Das Buch - Penguin Random House

31

Transcript of Das Buch - Penguin Random House

Page 1: Das Buch - Penguin Random House
Page 2: Das Buch - Penguin Random House

Das Buch

Sedaris packt in seinen 17 Short-Stories die allgegenwärtigeAutobiographienmode beim sprichwörtlichen Schlafittchen underklärt das weite Feld seines Lebens, seiner Familie und seinereigenwilligen Weitsicht zum Minenfeld.Eine bärbeißige Mutter ahmt bühnenreif die nervösen Tics ihresSohnes nach, sehr zur Belustigung seiner Lehrer; Wanderjahreim Geiste Jack Kerouacs werden absolviert und fordern (selbst-verständlich!) das unvermeidliche Tetraplegie-Opfer; die Fami-lie bläst zum Hochzeitsfest im Angesicht eines nahenden Todes.Oder die Geschichte mit der Mackenplage: der kleine Davidmuss notorisch jeden Lichtschalter ablecken, mit dem Schuhab-satz gegen die Stirn schlagen, den Zementpilz auf dem Schul-weg küssen, alle Briefkästen mit der Zunge antippen und dieNase zu Hause erstmal an den Kühlschrank drücken, und kannzudem nachts nicht einschlafen, ohne sich vorher den Kopfleergewackelt zu haben.

»Sedaris ist der wohl komischste New Yorker seit DorothyParker.«

The New Yorker

Der Autor

David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, aufge-wachsen in Raleigh, North Carolina, studierte Malerei, schriebregelmäßig für die New York Times, The New Yorker, Esquireu. a. Mit seiner Schwester verfasste er mehrere Theaterstücke,die im Lincoln Center in New York aufgeführt wurden. Er lebtderzeit in Paris.

Außerdem bei Heyne lieferbar:

Nachtprogramm – Schöner wird’s nicht – Holiday On Ice – Ich einTag sprechen hübsch – Das Leben ist kein Streichelzoo

2

Page 3: Das Buch - Penguin Random House

David SedarisNaked

Aus dem Amerikanischenvon Harry Rowohlt

3

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Page 4: Das Buch - Penguin Random House

Die Originalausgabe»Naked«

erschien 1997 bei Little, Brown and Company, New York

Vorbemerkung des Autors:Die in diesen Geschichten beschriebenen Vorfällehaben sich wirklich zugetragen. Mit Ausnahme

der Familienmitglieder haben die Personen fiktive Namenund den Wiedererkennungswert steigernde

Charaktereigenschaften.

Das Buch erschien bereits bei Dianaunter dem Titel »Nackt« (62/136)

und »Naked« (62/369).

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendete

FSC®-zertifizierte Papier Super Snowbrightliefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.

5. Auflage

Copyright © 1997 by David SedarisCopyright © 1999 by Haffmans Verlag AG, Zürich

Copyright © dieser Ausgabe 2005by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHPrinted in Germany 2013

Umschlagillustration: photonica/Peter ZetrayUmschlaggestaltung:

Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: C. Schaber Datentechnik, Wels

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-59019-8

www.heyne.de

4

Page 5: Das Buch - Penguin Random House

Für meine SchwesterLisa

Page 6: Das Buch - Penguin Random House
Page 7: Das Buch - Penguin Random House

Inhalt

Rauchfleisch (Chipped Beef) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Die Mackenplage (A Plague of Tics) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Schafft die Ya Ya raus! (Get Your Ya-Ya’s Out) . . . . . . . . . 36

Familienbande (Next of Kin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Zyklop (Cyclops) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Das Open der Damen (The Women’s Open) . . . . . . . . . . . 70

Wahre Detektivgeschichten (True Detective) . . . . . . . . . . 79

Bei Dorothea Dix (Dix Hill) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Ich mag Jungs (I Like Guys) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Das Theatervirus (The Drama Bug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Dinah, die Weihnachts-Hure(Dinah, the Christmas Whore) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Planet der Affen (Planet of the Apes) . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Die unvollständige Quaddel (The Incomplete Quad) . . . 175

C. O. G. (C. O. G.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Für jeden etwas (Something for Everyone) . . . . . . . . . . . . . 245

Asche (Ashes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Nackt (Naked) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

7

Page 8: Das Buch - Penguin Random House
Page 9: Das Buch - Penguin Random House

Rauchfleisch

Ich erwäge, die Dienstboten zu ersuchen, dass sie meinKleingeld polieren, bevor sie es in das chinesische Aqua-rium tun, welches ich auf der Frisierkommode stehenhabe. Es ist wichtig, sauberes Geld zu haben –, nicht neu,aber gepflegt. Das ist einer der Glaubenssätze meinerKirche. Es handelt sich da nicht um meine persönlicheKirche, sondern um die Kirche, welche ich mit meinerFamilie besuche: die Kathedrale der Funkelnden Natur.Sie ist jenes gewaltige Bauwerk mit den Türmen undGlocken und Statuen, welche gemeines Volk darstellen,die sich anschicken, von den Zinnen zu springen. Eswerden auch Führungen veranstaltet und an jedem ers-ten Sonntag im Oktober ist Tag der offenen Tür. Kom-men Sie doch auch mal! Aber lassen Sie Ihren Foto-apparat zu Hause, denn das Blitzlicht macht die Pferdescheu, und das stellt für mich und meine Eltern einefurchtbare Bedrohung dar, besteht der Pfarrer doch da-rauf, dass wir unsere Plätze in der ersten Bankreihe ein-nehmen. Unlängst rief er uns an, beschwipst – er ist einkleiner Schluckspecht –, und sagte, unsere Gesichterführten ihn näher an Gott heran. Und es stimmt, wirsind schrecklich gutaussehende Menschen. Das Profilmeiner Mutter ziert die neuen Schwebebahn-Wertmün-zen, und was meinen Vater und mich betrifft, so planendie Leutchen bei der NASA eine Mondkapsel, die nachunserer Schädelform konstruiert werden soll. UnsereWangenknochen sind äronautisch und unsere Kinngrüb-chen haben ein Fassungsvermögen von bis zu drei Dut-zend Luftgewehrkugeln gleichzeitig. Auf Befragen ant-

9

Page 10: Das Buch - Penguin Random House

worten die meisten Menschen, meine Haut sei meingrößter Aktivposten, weil sie – was sie tatsächlich tut! –strahle. Ich muss mir die Augen mit einer Socke verbin-den, um nachts einschlafen zu können. Andere mögenmeine Augen oder meine vollkommenen, schimmern-den Zähne, mein volles Haar oder meine beeindru-ckende Gestalt, aber wenn Sie Wert auf meine Meinunglegen, so finde ich meine hervorstechendste Eigenschaftdie Fähigkeit, ein Kompliment zu ertragen.

