifizierung durch die Studenten aufgefallen, so wie sie auch Foucault zu einem Mythos stilisiert haben? War er sich seiner Erscheinung bewußt oder seiner Stimme? Der Stimme ganz bestimmt, denn wenn die Philosophie Begriffe erschafft und zum Leben erweckt, dann geschieht dies im Seminar durch die Stimme. Das ist so alltäglich wie der geschriebene Stil eines Begriffs. Philosophen sind keine Leute, die ohne einen begründeteten und ausgearbeiteten Stil schrieben. Wie die Künstler, sie sind genauso Künstler. Ein Seminar beinhaltet also die Vokalisation eines Begriffs, es ist immer auch eine Art "Sprechgesang", ganz offensichtlich. Die Mythisierungen passieren überall - Hast Du seine Fingernägel gesehen? -, das passiert jedem Professor, sogar auf der Grundschule. Was wichtiger ist, ist die Beziehung zwischen der Stimme und dem Begriff. Um ihn glücklich zu machen, sagt Parnet, daß sein Hut wie das kleine Schwarze der Piaf wirke. Eine sehr präzise Eigenschaft. Das Schreckliche ist, erwidert Deleuze, daß er selbst nie darauf gekommen ist, den Hut aus diesem Grund zu tragen. Wenn er aber diese Wirkung hat, umso besser, sehr gut. Gehört das zu seiner Rolle als Professor, fragt Parnet. Deleuze spricht die Frage laut vor sich

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hin, um dann ebenso laut 'Nein.' zu sagen. Es ist eine Ergänzung. Zur Professorenrolle gehören die Proben und die Augenblicke der Inspiration, die er schon erwähnt hat.

Parnet halt fest, daß er niemals eine 'Schule' begründen wollte und bloß keine Jünger. Die Abneigung jeder Art von Schülern oder Jüngern kommt tief aus seinem Herzen. Deleuze prustet vor Lachen, er lehnt überhaupt nichts ab. Das ganze hat nämlich zwei Seiten: Niemand will mehr sein Jünger sein, seitdem er sagt, daß er keine mehr will. Aber eine 'Schule' ist schon aus dem Grund abstoßend: Sie verschlingt zuviel Zeit und man wird zu einem Verwalter. Er schlägt vor, einmal die Philosophen, die ihre eigene Schule haben, zu betrachten: Wittgenstein - das ist kein sehr lebendiger Haufen. Und Heidegger - erst werden schreckliche unwichtige Rekorde aufgestellt, dann wird das Ganze für exklusiv erklärt und schließlich vom straffen Zeitplan der Verwaltung erdrückt. Deleuze hat sogar Rivalität zwischen den Französischen Heideggerianern unter Beaufret und den Belgischen Heideggerianern unter Develin festgestellt, die bekämpfen sich bis auf's Blut. Abartig kommt ihm das vor. Was soll er sich darum scheren.

Deleuze hat allerdings andere Gründe, selbst auf einer ehrgeizigen Ebene, nicht der Anführer einer 'Schule' zu werden. Er seufzt. "Nimm' doch Lacan, Lacan..." Seine 'Schule', lacht er, hat ihm nichts außer Sorgen eingebracht, das ist schrecklich. Man müßte schon Machiavellist sein, um das alles durchzustehen. Und darauf hat Deleuze erst recht keine Lust. Eine 'Schule' ist immer das Gegenteil einer Bewegung. Der Surrealismus war eine Schule, mit Bestenlisten, Schauprozessen, Verbannungen und Breton als großem Chef. Dada war dagegen eine Bewegung. Wenn er sich eines wünscht, gesteht Deleuze - ob er es geschafft hat, weiß er jedoch nicht so sicher -, dann Teil einer Bewegung zu sein. Den Herrscher einer 'Schule' beneidet er überhaupt nicht, lacht er. Eine Bewegung ist wünschenswert. Wen kümmern Garantien, Urkunden mit Sigel oder gar noch die Vorstellung, Jünger zu haben, die alles wiederholen. Als Professor kann man nur ein oder zwei Dinge tun: Man kann den Studenten beibringen, in ihrer Einsamkeit, ihrem Einzeln-Sein glücklich zu werden. Sie jammern ununterbrochen, wir sind so allein, nur ein kleines Gespräch usw. Deshalb schreien sie oft vorschnell nach 'Schulen'. Ihr Einzeln-Sein bleibt so immer mangelbehaftet. Man muß ihnen also zeigen, welchen Nutzen sie aus der Einsamkeit ziehen können. Man muß sie mit ihrer Einsamkeit aussöhnen. Das ist die Aufgabe eines Professors.

Und man sollte keine Begriffe ins Seminar einbringen, die Gefahr laufen, eine 'Schule' zu bilden. Die Begriffe sollten im Seminar frei zirkulieren. Das heißt nicht, daß sie nicht länger besonders sind, sondern, daß sie in den Allgemeinbesitz übergegangen sind, das auf unterschiedlichste Weisen benutzt werden kann. Und das tritt nur dann ein, wenn er einzelne, singuläre Personen anspricht, welche die Begriffe dann auf ihre ganz eigene Art und Weise verwenden, so wie sie die Begriffe gebrauchen können. So etwas passiert aber nur innerhalb von Bewegungen, niemals in 'Schulen'.

Parnet will noch wissen, ob die Zeit der großen Professorenpersönlichkeiten vorüber sei, denn gut ständen die Dinge auf den Universitäten nicht. Deleuze denkt nicht viel darüber nach, seitdem er nicht mehr dazugehört. Als er in Rente ging, war es eine grauenerregende Zeit. Er hat es bis heute nicht verstanden, warum die Professoren

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gezwungenermaßen als Verwalter und Buchhalter weiter unterrichtet haben. Die Politik ist da ganz ehrlich: Die Universität wird nicht länger eine Forschungseinrichtung sein. Befördert wird das noch durch Fächer, die nichts auf der Universität zu suchen haben. Er hofft, daß die Universitäten weiterhin Forschungsstätten bleiben können. Dazu müßten dann die Technischen Fachhochschulen erweitert werden, um dort Informatik usw. zu unterrichten. Die Universitäten bestehen heute allerdings nur auf der eigen Buchführung und die Fachhochschulen beanspruchen dreist die Forschung für sich. Und dann noch die hübschen Vereinbarungen zwischen den Technischen Schulen und den Universitäten, daß die Studenten wechselseitig Kurse belegen sollen. Sobald aber Lehrstoff aus einer solchen Fachhochschule in die Universität gelangt, war's das. Dann ist sie keine Forschungseinrichtung mehr, sondern wird von Managementstreitigkeiten aufgefressen, von all den bürokratischen Verpflichtungen. Warum sollten sich Professoren da noch auf ein Seminar vorbereiten? Er vermutet sogar, daß einige Jahr für Jahr denselben Stoff abhandeln. Vielleicht liegt er auch falsch und sie bereiten sich doch von Neuem vor. Nur zu, je mehr desto besser. Die Tendenz ist aber, daß die Forschung aus der Universität verschwindet und nicht-schöpferische, nicht-forschende Fächer die Oberhand gewinnen: Das ist die sogenannte Anpassung der Universität an den Arbeitsmarkt. Abschließend meint Deleuze, es sei Aufgabe der Technischen Fachhochschulen sich dem Arbeitsmarkt anzupassen, nicht die der Universitäten.

Q WIE IN QUESTION (FRAGE)

Parnet fängt damit an, daß für Deleuze die Philosophie dazu da ist, Fragen und Probleme zu stellen. Diese Fragen müssen konstruiert werden und es geht nicht darum, sie beantworten zu können, sondern in ihrer Erschaffung zugleich über sie hinaus zu kommen. Über die Geschichte der Philosophie hinaus zu kommen, heißt so, sich neue Fragen zu stellen und neue Problem zu erzeugen. In einem Gespräch stellt man Deleuze nun aber keine wirklichen Fragen und sie fragt sich nun, wie er darüber hinaus kommt. Es kommt ihr wie eine gezwungene Wahl vor und sie möchte wissen, worin für ihn der Unterschied zwischen einer Frage in den Massenmedien und der Philosophiegeschichte besteht. Deleuze zögert, schwer zu sagen. In den Medien gibt es die meiste Zeit nur Disskussionen, keine Fragen, keine Probleme. Wenn Dich irgendwer fragt, wie geht's Dir, ist damit noch kein Problem formuliert. Wie spät ist es? Das ist kein Problem, sondern ein Verhör. Wenn man ein durchschnittlicher Fernsehzuschauer ist, selbst bei den selbsternannten seriösen Sendern, überall findet man diese Verhöre: "Was denken Sie darüber? Was halten Sie davon?" Die Aufforderung zur Meinungsäußerung erzeugt noch keine Probleme. Darum interessiert ihn das Fernsehen nicht sonderlich und noch weniger die Meinung von sonstwem.

Wenn man beispielsweise gefragt wird, ob man an Gott glaubt, wo liegt da die Frage, was ist das Problem. Da gibt es keins. Wie wäre es, wenn man in einer Fernsehshow plötzlich Fragen oder Probleme stellte? Es gibt zwar eine Menge unterschiedlicher Sender, aber es passiert äußerst selten, daß sich eine Fernsehshow mal irgendeinem Problem stellt. Er meint, das sei doch durchaus möglich, wie mit der Chinesischen

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Frage. Aber dann laden sie Spezialisten ein, lacht er, die dann ausführlich Dinge erzählen, auf die man selbst schon gekommen ist. Ohne überhaupt was über China zu wissen, lacht er weiter. Oder die große Gottesfrage, was ist denn das Problem mit Gott? Es geht doch nicht darum, ob einer an Gott glaubt oder nicht, das will doch nun kaum einer wissen. Was bedeutet es aber, wenn jemand das Wort 'Gott' ausspricht? Er vermutet, daß es vielleicht bedeuten könnte: Wird man nach dem Tod gerichtet? Auf welche Weise ist dies nun ein Problem? Es baut sich hier eine problematische Beziehung zwischen Gott und einem Rechtssystem auf: Ist Gott also ein Richter? Das ist eine Frage.

