Das Gehirn ist eine Baustelle

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52 SPIEGEL WISSEN 1 | 2009 GERALD HÜTHER Der an den Universitäten Göttingen und Mannheim lehrende Professor für Neurobiologie ist einer der renom- miertesten Hirnforscher Deutsch- lands. Hüther, 58, wuchs in der DDR auf und flüchtete 1978 in die Bun- desrepublik. Er ist Autor erfolgrei- cher Bücher. Sein neuestes Sach- bilderbuch (mit Inge Michels) „Ge- hirnforschung für Kinder. Felix und Feline entdecken das Gehirn“ (Kösel Verlag, München; 64 Seiten; 12,95 Euro) erklärt Kindern und Eltern, was ein Gehirn braucht, um sich optimal zu entwickeln. SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Gehirn ist eine Baustelle“ Hirnforscher Gerald Hüther über die Abenteuer des Säuglings im Mutterbauch, die Bedeutung von Gefühlen und Erfahrung für die Hirnentwicklung und die Chancen des Menschen, Haltungen und Verhalten ein Leben lang zu verändern

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52 SPIEGEL WISSEN 1 | 2009

GERALD HÜTHER

Der an den Universitäten Göttingen

und Mannheim lehrende Professor für

Neurobiologie ist einer der renom-

miertesten Hirnforscher Deutsch-

lands. Hüther, 58, wuchs in der DDR

auf und flüchtete 1978 in die Bun-desrepublik. Er ist Autor erfolgrei-

cher Bücher. Sein neuestes Sach-

bilderbuch (mit Inge Michels) „Ge-

hirnforschung für Kinder. Felix und

Feline entdecken das Gehirn“ (Kösel

Verlag, München; 64 Seiten; 12,95

Euro) erklärt Kindern und Eltern, was

ein Gehirn braucht, um sich optimal

zu entwickeln.

SPIEGEL-GESPRÄCH

„Das Gehirn ist eine

Baustelle“Hirnforscher Gerald Hüther über die Abenteuer des Säuglings

im Mutterbauch, die Bedeutung von Gefühlen undErfahrung für die Hirnentwicklung und die Chancen des Menschen,

Haltungen und Verhalten ein Leben lang zu verändern

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Hypophyse

Brücke

verlängertesRückenmark

Basalganglien

Amygdala

Thalamus

Stirnlappen

Scheitellappen

Schläfenlappen

Hinter-haupt-lappen

Kleinhirn

Großhirnrinde:rechte Hemisphäre

linkeHemisphäre

Balken

DAS HIRN erwächst beim mensch-

lichen Embryo aus den oberen

Abschnitten eines neuralen Ge-

webeschlauchs, dem späteren

Rückenmark. Die verdickte End-

region wird zum Großhirn, bildetbald Wölbungen aus und teilt sich

in zwei Hälften (Hemisphären).

Schon beim neugeborenen Kind

sind die vielfachen Faltungen und

Windungen der Großhirnrinde

ausgeprägt. Doch erst die spätere

Verknüpfung der unzähligen, hier

angelegten Nervenzellen entschei-

det über die geistige Entwicklung,

über Talent und Persönlichkeit

eines Kindes.

DENKEN UND FÜHLEN

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SPIEGEL: Wenn Babys zur Welt kom-men, haben sie gewöhnlich eine neun-monatige Entwicklungsreise hinter sich.Was genau erleben sie im Bauch derMutter?Hüther: Was sie dort erleben, weiß na-

türlich niemand. Aber eines ist klar: Diegenetisch angelegten Möglichkeiten zurAusbildung des Gehirns können sichnur unter optimalen Entwicklungsbe-dingungen voll entfalten. Störend wir-ken etwa die durch Alkohol, Nikotinoder Medikamente beeinträchtigte Ver-sorgung der Plazenta sowie seelischeoder körperliche Belastungen.SPIEGEL: Wie entwickelt sich in dieserZeit das Gehirn?

