Das Buch - bilder.buecher.de · Er ist einfach ein netter junger Kerl, ... che, daß es um einen...

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Das Buch»Und so beginne ich wieder, wie jeden Tag, laut aus meinemTagebuch vorzulesen, damit sie es hören kann, in der Hoffnung,

dass das Wunder, das mein Leben beherrscht, noch einmal wahrwird ...«»Wie ein einziger Tag von Nicholas Sparks – das ist eine Liebesge-schichte, die kann man nicht erfinden! Er hat sie ja auch nicht er-funden, die Großeltern seiner Frau, heißt es, sollen alles genau soerlebt haben. Auch ich sehe, dass dieser Sparks kein Marcel Proustund kein Thomas Mann ist. Er ist einfach ein netter junger Kerl,der ohne Schnörkel liebevoll geradeaus eine schöne, warme Ge-schichte erzählt, die jeder versteht.« Elke Heidenreich

»Einen schöneren Abend im Schaukelstuhl als mit Sparks’ sinnli-chem Roman über die lange Liebe eines langen Lebens kann mansich kaum machen.« Die Welt

Der AutorNicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt mit seiner Frauund den fünf Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollenRomanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten undweltweit in 46 Ländern erscheinen, gilt Sparks als einer der meist-gelesenen Autoren der Welt. Mehrere seiner Bestseller wurden er-folgreich verfilmt, im Jahr 2004 Wie ein einziger Tag.Alle seine Bücher sind bei Heyne erschienen: Das Schweigen des

bist nie allein – Ein Tag wie ein Leben – Zeit im Wind – Das Lächelnn

blicks – Die Suche nach dem verborgenen Glück.

Glücks – Weg der Träume – Nah und fern – Weit wie das Meer – Du

–der Sterne – Die Nähe des Himmels – Das Wunder eines Auge

NICHOLAS

SPARKSWie ein einziger Tag

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Bettina Runge

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die OriginalausgabeTHE NOTEBOOK

erschien 1996 bei Warner Books, Inc., New York

Umwelthinweis:Dieses Buch wurde auf

chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

3. AuflageVollständige deutsche Taschenbuchausgabe 06/2006

Copyright © 1996 by Nikolas SparksCopyright © 1996 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co.KG, München

Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: © Ferenc B. RegösUmschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, München – ZürichSatz: Leingärtner, Nabburg

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-81015-0www.heyne.de

Copyright © dieser Ausgabe 2006 by

Printed in Germany 2007

Dieses Buch ist mit Liebe Cathy,meiner Frau und Freundin, gewidmet.

Danksagung

Dieser Roman nahm seine heutige, endgültige Formmit Hilfe zweier Menschen an, denen ich für all das, wassie für mich getan haben, danken möchte:

Theresa Park, der Literaturagentin, die mich aus derVersenkung holte. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit,Ihre Geduld und die vielen Stunden, die Sie mit mir ge-arbeitet haben. Ich werde Ihnen dafür immer dankbarsein.

Jamie Raab, meiner Lektorin. Danke für Ihre Klug-heit, Ihren Humor und Ihre Gutmütigkeit. Sie habendies zu einer wundervollen Erfahrung für mich ge-macht, und ich freue mich, Sie meine Freundin nennenzu dürfen.

Wunder

Wer bin ich? Und wie, so frage ich mich, wird dieseGeschichte enden?

Die Sonne geht auf, und ich sitze an einem Fenster,das beschlagen ist vom Atem eines vergangenen Le-bens. Einen schönen Anblick biete ich heute morgen!Zwei Hemden, eine warme Hose, ein Schal, zweimal umden Hals gewickelt, und hineingesteckt in einen dickenWollpullover, den meine Tochter mir vor dreißig Jahrenzum Geburtstag gestrickt hat. Der Thermostat in mei-nem Zimmer ist so hoch gestellt wie möglich, undgleich hinter mir befindet sich noch ein kleiner Heiz-ofen. Er knackt und ächzt und speit heiße Luft wie einMärchendrache, und doch zittert mein Körper noch im-mer vor Kälte, einer Kälte, die nicht von mir weichenwill, einer Kälte, die sich achtzig Jahre lang in mir aus-gebreitet hat. Achtzig Jahre, denke ich so manches Mal,und obwohl ich mich längst mit meinem Alter abgefun-den habe, wundert es mich immer noch, daß ich seitdem Tag, da George Bush Präsident wurde, nicht mehram Steuer eines Autos saß. Ich frage mich, ob es jedemin meinem Alter so ergeht.