Oder Pascal. Jemand schlägt seinen Text über das Wetten vor: Existiert Gott oder nicht? Der eine wettet drauf, der andere liest Pascals Text und sieht, daß es keine Frage des Wettens ist, denn Pascal stellt eine ganz andere Frage. Es kommt nicht darauf an, ob Gott existiert oder nicht. Das ist für überhaupt nichts aufschlußreich. Sondern die Frage lautet, welches ist die beste Form der Existenz: Die desjenigen, der an Gott glaubt oder desjenigen, der überzeugt ist, daß Gott nicht existiert? Pascals Frage bezieht sich also nicht auf die Existenz oder Nicht-Existenz Gottes, sondern auf die konkrete Existenz desjenigen, der an Gott glaubt oder nicht. Aus verschiedenen Gründen, erklärt Deleuze, entwickelt Pascal dann seine eigenen Fragen, die sich allerdings formulieren lassen: Pascal geht davon aus, daß demjenigen, der glaubt, daß Gott existiert, eine bessere Existenz eigen ist als jemandem, der dies nicht tut. Das macht Pascal, es gibt da ein Problem und eine Frage. Nur sie betreffen nicht länger Gott. Es gibt wichtigere Dinge, eine Wandlung der Fragen von einer zur anderen.

Dasselbe entdeckt man bei Nietzsche. Spricht Nietzsche vom 'Tod Gottes', ist dies etwas anderes als zu sagen, Gott existiert nicht. Wenn jemand sagt, 'Gott ist tot.', worauf bezieht sich die Frage dann, denn es ist keine Frage nach der Existenz Gottes. Liest man Nietzsche, so Deleuze, stellt man schnell fest, daß ihn der Tod Gottes nicht weniger kümmern könnte und er eigentlich auf eine andere Frage hinaus will: Wenn Gott im Besonderen tot ist, dann gibt es keinen Grund nicht auch anzunehmen, der Mensch sei ebenfalls tot. Man muß also etwas anderes als den Menschen finden usw. Was Nietzsche beschäftigte war doch nicht der Tod Gottes, sondern es war etwas vollkommen anderes.

Das sind Fragen und Problem, betont Deleuze. Wenn man so was in einer Fernsehshow verhandelte, es käme eine sehr seltsame Sendung dabei heraus, mit dieser Geschichte der verdrängten Fragen und Probleme. Aber wie in alltäglichen Gesprächen so behalten die Leute auch in den Medien diese Verhörsmethoden bei. Da ihre Unterhaltung ja erst nach seinem Tod gesendet werden soll, erwähnt er lachend eine bestimmte Show, "Die Stunde der Wahrheit", die ein einziges Verhör ist. Von dieser Art: 'Nun Frau Veil, glauben Sie an Europa?' Besser wäre es nach den Problemen Europas zu fragen, ganz wie mit China. Unentwegt denken alle über die Gleichschaltung Europas nach und dann verhören sie sich gegenseitig, um sich ihrer Gleichartigkeit zu versichern. Und plötzlich stellen die Herrschaften fest, daß da eine Million Leute von irgendwo her auf dem Palce de la Concorde rumsteht, aus Holland, aus Deutschland, sonstwo her. Das können die Verhörsspezialisten nun nicht kontrollieren und sie rufen nach weiteren Spezialisten, die erklären sollen, warum da so viele Holländer auf dem Place de la Concorde herumstehen. Sie schleichen die ganze Zeit um die eigentlichen Fragen herum, anstatt

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sich ihnen zu stellen. Lachend sagt Deleuze, daß das, was er gerade sagte, ein wenig konfus ist.

Früher, so Parnet, pflegte Deleuze Tageszeitungen zu lesen, doch mittlerweile liest er LE MONDE oder LIBERATION nicht mehr. Gibt es in den Medien oder in der Presse etwas, das ihn abstößt? Deleuze bejaht. Er hat das Gefühl, immer und immer weniger zu erfahren und kennenzulernen. Er ist ständig dazu in der Lage, etwas Neues kennenzulernen, da er gar nichts weiß. Da die Zeitungen nun aber nichts Neues bringen, was tut man da? Parnet halt dagegen, daß er all abendlich die Nachrichten ansieht, die einzige Fernsehshow, die er nie verpaßt und fragt sich, ob Deleuze sich jedes mal Fragen stellt, die in den Medien dann nie gestellt werden. Der ist sich allerdings nicht sicher, worauf Parnet vermutet, er denke, daß in den Medien wirkliche Frage nie gestellt würden. Dies bejaht er ebenfalls, die wenigsten Fragen werden gestellt. Ein besonderes Beispiel ist ein sehr junger Französischer Skandal, der bis in die Vichy-Zeit reicht: Die Inhaftierung von Paul Touvier, der aufgrund von Kriegsverbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftiert worden ist. Er hatte 1944 in Rillieux-la-Pape, das in der Nähe von Lyon liegt, sieben Juden in den Tod geschickt. Er ist der erste Franzose, der als Kriegsverbrecher für schuldig befunden worden ist und schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. In Abwesenheit wurde er 1946 verurteilt und verbrachte 4o Jahre auf der Flucht in katholischen Klöstern. Ein gutes Beispiel, meint Deleuze, wie Fragen verdrängt und fahrlässig nicht gestellt werden. Allem Anschein nach wurde Touvier vor jenen Fragen nach seinen Kontakten während des Krieges geschützt, da er Informationen besaß, die einige katholische Offizielle in Bedrängnis gebracht hätten. Jeder weiß aber was Touvier wußte, aber es gibt ein unausgesprochenes Einverständnis, nicht darüber zu sprechen. So etwas nennt man Konsens. Vereinbarungen, denen zufolge Verhöre in der Art von 'Wie geht's Dir?' geführt werden, anstatt sich wirkliche Fragen und Probleme zu stellen. Verhöre dienen nur der Verhinderung der eigentlichen Fragen.

Parnet möchte dies etwas ausführlicher hören, also versucht es Deleuze mit einem neuen Beispiel: Die Reformer der konservativen Französischen Parteien und die politischen Apparate der Rechten, jeder weiß, worum es da geht, die Zeitungen aber schreiben nichts darüber. Diese Reformer werfen ein bedenkenswertes Problem auf: Es ist der Versuch Teile des Parteiapparates aufzuwiegeln, die sonst Paris hörig sind. Die Reformer fordern regionale Unabhängigkeit, etwas das sonst niemand fordert. Und hier kommt die Europäische Frage ins Spiel. Es soll kein Europa der Nationen geschaffen werden, sondern der Regionen, also eine regionale und inter-regionale Einheit, anstelle einer nationalen und inter-nationalen Einheit. Das ist nun ein Problem, dem sich auch die Sozialisten werden stellen müssen, den regionalistischen und den internationalistischen Tendenzen. Der Parteiapparat jedoch, die Provinzverwaltungen und Funktionäre sind sehr antiquiert, die Parisfixierung spielt da nach wie vor eine große Rolle.

Die konservativen Reformer, schließt Deleuze, bilden nun eine anti-jakobinische Bewegung und die Linke wird ihre eigene haben. Es sollte Unterhandlungen darüber geben, aber keiner tut etwas, aus Furcht, die eigenen Absichten zu enthüllen. Man antwortet nur noch auf 'Wie geht es Ihnen?', was nichts anderes darstellt als nichts sagende Diskussionen. Bis auf wenige Ausnahmen ist das Fernsehen zu Diskussionen

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und Verhören verurteilt. Für ihn hat das noch nicht einmal mit Ablehnung zu tun, es kümmert ihn nur überhaupt nicht.

Parnet erwähnt die Journalistin Anne Saint-Claire, die versucht, gute Fragen zu stellen und die kein Verhör veranstaltet. Worauf Deleuze erwidert, gut und schön, das ist ihre Sache. Er ist sich aber sicher, daß sie zufrieden mit sich ist. Auf Parnets Frage warum er nie ein Fernsehinterview akzeptiert hat, wo doch Foucault und Serres dies durchaus getan haben, und sich wie Beckett aus öffentlichen Leben zurückzieht, kontert er, dies sei doch der beste Gegenbeweis, dieses Gespräch, er wird im Fernsehen sein! Die Gründe für seine bisherigen Absagen haben sie allesamt schon besprochen: Er hat schlichtweg keine Lust auf Diskussionen oder Verhöre. Er kann das nicht ausstehen. Besonders, wenn niemand mitbekommt, welches Problem sich gerade stellt. Wie die Gottesfrage: Hängt es mit der Nicht-Existenz Gottes zusammen, dem Tod Gottes, dem Tod des Menschen, mit der Existenz Gottes, mit der Existenz desjenigen, der an Gott glaubt, blablabla? Ein einziges Stimmengewirr, sehr ermüdend. Wenn man brav einer nach dem andern sprechen muß, dann ist das Domestizierung und Dressur in Reinform, mit einem beschissenen Gastgeber dazu... Deleuze bricht ab und murmelt pitié, pitié, "Erbarmen, Erbarmen".

Parnet sagt, das Wichtigste ist, daß er heute hier ist und an ihrem kleinen Verhör teilnimmt. Worauf dieser, 'Erst nach dem Tod.' von sich gibt.

R WIE IN RESISTANCE (WIDERSTAND)

Parnet erwähnt etwas, das Deleuze vor Kurzem auf einer Konferenz gesagt hat: Die Philosophie erschafft Konzepte und jeder schöpferische Akt ist ein Akt des Widerstandes. Künstler, Filmemacher, Musiker, Mathematiker, Philosophen, alle leisten sie Widerstand, sie aber möchte wissen, wem sie widerstehen. Sie schlägt nun vor, Fall für Fall vorzugehen: Philosophen stellen Konzepte her, tun Wissenschaftler das auch?

Nein, sagt Deleuze, das ist eine endlose Frage. Wenn man sich jedoch darauf einigt, daß das Wort Konzept der Philosophie vorbehalten ist, benötigen wir ein anderes für die wissenschaftlichen Begriffe. Man sagt von einem Künstler nicht, daß er Konzepte erschafft, ein Maler oder ein Musiker stellt keine Konzepte her. Für die Wissenschaft braucht man also ebenfalls ein anderes Wort. Wir können sagen, ein Wissenschaftler ist jemand, der Funktionen herstellt - nicht gerade das beste Wort dafür: Neue Funktionen erschaffen, wie Einstein, aber auch die großen Mathematiker, Physiker, Biologen erschaffen neue Funktionen.

Er fragt sich, wie sich daraus Widerstand bildet. In der Kunst ist es einfacher, die Wissenschaft befindet sich in einer etwas zweideutigen Stellung, ein wenig wie das Kino: Sie ist in zu vielen Problemen verstrickt, der Organisation, der Finanzierung, usw., daß der Anteil an Widerstand... Die großen Wissenschaftler jedoch, setzt er neu an, erzeugen bedenkenswerte Widerstände, wie Einstein, wie viele Physiker und Biologen,

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ganz offensichtlich. Zu Beginn widerstehen sie, in verlockende Richtungen gedrängt zu werden, dann leisten sie Widerstand gegen die Forderungen der herrschenden Meinung, gegen den ganzen Wust an dummen Verhören und Untersuchungen. Sie besitzen die Kraft, ihren eigenen Weg zu fordern, ihren eigenen Rhythmus und sie lassen sich nicht zwingen, etwas davon aufzugeben, ganz gleich unter welchen Umständen, so wie man auch mit einem Künstler nicht streiten kann.