Weil wir so schlau sind, können meine Eltern und ichdurch Menschen hindurchgehen, als wären sie aus har-tem, klarem Kunststoff. Wir wissen, wie sie nackt ausse-hen, und können das verzweifelte innere Getriebe ihrerHerzen, Seelen und Eingeweide sehen. Jemand quatschtmich mit »Na, wie läuft’s, Großer?«, an, und ich kannseinen Neid riechen, sein unbeholfen tastendes Verlan-gen, meine Zuwendung durch eine beiläufige und unan-gemessene Volkstümlichkeit zu erringen, bei der sich mirvor Mitleid der Magen umdreht. Wie läuft’s; wenn ichdas schon höre. Sie wissen nichts über mich und meineArt zu leben und die Welt wimmelt von solchen Leuten.

Nehmen Sie zum Beispiel den Pfarrer, mit seinen zit-ternden Händen und seiner wächsernen Hauthülle. Erist nicht komplexer als eins dieser fünfteiligen Holz-Puzzles, die man Idioten und Schulkindern gibt. Ermöchte, dass wir in der ersten Reihe sitzen, damit wirdie anderen Kirchgänger nicht ablenken, die sich sonstständig auf ihrer Bank umdrehen, sich den Hals verren-ken würden, um unsere physische und spirituelle Schön-heit zu bewundern. Unsere gute Erziehung verzaubertsie und sie wollen aus erster Hand sehen, wie wir mitunserer Tragödie fertigwerden. Wohin wir auch gehen,überall stehen meine Eltern und ich im Mittelpunkt derAufmerksamkeit. »Sie sind’s! Seht nur, dort ist der Sohn!Berührt ihn, grabscht nach seinem Schlips, nach einerLocke von seinem Haupthaar, nach irgendwas!«

10

Page 11: Das Buch - Penguin Random House

Der Pfarrer hatte gehofft, er würde, wenn er seinePredigt zu Pferde hielt, ein wenig Aufmerksamkeitzurückerlangen, aber selbst mit Lasso und einem Ge-spann tänzelnder Clydesdale-Kaltblüter war sein Planzum Scheitern verurteilt. Immerhin blickt jetzt, da wir inder ersten Reihe sitzen, die Gemeinde nach vorn und dasist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn es dazudient, die Menschen näher an Gott heranzuführen, kau-ern wir auch gern auf den Orgelpfeifen, oder wir schnal-len uns an das original Cromargan-Kreuz, welches überdem Altar hängt. Wir würden so ziemlich alles tun, dennbei aller Unbill, die wir jüngst durchlitten, besteht unserevornehmste Pflicht darin, anderen zu helfen. Die Innen-städtische Picknick-Stiftung, unsere jährliche Sternfahrt»Kampf dem Kopfweh!«, das der Nachsorge bei Polo-Verletzungen gewidmete Seitengebäude im hiesigen All-gemeinen Krankenhaus –: Unsummen stiften wir fürwohltätige Zwecke, doch werden Sie uns nie darüberreden hören. Wir geben anonym, denn die Waschkörbevoller Dankschreiben, in unbeholfener Handschrift undhoffnungsloser phonetischer Orthographie abgefasst,brechen uns schier das Herz. Wenn sich herumspricht,dass wir großzügig und gutaussehend sind, wird derPlatz vor unserem Portal hast-du-nicht-gesehen zumZeltplatz für Moderedakteure und verkrüppelte Kinder,die mit ihren spitzen Krücken den Rasen ruinieren. Nein,man tut, was man kann, aber mit so wenig Fanfare wiemöglich. Sie werden uns nie von Festwagen herunter-winken oder neben Seiner Exzellenz, dem Großen Brim-borius, einhermarschieren sehen, denn damit würdenwir nur die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns lenken.Ja, man sieht die Schranzen, wie sie dies tagaus, tageinbetreiben, aber so was ist billig und närrisch und einesTages werden sie die Folgen ihrer Narretei zu büßenhaben. Sie hungern nach etwas, wovon sie nichts wissen,wir dagegen, wir wissen nur zu gut, dass der Preis des

11

Page 12: Das Buch - Penguin Random House

Ruhms der Verlust des Privatlebens ist. Öffentliche Zur-schaustellung von Glück ermuntert nur die vielen Ent-führer, welche die beraubten Grundstücke unserer besse-ren Wohngegenden durchstreifen.

Als es meine Schwestern erwischte, zerknüllte meinVater die Lösegeldforderung und warf sie in die ewigeFlamme, welche neben dem mumifizierten Pilgervaterbrennt, den wir im Speisesaal unseres Sommerhauses inOlfactory aufbewahren. Wir verhandeln nicht mit Krimi-nellen; das ist in unserem Charakter nicht angelegt. Hinund wieder denken wir an meine Schwestern und hof-fen, dass es ihnen gut geht, aber wir halten uns nicht län-ger damit auf, da dies nur den Entführern nützt. Fürserste sind meine Schwestern zwar weg, aber, wer weiß,vielleicht kehren sie eines Tages zurück, vielleicht wennsie älter sind und selbst Familie haben. Bis dahin lebe ichals Einzelkind und einziger Erbe des nicht unbedeu-tenden elterlichen Vermögens. Einsam? Manchmal. Mirbleiben immer noch Mutter und Vater, sowie, natürlich,die Dienstboten, von denen einige außerordentlichschlau sind, wenn man einmal von ihren schiefen Zäh-nen und mangelhaften Manieren absieht. Erst neulichwar ich mit Duncan im Stall, als …

»Lass doch endlich um des lieben Himmels willen«,sagte meine Mutter und tunkte wild ihren Holzlöffel ineinen Kessel mit Rinderbrühe aus geschnittenem Rauch-fleisch, »diese verdammte Katze zufrieden, bevor ichdich auch noch kratze. Es ist schon schlimm genug, dassdu sie aufgerüscht hast wie eine Zweidollarhure. Ziehihr das Kostüm aus und lass sie los, bevor sie auch nochabhaut wie die Katze davor.«

Mit der freien Hand rückte ich meine Brille zurechtund erinnerte sie daran, dass die Katze davor von einemAuto überfahren worden war.

»Sie hat sich absichtlich überfahren lassen«, sagtemeine Mutter. »Es war ihr einziger Ausweg und du hast

12

Page 13: Das Buch - Penguin Random House

sie mit deinem Scheißdreck über die Kennedys und dassdu mit ihnen Hochrippe gespeist hättest oder worüberdu an dem Tag gerade gejammert hast, in den Tod ge-trieben. Jetzt lass sie endlich los. Danach möchte ich,dass du in den Hintergarten rennst und deine Schwe-stern aus dem Graben holst. Bei der Gelegenheit kannstdu auch deinen Vater suchen. Wenn er nicht unter sei-nem Auto liegt, arbeitet er wahrscheinlich an der Klär-grube. Sag ihnen, sie sollen ihren Arsch zu Tisch bewe-gen, oder sie kriegen meine gottverdammte Faust zumAbendessen.«

Es war nicht so, dass wir arm gewesen wären. MeinenEltern zufolge waren wir weit davon entfernt, nur nichtweit genug, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Ichwollte eben lieber ein Haus mit einem Burggraben stattmit einem Zaun. Um nachts einigermaßen schlafen zukönnen, brauchte ich einen nach uns benannten Flug-hafen.