Hüther: Das Gehirn des ungeborenenKindes strukturiert sich anhand von Sig-nalmustern, die zunächst aus seinemeigenen Körper dort eintreffen. GegenEnde der Schwangerschaft sind die Sin-nesorgane so weit ausgebildet, dass nun

auch äußere Einflüsse zunehmend anBedeutung für die weitere Reifung desGehirns gewinnen. Das kann der Herz-schlag der Mutter sein, die Musik, diesie hört, aber auch Angst oder Stress.Kinder, deren Geborgenheit gestört ist,kommen schon unsicherer und ängst-licher zur Welt.SPIEGEL: Welche Rolle spielen die gene-tischen Programme, die das Kind mit auf die Welt bringt?

Hüther: Die genetischen Anlagen sorgendafür, dass zunächst ein Überangebot anNervenzellen und an Verknüpfungsmög-lichkeiten bereitgestellt wird. Wie undwofür dieser Überschuss genutzt wird,um ein mehr oder weniger komplexes

Gehirn aufzubauen, hängt viel stärker,als wir das bisher geglaubt haben, vonden Erfahrungen ab, die das Kind auch

 bereits vor der Geburt macht. Das lässtsich schon bei Mäusen nachweisen.Durch embryonalen Transfer hat man

 bei zwei Mäusestämmen – die einen sehrnervös und unruhig, die anderen eher ru-hig – die Embryonen den jeweils falschenMüttern eingepflanzt. Zum großen Er-staunen der Fachleute setzte sich nicht

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das genetische Material durch, sonderndie Jungen übernahmen die psychischenDispositionen ihrer „Leihmütter“.SPIEGEL: Was passiert, wenn eine Frau

während ihrer Schwangerschaft sehr ge-stresst oder sehr unglücklich ist?Hüther: Es lässt sich heute mit 3-D-Ul-traschallverfahren zeigen, was im Bauchpassiert, wenn die Mutter auch nur anetwas denkt, was ihr Angst macht. DieBauchdecke spannt sich an, und der Fö-tus geht in eine Erstarrungshaltung.SPIEGEL: Was bedeutet das für Mutterund Kind?Hüther: Wenn das häufiger passiert,kommt es zur Kopplung der aktiviertenNervenzellverschaltungen im Gehirndes Ungeborenen, das Erstarren ver-

knüpft sich mit anderen Sinnesein-drücken, die zeitgleich im Gehirn ein-treffen. Solche Kopplungen können

 beim Kind später wieder aktiviert wer-den. Wenn etwa eine Schwangere hört,wie jemand herumschreit und deshalbAngst bekommt, erstarrt das Kind auchnoch nach der Geburt, sobald es jeman-den hört, der ähnlich herumschreit.SPIEGEL: Was passiert, wenn es der Mut-ter gutgeht?Hüther: Die Atmung wird locker, dieBauchdecke weich. Wenn dann noch et-

was dazukommt wie etwa Musik, kannes durchaus sein, dass das Kind später

 besonders offen ist für Musik und Spra-che. Oder es ist offen für Bewegung, weil

die Mutter während der Schwanger-schaft gern spazieren gegangen ist unddabei glücklich war.SPIEGEL: Schwangerschaften könnenähnlich verlaufen, Geschwister aberganz unterschiedlich sein in ihrer Art.Hüther: Richtig. Das Gehirn ist eine Bau-stelle. Es strukturiert sich erfahrungs-abhängig. Dabei kommt es weniger auf die Beschaffenheit der Umwelt, sondernauf die subjektive Wahrnehmung unddie Bewertung dieser Umwelt durch dasKind an. Ein Erstgeborenes findet in sei-ner Familie viele Nischen, viele Mög-

lichkeiten und besetzt sie. Für das zwei-te Kind sind diese Plätze schon besetzt.Es muss nach neuen Nischen suchen.Die Erstgeborenen wachsen daher häu-fig gradliniger in die Familientradition,zweite oder dritte Kinder sind oft rebel-lischer, suchen neue Wege, sind viel-leicht kreativer. Deshalb können sichGeschwister mit ähnlichen genetischenAnlagen unterschiedlich entwickeln.SPIEGEL: Was aber geschieht mit Frau-en, die in Krisen- oder Kriegsgebietenschwanger sind?