Deleuze nähert sich der Frage nach dem Widerständigen in den Produktionen in Bezug auf einen Schriftsteller, den er kürzlich gelesen hat und der ihn in dieser Hinsicht sehr berührt. Eines der großen Motive der Kunst und des Denkens ist eine gewisse Scham ein Mensch zu sein. Er empfindet, daß Primo Levi der Schriftsteller und Künstler ist, der dies am grundlegendsten beschreibt. Er war in der Lage, von dieser Scham, in einem äußerst hilfreichen Buch, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus einem Deutschen Konzentrationslager, zu sprechen. Levi beschreibt, daß, nach seiner Befreiung, das vorherrschende Gefühl die Scham war, ein Mensch zu sein. Deleuze hält dies für einen wunderschönen Ausdruck, keineswegs abstrakt, sehr konkret, diese Scham ein Mensch zu sein. Deleuze besteht jedoch darauf, daß dieser Satz nichts mit gewissen Dummheiten zu tun hat, die andere Leute ihm gern zu schrieben. Er bedeutet nicht, daß wir alle Täter sind, daß wir mitschuldig am Faschismus sind. Levi sagt nicht, daß Täter und Opfer dieselben sind und Deleuze fügt hinzu, wir sollten so etwas auch nicht glauben, eine Vermischung von Opfern und Tätern sollte es nicht geben. Die Scham ein Mensch zu sein, fährt er fort, bedeutet nicht, wir sind alle dieselben oder daß wir alle einig wären. Die Scham ein Mensch zu sein meint mehrere Dinge, ein vielschichtiges, ein gemischtes Gefühl. Scham, daß einige Menschen - 'einige Menschen' sagt Deleuze, zu denen man selbst nicht gehört - etwas derartiges tun konnten. Scham, daß man es nicht verhindern konnte. Scham, daß man selbst überlebt hat. Scham, erniedrigt und gedemütigt worden zu sein.

Er gibt zu bedenken, daß man zwar kein Täter werden, sich jedoch nichtsdestoweniger für eine Seite entscheiden mußte, um überleben zu können und es entsteht eine gewisse Scham den Freunden gegenüber, die nicht überlebt haben. Die Scham ein Mensch zu sein ist ein zusammengesetztes, ein gemischtes Gefühl, der Anfang jeder Art von Kunst, das starke Gefühl der Scham ein Mensch zu sein in der Kunst, das dazu führt, Leben zu geben, um das Leben zu befreien, wo es gefangen ist. Bestimmte Menschen hören nicht auf, das Leben einzukerkern, das Leben zu töten - Die Scham ein Mensch zu sein. Der Künstler setzt ein kraftvolles Leben frei, ein Leben, das mehr ist als das persönliche Leben, nicht länger sein oder ihr Leben.

Nachdem ein neues Band eingelegt ist, bringt Parnet Deleuze noch einmal auf den Gedanken des Künstlers und des Widerstands, der Scham ein Mensch zu sein und der Kunst, die das Leben aus dem Gefängnis der Scham befreit, was jedoch rein gar nichts mit irgendeiner Erhabenheit gemeinsam hat. Er besteht darauf, das Leben mit sich zu reißen, Leben zu geben, das Leben zu befreien. Dies sind keine abstrakten Dinge.Er möchte wissen, was in einem Roman einen großen Charakter auszeichnet. Bestimmt nicht, daß dieser große Charakter dem Realen entlehnt und aufgeblasen wäre: Vielmehr Charlus in Prousts RECHERCHE, der nicht der richtige, der wahre Montesquieu, der ein

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Freund von Proust war, ist, nicht einmal eine Ausschmückung aus Prousts brillianter Vorstellungskraft. Dies sind die fantastischen Kräfte des Lebens, wie es auch ausgehen mag. Eine erfundene Person, die sich wie von selbst darin einfügt. Eine Art Riese, eine Übertreibung gegenüber dem Leben, doch nicht gegenüber der Kunst, da diese Art von Übertreibung zu den Produktionsweisen der Kunst gehört und gerade durch ihre singuläre Existenz leisten sie Widerstand.

In anderer Hinsicht geht dies mit A WIE IN ANIMAL zusammen. Schreiben ist immer auch ein Schreiben für, ein Schreiben für Tiere, ein Schreiben an ihrer Stelle - etwas tun, was Tiere nicht vermögen. Für sie schreiben und das Leben aus dem Kerker befreien, den die Menschlichkeit errichtet hat, das ist Widerstand.

Nichts anderes macht ein Künstler, sagt er: Es gibt keine Kunst, die zugleich nicht auch ein Freisetzen von Lebenskräften ist. Es gibt keine Kunst des Todes. Parnet führt an, daß die Kunst dem nicht entspricht. Primo Levi beispielsweise hat sein Leben durch Selbstmord beendet. Deleuze stimmt dem zu, doch war es ein persönlicher Selbstmord, er konnte es nicht mehr ertragen, also hat er in seinem persönlichen Leben Selbstmord begangen. Da sind allerdings vier Seiten, vielleicht zwölf Seiten, vielleicht sogar hundert Seiten von Primo Levi, die ewigen Widerstand leisten werden. Was immerhin eine Möglichkeit ist.

Er folgt dem Problem der Scham ein Mensch zu sein, wenn auch nicht so herausragend wie Primo Levi. Wagt man, etwas derartiges auszusprechen, so gibt es für jeden von uns im alltäglichen Leben kleine Ereignisse, die uns die Scham ein Mensch zu sein vor Augen führen. Wir sind Zeuge, wie jemand überaus vulgär ist, stören uns nicht daran und sind doch unglücklich. Unglücklich wegen des Anderen und unseretwegen, da wir es zu unterstützen scheinen, fast wie in einem Kompromiß. Wenn wir aber protestieren: Das, was du sagst, ist einfach schändlich, veranstalten wir ein großes Theater und sind gefangen. Obwohl das nichts mit Auschwitz zu tun hat, empfinden wir selbst auf dieser kleinen Ebene die Scham ein Mensch zu sein. Wenn man diese Scham nicht spüren kann, gibt es keinerlei Begehren Kunst zu schaffen.

Parnet fragt, jemand der schöpferisch tätig ist, ein Künstler, weiß er um die Gefahren, die uns überall umgeben? Deleuze erwidert: Ganz offensichtlich, selbst in der Philosophie. Wie Nietzsche sagt: Eine Philosophie, die die Dummheit zerstören und ihr widerstehen wird. Gäbe es die Philosophie nicht, wir könnten uns das Ausmaß der Dummheit nicht ausmalen, da die Philosophie die Dummheit davon abhält, so groß zu werden, wie sie es ohne die Philosophie wäre. Das ist die Größe der Philosophie, wir wissen nicht, wie die Dinge lägen, wiederholt er, ob es die Künste gäbe, wie groß die Dummheit der Leute wäre... Wenn wir sagen: "Erschaffen ist Widerstehen", ist das produktiv, bejahend. Ohne die Künste gäbe es die Welt nicht, die Leute könnten es nicht mehr ertragen. Niemand muß sich mit der Philosophie beschäftigen, die bloße Anwesenheit der Philosophie hindert die Leute daran, so dumm und grausam zu sein , wie sie es ohne die Philosophie wären.

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Parnet möchte von ihm wissen, was er davon hält, wenn jemand den Tod des Denkens, den Tod des Kinos, den Tod der Literatur ausruft, ob sowas ein schlechter Scherz sei? Und noch während sie fragt, bricht der in Lachen aus. Sicher, meint Deleuze, es gibt keine Tode, nur Hinrichtungen, ganz einfach. Er schlägt vor, daß das Kino mitunter hingerichtet werden wird, sogar recht wahrscheinlich, doch gibt es keine natürliche Todesursache, aus einem einfachen Grund: Solange es nichts gibt, das nach der Philosophie greift und ihre Funktionen übernimmt, hat die die Philosophie genügend Raum, um weiter zu leben und sollte etwas ihre Funktionen übernehmen, dann wird es etwas anderes als die Philosophie sein. Wenn wir sagen, daß die Philosophie Konzepte und Begriffe erschafft und dadurch die Dummheit verhindert und zerstört, was stirbt dann bitte in der Philosophie. Sie kann blockiert, zensiert, hingerichtet werden, doch durch ihre Funktionen wird sie nicht sterben. Der Tod der Philosophie ist eine groteske und tumbe Vorstellung. Nicht, weil der Tod mit ihr verbunden wäre, würde sie nicht sterben, "wenn sie sterben sollte, so immerhin, weil sie sich totlachen muß." Er wundert sich über diese dummdreiste Idee vom Tod der Philosophie, der nur auf andere Weise zeigt, daß die Dinge sich ändern.

"Was soll denn die Philosophie ersetzen?" Vielleicht sagt ja jemand: Du darfst keine Begriffe mehr erschaffen. "Gut, soll doch die Dummheit herrschen, wenn die Idioten die Philosophie übernehmen wollen. Wer wird dann die Begriffe und Konzepte erschaffen? Die Informationswissenschaft? Werbeagenturen, die das Wort Konzept gestohlen haben?" Sollen sie doch, wir werden ein Werbekonzept bekommen, das den Begriff einer Nudelmarke entwickelt, lacht er. Mittlerweile ist es jedoch kein großes Risiko mehr, mit der Philosophie wegen des Worts Konzept in Rivalität zu treten, da es nicht mehr in derselben Weise gebraucht wird. Aber die Werbung ist inzwischen der große Rivale der Philosophie, überall erzählt man uns schließlich: Werbung schafft Konzepte. Nur, hält er dagegen, sind die Konzepte, die von der Informationswissen-schaft, der Informationswirtschaft gepriesen werden, recht armselig für das, was diese Leute eigentlich verkaufen wollen.