»Du bist ein Snob«, sagte meiner Mutter immer. »Dahast du dein Problem, schön handlich verpackt. Ich binunter Menschen wie dir aufgewachsen und weißt duwas? Ich konnte sie nicht ausstehen. Niemand konnte sieausstehen.«

Egal was wir hatten – das Haus, die Autos, die Fe-rien –, es war nie genug. Irgendwo war ein schrecklicherFehler gemacht worden. Das Leben, das ich führenmusste, war eine einzige Zumutung, aber nie gab ich dieHoffnung auf, dass eines Tages meine echte Familieauftaucht und mit weißbehandschuhtem Finger auf denKlingelknopf drückt. Dann schreien alle: »Ach, GrafMeißelkinn« und schmeißen zur Feier des Tages ihreZylinderhüte hoch in die Luft, »Gott sei Dank, dass wirSie endlich gefunden haben.«

»Das wird nie geschehen«, sagte meine Mutter. »Glaubmir, wenn ich hätte ein Baby stehlen wollen, hätte icheins genommen, das mich nicht jedesmal zusammen-

13

Page 14: Das Buch - Penguin Random House

scheißt, wenn ich meine Jacke auf dem Sofa liegenlasse.Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, aber du bist meinSohn. Wenn das für dich so eine Enttäuschung ist, stelldir einfach mal vor, wie es mir geht.«

Wenn meine Mutter einkaufen ging, lungerte ich oftvor dem Laden herum. Ich hoffte, wohlhabende Ehe-leute würden mich in ihren Kofferraum stopfen. Zu-nächst würden sie mich eine bis zwei Stunden lang fol-tern, aber sobald sie erführen, dass ich mit Golfschlägernumzugehen verstand, würden sie meine Fesseln lösenund mich als Fleisch von ihrem Fleische umarmen.

»Irgendwelche Entführer?«, fragte meine Mutter dann,wenn sie ihren beladenen Einkaufswagen auf den Park-platz schob.

»Kennst du keine kinderlosen Ehepaare?«, fragte ichdann. »jemanden mit Swimmingpool oder Privatjet?«

»Du wärst der erste, dem ich Bescheid sage.«Mein Missvergnügen nahm mit dem Erscheinen jeder

neuen Schwester zu.»Ihr habt wie viele Kinder in der Familie?«, fragten die

Lehrer. »Da seid ihr bestimmt katholisch, stimmt’s?«Meine Mutter schien zu Weihnachten immer schwan-

ger zu sein. Das Klo war ständig voll schmutziger Win-deln und ewig tappten Kleinkinder in mein Schlafzim-mer, um meine Muschel- und Weinflaschensammlungdurcheinanderzubringen. Ich hatte keine Ahnung vonden genauen Vorgängen, aber nach dem zu urteilen, wasich bei den Nachbarn zufällig mitbekam, hatte unseregroße Familie etwas mit der mangelnden Kontrolle mei-ner Mutter zu tun. Es war ihre Schuld, dass wir uns keinSommerhaus mit Erkerfenstern und keinen Tennisplatzan der Steilküste leisten konnten. Anstatt ihren sozialenStatus zu verbessern, zog sie es vor, Kinder auszuschei-den, jedes noch dreckiger als das davor.

Erst als sie ihre sechste Schwangerschaft ankündigte,wurde mir die Komplexität der Lage klar. Ich ertappte

14

Page 15: Das Buch - Penguin Random House

sie im Schlafzimmer, wie sie am hellichten Nachmittagweinte.

»Bist du traurig, weil du immer noch nicht im Kellerstaubgesaugt hast?«, fragte ich. »Ich kann das für dichtun, wenn du möchtest.«

»Ich weiß, dass du das kannst«, sagte sie. »Und ichweiß dein Angebot zu schätzen. Nein, ich bin traurig,weil ich, Scheiße, weil ich schon wieder ein Kind kriege,aber diesmal ist es das letzte, das schwör ich dir. Nachdiesem lass ich mir vom Arzt die Eileiter zubinden undden Knoten verlöten, damit es ganz bestimmt nie wiederpassiert.«

Ich hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach – einemLeiter, einem Knoten, einem Lötkolben –, aber ich nickte,als hätten wir beide gerade eine Art private Überein-kunft getroffen, welcher später ein Team von Anwältenihre endgültige Form geben würde. »Einmal schaffe iches noch, aber ich brauche deine Hilfe.« Sie weinte immernoch, verzweifelt, aber irgendwie nachlässig, doch ichfand es weder peinlich noch zum Fürchten. Ich betrach-tete ihre schmalen Hände, die sie sich wie einen Vorhangvors Gesicht hielt und verstand, dass sie mehr brauchteals eine freiwillige Haushaltshilfe. Und, oho, diese Per-son würde ich sein. Ein Zuhörer, ein Finanzberater, sogarein Freund: Ich schwor, all dies und noch viel mehr zusein, und zwar für zwanzig Dollar und eine schriftlicheGarantie, dass ich immer mein eigenes privates Schlaf-zimmer haben würde. So engagiert war ich. Und weil siewusste, was für ein gutes Geschäft sie gemacht hatte,trocknete meine Mutter sich das Gesicht und gingdavon, um ihr Portemonnaie zu suchen.

15

Page 16: Das Buch - Penguin Random House

Die Mackenplage

Als die Lehrerin fragte, ob sie mal meine Mutter besu-chen kann, drückte ich achtmal die Nase gegen dieTischplatte.

»Darf ich das als »ja« verstehen?«, fragte sie.Laut ihren Berechnungen hatte ich an jenem Tag acht-

undzwanzigmal meinen Platz verlassen. »Du hüpfst aufund ab wie ein Floh. Ich wende dir nur zwei Minutenlang den Rücken zu und schon drückst du deine Zungegegen den Lichtschalter. Vielleicht machen sie das da,wo du herkommst, aber hier in meinem Klassenzimmerverlassen wir unseren Platz nicht und lecken nicht anSachen, wenn uns danach ist. Das ist der Lichtschaltervon Miss Chestnut und Miss Chestnut liebt trockeneLichtschalter. Fändest du das etwa schön, wenn ich zudir nach Hause käme, um deine Lichtschalter abzu-schlecken? Na? Fändest du das schön?«

Ich versuchte sie mir in Aktion auszumalen, aber michrief mein Schuh. Zieh mich aus, flüsterte er. Poche dir mitmeinem Absatz dreimal gegen die Stirn. Tu’s jetzt gleich,schnell, niemand wird was merken.

»Nun?«, Miss Chestnut hob die kaum sichtbaren,dünn nachgezogenen Brauen. »Ich stelle dir eine Frage.Fändest du das schön, oder fändest du das nicht schön,wenn ich bei dir zu Hause die Lichtschalter ab-schlecke?«

Ich zog mir den Schuh aus und tat, als untersuchte ichdie Absatzprägung.

