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63 1/2016 SPECIAL INHALT WAS SIND FASZIEN? Aufbau und Funktion des Gewebes S.64 SPANNUNG & REITLEHRE Weshalb es eben doch positive Spannung gibt. S.68 WENN FASZIEN PROBLEME BEREITEN Was dem faszialen System schadet, wie sich das auswirkt, wie geholfen werden kann. S.70 Bis vor einigen Jahren konnte kaum jemand etwas mit dem Begriff FASZIEN anfangen. Heute lösen manuelle erapeuten mit den verklebten Faszien vielfach die Ursache jahrelanger Leiden und im Fitnessstudio gehört Faszien training zum Wochenprogramm wie Step Aerobic. Auch beim Pferd hat die Betrachtung der Faszien und ihrer Bedeutung für den Bewe gungsapparat zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt TEXT : DOMINIQUE WEHRMANN 62 1/2016 Wer bei Bindegewebe, auch Faszien genannt, zuerst an Orangenhaut denkt, hat nur bedingt recht. Faszien durch- dringen den Körper wie ein dreidimensionales Spinnennetz und funktionieren wie ein weiteres Sinnesorgan. SPECIAL FASZIEN DAS BESONDERE GEWEBE Foto : Beelitz, Illustration: Klöpfer

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SPECIAL

INHALTWAS SIND FASZIEN?Aufbau und Funktion

des Gewebes S.64

SPANNUNG & REITLEHREWeshalb es eben doch positive

Spannung gibt. S.68

WENN FASZIEN PROBLEME BEREITENWas dem faszialen System schadet,

wie sich das auswirkt, wie geholfen werden kann. S.70

Bis vor einigen Jahren konnte kaum jemand etwas mit dem Begriff FASZIEN anfangen. Heute lösen manuelle Therapeuten mit den verklebten Faszien vielfach die Ursache jahrelanger Leiden und im Fitnessstudio gehört Faszien training zum Wochenprogramm wie Step Aerobic. Auch beim Pferd hat die Betrachtung der Faszien und ihrer Bedeutung für den Bewe gungsapparat zu bahnbrechenden Erkenntnissen geführt TEXT: DOMINIQUE WEHRMANN

62 1/2016

Wer bei Bindegewebe, auch Faszien genannt, zuerst an Orangenhaut denkt, hat nur bedingt recht. Faszien durch­dringen den Körper wie ein drei dimensionales Spinnennetz und funktionieren wie ein weiteres Sinnesorgan.

SPECIAL FASZIEN

DAS BESONDERE GEWEBE

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● Jeder MUSKELSTRANG ist von einer Faszie umhüllt. Der Muskelstrang setzt sich wiederum aus MUSKELFASERBÜNDELN zusammen, die ihrerseits von einer tieferen Faszienschicht eingefasst sind. Auch jene MUSKELFASERN, die hier gebündelt sind, werden jede für sich von faszialem Gewebe umschlossen. Die Muskelfasern setzen sich aus sogenannten MYOFIBRILLEN zusammen – und auch diese haben eine Fas­zienhülle. Myofibrillen sind – etwas verein­facht ausgedrückt – mehrere „Fäden“ in der Muskelfaser, die aus aneinanderge­reihten Elementen (SARKOMEREN) bestehen, welche sich zusammenziehen können (kontraktil sind) und damit die Muskel­aktivität ermöglichen.

DIE FASZIE IM MUSKEL

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Was hat es auf sich mit diesem Gewebe, das dafür sorgt, dass Dressurpferde sich federnd und elastisch bewegen, Springpferde Häuser springen und Vielseitigkeitspferde schnell, aber kraftsparend durch den Cross komme? Erkundung eines unterschätzten Materials

W ie ein dreidimen­sionales Spinnen­netz durchziehen Faszien – auch

bekannt unter dem Begriff Bindegewebe – den gesamten Organismus und sorgen dafür, dass alle Körperteile miteinander verbunden sind. Faszien bestehen aus elastischen Kollagenfasern, ebenfalls höchst dehnbarem Elas­tin und Binde gewebszellen, die für die Neuproduktion der Fa­sern sorgen und reagieren, wenn sie merken, dass irgendwo erhöh­ter Bedarf besteht, beispielsweise aufgrund einer bestimmten körperlichen Belastung. Dann

werden diesem Bedarf entspre­chend neue Zellen gebildet. Darüber hinaus enthalten Faszien viel Wasser, Hyaluronsäure sowie spezielle Klebstoffe. Das Faszien­system unterliegt einem stän­digen Auf­ und Abbauprozess. Welche Strukturen es annimmt, entscheidet sich je nach Art der Belastung des Organismus. Das Fasziensystem ist eine relativ pas­sive Struktur, die nicht bewusst gesteuert werden kann. Gleich­wohl hat es jede Menge Aufga­ben im Körper. Die enthaltene Flüssigkeit macht die Faszien ge­schmeidig und elastisch. So kann es die einzelnen Komponenten

des Körpers zugleich trennen, aber auch zusammen halten und dafür sorgen, dass die Abläufe im wahrsten Sinne des Wortes reibungslos ablaufen. So können beispielsweise die von Faszien eingehüllten Muskelstränge arbeiten, ohne am Knochen oder aneinander zu reiben.