Mein Leben? Es ist nicht leicht zu erklären. Sicherwar es nicht so aufsehenerregend, wie ich es mir er-träumt hatte, doch hat es sich auch nicht im unterenDrittel abgespielt. Es läßt sich wohl am besten mit einersicheren Aktie vergleichen, stabil, mehr Höhen als Tie-fen, und langfristig gesehen mit Aufwärtstrend. Einguter Kauf, ein glücklicher Kauf, was wohl nicht jeder

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von seinem Leben behaupten kann. Doch lassen Siesich nicht irreführen. Ich bin nichts Besonderes, gewißnicht. Ich bin ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnli-chen Gedanken, und ich habe ein ganz gewöhnlichesLeben geführt. Mir wurden keine Denkmäler gesetzt,und mein Name wird bald vergessen sein, doch ich habejemanden geliebt, mit Herz und Seele, und das war mirimmer genug.

Die Romantiker würden es eine Liebesgeschichtenennen, die Zyniker eine Tragödie. Für mich ist es einbißchen von beidem, und ganz gleich, wie man es letzt-endlich bezeichnet, es ändert doch nichts an der Tatsa-che, daß es um einen großen Teil meines Lebens gehtund den Weg, den ich gewählt habe. Ich kann michnicht beklagen über diesen Weg und die Stationen, andie er mich geführt hat; über andere Dinge vielleicht,doch der Weg, den ich gewählt habe, war immer derrichtige, und ich würde mich immer wieder für ihn ent-scheiden.

Die Zeit macht es einem leider nicht leicht, beharr-lich seinen Weg zu gehen. Doch auch wenn der Wegimmer noch gerade verläuft, so ist er jetzt mit Geröllübersät, das sich im Verlauf eines Lebens nun einmalanhäuft. Bis vor drei Jahren wäre es leicht gewesen, dar-über hinwegzusehen, jetzt aber ist es unmöglich. EineKrankheit hat meinen Körper erfaßt; ich bin nicht mehrstark und gesund, und ich verbringe meine Tage wie einalter Luftballon, schlaff, porös, immer weicher mit derZeit.

Ich huste und schaue blinzelnd auf meine Uhr. Ichsehe, es ist Zeit. Ich erhebe mich aus meinem Sessel amFenster, schlurfe durchs Zimmer, halte am Schreibtischinne, um mein Tagebuch an mich zu nehmen, das ichwohl schon hundertmal gelesen habe. Ich blättere nicht

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darin. Ich klemme es mir unter den Arm und bin schonunterwegs zu dem Ort, zu dem ich gehen muß.

Ich laufe durch geflieste Flure, weiß mit grauenSprenkeln. Wie mein Haar und das Haar der meistenMenschen hier, obwohl ich heute morgen der einzigeauf dem Korridor bin. Sie sind in ihren Zimmern, alleinmit ihrem Fernseher, aber sie sind, wie ich, daran ge-wöhnt. Ein Mensch kann sich an alles gewöhnen, manmuß ihm nur genug Zeit lassen.

In der Ferne höre ich gedämpftes Weinen, und ichweiß genau, von wem diese Geräusche kommen. Dannsehen mich die Krankenschwestern, und wir lächelnuns zu, tauschen Grüße. Sie sind meine Freunde, undwir unterhalten uns oft. Ich bin sicher, sie wundern sichüber mich und über das, was ich Tag für Tag durchma-che. Im Vorübergehen höre ich sie miteinander flüstern.»Da ist er wieder«, höre ich. »Ich hoffe, es nimmt eingutes Ende.« Doch sie sprechen mich nie direkt daraufan. Sicher glauben sie, es würde mir wehtun, so früh amMorgen darüber zu sprechen, und da sie mich kennen,haben sie gewiß recht.