Hüther: Kognitiv kann sie wenig beein-flussen. Besser wäre es, sie würden im-mer wieder positive Gefühle erlebenund sich auf ihr Kind richtig und ohne

Sorgen und Zukunftsängste freuen kön-nen. Das halte ich für viel wirkungsvol-ler als irgendwelche gezielten Anstren-gungen, um die Entwicklung des unge-

 borenen Kindes positiv zu beeinflussen.SPIEGEL: Aber es gibt ja auch sehr

  bedeutende Erlebnisse während derSchwangerschaft und der frühen Ent-wicklungsphase eines Kindes.Hüther: Sicher gibt es Probleme, diesehr belastend für die Mutter und dasKind sind. Therapeuten berichten vonKriegskindern, deren Traumata, etwadurch Sirenengeheul ausgelöst, nicht auf 

der kognitiven Ebene verarbeitet wer-den, sondern auf der körperlichen Ebe-ne steckenbleiben. Hören diese Men-schen dann später wieder Sirenenge-heul, aktivieren sich die entsprechen-den Körperreaktionen wieder. Sie sindnicht in Lebensgefahr, aber die Wahr-nehmung setzt das gesamte Netzwerkin Bewegung: Die Angst ist wieder daund damit die entsprechenden Symp-tome.SPIEGEL: Wie festgelegt ist unsere Per-sönlichkeit durch solche Erfahrungen?    S

   E   I   T   E

   5   2  :   M   A   R   T   I   N    Z

   I   T   Z   L   A   F   F  ;   S .   5   4  :   O   L   I   V   I   E   R    L

   A   B   A   N  -   M   A   T   T   E

   I   /   A   F   P

ENDLOSES TRAUMAAngsterfahrungen, die der Körper in

der Kindheit speichert, könnenein Leben lang wieder ausgelöst

werden: Mutter und Kindnach einem Bombenangriff in Gaza.

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DENKEN UND FÜHLEN

Hüther: Das Gehirn lernt immer. Aucheine negative Erfahrung oder Erinnerung kann später neu bewertet und damit qua-si überschrieben werden. Dazu ist aber

eine emotionale Erfahrung nötig, die wie-der über den Körper laufen muss, wenndie Erinnerung dort eingefroren ist. Wasuns als Menschen ausmacht, sind unse-re Erfahrungen. Sie strukturieren unse-re Netzwerke im Gehirn. Erfahrungenzeichnen sich dadurch aus, dass wir et-was erleben, was uns unter die Haut geht.SPIEGEL: Wir sind also mehr Gefühls-als Verstandeswesen?Hüther: Beides. Jede Erfahrung hat einenkognitiven Anteil: Was habe ich erlebt?und einen emotionalen Anteil: Wie istes mir dabei gegangen? Die Summe der

Erfahrungen, die ein Mensch macht,formt sich im Laufe der Zeit in ihm zudem, was ich Haltung nenne.SPIEGEL: Können Sie das mit einem Bei-spiel erklären?Hüther: Ein Schüler wird in der Schuleimmer wieder abgewertet und entwi-ckelt die Haltung: Schule ist blöd. DurchArgumente und kluge Ratschläge wirdes nicht gelingen, ihn zu überzeugen,dass Schule doch ganz in Ordnung ist.Er muss eine völlig neue Erfahrung machen.

SPIEGEL: Was ist, wenn ein neuer Lehrerihn ermutigt und lobt?Hüther: Verbale Lobesbekundungen sindzunächst nur leere Worte. Eltern, Er-zieher und Lehrer müssten das Kindeinladen, neue Erfahrungen zu machen.

Die Steigerung von Einladung ist Mutmachen, die Steigerung davon ist Inspi-rieren. Wenn Kinder so erleben, dass siedoch etwas können, dass es schön ist,Neues zu entdecken, entwickeln sieauch eine andere, offenere Haltung. Wirhaben beispielsweise die Aktion „NeueLernkulturen“ angestoßen, in der Kin-der und Jugendliche in Kommunen undGemeinden Projekte aktiv mitgestalten(www.nelecom.de).SPIEGEL: Wie sieht das aus?Hüther: In den Gemeinden werdenTeams gebildet. Im thüringischen Saal-feld beispielsweise wollten die Jugend-lichen den Ort durch Sprayen verschö-nern. Es gab eine alte Schule, die ir-gendwann abgerissen werden sollte, diedurfte von oben bis unten besprühtwerden. Die Gemeinde besorgte einenSpraykünstler, der sie anleitete. Das Er-gebnis ist eine kunstvoll besprühte Schu-le, die von den Bürgern bestaunt undvon Touristen besucht wird.SPIEGEL: Und die jugendlichen Sprayersind mächtig stolz.Hüther: Klar. Eine solche Erfahrung ist