Die Matrix, also die Flüs­sigkeit um die Faszienzellen herum, enthält neben Abwehr­, Lymph­ und Fettzellen auch Blutgefäße, Nervenenden und Wasser. Die Nervenenden nehmen Schmerzsignale und Temperatur unterschiede wahr sowie beispielsweise eine andere chemische Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten. Außer­dem registrieren sie Lage und Position des Körpers und leiten diese Informationen ans Gehirn weiter. Aufgrund dieser Eigen­schaften plädieren Wissenschaft­ler inzwischen dafür, Faszien als Sinnesorgan zu verstehen. Die in der Matrix enthaltenen

SPECIAL FASZIENSchon kurz nach ihrer Geburt sind Fohlen in der

Lage, mit der Herde mit zu galoppieren – lebensnotwendig für Fluchttiere und dank der

Faszien auch ohne ausgeprägte Muskulatur möglich.

MAN UNTERSCHEIDET ZWISCHEN:● Oberflächliche Faszien: Liegen im Unterhautgewebe, beste­hen teilweise auch aus Fettgewebe und dienen unter anderem als Schutz vor Außeneinwirkung und der Nervenbahnen.● Tiefe Faszien: Umhüllen und durchdringen alle Muskelgrup­pen und Muskelstränge, Faserbündel und einzelne Muskelfa­sern. Jede einzelne Körperzelle ist durch diese tiefen Faszien verbunden. Aber auch Sehnenplatten, Sehnen, Bänder und Gelenkkapseln gehören zu den tiefen Faszien. Das besondere an diesen Strukturen: Anders als die Bindegewebsschichten, die netzartig miteinander verwoben sind, bestehen die Sehnen und Bänder ausschließlich aus Fasern, die in einer Richtung verlaufen. So können sie sehr hohe Zugkräfte aushalten. Alle Faszien sind mit Sensoren ausgestattet, die auf mechanische und chemische Reize sowie auch auf Temperaturschwankungen reagieren. Auch Schmerzrezeptoren befinden sich in diesen tiefen Faszien, die so­wohl auf Verletzungen der eigenen Struktur als auch auf ander­weitige Probleme reagieren und die Informationen weiterleiten.● Viszerale Faszien: Sie umhüllen und schützen auf diese Weise das Gehirn sowie alle weiteren Organe, halten sie in Position, können bei Bedarf aber auch ein Verschieben ermöglichen – lebensnotwendig beispielweise bei einer Schwangerschaft oder, dramatischer, bei einem Unfall, wenn durch einen Aufprall großer Druck entsteht, bei dem die Organe Schaden nähmen, könnten diese nicht ausweichen.

WAS SIND FASZIEN?

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sogenannten Fresszellen sind Teil der körpereigenen Im­munabwehr, die abgestorbene Gewebeteile zersetzen. Die Reste werden mit der Lymphflüssigkeit abtransportiert. Über die Faszien sind alle Strukturen des Körpers miteinander verbunden. Hoch interessant: Jahrelang wusste man zwar, DASS Akupunktur eine heilende Wirkung hat, aber nicht, WARUM das so ist. Neuere For­schungen haben ergeben, dass die Akupunkturpunkte zu 80 Prozent und mehr an Stellen sitzen, wo Faszien sich kreuzen. Aufgrund dieser Erkenntnis hat Helen Langevin von der Universität Vermont Versuche gemacht, die die Wirkweise der Akupunktur­nadeln im Gewebe beweisen soll­ten. Sie hat die Nadeln maschinell nach einem bestimmten Schema bei mehreren Personen setzen lassen und kam zu dem Ergebnis, dass „das Fasziengewebe sich um die Nadeln windet wie Spaghetti um die Gabel“. Der Fremdkörper scheint einen Bewegungsreiz in der Faszie zu verursachen und so zur Entspannung des Gewebes beizutragen. Dr. Ina Gösmeier sagt: „Inzwischen wurden solche Untersuchungen auch beim Pferd gemacht. Man hat Pferde seziert und herausgefunden, dass die Faszien­ den Akupunkturbahn­en folgen. Das erklärt, weshalb die Akupunktur eines hinteren Fesselgelenks durch die schnelle Informationsübertragung über das Fasziensystem Einfluss auf einen Schmerzpunkt am Kiefer oder eine Augenentzündung nimmt.“

FASZIE UND MUSKEL GEHÖREN ZUSAMMENAuch aus motorischer Sicht ha­ben Faszien eine Schlüsselfunk­tion im Organismus. Faszien­system und Muskulatur bilden eine funktionale Einheit. Weil Faszien die Muskulatur sowohl umhüllen als auch durchdringen, halten sie die Masse zusammen und leiten ihre Kräfte weiter. Und nicht nur dies. Faszien funktio­nieren wie Stoßdämpfer, weil sie die Bewegungsenergie abfedern können. Ohne Faszien müsste diese Aufgabe ausschließlich von