Kurz darauf bin ich bei dem Zimmer angelangt. DieTür steht offen für mich, wie immer. Es sind noch zweiKrankenschwestern darin, und auch sie lächeln, als icheintrete. »Guten Morgen«, sagen sie mit fröhlicherStimme, und ich nehme mir einen Augenblick Zeit,frage nach den Kindern, nach der Schule, den bevorste-henden Ferien. Wir sprechen vielleicht eine Minute,ohne auf das Weinen einzugehen. Sie scheinen es nichtwahrzunehmen; sie sind dagegen taub geworden, wieich letztlich auch.

Danach sitze ich in dem Sessel, der sich meinem Kör-per angepaßt hat. Sie sind jetzt fertig, und sie ist ange-zogen, aber sie weint noch immer. Ich weiß, sie wird

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sich beruhigen, wenn sie gegangen sind. Die morgend-liche Hektik verstört sie jedesmal, und heute ist keineAusnahme. Schließlich wird das Rollo hochgezogen,und die Schwestern gehen. Beide lächeln und berührenmich im Vorbeigehen. Ich frage mich, was das zu be-deuten hat.

Ich sitze da und sehe sie an, doch sie erwidert meinenBlick nicht. Das ist verständlich, denn sie weiß nicht,wer ich bin. Ich bin ein Fremder für sie. Ich wendemich, den Kopf gesenkt, ab und bitte Gott um die Kraft,die ich brauchen werde. Ich habe immer an Gott ge-glaubt, an Gott und an die Macht des Gebetes, obwohlmein Glaube, wenn ich ehrlich bin, eine Reihe von Fra-gen hat aufkommen lassen, die ich gern beantwortethätte, wenn ich einmal gegangen bin.

Fertig jetzt. Die Brille aufgesetzt. Die Lupe aus derTasche gezogen. Ich lege sie einen Augenblick auf denTisch, während ich das Tagebuch aufschlage. Zweimalüber die Kuppe des knotigen Fingers geleckt, um denabgenutzten Deckel zu wenden und die erste Seite auf-zuschlagen. Dann die Lupe darübergehalten.

Kurz bevor ich anfange zu lesen, kommt jedesmal einAugenblick, in dem mir der Atem stockt und ich michfrage, wird es diesmal geschehen? Ich weiß es nicht, ichweiß es nie vorher, und im Grunde ist es auch nichtwichtig. Es ist die Möglichkeit, nicht die Gewißheit, diemich fortfahren läßt, eine Wette mit mir selbst, könnteman sagen. Und auch wenn Sie mich für einen Träumeroder Narren oder sonstwas halten, glaube ich, daß allesmöglich ist.

Alles spricht dagegen, das ist mir klar, vor allem dieWissenschaft. Doch Wissenschaft ist nicht die ganzeAntwort, das weiß ich, das hat mich das Leben gelehrt.Und deshalb glaube ich, daß Wunder, wie unerklärlich,

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wie unglaublich sie auch sind, wirklich geschehen kön-nen, ungeachtet der natürlichen Ordnung der Dinge.

Und so beginne ich wieder, wie jeden Tag, laut ausmeinem Tagebuch vorzulesen, damit sie es hören kann,in der Hoffnung, daß das Wunder, das mein Leben be-herrscht, noch einmal wahr wird.

Und vielleicht, ja, vielleicht wird es diesmal gesche-hen.

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Gespenster

Es war Anfang Oktober 1946, und Noah Calhoun be-obachtete auf seiner Veranda, wie die Sonne sich lang-sam neigte. Er saß gern abends hier, vor allem nacheinem harten Arbeitstag; dann ließ er seine Gedankenschweifen, ließ ihnen freien Lauf. So entspannte er –eine Gewohnheit, die er von seinem Vater übernommenhatte.

Besonders gern betrachtete er die Bäume, die sich imFluß spiegelten. Die Bäume in North Carolina sindatemberaubend in ihrer Herbstfärbung – Grün, Gelb,Rot und Orange in allen denkbaren Schattierungen.Ihre Farbenpracht leuchtet im späten Sonnenlicht, undwohl zum hundertsten Male fragte sich Noah Calhoun,ob die ersten Bewohner des Hauses ihre Abende mitähnlichen Gedanken zugebracht hatten.

