Das Gesicht des Unsichtbaren: Zur Transparenz des Faktischen im Johannesevangelium

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    Thomas Noack

    Das Gesicht des UnsichtbarenZur Transparenz des Faktischen im Johannesevangelium

    Swedenborg Zentrum Zrich

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    Zrich: Swedenborg Zentrum, 2010Swedenborg Zentrum: www.swedenborg.chThomas Noack: www.thomasnoack.chAkzessarbeit bei Prof. Jean Zumstein, eingereicht im September 2002Titelbild: Die Ikone des heiligen Johannes des Theologen, Patmos

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    Gott, niemand hat ihn je gesehen.Der einziggeborene Gott aber,

    der Seiende im Schoe des Vaters,der hat ihn uns dargestellt.

    Joh 1,18

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    Inhalt

    Vorwort ...................................................................................................................... 7

    1. Positionierung in der Forschungsgeschichte .............................................................. 91.1. Die johanneische Frage .............................................................................................. 91.2. Kein Konsens nach 200 Jahren kritischer Johannesforschung ................................. 101.3. Standortbestimmung im Anschlu an Tendenzen der neueren Forschung ............. 11

    2. Zur Transparenz der johanneischen Sprache ........................................................... 232.1. Beispiel Kreuzigung - Was sieht das johanneische Auge? ...................................... 23

    2.2. Die symbolische Lektre nach Paul Ricoeur und Jean Zumstein ............................. 252.3. Die Transparenz des joh. Jesusund ihr Fortwirken in der Transparenz der joh. Sprache ........................................ 28

    2.4. Der johanneische Dualismus ..................................................................................... 292.5. Die Elemente des impliziten Kommentars (Culpepper) ........................................... 322.6. Die Zeichen oder die Transparenz der Wunder ....................................................... 37

    3. Der Lieblingsjnger .................................................................................................. 433.1. Zum Ursprung der Transparenz im vier ten Evangelium .......................................... 433.2. Die Lieblingsjngerstellen ........................................................................................ 44

    3.3. Der Geliebte und die Liebe im vierten Evangelium ................................................ 453.4. Die beiden Kolpos-Stellen ........................................................................................ 483.5. Der Lieblingsjnger und Petrus

    oder: Zum Profil der Liebe gegenber dem Glauben ............................................... 49

    4. Das Gesicht des Unsichtbaren (Zur Christologie) ..................................................... 554.1. Vorbemerkung .......................................................................................................... 564.2. Die Gttlichkeit Jesu ................................................................................................ 564.3. Ksemanns Vorwurf eines naiven Doketismus ........................................................ 584.4. Prozechristologie .................................................................................................... 70

    5. Du hast Worte des ewigen Lebens (Zur Soter iologie) ............................................. 975.1. Das Leben von oben in Worten von unten .............................................................. 975.2. Die Schpfung des Lebens ........................................................................................ 985.3. Geburt , Leben und Licht .......................................................................................... 1005.4. Wasser, Wein und Brot ........................................................................................... 115

    6. Rckblick und Ausblick ............................................................................................ 139

    7. Literatur .................................................................................................................. 145

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    Vorwort

    Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2003/04 vonder Theologischen Fakultt der Universitt Zrich als Akzessar-beit im Fach Neues Testament angenommen. Sie erscheint nununverndert im Druck; lediglich die griechischen und hebri-schen Wrter wurden in Umschrift wiedergegeben.

    Seit meiner Jugend liebe ich das Johannesevangelium. Als19jhriger schrieb ich es einmal vollstndig ab. Whrend des

    Studiums nutzte ich jede sie bietende und passende Gelegenheit,um im Verstndnis dieses Evangeliums weiterzukommen.

    Der Titel der Arbeit bringt bereits die zentrale These zum Aus-druck. Das Johannesevangelium ist symbolisch zu lesen und zudeuten. Es bringt einerseits die authentischen Jesuserinnerungendes Lieblingsjngers zum Ausdruck, der den historischen Jesusgekannt hat. Andererseits zeichnet sich dieser faktische Stoff durch Transparenz aus, das heit im Sichtbaren gibt es das Un-

    sichtbare zu entdecken, im Sohn den Vater. Mit dem anglikani-schen Bischof John A. T. Robinson glaube ich: Die johanneischeTheologie "fhrt uns nicht weiter von der Geschichte weg, son-dern tiefer in sie hinein." (34).

    Diese These wird in fnf Schritten entfaltet. Das erste Kapitel istforschungsgeschichtlich orientiert und versucht, das vierte Evan-gelium zu positionieren. Das zweite Kapitel untersucht die in derChristologie begrndete Transparenz der johanneischen Sprache.Das dritte Kapitel setzt sich mit der Gestalt des Lieblingsjngersauseinander. Das vierte Kapitel bringt die johanneische Christo-logie zum Ausdruck. Und das fnfte beschftigt sich mit der So-teriologie. Ein kurzer Rckblick und ein Ausblick schlieen dieArbeit ab.

    Zrich im August 2010Thomas Noack

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    1.1. Die johanneische Frage. 1.2. Kein Konsens nach 200 Jahren kritischer Johannesforschung. 1.3. Standortbestimmung im Anschlu an Tendenzender neueren Forschung. 1.3.1. Die Verfasserfrage. 1.3.2. Der alttestament- lich-jdische Hintergrund. 1.3.3. Die Endgestalt des Johannesevangeliumsals Gegenstand der Interpretation. 1.3.4. Zur Transparenz der johanneischenSprache (berleitung zu Punkt 2).

    1.1. Die johanneische Frage.Gegen Ende des 2. Jahrhundertsschrieb Irenus von Lyon: "Zuletzt gab Johannes, der Jnger desHerrn, der auch an seiner Brust gelegen hatte, selbst das Evan-gelium heraus, als er sich in Ephesus in Asien aufhielt."1 Damitwar die Frage beantwortet, die seit dem 19. Jahrhundert wiederoffen ist: die johanneische Frage. Sie besteht allerdings nicht nurin der Verfasserfrage, sondern weiter gefat in der Suche nachdem verlorenen Ort des vierten Evangeliums, das wie ein abge-brochener Ast in der Geschichte des Urchristentums treibt. DasProfil dieser Frage formt sich durch den Vergleich mit den Syn-optikern. Wie ist die durchgehende Andersartigkeit des viertenEvangeliums und somit auch seiner Sprache zu erklren?2 Mei- 1 Adv. haer. 3,1,1 = Eus. h. e. 5,8,4.2 Die johanneische Frage sucht nach einer Erklrung der Eigenart des vierten

    Evangeliums bzw. der Andersartigkeit desselben gegenber den Synoptikern.Whrend die Verfasserfrage in den Hintergrund getreten ist, ist nachH. Thyen, TRE 17 (1988) 201, als virulent johanneische Frage geblieben,was Bultmann so formuliert hat: "Es mte doch die Eigenart des Johannesin formeller wie in inhaltlicher Hinsicht gegenber den Synoptikern undauch gegenber den anderen urchristlichen Schriften charakterisiert wer-den! Es hat keinen Sinn, fr diesen oder jenen Ausdruck des Johannesauch einmal eine synoptische oder paulinische Analogie anzufhren, odereinen johanneischen Terminus als isolierten mit Termini des AT oder des Judentums zu vergleichen; denn die johanneische Sprache ist ein Ganzes,innerhalb dessen der einzelne Terminus erst seine feste Bedeutung erhlt"(Exegetica 233). Auch nach Schenke / Fischer zielt die johanneische Frageauf die Andersartigkeit des vierten Evangeliums. "Unter der johanneischenFrage versteht man traditionellerweise und genaugenommen die Frage, wiedas merkwrdige Verhltnis des Johannes-Evangeliums zum Markus-

    Evangelium und den Synoptikern berhaupt - und damit dann auch zur syn-

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    ne Untersuchung zur Transparenz des johanneischen Christusund seiner Sprachwelt ist im Horizont der johanneischen Frageangesiedelt.

    1.2. Kein Konsens nach 200 Jahren kritischer Johannesforschung. Das 19. Jahrhundert hatte, indem es die altkirchliche Tradition vom apostolischen Ursprung des Johannesevangeliums zerstrte,das vierte Evangelium - das seitdem nicht ohne Grund so ge-nannt wurde - vom irdischen Jesus getrennt. Das 20. Jahrhundertmute eine neue Heimat suchen. Die Lsung schien mit dem Jahrhundertkommentar von Rudolf Bultmann gefunden (erschie-

    nen 1941); hier liefen die Bemhungen der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts, die Arbeiten der Religionsgeschichtlichen Schuleund der Literarkritik, zusammen. Doch inzwischen ist alles wie-der offen3. Philipp Vielhauer schreibt: " das Johannesevangeli-um hat sich je lnger desto mehr alsdas Rtsel des Urchristen-

    optischen Tradition, zum Urchristentum und zu Jesus selbst - zu erklrenist. Die johanneische Frage zielt auf die berraschende und befremdendeAndersartigkeit des Vierten Evangeliums, darauf, da dieses Evangelium ne-ben den drei ersten ein Evangelium ganz neuen Typs darstellt." (H.-M.Schenke, K. M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments,II, Die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Schriften, 1979,168).

    3 Von Bultmanns literarkritischen Prmissen fand die Annahme einer Reden-quelle von Anfang an wenig Zustimmung und auch die zahlreichen Umstel-lungen stieen auf Skepsis und Ablehnung. Die Zeichenquelle und der Ge-danke einer kirchlichen Redaktion wurden hingegen zunchst noch weitge-hend akzeptiert. Doch zwang die Preisgabe der Redenquelle die Forschungdazu, Bultmanns Konzeption zu verlassen, so da zunehmend auch die An-nahmen einer Zeichenquelle und einer kirchlichen Redaktion in Frage ge-stellt wurden. 1980 kam James M. Robinson mit Blick auf Bultmanns Kom-mentar zu dem Urteil: "Sein Kommentar stellt die Glanzleistung der erstenHlfte des Jahrhunderts dar. R. Bultmanns imponierende Leistung ist daringroartig, da er dialektische Theologie, existentiale Interpretation, Religi-onsgeschichte, Quellenkritik und Redaktionsgeschichte mit 'faszinierenderGeschlossenheit' zu einer so erhabenen Einheit verschmolzen hat, dakaum ein Kritiker mit ihm in dieser Hhe und Weite diskutieren konnte - ei-ne glnzende Gesamtlsung , die leider nicht stimmt." (J. M. Robinson,

    Vorwort zu: E. Haenchen, Johannesevangelium, 1980, V).

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    tums erwiesen."4 Eduard Schweizer: "Bei diesen 'Schmer-zenskind der neutestamentlichen Wissenschaft' ist ungefhralles umstritten."5 Und Martin Hengel in seinem Buch ber "Die johanneische Frage": "Wir wissen nach fast 200 Jahren kriti-scher Johannesforschung viel weniger als vor dieser Zeit, vermu-ten aber um so mehr."6 Die altkirchliche Tradition ist zerschla-gen, ein neuer Konsens aber nicht gefunden.7

    1.3. Standortbestimmung im Anschlu an Tendenzen der neueren Forschung.Die gegenwrtige "Orientierungsdiffusion"8 lt sichnur dann berwinden, wenn das Erbe des 19. Jahrhunderts hin-

    terfragt wird. Dazu mssten auch die philosophischen Voraus-setzungen der damaligen Entscheidungen genauestens unter-sucht werden. Dieser Aufgabe kann ich mich hier nicht stellen.Ich vermute aber, da die Abtrennung der johanneischen Theolo-gie vom irdischen Jesus eine Fehlbeurteilung darstellt. Die jo-hanneische Frage wird sich nur lsen lassen, wenn die Span-

    4

    P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 1981, 411.5 E. Schweizer, Theologische Einleitung in das Neue Testament (GNT 2),1989, 141.