Stefan Stammer genießt einen

internationa­len Ruf als Osteopath für Pferde. Er ist auf

Kongressen gefragt als Exper­

te für Biomechanik und Faszien. Das Modell der myofaszialen Leitbahnen hat er in seinem Konzept STAMMER KINETICS® auf das Pferd übertragen, und erklärt auf dieser Basis die Genialität der Ausbildungsskala aus biomechanischer Sicht. Zum Weiterlesen: Das Pferd in positiver Spannung, erschie­nen im FN­Verlag, Warendorf 2015, ISBN: 978­3­88542­787­2, 27,90 Euro.

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Dr. Ina Gösmeier, praktische Tierärztin, Koryphäe im Be­reich Akupunktur, Traditionel­le Chinesische Medizin (TCM) und Tierkinesiologie. Ihr Wis­sen hat die selbst bis Grand Prix erfolgreiche Betreuerin der deutschen Championats­pferde in diversen Fachbü­chern niedergeschrieben. Außerdem hat sie mehrere Lehraufträge für Akupunktur an Universitäten in Großbri­tannien, Irland und den USA.

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SPECIAL FASZIEN

Ein Pferd in freier Wildbahn, das keinen Reiter tragen muss, braucht nicht gymnastiziert zu wer­den. Aber ein Reitpferd kommt erst einmal nicht als solches zur Welt. Es muss lernen, seinen Körper sowie die Last auf seinem Rücken gegen Schwer­ und Fliehkraft zu stabilisieren. Erst wenn das gelingt, kann es sich auf gebogenen Linien ohne Balanceprobleme bewegen, kann es geradege­richtet werden und wird für den Reiter zu einem leicht zu führenden Partner. Um sich gegen die auf alle Lebewesen einwirkenden physikalischen Einflüsse zu behaupten, braucht das Pferd Kraft. Das Pferd muss also Muskulatur an den richtigen Stellen im Körper entwickeln, nämlich die soge­nannten Rumpfträger um den Brustkorb herum, Bauch­ und Halsmuskulatur an der Vor­ sowie Kruppen­, innere Lenden­, gerade und schräge Bauchmuskulatur an der Hinterhand. Mithilfe die­ser Muskelkomplexe kann das Pferd seinen Körper anders organisieren als es das in freier Wildbahn tun würde. Dafür muss es zunächst lernen, seinen Brustkorb anzuheben. Verantwortlich dafür sind die Muskelkomplexe der Vorhand. Dadurch kann die Bewegungsenergie aus der Hinterhand nach

vorne fließen, das Becken dreht sich nach hinten, das Pferd wird „von hinten herangeschlossen“. Der Widerrist kommt hoch und richtet wie eine Zeltstange das gesamte System auf. Die Energie kommt also nach wie vor aus der Hinterhand. Aber der gegen die Schwerkraft angehobene Brustkorb bestimmt, in welche Richtung die Energie fließt, welches Gangmaß gewählt wird, ob die Energie eher nach vorne oder nach oben geleitet wird. Mit anderen Worten, ob die Energie aus der Hinterhand als Schub­ oder als Tragkraft zur Anwendung kommt, und ob es geradeaus oder in die Kurve geht. Wenn das Pferd auf diese Weise beinahe von Schwer­ und Fliehkraft befreit ist, sich also in Balance befindet, kommt der Reiter mit leisesten Hilfen aus. Sind Vor­ und Hinterhand durch die relevanten Muskelketten richtig positio­niert, kann das Pferd den Rücken aufwölben und die Muskulatur der Oberlinie kann ungehindert arbeiten. Es entsteht ein federnder Trampolinef­fekt, durch den das Gewicht des Rumpfes immer wieder in Vorwärtsenergie umgewandelt wird. (Zusammenfassung beruht auf dem Konzept der STAMMER KINETICS®, siehe auch SG 11/2015)

EXKURS: EIN REITPFERD FORMEN

Schematische Darstellung der Muskelschlingen, die ein Reitpferd benötigt.

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Sehnen, Bändern und Gelen­ken übernommen werden, was über kurz oder lang Verletzungen durch Überlastungen zur Folge hätte. Die Fähigkeit, Flüssigkeit zu speichern, ist wichtig für die Gleitfähigkeit der Faszien. Diese macht beispielsweise eine Be­wegung des Muskels überhaupt erst möglich. Die Übertragung der Kräfte vom Muskel auf den Knochen ist Aufgabe der Sehnen. Am Übergang von der Sehne zum Knochen sind muskel­verlängernde Sehnenanteile angeknüpft. Diese wiederum sind mit den Muskelfaszien verbun­den, so dass alles zusammen eine Muskel­Faszien­Kette bildet, die mit Knochen und Gelenken ver­bunden ist in einem sogenannten Tensegrity­Modell (rechts). Der Begriff stammt eigentlich aus der Architektur und beschreibt ein dreidimensionales Gebilde, das aus langen elastischen sowie festen Einheiten besteht, die un­tereinander verbunden sind.