etwas völlig anderes als ein verordnetesPraktikum.SPIEGEL: Wie können Eltern optimaleEntwicklungsbedingungen für das Ge-hirn ihres Kindes schaffen?Hüther: In der ersten Lebensphase biszur Sprachentwicklung bezieht das Kindden größten Anteil seiner Identitätdurch die eigene Körpererfahrung, eskrabbelt, greift, lernt laufen. Wir nen-nen das „das authentische Selbst“ oderdas Kernselbst. In diesem Selbst steckenauch die ersten Erfahrungen der Welt-entdeckung, und die sind immer posi-

tiv. „Ich habe es geschafft“, sagt sich dasKind, „es ist mir gelungen.“ Dann lerntdas Kind sprechen, und die Eltern grei-fen immer mehr ein. Das Kind machtdann unter Umständen immer mehr Er-fahrungen, die im Widerspruch stehenzu seinem authentischen Selbst.SPIEGEL: Ein Beispiel?Hüther: Es ist schwer für kleine Kinder,eine halbe Stunde oder länger stillzusit-zen. Das authentische Kinderselbst wür-de normalerweise sagen: Ich will michspüren, mich bewegen. Aber weil da

auch der drängende Wunsch im Kindist, innerhalb der Familie dazuzugehö-ren, fügt es sich und sitzt still. Also fan-gen Kinder an, ihre Impulse zu unter-drücken, folgsam zu sein. Das machensie erfolgreich, weil sie geliebt werden

möchten. Manche dieser Erfahrungenpassen zum authentischen Selbst, man-che nicht. Da das Kind sich aber die, dienicht passen, quasi selbst ins Hirn ge-

 baut hat, betrachtet jedes Kind und spä-ter jeder Erwachsene auch diese Antei-le als zugehörig zum eigenen Ich.SPIEGEL: Diesen Eingriff der Eltern nen-nen wir Erziehung.Hüther: Ja, bestimmte Dinge sagt undtut man nicht. Wenn man sich dabei zu

sehr von seinem ursprünglichen Funda-ment, dem authentischen Selbst, ent-fernt, wird das Haus schief. Der Bau-meister im eigenen Haus kriegt das oft

nicht mit, bis das Haus irgendwann an-fängt zu wackeln.SPIEGEL: Sie meinen Lebenskrisen?Hüther: Klar, und dann versucht man,durch Stützen und Reparaturen zu hel-fen, damit das Haus nicht umkippt.Richtiger wäre es, den Patienten einzu-laden und zu ermutigen, bildhaft ge-sprochen, in seinem Haus in die unterenStockwerke zu gehen und nach den Ur-sachen für die Risse im Fundament zusuchen. Das könnte dem Patienten hel-fen, sein verborgenes und verbogenesIch wiederzufinden …SPIEGEL: … und neue Haltungen zu ent-wickeln?Hüther: Richtig. Gelingt es, unsere Hal-tungen zu ändern, verändert sich dasVerhalten automatisch. Und, ganz ent-scheidend: Die Haltungen bestimmen,wie wir unser Gehirn benutzen – wasuns wichtig ist, warum wir uns küm-mern, wie achtsam wir sind, was wir se-hen, übersehen, ob wir rücksichtslossind oder voller Anteilnahme.SPIEGEL: Das Gehirn wird so, wie manes benutzt?

„Niemand baut sich

freiwillig eng

machende Haltun-

gen ins Gehirn ein.“

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Hüther: Das Gehirn wird so, wie man es benutzt. Und das hängt eben sehr vonder Haltung, von den inneren Einstel-lungen und Überzeugungen ab, die mansich im Laufe des Lebens aufgrund be-stimmter Erfahrungen angeeignet hat.

