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S. Becker A. Kruse J. Schröder U. Seidl Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.) Dimensionen von Lebensqualität und deren Operationalisierung * Z Gerontol Geriat 38:108–121 (2005) DOI 10.1007/s00391-005-0297-7 ZGG 297 Eingegangen: 4. Januar 2005 Akzeptiert: 15. Februar 2005 Prof. Dr. Andreas Kruse ( ) ) Stefanie Becker · Johannes Schröder Ulrich Seidl Institut für Gerontologie Universität Heidelberg Bergheimer Straße 20 69115 Heidelberg, Germany E-Mail: [email protected] The Heidelberg instrument for the assessment of quality of life in people suffering from dementia (H. I. L. DE.) – dimensions of quality of life and methods of operationalization n Zusammenfassung Der Beitrag beschreibt den theoretischen Hin- tergrund und das methodische Vorgehen der H.I.L.DE.-Studie. In diesem Forschungsprojekt soll ein umfassendes Instrumentarium zur Messung von Lebensqualität bei demenzkranken Heimbewoh- nern entwickelt und erprobt wer- den. Ausgehend von der Annah- me, dass auch in fortgeschritte- nen Stadien der Erkrankung Emotionen erlebt und auf der Grundlage des mimischen Aus- drucks gedeutet werden können, wurden in Zusammenarbeit mit 11 Pflegeeinrichtungen unter- schiedlicher Trägerschaft drei Stichproben von Untersuchungs- teilnehmern gezogen: 121 de- menzkranke Heimbewohner, 97 Pflegekräfte und 101 Angehörige haben an der ersten Projektphase teilgenommen. Bei der operatio- nalen Definition von Lebensquali- tät geht das H.I.L.DE.-Projekt von einer Differenzierung der folgen- den acht Dimensionen von Le- bensqualität aus: räumliche Um- welt, soziale Umwelt, Betreuungs- qualität, Verhaltenskompetenz, medizinisch-funktionaler Status, kognitiver Status, Psychopatholo- gie und Verhaltensauffälligkeiten sowie subjektives Erleben und emotionale Befindlichkeit. Die Messung dieser acht Dimensionen beruht auf medizinischen Unter- suchungen, Interviews mit Be- wohnern, Pflegekräften und An- gehörigen, ökopsychologischen Einschätzungen räumlicher Um- welt und Analysen von Pflegedo- kumenten. Erste Ergebnisse der H.I.L.DE.-Studie werden zur Illu- stration der Potenziale eines der- art umfassenden methodischen Ansatzes genutzt. n Schlüsselwörter Demenz – Emotionen – Gerontopsychiatrie – Heimbewohner – Lebensqualität n Summary The contribution is intended to describe the theoreti- cal background and measurement approach of H.I.L.DE., a research project aimed to develop and val- idate a comprehensive assessment of quality of life in nursing home residents suffering from dementia. Proceeding from the assumption that emotions are felt even in ad- vanced stages of dementia and can be interpreted on the basis of peoples’ mimic expressions, three samples of participants were re- cruited from 11 nursing homes of varying maintenance: 121 nursing home residents suffering from de- mentia, 97 professional caregivers and 101 relatives participated in the first wave of this study. Op- erational definition of quality of life in H.I.L.DE. proceeds from the differentiation of eight dimensions of quality of life: physical envir- onment, social environment, quality of care, behavioral compe- tence, medical and functional sta- tus, cognitive status, psycho- pathology and behavior distur- bances, and subjective experiences BEITRAG ZUM THEMENSCHWERPUNKT * Dieses Projekt wird vom Bundesministe- rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Die Autoren danken Frau Petra Weritz-Hanf, Leiterin des Refe- rats 311 „Gesundheit im Alter, Hilfen bei Demenz“, für wertvolle Unterstüztung bei der praktischen Umsetzung des Projekts

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S. BeckerA. KruseJ. SchröderU. Seidl

Das Heidelberger Instrument zur Erfassungvon Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.)Dimensionen von Lebensqualitätund deren Operationalisierung *

Z Gerontol Geriat 38:108–121 (2005)DOI 10.1007/s00391-005-0297-7

ZG

G297

Eingegangen: 4. Januar 2005Akzeptiert: 15. Februar 2005

Prof. Dr. Andreas Kruse ())Stefanie Becker · Johannes SchröderUlrich SeidlInstitut für GerontologieUniversität HeidelbergBergheimer Straße 2069115 Heidelberg, GermanyE-Mail:[email protected]

The Heidelberg instrument for theassessment of quality of life inpeople suffering from dementia(H. I. L. DE.) – dimensions of qualityof life and methods ofoperationalization

n Zusammenfassung Der Beitragbeschreibt den theoretischen Hin-tergrund und das methodischeVorgehen der H.I.L.DE.-Studie. Indiesem Forschungsprojekt soll ein