MOBIL UND DOCH STABILDie Spannung in den langen elastischen Einheiten stabilisiert das System, trotzdem bleibt es beweglich. Drückt man ein sol­ches Gebilde auf einer Tischplat­te zusammen und lässt es dann wieder los, hüpft es ein Stück in die Höhe. Genauso funktio­niert die Kraftentwicklung beim Pferd. Die langen elastischen Binde gewebsstrukturen, zu denen auch die Faszien gehören, nehmen die Bewegungsenergie zusammen mit Muskeln, Seh­nen, Gelenken und Knochen auf, speichern sie und lassen sie dann katapultartig wieder los. Dafür ist zunächst ein gewisser mus­kulärer Einsatz nötig, denn es muss ja erst einmal Bewegungs­energie geschaffen werden. Ist aber salopp gesagt die Maschine erst einmal am Laufen, ist der Muskeleinsatz deutlich geringer, weil die Energie nur noch erhal­ten werden muss. Dabei kommt das elastische Federsystem aus Muskeln und Faszien zum Ein­satz, das die Bewegungsenergie immer wieder aufnimmt und in Vorwärtskräfte verwandelt. Auf diese Weise können Pferde über

weite Strecken in hohem Tempo galoppieren, ohne nennens­wert zu ermüden. Wer also sein Pferd kräftigen und trainieren will, muss Übergänge von der langsameren in die schnellere Gangart bzw. umgekehrt reiten oder aber innerhalb der Gangart das Tempo wechseln, so dass die Pferde immer wieder gefordert

sind, anzutreten. Das zwingt sie, ihre Muskelkraft einzusetzen und man erzielt einen Trainingseffekt.

WAS DER AUSBILDER WISSEN SOLLTEStefan Stammer, international renommierter Osteopath und Physiotherapeut für Pferde, erklärt, dass Pferde schon mit

Links das Tensegrity­Modell, das veranschaulicht, wie das Faszien­system den Körper stabilisiert. Zusammengedrückt speichert es die Energie. Lässt man los, wird die Energie freigesetzt und das Modell hüpft hoch. Rechts ein mit Wasser gefüllter Ballon, der veranschau­licht, wie eine flexible Hülle Halt gibt und trotzdem elastisch ist. Die Federkraft des Fasziensystems macht die Masse nutzbar.

KEINE POWER OHNE FASZIE

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das ursprüngliche Gitternetz der Faszien.“ Verlangt man also von einem jungen, praktisch noch unbemuskelten Pferd ständig ein Höchstmaß an Elastizität beim Springen oder der dres­surmäßigen Arbeit, nimmt das fasziale System Schaden. Stefan Stammer: „So kommt es, dass ein spektakulär trabender Drei­jähriger siebenjährig plötzlich allenfalls noch einen norma­len Bewegungsablauf hat und neunjährig womöglich chronisch lahm ist.“ Es liegt also in der Hand des Ausbilders, hier verant­wortungsvoll mit dem Talent des Pferdes umzugehen. Zumal diese extrem begabten und elastischen Pferde Freude an der Bewegung haben und sich gerne präsentie­ren. Sie bieten sich geradezu an – sehr verführerisch! Aber gerade diesen Pferden muss man Zeit geben, um die nötige Muskulatur aufzubauen, die dabei hilft, die enorme Gangmechanik abzufe­dern, die viele Pferde von Hause aus mitbringen.

einem Höchstmaß an Elastizi­tät auf die Welt kommen. Ein Dreijähriger kann traben wie ein Weltmeister, Hindernisse über 1,80 Meter überwinden und schon Fohlen sind in der Lage, mit der Herde um ihr Leben zu rennen. Der Grund dafür ist das oben beschriebene sogenannte Katapultsystem, bei dem kaum Muskelkraft aber das gesamte fasziale System sowie Sehnen, Bänder und Gelenke beansprucht werden – wichtig beispielsweise für Wildpferde auf der Flucht vor Raubtieren. Das Problem ist nur: Wenn keine ausreichend starken Muskeln vorhanden sind, die das fasziale System unterstützen, wird das Pferd über kurz oder lang immer steifer werden. Denn auch die Elastizität der Faszien ist endlich. Stefan Stammer erklärt: „Bei Überlastung der Faszien bilden sich feine Mikrorisse, die dann vernarben. Passiert das immer wieder, büßen die Faszien Elastizität ein, da das Narben­gewebe weniger flexibel ist als

Für Springpferde ist eine ausgeprägte Schultergürtelmuskulatur elementar. Sie sorgt für einen kraftvollen Ab­sprung und federt die Landung ab.

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SPANNUNG & REITLEHRELeicht und losgelassen soll das Pferd sein – ja! Aber nur locker ist auch falsch. Warum die positive Spannung unerlässlich ist

Unser Experte Stefan Stammer ist ein Ver­fechter des Begriffes „positive Spannung“.