»Gleich haust du dir diesen Schuh übern Kopf,stimmt’s?«

16

Page 17: Das Buch - Penguin Random House

Es war kein »Hauen«, es war Pochen; aber immerhin,woher hatte sie gewusst, was ich als nächstes vorhatte?

»Lauter Fußabdrücke auf der Stirn«, sagte sie und be-antwortete meine unausgesprochene Frage.

»Du solltest irgendwann mal in den Spiegel kucken.Schuhe sind schmutzig. Wir tragen sie an den Füßen, umuns gegen das Erdreich zu schützen. Es ist nicht gesund,sich Schuhe übern Kopf zu hauen, stimmt’s?«

Nein, glaubte ich auch nicht.»Glaubst du nicht? Mit Glauben hat das nichts zu tun.

Ich ›glaube‹ nicht, dass es gefährlich ist, mit einer Pa-piertüte über dem Kopf auf die Straße zu rennen. Dashat mit Glauben gar nichts zu tun. Das sind Tatsachen,keine Glaubensfragen.« Sie saß an ihrem Pult, fuhr mitihrer Vorlesung fort und schrieb gleichzeitig einen kur-zen Brief. »Ich würde mich gern mal mit deiner Mutterunterhalten. Du hast doch eine, oder? Ich nehme an, duwurdest nicht von Tieren großgezogen. Ist sie blind,deine Mutter? Kann sie sehen, wie du dich beträgst, odersparst du dir deine Mätzchen exklusiv für Miss Chestnutauf?« Sie überreichte mir den gefalteten Zettel. »Dudarfst jetzt gehen und ich darf dich jetzt schon darumbitten, auf dem Weg hinaus nicht meinen Lichtschaltermit deiner bazillenverseuchten Zunge zu benetzen. Erhatte einen schweren Tag. Wir hatten beide einen schwe-ren Tag.«

Es war nicht weit von der Schule bis zu unserem ge-mieteten Einfamilienhaus, nicht weiter als sechshun-dertsiebenunddreißig Schritte, und an einem guten Tagschaffte ich die Strecke in einer Stunde, wenn ich nuralle paar Dezimeter haltmachte, um mit der Zungeeinen Briefkasten anzutippen, oder um einzelne Blät-ter oder Grashalme, die mir aufgefallen waren, zuberühren. Wenn ich die Anzahl der bereits zurückgeleg-ten Schritte vergaß, musste ich zurück zur Schule undvon vorn anfangen. »Schon wieder da?«, fragte dann

17

Page 18: Das Buch - Penguin Random House

der Hausmeister. »Kannst nicht genug kriegen von derSchule, was?«

Er hatte nichts verstanden. Ich wollte lieber als sonst-was zu Hause sein; das Hinkommen war das Problem.Möglicherweise fasste ich den Telegraphenmast beiSchritt dreihundertvierzehn an und machte mir, fünf-zehn Schritte später, Sorgen, dass ich ihn nicht genau ander richtigen Stelle angefasst hatte. Er musste noch ein-mal angefasst werden. Man war nur ganz kurz abgelenktund schon beschlich einen der Zweifel, und man stelltenicht nur den Telegraphenmast infrage, sondern auchden Rasenschmuck bei Schritt zweihundertneunzehn.Also muss man zurück, den Zementpilz noch einmal an-lecken und hoffen, dass seine Wächterin nicht wiederaus dem Haus geschossen kommt und ruft: »Nimm deinGesicht aus meinem Fliegenpilz!« Es konnte regnen,oder vielleicht musste ich mal, aber nach Hause zu ren-nen kam nicht infrage. Dies war ein langer und kompli-zierter Prozess, der eine erdrückende Detailversessenheiterforderte. Es war ja nicht so, dass es mir Vergnügen be-reitete, die Nase gegen die siedendheiße Kühlerhaubeeines parkenden Autos zu drücken …; Vergnügen hattenichts damit zu tun. Man musste diese Dinge tun, dennnichts war schlimmer als die Qual, sie nicht zu tun. DenBriefkasten übergehen hieß, dass mein Hirn mich ihnnie wieder vergessen ließ, nicht für einen Moment. Ichmochte am Abendbrottisch sitzen, mich herausfordern,nicht daran zu denken und schon suchte der Gedankemein Bewusstsein heim. Denk nicht dran. Aber dann wares bereits zu spät und ich wusste genau, was zu tun war.Indem ich mich entschuldigte, ich müßte mal austreten,verließ ich das Haus und kehrte zu jenem Briefkastenzurück, um ihn nicht nur anzutippen, sondern zu schla-gen, praktisch auf das Ding einzudreschen, weil ich es sosehr hasste, dachte ich. Was ich natürlich in Wirklichkeithasste, war mein Bewusstsein. Irgendwo musste es einen

18

Page 19: Das Buch - Penguin Random House

Schalter zum Ausknipsen geben, aber ich will verdammtsein, wenn ich ihn fand.

Ich erinnere mich nicht, dass es im Norden auchschon so schlimm gewesen ist. Unsere Familie war vonEndicott, New York, nach Raleigh, North Carolina,transferiert worden. Das war das Wort, welches dieLeute bei IBM verwendeten, transferiert. Ein neues Hauswurde gebaut, aber bis es fertig war, mussten wir unsmit einem Mietobjekt begnügen, welches einem Planta-gengebäude ähneln sollte. Das Gebäude stand in einembaumlosen, schütter werdenden Garten und seine wei-ßen Säulen versprachen eine Majestät, welche das Inte-rieur nicht einzulösen verstand. Die Haustür öffnetesich auf einen dunklen, engen Flur, welcher von Schlaf-zimmern gesäumt wurde, die nicht viel geräumigerwaren als die Matratzen, die zu ihrer Möblierung dien-ten. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, nebendem Wohnzimmer, dessen Panoramafenster Aussichtauf eine Mauer aus Schlackeziegeln bot, erbaut, um dieSchlammflut zurückzuhalten, die vom benachbartenDreckhügel ausging.

»Unser kleiner Höllenwinkel«, sagte meine Mutterund fächelte sich mit einer der Schindeln, die unserenVordergarten verunreinigten, Luft zu.