umfassendes Instrumentariumzur Messung von Lebensqualitätbei demenzkranken Heimbewoh-nern entwickelt und erprobt wer-den. Ausgehend von der Annah-me, dass auch in fortgeschritte-nen Stadien der ErkrankungEmotionen erlebt und auf derGrundlage des mimischen Aus-drucks gedeutet werden können,wurden in Zusammenarbeit mit11 Pflegeeinrichtungen unter-schiedlicher Trägerschaft dreiStichproben von Untersuchungs-teilnehmern gezogen: 121 de-menzkranke Heimbewohner, 97Pflegekräfte und 101 Angehörigehaben an der ersten Projektphaseteilgenommen. Bei der operatio-nalen Definition von Lebensquali-tät geht das H.I.L.DE.-Projekt voneiner Differenzierung der folgen-den acht Dimensionen von Le-bensqualität aus: räumliche Um-welt, soziale Umwelt, Betreuungs-qualität, Verhaltenskompetenz,medizinisch-funktionaler Status,kognitiver Status, Psychopatholo-gie und Verhaltensauffälligkeitensowie subjektives Erleben undemotionale Befindlichkeit. DieMessung dieser acht Dimensionenberuht auf medizinischen Unter-suchungen, Interviews mit Be-wohnern, Pflegekräften und An-gehörigen, ökopsychologischenEinschätzungen räumlicher Um-welt und Analysen von Pflegedo-kumenten. Erste Ergebnisse der

H.I.L.DE.-Studie werden zur Illu-stration der Potenziale eines der-art umfassenden methodischenAnsatzes genutzt.

n Schlüsselwörter Demenz –Emotionen – Gerontopsychiatrie– Heimbewohner – Lebensqualität

n Summary The contribution isintended to describe the theoreti-cal background and measurementapproach of H.I.L.DE., a researchproject aimed to develop and val-idate a comprehensive assessmentof quality of life in nursing homeresidents suffering from dementia.Proceeding from the assumptionthat emotions are felt even in ad-vanced stages of dementia and canbe interpreted on the basis ofpeoples’ mimic expressions, threesamples of participants were re-cruited from 11 nursing homes ofvarying maintenance: 121 nursinghome residents suffering from de-mentia, 97 professional caregiversand 101 relatives participated inthe first wave of this study. Op-erational definition of quality oflife in H.I.L.DE. proceeds from thedifferentiation of eight dimensionsof quality of life: physical envir-onment, social environment,quality of care, behavioral compe-tence, medical and functional sta-tus, cognitive status, psycho-pathology and behavior distur-bances, and subjective experiences

BEITRAG ZUM THEMENSCHWERPUNKT

* Dieses Projekt wird vom Bundesministe-rium für Familie, Senioren, Frauen undJugend gefördert. Die Autoren dankenFrau Petra Weritz-Hanf, Leiterin des Refe-rats 311 „Gesundheit im Alter, Hilfen beiDemenz“, für wertvolle Unterstüztung beider praktischen Umsetzung des Projekts

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109S. Becker et al.Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.)

of physical and social environmentand emotional well-being. Mea-sures of the eight dimensions in-volve data from medical examina-tion, interviews with residents,professional caregivers and rela-tives, ecopsychological assessment

of physical environment and ana-lysis of care documents. First re-sults from the H.I.L.DE.-study areused as an illustration of the po-tentials of such a comprehensiveapproach to the measurement ofquality of life.

n Key words Dementia –emotions – gerontopsychiatry –nursing home residents –quality of life

Die hohe Praxisrelevanz von Forschungen zur Lebens-qualität bei demenziell erkrankten Menschen wird un-mittelbar einsichtig, wenn man sich vergegenwärtigt,dass diese Menschen mit fortschreitender Erkrankungnicht mehr in der Lage sind, sich zu der Frage zu äu-ßern, inwieweit von anderen erbrachte Hilfeleistungenmit eigenen Bedürfnissen und Anliegen übereinstim-men. Die eingeschränkte verbale Kommunikations-fähigkeit demenzkranker Menschen birgt aber nichtnur die Gefahr, dass Möglichkeiten der Annäherungan eine aus Sicht des Erkrankten optimale Betreuungund Versorgung ungenutzt beleiben [10]. Es ist auchzu beachten, dass Angehörige und Pflegekräfte durch

das vermeintliche Ausbleiben einer Reaktion auf ihreBetreuungs- und Unterstützungsleistungen erheblichverunsichert werden können, was im Extremfall sogarzur Folge haben kann, dass eigenes Verhalten als mehroder weniger beliebig erfahren wird.

In seiner Zielsetzung, ein multidimensionales undpraxistaugliches Instrument zur Erfassung der Le-bensqualität demenziell erkrankter Menschen in sta-tionären Einrichtungen zu entwickeln, ist das Projekt„Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebens-qualität Demenzkranker in stationären Pflegeeinrich-tungen“ (H.I.L.DE., 11) durch eine von Lawton [14,S. 6] vorgeschlagene Definition von Lebensqualitätbeeinflusst: Lebensqualität ist danach zu verstehenals „the multidimensional evaluation, by both intra-personal and social-normative criteria, of the person-environment system of an individual in time past,current, and anticipated“.

Den Ausgangspunkt der Instrumentenentwicklungbildet ein im Arbeitskreis von Lawton entwickeltesModell [16], das vier Dimensionen von Lebensquali-tät bei demenziell erkrankten Menschen differenziert(siehe Abb. 1). Aus dieser theoretischen Konzeptionwurde eine größere Anzahl von Dimensionen abge-leitet, die sich im Sinne eines umfassenden Assess-ments nutzen lassen (siehe Abb. 2).

Im Folgenden soll die Erfassung dieser Dimensio-nen im H.I.L.DE.-Projekt dargestellt werden. Da indiesem Zusammenhang auch über erste Ergebnisseberichtet wird, sollen zunächst einige Aussagen überdie Stichprobe der Untersuchung getroffen werden.Abb. 1 Vier Dimensionen der Lebensqualität nach Lawton et al. (1996)

Abb. 2 Dimensionen der Lebensqualität Demenz-kranker in H.I.L.DE.