Das Hauptgebäude, 1772 errichtet, hatte zu einerPlantage gehört und zählte zu den ältesten und größ-ten Landhäusern in New Bern. Noah hatte es gleichnach dem Krieg gekauft und die letzten elf Mo-nate sowie ein kleines Vermögen gebraucht, um es zurenovieren. Ein Reporter von der Raleigher Tageszei-tung hatte vor wenigen Wochen in einem Artikel dar-über berichtet und geschrieben, es seien die gelun-gensten Renovierungsarbeiten, die er je gesehen habe.Das mochte zutreffen, wenigstens für das Haus. Derrestliche Besitz war eine andere Geschichte, und da-mit hatte Noah die meisten Stunden des Tages zuge-bracht.

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Zum Haus gehörte ein etwa zehn Hektar großesGrundstück, das an den Fluß, den Brices Creek,grenzte. An den anderen drei Seiten mußte der Holz-zaun ausgebessert, nach Trockenfäule oder Termitenabgesucht und an manchen Stellen völlig erneuertwerden. Damit war er die letzten Tage vor allembeschäftigt gewesen, und es gab noch eine Menge zutun, besonders an der Westseite. Als er vor einerhalben Stunde sein Werkzeug zur Seite legte, hatteer sich vorgenommen, beim Lager anzurufen undeine weitere Holzlieferung zu bestellen. Er ging insHaus, trank ein Glas gesüßten Tee und duschte. Erduschte jeden Abend, und mit dem Wasser wurdensowohl der Schmutz als auch die Müdigkeit fortge-spült.

Danach kämmte er sein Haar zurück und schlüpfte insaubere verblichene Jeans und ein langärmeliges blauesHemd. Er schenkte sich ein weiteres Glas Tee ein undging auf die Veranda zurück, wo er sich, wie jedenAbend, niederließ.

Er streckte die Arme aus, über den Kopf, dann zu bei-den Seiten und rollte kräftig mit den Schultern, auchdas eine alte Gewohnheit. Er fühlte sich gut, sauber undfrisch. Seine Muskeln waren müde und würden morgenetwas schmerzen, doch er war zufrieden mit dem, waser an diesem Tag geleistet hatte.

Er griff nach seiner Gitarre, dachte dabei an seinenVater und wie sehr er ihm fehlte. Er schlug langsameinen Akkord an, stimmte zwei Saiten nach, schlugeinen weiteren Akkord an. Dann begann er zu spielen.Sanfte Klänge, ruhige Klänge. Er summte eine Weileund fing erst, als die Dämmerung hereinbrach, laut zusingen an. Er spielte und sang, bis der Himmel vollstän-dig dunkel war.

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Es war kurz nach sieben, als er die Gitarre zur Seitelegte. Er nahm wieder in seinem Schaukelstuhl Platzund wiegte sich langsam vor und zurück. Und wie im-mer blickte er hinauf, sah den Orion, den GroßenBären, die Zwillinge und den Polarstern am Herbsthim-mel schimmern.

Er rechnete im Kopf seine Ausgaben zusammen,hielt dann inne. Er hatte fast seine gesamten Erspar-nisse für das Haus aufgebraucht und würde bald eineneue Stellung suchen müssen. Doch er schob den Ge-danken beiseite und beschloß, die restlichen Monateder Hausrenovierung zu genießen, statt sich Sorgen zumachen. Die Rechnung würde schon aufgehen, so wieimmer. Außerdem langweilte es ihn, über Gelddingenachzudenken. Er hatte schon früh gelernt, sich anden einfachen Dingen des Lebens zu erfreuen, an Din-gen, die nicht käuflich sind, und es fiel ihm schwer,Menschen zu verstehen, die anders dachten und fühl-ten. Auch das war ein Charakterzug, den er von sei-nem Vater hatte.

