Das Experiment

45
1

description

Ein Experiment mit ungewissem Ausgang.

Transcript of Das Experiment

1

Covergestaltung Ulrike Kirsch

2

Rolf Kirsch

Das Experiment

3

4

Eintrag 1

Man braucht nicht viel. Ein temperiertes Zimmer, Fenster mit Tageslicht, einen Tisch, einen Stuhl, Stifte, Papier, eine Lampe, eine Liege, Decken, ein paar Einrichtungen für die Körperhygiene, drei Mahlzeiten am Tag. Jede Einengung ist Er-weiterung. Man braucht einige Tage, bis das Le-ben sich darauf eingestellt hat, sich befreit hat von der Gier nach Lärm, Kontakt und Infor-mation. Man braucht einige Tage, bis die Ein-schränkung als Gelegenheit gesehen wird, seine Gedanken auf die Reise zu schicken.

5

Dr. Werner meinte gestern, ein Antrag auf Haft-verschonung sei aussichtslos. Schließlich sei ein Mensch ums Leben gekommen. Wie auch immer. Über Mord oder Totschlag werde man später be-finden müssen. Vor Gericht. Er jedenfalls, er je-denfalls wolle alle Möglichkeiten ausschöpfen. Dabei müsse ich schon mithelfen. Bislang sei ich in dieser Angelegenheit wenig hilfreich gewesen. Meine Ausführungen seien, ich solle es ihm nicht übelnehmen, verwirrend, bisweilen konfus, bei allem Respekt. Ich solle mal in Ruhe in den nächsten Tagen aufschreiben, was mir durch den Kopf ginge. Möglicherweise könne er später sei-ne Verteidigung darauf aufbauen. Möglicherwei-se.

Gut, habe ich ihm gesagt, ich mache das so. Aber ich brauche Zeit, habe ich ihm gesagt. Zeit, Zeit, sagte er, Zeit hätte ich genug. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft einen An-trag stelle, mich aus der U-Haft zu entlassen. Und das Verfahren, sagte er, das Verfahren ... ach Gott. Bei dem, was ich bislang zur Sache ausge-sagt hätte, würde man an die Terminierung des Verfahrens noch nicht denken können. Dafür

6

müsse ich Verständnis haben.

Dafür habe ich Verständnis, mehr als Dr. Werner möchte. Verständnis und Zeit.

Ich folge seiner Empfehlung. Nicht seiner Eitel-keit wegen, die sich prima entfalten würde, wenn er Erfolg haben sollte. Nicht seinetwegen, mei-netwegen. Ich will mir selbst darüber klar wer-den, was geschehen ist. Also schreibe ich es auf. Nicht für Dr. Werner, sondern für mich. Er kann später darauf aufbauen, was er möchte.

Eintrag 2

Ich werde in Erinnerungen kramen müssen. Das ist mühsam, das Ergebnis unzureichend. Kaum ist etwas geschehen und wahrgenommen, lagert es sich in ein Archiv. Aber dort bleibt es nicht, wie es geschehen ist. Das Geschehene verändert sich. Lücken entstehen. Versatzstücke bleiben, die neu montiert werden und zu einer veränderten Ge-schichte werden. Manchmal werden Erinnerungs-stücke hineingeflochten, die aus einer ganz ande-

7

ren Geschichte stammen.

Wie soll es gelingen, sich so zu erinnern, wie es geschehen ist? Die Wahrheit ist nur einmalig, in dem Moment, in dem sie geschieht. Danach ist sie eine Geschichte. Und wenn diese Geschichte aufgeschrieben werden soll, so wie es Dr. Werner wünscht, wird sie in Sprachmuster gezwängt. Da-durch wird sie erzählbar, aber auch immer weni-ger wahr.

Fest steht, dass es einen Autounfall gab. Dafür gibt es Zeugen, dafür gibt es Zeitungsmeldungen. Diese habe ich erst Monate später gelesen, eben-falls in einem Archiv, im Archiv der Lokalpresse, an einem Bildschirm.

In der Mittagszeit geriet ein Kleinlastwagen auf der A 31 zwischen den Anschlussstellen Rhede und Papenburg aus Richtung Süden kommend über die Leitplanken des Mittelstreifens. Das Fahrzeug überschlug sich auf der Gegenfahr-bahn, wo es auf der Seite liegen blieb. Zehn Fahrzeuge aus Richtung Norden fuhren in den Transporter hinein, da die Fahrzeugführer offen-

8

sichtlich nicht rechtzeitig bremsen konnten. Ein PKW brannte aus, die Insassen in diesem Fahr-zeug kamen auf schreckliche Weise ums Lebens. Die Insassen weiterer Fahrzeuge wurden teil-weise schwer verletzt und mussten mit einem Hubschrauber und einigen Ambulanzwagen in Krankenhäuser der Region und in die Nieder-lande transportiert werden. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste waren schnell zur Stelle. Die Autobahn war noch etwa vier Stunden für den Verkehr aus beiden Richtungen gesperrt. Der Gesamtschaden wird auf etwa 900.000 Euro ge-schätzt.

Ich war damals der Fahrer des vierten PKW, wel-chen ich in den aufkreischenden und wummern-den Blechhaufen hineinsteuerte. An dieser Stelle oder etwas früher wird meine Erinnerung ein-setzen müssen. Die Erinnerung an eine Geschich-te, die es niemals geben würde, wenn ich damals gestorben wäre. Der Übergang vom Leben zum Tod war jedenfalls sehr nahe.

Dr. Werner mag diese Geschichte nicht. Dreimal habe ich versucht, ihm zu erzählen, wie alles be-

9

gann. Beim dritten Mal fuhr er mir in die Parade: "Herr Dr. Ahrmann, diesen Unfall, den sie mir erzählen, hat es tatsächlich gegeben. Kein Zwei-fel. Sie aber, Herr Dr. Ahrmann, waren zu der Zeit des Unfalls als Oberarzt an ihrem Arbeits-platz in einem der Krankenhäuser, die einige der Unfallopfer aufnahmen. Auch kein Zweifel."