Dafür musste er sich schon häufig Kritik anhören, auch von den Anhängern der klassischen Reitlehre. Spannung wird im Zusammenhang der Reitleh­re oft ausschließlich negativ benutzt („gespannte Tritte“ im Dressurprotokoll) – etwas, was angesichts der aktuellen Ent­wicklungen im Dressursport gut nachvollziehbar ist. Mit positiver Spannung ist allerdings etwas anderes gemeint, nämlich genau das, was durch die korrekte Ausbildung im Sinne der Skala der Ausbildung gefördert wird. Stammer sagt: „Das Problem ist, dass ,Spannung’ im Laufe der Zeit ausschließlich im negativen Kontext gebraucht wurde. Dabei steckt der Begriff ja bereits in der Definition von Losgelassenheit: rhythmisches An­ und Abspan­nen der Muskulatur.“ Kurzum: Auch ein losgelassenes Pferd ist

nicht spannungsfrei und darf das auch nicht sein. Es kommt nur darauf an, wie. Mit positi­ver Spannung meint Stammer ein intaktes Federsystem im ganzen Körper durch gekräftigte Muskulatur an Schultergürtel und Beckenring in Zusammen­wirkung mit dem Fasziennetz. Dieses sogenannte myofasziale System verhindert vorzeitigen Verschleiß und sorgt für einen leichtfüßigen, eleganten Bewe­gungsablauf, fast wie Schweben, vergleichbar mit einem Turner, der im Flick­Flack die Gesetze der Schwerkraft auszuhebeln scheint. In diesem Zusam­menhang kann man auch nachvollziehen, wieso es immer heißt, Losgelas­senheit könne man hören bzw. nicht hören, denn wenn das Auffußen des Pferdes auf den Boden vom myofaszialen Sys­tem quasi „geschluckt“ wird, ist es sanft und leise. Ein Pferd, bei dem die

SPECIAL FASZIENGummiband oder Eisenträger – beides kann tragen. Spektaku­läre Bewegungen kann man mit beiden Formen erreichen. Bei ersterer dauert es länger, dafür bleibt das Pferd gesund. Letztere lässt sich von einem Reiter mit genügend Geschick und Kraft quasi sofort herstellen, geht jedoch zu Lasten der Gesund­heit, verfrühter Verschleiß ist die zwingende Folge.

LOCKER IST NICHT LEICHTNeben positiver und negati­ver Spannung gibt es noch die Variante keine Spannung. Das ist letztendlich genauso schädlich wie die negative Spannung. Denn auch hier fehlt die Stoßdämpfer­Funktion des myofaszialen Systems. Dass das Pferd den Hals fallen lässt – was sich ja im Prin­zip jeder Reiter wünscht – heißt noch nicht, dass es auch den Rücken aufwölbt. Statt sich im Vorwärts­Ab­wärts, dem zunächst mal ein Aufwärts des Brustkorbs vor­angegangen ist, an die Hand heran zu dehnen, latscht das

Pferd auf der Vorhand bzw. fällt von einem Bein auf das andere. Die Belastung für Sehnen und Gelenke ist vergleichbar hoch mit der unter negativer Span­nung. Darüber hinaus wird das Reiten eines solchen Pferdes zur Geduldsprobe. Stefan Stammer zieht zur Erläuterung einen Vergleich heran: Ein Pferd unter positiver Spannung ist wie ein gut aufgepumpter Basketball. Dieser lässt sich leicht und ohne viel Kraftaufwand kontrollieren, mal höher, mal niedriger, mal rechts, mal links dribbeln. Ein schlaffer Ball hingegen ist unberechenbar und man braucht viel Kraft, um ihn überhaupt zum Federn zu bringen, was denn – wenn es überhaupt gelingt – auch nach einmal Aufkommen wieder vorbei ist. Mit anderen Worten: Ein Pferd ohne eine gewisse Grundspannung im myofaszialen System federt nicht mehr und ist dementsprechend auch nicht mehr in der Lage, die Bewe­gungsenergie immer wieder mit geringem Aufwand zu „recyclen“. Das macht sowohl Reiter als auch Pferd das Leben unnötig schwer und anstrengend.

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Muskulatur verkrampft ist und die Faszien kaum noch elastisch sind, kommt dagegen recht laut daher – zu Lasten der Gelenke, die dann das Gewicht abfedern müssen.

PFERD AUF DER FLUCHTDabei ist auch die negative Spannung etwas, das in der Natur des Pferdes liegt, nämlich immer dann, wenn sein Fluchtinstinkt angeregt wird. Der Körper des Pferdes ist von Natur aus ausschließlich auf Ökonomie ausgelegt. Bei der Flucht werden alle Ressourcen für das Vorwärts gebraucht, der Rücken wird

festgemacht und nach unten durchgedrückt. Das fasziale System schleudert das Pferd immer weiter vorwärts.