Parnet bringt den Gedanken auf, daß Foucault, Guattari und er so etwas wie Begriffsgefüge geschaffen haben, Widerstandgefüge, wie eine Kriegsmaschine gegen das vorherrschende Denken. Deleuze ist ganz offensichtlich gerührt und sagt: "Ja, warum nicht? Es wäre wunderschön, wenn das stimmte." Er beginnt über diese Gefüge zu sprechen: Wenn man zu keiner Schule gehört, gibt es nur das Reich der Gefüge, der Vielheiten, welches es zu allen Zeiten gibt, wie beispielsweise während der der Romantik - in Deutschland oder sonst wo -, genauso wie heute, vermutet er. Parnets Frage, ob Gefüge Widerstandgefüge sind, bejaht er, die Funktionen jedes Gefüges sind zu widerstehen und schöpferisch zu sein.

Bei Deleuze stellt Parnet fest, daß dieser sowohl zu den Berühmten als auch zu den Unerlaubten zählt. Daß er in einer Art von Heimlichkeit lebt, auf die er stolz ist. Er muß wieder lachen, hält sich allerdings weder für berühmt, noch für einen Illegalen. Er wäre allerdings gern nicht-wahrnehmbar. Er zögert, beginnt und bricht den Gedanken ab. Diese Nicht-Wahrnehmbarkeit kann es aber nur geben, weil es doch möglich ist... Aber das sind sehr persönliche Fragen...

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Er will seine Arbeit machen, ohne das die Leute ihn belästigen und er seine Zeit nicht verschwenden muß und im selben Moment will er Leute sehen, braucht er sie, wie jeder andere, er mag die Leute, eine kleine Gruppe von Leuten, die er sehen mag. Es ist überhaupt kein Problem, nicht wahrzunehmende Beziehungen mit nicht wahrnehmbaren Leuten zu haben. Vielleicht die schönste Sache der Welt. Wir alle sind Moleküle, ein molekulares Gefüge.

Gibt es Strategien in der Philosophie, will Parnet von ihm wissen. Hat er, als er in diesem Jahr über Leibniz geschrieben hat, das Buch strategisch angelegt? Deleuze lächelt und fragt sich laut, was das Wort Strategie wohl heißen soll, vielleicht, daß man nicht ohne besondere Notwendigkeit schreibt. Sollte es keine Notwendigkeit für die Erschaffung eines Buches geben, die der Autor selbst nicht als stark empfindet, sollte er es bleiben lassen. Als er nun über Leibniz geschrieben hat, gab es eine solche Notwendigkeit, da für ihn ein bestimmter Augenblick gekommen war, um über Leibniz und den Begriff der Falte zu sprechen. Und die Falte ist nun einmal auf das Engste mit Leibniz verbunden. So daß er zu jedem Buch, das er geschrieben hat, sagen kann, was für ihn zu der jeweiligen Zeit das Notwendige und das Bewegende war.

Parnet greift dies auf: Unabhängig von dem Griff der Notwendigkeit der Deleuze zum Schreiben treibt, wundert sie sich über seine Bewegung weg vom philosophischen Schreiben und über seine Rückkehr zu Geschichte der Philosophie, nach seinen Kino-Büchern und auch nach Büchern wie ANTI-ÖDIPUS und TAUSEND PLATEAUS. Deleuze entgegnet, es gab keine Rückkehr zur Philosophie, deshalb hat er ihre vorherige Frage so ausführlich beantwortet.

Er hat das Buch über Leibniz geschrieben, da für ihn der Augenblick gekommen war, zu studieren, was den Begriff der Falte ausmacht. Er beschäftigt sich mit der Geschichte der Philosophie, wenn es nötig ist, wenn er einem Begriff begegnet und erfährt, daß dieser bereits mit einem anderen Philosophen in Verbindung steht. Als ihn der Begriff des Ausdrucks faszinierte, hat er ein Buch über Spinoza geschrieben, weil Spinoza derjenige Philosoph ist, der den Begriff des Ausdrucks auf eine außerordentliche Ebene gehoben hat.

Es schien ihm notwendig, ohne daß er es vorher hätte sagen können, durch Leibniz hindurchzugehen. Es kann auch vorkommen, daß er Begriffen begegnet, die schon einem Philosophen gewidmet und verschrieben sind, dann betreibt er keine Geschichte. Und dennoch gibt es für ihn keinen Unterschied zwischen dem Schreiben eines Buches über die Geschichte der Philosophie und einem philosophischen Buch. Auf diese Art und Weise, schließt Deleuze, folgt er seinem eigenen Weg.

S WIE IN STIL

Parnet verkündet den Titel und Deleuze entfährt: "Ah, wunderbar!"

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Sie fragt, was Stil sei und erwähnt ihr gemeinsames Buch DIALOGE . Der Stil gehört zu jenen, über welche man für gewöhnlich urteilt, sie besäßen keinen Stil, wobei er sich hier auf Balzac bezieht.

"Aber, was ist nun Stil?" Keine geringe Frage, meint er und Parnet erwidert schmunzelnd, durchaus nicht, deshalb habe sie die Frage so schnell gestellt. Deleuze lacht.

Dann sagt er: "Hör zu, das ist alles, was ich zum Verständnis des Stils beizutragen habe." Um zu beginnen, hält man sich am besten von jeder Linguistik fern. Die Linguisten haben eine Menge Schaden angerichtet. Nun, warum? Es gibt da einen gravierenden Unterschied - was Foucault sehr treffend herausgestellt hat -, zwischen der Linguistik und der Literatur, der besonders in jener postulierten Vollständigkeit zum Vorschein kommt. Entgegen der Meinung so Vieler, passen sie in keiner Weise zu einander. Gerade für die Linguisten, führt er an, ist eine Sprache immer ein ausbalanciertes System, aus dem man eine Wissenschaft machen kann. Und der Rest, die Ausschweifungen und Abwege, gehört nicht länger zum Bereich der Sprache, sondern zu dem des Sprechens.

Wenn man schreibt, wissen wir aber nur zu gut, daß jede Sprache ein System ist, das ein Physiker als weit entfernt von jedem Gleichgewicht beschreiben würde, ein System in fortwährendem Ungleichgewicht. Derart, daß eine Unterscheidung zwischen den Ebenen der Sprache und den Ebenen des Sprechens überhaupt nichts taugt. Vielmehr setzt sich eine Sprache aus allen nur erdenklichen Arten heterogener Elemente zusammen, die in keinerlei Gleichgewicht zueinander stehen.

Was, setzt er erneut an, ist nun der Stil eines großen Autors? Für ihn, machen den Stil zwei Dinge aus. Er erklärt, daß er rasch und klar antwortet, doch ein wenig beschämt über die arge Zusammenfassung ist. Der Stil besteht also aus zwei Dingen: Man unterzieht die Sprache, in der man spricht und schreibt einer gewissen Behandlung. Eine Behandlung, die keine künstliche, freiwillige, etc. ist, sondern eine Behandlung, die alles in Bewegung bringt, den Willen des Autors, seine Wünsche, Begehren, Interessen, Notwendigkeiten. Man unterzieht die Sprache also einer syntaktischen und eigenständigen Behandlung, die sein könnte... Deleuze weist darauf hin, daß hiermit wieder zu den Themen von A WIE IN ANIMAL (TIER) kommen: Eine Behandlung, welche die Sprache zum Stottern bringen kann. Es ist allerdings nicht, das Stottern an sich, sondern die zum Stottern gebrachte Sprache. Oder, was nicht dasselbe ist, die Sprache zum Stammeln bringen.

Als Beispiel eines großen Stilisten wählt er den Dichter Gherasim Luca. Deleuze schlägt vor, daß Luca durchweg ein Stottern erzeugt, das nicht in sein eigenes Sprechen betrifft, aber die Sprache selbst stottern läßt. Ein anderer Fall wäre Charles Péguy. Ein recht seltsamer, wie er feststellt, da Péguy zu jener bestimmten Art von Leuten gehört, die man allzu leicht vergißt. Aber nichts desto weniger gehört er zu den größten Künstlern und ist vollkommen verrückt. Niemand hat je wie Péguy geschrieben und niemand wird je wie Péguy schreiben. Sein Schreiben reicht mit Leichtigkeit an die größten Stile der

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französischen Sprache, er ist einer der größten Schöpfer des Französischen. "Was hat er getan?" Zu sagen, sein Stil ist ein Stottern, trifft bei ihm nicht zu. Er läßt die Sätze vielmehr aus der Mitte heraus wuchern: Anstelle die Sätze aufeinander folgen zu lassen, wiederholt er denselben Satz mit einer Hinzufügung in dessen Mitte. Wenn nun dieser Einschub an der Reihe ist, wird er zu einer anderen Hinzufügung führen, und so weiter. Er läßt den Satz von der Mitte her wuchern, mit immer neuen Einschüben. Das ist ein großer Stil. Und zugleich der erste Aspekt des Stils: Die Sprache einer unglaublichen Behandlung unterziehen. Aus diesem Grund ist ein großer Stilist niemand, der die Syntax konserviert. Er ist hingegen Schöpfer einer neueren Syntax.

Deleuze will nicht von Prousts wundervoller Formel lassen: Die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben. Ein Stilist, betont er, ist jemand, der eine Fremdsprache in seiner eigenen Sprache erzeugt. Man findet dies genauso bei Celine oder Péguy. Zur gleichen Zeit wie dieser erste Aspekt - die Sprache dazu zu bringen, sich einer verdrehenden, verzerrenden Behandlung auszusetzen, die notwendig für die Herstellung von etwas wie einer Fremdsprache ist, innerhalb der Sprache, in der man schreibt -, ist der zweite Punkt in diesem ganzen Prozeß, die gesamte Sprache an ihr Ende zu treiben, an die Grenze, die sie von der Musik trennt. Man produziert eine Art von Musik. In einem glücklichen Fall, sind es diese beiden Dinge, die notwendig sind, um einen Stil zu erschaffen. Sie gehören zu allen großen Stilisten. All dies geschieht zugleich: Wie Beckett mit einer Fremdsprache Löcher in die eigene Sprache bohren und diese gewissermaßen an ihre musikalische Grenze treiben: Das macht einen Stil aus.

Als Parnet ihn abrupt fragt, ob er denke, selbst einen Stil zu haben, bricht Deleuze in Gelächter aus: "Oh, welch' Niedertacht!".