Eintrag 3

Selbstverständlich hat Herr Dr. Werner Recht. Aus seiner Sicht. Wenn man mit den Fragen eines Pflichtverteidigers mitten in eine Geschichte hineinsticht, kommen nur die Antworten zutage, die aus der Geschichte herausquellen. Natürli-cherweise kann man nicht als Oberarzt in einem Krankenhaus bei der Arbeit und gleichzeitig als Pharmazieagent oder Arzneimittelvertreter in ei-nen schweren Unfall auf der Autobahn verwickelt sein. Kann man nicht. Aus der Sicht eines Rechts-anwaltes.

Wenn man eine Geschichte richtig verstehen will, muss man von Anfang an zuhören. Eine Fähig-

10

keit, die Dr. Werner nicht zur Verfügung hat. Aber es gibt Antworten, zu denen es noch keine Fragen gibt. Um solche Antworten geht es.

Als ich an jenem Morgen Ende September in ei-nem der billigen Hotels für reisende Vertreter aufwachte, wusste ich gleich, dass dieser Tag nicht mein Tag werden würde. Die Sonne lunger-te bleiig am Horizont herum und färbte die strup-pige ostfriesische Landschaft gelblich ein. Es war viel zu warm für die Jahreszeit, wie es Wetter-meldungen formulieren würden. Ich hatte an die-sem Tag den Besuch mehrerer weit voneinander entfernter friesischer Landarztpraxen vor mir, um wieder einmal auf die Vorzüge von Pillen, Säften und Tropfen aufmerksam zu machen, die in mei-nem Kofferraum herum gefahren werden.

Das meiste Zeug in den Kistchen, Päckchen, Fläschchen, Ampullen und Dosen, welches in mehreren unhandlichen Packtaschen verstaut war, sollte nach Rezeptur der Landdoktoren für ältere Menschen sein, die in den Wartezimmern hockten und sich auf friesische Art Unverständliches zu-raunten. Wenn auf den Rezepten massenweise je-

11

ne Artikel aus meinen Packtaschen aufgeführt wurden, war meine Aufgabe erfüllt. Den Rest be-sorgten tüchtige Apotheken an den Straßenecken ostfriesischer Dörfer. Die Alten waren versorgt mit allerlei Kram, schwangen sich aufs Fahrrad und fuhren in ihre Häuser, um sich mit Lesebrille oder Lupe über die Beipackzettel herzumachen.

Ich hasse meinen Beruf. Besser, ich hasste mei-nen Beruf. An diesem Morgen wurde es mir wie-der ganz deutlich. Mein Magen fühlte sich schlecht an. Das bevorstehende Frühstück aus flitschigen Brötchen und warmflüssigem Ei mit Kaffee im Kännchen würde meine Verdauung zu-sätzlich in Unordnung bringen. Mein Beschluss, mir am Vormittag nur drei Landpraxen zuzumu-ten und dann gegen Mittag den Heimweg anzutre-ten, gab mir für kurze Zeit das Gefühl der Frei-heit, in bestimmten Augenblicken doch noch über mich selbst bestimmen zu können.

Damit war der Tag geplant. Drei Landärzte, dann die Heimfahrt nach Süden, nachmittags endlich mal wieder frei. - Diese Arrestzelle beweist, dass es anders kam.

12

Eintrag 4

Alles verlief fast wie geplant. Die Wartezeiten bei den friesischen Ärzten dauerten länger als an an-deren Tagen. Möglicherweise erschien es mir auch nur so, weil mein Magen sich schwerer an-fühlte als sonst. Aber der Patient ist König, auch bei Arzthelferinnen. Und Arzneimittelvertreter sind wie lästige Fliegen. Sie kommen immer wie-der, auch wenn man sie verscheucht. Und so wer-den sie behandelt.

Gegen Mittag steuerte ich meinen ungewasche-nen Wagen durch die feuchtwarme Septemberluft auf der Autobahn Richtung Süden. Die herunter geklappte Sonnenblende verringerte das Sichtfen-ster der Windschutzscheibe, auf der die Insekten-leichen des Sommers durch die Wischbewe-gungen des Scheibenwischers von Tagen zuvor gut verschmiert waren. Die Windenergieanlagen längs der Straße bewegten sich nur müde im flau-en Wind und trugen dazu bei, meine einsetzende Mittagsschläfrigkeit zu verstärken. Anderen Men-schen in ihren Karossen ging es offensichtlich ähnlich, denn niemand fuhr wesentlich schneller

13

oder langsamer als ich.

Als etwa dreihundert Meter vor mir ein weißer Kasten aus der Gegenfahrbahn hochstieg und scheinbar für Sekunden auf dem Mittelstreifen der Autobahn in der Luft stehen blieb, musste ich mich aus der Lethargie befreien. Diese Anstren-gung dauerte nur etwa eine Sekunde. Dann über-nahm mein Organismus. Das Herz pochte wie wild. Ich riss die Augen auf, um noch besser zu erkennen, dass sich ein schlimmer Verkehrsunfall entwickeln würde. Der rechte Fuß suchte die Bremse, traf die Pedalfläche nur halb und trat zu, was die Muskeln hergaben. Gleichzeitig hoffte ich, dass der Fahrer des nachfolgenden Wagens ähnlich abbremsen würde und das Arzneiarsenal in meinem Kofferraum unbeschädigt ließe. Der sonst in einigen Tagen einsetzende Formularkram wäre unvermeidlich. Dass man in solchen Augen-blicken auch derartige Nebensächlichkeiten be-denkt, wurde mir erst Tage später klar.