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Stichprobe

n Stichprobe Bewohner

Das Projekt kooperiert mit elf Pflegeeinrichtungenunterschiedlicher Trägerschaft im ganzen Bundes-gebiet. Mögliche Teilnehmerinnen und Teilnehmerwurden auf der Grundlage einer vom Projektteamvorgegebenen Kriterienliste von den Einrichtungenanonym ausgewählt. Dabei sollte mindestens einerder folgenden drei Punkte auf die jeweiligen Bewoh-nerinnen und Bewohner zutreffen:n laut Pflegedokumentation wurde bereits eine De-

menz diagnostiziertn der Bewohner wirkt vergesslichn der Bewohner hat Schwierigkeiten, sich im Heim

zurechtzufinden

Das Einverständnis der ausgewählten Personen undihrer Betreuer wurde von den Einrichtungen einge-holt, nachdem diese durch ein ausführliches Infor-mationsblatt über die Ziele des H.I.L.DE.-Projektsund den mit der Teilnahme verbundenen Aufwandaufgeklärt worden waren. Um mögliche Selektions-effekte identifizieren zu können, wurden die im Falleeiner Ablehnung der Teilnahme angegebenen Gründedokumentiert. Von insgesamt 210 angesprochenenPersonen lehnten nur 19 eine Teilnahme ab, wobeidies vor allem mit körperlichen Krankheiten und ei-ner Ablehnung von Video-Aufzeichnungen be-gründet wurde. Auf der Grundlage einer gerontopsy-chiatrischen Diagnostik wurde auf die Einbeziehungvon 45 Personen in die Studie verzichtet, weil beidiesen entweder keine Demenz oder zusätzliche psy-chische Erkrankungen vorlagen (zum Beispiel Psy-chosen, Alkoholabhängigkeit), die die Homogenitätder Stichprobe erheblich beeinträchtigt hätten. DesWeiteren wurde auf die Berücksichtigung von Be-wohnerinnen und Bewohner, die infolge somatischerErkrankungen bettlägerig waren oder keine erkenn-baren Reaktionen auf ihre Umwelt zeigten, verzich-tet. 25 Personen, welche zunächst ihr Einverständniszur Teilnahme am H.I.L.DE.-Projekt gegeben hatten,waren zum Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahmeverstorben, verweigerten beim ersten Kontakt dieweitere Teilnahme oder waren so schwer erkrankt,dass ihnen eine Teilnahme aufgrund ihres All-gemeinzustandes nicht zugemutet werden konnte.

In der ersten Datenerhebungsphase konnten vonden ursprünglich 191 potenziellen Untersuchungs-teilnehmern insgesamt 121 berücksichtigt werden.Teilgenommen haben 98 Frauen und 23 Männer miteinem Durchschnittsalter von 84,9 Jahren (Alters-spanne 64 – 96 Jahre). Diese lebten im Durchschnittseit etwas mehr als drei Jahren in der jeweiligen Ein-richtung. Tabelle 2 zeigt, dass sich die Gruppe der

Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht statistischbedeutsam von der Gruppe der aus den oben be-schriebenen Gründen nicht berücksichtigten Per-sonen unterscheidet.

Die Bewohner litten zu etwa 65% an einer mögli-chen oder wahrscheinlichen Alzheimer-Demenz ge-mäß NINCDS-ADRDA-Kriterien [23], zu etwa 20%an einer vaskulären Demenz oder einer Mischform,und bei etwa 15% lag eine andere Ursache, beispiels-weise eine frontotemporale Demenz, vor. Diese Be-funde stützen sich neben den klinischen Unter-suchungsergebnissen auf zusätzlich erhobene fremd-anamnestische Angaben über Symptomatik und Ver-lauf. Die Häufigkeitsverteilung mit Überwiegen derAlzheimer Demenz entspricht den Ergebnissen zahl-reicher epidemiologischer Studien. Die Auswertungder ärztlichen Befunde zeigt, dass nur in knapp zweiDritteln (65%) der Fälle eine Demenz vorbeschrie-ben war. Die explizite Diagnose „Alzheimer-De-menz“ oder „vaskuläre Demenz“ wurde dabei bei je-weils 5% der Bewohner gestellt, während bei 55% le-diglich „Demenz ohne nähere Angabe“ festgehaltenwar. Bei gut einem Drittel der Bewohner (35%) wardie Demenz nicht vordiagnostiziert. Diese Befundeverweisen darauf, dass Demenzen, zumal in frühenStadien, häufig nicht erkannt werden und dass kaumeine ätiologische Zuordnung, aus der sich auch the-rapeutische Konsequenzen ergeben, erfolgt.

n Stichprobe Pflegekräfte

Mit ausführlichen Pflegeinterviews konnten ins-gesamt 97 Pflegekräfte, 81 Frauen und 16 Männer,befragt werden. Alle Pflegekräfte waren fest ange-stellt und seit mindestens drei Monaten mit einemUmfang von mindestens 50% beschäftigt. Zu 51 Be-wohnerinnen bzw. Bewohnern liegen Pflegeinter-views von einer Pflegekraft, zu 44 von zwei und zu14 von drei Pflegekräften vor (einige Bewohner ver-starben vor der Durchführung des Pflegeinterviews).40 Pflegekräfte wurden zu einer Bewohnerin bzw. ei-