So deprimierend es auch sein mochte –, wenn ich beider ersten Stufe zu unserem Haus angekommen war,hieß das, dass ich die erste Hälfte des Weges in meinSchlafzimmer geschafft hatte. Zu Hause berührte ich dieHaustür mit jedem Ellbogen siebenmal, eine Aufgabe,die erschwert wurde, wenn noch jemand dabei war.»Versuch’s doch mal mit der Türklinke«, sagte meineSchwester Lisa. »Das tun wir auch und bei uns scheint’szu wirken.« Im Haus wollten Lichtschalter und Türstop-per befriedigt sein. Mein Schlafzimmer lag genau amFlur, aber erst hatte ich noch zu tun. Nachdem ich dievierte, achte und zwölfte mit Auslegware bezogene Stufe

19

Page 20: Das Buch - Penguin Random House

geküßt hatte, wischte ich mir die Katzenhaare von denLippen, und weiter ging es in die Küche, wo ich Befehlhatte, die Brenner des Gasherds zu streicheln, die Nasegegen die Kühlschranktür zu drücken und Kaffeema-schine, Toaster und Mixer in einer Reihe auszurichten.Nachdem ich meine Runden durch das Wohnzimmergemacht hatte, war es Zeit, sich neben das Geländerzu knien und blind ein Buttermesser in Richtung meinerLieblingssteckdose zu werfen. Es gab Glühbirnen zulecken und Badezimmerwasserhähne zu überprüfen,bevor ich endlich frei war, mein Schlafzimmer zu betre-ten, wo ich die Gegenstände auf meiner Kommode sorg-fältig auf Linie brachte, die Ecken meines Metallschreib-tischs ableckte, mich aufs Bett legte, auf und ab wackelteund darüber nachdachte, was für eine seltsame Frau dieLehrerin meiner dritten Klasse, Miss Chestnut, doch war.Warum wollte sie hierherkommen und an meinen Licht-schaltern lecken, wenn sie nie ihren eigenen nutzte? Viel-leicht war sie betrunken.

In ihrem Brief hatte sie angefragt, ob sie zu uns nachHause kommen kann, um sich über meine, wie sie sienannte, »speziellen Probleme« zu unterhalten.

»Bist du von deinem Platz aufgestanden, um denLichtschalter abzulecken?«, fragte meine Mutter. Sielegte den Brief auf den Tisch und steckte sich eine Zi-garette an.

»Ein-, zweimal«, sagte ich.»Ein-, zweimal wie? Jede halbe Stunde? Alle zehn Mi-

nuten?«»Ich weiß nicht«, log ich. »Wer zählt bei so was schon

mit?«»Deine gottverdammte Mathe-Lehrerin zum Beispiel.

Das ist ihr Job, das Zählen. Glaubst du etwa, sie merkt sowas nicht?«

»Merkt was nicht?« Ich bin immer wieder verblüfft,dass die Leute tatsächlich so was bemerken. Weil meine

20

Page 21: Das Buch - Penguin Random House

Aktionen so immens privat waren, hatte ich immer an-genommen, sie wären auch irgendwie unsichtbar. In dieEnge getrieben, behauptete ich, der Zeuge habe sich ge-irrt.

»Was meinst du mit ›merkt was nicht?‹!? Heute Nach-mittag hat mich die Dame, die hier in der Straße wohnt,diese Mrs. Keening, die mit den Zwillingen, angerufen.Sie sagt, sie hat dich in ihrem Vorgarten erwischt, aufHänden und Knien, wie du die Spätausgabe ihrer Zei-tung geküßt hast.«

»Ich habe sie nicht geküßt. Ich habe nur versucht, dieSchlagzeile zu lesen.«

»Und da musstest du so nah rangehen? Vielleicht soll-ten wir dir eine stärkere Brille besorgen.«

»Ja, das sollten wir vielleicht«, sagte ich.»Und vermutlich hat sich diese Miss …« Meine Mut-

ter entfaltete den Brief und studierte die Unterschrift.»… diese Miss Chestnut ebenfalls geirrt? Ist es das, wasdu mir zu sagen versuchst? Vielleicht hat sie dich mitdem anderen Jungen verwechselt, der auch immer vonseinem Platz aufsteht, um den Bleistiftanspitzer abzu-lecken oder die Fahne anzufassen oder was zum Teufeldu sonst treibst, sobald sie dir den Rücken kehrt?«

»Sehr gut möglich«, sagte ich. »Sie ist alt. Sie hatFlecken auf den Händen.«

»Wie viele?«, fragte meine Mutter.An jenem Nachmittag, an welchem Miss Chestnut zu

Besuch kam, war ich in meinem Schlafzimmer undwackelte. Im Gegensatz zum zwanghaften Zählen undBerühren war Wackeln keine Pflicht-, sondern eine frei-willige und höchst angenehme Übung. Es war meinHobby und es gab nichts, was ich lieber getan hätte. Esging nicht darum, sich in den Schlaf zu wackeln: Dieswar kein Schritt in Richtung auf ein höheres Ziel. Es wardas Ziel selbst. Die andauernde Bewegung machte mirden Kopf frei, sodass ich mir alles mögliche durch den-

21

Page 22: Das Buch - Penguin Random House

selben gehen lassen und schwerstdetaillierte Phanta-sien entwickeln konnte. Noch ein Radio dazu und ichwackelte hochzufrieden bis drei oder vier Uhr morgens,lauschte der Hitparade und entdeckte, dass es in jedemeinzelnen Lied um mich ging. Selbst wenn ich mir das-selbe Lied zwei- bis dreihundertmal anhören musste –,früher oder später entbarg sich seine geheime Botschaft.Weil es angenehm und entspannend war, musste meinWackeln irgendwann ins Stolpern geraten, meistens weilmein Gehirn ihm ein Bein gestellt hatte, da mein Gehirnmir nicht mehr als zehn zusammenhängende MinutenGlück gestattete. Während der Anfangsakkorde meinesjeweiligen Lieblingslieds flüsterte eine Stimme: Müsstestdu jetzt nicht eigentlich oben in der Küche sein und überprü-fen, ob tatsächlich noch hundertvierzehn Pfefferkörner in demkleinen Keramiktopf sind? Und, he, wenn du sowieso obenbist, kannst du auch gleich noch feststellen, ob das Bügeleisenabgeschaltet ist, damit das Zimmer mit dem Baby nicht inFlammen aufgeht. Die Liste mit Forderungen wurde ganzschnell immer länger. Was ist mit der Zimmerantenne aufdem Fernseher? Bildet sie immer noch ein perfektes V, oder hateine deiner Schwestern ihre Unversehrtheit zerstört? Weißtdu, ich frage mich gerade, wie fest der Deckel vom Mayonnai-senglas zugeschraubt ist. Sehen wir doch einfach mal nach,oder?

Ich war ganz kurz davor, mich richtig wohl zu fühlen,so nah dran, den komplexen Code des Liedes zu knackenund schon kamen mir meine Gedanken dazwischen. DerTrick bestand darin, den rechten Augenblick abzupas-sen, bis die Platte nicht mehr meine Lieblingsplatte war,zu warten, bis sie vom ersten Platz auf der Hitliste ge-rutscht war, und mir einzureden, sie sei mir wurscht.

Ich war gerade dabei, mich mit »The Shadow of YourSmile« gütlich zu einigen, als Miss Chestnut eintraf. Sieklingelte, ich öffnete meine Schlafzimmertür einen Spaltweit und beobachtete, wie meine Mutter sie hereinbat.