Der weiße Kasten legte sich mit unerwarteter Langsamkeit auf die Fahrbahn. Die Unterseite mit ihren dunkelgrauen Verstrebungen und vier Räder

14

wurden erkennbar. Kurze Zeit später gab es einen wummernden Knall, dann noch einen. Wenige Sekunden danach noch einmal. Auf der Bremse stehend rechnete ich meinen Aufschlag aus, der kurz bevorstand. Die Bremswirkung würde nicht ausreichen, um den Zusammenstoß zu vermeiden, das war sicher. Aber vielleicht ließe sich die Hef-tigkeit des Stoßes verringern. Als der umkleidete Motorblock meines Autos das Fahrzeug vor mir erreichte und dessen Heck zusammenschob, dau-erte es nur einen Moment, als auch das Heck mei-nes Autos krachend und knirschend zusammenge-schoben wurde.

Seltsamerweise verspürte ich nicht die geringsten Schmerzen. Offensichtlich war mir nichts ge-schehen. Aber ein neues Auto würde beschafft werden müssen. Und gut ist, dass ich es nicht vorher noch habe waschen lassen. Das wäre also eingespart, überschlug ich den Gewinn. Etwas Gutes gibt es immer, dachte ich, bevor Dunkel-heit und Geräuschlosigkeit einsetzte.

15

Eintrag 5

Die ebene parkähnliche Landschaft des nördli-chen Emslandes lag geräuschlos in der Sonne. Am entfernten Waldrand hoben zwei Rehe gleichzeitig ihre Köpfe und und senkten sie nach einer Weile ebenso gleichzeitig wieder ins Gras. Ohne jeden Laut drehten sich Windräder in der Umgebung, als sei nichts geschehen.

Aus einer Höhe von etwa 12 bis 15 m konnte ich alles beobachten. Die Autobahn unter mir war übersät mit ineinander verschobenen Autowracks und verstreuten Trümmerteilen. Aus einem völlig ausgebrannten Auto in der Nähe eines auf der Seite liegenden Kastenwagens züngelten noch ein paar Flammen. Nach Norden hin hatten sich zahl-reiche Autos aufgestaut. Bunt gekleidete Perso-nen liefen zwischen den Fahrzeugen hin und her. Auch auf der anderen Fahrbahn standen einige beschädigte Fahrzeuge auf dem Seitenstreifen, andere Autos fuhren langsam vorbei und setzten ihre Fahrt schließlich beschleunigt fort.

Als sich von Norden her einige Rettungsfahrzeu-

16

ge mit eingeschaltetem Blaulicht durch eine Mit-telgasse, die die Staufahrzeuge gelassen hatten, und ein Helikopter von Westen her der Unfall-stelle näherten, vermisste ich die dazu gehören-den Geräusche. Erst jetzt verschuf ich mir all-mählich Gewissheit über meinen Zustand. Ich sollte eigentlich verletzt in einem der zusammen-geschobenen Autowracks liegen. Tatsächlich aber schwebte ich über diesem Chaos und nahm alles unter mir ohne jedes Geräusch war. Alle Bewe-gungen erschienen verlangsamt. Ich versuchte meine Arme und Beine zu sehen. Nichts.

Körperlos und offenbar empfindungslos schwebte ich über der Landschaft. Ich benötigte keine Ru-der- oder Flügelbewegung, um in der Luft zu bleiben. Um mir eine Rundumsicht zu verschaf-fen, genügte der einfache Wille oder ein bloßer Gedanke. Ein seltsamer Zustand. Ich erkannte das eigene Auto, konnte jedoch nicht sehen, ob mein Körper noch im Wrack lag. Sind die Aussagen der Philosophen der letzten zwei- bis dreitausend Jahre richtig, dass Körper und Geist voneinander getrennte Wesenheiten sind und nur für die Dauer des Lebens auf der Erde miteinander verbunden

17

werden? Ist nun die Zeit der Trennung angesagt? Was wird aus mir in naher und ferner Zukunft?

Offensichtlich war ich gestorben. Als Geistwesen durfte ich nun körperlos weiterleben. Kein Arzei-mittelverkauf mehr, keine billigen Hotels, keine Formulare, keine Schreibereien, keine Erkrankun-gen, keine Missverständnisse, keine Streitereien, keine Anstrengungen um kleine Pillenverträge, die mir Monatsmiete und Nahrung sicherten. Nur noch Neugier auf die Zukunft, Erwartung und Zu-versicht. Schön, dass es auf die eine oder andere Art weitergeht. Wer hätte das gedacht? Ich am allerwenigsten. Offensichtlich wird man auch gnädig bedacht, wenn das Leben nicht immer auf ebenen Pisten ruckelfrei verlaufen ist.

Zwei Rettungshelfer mit orange eingefärbten We-sten zerrten an der Fahrertür meines Autos. Mit Mühe gelang es ihnen, sie zu öffnen. Vorsichtig zogen sie meinen Körper aus dem Wrack und leg-ten ihn auf die Fahrbahn. Das war ich. Oder war ich das hier oben, der sich dort liegen sah? Ich hoffte, dass diese Helfer nicht mit ihren unsägli-chen Wiederbelebungsversuchen anfingen und

18

mir meinen Logenplatz hier oben streitig mach-ten.

Eintrag 6

Am liebsten hätte ich den Sanitätern, die meinen Körper auf der Fahrbahn untersuchten, zugerufen, dass ich hier oben schwebe. Dass es keinen Zweck habe, nach Leben in diesem toten Körper zu suchen. Dass ich gestorben sei und mit diesem schmerzfreien, empfindungslosen, schwerefreien Schweben sehr zufrieden sei und nichts mehr ändern möchte. Aber ich konnte nichts rufen und die Helfer hätten mich auch nicht hören können. Ich war sicher, dass sie mich auch nicht sahen. Das trennte uns eben. Sie lebten mit ihren Sorgen, Nöten und Eifer und ich war im Begriff, an Über-blick und Weisheit zu gewinnen. Eine endlose Zukunft schien vor mir zu liegen.