Manche dieser Haltungen sind ebensehr eng. Aber am Anfang, also währendder Kindheit, strukturiert sich das Ge-hirn nicht aus der Enge, sondern ausFülle, Überfluss, Reichhaltigkeit. Das isteine völlig neue Perspektive, mit der dieNeurobiologie inzwischen auf die früheKindheit schaut. Es geht darum, das rei-che Potential, das das Leben uns mit auf den Weg gibt, zu erhalten, diese Offen-heit, diese Begeisterung, diese Neugier,die Kinder mitbringen.SPIEGEL: Welche Folgen hat es, wennHaltungen oder innere Einstellungenengstirnig geprägt wurden?Hüther: Engstirnige Haltungen veren-gen den Blick, und die Haltungen derMitglieder einer Gemeinschaft bestim-men den Geist, der in der Gemeinschaftherrscht. Umgekehrt reglementiert derGeist einer Gemeinschaft, was für Er-fahrungen diejenigen machen, die zudieser Gemeinschaft gehören.SPIEGEL: Können Sie ein Beispiel geben?Hüther: Eine Schule müsste von demGeist bestimmt sein, dass jedes Kind ent-sprechend seiner Potentiale gefördert

wird. Kümmert man sich zu wenig umdiesen Geist, besetzt ein anderer Geistdie Schulgemeinschaft, oft ist es der Ver-waltungsgeist. Er bestimmt die Erfah-rungen der Menschen in dieser Institu-tion. So entsteht ein sich selbst stabili-sierendes System. Wenn jemand ver-sucht, wie Obama zurzeit in den USA,diesen Geist zu ändern, wird er womög-lich daran scheitern, dass die Haltungenvieler Mitarbeiter noch die alten sindund nicht zum neuen Geist passen.SPIEGEL: Wie gelangen wir zu neuenHaltungen?Hüther: Allein ist das schwer. Eng ma-chende Haltungen hat sich ja niemandfreiwillig in sein Hirn gebaut. Es warenBeziehungserfahrungen, die uns in die-se inneren Einstellungen gezwungenhaben. Deswegen müssen es auch neue,Mut machende Beziehungserfahrungensein, die eine neue Haltung an die Stel-le der alten setzen.SPIEGEL: Getreu dem Motto des be-rühmten Therapeuten Milton Erickson„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kind-heit zu haben“?

Hüther: Ein Trauma, das wir erlebt ha- ben, ist fest im Gehirn verankert. Diesealten Verschaltungsmuster lassen sichkaum auflösen. Aber wir können die Be-wertung immer ändern. Deshalb habenwir dieses wunderbare, flexible Fron-

talhirn. Wir können mit therapeutischerBegleitung das alte Trauma noch malneu erleben und lernen, das alte Gefühlmit allen Körperwahrnehmungen neuzu bewerten. Deshalb muss man nichtglücklich sein, dass man traumatisiertworden ist. Aber man kann sagen, okay,das ist Teil meiner Biografie. Ich binauch deshalb etwas Besonderes gewor-den, weil ich diese furchtbare Erfahrung machen musste.SPIEGEL: Und wenn zu meiner Beson-derheit gehört, dass ich ungeduldig, un-diszipliniert und aggressiv bin?Hüther: Das sind alles Haltungen, diesich ändern lassen. Denken Sie an denschönen Film „Rhythm is it!“, in demder Choreograf Royston Maldoom mitwenig disziplinierten Kindern ein Stückeinstudiert. Früher hätte man einfachstrenge Regeln und Strafen verhängt.Doch was sich dann im besten Fall ent-wickelt, ist Gehorsam. Maldoom gab denKindern eine Aufgabe, die sie richtig faszinierte. Aber diese Aufgabe war nurzu schaffen, wenn sie pünktlich kamen,sich verabredeten, sprich: wenn sie sich

selbst disziplinierten.SPIEGEL: Gibt es überhaupt Eigenschaf-ten oder Tugenden, die angeboren sind?Hüther: Das Kind kommt mit der Fähig-keit auf die Welt, Signale zu empfangenund auszusenden. Es kann im mütterli-chen Gesicht lesen, was die Mutter will.Eine funktionalisierte Pädagogik fordertheute, die Kinder so früh wie möglichzum Sprechen zu bringen. Am bestengleich in mehreren Fremdsprachen, weildas Muttersprachenzentrum so schön