22

Page 23: Das Buch - Penguin Random House

»Sie müssen diese Kartons entschuldigen.« MeineMutter schnickte ihre Zigarette vor die Tür in den unrat-starrenden Vorgarten. »Es ist nur Mist drin, in jedemEinzelnen, aber Gott behüte, dass wir irgendwas weg-schmeißen. O nein, völlig unmöglich! Mein Mann hatalles aufbewahrt: sämtliche hinterletzten Rabattmarkenund Coupons, Badehosen, aus denen jeder herausge-wachsen ist und Linoleumschnipsel, zusammen mitSteinen und knorrigen Stöcken, die, schwört er, seinemalten Abteilungsleiter oder Stellvertretenden Bereichs-wart oder sonstwas Gottverdammtem zum Verwechselnähnlich sehen.« Sie wischte sich mit einem Stück Kü-chenrolle den Schweiß von der Stirn. »Na egal, zur Hölledamit. Sie sehen aus, als könnte ich einen Drink gebrau-chen; geht Scotch in Ordnung?«

Miss Chestnuts Augen erhellten sich. »Eigentlich jawirklich nicht, aber, naja, was soll’s?« Sie folgte meinerMutter die Treppe hinauf. »Nur ein Tröpfchen mit Eis,ohne Wasser.«

Ich versuchte, im Bett zu wackeln, aber das Geräuschvon Gelächter zog mich auf den Treppenabsatz, wo ichvon meinem günstigen Aussichtspunkt hinter einemübergroßen Kleiderschrank aus die beiden Frauen beob-achtete, wie sie mein Verhalten besprachen.

»Ach, Sie meinen das Anfassen«, sagte meine Mutter.Sie studierte den Aschenbecher, der vor ihr auf demTisch stand, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen,wie bei einer Katze, die eines Eichhörnchens ansichtigwird. Der Anblick fixierter Konzentration, den sie bot,legte nahe, dass nichts anderes von Belang war. Die Zeitwar stehengeblieben und sie war taub gegenüber demleisen Knattern des Ventilators und dem Gezanke meinerSchwestern draußen in der Einfahrt. Sie öffnete denMund nur so weit, dass sie die Zunge über die Ober-lippe gleiten lassen konnte, dann beugte sie sich vor undihr Zeigefinger piekte den Aschenbecher, als wäre er

23

Page 24: Das Buch - Penguin Random House

etwas Schlafendes, was sie zu wecken versuchte. Ichhatte mich selbst nie in Aktion gesehen, aber ein schar-fes, stechendes Gefühl der Erkenntnis sagte mir, dassmeine Mutter mich zutreffend nachgemacht hatte.

»Unbezahlbar!«, lachte Miss Chestnut und faltete dieHände vor Entzücken. »Das war ja sehr gut; Sie habenihn perfekt drauf. Bravo, ich gebe Ihnen eine Eins plus.«

»Gott allein weiß, wo er das her hat«, sagte meineMutter. »Jetzt ist er wahrscheinlich unten in seinem Zim-mer und zählt seine Wimpern oder nagt an den Griffenseiner Kommodenschubladen. Um ein, zwei Uhr nachtsist er immer noch zugange, poltert im Haus herum, umden Wäschekorb zu pieksen oder sein Gesicht gegen dieEisschranktür zu pressen. Der Junge ist ein bisschenschief gewickelt, aber das wächst sich zurecht. Also, wasmeinen Sie, noch einen Scotch, Katherine?« Jetzt war siealso schon Katherine. Noch ein paar Drinks und sie kamwahrscheinlich mit in die Sommerferien. Wie leicht esfür Erwachsene war, sich bei einer zweiten Runde Cock-tails zu verbrüdern. Ich ging wieder ins Bett und stelltedas Radio laut, um mich nicht von ihrem Gequackel ab-lenken zu lassen. Denn Miss Chestnut war hier bei mirzu Besuch und es war nur noch eine Frage der Zeit, bisdie Stimmen mich in die Küche riefen, damit ich dortunangenehm auffiel. Vielleicht musste ich am Besenstiellutschen oder auf den Tisch steigen, um die Lampe an-zufassen, aber was sie auch von mir verlangten, ich hattekeine Wahl, ich musste es tun. Das Lied, das gerade imRadio gespielt wurde, stellte nicht die geringste Heraus-forderung dar; der Text war so klar, als hätte ich ihnselbst geschrieben. »Well, I think I’m going out of myhead«, sang der Mann, »yes, I think I’m going out of myhead.«

Nach Miss Chestnuts Besuch versuchte mein Vater,mich mithilfe einer Serie von Drohungen zu kurieren.»Wenn du noch mal deine Nase gegen die Windschutz-

24

Page 25: Das Buch - Penguin Random House

scheibe drückst, wirst du dir wünschen, es gelassen zuhaben, das kann ich dir garantieren«, sagte er, als er, denSchoß voller ungültiger Coupons aus einem anderenBundesstaat, vom Einkaufen nach Hause fuhr. Es warmir praktisch unmöglich, auf dem Beifahrersitz zu sit-zen, ohne die Nase gegen die Windschutzscheibe zudrücken, und nun, da die Aktion verboten war, wollteich es mehr als alles andere auf der Welt. Ich versuchte,die Augen zu schließen, und hoffte, dadurch würde derDrang nachlassen, merkte aber, dass ich dachte, er solltevielleicht die Augen schließen. Ich wollte die Nase gegendie Windschutzscheibe drücken; na und? Warum durfteer ohne Strafandrohung ständig sein Wechselgeld nach-zählen und sich auf die Unterlippe beißen? Meine Mut-ter rauchte und Miss Chestnut massierte sich zwanzig-,dreißigmal am Tag die Hüfte –, und da durfte ich nichtdie Nase gegen eine Windschutzscheibe drücken? Ichöffnete aufsässig die Augen, aber als er sah, dass ichmich auf mein Ziel zubewegte, stieg mein Vater voll aufdie Bremse.

»Na, hat das Spaß gemacht?« Er gab mir ein Golf-Handtuch, damit ich mir das Blut von der Nase wischenkonnte. »Hat sich das gut angefühlt?«

Gut war zu schwach für das, was ich fühlte. Ich liebtedas Gefühl. Wenn mit dem richtigen Wumm ausgeführt,kann ein Schlag auf die Nase narkotische Wirkunghaben. Das Berühren von Objekten stillte einen geistigenJuckreiz und war mit viel Bewegung verbunden: dieTreppe hochrennen, durch das Zimmer laufen, einenSchuh ausziehen. Bald fand ich heraus, dass die gleichenTriebe auch innerhalb der Grenzen meines eigenen Kör-pers befriedigt werden konnten. Sich selbst auf die Nasezu hauen, war kein schlechter Anfang, aber ich verwarfdiese Praktik wieder, als ich begann, die Augen tief inihren Höhlen zu rollen, eine Übung, welche schnelleSchübe stumpfen, berauschenden Schmerzes hervorrief.