Warum sie von meinem Körper nicht abließen, erschien mir seltsam. Sie fühlten den Puls, prüf-ten die Halsschlagader, hielten den Flaum einer Vogelfeder vor meine Nase. Macht Schluss,

19

dachte ich. Gestorben ist gestorben. Niemand ist jemals zurückgekehrt. Warum auch? Es geht ja immer weiter. Der Tod ist nur das Ende eines Ab-schnittes. Man darf sich freuen nach so vielen Jahren der Ungewissheit.

Plötzlich ruderte einer der Sanitäter mit den Ar-men und rief augenscheinlich etwas. Zwei weitere Rettungshelfer liefen mit einer Trage herbei, die neben meinem Körper auf den Asphalt gestellt wurde. Alle vier Sanis legten mich vorsichtig auf die Trage, die dann mit schnellem Schritt zu ei-nem etwa 40 m entfernt parkenden Rettungsfahr-zeug getragen und mit mir hinein geschoben wur-de. Durch die geöffnete Tür erkannte ich einen Verletzten, der im Fahrzeug auf den Abtransport wartete.

Ich wunderte mich, wie schnell und unkompli-ziert ich in das Sanitätsauto hineinschwebte. Heu-te versuche ich mich zu erinnern, ob es eine be-wusste Entscheidung war, lieber doch noch in der Nähe meines leblosen Körpers zu bleiben oder ob es einfach geschah. Ich kann es nicht mehr sagen.

20

Eintrag 7

Das erste, was ich sah, als ich erwachte, war Dr. Ahrmann, jener Oberarzt Mitte bis Ende 30, der nun in der U-Haft sitzt und diese Papiere be-schriftet. Dr. Ahrmann, der einen Text verfasst, als hätte ich ihn geschrieben. Dr. Ahrmann, der beschuldigt wird, einen Mord begangen zu haben. Dr. Ahrmann, der eine Geschichte erzählt, die ihm als phantastische Erzählung ausgelegt wird. Dr. Ahrmann, von dem nichts anderes erwartet wird, als dass er einfach eingesteht, einen Mord begangen zu haben. Jener Arzt, der unter der Last der gegen ihn ins Feld geführten Indizien keine Chance haben wird. Es sei denn, die von ihm aufgeschriebenen Ereignisse stoßen nicht nur auf Unglauben, sondern vielleicht auf den einen oder anderen Zweifel. Auf jene Zweifel, die ihn retten könnten. Auf Zweifel an der Schuld des Ange-klagten.

Offensichtlich ist es so, dass, wenn man aus einem mehrere Tage währenden künstlichen Ko-ma erwacht, die erste Person, die sich in der Nähe aufhält, eine Prägung auslöst, als sei man eine

21

Graugans in den Lorenz'schen Feldversuchen. Dr. Ahrmann saß neben meinem Bett und rief leise meinen Namen. Ich brauchte sehr, sehr lange, um mich zu vergewissern, dass ich in einem Klinik-bett lag und dass mein Körper mit einer Reihe von Kabeln und Schläuchen mit mehreren Gerä-ten verbunden war.

Erst nach vielen beruhigenden und beschwichti-genden Worten des Dr. Ahrmann, dessen Namen ich erst Stunden später von ihm genannt bekam, setzte eine Erinnerung ein, allerdings erst, nach-dem der Arzt fast beiläufig das Wort "Unfall" aussprach. Erinnerungsstücke fügten sich allmäh-lich zu einer Geschichte zusammen, die einen grauenvollen Verkehrsunfall erzählte.

In mir wuchs sehr schnell Vertrauen zu Dr. Ahr-mann, der täglich zur Visite kam. An einem der folgenden Tage fasste er den Mut, mir zu sagen, dass meine Heilung zwar Fortschritte mache, dass ich aber mein Leben nach dem Klinikaufenthalt umstellen müsse. Diese Umstellung bezöge sich ganz allein auf die zukünftige Art und Weise der Fortbewegung, die ich für den Rest meines Le-

22

bens einem Rollstuhl anvertrauen müsse.

Ich wunderte mich über meinen Gleichmut, mit der ich diese Nachricht entgegennahm. Immerhin war ich der festen Überzeugung, schon eine ge-wisse Zeit tot gewesen zu sein. Wer aber schon einmal tot war, ordnet alle Probleme des Lebens neu ein. Gleichmut und freundliche Gelassenheit werden zu dominanten Eigenschaften. Eigen-schaften, die mir aus dem Leben vor dem Ver-kehrsunfall nur bei anderen Menschen bekannt waren.

Ich beschloss, die Zeit meiner Heilung zu nutzen, mit Dr. Ahrmann auch über den Tod und über das Leben nach dem Tode zu sprechen. In gewisser Weise war ich schließlich ein Experte auf diesem Gebiet, das ich schon betreten, zumindest aber einmal besichtigt hatte. Der sympathische Medi-ziner würde mir, so hoffte ich, ein paar Antwor-ten auf Fragen geben können, die bislang unbe-antwortet blieben.

23

Eintrag 8

Zunehmend bestimmten düstere Stimmungen und melancholische Gedanken meine langweiligen Tage. Möglicherweise lag es daran, dass die Hei-lung langsamer verlief als erwartet, der Termin meiner Entlassung noch unbestimmt und in wei-ter Ferne lag oder meine Zukunft in einem Roll-stuhl doch belastender erschien als vermutet. Der erlebte Schwebezustand über der Unglücksstelle war zudem immer wieder Teil meiner Erinnerun-gen. Dass ich von gutmeinenden Helfern ins Le-ben zurückbeordert wurde, obwohl ich doch schon das Leben nach dem Tode genießen durfte, verwirrte mich immer noch und verhalf nicht zu besserer Laune.