 blüht. Dabei wird aber der Prozess, sichnonverbal zu verständigen, allzu leicht

vorzeitig abgebrochen. Und die Kinderplappern dann womöglich das ganze Le-

  ben furchtbar eloquent, kriegen aber

nicht mit, was der andere meint, was indem anderen vorgeht. Weil sie Mimikund Gestik nicht ruhig lesen können.SPIEGEL: Heutzutage reicht es vielen Ju-gendlichen, weltweit im Netz zu chatten.Hüther: Es reicht ja eben gerade nicht.

Weil die Beziehungen in der mobilenWelt so wenig tragfähig sind, knüpfen

 junge Leute so viele, aber flache Netz-werke, um das zu ersetzen, was an fes-–ten, vertrauensvollen Strukturen fehlt.SPIEGEL: Sie hingegen sind in der ge-schlossenen DDR großgeworden, in derWassermühle Ihrer Familie.Hüther: Ich hatte als Kind die wunder-

  bare Gelegenheit, ohne Aufsicht vonErwachsenen, die versuchten, mir etwas

  beizubringen, die Welt zu entdecken.Nicht, dass wir ohne Führung gewe-sen wären, innerhalb unserer Kinderge-meinschaft war immer klar, was wir durf-ten und was nicht. Aber sonst herrschtegroße Freiheit. Damit sind die univer-salen Grundbedürfnisse, dazuzugehö-ren und die Welt zu entdecken, auf sehrglückliche Weise gestillt worden.SPIEGEL: Was passiert, wenn es weni-ger gut läuft?Hüther: Das zeigt ein Versuch in den USA.Ein Forscher legte mehreren Fünfjäh-rigen je ein Marshmallow hin und sagte,wer eine Viertelstunde warten kann,kriegt noch eins. Nach 20 Jahren schau-

te er, was aus den Kindern geworden war.Diejenigen, die warten konnten, hatteneinen höheren Intelligenzquotienten,eine bessere Berufsausbildung, besseresoziale Beziehungen, stabilere Partner-schaften. Die spannende Frage lautet:Was bringt ein Kind dazu, den Marshmal-low liegen lassen zu können?SPIEGEL: Vielleicht der zweite Marsh-mallow zur Belohnung.Hüther: Um darauf warten zu können,

 braucht es aber innere Stärke. In man-chen Kindern hingegen herrscht ein sol-ches Mangelgefühl, dass die Ersatz-

 befriedigung nicht aufgeschoben wer-den kann. Es mangelt an Zugehörigkeit,an Zuwendung, an Sicherheit und Ver-lässlichkeit, man könnte auch sagen: DasKind fühlt sich nicht geliebt genug. Wirwissen heute, dass Kinder an diesemMangel genauso leiden wie Kinder, de-nen körperlicher Schmerz zugefügtwird. Das tut richtig weh. Und damit derSchmerz nachlässt, sucht man nach Er-satzbefriedigungen. Im späteren Lebenheißen die dann Geld, Macht, Einfluss,Reichtum.

DENKEN UND FÜHLEN

„Selbst Menschen,

die an eingefahrenen

Mustern leiden,

halten an ihnen fest.“

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SPIEGEL: Irgendwann kollidierte derglückliche Gerald Hüther schließlichdoch mit dem System in der DDR.Hüther: Ja, aber er hat sich nicht klein-kriegen lassen.SPIEGEL: Wie kam der Müllerssohn zurNeurobiologie?Hüther: Was mich zur Biologie und zurHirnforschung gebracht hat, war ein

Initialerlebnis vor der Pubertät. Das ist,nebenbei gesagt, sehr spannend, dennoffenbar können intensive Erfahrungenin dieser Altersphase wegweisend sein.Meine Familie hatte ein sehr pragmati-sches Verhältnis zur Natur. Man ging nicht in den Garten, weil die Blumen soschön blühten, sondern weil man Gemü-se ernten wollte. Und man ging nicht inden Stall, um mit den Kälbchen zu spie-