110 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 38, Heft 2 (2005)© Steinkopff Verlag 2005

Tab. 1 Stichprobenbeschreibung und Drop-out-Analyse

Aktuelle StichprobeN = 121Mittelwert (s)

t (p) Drop-outN = 25Mittelwert (s)

Alter (in Jahren) 84,9 (7.0) 1,34 (n.s.) 86,6 (7,2)Geschlecht 23 Männer

98 Frauen0,65 (n.s.) 7 Männer

18 FrauenMini Mental State 9,09 (7,7) 0,92 (n.s.) 7,36 (5,8)Global DeteriorationScale

5,1 (1,3) 1,09 (n.s.) 5,4 (1,4)

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nem Bewohner, 34 zu zwei und zehn zu mindestensdrei Bewohnerinnen und Bewohnern befragt.

n Stichprobe Angehörige

Als Zielgruppe der Angehörigeninterviews definiertwurden Personen, die von den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern als Bezugsperson der Bewohnerinnenund Bewohner benannt wurden und zum gegenwär-tigen Zeitpunkt regelmäßigen Kontakt hatten, d. h.mindestens einmal in den letzten vier Wochen zuBesuch waren. Basierend auf dieser Definition konn-ten 101 Angehörige befragt werden. Insgesamt wur-den 75 Angehörigeninterviews geführt, davon 51 mitKindern bzw. Schwiegerkindern, vier mit Geschwis-tern, fünf mit gesetzlich bestimmten Betreuern und15 mit sonstigen Personen (zum Beispiel Nichtenoder Neffen, Besuchsdienst).

Dimensionen der Lebensqualität

Im H.I.L.DE.-Projekt werden die in Tab. 1 aufgeführ-ten acht Dimensionen der Lebensqualität mit Hilfeeiner gerontopsychiatrischen Untersuchung, von Be-wohner-, Pflege- und Angehörigeninterviews, einesökopsychologischen Verfahrens zur Erfassung derräumlichen Umwelt (TESS-NH) sowie der Analysevon Pflegedokumenten erfasst (vgl. Tab. 1).

Räumliche Umwelt

Da in Langzeitpflegeeinrichtungen zunehmend mehrdemenzkranke Bewohnerinnen und Bewohner leben,ist der Gestaltung der physikalischen Umwelt dieses

Pflegesettings eine besondere Bedeutung bei der För-derung der Lebensqualität demenzkranker Menschenbeizumessen. Die räumliche Umwelt wurde mit einereigenen Skala erfasst. In der Literatur finden sichvielfach Hinweise darauf, dass Umweltmerkmale alsbedeutsame Determinanten psychosozialer Charakte-ristika demenzkranker Menschen gelten können [15,29]. Die höhere Sensibilität Demenzkranker gegenü-ber Umweltmerkmalen ist bedingt durch deren ab-nehmende Fähigkeit, sensorische Reize adäquat zuverarbeiten. Entsprechend ist eine Aufgabe der Inter-vention darin zu sehen, die Umwelt möglichst opti-mal an die veränderten Bedürfnisse Demenzkrankeranzupassen.

In H.I.L.DE. wurde eine deutsche Version desTherapeutic Environment Screening Survey for Nurs-ing Homes (TESS-NH) [30] eingesetzt. Die TESS Ska-la ist ein Beobachtungsinstrument, das speziell fürdie Bedingungen eines institutionellen Settings ent-wickelt wurde. Die Skala erfasst die Qualität unter-schiedlicher Umweltmerkmale unter Bezug auf the-rapeutische Zielsetzungen wie Sicherheit oder Orien-tierung.

Mit TESS wurden die einzelnen Wohnbereiche je-der teilnehmenden Einrichtung begangen und dieentsprechenden Beobachtungen im Bogen notiert.Durchschnittlich dauerte die Begehung eines Wohn-bereichs zwischen 15 und 40 Minuten (im Durch-schnitt 25 Minuten). Informationen über Wohnberei-che, welche von den Projektmitarbeiterinnen nichtdirekt beobachtet werden konnten, wurden in einemGespräch mit der Einrichtungsleitung bzw. der jewei-ligen Pflegedienstleitung erfragt. In den elf besuch-ten Einrichtungen wurden insgesamt 24 Wohnberei-che erfasst. Im Durchschnitt verfügte jede Einrich-tung über 3,4 Wohnbereiche [2–5]. Die durchschnitt-liche Anzahl der Zimmer je Wohnbereich lag bei 21Zimmern [12–35], wobei deutlich mehr Doppelzim-mer als Einzelzimmer vorhanden waren. Im Hinblickauf die Auslastung der Einrichtungen lässt sich fest-

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Tab. 2 Im H.I.L.DE.-Projektberücksichtigte Dimensionender Lebensqualität und Methodenzu ihrer Erfassung

Geronto-psychiatrischeUntersuchung

Bewohner-interview

Pflege-interview

Angehörig-interview

TESS-NH Analysevon Pflege-

dokumenten

Räumliche Umwelt x x xBetreuungsqualität x x xVerhaltenskompetenz x x xMedizinisch-funktionalerStatus

x x x

Kognitiver Status x xPsychopathologie undVerhaltensauffälligkeiten

x x

Subjektives Erleben undemotionale Befindlichkeit

x x x

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stellen, dass im Vergleich zu den Einzelzimmern eindeutlich größerer Anteil der Doppelzimmer zumZeitpunkt der Begehung nicht belegt war.