Dr. Ahrmann blieb nicht verborgen, dass sich Melancholie und depressive Verstimmung bei seinem Patienten breit machten. Als Ursache ver-mutete er mein zukünftiges Leben im Rollstuhl. Daher versuchte er, mir eine Vorstellung von der neuen Wirklichkeit zu vermitteln, ohne den Feh-ler der Schönfärberei zu begehen. Dass sein Vor-trag einen bestimmten Gedanken beförderte, der

24

zu einem späteren Zeitpunkt noch bedeutsam für Dr. Ahrmanns heutige Anwesenheit in einer Ge-fängniszelle sein würde, ahnte ich in diesem Au-genblick nicht. Und Dr. Ahrmann erst recht nicht.

Daher versuche ich, den Monolog meines Leib-arztes, wie ich ihn mittlerweile insgeheim nannte, so gut, wie es die Erinnerung gestattet, wiederzu-geben:

"Lieber Mann, denken Sie daran, wie Sie das Autofahren erlernt haben. Das Gefährt war Ihnen vollkommen fremd. Sie hatten an hundert Dinge zu denken, an die Drehung des Steuerrades bei einer Kurve, an die Pedale unter Ihnen, die recht-zeitig betätigt werden wollten, an die Gänge, die zusammen mit einer Kupplung zu schalten waren undsoweiter, undsoweiter. - Und nun denken Sie an Ihre Autofahrkünste vor einiger Zeit. Das Auto bewegte sich scheinbar mühelos. Ohne Nachzu-denken konnten Sie alle Pedale, Schalter und Gänge betätigen. Sie waren in der Lage, beim Autofahren Radio zu hören, sich mit jemandem durchaus konzentriert zu unterhalten, auf die Un-achtsamkeiten anderer Autofahrer zu achten,

25

Schilder zur Kenntnis zu nehmen und mehr. Sie wissen, was ich Ihnen sagen will?

Ihr Gehirn hatte die Fähigkeit entwickelt, ein Ge-samtmodell von Ihnen und Ihrem Auto zu produ-zieren. Ähnlich, wie Sie beim Laufen nicht darü-ber nachdenken, wie Sie das rechte Bein vorset-zen, dabei die Balance prüfen, bevor Sie sich für das linke Bein entscheiden, so ähnlich funktio-nierte nun auch das Autofahren. Und das bei Ge-schwindigkeiten, die niemals beim Laufen er-reicht werden können. Ihr Gehirn hat aus Ihnen und Ihrem Auto ein Gesamtsystem gemacht, das automatisch funktioniert. Dieses Gesamtsystem wird erst wieder auf Ihren Körper reduziert, wenn Sie Ihr Auto verlassen.

Haben Sie schon einmal einen Kunstflieger be-trachtet, der am Himmel mit seinem kleinen Flug-zeug die schwierigsten Kunstflugfiguren vor-führt? Dieses ist ihm nur möglich, wenn sein Ge-hirn ihm in dieser Phase simuliert, dass er mit sei-nem Flugzeug ein lebendiges Gesamtsystem bil-det, indem quasi automatische Steuerungen vom Gehirn übernommen werden, ohne dass sich der

26

Flieger bei jeder Kurve oder Wendung bewusst machen muss, was er tun muss, um bestimmte Bewegungen seines Gesamtsystems Pilot-Flug-zeug zu bewirken. Es funktioniert einfach von selbst. Das Gehirn hat übernommen und überlässt es dem Flieger, derweil über ganz andere Dinge nachdenken zu können. Und das auch noch mit demselben Gehirn, welches gleichzeitig seinen Herzschlag und seine Verdauung regelt, ohne dass es ihm bewusst gemacht wird. Eine Meister-leistung."

Dr. Ahrmann redete sich in eine Begeisterung hinein. Ich wusste längst, dass er nun bald auf den Rollstuhl zu sprechen kommen würde. Sein Vor-trag hatte kein anderes Ziel, als mir das Leben im Rollstuhl realistisch zu beschreiben. Aber dieser Arzt hatte dabei einen Satz ausgesprochen, der mich in ganz anderer Hinsicht nicht mehr los ließ.

Eintrag 9

Als Dr. Ahrmann, nicht ohne auch noch das Fahr-radfahren zu erwähnen, allmählich darauf zu

27

sprechen kam, dass ich in Zukunft mit meinem Rollstuhl ein Gesamtsystem, welches von mei-nem Gehirn automatisch gesteuert wird, bilden würde, konnte ich mich nur mit Mühe in Geduld fassen.

Ich nutzte daher die nächste Gelegenheit, die sein Vortrag zuließ, um ihn zu unterbrechen. Ich erin-nere mich, dass nun ungefähr folgender Dialog zustande kam, ein Dialog, der schließlich in ei-nem Streitgespräch endete:

"Herr Dr. Ahrmann, Sie erwähnten, dass ich wäh-rend des Autofahrens mit meinem Auto ein Ge-samtsystem bilde ..."

"Ich sagte, dass Ihr Gehirn während des Auto-fahrens ein Gesamtsystem generiert. Auf dieser Grundlage laufen einige Funktionen nahezu auto-matisch ..."

"Ich habe verstanden. Sie erwähnten auch, dass, wenn ich das Auto verlasse, sich das nun von meinem Gehirn zu steuernde Gesamtsystem wie-der auf meinen Körper reduziert."

28

"So ist es, jedenfalls ungefähr."

"Das System besteht in diesem Fall nur noch aus meinem Körper?"

"Ja, aber was wollen Sie damit sagen?"