Pferde können eine hohe Geschwindigkeit wesentlich länger halten als beispielsweise

ein Löwe. Überlebt das Pferd die ersten Meter, hat sein Jäger kaum noch eine Chance. Den „Flucht­modus“ kann man auch beim Rei­ten „einschalten“, wenn man die Pferde hoch einstellt, genügend gegenhält und genügend treibt. Auch dabei erzielt man spekta­kuläre Tritte, die aber gänzlich anderer Herkunft sind als solche, die aus einem elastischen schwin­genden Rücken resultieren. Die Muskulatur wird ausgeschaltet und nur das Fasziensystem arbei­tet. Der Rücken ist nicht aufge­wölbt, sondern weggedrückt. Das ist die negative, verkrampfte und unerwünschte Spannung. Nichts Neues eigentlich. Dennoch ist es wichtig zu bedenken, dass es sehr wohl zwei Arten von Spannung gibt: die federnde, die sich aus der Losgelassenheit ergibt, und die verkrampfte, die vom Reiter erzwungen werden muss. Stabiles

1 ❘ Starker Trab in positiver Spannung unterscheidet den Rückengänger (links) …

2❘ … vom Schenkelgänger in negativer Spannung. Man beachte die Auswirkung auf die Fesselgelenke.

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WENN FASZIEN PROBLEME BEREITEN

Vor allem Bewegungs­mangel ist der Feind des Fasziensystems. Aber auch Stress und psychi­

sche Belastung sowie einseitiges Training mit immer gleichen Bewegungsabläufen sind sehr von Nachteil. Bei zu wenig Bewegung verkleben, verfilzen oder verhärten die Faszienstruk­turen. Das wiederum verursacht Schmerzen, die zu einer Schon­haltung führen, aufgrund derer es an anderer Stelle im Körper zu Überbelastungen kommt, die ihrerseits auch wieder schmerz­haft sind. Ein Teufelskreis. Aber wieso schädigt Bewegungs­mangel das fasziale System? Die Muskeln, die logischerweise nur in Bewegung arbeiten, funktio­nieren wie eine Pumpe, durch die unter anderem die Lymphe abgeleitet wird. Wird die Mus­kulatur zu wenig beansprucht, kann es zu einem Lymphstau kommen. In der Lymphflüs­sigkeit ist der Stoff Fibrinogen enthalten, der sich, wenn er nicht abtransportiert wird, im Gewebe einlagert und dort zu dem Kleb­stoff Fibrin umgewandelt wird. Er verklebt das Fasziengewebe. Dieses verliert an Elastizität und Zugkraft, wodurch auch wieder­um die Muskeltätigkeit leidet. Im Übrigen kann das nun unflexible Gewebe Nerven einquetschen – ebenfalls schmerzhaft!

Weitere Probleme entstehen durch Flüssigkeitsmangel. Die Faszien trocknen aus, verfil­

SPECIAL FASZIEN

Ein Impuls in der Gurtlage bewirkt, dass das Pferd den Brustkorb anhebt (beim Reiten ausgelöst durch die Zusammenwirkung der Hilfen) – der Rücken kommt hoch, der Schweif wird getragen.

Stefan Stammer demonstriert, wie er die Oberlinie seiner Patienten stabilisiert und zugleich mobilisiert

zen, verhärten und verwachsen zum Teil miteinander. Auch dies schränkt die Bewegungs­amplitude der Muskulatur ein. Das wiederum verursacht Zug auf den Gelenken und dadurch Schmerzen. Besonders schlimm sind die Auswirkungen von Funktionseinschränkungen im Bereich der Organe. Die nun festen Strukturen können weder Schadstoffe abtransportieren, noch Nährstoffe zuführen, bzw. wenn, dann nur eingeschränkt. Das wirkt sich negativ auf die Organfunktionen aus.

Auch Übersäuerung des Körpers durch falsche Ernäh­rung bzw. falsches Futter (zu viel

Kraft­ und zu wenig und/oder mangelhaftes Raufutter!), psy­chische Belastungen und Stress können zu einer Übersäuerung des Organismus führen. Davon ist das Fasziennetzwerk beson­ders betroffen, weil es so gut mit Flüssigkeit versorgt ist. Die Säure greift das Gewebe sowie die darin enthaltenen Nerven an.