25

Page 26: Das Buch - Penguin Random House

»Ich weiß genau, wovon Sie sprechen«, sagte meineMutter zu Mrs. Shatz, meiner Lehrerin in der viertenKlasse, die gerade zu Besuch weilte. »Wenn er so wildmit den Augen rollt, ist es, als redete man mit einemRotamint. Hoffentlich wirft er eines Tages einen schönenGewinn aus, aber bis dahin, was meinen Sie, wie wär’smit einem weiteren Gläschen Wein?«

»He, Kumpel«, sagte mein Vater, »wenn du versuchst,den Inhalt deines Schädels zu betrachten, kann ich dirjetzt schon sagen, dass es Zeitverschwendung ist. Dagibt es nichts zu sehen und dieses Zeugnis beweist es.«

Er hatte recht. Ich hatte die Nase gegen die Tür, denTeppich und die Windschutzscheibe gedrückt, aber nichtin die Schulbücher gesteckt, offensichtlich. Die Schulewar für mich ohne jedes Interesse. Ich verbrachte meineTage mit Warten, Warten darauf, endlich in das dunkleSchlafzimmer unseres neuen Hauses zurückzukehren,wo ich mit den Augen rollen, Radio hören und in Frie-den wackeln konnte.

Ich gewöhnte mir an, brutal mit dem Kopf zu wa-ckeln, von dem Gefühl aufgestachelt, welches mein Hirnhervorrief, wenn es gegen den einengenden Schädelschwappte. Es fühlte sich so gut an und nahm so wenigZeit in Anspruch: Nur ein paarmal schnell geruckelt undich war bis zu fünfundvierzig Sekunden lang befriedigt.

»Setzen Sie sich; ich hole Ihnen rasch was Kühles zutrinken.« Meine Mutter ließ meine Lehrerin aus der fünf-ten und dann aus der sechsten Klasse in der Frühstücks-nische stehen, während sie in die Küche ging, um Eis-würfel aus dem Gefrierfach zu brechen. »Sie sind wegendes Kopfwackelns hergekommen, stimmt’s?«, rief sie.»Das ist mein Herr Sohn; da gibt es kein Vertun.« Sieschlug vor, die Lehrkräfte sollten meinen zuckendenKopf als zustimmendes Nicken interpretieren. »Das tuich auch und jetzt muss er die nächsten fünf Jahre den

26

Page 27: Das Buch - Penguin Random House

Abwasch machen. Ich frage, er zuckt mit dem Kopf unddie Sache ist geregelt. Tun Sie mir aber bitte einen Gefal-len und lassen Sie ihn nicht länger als bis fünf nachsit-zen. Ich brauche ihn hier zum Aufräumen und Betten-machen, bevor sein Vater nach Hause kommt.«

Das gehörte zum Auftritt meiner Mutter. Sie spielteden Anheizer, pfiff auf der Pfeife und verzauberte dieMenge mit ihren Witzen und übertriebenen Geschichten.Wenn Gesellschaft kam, tat sie oft, als hätte sie dieNamen ihrer sechs Kinder vergessen. »He, George, oderAgnes, oder wie du heißt, renn doch mal ins Schlafzim-mer und finde mein Feuerzeug.« Sie bemerkte meineMacken und Gewohnheiten, ließ sich aber von keinerje beschämen oder ernsthaft beunruhigen. Ihre Betrach-tungen wurden gesammelt und als Teil einer Nummervorgetragen, die wenig Ähnlichkeit mit unserem wirk-lichen Leben aufwies.

»Es ist nicht leicht zu erraten, aber ich wette, Sie sindwegen der kleinen Stimmchen hier«, sagte sie und botmeiner Lehrerin aus der siebten Klasse, die gerade zuBesuch da war, ein Glas Sherry an. »Ich überlege, ob ichmit ihm zu einem Exorzisten gehe, oder ob ich ihm einePuppe kaufe, damit er ein bisschen Geld als Bauchrednernach Hause bringt.«

Er war aus dem Nichts aufgetaucht, mein verzweifelterDrang, ganz hinten in meiner Kehle hohe Geräusche zuproduzieren. Das waren keine Wörter, sondern Laute, dieein Bedürfnis befriedigten, welches mir noch nie zuvoraufgefallen war. Die Laute wurden nicht mit meinerStimme geäußert, sondern mit der Stimme einer finger-hutgroßen, launischen Diva, die sich unten an mein Gau-menzäpfchen klammerte. »Iiiiiiii – ammmmmmmmmm –aaaah – aaah – miiiiiiii.« Ich war der Wirt dieses Geheuls,aber unfähig, es zu kontrollieren. Wenn ich während desUnterrichts losschrie, drehten sich die Lehrkräfte vor ihrerWandtafel um und zeigten einen zunehmend bestürzten

27

Page 28: Das Buch - Penguin Random House

Gesichtsausdruck. »Reibt da jemand an einem Ballon?Wer macht diesen Lärm?«

Ich versuchte mir Ausreden einfallen zu lassen, aberalles klang unglaubwürdig: »In meiner Kehle wohnt eineBiene.« Oder: »Wenn ich nicht alle drei Minuten meineStimmbänder trainiere, kann ich wahrscheinlich nie wie-der schlucken.« Das Lärmmachen ersetzte keine meinerbisherigen Angewohnheiten, es war lediglich eine wei-tere Vervollständigung dessen, was zu einer unberechen-baren, ausgeflippten Mackensammlung geworden war.Schlimmer als das ständige Aufjaulen und Zusammen-zucken war die Angst, der morgige Tag könne nochSchlimmeres bringen, ich würde mit dem Drang aufwa-chen, anderen Leuten am Kopf zu ruckeln. Ich konnteganze Tage zubringen, ohne die Augen zu rollen, aber eskam alles zurück, sobald mein Vater sagte: »Siehst du,ich wusste, dass du es dir abgewöhnen kannst, wenn dues dir nur richtig vornimmst. Wenn du jetzt nur nochden Kopf stillhältst und nicht mehr diese Geräuschemachst, hast du’s geschafft.«

Was habe ich geschafft? fragte ich mich. Oft stellte ichmir, während ich wackelte, meine Karriere als Filmstarvor. Da war ich bei der Premiere unter einem flutlichter-hellten Himmel, einen Satinschal locker um den Halsgeworfen. Mir war klar, dass die meisten Schauspielereine Liebesszene wahrscheinlich nicht unterbrechenwürden, um die Nase gegen das Kamera-Objektiv zudrücken oder während eines dramatischen Monologs einschnelles »Iiiiiii – asaaaaah« zu plärren, aber in meinemFall machte die Welt bestimmt eine Ausnahme. »Ein be-wegender und anrührender Streifen«, würden die Zei-tungen urteilen. »Eine elektrisierende schauspielerischeLeistung, bei der einem die Augen aus den Höhlen quel-len, bei der das Publikum kreischt, und bei der die Kritiknur noch »Oscar, Oscar, Oscar!« nicken kann.«