    6 M. Hengel, Die johanneische Frage, 1993, 9.7 W. Schmithals veranschaulicht diese Situation mit dem folgenden Bild: "Die

    historisch-kritische Forschung hat den glanzvollen Vorhang zurckgezogen,den die altkirchliche Tradition vor die Bhne hngte, auf der sich das Werdenund Wachsen der johanneischen Schriften abgespielt hatte. Es ist ihr abernicht gelungen, das Dunkel zu erhellen, in dem sich die Bhne zeigte, nach-dem der Vorhang gefallen war; sie vermochte nicht, die personae dramatis zu

    benennen und zu einem geflligen Spiel zu ordnen. An Rekonstruktionendes Geschehens ist kein Mangel, aber von einem Konsens sind wir weiter als je entfernt." (Johannesevangelium und Johannesbriefe: Forschungs-geschichte und Analyse, 1992, 217). E. Ksemann: "Die kritische For-schung hat die traditionelle Meinung zerschlagen, das 4. Evangelium sei vomApostel Johannes geschrieben worden. Sie hat uns aber keinen akzeptablenErsatz fr diese berholte Sicht geboten. Wir tappen mehr oder minder imDunkel, wenn wir ber den historischen Hintergrund des Evangeliums einedas Ganze bestimmende Auskunft geben sollen." (Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 1971, 11f).

    8J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-10, 1979, 28.

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    nung zwischen dem hohen Reflexionsgrad dieser Theologie undder Ursprnglichkeit ihrer Traditionen ausgehalten wird. Vondaher meine ich: Johannes fhrt uns nicht weiter von der Ge-schichte weg, sondern tiefer in sie hinein. Die Gegenthese findeich bei Schenke / Fischer formuliert: Die "Andersartigkeit desVierten Evangeliums" gegenber den Synoptikern scheint "einesachliche wie zeitliche Entfernung vom Urchristentum und vomhistorischen Jesus anzuzeigen"9. Edwyn Clement Hoskyns wardemgegenber auf der richtigen Spur, als er schrieb: " der Ver-fasser [des vierten Evangeliums] hat die 'sinnenfllige' Geschich-te Jesu so dargeboten, da seine Leser in dieser Geschichte, undgenau da, mit dem konfrontiert werden, was jenseits der Zeit und jenseits von sichtbarer Begegnung ist, mit dem wirklichen WorteGottes und dem wirklichen ewigen Leben"10. Da der Rohstoff

    9 H. -M. Schenke, K. M. Fischer, Einleitung in die Schriften des Neuen Testa-ments II, Die Evangelien und die anderen neutestamentlichen Schriften,1979, 170. R. Bultmann uerte auf den ersten Seiten seines Jesusbuchesdie Ansicht: "Das Johannesevangelium kommt als Quelle fr die Verkndi-gung Jesu wohl berhaupt nicht in Betracht und ist deshalb in der folgendenDarstellung gar nicht bercksichtigt worden." (R. Bultmann, Jesus, 1964,15). Gegen solche Unterbewertungen der Historizitt johanneischer Tradi-tionen schreibt E. Stauffer: "Auch heute noch gibt es Autoren, die den vier-ten Evangelisten in historicis einfach deshalb nicht ernst nehmen mchten,weil Joh. in wichtigen Punkten von der synoptischen berlieferung ab-weicht. Das Argument ist ein wenig primitiv, denn es setzt voraus, da dieSynoptiker in allen Punkten, wo sie miteinander zusammenstimmen, histo-risch im Rechte seien." (E. Stauffer, Historische Elemente im vierten Evange-lium, in: Bekenntnis zur Kirche, Festgabe fr E. Sommerlath, 1960, 35).

    Und C. H. Dodd: "That there is a real difference between them [the FourthGospel and the Synoptics, TN] is a fact which has been manifest to clear-sighted readers of the gospels ever since the time when Clement wrote that'John, observing that the bobily facts had been made ckear in the (earlier)gospels composed a spiritual gospel'. (Euseb HE VI.14.7). But the diffe-rence was exaggerated by nineteenth-century criticism, as if the SynopticGospels were entirely 'somatic' and John nothing but 'pneumatic'; as if, inother words, the Synoptics gave us nothing but plain, brute facts of historyand John nothing but abstract theology in symbolic guise." (C. H. Dodd, Histo-rical Tradition in the Fourth Gospel, 1963, 4f).

    10E. C. Hoskyns, zitiert in ThR 23 (1955) 328. Zu einem im Ergebnis hnli-

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    auch des vierten Evangeliums "die 'sinnenfllige' Geschichte Jesu" ist, kann ich freilich schon aus Platzgrnden hier nichtweiter darlegen. Deutlich wird aber an dieser Stelle, warum ichim Titel von Transparenz spreche. Das Material, welches das vierte Evangelium so "seltsam unirdisch"11 prsentiert, ist "Ur-gestein der berlieferung" (so nannte Joachim Jeremias dieGleichnisse der synoptischen Evangelien), - aber in den Augendes Evangelisten wurde das Gestein zu Glas; nicht die bruta factaals solche bewegen sein Herz, sondern ihr gttlicher Grund, derLogos Gottes, der sich in ihnen ausspricht. Transparenz bedeutet,da durch eine Ebene eins eine Ebene zwei durchscheint. In derneueren Forschung sehen wir Trends, die in diese Richtung wei-sen.

    1.3.1. Die Verfasserfrage.Ich mchte das Johannesevangelium auf der Grundlage von 21,24 verstehen. Dort wird der Lieblingsjnger von seiner Gemeinde - denn ein pluralis majestatis ist unwahr-scheinlich - als Garant der Traditionen und Verfasser des Evan-geliums bezeugt12, welches sie unter der berschrift "Evangeli-

    chen Urteil gelangt O. Cullmann: "die stumme Voraussetzung dieses Evange-liums ist, da das historische Geschehen, wie es hier dargestellt ist, in sichselber auer dem mit den Sinnen Wahrnehmbaren den Hinweis auf weitereHeilstatsachen enthlt, mit denen jene einmaligen Grundtatsachen verbun-den sind." (O. Cullmann, Urchristentum und Gottesdienst, 1962, 55). L.Morris kommt im Kapitel "History and Theology" seines Kommentars zu demSchlu: "From all this it appears that we ought not to think of John as a wri-ter who is not at all interested in history. He is certainly a theologian, but he

    has a reverence for the facts. There is no real reason for thinking that hecomposed edifying stories and discourses that had theological meaning butbore little relationship to what actually happened." (The Gospel according to John, 1995, 40).

    11 E. Ksemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, 1980, 12.12 Da dieses Verstndnis das naheliegenste ist, wird auch von Forschern

    besttigt, die dessen inhaltliche Richtigkeit im brigen verneinen. So schreibtW. Schmithals: "In Joh 21,24 heit es unmiverstndlich, da das JohEv von einem Augenzeugen verfat worden sei." (Johannesevangelium und Jo-hannesbriefe, 1992, 16). Einwnde gegen die Richtigkeit knnen aus dem

    Nachtragscharakter von Joh 21,24f bzw. des gesamten 21. Kapitels abgelei-

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    um nach Johannes" hernach verffentlichte und in Umlauf brach-te. Ein wirklich zwingend gegen diese Ansicht sprechendes Fak-tum ist mir nicht begegnet. Es scheint eher so zu sein, da sichdie Richtigkeit von 21,24 weder beweisen noch widerlegen lt.Die zumindest in der deutschsprachigen Forschung13 vorherr-schende Abneigung gegen den (anonymen) Lieblingsjnger als

    tet werden. Auerdem fehlt es nicht an Versuchen, Joh 21,24 anders zu verstehen. So gibt es den Vorschlaggrapsas kausativ zu verstehen (= er hataufschreiben lassen). Danach wre der Lieblingsjnger nicht der Autor, son-dern lediglich der Gewhrsmann. R. Schnackenburg spricht von einer "ge-

    wissen Tendenz", "da die Redaktion das Ev unter die Autoritt jenes Jn-gers stellen will" und vergleicht diese Zuweisungsart mit der Zuweisung derDeuteropaulinen an Paulus (Das Johannesevangelium, HThK III, 454). W.G. Kmmel behauptet eine Fehlidentifizierung des Evangelisten mit dem"Jnger" durch die Redaktion, die die auf Augenzeugenschaft bezogenenStellen in Joh 1-20 falsch interpretiere (Einleitung in das Neue Testament,1983, 201). Treffend scheint mir jedoch das Urteil von Th. Zahn: "Fr dieStreichung dieses Verses 21,24 ist bis heute nur der illegitime Wunsch, ihnloszuwerden, als Grund geltend gemacht worden." (RE IX (1901) 280). Me-thodisch scheint es mir richtiger zu sein, das Zeugnis der johanneischenGemeinde anzuerkennen und zunchst alle Mglichkeiten zu erkunden, diezahlreichen Probleme des vierten Evangeliums auf dieser Grundlage zu l-sen. Die direkte oder indirekte Zurckfhrung des Evangeliums nach Jo-hannes auf einen Augenzeugen ist jedenfalls nach wie vor eine mglicheund gut begrndbare Option: "My conclusion is that there is good evidencethat the testimony of an eyewitness underlies the Fourth Gospel. As far as Iam able I have seriously considered the objections raised. It is clear that thereare difficulties, whichever view we finally adopt. But the balance seems clear-ly in favor of the eyewitness." (L. Morris, Studies in the Fourth Gospel, 1969,213f).

    13 Die Situation in Grobritannien und Amerika beschreibt L. Morris so: "Conti-nental scholars have for the most part long since abandoned the idea thatthis Gospel was written by the Apostle John, whereas in Great Britain andAmerika scholarship has been much more hospitable to the idea. Most Bri-tish and American scholars have traditionally thought either that John wrotethe Gospel or that he was closely associated with it in some way - for exam-ple, he may have been the witness behind it. In recent years there has beenquite a shift of opinion so that most British and American scholars, otherthan conservative evangelicals, would not now hold that the author was theApostle John. A large number would still maintain that his witness is behindthe Gospel, but opinion is now much more akin to that on the Continent."

    (The Gospel according to John, 1995, 4f).

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    Verfasser scheint mir in den aus dem 19. Jahrhundert geerbtenVoraussetzungen zu wurzeln. Da sich jedoch die Johannesfor-schung den oben angefhrten Stimmen zufolge in einer ArtSackgasse befindet, knnte eine Lsung des Problems darin be-stehen, mutig den Rckweg anzutreten, denn der einzige Auswegaus einer Sackgasse ist der Rckweg. Gleichwohl mu ich in derVerfasserfrage zu keiner eng umzirkelten Antwort kommen,denn mein Anliegen, die Transparenz des Geschichtlichen zuuntersuchen, lt sich so lange verfolgen, wie davon ausgegan-gen werden kann, da authentische Jesustraditionen wie auchimmer in das vierte Evangelium eingeflossen sind.

    Manche Exegeten werten 21,24 als "Selbstzeugnis des Evangeli-ums"14 ab. Um ein Selbstzeugnis handelt es sich jedoch nicht,denn der Lieblingsjnger stellt sich gerade nicht selbst das Zeug-nis aus, der Verfasser des Evangeliums zu sein. Diese Beobach-tung ist mit den Worten Jesu in 5,31; 8,13.17 in Verbindung zubringen, wonach Selbstzeugnisse keine Gltigkeit beanspruchenknnen. Der Lieblingsjnger widerspricht demnach nicht seinem

    Herrn; stattdessen bezeugt seine Gemeinde diesen Jnger alsVerfasser. 21,24 ist also ein Fremdzeugnis, und als solches solles den Geltungsanspruch der Aussage erhhen.