DOMINOEFFEKTWeil das Fasziennetz sich

durch den gesamten Körper zieht, wirkt sich eine einzige Pro­blemstelle wie ein Dominoeffekt auf die Abläufe im gesamten Kör­per aus. Und umgekehrt reagiert auch der Körper bei Schmerzen im Bewegungsapparat mit einer „automatischen“ Verhärtung der umliegenden Faszien, um die betreffende Gliedmaße zu schonen. Das ist bei einer akuten Verletzung noch recht unproble­matisch. Aber je länger die Be­wegungseinschränkung besteht, desto größer die Gefahr, dass das fasziale Gewebe an dieser Stelle einsteift und zu einem dauerhaf­ten Problem führt. Aus diesem Grund ist man inzwischen dazu übergegangen, selbst Patienten mit Gelenkbrüchen und ­opera­tionen, schnellstmöglich physio­ und bewegungstherapeutisch zu behandeln und die betroffenen Glieder wieder in Bewegung zu bringen. Ansonsten besteht die

Gefahr, dass eine Einschränkung zurückbleibt.Stellte man früher beim Pferd eine Verspannung oder eine Blockade fest, wurde das Prob­lem lokal angegangen. Man hat gerichtet und massiert, gelöst und gedehnt. Stefan Stammer gibt ein Beispiel: „Jahrelang war es gängige Praxis, das Vorderbein des Pferdes zwecks Stretching nach vorne zu ziehen mit dem Ziel, unter anderem die Schul­terfreiheit zu verbessern. Dabei hat man gar nicht bedacht, dass das Pferd den Rücken dabei nach unten durchdrückt, also genau die Bewegungsfolge, die wir nicht haben wollen.“ Das Problem wurde tendenziell also eher schlimmer als besser.

Heute geht man die Sache ganzheitlich an und versucht der Ursache des Problems auf den Grund zu gehen. Mit anderen Worten, man denkt nun in Funk­tionsketten. Wo ist die Störung, die das Problem verursacht? An welcher Stelle muss ich ansetzen? So können Probleme mit der Atmung durch eine Verhärtung der Faszien im Bereich des Brustkorbs verursacht werden. Dieser kann sich nicht mehr ungehindert ausdehnen und schnürt das Pferd buchstäblich ein. Solche Zusammenhänge zu erkennen, erfordert ein fundier­tes Fachwissen über die biome­

THERAPIEMÖGLICH-KEITEN FÜR FASZIEN● Akupunktur● Akupressur/Massage● Osteopathie● Physiotherapie● Stammer Kinetics® (Funktionale Stabilisation)

Aber es gilt: Die Behandlung von Problemen im Bereich der Faszien ist Profisache!

Dr. Ina Gösmeier beschäftigt sich in ihrer Praxis schon lange mit dem Thema Faszien. Sie betont die Rolle der Psyche für das fasziale System.

chanischen Abläufe im Körper. Dr. Ina Gösmeier hat es häufig mit Pferden zu tun, die unter einer unspezi fischen Lahmheit leiden und bei denen diagnos­tisch und therapeutisch schon alles versucht wurde. Sie sagt: „Häufig sind verhärtete Faszien der Grund der Lahmheit. Ist beispielsweise derjenige Muskel verletzt, der ein Bein des Pferdes nach vorne bewegt, reagiert die Faszie, um das Bein zu schützen, indem sie seinen Bewegungs­spielraum begrenzt. Da sie aber auch mit dem anderen Muskel verbunden ist, der das Bein wieder nach hinten bewegt, wird auch dieser in Mitleidenschaft

Störungen im Organismus wirken sich durch die Vernetzung im gesamten Körper immer auch auf die Faszien aus. Und umgekehrt.

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Boxenhaft ist eine Tortur für Seele und Faszien.

FASZIEN-KATERDr. Robert Schleip gilt allgemein als der Urvater der Faszien­Forschung. Er weiß, dass in der Humanmedizin die meisten Überlastungs­schäden nichts mit dem Muskelfleisch zu tun haben, sondern das fasziale Gewebe betreffen. Und nach neueren Erkenntnissen geht man auch davon aus, dass der Schmerz nach einer intensi­ven Trainingseinheit gar nicht von der Muskulatur herrührt, sondern aus der faszialen Muskelhülle kommt.

Wird ein Bein aufgrund einer Ver­letzung geschont, bedeutet das Belastung für das andere Bein.

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gezogen. Dann ist das ur­sprüngliche Problem womöglich längst behoben, aber die Faszie hat noch nicht wieder ihre volle Elastizität erreicht und das Pferd ist dementsprechend nicht in der Lage, sein Bein voll zu gebrau­chen.“ Faszien können auch die Ursache für Probleme mit der Rittigkeit sein. Dr. Gösmeier: „Häufig wundern sich die Reiter, dass sie bei einigen Pferden im­mer wieder von vorne anfangen müssen, dass sie sich bemühen, das Pferd zu lösen und auch er­folgreich sind, aber wenn sie am nächsten Tag wieder in den Sattel steigen, ist das Problem wieder da.“ Sind die Faszien in ihrer Elastizität eingeschränkt, ziehen sie das Pferd immer wieder in die feste Position zurück. Das kann man nicht unter dem Reiter lösen, sondern nur therapeutisch. Und auch dann braucht man mehrere Behandlungen. Zum einen müssen die Strukturen der Faszie erst einmal wieder so weit

gelöst werden, dass sie mit Blut, Sauerstoff und Lymphflüssigkeit versorgt werden kann. Nur dann kann sie sich auch regenerieren. Zum anderen muss das Pferd den „neuen“ Bewegungsablauf, den ihm die nun mobilisierte Seite ermöglicht, erst verinnerlichen. Das bestätigt auch Stefan Stam­mer: „Gerade wenn sich falsche Bewegungsabläufe verfestigt haben, dauert es zunächst, bis das Pferd die Koordination der neuen Bewegungsabläufe ver­innerlicht hat – zumal diese zu Anfang aufgrund der fehlenden Muskulatur an den richtigen Stellen viel anstrengender sind als der alte Trott.“