Das Gespräch führten die Redakteurinnen AngelaGatterburg und Bettina Musall.

len, sondern um die Kühe zu melken.Eines Tages zeigte mir ein Mann mitSchmetterlingsnetz und Botanisiertrom-mel lauter Pflänzchen, die er beim Na-men kannte, und machte mich auf denGesang des Zaunkönigs und auf so vielesaufmerksam, was es dort draußen in derNatur zu entdecken gab. Das will ichauch, sagte ich mir. Ich will einen Beruf 

finden, der es mir möglich macht, dasLebendige zu bestaunen und zu erfor-schen, um es bewahren zu können.SPIEGEL: Sie schreiben, dass ein zeit-lebens lernfähiges Gehirn auch lebens-lang veränderbar ist. Das ist doch eigent-lich eine tolle Nachricht.Hüther: Ja, darüber freue ich mich auch.Aber vielen Menschen macht das auchAngst. Selbst wenn sie sich mit ihreneingefahrenen Mustern nicht wohlfüh-len, wollen sie an diesen festhalten. Ob-wohl der Zustand furchtbar ist. Ihr Hirn

hat sich durch oft langjährige Erfahrung an diesen Zustand und diese Verhältnis-se angepasst. Und am Ende hängt manin diesem unglücklichen System fest.Natürlich könnte ein 70-jähriger Mannnoch Chinesisch lernen. Aber dazu

 braucht es ein sehr starkes Motiv, zumBeispiel wenn er sich in eine hübscheChinesin verliebt. Hirntechnisch gin-ge das, aber grundsätzlich fällt es unsschwer, aus unseren Mustern auszubre-chen.SPIEGEL: Sie schreiben in einem IhrerBücher, wie wichtig Selbstvertrauen,Vertrauen in die Gemeinschaft und indie Sinnhaftigkeit der Welt sei.Hüther: Vor allem Letzteres ist uns ziem-lich abhandengekommen. Das Gefühl,in der Welt gehalten zu sein, habenfrüher die Religionen gestiftet. Heute istalles sehr stark funktionalisiert und auf eigene Leistung fokussiert. Kinder fin-den bisweilen noch etwas von diesemVertrauen in den Märchen. Wer glaubenkann, am Ende wird alles gut, hat einewichtige Überlebens-Ressource.SPIEGEL: Ist das wirklich so existentiell?Hüther: Viktor Frankl, der große jüdi-sche Psychiater, hat das als Erster sodeutlich gesehen. Er erlebte, wie all dieanderen Häftlinge im KZ gestorben sind,die dem Schrecken dort nichts mehr ent-gegensetzen konnten, die mit ihren in-

dividuellen Kompetenzen nicht mehrweiterkamen, die auch in der Gruppenicht mehr weiter verbunden waren unddenen kein Glaube und keine Hoffnung mehr geblieben war.SPIEGEL: Gibt es eine Seele und wenn

 ja, wo sitzt die?Hüther: Die Frage ist gemein. MeineKollegen Naturwissenschaftler sagenan dieser Stelle immer, sie hätten denKörper aufgeschnitten und keine See-le gefunden, auch nicht im Hirn. Aberich mache mal einen Versuch. Ich glau-

  be, die Seele ist das, was wir mit auf 

die Welt bringen, eine Sehnsucht da-nach, wachsen zu wollen und dazuge-hören zu dürfen. Die Seele ist das, wasuns allen Widrigkeiten zum Trotz ge-radehält und uns unseren Weg gehenlässt. Eine innere Kraft, die uns führt.Eine Vorstellung davon, wie farbig undreichhaltig das Leben ist. Die Sehnsuchtnach diesem Reichtum, der nichts mitGeld und Besitz zu tun hat, hält uns amLeben.SPIEGEL: Herr Hüther, wir danken Ih-nen für dieses Gespräch.   R

   E   T   O    K

   L   A   R    (

   O .   )  ;   T   H   O   R   S   T   E   N    F

   U   T   H    /

   L   A   I   F

   (   U .   )

Das Projekt Information Age Town im irischenEnnis bietet Computerkurse für Senioren an.

In einer Hamburger Kindertagesstättelernen Dreijährige Englisch.