Die weitere Analyse der vorliegenden Beobach-tungsdaten orientierte sich an vier für die Pflegeund Betreuung demenzkranker Bewohner in Pfle-geeinrichtungen zentralen Zielsetzungen:n Sicherheitn Orientierungn Privatheit, Kontrolle, Autonomien Gestaltung des sozialen Milieus

Auf der Grundlage der als Operationalisierung dieserübergeordneten Bereiche gewählten Merkmale ließensich mit Hilfe eines gruppierenden Verfahrens (Clus-teranalyse) drei verschiedene Typen von Wohnberei-chen differenzieren:1) Standardwohnbereiche: Hier waren vor allem

Merkmale der Sicherheit (Schlösser an Türen,Ausgangskontrolle etc.) stark ausgeprägt. AndereMerkmale wie Privatheit oder Gestaltung des so-zialen Milieus waren deutlich geringer ausgeprägt.

2) Kommunikative Wohnbereiche: In diesen Wohn-bereichen wurde neben der Sicherheit vor allemviel Wert auf die Gestaltung des sozialen Milieusgelegt. Diese Bereiche waren z. B. mit Gemein-schaftsküchen ausgestattet, die als regelmäßige Be-gegnungsstätten für die Bewohnerinnen und Be-wohner dienten.

3) Wohnbereiche mit geringerem Sicherheitsstandardund geringen Kommunikationsräumen: In diesenWohnbereichen waren Merkmale der Sicherheitdeutlich geringer ausgeprägt als im erstgenanntenTypus (Standardwohnbereich); zugleich fehltenKommunikationsräume weitgehend.

Soziale Umwelt

Bei der Erfassung der sozialen Umwelt orientiertenwir uns am Social Convoy Model von Kahn und An-tonucci [9]. Die befragten Pflegekräfte wurden zu-nächst gebeten, diejenigen Personen zu nennen, wel-che aus ihrer Sicht für die jeweiligen Bewohnerinnenund Bewohner emotional bedeutsam sind. Im An-schluss daran sollten die genannten Personen mitHilfe von drei konzentrischen Kreisen nach ihreremotionalen Bedeutung für die Bewohnerin bzw.den Bewohner geordnet werden, wobei emotionalsehr bedeutsame Menschen dem mittleren Kreis undemotional weniger bedeutsame Personen den äuße-ren beiden Kreisen zugeordnet werden sollten.

Die Analyse zeigte zunächst, dass in dem inners-ten und dem mittleren Kreis vor allem Familienmit-glieder und professionelle Helfer (z. B. Pflegekräfteoder Beschäftigungstherapeuten) eingetragen wur-den. Des Weiteren wurde deutlich, dass aus Sicht derPflegekräfte auch bereits verstorbene Personen(meist Ehepartner, Eltern oder Geschwister) eine be-deutsame Rolle im Erleben der Bewohnerinnen undBewohner darstellen. Sowohl mit Bezug auf die nochlebenden als auch mit Bezug auf die bereits verstor-benen Netzwerkpartner ist festzustellen, dass einehohe emotionale Bedeutsamkeit für den Bewohnerausdrücklich nicht mit positiv valenten Kontaktengleichgesetzt werden darf.

Betreuungsqualität

Die Dimension „Betreuungsqualität“ wurde imH.I.L.DE.-Projekt vor allem über Fragen zur Qualifi-

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Abb. 3 Anzahl positiver Kontakte zu nahestehenden Bezugspersonen

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kation der Mitarbeiter und zum Schmerzerleben imPflegeinterview sowie über Fragen zum Schmerzerle-ben im Angehörigeninterview operationalisiert.

Hinsichtlich der Grundqualifikation der Pfle-gekräfte zeigte sich, dass der Anteil der examiniertenAlten- und Krankenpfleger mit etwa zwei Drittelnüber der zu erfüllenden Fachkraftquote lag. Dieserfür eine insgesamt hohe Betreuungsqualität spre-chende Befund wird durch die Tatsache relativiert,dass lediglich acht der befragten Pflegekräfte anga-ben, eine gerontopsychiatrische Weiterbildung absol-viert zu haben. Für ein gewisses Defizit an geronto-psychiatrischen Kenntnissen spricht der vergleichs-weise hohe Anteil an Bewohnerinnen und Bewoh-nern, die von den Pflegekräften unzutreffend als de-menzkrank eingestuft wurden. Weitere Analysen zei-gen, dass insbesondere im Falle nichtkognitiverSymptome wie Angst und abweichendem motori-schen Verhalten eine Fehleinstufung als demenz-krank wahrscheinlich ist, während ein gestörterSchlaf-Wach-Rhythmus oder motorische Unruhevergleichsweise selten eine derartige Fehleinschät-zung zur Folge haben.

Für die Erfassung des Schmerzerlebens wurde inder H.I.L.DE.-Studie auf Anregung des DGSS-Ar-beitskreis „Alter und Schmerz“ die deutsche Versionder Pain Assessment in Advanced Dementia (PAI-NAD, 32) erprobt. Pflegekräfte und Angehörige ha-ben hier die Aufgabe, eine Reihe unterschiedlicherSituationen anhand der fünf Beobachtungskategorien(1) breathing, (2) negative vocalization, (3) facial ex-pression, (4) body language und (5) consolability ein-zuschätzen. Zusätzlich wurden Pflegekräfte und An-gehörige gefragt, ob die Bewohnerinnen und Bewoh-ner ihrer Einschätzung nach gegenwärtig unterSchmerzen leiden und wie stark diese seien. Die bis-lang vorliegenden Ergebnisse sprechen dafür, dass

Angehörige im Vergleich zu Pflegekräften eher vonSchmerzen ausgehen und diese tendenziell auch alsstärker einschätzen.