Parnet sieht bei ihm stilistisch eine Veränderung gegenüber seinen ersten Büchern. Was er aufnimmt, die Bestätigung eines Stils liegt für ihn in dessen Veränderungen. Allgemein gesprochen, bewegt man sich zunehmend auf einen nüchterneren Stil zu. Was nicht heißt, daß dieser weniger komplex ist. Stilistisch gesehen, muß er unmittelbar an Jack Kerouac denken, einer der Schriftsteller, die er sehr bewundert. Am Ende seiner Karriere war Kerouacs Schreiben wie eine japanische Strichzeichnung, eine reine Linie, die eine solche Einfachheit, eine solche Bescheidenheit erreicht und doch die Schöpfung einer Fremdsprache innerhalb der Sprache beinhaltet. Genauso Céline, bei dem er es verwunderlich findet, daß die Leute Céline noch immer dafür lobpreisen, die gesprochene Sprache in die geschriebene Sprache eingeführt zu haben, wie in REISE BIS ANS ENDE DER NACHT . Deleuze kommt dies äußerst dämlich vor. Eine umfassend geschriebene Behandlung der Sprache ist von Nöten, um durch die Schaffung einer Fremdsprache eine Entsprechung des Geschriebenen mit der gesprochenen Sprache zu erreichen. Céline hat das Gesprochene nicht in die Sprache eingeführt. Es ist dämlich, das zu behaupten, beharrt Deleuze. Als Céline nun aber Komplimente erhielt, wußte er, daß er noch weit entfernt von dem war, das er erschaffen wollte. Also ein zweiter Roman. In MORDTOD AUF RATEN kommt er dem schon näher. Doch als man ihm nach der Veröffentlichung attestiert, seinen Stil geändert zu haben, weiß er wieder, daß er stets noch sehr weit von dem entfernt ist, was er wollte. Mit GUIGNOLS BAND wird er es schließlich erreichen. Er treibt die Sprache derart an ihre Grenze, daß sie fast zu

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Musik wird. Es ist nicht länger eine bestimmte Behandlung der Sprache, die eine Fremdsprache hervorbringt, sondern eine ganze Sprache, die an eine musikalische Grenze getrieben wird. Ein Stil verändert sich aus sich selbst heraus, ein Stil besitzt sein eigenes Werden.

Parnet erwähnt, daß sie bei Péguy oft an den musikalischen Stil von Steve Reich denken muß. Gerade wegen der repetitiven Element darin, doch Deleuze besteht darauf, daß Péguy ein ungleich größerer Stilist als Reich ist. Aber, so Parnet, er sei noch immer nicht auf ihre Niedertracht eingegangen, sofern er denke, einen eigenen Stil zu haben. Deleuze erwidert, er würde gern. Allerdings weiß er nicht, was sie von ihm hören will. Allein schon um ein Stilist zu sein, muß man mit dem Problem des Stils leben. Sehr bescheiden, wohlgemerkt, kann er von sich sagen, daß er es lebt. Er schreibt nicht, um sich währenddessen damit zu trösten, daß der Stil hinterher drankommt. Er ist sich sehr wohl bewußt, daß er die Bewegungen der Begriffe, die er sich wünscht, nicht erzeugen kann, sofern das Schreiben nicht einen bestimmten Stil durchläuft. Und dafür ist er bereit, dieselbe Seite zehnmal umzuschreiben.

Nachdem die Kassette gewechselt worden ist, greift Parnet diesen Punkt wieder auf. Für Deleuze sei der Stil eine Art Notwendigkeit. Notwendig für die Komposition dessen, was er schreibe, Komposition auf eine sehr ursprüngliche Weise. Deleuze stimmt ihr völlig zu: "Ist die Komposition, die Herstellung eines Buches schon eine Frage des Stils? Ja, voll und ganz." Die Herstellung kann nicht im Vorhinein erfolgen, einzig zu der Zeit, in der das Buch geschrieben wird. In dem, was er geschrieben hat, wenn "ich es wagen darf, dies anzuführen", gibt es zwei Bücher, die komponiert zu sein scheinen. Immer hat er großen Wert auf die Zusammenstellung eines Buches gelegt, wie die serielle Anlage von LOGIK DES SINNS (Logique du Sense) , die für ihn wirklich eine Art von serieller Komposition bildet. Und dann TAUSEND PLATEAUS, eine aus verschiedenen Plateaus bestehende Komposition. Plateaus, die wiederum aus anderen Dingen zusammengesetzt sind. Aber er sieht beide mehr als musikalische Kompositionen an. Komposition ist ein grundlegendes Element jedes Stils.

Parnet kommt noch einmal auf etwas, das er kurz zuvor gesagt hat: Ist er, um es mit seinen Worten auszudrücken, heute näher an dem, was er vor zwanzig Jahren wollte oder ist es etwas gänzlich anderes. Deleuze entgegnet, aktuell empfindet er das, was er tut, als noch nicht ganz fertig. Er ist näher an etwas gelangt, er greift nach etwas, das er gesucht hat und zuvor nicht gefunden hat. Parnet schlägt vor, daß sein eigener Stil nicht nur literarisch sei, sondern nahezu alle möglichen Bereiche umfasse. Er lebe in einer eleganten Familie, sein Freund Jean-Pierre ist ebenfalls recht elegant und Deleuze scheine von dieser Eleganz sehr angezogen zu sein.

Wovon Deleuze ein bißchen überrumpelt ist. Er wäre gern elegant, weiß aber auch ziemlich sicher, daß er es nicht ist. Eleganz besteht darin, schon das erzeugen zu können, was Eleganz ausmacht. Es muß so sein, da es eine Menge Leute gibt, die dies völlig verfehlen und deren scheinbare Eleganz kein Stück elegant ist. Ein gewisser Zug dessen, was die Eleganz ausmacht, gehört folglich zur Eleganz selbst. Diese Art von Eleganz beeindruckt ihn, ganz gleich wo er auf sie trifft. Man muß darum wissen, vielleicht sogar

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damit ausgezeichnet sein. Er will wissen, warum sie ihn dies gefragt hat und sie besteht auf dem alles umfassenden Problem des Stils. Gewiß, sagt er, doch ist dies nicht das Problem großer Kunst.

Er hält ein. Was von größter Wichtigkeit ist - neben der Eleganz, die er sehr liebt -, sind all die Dinge in der Welt, die unentwegt Zeichen aussenden. So gesehen senden sowohl elegante als auch vulgäre Dinge Zeichen aus und die Wichtigkeit betrifft eben nicht nur die Eleganz: Es ist das Aussenden von Zeichen. Deshalb schätzt er Proust so außerordentlich, weil "die Zeichen verschiedene Welten konstruieren, die leeren gesellschaftlichen Zeichen, die trügerischen Zeichen der Liebe, die materiellen sinnlichen Zeichen, schließlich die essentiellen Zeichen der Kunst (die alle anderen transformieren)" . Ein fantastisches Aussenden von Zeichen, beispielsweise das Wort gaffe . Eine Unfaßbarkeit von einem Zeichen: Zeichen, welche die Leute nicht verstehen. Das gesellschaftliche Leben als Milieu der Vermehrung leerer Zeichen. Doch es liegt auch an der Geschwindigkeit ihrer Aussendung und der Verfassung ihrer Aussendung. Dies verbindet sich erneut mit A WIE IN ANIMAL (TIER), da das Tierreich ebenfalls aus dem Aussenden von Zeichen besteht. Tiere und soziale Tiere, die Mondänen, sind die Meister der Zeichen.

Obwohl er nicht häufig ausgeht, schließt Parnet, habe er mondäne Gesellschaften stets Gesprächsrunden an Tischen vorgezogen. Selbstverständlich, entfährt es Deleuze. In mondänen Milieus werden die Leute nicht diskutieren. Auf diese Abartigkeiten und Vulgaritäten wird man in diesen Milieus nicht stoßen. Die Smalltalk-Gespräche bewegen sich vielmehr als außergewöhnlich schnelle Äußerungen und mit absoluter Leichtigkeit wie auf einem Boulevard auf den Oberflächen. Allerdings in den unterschiedlichsten Gesprächsgeschwindigkeiten. Und dazu sind es sogar sehr aufregende Aussendungen von Zeichen.

T WIE IN TENNIS

Parnet beginnt damit, daß Deleuze Tennis immer gemocht hat. Es gäbe doch jene berühmte Anekdote: Deleuze war noch ein Kind und wollte ein Autogramm von einem bekannten Schwedischen Tennisspieler, den er zufällig entdeckt hatte. Der Spieler, den Deleuze dann um ein Autogramm bat, war jedoch der Schwedische König.

Deleuze verteidigt sich, daß es kein Versehen war. Er wußte, daß es der König war, der damals schon mindestens hundert war. Aber um ein Autogramm hat er ihn trotzdem gebeten. Im Figaro gab es ein Foto von Deleuze, wie er als kleiner Junge den alten König von Schweden um ein Autogramm bittet. Parnet fragt, ob es ein Tennisspieler war, hinter dem er hergewesen ist und Deleuze meint: Borotras, kein besonders guter Schwedischer Spieler. Er war einer der Leibwächter des Königs, der mit dem König Tennis spielte und ihm Stunden gab. Borotras versuchte Deleuze einige Male zu treten, um ihn vom König fernzuhalten, als der König aber freundlich zu ihm war, wurde auch Borotras umgänglicher.

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Parnet will wissen, ob Tennis die einzige Sportart ist, die er im Fernsehen anschaut. Was Deleuze verneint, er bewundert auch Fußball. Fußball und Tennis. Und ob er selbst Tennis gespielt hat? Eine Menge, sagt er, aber nur bis zum Krieg, was ihn also auch zu einem Opfer macht. Parnet überlegt, ob dies Auswirkungen auf seinen Körper gehabt hat. Als jemand, der eine Menge Sport macht oder der plötzlich aufhören muß, da sich die äußeren Umstände geändert haben. Er meint nicht, zumindest nicht bei ihm. Ein Verkaufsschlager wäre er nicht geworden. 1939, als er mit dem Tennis aufhörte, war er vierzehn Jahre alt, also war das nichts Ernstes. Ob er gut gespielt habe, fährt Parnet fort. Worauf Deleuze mit Ja antwortet. Für einen Vierzehnjährigen hat er schon ganz gut gespielt, er war nur ein wenig zu klein. Parnet hat gehört, daß er auch geboxt habe, Französischer Stil. Nur kurz, sagt er, er wurde verletzt und hörte noch am selben Tag auf. Aber versucht hat er es.