Seine Jagdhündin Clem kam herüber und beschnup-perte seine Hand, bevor sie sich zu seinen Füßenniederließ. »He, Mädchen, alles in Ordnung?« Er strei-chelte ihren Kopf, und sie winselte zur Antwort, diesanften runden Augen auf ihn gerichtet. Bei einemAutounfall war ihr ein Hinterbein überfahren wor-den, doch sie konnte trotzdem noch ganz gut laufenund leistete ihm an ruhigen Abenden wie diesem Ge-sellschaft.

Er war jetzt einunddreißig, nicht zu alt, doch alt ge-nug, um einsam zu sein. Er war nicht mehr ausgegan-gen, seitdem er wieder hierher zurückgekommen war,hatte niemanden kennengelernt, der ihn interessierte.Es war seine Schuld, das wußte er. Es gab etwas, das

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einen Abstand zwischen ihm und jeder Frau entstehenließ, die ihm näherkommen wollte, etwas, das er nichtglaubte ändern zu können, selbst wenn er es gewollthätte. Und manchmal, kurz vor dem Einschlafen, fragteer sich, ob es sein Schicksal war, für immer allein zusein.

Der Abend blieb angenehm warm. Noah lauschte denGrillen und dem Rauschen der Blätter und dachte, daßdie Laute der Natur wirklicher waren und tiefere Ge-fühle auslösten als Dinge wie Autos und Flugzeuge.Natürliche Dinge gaben mehr, als sie nahmen, und ihreGeräusche erinnerten ihn stets daran, wie der Menscheigentlich sein sollte. Es hatte Zeiten gegeben währenddes Krieges, vor allem nach einem Großangriff, in de-nen er sich oft diese simplen Geräusche vorgestellthatte. »Es wird dir helfen, nicht den Verstand zu verlie-ren«, hatte ihm sein Vater am Tag seiner Einschiffunggesagt. »Es ist Gottes Musik, und sie wird dich heilzurückbringen.«

Er trank seinen Tee aus, trat ins Haus, holte sich einBuch und machte, als er wieder nach draußen ging, dasVerandalicht an. Er setzte sich und betrachtete das Buchauf seinem Schoß. Es war alt, der Deckel war halb zer-fetzt, und die Seiten waren mit Wasser- und Schmutz-flecken übersät. Grashalme von Walt Whitman, er hatteden Band während der ganzen Kriegsjahre bei sich ge-habt. Einmal hatte das Buch sogar eine für ihn be-stimmte Kugel abgefangen.

Er strich über den Einband, wischte den Staub ab.Dann schlug er das Buch aufs Geratewohl auf und be-gann zu lesen:

Dies ist deine Stunde, o Seele, dein freier Flug in dasWortlose,

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Fort von Büchern, fort von der Kunst, der Tag aus-gelöscht, die Aufgabe getan,Du tauchst empor, lautlos, schauend, den Dingen nach-sinnend, die du am meisten liebst,Nacht, Schlaf, Tod und die Sterne

Er lächelte still vor sich hin. Irgendwie erinnerte Whit-man ihn immer an New Bern, und er war froh, wiederhier zu sein. Vierzehn Jahre war er von hier fort gewe-sen, dennoch war dies seine Heimat, und er kannte eineMenge Leute hier, hauptsächlich aus seiner frühen Ju-gend. Das war nicht verwunderlich. Wie in so vielenStädten des Südens änderten sich ihre Bewohner kaum,sie wurden nur ein wenig älter.

Sein bester Freund war Gus, ein siebzigjährigerSchwarzer, der etwas weiter die Straße hinunter wohnte.Sie hatten sich zwei Wochen nach Noahs Hauskaufkennengelernt. Gus hatte eines Abends mit einer Fla-sche selbstgebranntem Schnaps vor der Tür gestanden,und die beiden hatten sich ihren ersten gemeinsamenRausch angetrunken und sich bis spät in die Nacht Ge-schichten erzählt.

Von da an tauchte Gus etwa zweimal die Wocheauf, gewöhnlich gegen acht Uhr abends. Mit vier Kin-dern und elf Enkelkindern im Haus brauchte er abund zu unbedingt einen Tapetenwechsel. Meist brachteer seine Mundharmonika mit, und wenn sie eineWeile miteinander geredet hatten, spielten sie einpaar Lieder zusammen. Manchmal spielten sie vieleStunden.