    Der Lieblingsjnger wird im Johannesevangelium nie mit Namengenannt. Die Identifikation mit dem Zebedaiden Johannes bleibtzwar mglich (siehe 21,2 und die redaktionelle berschrift), istaber aus dem Evangelium selbst nicht ableitbar und berhauptist das Identifikationsproblem nicht das des Johannesevangeli-ums. Sicher scheint mir nur zu sein, da der Lieblingsjnger imHorizont des Evangeliums nicht eine symbolische Idealgestalt15,

    14 So zum Beispiel W. Schmithals, Johannesevangelium und Johannesbriefe:Forschungsgeschichte und Analyse, 1992, 16; E. Lohse, Die Entstehungdes Neuen Testaments, 1979, 111. Nach dieser Sichtweise ist freilich jedesZeugnis ein Selbstzeugnis.

    15 Fr den Lieblingsjnger als eine fiktive Gestalt haben vor allem zwei Exege-

    ten argumentiert. Nach Bultmann verstehe ihn der Evangelist als Symbol fr

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    sondern tatschlich eine geschichtliche Person ist. Dafr spre-chen vier Beobachtungen. Erstens: die Sterblichkeit des Jngers(21,20-23). Zweitens: das Verfasserzeugnis der johanneischenGemeinde (21,24). Drittens: das Verhltnis des Lieblingsjngerszum sicherlich nicht rein symbolisch verstandenen Petrus.16 Viertens: Die Idealisierung des Geschichtlichen ist ein durchge-hendes Kennzeichen des vierten Evangeliums und spricht folg-lich nicht gegen die Historizitt der Personen. Denn auch derirdische Jesus, dessen Existenz niemand bestreiten wird, wird im Johannesevangeliums idealisiert, das heit im Sinne der hohenChristologie profiliert.

    Die Forschung favorisiert gegenwrtig die an sich nicht neueThese, das vierte Evangelium, wie berhaupt die johanneischeLiteratur, entstamme einer Schule17. Da es johanneische Ge-meinden (ein johanneisch geprgtes Christentum) gab, ist einegut begrndete Annahme; man beachte nur das "Wir" dieser Ge-meinden in 1,14; 21,24 und die Tatsache, da Briefe aus-getauscht wurden18. Die Vorteile dieses Modells bestehen meines

    Erachtens darin, da man mit eigenen Jesustraditionen rechnenkann, die auf den Lieblingsjnger als den Grnder der johannei-schen Schule zurckgehen, und das vierte Evangelium zugleichals Ergebnis eines Interpretationsprozesses betrachten kann.

    das Heidenchristentum. Nach Kragerud ist er eine Symbolfigur fr urchrist-lichen Prophetismus im Gegensatz zu Petrus, der das Gemeindeamt vertritt.Weitere Vertreter nennt W. G. Kmmel, Einleitung in das NT, 1980, 203.

    16J. Becker schreibt: "Da Petrus sicherlich im Joh nicht rein symbolisch ver-standen werden kann, kann auch die ihm zugeordnete Gestalt von L nichtSymbol allein sein." (Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 11-21, 1984,436).

    17 Grundlegend ist R. A. Culpepper, The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools (SBL.DS 26), 1975.

    18 Eine bersichtliche Zusammenstellung der "Kriterien fr die Existenz einer johanneischen Schule" bietet U. Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium: Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeli-

    ums in der johanneischen Schule, 1987, 53-59.

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    Man kann also die oben genannte Spannung zwischen Theologieund Geschichte aushalten und bewltigen.

    Auerdem werden die stilkritischen Untersuchungen berck-sichtigt, wie sie von Eduard Schweizer schon 1939, von EugenRuckstuhl 1951 und zusammen mit seinem Schler PeterDschulnigg noch einmal 1991 vorgelegt wurden. Aufgrund die-ses inzwischen sehr verfeinerten Verfahrens stellen Ruck-stuhl / Dschulnigg fest: "Alle Ergebnisse unserer bisherigen Un-tersuchung weisen auf einen einzigen die Sprache des viertenEv. gestaltenden und prgenden Verfasser hin. Der Schlu auf

    diesen einzigen Urheber und Gestalter unseres Ev. und seinerSprache ist die wahrscheinlichste und naheliegendste aller mg-lichen Annahmen."19 Dieses Ergebnis wird modifiziert im Sinneeines Soziolekts (Gruppensprache) aufgegriffen20. Die neuere

    19 E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannes-evangelium: die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund desNeuen Testaments und des zeitgenssischen hellenistischen Schrifttums,1991, 248. hnlich uert sich im Blick auf alle Evangelien Dirk Fricken-schmidt: "Der heutige Stand der Forschung lt deshalb nichts wahrschein-licher erscheinen, als da es sich bei den Evangelien um Schriften handelt,die von je einem frhchristlichen Autor im Vollsinn des Wortes verfat wur-den, auch wenn viele Exegeten vor diesem inzwischen ungewohnten Gedan-ken immer noch zurckschrecken mgen." (D. Frickenschmidt, Evangeliumals Biographie, 1997, 25).

    20 Diesen Erklrungsversuch schlieen Ruckstuhl / Dschulnigg jedoch aus:"Da unser Joh und alle 3 Johbr. von demselben Verfasser stammen, ist vomStandpunkt ihrer gemeinsamen Theologie wie ihrer gemeinsamen Spracheder gegenteiligen Annahme verschiedener Verfasser vorzuziehen. Die letzte-re kommt auch ohne die zustzliche Annahme einer joh. Schule, aus der die verschiedenen joh. Schriften hervorgegangen wren, nicht aus. Diese Ver-mutung knnte zwar deren gemeinsamen Vorstellungshintergrund und dieGemeinsamkeit ihrer grundlegenden theologischen Aussagen verstndlichmachen. Sie ist aber auerstande, die Gemeinsamkeiten ihrer Sprache undihres Stils bis in kleinste Einzelheiten und Nebenschlichkeiten zu erklren.Eine solche durchgeformte Schulsprache gibt es unseres Wissens in derganzen Antike nirgends." (E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik undVerfasserfrage im Johannesevangelium: die johanneischen Sprachmerkmaleauf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenssischen hel-

    lenistischen Schrifttums, 1991, 246). Vgl. auch E. Ruckstuhl, Zur Antithe-

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    Das Gesicht des Unsichtbaren

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    Forschung geht also in gewisser Hinsicht wieder von einer ein-heitlichen Verfasserpersnlichkeit aus, die allerdings nicht indi- vidueller (Lieblingsjnger), sondern kollektiver Natur (johannei-sche Schule) sei. Der Schritt zueinem(individuellen) Verfasserfllt der Forschung nach wie vor schwer21. Martin Hengel weist jedoch angesichts des "enge(n) chronologische(n) Spielraum(s)"22 auf die Mglichkeit hin, da der Lieblingsjnger sein eigenerRedaktor gewesen sein knnte: "Ist nicht der Autor, wenn er seinWerk nicht gerade in einem Zuge niederschreibt, sondern - viel-leicht mehrfach - berarbeitet, vor allem anderen sein eigenerRedaktor?"23

    1.3.2. Der alttestamentlich-jdische Hintergrund.Nachdem dasTreibgut des vierten Evangeliums religionsgeschichtlich sogarmit der Gnosis in Verbindung gebracht worden ist24 (die sich

    se Ideolekt - Soziolekt im johanneischen Schrifttum: SNTU 12, 1987, 141 -181. Wenn man fr das Johannesevangelium und alle drei Johannesbriefedenselben Verfasser annimmt, dann liegt der Schlu nahe, da der Lieblings-

    jnger und der im 2. und 3. Johannesbrief sprechende Presbyter identischsind.21 M. Hengel: "Man wagt es derzeit hufig auch kaum mehr, von einem wirk-

    lichen Autor des Evangeliums zu reden, sondern bemht sich eher um eineVielzahl von Redaktoren und Quellenautoren." (Die johanneische Frage,1993, 9).

    22 M. Hengel, Die johanneische Frage, 1993, 236ff.23 M. Hengel, a.a.O., 245.24 Schon in der alten Kirche wurde darber gestritten, ob das Johannesevange-

    lium gnostisch oder antignostisch zu verstehen sei. Aus neuerer Zeit sei auf den Dissens zwischen Bultmann und seinem Schler Ksemann hingewie-sen. Hatte Bultmann auf religionsgeschichtlicher Basis das Johannes-evangelium antignostisch interpretiert, so entdeckte Ksemann darin einen"naiven Doketismus" und rckte es wieder in die Nhe zur Gnosis. Radikalerals Ksemann hat L. Schottroff geurteilt: "Der gnostische Dualismus be-stimmt den johanneischen Entwurf der Christologie und der Soteriologie vl-lig. Johannes ist das erste uns ausfhrlicher bekannte System einer Gnosis,die sich christliche Traditionen adaptiert. Mit dem Johannesevangelium istdie gnostische Heilslehre in den Kanon gelangt." (Der Glaubende und diefeindliche Welt, 1970, 295). Fr H. -M. Schenke und K. M. Fischer stellt

    "das Vierte Evangelium ein Produkt christlicher Gnosis" (188) dar. Das Gno-

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    allerdings erst im 2. Jahrhundert sicher fassen lt), mehren sichdie Stimmen, die einen alttestamentlich-jdischen Hintergrundannehmen25. Immerhin ist das Alte Testament die einzige Quelle,die Johannes mit Sicherheit zitiert. Die johanneische Denkwelt,in der sich Glaube und Erkenntnis (Gnosis) wechselseitig durch-dringen und befruchten, ist grundstzlich vor diesem Hintergrundzu erklren, der freilich durch das Christusverstndnis des vier-ten Evangelisten die eigentmlich johanneische Vertiefung oderSpiritualisierung erfahren hat.

    1.3.3. Die Endgestalt des Johannesevangeliums als Gegenstand der

    Interpretation.Das vierte Evangelium ist eine Sammlung vonBruchstcken (oder ausgewhlten Traditionen), - die aber nichts-destoweniger ein Ganzes bilden, vergleichbar den Steinchen ei-nes Mosaiks, die zwar nicht fugenlos zusammenpassen, den-noch aber nicht als Steinchen, sondern als Mosaik betrachtetwerden wollen.

    Friedrich Schleiermacher meinte noch, das Johannesevangeliumsei "aus einem Gu"26. Und David Friedrich Strau erblickte inihm den "ungenhte[n] Leibrock, von dem es uns erzhlt [siehe

    stische dieses Evangeliums gehrt ihrer Meinung nach nicht zum Entste-hungsprozess der Gnosis, "sondern ist der Stumpf einer voll entwickeltenGnosis, der man, um sie in einen christlichen Rahmen zu spannen, Wurzelnund ste abgeschlagen hat. Das ist bekanntlich am deutlichsten daran zusehen, da Jesus im Vierten Evangelium immer wieder verspricht, zu offen-baren, was er beim Vater gesehen und gehrt hat, ohne dies Versprechen jemals zu erfllen." (188f). Zum Verfasser erklren Schenke / Fischer "ei-

    nen prominenten christlichen Gnostiker" (193). (H.-M. Schenke, K. M. Fi-scher, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments II, Die Evangelienund die anderen neutestamentlichen Schriften, 1979).

    25 "Nach dem khnen und konsequenten Vorsto Odebergs in seinem leiderfragmentarisch gebliebenen Kommentar (1929) haben in jngerer Zeit For-scher wie Meeks, Borgen, de Jonge, Barrett, de la Potterie, Olsson, Harvey,Pancaro, Martyn, Nicol, Charlesworth, Miranda, Bhner u. a. vor dem altte-stamentlich-jdischen Hintergrund des Evangeliums ganz wesentliche In-terpretationsfortschritte erzielt" (H. Thyen in: TRE 17 (1988) 220).

    26 F. Schleiermacher, Das Leben Jesu, 1864. Zitiert nach: A. Schweitzer, Ge-

    schichte der Leben Jesu Forschung, 1933, 67.