Ich würde gern annehmen, dass meine nervösen An-

28

Page 29: Das Buch - Penguin Random House

gewohnheiten auf der High School abflauten, aber dieKlassenfotos sprechen eine andere Sprache. »Wennman die fehlenden Pupillen hineinzeichnet, ist das Fotogar nicht mal so übel«, sagte meine Mutter. In Grup-penaufnahmen war ich leicht als das Verschwommenein der letzten Reihe zu identifizieren. Eine Zeit langglaubte ich, ich würde, wenn ich meine Angewohnhei-ten durch verschrobene Garderobe ergänzte, eher alsexzentrisch denn als schlicht zurückgeblieben betrach-tet. Ich hatte unrecht. Nur ein erklärter Idiot wäre überdie Korridore meiner High School in einem bodenlan-gen Kaftan gewandelt, und was die zahllosen Medail-lons betraf, die mir am Halse hingen, so hätte ich ge-nausogut eine Kuhglocke tragen können. Sie klirrtenund klimperten bei jedem Kopfrucken und erregtenAufmerksamkeit, wenn ich ohne sie unbemerkt hättepassieren können. Meine übergroße Brille erlaubte le-diglich einen noch klareren Blick auf meine rollenden,zuckenden Augen, und die klobigen Plateausohlenhinterließen dicke Beulen, wenn ich sie dazu nutzte,mir diskret gegen die Stirn zu pochen. Ich war keinschöner Anblick.

Ich kann mich irren, aber meinen Berechnungenzufolge bekam ich während meines gesamten erstenJahrs auf dem College genau vierzehn Minuten Schlaf.Ich hatte immer mein eigenes Schlafzimmer gehabt,einen peinlich saubergehaltenen und aufgeräumtenOrt, an welchem ich meinen Gewohnheiten privat frö-nen konnte. Nun sollte ich einen Zimmergenossen be-kommen, einen wildfremden Menschen, der mir quagottgegebenes Existenzrecht meine liebgewordenen Le-bensgewohnheiten vergällen würde. Der Gedanke warbeschämend und ich fuhr volle Pulle in der Universitätein.

»Die Ärzte sagen, wenn ich ihn kräftig genug durch-schüttle, besteht die berechtigte Hoffnung, dass der Ge-

29

Page 30: Das Buch - Penguin Random House

hirntumor auf eine Größe schrumpft, welche eine Opera-tion unnötig macht«, sagte ich, als mein Zimmergenossezum erstenmal bemerkte, wie ich mit dem Kopf ruckelte.»Bis dahin wollen die anderen Fachärzte, dass ich dieseAugenübungen mache, um das Kornealgewebe, wie siees nennen, zu kräftigen. Ständig renne ich zum Arzt,aber was will man machen, stimmt’s? Pack deine Sachenaus, gewöhn dich schon mal ein bisschen ein. Ich werdnur rasch diese Steckdose mit einem Buttermesser über-prüfen und ein paar Gegenstände auf meiner Kommodeumstellen. Geht wiiiiie geschmiert; aaaaaaaalles eineFrage der Übung.«

Es war schon schwer genug, sich Ausreden einfallenzu lassen, aber die echte Qual kam, als ich gezwungenwurde, mit Wackeln aufzuhören.

»Haltet ein, o Romeo«, stöhnte mein Zimmergenossein der ersten Nacht, als er meine Bettfedern quietschenhörte. Er wähnte mich masturbierend, und obwohl ichihn gern korrigiert hätte, sagte mir etwas, ich würdekeinerlei Punkte machen, wenn er erfuhr, dass ichschlicht im Bett wackelte, genau wie jeder andere acht-zehn Jahre alte College-Student. Es war eine Folter, da-zuliegen und nichts zu tun. Selbst mit Kofferradio undKopfhörern hatte es keinen Sinn, Musik zu hören, wennman nicht mit dem Kopf auf dem Kopfkissen aufund ab wackeln konnte. Im wesentlichen ist Wackelnwaagerechtes Tanzen, und es erlaubte mir, privat etwaszu treiben, was ich in der Öffentlichkeit verabscheute.Mit dem ruckelnden Kopf, den rollenden Augen undden raschen, dolchstoßartigen Gesten hätte ich eineSensation sein können, wäre ich aus dem Bett gestiegenund hätte meine Macken auf einem Tanzboden einge-setzt. Ich hätte meinem Zimmergenossen sagen sollen,ich sei Epileptiker, und es dabei belassen sollen. Dannwäre er zwar ununterbrochen durch den Raum gehetzt,um mir den Spatel von einem Eis am Stiel zwischen die

30

Page 31: Das Buch - Penguin Random House

Zähne zu rammen, aber na und? Ich war es gewohnt,mir Splitter aus der Zunge zu klauben. Was, so fragteich mich, erwartete man denn von einem Durchschnitts-menschen, während er in einem verdunkelten Zimmer aus-gestreckt lag? Es schien witzlos, unbeweglich herum-zuliegen und sich ein rosigeres Leben auszumalen. Ichblinzelte in der engen Zelle aus Schlackegemäuerumher, und mir wurde klar, dass mich ein ganzesLeben voller Wunschdenken nicht weiter als bis hierhergebracht hatte. Nie würde es jubelnde Menschenmen-gen oder angesehene Regisseure geben, die in ihr Me-gaphon brüllten. Vielleicht musste ich mich im Liegenmit dieser schroffen Wirklichkeit abfinden, aber wäh-rend ich das unternahm, konnte ich nicht ein ganz klei-nes bisschen auf und ab wackeln?

Ich hatte den Vorlesungsplan meines Zimmergenos-sen auswendig gelernt und huschte in den Pausen aufsZimmer zurück, wo ich rasend schnell und anfallartigwackelte, ohne es jedoch recht zu genießen, aus Angst,er könnte jeden Augenblick zurückkehren. Vielleichtfühlte er sich nicht, oder er beschloss in letzter Minute,eine Vorlesung zu schwänzen. Dann hörte ich seinenSchlüssel im Schloss, sprang vom Bett auf, fuhr mirdurch die Haare und griff nach einem der Lehrbücherauf dem Requisitentisch. »Ich lerne nur gerade für dieTöpferei-Prüfung«, sagte ich. »Mehr hab ich gar nichtvor, nur hier schön auf dem Stuhl sitzen und alles überdie Geschichte der Töpfe nachlesen.« So sehr ich michauch anstrengte, es hörte sich immer an, als hätte ich miretwas Geheimnisumwittertes oder Perverses zuschuldenkommen lassen. Er wirkte nie im mindesten verlegen,wenn er beim Hören einer seiner vielen Heavy-Metal-Scheiben erwischt wurde, eine Übung, die ich viel be-schämender finde als alles, was ich bisher kenne bzw.noch kennenlernen werde, mir jedenfalls bisher nochnicht mal vorstellen konnte. Es gab keinen anderen Aus-

31