Parnet möchte wissen, ob Tennis sich seit seiner Jugend sehr verändert hätte. Deleuze antwortet, selbstverständlich, wie in allen Sportarten, gibt es auch hier Millieus der Veränderung, womit sie wieder bei der Frage des Stils wären. Deleuze reizt die Frage der Positionen des Körpers. Es entstehen Variationen in den Positionen des Körpers über größere oder kleinere Zeiträume und man müßte diese Variablen in der Geschichte des Sports einmal kategorisieren. Deleuze führt nun einige auf. Variationen der Tatik: Im Fußball hat sich die Tatik enorm verändert seit er ein Kind war. Es gibt unterschiedlichste Positionen in der Körperhaltung: Es gab eine Zeit, in der er sich sehr mit Kugelstoßen beschäftigte, nicht um es selbst zu tun, sondern wegen des Körperbaus des Sportlers am Punkt der größten Geschwindigkeit. Es ist eine Frage der Kraft: Wie erzeugt ein kräftiger Kugelstoßer Geschwindigkeit und wie bringt ein auf Schnelligkeit trainierter Kugelstoßer Kraft zusammen? Deleuze war von dieser Frage fasziniert und er erwähnt den Soziologen Marcel Mauss, der alle Arten von Studien und Untersuchungen über Positionen des Körpers in verschiedenen Zivilisationen gemacht hat. Gerade im Sport sind die Variationen der Positionen und Haltung etwas Fundamentales.

Im Tennis, auch schon vor dem Krieg, entsinnt sich Deleuze, waren die Positionen nicht dieselben und wieder ist von etwas angetan, das ebenfalls mit Stil zu tun hat: Herausragende Spieler, die wirkliche Schöpfer sind. Deleuze meint, es gibt zwei Arten von Spielern, die nicht dieselbe Bedeutung für ihn haben, die Schöpfer und die Nicht-Schöpfer. Die Nicht-Schöpfer bedienen sich eines existierenden Stils und ungewöhnlicher, physischer Stärke, beispielsweise Ivan Lendl. Deleuze halt Lendl nicht für einen schöpferischen Tennisspieler. Aber es gibt die schöpferischen Tennisspieler, die, selbst auf einfache Weise, neue Schläge erfinden und neue Taktiken einführen. Und dann folgen die Horden von Nachahmern. Die großen Stilisten aber sind Erfinder, in allen Sportarten.

Deleuze wundert sich, was die Veränderung im Tennis ausgelöst hat und vermutet, daß es mit der Proletarisierung zusammenhängt, relativ gesehen. Tennis ist zu einem Massensport geworden. Eine junge Entwicklung mit ein wenig Prahlerei der Arbeiterklasse, er meint aber, es ist wohl unbedenklich, es Proletarisierung des Tennis zu nennen. Sicher gibt es umfassende Erklärungsversuche, aber es wäre nie dazu gekommen, wäre nicht zur gleichen Zeit ein großer Spieler aufgetaucht, Bjorn Borg, der

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dies erst möglich machte. Warum? Eben weil er einen bestimmten Still mitbrachte und er mußte eine Art von Massentennis von Grund auf erfinden. Nach ihm kamen eine Reihe guter Spieler, allerdings keine Schöpfertypen, wie Vilas, etc. Borg ist als Figur reizvoll, der Heilandskopf, das christliche Gehabe, das extrem Weihevolle, was ihm auch derart viel Respekt von den anderen Spielern einbrachte.

Nach einem Kassettenwechsel fragt Parnet, ob Deleuze viele Tennisspiele gesehen hätte. Der beginnt, kommt dann aber doch wieder auf Borg als christlicher Charakter, der das Massentennis erfunden hat und somit ein völlig neues Spiel. Die dann folgenden Vilas-Typen schläferten das Spiel eher ein, wohingegen Borg ein Spieler ist, bei dem man bei allen Komplimenten stets das Gefühl hat, daß er meilenweit von dem entfernt ist, was er eigentlich tun wollte. Aber Borg, so Deleuze, hat sich ständig verändert: Sobald er einen Schlag beherrschte, kümmerte er sich nicht mehr darum, sein Stil ist also sehr brüchig. Nur ein Depp bleibt bei den alten Sachen. Deleuze bemerkt, daß man John McEnroe als Anti-Borg betrachten muß.

Parnet kommt auf Borg speziellen Stil und Deleuze beschreibt ihn als: Weit hinten auf dem Platz angelegt, die weiteste Rückzugsmöglichkeit, viel Spin im Schlag und die Bälle hoch über dem Netz. Jeder 'Prolet' konnte dieses Spiel verstehen, meint er, meistern nicht unbedingt. Die Grundzüge - Platztiefe, Spin, hohe Bälle -, waren das genaue Gegenteil eines aristokratischen Spiels. Sie sind vielmehr popular. Welcher Anstregung bedurfte es dazu, wie der Heiland, ein Aristokrat, der sich dem Volk zuwendet. Deleuze gibt zu, im Augenblick etwas dämlich daher zureden. Aber Borgs Schlag ist so erstaunlich, die Arbeit eines großen Schöpfers.

McEnroe ist dagegen ein reiner Aristokrat. Halb Ägypter, halb Russe: Ägyptisches Servicespiel, russische Seele. Und er hat Schläge erfunden, von denen er wußte, daß ihnen niemand folgen kann. Er war ein Aristokrat, dem man nicht folgen konnte. Er hat einige gewaltige Bewegungen erfunden. Eine bestand darin, den Ball, äußerst seltsam, ohne ihn zu schlagen, einfach zu platzieren. Und er entwickelte eine Service-Volleybewegung, die bis dahin unbekannt war. Sowohl er als auch Borg veränderten alles. Ein anderer großer Spieler, nicht ganz so bedeutend, ist ein weiterer Amerikaner, Connors, der auch aristokratisch spielte: Der Ball flach über dem Netz, ein sehr eigenartiges aristokratisches Prinzip, zudem ein sehr unausgewogener Schlag. Und Connors hat nie so schöpferisch gespielt, wie in den Momenten, wenn sein Schlag vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten war. Deleuze hebt hervor, daß es auch eine Geschichte des Sports gibt. Wie in der Kunst gibt es das Werden, die Schöpfer, die Nachahmer, die Veränderungen und Variationen des Sports.

Parnet beharrt auf der Frage, ob Deleuze bei irgendeinem Spiel anwesend war und er versucht, wieder auf seinen Bezugspunkt zu kommen. Ihm scheint es schwierig festzustellen, wann etwas außergewöhnliches im Sport entsteht. Eine Besonderheit fällt ihm doch ein, vor dem Krieg gab es einige Australier - kurz spekuliert er über die Nationalität und warum die Australier, wie er meint, die beidhändige Rückhand erfunden haben. Als Kind hat in eine Bewegung besonders getroffen, als er sah, wie ein Gegner den Ball verfehlte und nicht verstand warum. Deleuze erzählt, daß es ein eher sanfter

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Schlag war und nachdem er nochmals darüber nachdachte, kam er darauf, daß es der Return eines Sevices gewesen sein muß. Als der Gegner aufspielte, fiel der Return des anderen Spielers eher sanft aus, was zur Folge hatte, daß der Ball dem Gegner vor die Füße fiel, als dieser für einen Volley nach Vorne kam und den Ball so nicht schlagen konnte. Es war ein seltsamer Return und Deleuze verstand nicht, warum er funktionierte. Seiner Meinung nach, war der erste, der diesen Schlag nutzte, ein australischer Spieler, der aber keine große Karriere mehr vor sich hatte, namens Bromwich, kurz vor oder nach dem Krieg, Deleuze ist sich nicht ganz sicher. Auf jeden Fall war er beeindruckt von diesem Schlag, der heute ein Klassiker ist. Seines Wissens nach war das eine Erfindung, die die Generation eines Borotras noch nicht kannte.

Um ein Ende mit dem Tennis zu finden, fragt Parnet, ob Deleuze denkt, ob McEnroe so weitermachen wird wie bisher, den Schiedsrichterbeleidigungen, die eher ihn selbst als den Schiedsrichter treffen und ob dies eine Frage des Stils sei und ob McEnroe unglücklich mit dieser Form des Ausdrucks sein könnte? Deleuze bejaht, es ist ein Frage des Stils, da all das voll und ganz zu seinem Still gehört. Es sind nervöse Ausbrüche, so wie der eine Redner ärgerlich wird und ein anderer kühl und distanziert bleibt. "Das gehört als ein Teil zu McEnroes Stil. Es ist die Seele, wie man im Deutschen so hübsch sagt, das 'Gemüt'."

U WIE IN UN (EINS)

Die Philosophie und die Wissenschaft, fängt Parnet an, beschäftigen sich mit Universalien. Dennoch beharrt Deleuze ständig darauf, daß die Philosophie mit den Singularitäten verbunden bleiben muß. Ist das kein Widerspruch?

Deleuze sagt, es gibt da keinen Widerspruch, die Philosophie hat einfach nichts mit Universalien zu tun. Sowas ist ein Vorurteil der herrschenden Meinung, zu glauben, die Philosophie hätte mit Universalien zu tun und daß die Wissenschaft sich mit universalen Phänomenen beschäftigt, die jederzeit reproduzierbar wären, etc. Wie in dem Satz: Alle Körper fallen. Was daran wichtig ist, ist nicht, daß alle Körper fallen, vielmehr ist es der Fall selbst, die Singularität des Falls. Selbst wenn wissenschaftliche Singularitäten reproduzierbar wären - wie mathematische Singularitäten in Funktionen oder physiklische Singularitäten oder chemische Singularitäten, usw. - , wunderbar und was dann? Deleuze argumentiert, daß dies sekundäre Phänomene sind, bereits dem Prozeß der Universalisierung unterworfen, womit sich die Wissenschaft beschäftigt sind eben keine Universalien, sondern Singularitäten: Wann verändert ein Körper seinen Zustand, wird von einem flüssigen in einen festen...

Die Philosophie hält sich nicht mit dem Einen, Seienden auf. Das anzunehmen, ist dämlich. Die Philosophie hat mit Singularitäten zu tun. Letztlich entdeckt man immer die Vielheiten, die unterschiedlichen Zustände der Singularitäten. Die Formel für die Vielheiten und Aggregatzustände der Singularitäten lautet: n-1, denn das Eine muß immer abgezogen werden. Es gibt einen Fehler, den man machen kann: Denken, die

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Philosophie besteht aus Universalien. Von denen es drei Arten gibt: Die Kontemplation, Ideen mit einem großen I, also die Reflektion und die Kommunikation, der letzte Zufluchtsort der Universalphilosophie. Habermas liebt die universale Kommunikation, lacht Deleuze.