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    19,23f], um den man wohl loosen, ihn aber nicht zertrennenkann"27. Dieser Ansicht widersprachen vehement die Literarkri-tiker des 20. Jahrhunderts, allen voran Julius Wellhausen undEduard Schwartz. Sie zerlegten das Evangelium zuversichtlich inGrund- und Quellenschriften. Inzwischen ist die Forschung vor-sichtiger geworden28. Zwar ist der Einschtzung von HartwigThyen zuzustimmen, wonach das Evangelium trotz der "minutisbeschriebenen Einheit der johanneischen Sprache und Gedan-kenwelt" "gleichwohl nicht aus einem Gu" zu sein scheint29.Aber ebenso der Warnung von Eugen Ruckstuhl und PeterDschulnigg: "Dennoch sollte man auf eine literarkritische Re-konstruktion mglicher Vorgaben besser verzichten, sie ist ange-sichts der sprachlich bestimmenden und einschmelzenden Kraft

    27 D. F. Strauss, U. von Hutten, 1860, XLIV; in: W. Schmithals, Johannesevan-gelium und Johannesbriefe, 1992, 92.

    28 Das gilt nicht nur hinsichtlich der literarkritischen Ergebnisse, sondern auchhinsichtlich der literarkritischen Methode. U. Schnelle: "Das Problem dieseran einer extensiven Literarkritik orientierten Zugnge zum 4. Evangeliumliegt in der Plausibilitt ihrer Voraussetzungen und der Logik ihrer Argumen-tation. Weder einzelne Quellenschriften (z. B. die sog. 'Semeia-Quelle') nocheine durchgehende 'Grundschrift' oder ein 'Grundevangelium' lassen sichmethodisch exakt rekonstruieren. Da es keine Parallelberlieferungen gibt,mssen ausschlielich werkimmanente Anhaltspunkte herangezogen wer-den. Sprachliche oder theologische Eigentmlichkeiten angeblicher 'Quellen'lassen sich aber nicht berzeugend herausarbeiten, wodurch die subjektiveEinschtzung des Exegeten ein methodisch nicht mehr kontrollierbares Ge-wicht bekommt. Die Annahme sekundrer berarbeitungsschichten beruht

    ebenfalls auf Vorentscheidungen der Exegeten, die jeweils bestimmen, wasals vereinbar oder widersprchlich zu gelten hat und wo Redaktoren amWerk waren. Diese methodologischen Insuffizienzen extensiver Literarkritiklegen es nahe, den Weg redaktions- und traditionsgeschichtlicher Analysenzur Entschlsselung der joh. Frage einzuschlagen. Auszugehen ist dabei vonder Erkenntnis, da die vorliegende literarische und theologische Gestalt des Johannesevangeliums nicht das Resultat mehr oder weniger verunglckterRedaktions- und Kombinationsarbeit ist, sondern unmittelbarer Ausdruckeines imposanten theologischen Aussage- und Gestaltungswillens." (U.Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 1994, 582f).

    29TRE 17 (1988) 203.

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    des Verfassers viel zu unsicher"30.

    Ich schliee mich grundstzlich der Forderung jener Forscher

    an, die zunchst alle Mglichkeiten ausschpfen wollen, dieEndgestalt des Johannesevangeliums zu verstehen. Zu ihnengehrt Hartwig Thyen; er will am "Postulat der Kohrenz" festhal-ten und verlangt dementsprechend: "Die Interpretation des Jo-hannesevangeliums mu auf der Ebene der Synchronie vonseinem berlieferten Text ausgehen."31 Das Johannesevangeli-ums ist kein zuflliges Resultat blinder Wachstumsprozesse (vgl.Thyen, TRE 17, 211); es ist keinem Tell (Erdhgel aus dem Alter-

    tum) vergleichbar, an dessen Entstehung viele Hnde (Generatio-nen) mitgearbeitet haben und dessen Endgestalt niemand beab-sichtigt hat.

    Die mitunter nicht nahtlosen bergnge zwischen den Traditi-onsstcken des Johannesevangeliums sind mit dem Auswahl-charakter in Verbindung zu bringen, der nicht nur in der Makro-,sondern auch in der Mikrostruktur des Evangeliums zu beobach-ten ist32 und auf den es an entscheidender Stelle (20,30; 21,25)

    30 E. Ruckstuhl, P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannes-evangelium, 1991, 19.

    31 TRE 17 (1988) 211. R. Schnackenburg: "Wie die linguistisch-semiotischeArbeitsweise zeigt, sind noch lngst nicht alle Mglichkeiten erschpft, dieliterarische Gestalt des Joh-Ev schrfer zu erkennen. Von dieser Methodeknnen wir lernen, zunchst die literarische Ebene fr sich zu betrachten(synchronisch); die Frage der Entstehung des Werkes (diachronische Blick-weise) darf nicht zu schnell eingebracht werden, um fragwrdige Modelle fr

    den literarischen Werdeproze zu vermeiden." (R. Schnackenburg, Das Jo-hannesevangelium 4. Teil, 1984, 30). Ruckstuhl / Dschnulnigg: "Linguistikund Literaturwissenschaft haben seit geraumer Zeit die Voraussetzungen li-terarkritischer Arbeit in Frage gestellt. Bevor ein Text aufgrund von Span-nungen und Widersprchen diachron in eine Entstehungsgeschichte aufge-lst werden kann, ist synchron nach seiner formalen Gestalt zu fragen unddiese zu erkennen." (E. Ruckstuhl und P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfas-serfrage im Johannesevangelium, 1991, 16f).

    32 Diejenigen Exegeten, die heute noch literarkritisch arbeiten, beschrnkensich meist auf einige wenige Phnomene (siehe J. Becker); damit werden sie

    jedoch der durchgehend brchigen Natur des Textes auch nicht gerecht.

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    selbst hinweist. Im Evangelium sind allenthalben Lcken zuentdecken; wie ein gestutzter Baum steht es vor uns. Dennoch istes ein Ganzes, dessen Stamm die Christologie und dessen Fruchtdas Leben (die Soteriologie) ist (siehe 20,31). Ferner sind vor-sterliche Traditionen im Lichte der Auferstehung vertieft wor-den; der Stoff ist einer Osterrelecture unterzogen worden (deut-lich beispielsweise in 2,22 erkennbar). Aber diese redaktionelleVerdichtung und Durchdringung des briggebliebenen Stoffessteht ganz im Dienste einer groartigen Verwesentlichung desChristusglaubens. Die Brchigkeit des Textes und die zahlrei-chen "Historische[n] Elemente im vierten Evangelium"33, sindgewissermaen die vorsterliche Erde, die dem johanneischenMeisterwerk noch anhaftet, doch die Freilegung der Herrlichkeitdes Gesandten, das Credo der johanneischen Gemeinde: "wirsahen seine Herrlichkeit" (1,14), berstrahlt alles.

    1.3.4. Zur Transparenz der johanneischen Sprache (berleitung zu Punkt 2).In der jngeren Literaturwissenschaft und der Philoso-phie ist eine Rehabilitierung der Metaphorik im Gange, von der

    die Exegese nur profitieren kann.34

    Da das symbolische Potentialdes vierten Evangeliums im Zentrum meiner Betrachtungensteht, verlasse ich an dieser Stelle die Vorberlegungen zur ge- 33 E. Stauffer, Historische Elemente im vierten Evangelium, in: Bekenntnis zur

    Kirche: Festgabe fr E. Sommerlath, 1960, 33 - 51. Ders., Neue Wege der Jesusforschung, in: Gottes ist der Orient. Festschrift O. Eifeldt, 1959, 161- 186. Ders., Probleme der Priestertradition, TheolLitZ 1956, 136 - 150. K.Kundsin, Topologische berlieferungsstoffe im Johannesevangelium,

    FRLANT 39, 1925. R. D. Potter, Topography and Archaeology in the FourthGospel, Studia Evangelica I, TU 73, 1959, 329 - 337. C. H. Dodd, HistoricalTradition in the Fourth Gospel, 1963. Gerhard Kroll, Auf den Spuren Jesu,1990. J. A. T. Robinson, Wann entstand das Neue Testament?, 1986, 265 -322. Ders., Johannes - Das Evangelium der Ursprnge, 1999. Hier ist auchweitere englischsprachige Literatur zu finden: ebd., 56, Anmerkung 84.

    34 Vgl. O. Schwankl: "Wenn sich gegenwrtig, namentlich in Philosophie undSprachtheorie, eine 'Rehabilitierung der Metaphorik' anbahnt, erffnen sichdamit auch der Exegese neue Bahnen." (Die Metaphorik von Licht und Fin-sternis im johanneischen Schrifttum, in: K. Kertelge, Metaphorik und My-

    thos im Neuen Testament, 1990, 135).

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    schichtlichen Einordnung und wende mich der Transparenz der johanneischen Sprache zu. Dieser Begriff kann jedoch nur dannsinnvoll verwendet werden, wenn zuvor der Gegenstand jenerLektre bestimmt worden ist, die willens ist, den im Auensinndurchtnenden Innensinn wahrzunehmen, - und dieser Gegen-stand ist die Endgestalt des Evangeliums (siehe 1.3.3.), in derausgewhlte Jesustraditionen (siehe 1.3.1., 1.3.2.) so sinnvertie-fend dargeboten werden, da in ihnen sogar der uranfnglicheLogos aufscheint. Um dieser unter dem Stichwort "Transparenz"zusammengefaten Grundberzeugung willen, waren die Vor-berlegungen notwendig, die gleichwohl nur eine Skizze seinkonnten. Da man sehenden Auges an der Gottesherrlichkeit Jesu beharrlich vorbeischauen kann, stellt der Evangelist selbstin seinem Schluurteil (12,37-43) fest. Daher schrieb er im Ge-genzug fr seine Gemeinde das Zeugnis des Geliebten, der imFaktischen - genau dort - den intimen Sinn pochern hrte unddaher fhig war, diesem Evangelium den Herzton Jesu einzuver-leiben.

    2. Zur Transparenz der johanneischen Sprache2.1. Beispiel Kreuzigung - Was sieht das johanneische Auge? 2.2. Die symbo- lische Lektre nach Paul Ricoeur und Jean Zumstein. 2.3. Die Transparenz des johanneischen Jesus und ihr Fortwirken in der Transparenz der johann- eischen Sprache. 2.4. Der johanneische Dualismus. 2.5. Die Elemente desimpliziten Kommentars (Culpepper). 2.5.1. Miverstndnis. 2.5.2. Ironie.2.5.3. Symbolik. 2.6. Die Zeichen oder die Transparenz der Wunder.

    2.1. Beispiel Kreuzigung - Was sieht das johanneische Auge?DieKreuzigung gehrt zu den gesicherten Fakten der Biographie desirdischen Jesus. Der Mann aus Nazareth wurde wirklich gekreu-zigt, niemand zweifelt daran35. Daher soll diese Hinrichtung ein-

    35 Vgl. H. Conzelmann: "Der Umfang dessen, was wir als sicheren Tatbestand

    feststellen knnen, ist minimal. Das gesicherte Kern-Faktum ist, da Jesusgekreuzigt wurde Alles brige am Ablauf der Ereignisse ist strittig." (Histo-rie und Theologie in den synoptischen Passionsberichten, in: ders., Theologie

    als Schriftauslegung, 1974, 74f).