MOBIL UND STABILDie Mobilisierung des Systems ist das Ziel. Stefan Stammer betont allerdings, dass dies unbedingt auch mit einer entsprechenden Stabilisation einhergehen muss. Seine Erklärung leuchtet ein: „Anders als wir Menschen liegt

das Pferd während der Behand­lung ja nicht auf einer Liege, sondern muss sich weiterhin im Vierfüßlerstand auf den Beinen halten und trotz Schwerkraft aus­balancieren. Konzentriert man sich ausschließlich auf die Ent­spannung der Rückenmuskula­tur, ohne zugleich die tragenden Muskelketten anzuregen, ziehen rund 250 Kilogramm Eingeweide am Rücken, sobald die Muskel­spannung dort ausgeschaltet ist. Das geht auf die Gelenke!“ Wenn Stammer einen Patienten vor sich hat, versucht er zunächst im Stand die beim Reiten relevanten Bewegungsketten auszulösen. Wenn es hier irgendwo hakt, kann er durch entsprechende Stabilisation oder Mobilisation das Übel an der Wurzel packen. Auch verklebte Faszien kann er auf diese Weise lösen, beispiels­weise indem er einen Trigger­punkt zwischen den Vorderbei­nen am Brustkorb berührt und das Pferd auf diese Weise dazu

bringt, den Widerrist anzuheben. Dabei werden Faszien und Mus­keln durch die Streckung gedehnt und gelöst. Sowohl Stefan Stam­mer als auch Dr. Ina Gösmeier betonen allerdings, dass Faszien­therapie Profisache ist. „Das sind Handgriffe, die man gelernt haben muss“, sagt Dr. Gösmeier. Stefan Stammer fügt an: „Und die in eine umfassende thera­peutische Ausbildung integriert werden müssen.“ Stammer schreibt dem Reiter allerdings an anderer Stelle eine wichtige Auf­gabe bei der Therapie zu: Er muss das Pferd korrekt den Richtli­nien entsprechend trainieren. Wenn der Therapeut erfolgreich behandelt hat, muss diese nun mobile körperliche Situation manifestiert werden. Das braucht Zeit, Geduld und Konsequenz. Sobald das Pferd verstanden hat, was der Reiter von ihm möchte und die korrekten Bewegungsab­läufe verinnerlicht hat, geht es an die Kräftigung der Muskulatur.

TRAINING FÜRS MYOFASZIALE SYSTEMEgal, ob auf gebogener oder ge­rader Linie, nach dem Sprung oder davor, am Hang bergab oder berg­auf – das Pferd muss sich in allen Lebenslagen gegen die Schwer­kraft stabilisieren und benötigt dafür nicht nur kräftige Muskeln an Schulterring und Beckengürtel, sondern diese Muskeln müssen auch reaktionsschnell, losgelas­sen und koordinierbar sein. Das werden sie am besten durch abwechslungsreiches Training auf unterschiedlichen Untergründen, in verschiedenen Disziplinen und mit ständig wechselnden Herausforderungen. So ist das Pferd ständig aufgefordert, sein Gleichgewicht neu zu finden. Mit der Zeit gelingt das in Bruchteilen von Sekunden. Das Ergebnis: „Das System ist dynamisch stabil und kann auf jede Herausforderung selbstständig reagieren“, wie Ste­fan Stammer es beschreibt.

Dabei ist zu beachten, dass ein ermatteter Muskel nicht richtig arbeiten kann. Deshalb ist es wichtig, korrekte Bewegungs­abläufe zu verlangen, aber immer nur in kurzen Repri­sen, die allmählich verlängert werden, bis das Pferd buchstäb­lich in der Lage ist, sich selbst – und damit ist sein Brustkorb gemeint – zu tragen. Zum Schluss verweist Stammer noch auf die alten Meister: „Richtig Reiten reicht“, wie Paul Stecken es formuliert hat. Denn das,

was die Therapie im Stand bei den Pferden richtet, geschieht beim korrekten Bewegungsab­lauf ebenfalls. Aber: Wenn das Pferd körperlich nicht in der Lage ist, der korrekten Hilfen­gebung zu folgen, braucht es professionelle Hilfe. Stammer rät den Reitern, sich das Bild des angehobenen Burstkorbs beim Reiten vor Augen zu führen: „Das Pferd muss einem im Spalt entgegenkommen.“ Dann hat man Prophylaxe und Therapie zugleich. ■

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Vorwärts­Abwärts, wie es sein soll: Der Widerrist kommt dem Reiter entgegen, die Bewegungsenergie bleibt erhalten.