"Was ist, wenn ich nun auch dieses System ver-lasse?"

Dr. Ahrmann stutzte. Er atmete tief. Man sah ihm an, dass ihm diese Art der Frage neu war. Nach einer Pause antwortete er:

"Sie können Ihren Körper nicht verlassen. Ihr Ge-hirn ist mit Ihrem Körper verbunden."

Ich lächelte ihn freundlich an. Nun ließ auch ich eine bedeutungsvolle Pause zu und sagte schließ-lich:

"Ich habe meinen Körper schon einmal verlas-sen."

Ich genoss seinen verdutzten Blick. Dann erzählte

29

ich ihm von dem Verkehrsunfall, der Ursache für meinen Aufenthalt in dieser Klinik war und be-sonders ausführlich meine Erlebnisse, die mir ei-nen Blick über die Grenze von Leben und Tod gestattet hatten.

Dr. Ahrmann hörte aufmerksam zu. In seinem Gesicht war nicht das geringste Anzeichen von Spott oder Überheblichkeit zu erkennen, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Als ich endete, sagte er mit leiser Stimme:

"Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sich alles so zugetragen hat, wie Sie es geschildert haben. Ich möchte versuchen, zu erläutern, was ich darüber denke. Sie sind nicht der Erste, der mir solche oder ähnliche Erlebnisse berichtet."

Eintrag 10

"Unmittelbar nach Ihrem Verkehrsunfall war Ihr Gesamtorganismus, also Körper und Gehirn, in einer besonders prekären Situation," erläuterte Dr. Ahrmann und fuhr fort: "Es ging um Leben

30

und Tod. Ihr Gehirn schaltete alle Schmerzreize aus und simulierte eine Vorstellung, wie Sie sie beschrieben haben. Sie schwebten nach Ihrer Empfindung über der Unfallstelle und konnten von oben scheinbar alles sehen."

"Meine Augen - meine wirklichen Augen - waren geschlossen. Ich habe mich gesehen. Ich habe meinen Körper gesehen und die gesamte Unfall-stelle."

"Eine Simulation Ihres Gehirns."

"Mein Ich, mein Bewusstsein befand sich über der Unfallstelle im Schwebezustand. Ich habe nicht geträumt. Es war alles sehr real."

"Ihr Ich, wie Sie es nennen, ist Bestandteil dieser Simulation. Übrigens nicht nur in Stresssitua-tionen, sondern generell."

"Mein Ich ist eine Simulation meines Gehirns? Ich bin eine Simulation?"

"Ihr Gehirn generiert ein Bewusstsein. Dieses

31

Bewusstsein ist notwendig, damit Sie sich in der Welt angemessen bewegen können. Damit sich Ihr Gehirn in jeder Situation möglichst richtig entscheidet, muss es sich von der Außenwelt abgrenzen. Zu diesem Zweck simuliert es ein Be-wusstsein, ein Ich, wie Sie nennen. Dieses Be-wusstsein wird von Ihrem Gehirn erzeugt und grenzt Sie mit Ihrer Ich-Empfindung von der übrigen Welt ab. Dieses Bewusstsein als eine Simulation zu bezeichnen ist nicht falsch."

"Ich war also niemals tot?"

"Nein. Sie wären sonst nicht hier."

"Was wäre, wenn ich gestorben wäre?"

"Wären Sie gestorben, wäre Ihr Gehirn ohne jede Funktion. Es könnte somit auch kein Bewusstsein generieren."

"Aber wo wäre ich in diesem Falle?" - Ich betonte das "ich" besonders scharf.

"Wo waren Sie vor Ihrer Erzeugung?"

32

Dr. Ahrmann genoss die Wirkung seines Argu-ments. In mir türmte sich ein riesiger Berg voller Widersprüche auf. Ich sollte eine Simulation sein, erzeugt durch ein durchblutetes Organ? Eine Simulation, die sich auf die Socken macht und den Körper verlässt, wenn es eng wird? Nichts weiter? Eine Simulation, die am fernen Waldrand Rehe erkennen konnte, obwohl der Körper mit geschlossenen Augen auf dem Straßenasphalt lag?

Dr. Ahrmann verließ das Krankenzimmer und wünschte noch einen schönen Tag.

Eintrag 11

Mit ein paar hingeworfenen - zugegeben, auf den ersten Blick plausiblen - Argumenten plädierte Dr. Ahrmann offensichtlich für die Sinnlosigkeit des Seins. Der Mensch, seine Selbstachtung, sei-ne Würde, sein Bewusstsein, seine Überzeugun-gen, seine Erfahrungen, seine Erkenntnisse, seine ethischen Vorstellungen, sein Ich und alles, wo-ran er glaubt - nichts weiter als die Simulation

33

eines qualligen Organs, das Sauerstoff verschlingt und zusammen mit seinen ausgeklügelten Simu-lationen zerfällt, wenn dieser Sauerstoff aus-bleibt?

Das darf nicht richtig sein. Das darf niemals rich-tig sein.

Wenn die Verlagerung des Ichs, des eigenen Be-wusstseins, in einer Todesgefahr - Dr. Ahrmann sprach von einer prekären Situation - aus dem Körper heraus nach außen nichts weiter ist als eine Simulation des Gehirns, eines Gehirns, das die Nähe des eigenen Ablebens verspürt, dann, ja dann ...

Ein Plan reifte heran, langsam nur, allmählich sich verdichtend, schließlich in seiner kalten Kon-kretheit einfach und klar, wenn man ihn emo-tionslos betrachtete. In Wirklichkeit jedoch war dieser Plan ungeheuerlich.

Am nächsten Tage, so beschloss ich, würde ich Dr. Ahrmann ein Angebot machen. Ich war si-cher, dass er dieses Angebot nach ein paar formal

34

vorgetragenen Widerstandsritualen schließlich annehmen würde. Dr. Ahrmann, der kühle Medi-ziner, der neugierige Wissenschaftler, er würde es tun.