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    leitend den Umgang des Evangelisten mit dem Faktischen illu-strieren. Denn interessant ist, was das johanneische Auge indieser sinnenflligen, geschichtlichen Tatsache erblickte. DenAspekt der Erhhung! Jedermann konnte sehen, da Jesus mitdem Querbalken in die Hhe gehoben wurde. Aber nur dem Lieb-lingsjnger wurde dieser Gesichtspunkt der Kreuzigung bedeut-sam und damit die Historie transparent. Hier wird deutlich, wieaus Geschichte johanneische Theologie entspringt, wie das Einemit dem Anderen verbunden und doch durch einen qualitativenSprung der Wahrnehmung getrennt ist.36 Wo Kreuzigung alsErhhung gesehen wird, erscheinen andere Bezugssysteme,nmlich der Dualismus, die Aufnahme Jesu in den Raum desGttlichen (Verherrlichung) und die Aufrichtung seines Knig-tums (Gottesherrschaft). Die Andersartigkeit des vierten Evange-liums ist also kein Indiz fr die Entfernung vom historischenGeschehen. Diese Kategorie verfehlt das Proprium des Johannes-evangeliums. Nicht um Entfernung geht es, sondern um Vertie-fung. Auch der vierte Evangelist verarbeitet authentische Jesus-traditionen, doch sein Interesse gilt nicht so sehr dem Irdischen,sondern dem Himmlischen, das in den Facetten seines Evangeli-

    36 Ebenfalls am Beispiel des Kreuzes beschreibt R. Schnackenburg die Eigenart

    der johanneischen Sichtweise so: " die joh. 'Sehweise', hier die Neigung,aus dem Kreuzigungsvorgang als 'Erhhung' ein Symbol zu machen, offen-bart ein Denken, das fr das 'Hintergrndige' des ueren Geschehens ge-ffnet ist. Die Worte werden bewut gewhlt und gewinnen einen tieferenKlang." (Das Johannesevangelium, 2. Teil, 1971, 500). Auch J. Blank weistauf den Ausgangspunkt der johanneischen Theologie im Konkret-Sinnlichen hin: "Das Aufrichten des Kreuzesgalgens ist integrierender Be-standteil des Erhhungsvorgangs, man mu sich die Sache genauso kon-kret-sinnlich vorstellen. Zugleich ist dies Einsetzung Jesu zum endzeitlichenmessianischen Herrscher, in der Herrlichkeit Gottes." (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 254). Das Besondere der johanneischen Theologiebesteht darin, da sie nicht vor dem Gebude der Geschichte stehen bleibt,sondern in das Innere und Innerste der erinnerten Geschichte eindringenwill. Damit entfernt sie sich jedoch nicht von diesem Gebude, - sondern be-findet sich einfach nur im Inneren desselben. Da dabei allerdings die Fassa-

    de aus dem Blickfeld verschwindet, liegt leider in der Natur des Vorgangs.

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    ums funkelt wie Licht in einem Diamanten. Um dieses Lichtfeu-ers willen wurde der Rohstein geschliffen, wobei eckige, klar ab-grenzbare Flchen entstanden (Bruchstellen). Doch sie werdenmich nicht beschftigen, denn mich fasziniert das Spiel mit demLicht. Zuvor jedoch eine methodische Besinnung, denn den Boden(den Text) unter den Fen will ich bei diesem exegetischenSpiel selbstverstndlich nicht verlieren.

    2.2. Die symbolische Lektre nach Paul Ricoeur und Jean Zum- stein. Da im Johannesevangelium zwei Sinnschichten zu beo-bachten sind, wird in neuerer Zeit unter anderem von Forschern

    gesehen, die der narrativen Analyse zuneigen.37 So ist Jean Zum-stein der Auffassung, "dass sich der aufmerksame Leser nichtbeim unmittelbaren Textsinn aufhalten soll, sondern dazu aufge-fordert ist, den zweiten Sinn des Textes zu entdecken."38 Zu be-achten sei "das symbolische Potential des Textes"39 und "diesymbolische Sprache , die das ganze Evangelium durchziehen

    37 Es gibt aber auch Stimmen auerhalb der narrativen Theologie. O. Cullmann:"Das Johannesevangelium weist uns an so zahlreichen Stellen auf dieNotwendigkeit eines Doppelverstndnisses hin, da es nicht nur Recht,sondern Pflicht des Exegeten ist, dieser Absicht des Verfassers auch dortnachzugehen, wo sie nicht direkt ausgesprochen, sondern nur angedeutetist." (K. Frhlich (Hg.); O. Cullmann: Vortrge und Aufstze 1925 - 1962;1966, 177). Ein solches "Doppelverstndnis" ist "geradezu johanneischeAbsicht" und gehrt "zum Programm dieses Evangelisten" (O. Cullmann; Ur-christentum und Gottesdienst; 1962, 49f). K. Berger: "Die irdische, alltgli-

    che Realitt wird immer wieder berschritten in Richtung auf den wichtige-ren Teil der Wirklichkeit, der unsichtbar ist. Damit wird allerdings die alltgli-che Realitt nicht beseitigt oder ganz unwichtig. Sie erhlt vielmehr den Cha-rakter einer Bildwirklichkeit, die man allerdings richtig verstehen mu, umdas darin abgebildete Unsichtbare wirklich zu treffen." (K. Berger, Theologie-geschichte des Urchristentums, 1995, 717). Die vielfach gemachte Beob-achtung von zwei Sinnschichten ist natrlich nur eine grundstzliche undsehr allgemeine. Wenn man sie exegetisch fruchtbar machen will, dann musie mit zustzlichen Annahmen angereichert werden.

    38 J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 158.39

    J. Zumstein, a.a.O., 168.

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    wird"40.

    Das philosophische Rckgrat dieser Sichtweise ist Paul Ricoeurs

    Definition des Symbols. Es ist nach Ricoeur, "dort vorhanden, wodie Sprache Zeichen verschiedenen Grades produziert, in denender Sinn sich nicht damit begngt, etwas zu bezeichnen, sonderneinen anderen Sinn bezeichnet, der nur in und mittels seinerAusrichtung zu erreichen ist."41 "Ich mchte sagen, da es dortSymbole gibt, wo der linguistische Ausdruck aufgrund seinesDoppelsinns oder seines vielfachen Sinns zu einer Inter-pretationsarbeit Anla gibt. Diese Arbeit wird angeregt durch eine

    intentionale Struktur, die nicht im Verhltnis von Sinn und Sa-che besteht, sondern in einer Architektur des Sinns, in einemVerhltnis von Sinn und Sinn, von zweitem und ersten Sinn, obes sich nun um ein Analogieverhltnis handelt oder nicht, ob dererste Sinn den zweiten verschleiert oder enthllt."42 Der "analo-gische Sinn, der existentielle Sinn" ist "nur innerhalb und mittelsdes wrtlichen Sinns gegeben"43.

    Dieses Symbolverstndnis wertet Jean Zumstein in vierfacherWeise aus. Ich schliee mich diesen Forderungen und Hinwei-sen an und fasse sie deswegen an dieser Stelle teils zitierend,teils mit eigenen Worten zusammen. 1. "Zum ersten gilt, dasssich der zweite Sinn nur durch den ersten Sinn entdecken lt;er ist im und durch den ersten Sinn intendiert."44 Der erste Sinnterminiert den zweiten und bietet bei sorgfltiger Lektre zu-gleich gengend Anlsse, den zweiten Sinn in den Strukturendes ersten zu entdecken. 2. Bei der Suche nach dem zweitenSinn ist der nhere und der weitere Kontext zu bercksichtigen.

    40 J. Zumstein, a.a.O., 92.41 P. Ricoeur, Die Interpretation: Ein Versuch ber Freud, 1969, 29.42 P. Ricoeur, a.a.O., 30.43 P. Ricoeur, a.a.O., 54.44

    J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 159.

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    Das ist "das sinnvoll durchgefhrte Spiel der Intertextualitt"45. 3.Der zweite Sinn ist immer auch eine Schpfung des Interpreten.Da der erste Sinn die Exegese terminiert, erffnet er zugleicheinen Raum, den Interpretationsspielraum. In diese umgrenzteFreiheit wird der Interpret sich selbst im Sinne Hans Georg Ga-damers einbringen, nach ihm "gehrt" der Leser notwendig "mitzu dem Text, den er versteht". Den Leser, der "einfach liest, wasdasteht", gibt es nicht46. 4. Das Johannesevangeliums setzt eineLeserschaft voraus, "die mit dem Erzhler vertraut ist, dessenIntention kennt seine Anspielungen wahrnimmt und die Einzel-heiten der Erzhlung in deren Beziehung zur Gesamterzhlung

    45 J. Zumstein, a.a.O., 159.46 H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1975, 323. H. Thyen schreibt in

    diesem Sinne: "Ein literarisches Werk ist nicht von der Art einer mathemati-schen Gleichung, die nur richtige und falsche Lsungen zult." Texte "sindwie eine Partitur, die eine unabsehbare Flle mglicher Realisierungen er-laubt. Texte sind also die Klassealler ihrer Interpretationen. Es gibt freilich

    auch unmgliche, nmlich durch historische Enzyklopdie, Grammatik oderLexikon ausschliebare Deutungen. Nach der Partitur von BeethovensNeunter kann Schuberts Unvollendeteunmglichgespielt werden. Es gibtalso mgliche und unter ihnen mehr oder weniger plausible, sowieunmgli- che Deutungen literarischer Werke. Aberdie richtigeInterpretation gibt esnicht nur vorlufig , sondern vielmehr prinzipiell berhaupt nicht. Kurz undgut, ich schlage vor, den Streit um dierichtigeAuslegung des Johannes-Evangeliums als gegenstandslos zu beenden, und es dafr als ein Buch zumLesen neu zu entdecken, als ein gutes, vielschichtiges und hochsymboli-sches Buch, mit dessen Lektre man nie zu Ende kommt, weil sie stndigneue Mglichkeiten erffnet." (Das Johannes-Evangelium als literarischesWerk, 113; in: D. Neuhaus (Hrsg.), Teufelskinder oder Heilbringer - die Judenim Johannes-Evangelium, 1993). hnlich uert sich J. Zumstein: "Zumdritten zeigt der Sachverhalt, dass der bergang vom ersten zum zweitenSinn erst intertextuell geschaffen wird, dass der symbolische Sinn weder ein-fach gegeben noch im voraus festgelegt ist. Er wird vielmehr angedeutet undmuss durch die Arbeit der Lektre erst konstruiert werden. Dies bedeutet,dass ein gewisser Interpretationsspielraum bestehen bleibt, je nachdem, wieschwach oder wie stark die symbolische Funktion entfaltet wird. Der exege-tische Anspruch sollte einzig darin bestehen, der Lektre eine bestimmteRichtung zu geben und ihre Grenzen zu markieren, nicht aber sie durch eine

    allzu strenge Hypothese zu blockieren." (Kreative Erinnerung, 1999, 160).

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    zu interpretieren weiss."47

    2.3. Die Transparenz des johanneischen Jesus und ihr Fortwirken

    in der Transparenz der johanneischen Sprache.Die Transparenzder johanneischen Sprache hat ihren Ursprung in der Transpa-renz des johanneischen Jesus. Am Ende des Prologs und somitan einer das gesamte Verstndnis des Evangeliums dominieren-den Stelle heit es: "Niemand hat Gott je gesehen; der einziggebo-rene Gott (aber), der im Schoe des Vaters ist, der hat (ihn uns)kundgetan." (1,18).Ex g sato (kundtun, darlegen usw.) ist dasSchluwort des Prologs und zugleich das Leitwort des anschlie-

    enden Evangeliums. In ihm tritt Jesus als die Exegese des un-sichtbaren Gottes auf; das fleischgewordene Wort legt seinenUrsprung aus.48 Damit ist grundstzlich die Transparenz des johanneischen Jesus ausgesagt; durch ihn scheint Gott hindurch.Wer ihn gesehen hat, der hat den Vater gesehen (14,9); wer ihngehrt hat, der hat den Vater gehrt (7,16; 12,49; 17,8); wer anihn glaubt, der glaubt an den Vater (12,44). Jesus tut die Werkedes Vaters (5,36; 14,10), und zwar die Werke des Vaters, "derin

    mir wohnt" (14,10). Jesus, der Sichtbare, vergegenwrtigt denUnsichtbaren. Das ist in nuce der hhere Sinninnerhalb derfaktischen Wirklichkeit Jesu, seiner Zeichen und Worte.