Er betrachtete Gus bald als eine Art ›Familien-ersatz‹, denn er hatte sonst niemanden, seitdem seinVater im letzten Jahr gestorben war. Er besaß keine Ge-schwister; seine Mutter war gestorben, als er zwei war,

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und er hatte, obwohl er es einmal wollte, auch nie ge-heiratet.

Einmal aber hatte er geliebt, daran gab es keinenZweifel. Einmal, nur einmal und das vor langer Zeit.Und es hatte ihn für immer verändert. Wahre Liebeverändert den Menschen, und es war echte Liebe ge-wesen.

Kleine Wölkchen trieben von der Küste her überden Abendhimmel, wurden silbrig im Schein des Mon-des. Als sie dichter wurden, legte er den Kopf aufdie Rückenlehne des Schaukelstuhls. Seine Beine be-wegten sich automatisch, hielten den Rhythmus bei,und wie fast jeden Tag, schweiften seine Gedanken zueiner ähnlich warmen Nacht, die vierzehn Jahrezurücklag.

Es war 1932, kurz nach seiner Reifeprüfung, amEröffnungsabend des Neuse River Festival. Die ganzeStadt war auf den Beinen, amüsierte sich bei Tanzund Glücksspiel oder an den Getränkeständen undBratspießen. Es war schwül an jenem Abend, darankonnte er sich noch genau erinnern. Er war alleingekommen, und als er, auf der Suche nach Freun-den, durch die Menge schlenderte, sah er Fin undSarah, mit denen er zur Schule gegangen war, miteinem Mädchen plaudern, das er noch nie gese-hen hatte. Sie war sehr hübsch, das war sein ersterGedanke gewesen, und als er sich seinen Weg zuihnen gebahnt hatte, schaute sie mit ihren betörendenAugen zu ihm auf. »Hallo«, sagte sie einfach undstreckte ihm die Hand entgegen. »Finley hat mir vielvon dir erzählt.«

Ein ganz gewöhnlicher Beginn, den er, wäre sie esnicht gewesen, längst vergessen hätte. Doch als er ihrdie Hand schüttelte und sein Blick in ihre smaragdgrü-

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nen Augen tauchte, wußte er, bevor er den nächstenAtemzug tat, daß sie für ihn die Richtige, die Einzigewar und es auch immer sein würde. So gut schien sie, sovollkommen, und der Sommerwind rauschte in denBäumen.

Von da an ging alles rasend schnell. Fin erzählteihm, daß sie den Sommer mit ihrer Familie in NewBern verbrachte, weil ihr Vater für R. J. Reynolds ar-beitete, und obwohl er nur nickte, sagte ihr Blick, daßsie verstand. Fin lachte, denn er wußte, was da ge-schah, und die Vier blieben den ganzen Abend zusam-men, bis das Fest zu Ende war und die Menge sich zer-streute.

Sie trafen sich am nächsten und übernächsten Tagund waren bald unzertrennlich. Jeden Morgen – bisauf sonntags, wenn er zur Kirche ging – erledigte erseine häuslichen Pflichten so schnell wie möglich,und eilte zum »Fort Totten Park«, wo sie schon aufihn wartete. Da sie nie in einer Kleinstadt gelebt hatte,verbrachten sie ihre Tage mit Dingen, die ihr völligneu waren. Er machte sie mit Angel und Köder ver-traut, um im seichten Wasser Barsche zu fangen, unddurchstreifte mit ihr den geheimnisvollen CroatonForest. Sie fuhren Kanu und beobachteten Sommerge-witter, und es kam ihm so vor, als hätten sie sich schonimmer gekannt.