Eintrag 12

Am nächsten Nachmittag machte Dr. Ahrmann wie immer seine Visite bei mir. Die üblichen Fra-gen, die üblichen Messungen, Eintragungen in ein Heft undsoweiter.

"Herr Dr. Ahrmann, haben Sie einen Moment Zeit, mich anzuhören?", trug ich meinen auswen-dig gelernten Einstieg in einen längeren Monolog vor. Dr. Ahrmann bejahte, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben mein Bett.

"Herr Dr. Ahrmann, ich möchte im Zusammen-hang mit der gestern geführten Diskussion um die Simulationsfähigkeit des Gehirns im Rahmen einer Nahtoderfahrung noch einmal darauf zu sprechen kommen, dass ...". Die in der schlaflo-sen Nacht vorformulierten Worthülsen klangen

35

fürchterlich.

"Sprechen Sie einfach drauf los," machte er mir Mut.

"Also gut," sagte ich, "... aber lassen Sie mich bit-te vollständig ausreden." Dr. Ahrmann machte eine aufmunternde Handbewegung.

"Ich glaube nicht, dass bei einem nahen Tod das Gehirn das Bewusstsein per Simulation nach außen befördert. Ich glaube, dass es die Seele ist, die den Körper verlässt, verlassen muss. Ich glau-be, dass es ein Leben nach dem Tode gibt. Aber Ihre Vorstellung von einer Simulation des Ge-hirns und meine Vorstellung von einer Seele widersprechen sich. Aber wir können durch ein Experiment herausfinden, was richtig ist."

Dr. Ahrmann runzelte die Stirn, schwieg aber.

"Wir haben alle technischen Möglichkeiten, diesen Nahtod bei mir erneut herbeizuführen, kontrolliert sozusagen. Ich bin noch an diesen Geräten angeschlossen. Sie brauchen mit Ihren

36

Fachkenntnissen nur ein paar Knöpfe zu bedienen, um meinen Tod herbeizuführen, das heißt, nicht ganz, nur so ein bisschen. Nur so weit, dass ich in eine prekäre Lage komme. Nur so weit, dass mein Gehirn entweder wieder eine Simulation außerhalb meines Körpers generiert - 'generiert' haben Sie gesagt - oder aber meine Seele sich auf den Weg ins Jenseits macht. Dann holen Sie mich mit diesen Apparaten wieder zurück."

Dr. Ahrmann stand abrupt auf, setzte sich aber wieder.

"Ich erzähle Ihnen dann, wie es war. Vor dem Ex-periment deponieren Sie im Laborraum, den ich niemals zuvor gesehen habe, einen Zettel mit irgendeinem Text. Ich mache mich als Simulation oder auch als Seele durch alle Wände hindurch ins Labor und lese den Text auf dem Zettel, falls es mir möglich ist. Wenn ich zum Ende dieses Experiments den Zetteltext richtig aufsagen kann, ist mein Ich keine Simulation. Denn mein Gehirn ist noch in diesem Zimmer, meine Augen auch. Nur die Einbildung meines Gehirns ist auf Rei-

37

sen. Diese kann etwas erfinden, zum Beispiel Rehe am Waldrand oder irgendeinen Zetteltext, keinesfalls aber den richtigen Text.Bin ich jedoch in der Lage, den Text zum Schluss korrekt wiederzugeben, dann, Herr Dr. Ahrmann, dann verabschieden Sie sich von der Simulations-theorie. Dann, lieber Herr Dr. Ahrmann, dann war etwas ganz anderes unterwegs zum Labor."

Dr. Ahrmann sprang auf, rückte seinen Stuhl energisch ans Fenster, rief: "Sie sind total ver-rückt!" und verließ schnaubend das Zimmer. Ich wusste, dass der Fisch an der Angel hing. In den nächsten Tagen hieß es: "Ziehen und Leine las-sen."

Eintrag 13

Das System "Ziehen und Leine lassen" verlief dann doch nicht so, wie ich erwartete. Dr. Ahr-mann machte in den folgenden Tagen seine Visi-ten, war kurz angebunden, verließ immer schnell das Zimmer. "Wir machen Fortschritte," war sei-ne regelmäßige Schlussbemerkung.

38

Am fünften Tag nach dem Angebot für das Nahtod-Experiment kam Dr. Ahrmann Stunden nach der Visite noch einmal in mein Zimmer und stellte sich neben das Bett. Er sah mich fest an: "Wann machen wir es?"

Meine Antwort war seit Tagen vorbereitet: "So-bald wie möglich." - Ich freute mich auf das Ex-periment. Der Schwebezustand am Unfallort war ständig in meiner Erinnerung und löste aus-schließlich ein gutes Gefühl der Leichtigkeit und der Zuversicht aus.

"Heute abend," sagte Dr. Ahrmann und verließ wieder den Raum. Ich hatte volles Vertrauen zu diesem Arzt und zu der bevorstehenden Seelen-wanderung, die schließlich im Gegensatz zu der Situation bei diesem schrecklichen Verkehrsun-fall unter kontrollierten Bedingungen verlief.

Gegen 21.00 Uhr betrat Dr. Ahrmann wieder das Zimmer.

"Sie wollen es wirklich?", fragte er.

39

"Nichts lieber als das," antwortete ich mit fester Stimme.

"Legen Sie sich ganz zurück und entspannen Sie sich." - Er machte sich an den Geräten zu schaf-fen.

Ich versank ins Dunkle wie bei einer Narkose. - Als ich erwachte, schwebte ich an der Zimmer-decke. Ich sah meinen Körper im Bett liegen und Dr. Ahrmann intensiv mit den Geräten beschäf-tigt. 'Alles läuft wie geschmiert,' dachte ich. 'Es ist wunderbar.'