    Der Prolog zeugt vom Vorhaben, das Phnomen Jesus auf seinenabsoluten Anfang hin zu befragen. Die Frage nach der Herkunftist an sich kein Spezifikum des Johannesevangeliums. Das Mat-

    47 J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 160.48 Vgl. J. Blank: "Jesus selbst ist durch sein Reden und Handeln die 'Auslegung

    Gottes' in der Welt. An seiner Gestalt wird sichtbar, wer Gott ist. Er ist diegeglckte Interpretation Gottes, die bersetzung Gottes in den Bereich desMenschlichen." (Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 99). NachR. Schnackenburg schlgt 1,18 "eine Brcke vom Logoshymnus zur Ev-Darstellung." (256). "V 18 fhrt genau zu dem Punkt, bei dem das Ev mitseiner Botschaft einsetzen kann: der Offenbarungsttigkeit des inkarniertenLogos Der Prolog schliet mit einem Satz, der pointiert die alleinige ge-schichtliche (Aorist) Offenbarung durch den einzigen Gottesohn aussagt."

    (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 200).

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    thusevangelium berliefert diegenesis (Mt 1,1.18) Jesu in Ge-stalt einer Genealogie (1,1-17) und eines Kindheitsevangeliums(1,18-2,23). Das Lukasevangelium stellt sich dieser Frage in denDiptychen der Ankndigungen und Geburten von Johannes demTufer und Jesus (Lk 1-2). Und das Markusevangelium beginntmit arch (Mk 1,1) und erblickt diesen Anfang in den Gescheh-nissen vor der Verkndigung des Evangeliums (Mk 1,1-13).49 Das Besondere der johanneischen Suche nach dem Ursprungbesteht darin, da sich der vierte Evangelist nicht mit der Ge-schichte begngt, die dem ffentlichen Wirken Jesu vorangegan-gen ist, sondern durchdringender als die Synoptiker den Urgrunddes Jesusgeschehens vor aller Geschichte, vor der Schpfung derWelt (1,1-2), im Logos erblickt. An diesem Sprechen Gottes inter-essiert offenbar die schpferische Potenz (1,3); daher besteht dieTransparenz des johanneischen Jesus des nheren darin, da derin ihm anwesende Gott als Schpfer da ist, und zwar als Schp-fer des Lebens (daher 1,4) durch die neue Geburt (1,13; Joh 3). Jesus ist die Fortsetzung der Schpfung in der Sphre des Flei-sches.

    Die im Prolog angelegte Christologie zog ebenso unausweichlichihre Kreise auf der Oberflche (Sprachgestalt) des vierten Evan-geliums wie ein Stein, der ins Wasser fllt. Die Christologie warder Urknall, der den Kosmos des vierten Evangeliums erschuf und ihm seine zeichenhafte, seine logoshafte Qualitt einhauch-te. Der Dualismus zwischen sichtbar und unsichtbar in der Ge-stalt Jesu, wiederholt sich in seinen Worten und Taten darin, da

    im Sagbaren allenthalben etwas Unsagbares sprbar anwesendist.

    2.4. Der johanneische Dualismus.Zum Symbol gehrt die Vorstel-lung einer Zweiheit50. Paul Ricoeur sprach (siehe 2.2.) von einem

    49 Vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 94f.50 "The etymology of the word 'symbol' suggests its function.Symbolon is from

    symball, which means to 'put together'. By nature, and in John consistent-

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    ersten und einem zweiten Sinn. Zahlreiche weitere Versuche,diese Zweiheit zu benennen, existieren51. Im Raum des Johan-nesevangeliums ist die Transparenz des ersten Sinnes fr einenzweiten mit dem johanneischen Dualismus in Verbindung zubringen, der eine hermeneutische Konsequenz hat.

    Zunchst ist festzuhalten, da es zwei Bereiche gibt. Jesus ist von oben (an ), seine Gegner sind von unten (kat 8,23). Es gibtdas Irdische (ta epigeia ) und das Himmlische (ta epourania 3,12)."Wer von oben (an then ) her kommt, der ist ber allem; wer vonder Erde ist, ist von der Erdeund redet von der Erde her.Wer vom

    Himmel kommt, der ist ber allem." (3,31). Hier ist "oben" mit"Himmel" gleichgesetzt, auerdem ist "oben" der gttliche Be-reich (siehe 11,41).

    Dem Herkommen entspricht die irdische oder himmlische Re-deweise. Jesus, der das Himmlische sieht, mu es gleichwohl mitirdischen Worten aussagen, was sie zu Symbolen der himmli-schen Welt macht. Die Akkusativeta epigeia und ta epourania in3,12 kann man als Akkusative der Beziehung (bei Johannes si-cher in 6,10 belegt) auffassen, so da zu bersetzen wre: "Wennich (es) euch mit Bezug auf die irdischen Dinge sage und ihrglaubt nicht, wie werdet ihr glauben, wenn ich (es) euch mit Be-

    ly, a symbol is 'a connecting link between two different spheres.'" (Harry Le- vin, Contexts of Criticism, 1957, 200; zitiert nach: R. A. Culpepper, Anato-my of the Fourth Gospel, 1983, 182).

    51 "Trotz aller verwirrenden Divergenzen stimmen die vielen metaphorologi-schen Konzeptionen darin berein, da in der Metapher zwei Gren zu-sammenwirken, die freilich sehr vielfltig bestimmt werden; am hufigstenals zwei Wortbedeutungen oder Sinnbezirke, als zwei semantische Felder,Ebenen oder Sphren, nherhin etwa als wrtliche und bertragene oder ei-gentliche und uneigentliche Bedeutung, als Bild und Sache, Bildspender undBildempfnger, Wort und konterdeterminierender Kontext, Referenz erstenund zweiten Grades, Fokus und Rahmen, vehicle und tenor und vieles ande-re, in Kurzformel: 'two ideas for one'" (O. Schwankl, Die Metaphorik vonLicht und Finsternis im johanneischen Schrifttum, in: K. Kertelge, Metapho-

    rik und Mythos im Neuen Testament, 1990, 136f).

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    zug auf die himmlischen Dinge sage?"52 Im Kontext des Nikode-musgesprchs ist diese Bemerkung auf die Rede von einer neuenGeburt zu beziehen. Jesus verwendet einen Begriff aus der Erfah-rungswelt des Irdischen; er redet "mit Bezug auf das Irdische".Zugleich ist aber offensichtlich, da die irdische Geburt nichtgemeint ist. Etwas Himmlisches ist gemeint, die Ermglichungneuen Lebens, wobei allerdings auch hier zu beachten ist, daLeben nicht das biologische Leben und womglich dessen endlo-se Dauer meint. Das Irdische will nicht irdisch verstanden wer-den, die Worte des johanneischen Jesus sind wie Spiegel, in de-nen es mehr zu entdecken gibt als nur das Spiegelglas. So gese-hen enthlt 3,12 einen hermeneutischen Schlssel zur Sprech-weise Jesu, von der ja schon in 3,8 die Rede war, und in 3,11beteuert Jesus, da seiner scheinbar so unverstndlichen Redeein klar gesehener Sachverhalt zugrunde liegt. Doch corammundo lt er sich nur irdisch aussagen. Die johanneischeSprachkunst besteht freilich darin, diesem Irdischen einen ber-irdischen (himmlischen) Glanz verliehen zu haben, so da dieFrage nach dem Ursprung dieser Herrlichkeit sinnvoll bleibt,

    52 "Das in der Exegese vielumstrittene Begriffspaar Irdisches-Himmlisches" (C.Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes, Band 1, 2001, 84) istgrundstzlich mit dem Dualismus in Verbindung zu bringen. Vgl. J. Blank:3,12 "greift mit seiner Unterscheidung zwischen den 'irdischen Dingen' undden 'himmlischen Dingen' die Sprache des johanneischen Dualismus auf "(Das Evangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 238). Ebenso R. Schna-ckenburg: "Die Ausdrcke 'irdisch - himmlisch' drften allgemein mit der joh. 'vertikalen' Blickweise zusammenhngen, die den irdischen und himmli-schen Bereich konfrontiert" (Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 391).Die ber diese grundstzliche Einordnung hinausgehende Identifikation derhimmlischen Dinge mit dem in 3,13ff Gesagten (vgl. C. Dietzfelbinger, DasEvangelium nach Johannes, Band 1, 2001, 85) berzeugt jedoch nicht. Rich-tiger scheint es mir zu sein, das Himmlische nicht auf der Textebene suchenzu wollen, sondern die johanneischen Miverstndnisse in die Lsung desProblems einzubeziehen. Dann stellt sich die Vermutung ein, da das Himm-lische die Entdeckung des christologischen Sinnpotentials ist, die die Ge-meinde des Geliebten, geleitet durch den Geist der Wahrheit, nach Osternmachte, als sie sich von der blo irdischen Verstehensweise der berliefe-

    rungen nicht mehr aufhalten lie.

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    weil sie nmlich einen Anhaltspunkt auf der Ebene des Texteshat.

    Geht man ernsthaft davon aus, da der zweite Sinn an sich un-sagbar ist - unsagbar vor einer Zuhrerschaft, welche die neueGeburt nicht erfahren und das Reich Gottes nicht gesehen hat(siehe 3,3) -, dann sollte eine Exegese, die diesen Sinn dennochanvisiert, nicht dem Fehler verfallen, ihn vollstndig und er-schpfend an die Oberflche der Worte zu heben. Der zweite Sinnist immer nur in und mit den Gegenstnden des ersten Sinnesaussagbar, wie auch das Licht nur an Objekten sichtbar wird, die

    es reflektieren. Licht an sich ist unsichtbar. Jede Auslegung deszweiten Sinnes bleibt immer den Objekten und Begriffen dieserWelt verhaftet. Der zweite Sinn in seiner Flle ist so unerreich-bar wie eine Asymptote, an die man sich wohl (begrifflich) ann-hern kann, - doch der Sprung in die Anderswelt des Christus undseiner Schler (so verstehe ich das Wir in 3,11) ist damit nicht vollzogen, dem "Lehrer Israels" (3,10) bleibt als Gnade nur dieWahrnehmung der Differenz.

    2.5. Die Elemente des impliziten Kommentars (Culpepper).Da inder johanneischen Sprache "overtones"53 mitschwingen, meintauch R. Alan Culpepper. In seinem Buch "Anatomy of the FourthGospel" schreibt er: "In John, the reader finds that the evangelistsays a great deal without actually saying it."54 Die Spannungzwischen sichtbar und unsichtbar in der Person Jesu (1,18) wie-derholt sich in seiner Rede in der Spannung zwischen sagbarund unsagbar. Das ungesagt Gesagte, die - wie Culpepper auchformuliert - "subterranean frequencies"55 sind in drei literari-schen Gattungen hrbar, nmlich den "misunderstandings" der"irony" und im "symbolism".

    53 R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 1983, 151.54 R. A. Culpepper, a.a.O., 151.55

    R. A. Culpepper, a.a.O., 151.

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    2.5.1. Miverstndnis.Ein Beispiel fr ein Miverstndnis ist2,19-21. Jesus treibt oder peitscht die Verkufer und Geldwechs-ler aus dem Tempel (2,14f); mit dem Taubenverkufern geht eretwas schonender um, doch werden auch sie unmiverstndlichaufgefordert, ihre Ttigkeit zu beenden (2,16). Die Schlubemer-kung - "macht das Haus meines Vaters nicht zu einem Kauf-haus!" (2,16) - zeigt, da sich der Kult Gottes und der des Geldesnicht vertragen (siehe in der synoptischen Tradition Mt 6,24).Das Verb "austreiben (ekball 2,15)" begegnet bei den Synopti-kern auch im Zusammenhang der Dmonenaustreibungen undbei Johannes in 12,31, wo der Herrscher dieser Welt ausgetriebenwird und anschlieend (12,32) die Gemeinschaft mit Gott auf-leuchtet. Der Gewaltakt Jesu wird oft (Tempel)Reinigung genannt,wobei jedoch zu beachten ist, da "reinigen" in 2,13-22 nicht vorkommt.

    Die Juden fragen nach einem Zeichen der Bevollmchtigung frdieses Tun. Daraufhin gibt Jesus die Antwort: "Lst diesen Tem-pel auf, und in drei Tagen werde ich ihn (wieder) aufrichten."