Doch auch er lernte Neues. Beim Tanzfest in der Ta-bakscheune brachte sie ihm Walzer und Charleston bei,und obwohl er sich anfangs etwas unbeholfen anstellte,zahlte sich ihre Geduld aus, und sie tanzten zusammen,bis die Musik verstummte. Danach brachte er sie nachHause, und beim Abschied auf der Veranda küßte er siezum erstenmal und wunderte sich danach, warum er solange damit gewartet hatte. Später in jenem Sommer

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führte er sie zu diesem Haus, das damals zum Teil ver-fallen war, und sagte ihr, daß er es eines Tages kaufenund wieder aufbauen würde. Sie sprachen von ihrenTräumen – sie wollte Künstlerin werden, er die Welt be-reisen –, und in einer heißen Augustnacht verloren sieihre Unschuld. Als sie drei Wochen später abreiste,nahm sie ein Stück von ihm und den Rest des Sommersmit sich fort. An einem frühen regnerischen Morgen,nach einer schlaflosen Nacht, sah er sie die Stadt verlas-sen. Er ging nach Hause, packte seine Reisetasche undverbrachte die folgende Woche allein auf Harkers Is-land.

Noah strich sich mit den Fingern durchs Haar undsah auf die Uhr. Zwölf nach acht. Er stand auf, gingzur Vorderseite des Hauses, schaute die Straße hin-unter. Gus war nicht zu sehen, und Noah rechnetenicht mehr damit, daß er noch kommen würde. Erging zurück zu seinem Schaukelstuhl und setzte sichwieder.

Er erinnerte sich daran, mit Gus über sie gespro-chen zu haben. Als er sie das erste Mal erwähnte,schüttelte Gus lachend den Kopf. »Das also ist das Ge-spenst, vor dem du wegläufst.« Als Noah fragte, waser damit meine, sagte Gus: »Du weißt schon, dasGespenst, die Erinnerung. Ich sehe doch, wie du ar-beitest, Tag und Nacht, wie du schuftest, dir kaumZeit zum Atmen läßt. Dafür gibt es nur drei Gründe:Entweder man ist verrückt, oder man ist dumm, oderman will etwas vergessen. Und bei dir wußte ichgleich, du willst etwas vergessen. Ich wußte nur nicht,was.«

Er dachte über Gus’ Worte nach. Gus hatte natürlichrecht. Ein Gespenst ging um in New Bern. Der Geist ih-rer Erinnerung. Er sah sie im »Fort Totten Park«, ihrem

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Treffpunkt, immer wenn er vorbeiging. Da hinten aufder Bank oder gleich neben der Eingangstür, immer einLächeln um die Lippen, das blonde Haar sanft über dieSchultern fallend, die Augen grün wie Smaragde. Undwenn er abends mit der Gitarre auf der Veranda saß, saher sie neben sich, wie sie still den Klängen aus seinerKindheit lauschte.

Oder wenn er zu Gaston’s Drugstore ging oder insMasonic Theater, oder auch, wenn er nur durch dieStadt schlenderte. Überall, wohin er schaute, sah erihr Bild, sah er Dinge, die sie wieder zum Leben er-weckten.

Es war seltsam. Er war in New Bern aufgewachsen.Hatte seine ersten siebzehn Jahre hier verlebt. Aberwenn er an New Bern dachte, schien er sich nur an deneinen Sommer zu erinnern, den Sommer, den sie zu-sammen verbracht hatten. Andere Erinnerungen warennur Fragmente, einzelne Bruchstücke aus der Zeit desHeranwachsens, und nur wenige, wenn überhaupt, er-weckten Gefühle in ihm.

Er hatte Gus eines Abends davon erzählt, und Gushatte ihn nicht nur verstanden, er hatte ihm aucheine Erklärung geliefert. »Mein Dad hat immer ge-sagt: ›Wenn du dich das erste Mal verliebst, dann ver-ändert es dein Leben für immer, und wie sehr dudich auch bemühst, das Gefühl geht nie vorbei.‹ DasMädchen, von dem du mir erzählst, war deine ersteLiebe. Und was du auch tust, sie wird immer bei dirsein.«

Noah schüttelte den Kopf, und als ihr Bild zu ver-blassen begann, kehrte er zu seinem Whitman zu-rück. Er las noch eine Stunde, blickte manchmal auf,wenn er Waschbären und Beutelratten am Flußuferentlanghuschen hörte. Um halb zehn klappte er sein

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