Daß heißt, daß die Philosophie entweder Kontemplation oder Reflektion ist, vielleicht sogar Kommunikation. Alle drei Fälle sind sehr komisch und possierlich. Die komtemplative Philosophie, nun gut: Die bringt jeden zum Lachen. Die reflektierende Philosophie ist weniger lachhaft, dafür aber dümmer. Keiner braucht doch die Philosophie, um über etwas nachzudenken. Die Mathematiker brauchen die Philosophie doch nicht, um über die Mathematik nachzudenken. Genauso wenig wie ein Künstler die Philosophie hervorkramen muß, um ein wenig über die Malerei oder die Musik zu reflektieren. Boulez braucht die Philosophie nicht, um über die Musik nachzudenken. Zu denken, die Philosophie ist eine Reflektion über etwas, verrät die ganze Sache. Überhaupt, worüber soll sie denn nachdenken? Und eine Philosophie die erneut einen Konsens in der Kommunikation als Grundlage eines universalen demokratischen Gesprächs herstellt, ist die lächerlichste Idee, die je zu hören war... Nichts von diesem Konsens- und Meinungsquatsch, wie in einem Verhör. "Diskussionen sind der Philosophie ein Greul. Sie hat stets anderes zu tun..."

Die Philosophie, so Deleuze, erschafft Begriffe, was nichts mit Kommunikation zu tun hat. Die Kunst ist weder kommunikativ, noch reflexiv, noch sind die Wissenschaft oder die Philosophie kontemplativ, reflexiv oder kommunikativ. Sie sind schöpferisch, das ist alles. Die Formel lautet: n-1. Unterdrückt die Einheit, das Universale. Parnet stellt also fest, daß für ihn die Universalien nichts mit der Philosophie zu tun haben, woraufhin Deleuze lächelnd den Kopf schüttelt.

V WIE IN VOYAGES (REISEN)

Parnet kündigt den Titel mit der Bemerkung an, daß dies die Vorführung eines paradoxen Begriffs ist, da Deleuze zwar den Begriff der Nomadologie erfunden hat, Reisen selbst jedoch nicht ausstehen kann.

"Warum, vor allem anderen, haßt er es zu reisen?", will sie wissen. Deleuze antwortet, daß er die Umstände nicht mag, die sich einem armen Intellektuellen stellen. Vielleicht wenn er anders reisen würde, könnte er das Reisen bewundern. Für einen Intellektuellen aber, er lacht, was heißt es für den zu reisen? Es heißt, auf Konferenzen zu gehen, am andern Ende der Welt, sollte das nötig sein und es beinhaltet die Gespräche davor und die Gespräche danach. Mit Leuten, die dich freundlich grüßen und hinterher die Gespräche mit den Leuten, die dir freundlich zugehört haben, bloß "Reden, Reden, Reden...", entfährt es ihm. Für ihn ist das Reisen eines Intellektuellen gerade das Gegenteil von Reisen. Zu den Rändern der Welt gehen, nur um zu sprechen, ist etwas, was man auch zuhause tun kann und um Leute zu sehen und vorher zu sprechen und nachher zu sprechen, dafür bedarf es keiner solch monströsen Reise. Er fügt noch hinzu,

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daß er Leuten, die reisen, sehr freundlich gesonnen ist. Er preist das Nicht-Reisen ja nicht als unbedingtes Muß und er gibt nicht vor, Recht zu haben, glücklicherweise.

Er fragt sich: Was hat es mit dem Reisen auf sich?

Zuerst gibt es da kleine Stücke eines falschen Bruchs, der erste Aspekt, der ihm das Reisen verleidet. Der erste Grund: Es ist nur eine billige Unterbrechung. Und Deleuze empfindet wie Fitzgerald es ausgedrückt hat: Eine Reise ist nicht genug um einen wahrhaften Bruch zu erzeugen. Wenn es eine Frage der Brüche, der Sprünge, der Knackse ist, dann gibt es andere Dinge als Reisen. Was sieht man schon? Bei Leuten, die viel reisen und mitunter sogar stolz darauf sind, da geschieht das aus dem Grund, wie jemand einmal sagte, einen Vater zu finden, worauf er wieder lachen muß. Es gibt große Reporter, die über all das Bücher geschrieben haben, wie sie alle nach Vietnam gegangen sind, alles gesehen haben und doch war jeder für sich bloß auf der Suche nach einem Vater. Er grinst: "Sie hätten sich nicht drum scheren sollen..." Und lachend bemerkt er, Reisen kann auf gewisse Weise ziemlich ödipal sein. "Aber, nein, das funktioniert so nicht!"

Sein zweites Argument bezieht sich auf einen wunderbaren Satz von Beckett, der ihn sehr berührt, in welchem dieser eine der Figuren, mehr oder minder sagen läßt - Deleuze meint, er würde das Zitat nur halbwegs zusammenbe-kommen und es besser ausgedrückt sein, als er es vermag: Gut, die Leute mögen durch und durch dämlich sein, aber nicht so blöde, um zum Vergnügen zu reisen. Er findet diesen Satz völlig zufriedenstellend: Ich bin blöde, sagt er, aber nicht so sehr, daß ich zum Vergnügen reisen würde, so arg nun doch nicht.

Ein dritter Aspekt des Reisens: Parnet hat den Begriff des Nomaden erwähnt und zugegebenermaßen ist er von den Nomaden sehr fasziniert, doch sind es gerade diese Leute, die in keiner Weise reisen. Die Leute, die reisen, sind Emigranten und es mag da bestimmt gänzlich respektable Leute geben, die zum Reisen gezwungen sind, Exilanten und Emigranten. Dies ist jedoch auch eine Art des Reisens, nicht eine Frage der Lächerlichkeit, da dies heilige Formen des Reisens sind, das gezwungene Reisen. Nomaden aber reisen nicht, sagt Deleuze. Im Grunde genommen, bleiben sie einzig an einem Ort. Toynbee, aber auch alle anderen, die zu den Nomaden geforscht haben, sagen das. Die Nomaden weigern sich, abzuhauen, sie ergreifen Besitz von der Erde, ihrem Land. Ihr Land wird unbewohnbar, sie jedoch besetzen es, sie können nur auf ihrem Land nomadisieren und es ist die Kraft ihrer Wünsche, auf ihrem Land zu bleiben, die sie nomadisieren läßt. Mitunter kann man also sagen, daß nichts unbeweglicher ist, als ein Nomade, nichts weniger reist als ein Nomade. Sie wollen nicht abhauen, deshalb sind sie Nomaden. Und darum werden sie so schlecht behandelt.

Als beinahe letzter Punkt zum Reisen, sagt Deleuze, gibt es einen Satz von Proust, der wunderschön ist: Auf einer Reise, ganz gleich was man tut, geht es darum, etwas wahr werden zu lassen. Man prüft, ob die Farbe, von der man geträumt hat, auch wirklich dort ist. Deleuze besteht darauf, noch etwas Wichtiges hinzuzufügen: Ein schlechter Träumer ist jemand, der nicht aufbricht, um zu sehen, ob die Farbe, von der er geträumt hat, auch

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wirklich dort ist. Ein guter Träumer hingegen weiß, daß man gehen muß, um zu prüfen, ob diese Farbe dort ist.

Er mag diese Bestimmungen des Reisens und Parnet freut sich über diese fabelhaften Bewegungen und Deleuze fährt fort: Es gibt Reisen, die ein wahrhafter Bruch sind. Beispielsweise scheint im Augenblick, im Leben J. M. G. Le Clézios ein Weg zu liegen, um mit einem gewissen Bruch umzugehen. Deleuze nennt Lawrence... Um dann zu sagen, daß es viele große Schriftsteller gibt, die er bewundert und die das Reisen schätzen. Stevenson wäre so jemand. Stevensons Reisen sind nicht unbedeutend, räumt er ein. Das was er sagt, hat aber nichts Universales, es ist einfach seine Meinung. Und jemand, der das Reisen nicht mag, hat wahrscheinlich einen dieser vier Gründe.

Parnet will wissen ob sich dies mit Deleuzes eigener Langsamkeit verbindet und dieser sagt, nein, Reisen stellt er sich nicht langsam vor, aber auf jeden Fall sieht er keinerlei Notwendigkeit, sich zu bewegen. All seine Intensitäten sind unbewegliche Intensitäten. Die Intensitäten verteilen sich selbst, in Bereichen oder in anderen Systemen, die nicht unbedingt in äußeren Räumen liegen müssen. Deleuze versichert Parnet, daß wenn er sich mit Büchern oder mit Musik beschäftigt, die er wundervoll findet, hat er das Gefühl, in solche Leidenschaften und Affekte einzutreten, die sich auf Reisen niemals böten. Er fragt sich, warum sollte er diese Gefühle an Orten suchen, die ihm nicht recht passen, wenn die für ihn Bezaubernsten in unbeweglichen Systemen liegen, wie in der Musik, der Philosophie. Es gibt eine Geo-Musik und eine Geo-Philosophie, die, ihm zufolge, zu eigenen Ländern werden und dies sind seine Reiseländer. Parnet wirft 'Dein Ausland' ein, was Deleuze auf nimmt, sein eigenes Ausland, seine Fremde, die er auf Reisen nicht finden könnte.

Parnet betont, daß dies ein sehr schönes Bild dafür ist, daß Bewegung nicht durch Vertreibung zustande kommt, meint aber, daß er schon ein wenig gereist ist, in den Libanon zu einer Konferenz, nach Kanada, in die USA. Deleuze antwortet, ja, aber er ist immer in sowas reingezogen worden und er sowas nicht länger macht, gerade weil er es eigentlich gar nicht hätte tun sollen. Er hat eher das Gefühl, viel zu viel unternommen zu haben. Er sagt, zu dieser Zeit mochte er es, Spazieren zu gehen, mittlerweile aber geht er weniger spazieren, also gibt es auch keine Reisen mehr. Er erzählt, wie er ganz allein von Morgens bis in die Nacht hinein in den Straßen Beiruts Spazieren gegangen ist, ohne zu wissen, wohin er gerade geht. Und daß er es mag, eine Stadt zu Fuß zu sehen. Doch das ist alles vorbei. Er läßt den Kopf sinken.

W WIE IN WITTGENSTEIN

Parnet schlägt vor, zum W zu kommen, doch Deleuze erwidert, da gibt es nichts im W. Worauf Parnet einwendet, es gäbe da Wittgenstein. Sie weiß, daß Deleuze nichts mit ihm anfangen kann, aber es ist schließlich nur ein Wort. Er möchte jedoch nicht über ihn sprechen... Es ist eine philosophische Katastrophe. Das Musterbeispiel einer 'Schule', ein Rückschritt der gesamten Philosophie, ein massiver Rückschritt. Für Deleuze ist

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Wittgenstein ein Grund zur Trauer. Sie errichteten ein Schreckenssystem, in welchem, unter dem Vorwand etwas Neues zu tun, die eigene Armut als Größe verkauft wurde. Es fehlen die Worte, um diese Art von Gefahr auszudrücken, aber es ist eine Gefahr, die wieder auftauchen und dieses Mal nicht das einzige Mal gewesen sein wird. Es ist ein ernsthaftes Problem, besonders, da er die Wittgensteinianer für rücksichtslos und zerstörerisch hält. Insofern könnte es eine Hinrichtung der Philosophie geben, wie Deleuze meint. Sie sind sowas wie die Scharfrichter der Philosophie und allein deshalb gilt es, aufmerksam zu sein, sehr aufmerksam. Er lacht.