    (2,19). Das Miverstndnis ist durch den Doppelsinn von "dieserTempel" bedingt. Die Juden sehen darin den HerodianischenTempel (2,20); Jesus hat jedoch "den Tempel seines Leibes"(2,21)56 und seine Auferstehung ("in drei Tagen" 2,20) im Auge.Darauf deutet auch das Verb "aufrichten" (egeir in 2,20.22), das

    56 Zur Deutung des Tempels als Leib Jesu: J. Blank sieht einen Zusammenhangdes Tempelwortes 2,19.21 mit der Schilderung des himmlischen Jerusalemsin der Apokalypse: "Einen Tempel sah ich nicht in ihr. Denn der Herr, ihrGott, der Herrscher des Alls, ist ihr Tempel, und das Lamm" (Apk 21,27),und fhrt dann fort: "Der Sinn des Bildwortes ist also nach Johannes: Jesusin seiner Person ist der 'neue Tempel', die Sttte der Gottesgegenwart. Undzwar ist er das als der 'Erhhte', der Gekreuzigte und Auferstandene." (DasEvangelium nach Johannes, Teil 1a, 1981, 212). Die "Ausdrcke fr 'Nie-derreien' (lyein , vgl. 1 Joh 4,3 v. l.) und 'Errichten' (egeirein )" machen esmglich, unter dem Tempel den Leib zu verstehen, weil sie "sich sowohl auf ein Gebude als auch auf den Leib Jesu beziehen knnen; der zweite Termi-nus ist der gelufige fr 'Auferwecken'." (R. Schnackenburg, Das Johannes-

    evangelium, 1. Teil, 1979, 364).

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    Christi Auferstehung von den Toten bezeichnet. Weitere Obertnewerden hrbar, wenn man in der Konkordanz unter "lsen" (ly 2,19) nachschaut. Im Johannesevangelium ist damit auffallend oftdas Thema der Auflsung oder Nicht-Auflsung der Gebote (Sab-batgebot 5,18), des Gesetzes (7,23) oder der Schrift (10,35) ver-bunden.57 Hebt die Auferstehung (= das Evangelium) das Gesetzauf oder setzt sie dieses auf neue Weise in Kraft (vgl. das "neueGebot" in 13,34)? Zu den noch feineren Obertnen mag fernergehren, da Lazarus noch gebunden aus seinem Grab kam underst durch Jesus - "Lst ihn und lasst ihn fortgehen!" (12,44) -aus diesem Zustand erlst wurde. Jesus hingegen, der auchdurch den Tod gebunden wurde (vgl.de in 11,44 mit Bezug auf Lazarus und in 19,40 mit Bezug auf Jesus), kann sich aus eige-ner Kraft aus dieser kalten Umarmung lsen (beachte das Motivder Leichenbinden in 19,40; 20,5-7). ber dem Grundton von2,19 werden also zahlreiche Obertne hrbar, deren Klangmuster jedoch kaum zu entziffern sind, - zunchst fhrt uns noch dieWortkonkordanz, dann die Sinnkonkordanz und schlielich wohlnur noch das Gefhl weiter, die Konkordanz des Herzen, die in-time bereinstimmung mit dem namenlosen Evangelisten. Auf diese Hermeneutik der Liebe (bzw. des Lieblingsjngers) werdeich im folgenden Kapitel eingehen.

    Die johanneischen Miverstndnisse bestehen nach Culpepperaus drei Elementen. "(1) Jesus makes a statement which is am-biguous, metaphorical, or contains a double-entendre; (2) his dia-logue partner responds either in terms of the literal meaning of

    Jesus' statement or by a question or protest which shows that heor she has missed the higher meaning of Jesus' words; (3) in

    57 R. Schnackenburg wgt das Fr und Wider "einer tieferen symbolischenDeutung" ab, wonach die Tempelreinigung "die berwindung des jdischenKultus durch Jesus, seine Person und seine Gemeinde veranschaulichen"soll. Die ekklesiologische Deutung des Leibes Christi tut sich jedoch "nur imHintergrund auf; die nchste Deutung bleibt die christologische" (Das Jo-

    hannesevangelium, 1. Teil, 1979, 370f).

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    most instances an explanation is then offered by Jesus or (lessfrequently) the narrator."58 Und Jrgen Becker charakterisiert sieso: "In den joh[anneischen] Dialogen begegnen hufig Miver-stndnisse, die nach einem ganz bestimmten Schema funk-tionieren. Dabei hat ein Wort zwei Bedeutungen. Das Mi- verstndnis basiert auf dem irdischen Sinn, whrend die gttlicheBedeutung den eigentlichen Sinn erschliet."59

    2.5.2. Ironie. Transparenz wird im Johannesevangelium auchdurch Ironie erreicht, denn sie kann stets vom Leser als solcheerkannt und durchschaut werden, er ist nie ihr Opfer, sondern,

    sofern er will, immer ihr Nutznieer. R. Alan Culpepper schreibt:"The reader is invited by the irony to leap to the higher level andshare the perspective of the implied author."60

    Der Proze Jesu vor Pilatus (18,28-19,16) ist ein schnes Bei-spiel johanneischer Ironie. Die Juden fhren Jesus in das Prto-rium, sie selbst aber bleiben drauen stehen, "um [so ihre Ab-sicht] nicht unrein zu werden, sondern um das Passa essen zuknnen." (18,28). Schon hier ist Ironie sprbar, denn erstens istder durch die Auslieferung Jesu (18,30) dokumentierte UnglaubeSnde (16,9), die Juden verunreinigen sich also, und zweitensknnen sie, indem sie Jesus verwerfen, das Fleisch des wahrenPassalamms (19,36) nicht essen. Sie erreichen also ironischer-weise genau das Gegenteil ihrer Absicht und stehen nun ihrer-

    58 R. A. Culpepper, a.a.O., 152.

    59 J. Becker, Das Evangelium nach Johannes, Kapitel 1-10, 1985, 135.60 R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel, 1983, 167. Vgl. auch K.Scholtissek: "Zur Deutung joh Ironien gehrt die Bercksichtigung der zweiwesentlichen Kommunikationsebenen: Die Erzhlregie des Evangelisten er-laubt es den Lesern und Hrern (Kommunikation durch Erzhlung), ironi-sche Verkehrungen mitzuvollziehen, whrend innertextlich (erzhlte Kom-munikation) die Erzhlfiguren in der Begegnung mit Jesus (a) entweder erstber Miverstndnisse und die Selbstoffenbarung Jesu hinweg wirklich zuihm finden, (b) die Begegnung zunchst unentschieden und offen bleibt oder(c) die Begegnung mit Jesus scheitert." (Ironie und Rollenwechsel im Johan-

    nesevangelium, ZNW 89 (1998) 253).

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    seits, weil sie das Prtorium nicht betreten wollen, unverhofft vordem (noch leeren) Richterstuhl. Diese rumliche Aufteilung - die Juden vor dem Prtorium, Jesus (vorerst noch)im Prtorium -wird wichtig werden.61

    Angeklagt wird das Knigtum der Wahrheit (der Herrschaftsan-spruch der Gotteswahrheit). Da Knig bzw. Knigtum Leitthe-men sind, geht schon aus der Hufigkeit des Vorkommens dieserBegriffe hervor, siehe 18,33.36.37.39; 19,3.12.14.15; hinzukommen die Dornenkrone (19,2.5) und der Purpurmantel(19,2.5). Da es um das Knigtum der Wahrheit geht, ist aus

    18,37 ersichtlich, wo der johanneische Jesus sagt: "Ich bin einKnig. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, umfr die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheitist, hrt auf meine Stimme." Dazu ist hier zweierlei zu bemer-ken. Erstens, "Zeuge sein" (martyre ) ist ein Wort, das zum Ge-richtskontext gehrt. Ironischerweise bezeugt ausgerechnet derAngeklagte die Wahrheit, whrend die richterliche Instanz, Pila-tus, ihr Unvermgen in Sachen Wahrheitsfindung offen aus-

    spricht ("Was ist Wahrheit?" 18,38). Zweitens ist mit Wahrheitim Johannesevangeliums die Befreiung verbunden (siehe 8,32).Die Ironie besteht also darin, da sich die Juden zum Fest derBefreiung aus gypten gegen die befreiende Wahrheit entschei-den.

    Die Gerichtsverhandlung Jesu (im doppelten Sinne des Geni-tivs)62 erreicht ihren Hhepunkt, als Jesus aus dem Prtoriumgefhrt wird (19,13a). Der unmittelbar folgende Teilvers (19,13b)"und er setzte (sich) auf den Richterstuhl" kann intransitiv, "er[Pilatus] setzte sich ", oder transitiv, "er [Pilatus] setzte ihn[Jesus] ", oder sogar intransitiv mit einem Subjektwechsel, "er

    61 Zur Raumeinteilung vgl. J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 148-150.62 "Geht es auf einer ersten Ebene um den von der Welt gegen Jesus ange-

    strengten Prozess, so auf einer tieferen Ebene um den Prozess, den Jesus

    gegen die Welt fhrt." (J. Zumstein, Kreative Erinnerung, 1999, 136).

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    [Jesus] setzte sich ", verstanden werden.63 Die Ironie ist un-berbietbar! Der Angeklagte sitzt auf dem Richterstuhl, die An-klger stehen buchstblich vor ihrem eschatologischen Richterund sprechen sich selbst das Urteil: "Wir haben keinen Knigauer dem Kaiser!" (19,15). Damit ist das Gericht zu Ende, dasGottesvolk hat Gott verleugnet, - am Kreuz wird die neue Ge-meinde entstehen (19,25-27).64 Das Gericht hat sich so voll-zogen, wie Jesus es angekndigt hat, als Selbstgericht coram Deo.Die Sendung des Sohnes geschah nicht zum Gericht, sondernzur Rettung (3,17; 12,47); zugleich aber provozierte sie die Ant-worten des Glaubens und des Unglaubens und wurde somit denUnglubigen zum Gericht. Denn das ist das Gericht: "Das Lichtist in die Welt gekommen, und die Menschen liebten die Finster-nis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren bse." (3,19). DieVorliebe fr die Finsternis aus der heimlichen Bosheit des Her-zens offenbarte sich schonungslos damals, am Karfreitag. Derdornengekrnte Knig wurde zum Zeichen dafr, da die Wahr-heit in der Welt als Anmaung, ja als Verbrechen angesehenwird, die Kreuzigung war dementsprechend die Zeichenhandlungdes letzten Propheten (6,14; 7,40). Und die Ironie des Todes wardie Auferstehung.

    2.5.3.Symbolik.Die Symbolik des vierten Evangeliums wird michin den folgenden Kapiteln beschftigen, wo es um den Lieblings- jnger, die Christologie und die Soteriologie gehen wird.

    2.6. Die Zeichen oder die Transparenz der Wunder."Zeichen"

    63 Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium 3. Teil, 1975, 304f. K.Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89(1998), Anm. 60, 248. Fr die Annahme, da die Doppeldeutigkeit in 19,13gewollt ist, spricht zudem die Beobachtung, da der angeklagte Jesus auchandernorts im Johannesevangelium die Rollen umkehrt und zum Richter(5,22.27.30) und Anklger (5,36-44, 7,17-24; 8,12-58) wird.

    64 "Die rtselhafte Szene zwischen dem Gekreuzigten, seiner Mutter und demLieblingsjnger (19,25-27) symbolisiert die Grndung der Kirche." (J. Zum-

    stein, Kreative Erinnerung, 1999, 137).