Verhaltenskompetenz

Die ADL-/IADL-Kompetenz wurde mit Hilfe des Bar-thel-Index erfasst. Des Weiteren waren in derH.I.L.DE.-Studie die verbalen und nonverbalen Fä-higkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner von In-teresse.

Im Pflegeinterview wurden die Pflegekräfte um ei-ne Einschätzung der interaktiven Fähigkeiten der Be-wohnerinnen und Bewohner gebeten. Dabei wurdezunächst gefragt, inwieweit die sprachliche Mittei-lungsfähigkeit der Bewohnerinnen und Bewohnereingeschränkt ist, wobei mögliche Einschränkungennach drei Schweregraden differenziert werden(1 = Wortfindungsstörungen, 2 = große Schwierigkei-ten, verbal zu kommunizieren, 3 = verbale Kommuni-kation nicht mehr möglich). Sofern aus Sicht derPflegekräfte Einschränkungen der verbalen Kom-munikationsfähigkeit vorlagen, wurde weiter gefragt,inwieweit die Bewohnerinnen und Bewohner in derLage seien, ihre Bedürfnisse nonverbal auszudrückenund inwieweit der Eindruck bestehe, dass die Be-wohnerinnen und Bewohner im Allgemeinen verste-hen, was man ihnen sagt.

Medizinisch-funktionaler Status

Die gerontopsychiatrischen Untersuchungen umfass-ten eine Exploration sowie die Erhebung des all-

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Abb. 4 Anzahl negativer Kontakte zu nahestehenden Bezugspersonen

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gemeinmedizinischen und neurologischen Status mitEinschätzung von Allgemein- und Ernährungs-zustand. In Anbetracht ihrer möglichen Auswirkun-gen auf die in anderen Projektteilen zu beurteilendeAusdrucksmotorik, aber auch im Hinblick auf mögli-che Nebenwirkungen einer psychotropen Medikationsowie die psychopathologische Beurteilung der Psy-chomotorik wurden Bewegungs- und Koordinations-störungen einschließlich extrapyramidalmotorischerAuffälligkeiten gezielt berücksichtigt. Hierfür wurdeunter anderem die von der eigenen Gruppe ent-wickelte Heidelberger Neurologische Soft-Signs-Skala[28] in einer adaptierten Version eingesetzt. Die De-menzdiagnostik erfolgte gemäß NINCDS-ADRDA-Kriterien [23] anhand der klinischen Befunde,fremdanamnestischer Angaben über Symptomatikund Verlauf sowie der zur Verfügung stehendenapparativen Untersuchungsergebnisse.

Die Bewohner befanden sich – gemessen an All-gemeinzustand und Ernährungszustand – in einerguten körperlichen Verfassung. Der Allgemein-zustand wurde von den Projektärzten bei 63% als„gut“ eingeschätzt, bei 33% als „mäßig“ und ledig-lich bei 4% als „schlecht“. 23% der Bewohner befan-den sich in adipösem Ernährungszustand, bei 55%wurde der Ernährungszustand als „gut“, bei 18% als„mäßig“ und wiederum bei 4% als „schlecht“ bewer-tet. Diese Zahlen sprechen für eine insgesamt guteallgemeinpflegerische Versorgung in den untersuch-ten Heimen. Leicht und schwer Demenzkranke un-terscheiden sich dabei nicht signifikant im Allge-meinzustand und Ernährungszustand. Zeichen einesverminderten Blutsauerstoffgehalts (Zyanose) fandensich zusammen mit einem ausgeprägten Flüssigkeits-mangel (Exsikkose) lediglich bei einem Bewohner.Hinweise auf eine Parkinson-Symptomatik mit derentsprechenden Trias von Rigor, Tremor und Akine-se fanden sich bei zwei Bewohnern.

Kognitiver Status

Die Zusammenstellung der neuropsychologischenTestbatterie erfolgte mit dem Ziel, ein breites Spekt-rum neuropsychologischer Defizite zu berücksichti-gen, die Erleben und Verhalten der Bewohner unmit-telbar beeinträchtigen können, wie etwa apraktischeoder mnestische Störungen. Zudem waren solcheStörungen zu adressieren, die analog den extrapyra-midalmotorischen Phänomenen in der neurologi-schen Untersuchung andere Untersuchungsgrößenbeeinflussen können, etwa weitreichende aphasischeStörungen. Andererseits war die Testbatterie so zugestalten, dass sie bei den in der Regel schon mittel-gradig bis schwer beeinträchtigten Heimbewohnern

überhaupt ohne weitere Belastungen durchführbarwar. Wir haben uns deshalb für eine Basistestungmit dem Mini-Mental-Status-Test (MMST, 7) ent-schieden, zusätzlich wurden, soweit in Anbetrachtder Schwere der Erkrankung möglich, die CERAD-Testbatterie und der Uhrentest eingesetzt. Die Auf-gaben zur phonemischen Wortflüssigkeit und deradaptierte Boston-Naming-Test zur Wortfindung ausder CERAD-Batterie konnten bei 71 bzw. 74 Bewoh-nern durchgeführt werden. Mit der gesamten Test-batterie einschließlich der Aufgaben zur unmittel-baren und verzögerten Merkfähigkeit und zur kons-truktiven Praxie wurden 34 Bewohnern getestet, mitdem Uhrentest 71. Als Instrument zur globalen Ein-schätzung der Schwere der Demenz, das sich auchan Alltagsfertigkeiten orientiert, diente die GlobalDeterioration Scale (GDS), die bei allen 121 Bewoh-nern erhoben wurde.