Ich genoss noch kurz den Augenblick und erin-nerte mich dann an meine Aufgabe. Die Durch-dringung der geschlossenen Tür machte keine Probleme. Auf dem Flur huschte eine Nacht-schwester herum. Sie bemerkte mich nicht. Selbstverständlich nicht. Ich folgte federleicht und immer einen halben Meter unter der Flur-decke den Weg zum Labor gemäß den Angaben meines Leibarztes. Auch die Labortür war kein Hindernis. 'Auf dem Rückweg nehme ich den direkten Weg durch die Wände,' dachte ich.

40

Unübersehbar auf einem Labortisch lag ein Zettel. Als ich den Text las, bestätigte sich meine gelegentliche Vermutung, dass Dr. Ahrmann bis-weilen zum Zynismus neigte. Dort stand in gro-ßen Lettern, von einem Drucker ausgespuckt, der Satz: "Es gibt ein Leben vor dem Tod."

Eintrag 14

'Dieser Arzt ist nicht nur ein Zyniker sondern auch ein Idiot,' dachte ich. 'Wie kann man nur ei-nen solchen Text auswählen?' Ich erinnerte mich an diesen Satz, als Buchtitel vielleicht, als Film-titel etwa, vielleicht auch nur ein Zitat aus irgend-einer Aphorismensammlung. Wie sollte so ein einfältiger Text als Beleg für die Existenz einer Seele oder einer Gehirnsimulation gelten? Ein solcher Satz hätte schon länger in irgendeinem meiner Gehirnlappen gewesen sein können, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. 'Warum hat er keinen fremden Text oder irgendeinen Code, von mir aus auch chinesiche Schriftzeichen genom-men?', dachte ich. Eine kleine Hoffnung bestünde darin, dass mir dieser Arzt bestätigt, dass ich den

41

richtigen Text gelesen habe. 'Ich werde diesen Kerl irgendwann dazu überreden müssen, das Experiment zu wiederholen.'

Ich schwebte ohne Probleme durch die Wand auf den Flur und sah über meiner Zimmertür ein Licht blinken. Am Flurende öffnete sich eine Tür. Zwei Schwestern und schließlich noch ein Pfleger stürzten den Gang entlang und rissen die Tür mei-nes Zimmers auf. Schwebend folgte ich ihnen.

Dr. Ahrmann beschäftigte sich hektisch mit den Geräten, rüttelte an meinem Körper, drehte wie-der einige Knöpfe und legte Schalter um. Mit einer seltsamen Ruhe nahm ich wahr, dass wohl etwas schief ging. Hektische Wiederbelebungs-versuche. Eine Schwester rannte weg und kehrte mit einem Gerät voller Kabel zurück, die an mei-nem Körper angelegt wurden. Beim Einschalten bäumte er sich mehrere Male heftig auf.

Erschöpft gab man nach vielen Minuten schließ-lich auf. Dr. Ahrmann schaute zur Decke und sank plötzlich langsam ohnmächtig zu Boden.

42

Mit stoischer Gelassenheit stellte ich fest, dass ich offensichtlich tot im Bett lag. Eine Rückkehr in diesen leblosen Körper schien vollkommen aussichtslos. Trotz der chaotischen Situation be-wegte mich seltsamerweise die Frage, was meine Schwebeexistenz denn nun wirklich sei, Simu-lation oder Seele. Schließlich konnte ich das Er-gebnis meiner Textexegese in diesem Moment nicht mit Dr. Ahrmann austauschen. Ich hatte das Gefühl, dass ich - zumindest für eine Übergangs-zeit - einen Körper brauchte. Nur für eine Über-gangszeit. Nur für eine kurze Zeit.

Dr. Ahrmann lag noch immer bewusstlos auf dem Boden.

Eintrag 15

Als ich aus der Ohnmacht erwachte, wurde ich von den Schwestern und dem Pfleger aufgerich-tet. Ich hatte das Gefühl, dass ich Dr. Ahrmann schützen musste und rief mit seiner Stimme und aus seinem Mund: "Dr. Ahrmann hat das in mei-nem Auftrag getan. Dr. Ahrmann hatte meine

43

Genehmigung. Dr. Ahrmann hatte meine Erlaub-nis. Bitte, lassen Sie mich los."

"Er ist verwirrt," sagte eine Schwester.

"Was hat der Doktor da nur machen wollen?", fragte der Pfleger.

"Was immer er dort hat machen wollen, der Patient ist tot.", war die Antwort.

"Der Patient lebt.", rief ich. "Hier bin ich. So be-greifen Sie doch."

Niemand begriff.

Die nun folgenden Zeilen sind direkt an meinen Pflichtverteidiger Herrn Dr. Werner gerichtet:

Lieber Herr Dr. Werner,

Sie haben nun meine Geschichte gelesen. Ich hoffe, dass Sie damit über genügend Material

44

verfügen, um darauf meine Verteidigung aufzu-bauen. Ich beneide Sie nicht. Vermutlich werde ich als Dr. Ahrmann verurteilt, der einen seiner Patienten aus ungeklärten Gründen in den Tod geschickt hat, indem er die lebenserhaltenden Ge-räte ausschaltete. Vermutlich werden ihm einige Dinge zugute gehalten, da medizinische Gutach-ten ausweisen werden, dass der Angeklagte an ei-ner schweren Persönlichkeitsstörung leidet und sich häufig mit seinem Opfer identifiziert.Sie, Herr Dr. Werner, wissen es nun besser, so-fern Sie mir glauben. Das Gericht aber werden Sie wohl kaum von dieser Geschichte überzeugen können.

Ihr Dr. Ahrmann

Jedenfalls nennen mich alle so.

45