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    (s meia ), so nennt das Johannesevangelium die Wunder Jesu.Diese Begriffswahl und der Umstand, da bei den Synoptikernder Ausdruck "Machttat" (dynamis ) blich ist, der im Johannes-evangelium berhaupt nicht vorkommt, lassen vermuten, dadas Logosevangelium die Semantik des Wunderbaren65 lesenwill. Das Staunen ist nicht die Endstation des Verstehens, der vordergrndige Nutzen der Wunder (6,26) nicht ihr eigentlicherSinn, die beeindruckenden Krafttaten Jesu sind Buchstaben undSchriftzeichen des Logos. Da Jesu Tun fr einen tieferen (gttli-chen) Sinn transparent ist, mag die Frage im Anschlu an dieFuwaschung nahelegen: " Erkennt ihr, was ich an euch getan habe?" (13,12). Die Fuwaschung wird zwar nicht zu den Zei-chen gezhlt, aber die hier offen ausgesprochene Struktur zeigtsich auch in Jesu Zeichen, beispielsweise in der Heilung desBlindgeborenen, bei der es erkennbar nicht nur um das natrli-che Augenlicht geht, man achte nur auf das Thema Licht undFinsternis und das Schluurteil des Evangelisten: "Er hat ihreAugen blind gemacht" (12,40; Jes 6,10). Auch fr die Wunder gilt: Johannes fhrt uns nicht weiter von ihnen weg, sondern tiefer insie hinein, - und dadurch werden sie zu Zeichen.In ihnen wiederholt sich das auch in der Christologie beobachtba-re Beisammensein von sichtbar und unsichtbar,66 wobei unsicht-

    65 Das Wortspiel Semantik / Semeia sei gestattet. Sinnvoll ist es insofern, als

    das Logosevangelium anhand der Wunder (und der anschlieenden Offenba-rungsreden) die Bedeutung der Person Jesu darstellen will. Zur Aufhellung

    des traditionsgeschichtlichen Hintergrundes sind freilich andere Beobach-tungen heranzuziehen. So ist Semeia die Septuagintabersetzung des altte-stamentlichen t (ThWAT I, Sp. 183), und es gibt Gemeinsamkeiten mitden Zeichen des Exodus und den prophetischen Zeichenhandlungen.

    66 R. Schnackenburg macht auf eine Strukturhnlichkeit zwischen den jo-hanneischen Zeichen und der Person des inkarnierten Logos aufmerksam:"So hoch der Logoshymnus die Geistigkeit und Gttlichkeit des Logos preist,ebenso hart setzt er daneben die Tatsache seiner 'Fleisch'-Werdung. hnlichbesitzen dies meia eine materielle 'Erscheinungsform' und verbergen darun-ter doch einen tief geistigen, nherhin christologischen Sinn." (Das Johan-

    nesevangelium, 1. Teil, 1979, 354).

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    bar (nmlich den Augen des Leibes) gleichbedeutend ist mit den-Augen-des-Glaubens-sichtbar. Denn Glauben und Erkennen sindim Johannesevangelium austauschbar (6,69; 14,9-10; 17,8). Jesusist das Licht, glauben an den Sohn oder Gesandten (3,36; 6,29) istdaher glauben an das Licht (12,36), und jeder, der sich von die-sem Licht die Augen ffnen lt, wird zu einem "Sohn des Lich-tes" (12,36), zu einem Erkennenden im Lichte der Sonne, derenGesandter eben das Licht ist. Die Erkenntnis des Glaubens istallerdings keine angelernte oder rein intellektuell herstellbare,sondern die Frucht des Gehorsams gegenber dem Wort, das Jesus im Grunde genommen selbst ist (7,17; 8,31f; 14,21). Wo dieeinen also staunend, zufrieden oder verrgert vor dem Wunderstehen, betritt der Glaubende dessen gttliches Geheimnis.

    Da die Zeichen eine sichtbare Seite haben ist offensichtlich,denn man kann sie sehen (2,23; 4,48; 6,2.14.26.30; beachte auch"zeigen" in 2,18), Zeichen sind Taten, stndig ist "Zeichen" mit"tun" verbunden (2,11.23; 3,2; 4,54; 6,2.14.30; 7,31; 9,16; 10,41;11,47; 12,18.37; 20,30),67 und Taten sind nach auen hin sicht-

    bar. Darber hinaus haben sie aber auch eine nur den Augen desGlaubens sichtbare Seite. Sie zeigt sich schon daran, da "Zei-chen" und "glauben" oft zusammen genannt werden (2,11.23;4,48; 6,30; 7,31; 12,37; 20,30f). Inhaltlich geht es immer darum,anhand der Zeichen die Bedeutung der Person Jesu zu entzif-fern.68 Fr Nikodemus steht aufgrund der Zeichen fest, da Jesus

    67 Vgl. auch den Zusammenhang von Zeichen und Werke (erga ) im Johannes-

    evangelium. Nach der grundstzlichen Feststellung, da beide Ausdrcke"von der Sache her einen gemeinsamen Verwendungsbereich" haben, unter-sucht R. Schnackenburg dann ihre Besonderheiten (Das Johannesevangeli-um, 1. Teil, 1979, 347-350). Ausfhrlich hierzu: W. Wilkens, Zeichen undWerke: Ein Beitrag zur Theologie des 4. Evangeliums in Erzhlungs- und Re-destoff (AThANT 55), 1969.

    68 Zum christologischen Bezug der johanneischen Zeichen: "Alle alss meia bezeichneten Growunder lenken den Blick mit aller Gewalt auf den, der siewirkt, und machen die ihm verliehene Hoheit und Heilsmacht transparent."(R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 1. Teil, 1979, 352). Nach J.

    Blank haben die Zeichen bei Johannes "klar und deutlich einen christologi-

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    Das Gesicht des Unsichtbaren

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    "als Lehrer von Gott gekommen" und "Gott mit ihm ist" (3,2). Unddas Volk meint angesichts der Speisung: "Dieser ist wahrhaftigder Prophet, der in die Welt kommen soll." (6,14), oder hlt Jesusbei einer anderen Gelegenheit, aber ebenfalls unter Berufung auf seine Zeichen, fr den Christus (7,31). Selbst die Unglubigenknnen sich diesem hermeneutischen Horizont im Prinzip nicht verweigern; so sind sich in 9,16 einige Phariser, gebundendurch ihr Sabbatverstndnis, darin einig, da dieser Jesus nicht"von Gott" ist, woraufhin andere einwenden, wie dann aber einSnder solche Zeichen tun knne. Die Glaubenssicht der Jnger,was sich ihnen erschliet, das umrahmt im Johannesevangeliumdie Aussagen ber die Zeichen (siehe 2,11 und 20,30f). So offen-bart sich ihnen durch das Weinwunder Jesu Herrlichkeit (2,11),und die fr das Johannesevangelium ausgewhlten Zeichen sol-len in der Gemeinde den Glauben veranlassen, "da Jesus derChristus ist, der Sohn Gottes" (20,30f).

    An Stellen, die erwarten lassen, da sie das Ganze des Evangeli-ums im Auge haben, ist von Zeichen die Rede. Nachdem dieser

    Begriff nur im ersten Teil des Evangeliums vorgekommen ist (dieeinzige Ausnahme ist 20,30f), beginnt der Verfasser seine ab-schlieende Beurteilung der ffentlichen Wirksamkeit Jesu mitden Worten: "Obwohl er so viele Zeichen vor ihnen getan hatte,glaubten sie nicht an ihn" (12,37). Gerade von den auerordentli-chen Werken Jesu htte man erwarten knnen, da sie seinegttliche Herkunft und Identitt eindeutig ausweisen, wennschon von den Worten diese Beweis- und berzeugungskraft

    offenbar nicht ausgeht (siehe 10,37f). So avancieren also imSchluurteil die Zeichen zum Hauptinhalt des Evangeliums.Auch die abschlieende Bemerkung in 20,30f subsummiert dasgesamte Evangelium unter dem Begriff des Zeichens.69 Man ge-

    schen Bezug und symbolischen Charakter" (Das Evangelium nach Johannes,Teil 1a, 1981, 190).

    69 Das Vorkommen von "Zeichen" im Schluwort des Evangelisten wirft Fra-

    gen auf, denn auffllig ist, "da der Evangelist vonsmeia spricht, obwohl

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    2. Zur Transparenz der johanneischen Sprache

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    winnt den Eindruck, als seien sie der Kern des Evangeliums unddie Worte Jesu "nur" deren verbale bersetzung. In mehrerenFllen lt es sich sicher zeigen, da die Worte im Dienste derZeichen stehen, inwieweit hier aber ein Strukturmerkmal desganzen Evangeliums sichtbar wird, vermag ich an dieser Stellenicht zu untersuchen.

    Auch am Anfang darf man eine Aussage ber das Ganze erwar-ten. Die Wasser-Wein-Wandlung (2,1-11) tat Jesus alsarch n t ns mei n ("Anfang der Zeichen" 2,11), wobeiarch hier sowohlden zeitlichen ("erstes Zeichen", vgl. auch 4,54) als auch den

    grundstzlichen Anfang ("Prinzip oder Urgrund der Zeichen")meint. Nachdem in 1,1-3 der Logos als Grundursache (arch ) derSchpfung eingefhrt wurde, wobei der Zusammenhang mit demSprechen Gottes in Genesis 1 unbersehbar ist, erscheint beimzweiten Vorkommen vonarch ein Wandlungswunder als Grund-ursache der Erlsung bzw. der neuen Schpfung. Da die johan-neische Soteriologie Schpfungshandeln ist, mag schon darausersichtlich sein, da das schpferische Sprechen Gottes in Jesus

    am Werke ist und soll im fnften Abschnitt meiner Arbeit aus-fhrlicher dargestellt werden. Und da eine Wandlung dasGrundprinzip der Erlsung ist, mag der Auferstandene belegen,der wohl nicht einfach nur ein wiederbelebter Leichnam ist. DasWeinwunder ist ein Vorzeichen der Auferstehung und stellt inso-fern in nuce das Ganze des Evangeliums dar. Das erste Zeichenblickt auf das letzte, wobei die Auferstehung mit Blick auf 2,18f

    dieser Ausdruck sonst der Zeit der ffentlichen Wirksamkeit Jesu vorbehal-ten ist (Kap. 2-12)." (R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, 3. Teil,1975, 401). Schnackenburg weist auf "eine sicherlich beabsichtigte Ent-sprechung zwischen 12,37 und 20,30" hin und gelangt zu dem Schlu, dader Zeichenbegriff fr den Evangelisten unter einem doppelten Aspektsteht: "einem negativen im Zusammenhang mit dem Unglauben und einempositiven, insofern an den recht verstandenens meia wahrer und vollerGlaube wachsen kann". (a.a.O., 401). Die Zeichen in 20,30 greifen nachSchnackenburg auf die in den Kapitel 2 bis 12 berichteten Geschehnisse,

    zugleich schlieen sie aber auch die Erscheinungen des Auferstandenen ein.

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    als ein Zeichen angesehen werden kann. Die Parallelen sindoffensichtlich: Das Weinwunder und die Auferstehung geschahenam dritten Tag (2,1).70 Die Mutter Jesu (Symbol der Kirche) - Je-sus nennt sie brigens nie seine Mutter - erscheint nur beimWeinwunder und am Kreuz.71 Die Stunde Jesu (2,4) ist die derKreuzigung (12,27; 17,1). Durch die Wandlung des Wassers inWein offenbart Jesus seine Herrlichkeit, ebenso dient auch dasKreuz der Verherrlichung. Dort wird dem Geber des Hochzeits-weins Essig, saurer Wein, gereicht. So ist das erste Zeichen Al-pha und Omega in einem. Die groe Wandlung von einer Religi-on, die mit Wasser reinigt (vgl. die steinernen Wasserkrge zurReinigung, 2,6), zu einer solchen, die ihre Schler zu Reben amWeinstock Christi macht, wo sie sein Blut reinigt, ist hier, ganzam Anfang des Wirkens Jesu, schon angedeutet und vorgebildet.

    Die Zeichen knnen den Glauben veranlassen, erzwingen aberknnen sie ihn nicht. Die Ambivalenz des Sichtbaren, das sich soo