Die Erfassung autobiographischer Erinnerungenmit dem Bielefelder Autobiographisches Gedächt-nisinventar (BAGI, 22) nimmt eine besondere Stel-lung zwischen neuropsychologischen und psycho-pathologischen Untersuchungen ein. Das BAGI misstzentrale Defizite bei Demenzen, die sich den Betrof-fenen selbst, aber auch ihren Angehörigen und Pfle-genden in Form eines Verlusts des Wissens um dieeigene Person mitteilen. Es liefert Informationenüber semantische und episodische Gedächtnisinhaltesowie über die subjektive Lebendigkeit der Erinne-rung. In unserer Untersuchung wurden insgesamt 71Bewohner mit dem BAGI zu ihrer Schulzeit befragt.Die Schulzeit wurde gewählt, da dieser Lebens-abschnitt entsprechend dem Ribot’schen Gradientenin der Regel selbst in fortgeschrittenen Stadien derErkrankung erinnert wird.

Die untersuchten Bewohner erreichten im MMSE– als Maß für die kognitive Einschränkung – durch-schnittlich 9,09 Punkte (Standardabweichung: 7,72),der durchschnittliche Punktwert in der GDS – alsglobales Maß für die Beeinträchtigung – lag bei 5,13(Standardabweichung: 1,34, Median: 5). Das Vertei-lungsmuster mit einem Schwerpunkt bei mittlerenbis schweren Demenzen (siehe Abb. 5) verweist aufdie Situation in den Heimen, in denen zunehmendschwerer Erkrankte versorgt werden. Entscheidendfür das klinische Bild demenzieller Erkrankungensind Art und Ausprägung der nichtkognitiven Stö-rungen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass gemes-sen am NPI fast alle Bewohner (89%) in irgendeinerForm unter psychiatrischen Auffälligkeiten leiden(siehe Abb. 6). Am häufigsten sind Depressivität(53%), Apathie (46%) und Erregung (41%) sowiemotorische Unruhe (40%). Die Schwere der nicht-kognitiven Störungen nimmt insgesamt erwartungs-gemäß mit fortschreitender Demenz etwas zu. AmBeispiel der Apathie zeigt sich jedoch, dass die

114 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 38, Heft 2 (2005)© Steinkopff Verlag 2005

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Symptomatik im Einzelfall sehr unterschiedlich aus-geprägt sein kann (siehe Abb. 7).

Die Auswertung des BAGI zeigt, dass demenz-kranke Menschen bereits in frühen Stadien ihrer Er-krankung von einem Verlust autobiographischenWissens betroffen sind (siehe Abb. 8), wobei ins-besondere episodische Inhalte verloren gehen, wäh-

rend semantische Informationen noch relativ langeverfügbar bleiben (siehe Abb. 9).

Dies entspricht einem Nachlassen des lebendigenWissens um die eigene Lebensgeschichte. Dass dieDefizite im BAGI nicht einfach Folge einer Aphasiesind, zeigt der fehlende Zusammenhang mit demTest zur Wortfindung in der CERAD-Batterie; auch

115S. Becker et al.Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.)

Abb. 5 Prozentuale Verteilung der GDS-Werteals globale Einschätzung der Schwere der Be-einträchtigung. Die abnehmende Häufigkeit von6 auf 7 geht darauf zurück, dass zahlreiche dermit GDS 7 bewerteten Bewohner so schwer er-krankt waren, dass sie selbst zur nonverbalenKontaktaufnahme nicht mehr in der Lage wa-ren und damit nicht an der Untersuchung teil-nehmen konnten

Abb. 6 Häufigkeit nichtkognitiver Störungenim NPI in Prozent (Mehrfachnennungenmöglich)

Abb. 7 Zusammenhang zwischen kognitivem Status gemäß MMSE undSchwere der nichtkognitiven Störung im NPI-Summenscore (r = 0,30 p < 0,005;

links) sowie Apathie (r = –0,38 p < 0,005; rechts), gemessen in der AES (maxi-male Punktzahl 54, entsprechend schwerer Apathie)

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zu extrapyramidalmotorischen Störungen bestehtkein Zusammenhang.

Psychopathologie/Verhaltensauffälligkeiten

Der psychopathologische Befund mit möglichenStörungen von Bewusstsein und Orientierung, Stim-mung und Affekt, Wahrnehmung und Denken, An-trieb und Psychomotorik, kognitiven Defiziten sowieeiner möglichen Gefährdung wurde jeweils protokol-liert. Von den Pflegepersonen wurden Art, Umfangund Schwere von psychopathologischen Begleit-symptomen und der damit verbundene pflegerischeAufwand erfragt.