X UNBEKANNT, Y UNAUSSPRECHLICH

Parnet stellt fest, X ist unbekannt und Y ist unaussprechlich, worauf Deleuze wieder lachen muß, so daß sie direkt zum finalen Buchstaben des Alphabets weitergehen:

Z WIE IN ZICKZACK

Parnet sagt, nun haben sie den finalen Buchstaben, das Z, erreicht und Deleuze entfährt: "Gerade rechtzeitig!"

Parnet zufolge, ist es nicht das Z Zorros des Gerechten, da Deleuze durch das gesamte Alphabet offengelegt hat, wie wenig er Gerichte ausstehen kann. Es ist das Z der DifferenZ, des BlitZes, der Buchstabe, den man in den Namen der großen Philosophen findet: Zen, Zarathustra, LeibniZ, NietZsche, SpinoZa, BergZon und auch in DeleuZe.

Der lacht, darüber, daß sie so überaus deutlich mit Bergson und so überaus freundlich mit Deleuze ist.

Das Z ist für ihn ein großer Buchstabe, der die Wiederkehr des As ermöglicht: Die Fliege, die zackigen Bewegungen einer Fliege, das Z, das finale Wort, kein Wort nach ZickZack. Deleuze denkt, es ist gut mit diesem Wort aufzuhören. Er fährt also fort mit der Frage, was nun unter dem großen Z geschieht? Er breitet aus, daß Zen die Umkehrung von Nez, Nase ist, wieder ein ZickZack. Und malt den Winkel einer Nase in die Luft. Das Z als reine Bewegung. Die Fliege vollführt vielleicht die elementarsten Bewegungen seit der Entstehung der Erde. Deleuze erzählt, daß er gerade ein Buch über den Big Bang liest, die Entstehung des Universums, als eine sich ewig fortsetzende Kurve und wie diese auftauchte. Er empfindet, daß am Ursprung der Dinge kein Urknall steht, sondern das Zen, das ZickZack wie im der Flug der Fliege.

Wenn er ZickZacks erzeugt, sind es, wie er zuvor unter U WIE IN UN schon beschrieben hat, keine Universalien, sondern vielmehr unterschiedliche Zustände von Singularitäten. Wie, fragt er sich, bringt man entgegengesetzte Singularitäten miteinan-

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der zum Wirken, wie verkoppelt man die unterschiedenen Kräfte, um mit der Physik, um mit Körpern zu sprechen. Deleuze meint, man kann sich das Chaos derartiger Kräfte vorstellen. Wie aber nun setzt man sie in Beziehung zu einander?

Deleuze versucht dieses Vorgehen als "vage wissenschaftlich" zu fassen , mit einem Begriff, den er sehr mag und auch in seinen Büchern benutzt. Jemand erklärt, sagt er, daß zwischen zwei Kräften ein Phänomen auftaucht, das mit der Vorstellung eines 'ersten Bewegers' beschrieben wird. Dieser erste Beweger nun setzt die beiden Kräfte miteinander in Verbindung und sobald die Reise dieses dunklen Bewegers beginnt, treten die Kräfte in einen Zustand, der sie miteinander ausagiert und aus welchem das wahrnehmbare Ereignis entsteht. Es gibt also den ersten Beweger, er malt ein Z in die Luft und dann den Blitzschlag und so wird die Welt geboren. Immer gibt es einen ersten Beweger, den niemand wahrnehmen kann und dann einen gleißend hellen Blitzschlag und da ist die Welt. So sollte es sein und die Philosophie sollte es sein müssen, das große Z, doch eben auch die Weisheit des Zen. Der Weise ist der erste Beweger und dann kommt der Schlag mit dem Stock, da der Zenmeister an seinen Schülern vorübergeht und sie mit seinem Stock schlägt. Für Deleuze ist jener Schlag der Blitz, der die Dinge plötzlich sichtbar macht.

Er hält inne und bemerkt: "Und so sind wir ans Ende gelangt." Parnet stellt ihre finale Frage: Ist er froh darüber, ein Z in seinem Namen zu haben? Worauf Deleuze lacht und erwidert: "Entzückt!" Nochmals hält er ein: "Welch eine Freude das alles gemacht zu haben." Er erhebt sich, setzt seine Brille auf, blickt zu Claire Parnet und sagt: "Posthume! Posthume!" (Nachlaß! Nachlaß!). Worauf sie ihm: "PostZume!" (NachlasZ) entgegnet. Die Kamera folgt Deleuze ein Stück, bis er das Bild verlassen hat und man von Draußen seine Stimme sagen hört: "Und habt vielen Dank für all eure Herzlichkeit..."

PERSONENREGISTER

Adabia, ?. 82Adam, V.d.l'I. 63Aristoteles 88Artaud, A. 6, 58Astaire, F. 48

Balzac, H.d. 82, 111Bamberger, J.-P. 28, 29, 115Barthes, R. 28, 87Bartok, B. 85Baudelaire, C. 23, 45Beaufret, J. 96Beckett, S. 5, 13, 14, 28, 51, 64, 1o2, 113, 124Bellour, R. 1o7Bene, C. 12, 8o

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Berg, A. 77, 81, 87Bergson, H. 38, 76, 129Blanchot, M. 28, 68Blum, L. 22Bonaparte, N. 31Borg, B. 118, 119Borges, J.L. 59Borotras, ?. 117, 12oBoulez, P. 122Boutang, P.-A. 2, 3Bresson, R. 79, 8oBreton, A. 97Bretonne, R.d.l. 63Bromwich, ?. 12oBülow, F. 88

Carroll, L. 2, 61Catull 55Céline, L.F. 113, 114Cézanne, P. 49, 78Chatelet, F. 81Clézio, J.M.G.l. 125Connors, ?. 119Courrier, P.-L. 63

Cromwell, O. 3o, 31Delaunay, R. 78, 79Deleuze, E. 73Deleuze, F. 73Deleuze, J. 73Descartes, R. 46Develin, ?. 96Devos, R. 71Dodgson, C.L. 2, 61Dostojewski, F. 26, 64

Eco, U. 9Einstein, A. 1o4Enzensberger, C. 2Ewald, F. 1o7

Farachi, A. 65Faulkner, W. 49, 61Fields, W.C. 4Fitzgerald, F.S. 8, 61Flaubert, G. 28, 45

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Foucault, M. 29, 53, 54, 81, 87, 96, 111France, A. 23François, C. 82Frehel, ?. 82Freud, S. 4, 18Furet, F. 31

Gaugin, P. 38, 43, 77Gallimard, ?. 13Gide, A. 23Glucksmann, A. 3oGogh, V.v. 38, 43, 55, 56Guattari, F. 4, 5, 6, 15, 17, 18, 2o, 27, 28, 38, 47, 48, 54, 56, 61, 65, 72, 74, 8o, 83

Habermas, J. 121Halbwachs, M. 23Halbwachs, P. 23, 24Hantaï, S. 8oHegel, G.W.F. 46Heidegger, M. 96Hill, B. 12, 51Hoffmansthal, H.v. 6Hugo, V. 62, 63Hume, D. 38

Jankélévitch, V. 86, 87Jefferson, T. 31Joubert, ?. 63Joyce, J. 36Jung, C.G. 18

Kafka, F. 6, 12, 35, 51, 61, 112Kant, I. 38, 43, 44, 57, 58, 59, 6o, 61, 77Kelly, G. 48Kerouac, J. 113Kierkegaard, S. 28Klee, P. 85

Lacan, J. 97Lawrence, D.H. 58, 62, 66, 125Leibniz, G.W. 11, 38, 42, 43, 44, 45, 46, 57, 76, 8o, 1o9, 129Lendl, I. 118Leskow, N. 64Levi, P. 1o4, 1o5, 1o6Losey, J. 12Luca, G. 112

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Mahler, G. 85, 87Mandelstam, O. 24, 25Marx, K. 31, 34, 46Mascolo, D. 28Mauss, M. 118McEnroe, J. 119, 12oMelville, H. 5, 31, 61Merleau-Ponty, M. 24, 86Michaelson, ?. 79Michaux, H. 5, 8Minelli, V. 12, 48Montesquieu 1o6Moquet, G. 24

Negri, A. 34Nietzsche, F. 26, 38, 46, 47, 5o, 53, 54, 55, 57, 58, 6o, 61, 63, 77, 82, 92, 1oo, 1o7, 129Nijinski, W. 26

Pascal, B. 1ooPéguy, C. 112, 113, 114Petain, P. 22Piaf, E. 81, 82, 96Pivot, B. 14Platon 11, 4o, 41, 42, 48, 63Poperen, J. 9oPound, E. 36Proust, M. 13, 15, 29, 61, 64, 84, 92, 1o6, 113, 115, 116, 124Quincey, T.d. 6o

Reagan, R. 31Reich, S. 114Reich, W. 46, 47Riemann, ?. 79, 8oRimbaud, A. 17Robbe-Grillet, A. 64, 82

Sacher-Masoch, L.v. 61Sade, D.-A.-F.d. 32Saint-Claire, A. 1o2Sarraute, N. 25Sartre, J.-P. 12, 63Schönberg, A. 87Schubert, F. 84Schumann, R. 84Spinoza, B.d. 9, 38, 46, 47, 5o, 52, 53, 54, 57, 58, 6o, 62, 66, 76, 77, 88, 1o9, 129Stalin, J. 13

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Stevenson, R.L. 125Stivale, C.J. 2Stockhausen, K.H. 85

Tiberius 55Tökei, ?. 56Tolstoi, L. 49, 64Touvier, P. 1o1Toynbee, A. 124Trenet, C. 82Tschechow, A.P. 49, 62

Uexküll, J.v. 5

Verdiglione, A. 16Verlaine, P. 8Vialle, ?. 24Vilas, ?. 118, 119

Wilson, R. 12Wittgenstein, L. 96, 127Wolfe, T. 8, 49

Zola, E. 61

Daß weder Gilles Deleuze noch Claire Parnet verzeichnet sind, ergibt sich fast von selbst, da beide über und über auf jeder Seite auftauchen.