Nichtkognitive Störungen wie Verhaltensauffällig-keiten, Denkstörungen oder affektive Störungen wur-den mit dem Neuropsychiatric Inventory (NPI, 3) inder Pflegeheimversion erfragt. Als Informanten dien-ten Pflegekräfte, die mit dem jeweiligen Bewohnergut vertraut waren. Das NPI stellt ein verbreitetesund valides Instrument zur Erfassung nichtkogniti-

ver Symptome bei Demenzkranken dar. Es umfasstdas Spektrum möglicher Auffälligkeiten von Wahr-nehmungs- und Denkstörungen über Affekt- undAntriebsstörungen bis hin zu abweichendem Sozial-verhalten, wobei die einzelnen Symptombereiche gutvoneinander abgegrenzt sind und sowohl hinsicht-lich der Häufigkeit des Auftretens als auch derSchwere und des zusätzlichen pflegerischen Aufwan-des bewertet werden.

Ein besonderer Schwerpunkt unserer Untersuchun-gen war die Erfassung von Apathie als eines der häu-figsten psychopathologischen Symptome bei Demenz.Apathie kann als primärer Motivationsverlust begrif-fen werden [20]. Gerade bei der häufigsten Demenz-form, der Alzheimer-Demenz, tritt Apathie regelmä-ßig auf, manifestiert sich oft bereits in den frühen Sta-dien der Erkrankung [26] und steht mit dem Ausmaßder kognitiven Beeinträchtigung und Einschränkun-gen in Alltagsfertigkeiten in Zusammenhang [2, 12,19, 31]. Das NPI erfasst zwar in einem Unterpunktauch apathisches Verhalten, eine möglichst genaueEinschätzung ist jedoch von großer Bedeutung. Zurzusätzlich differenzierten Einschätzung von Apathiediente deshalb eine eigene, vom Verfasser autorisiertedeutsche Übersetzung der Apathy Evaluation Scale(AES, 21). Die AES erfasst in 18 Unterpunkten kogni-tive, emotionale und Verhaltensaspekte der Apathie.Unsere Übersetzung der AES stellt gegenwärtig dieeinzige reine Apathie-Skala in deutscher Sprache dar.Die psychometrische Qualität konnte in Kooperationmit dem Zentrum für neuropsychologische Forschungder Universität Trier in Untersuchungen an Patientenmit unterschiedlichen psychiatrischen und neurologi-schen Krankheitsbildern sowie gesunden Kontrollper-sonen gezeigt werden. In der gerontopsychiatrischenUntersuchung kam die Fremdbeurteilungsskala derAES zum Einsatz, bei der wie beim NPI eine Pflege-fachkraft zu ihrer Einschätzung des Bewohners be-fragt wurde. NPI und AES wurden bei allen Bewoh-nern erhoben, die AES im Rahmen einer Validitäts-untersuchung bei 91 Bewohnern auch zu einem zwei-ten Zeitpunkt.

In den psychopathologischen Befunden zeigt sich,dass keiner der untersuchten Bewohner an einer Be-wusstseinsstörung litt. Die Orientierung über Zeitund Ort war dagegen in aller Regel nicht mehr vor-handen. Der größte Teil der untersuchten Bewohnerwar zudem situativ nicht orientiert und damit unteranderem nicht in der Lage, das Heim als eigenenWohnort zu identifizieren. Zumeist bestanden, inAbhängigkeit vom jeweiligen Schweregrad der Er-krankung, Einschränkungen des deklarativen Ge-dächtnisses, die vor allem episodisches Wissen underst in zweiter Linie semantische Informationen be-trafen. Auch waren häufig Wortfindungsstörungenund eine Apraxie zu beobachten.

116 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 38, Heft 2 (2005)© Steinkopff Verlag 2005

Abb. 8 Abnahme des autobiographischen Wissens im Laufe der Demenz

Abb. 9 Differenzierte Darstellung der autobiographischen Gedächtnisdefizite:Verlust semantischen Wissens, Abnahme frei und detailliert berichteter Episo-den im Laufe der Demenz

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Nach den Ergebnissen einer Clusteranalyse wur-den anhand der nichtkognitiven Symptome und imEinklang mit klinischen Prägnanztypen 5 Unter-gruppen gebildet (siehe Tab. 3). Die erste Gruppezeichnet sich durch vergleichsweise „wenige“ nicht-kognitive Symptome aus. In der zweiten, der „apa-thischen“ Gruppe steht die Apathie ganz im Vorder-grund und findet hier auch ihre stärkste Ausprä-gung; zugleich ist auch ein abweichendes motori-sches Verhalten relativ stark ausgeprägt. Die dritteGruppe ist durch Vorherrschen der abweichendenMotorik und die stärkste Ausprägung von Schlaf-störungen gekennzeichnet. Da hier auch Depressivi-tät stark ausgeprägt ist, entspricht das Gesamtbildklinisch einer agitierten Depression und wird des-halb als „depressiv“ charakterisiert. Im vierten Clus-ter, mit „psychotisch“ bezeichnet, prägen Wahn, Er-regung und Reizbarkeit das Bild, was für das Vorlie-gen einer „Psychose bei der Demenz“ kennzeichnendist, während es sich beim fünften Cluster um einbuntes Bild „vieler“ verschiedener psychopathologi-scher Erscheinungen in stärkerer Ausprägung han-delt, wobei sowohl Halluzinationen, Depressivitätund Ängstlichkeit als auch Euphorie und Enthem-mung, möglicherweise im mehr oder weniger ra-schen Wechsel, auftreten.

In einem zweiten Schritt wurden die Untergrup-pen darauf hin untersucht, inwieweit sich die Be-wohner im Hinblick auf ihren kognitiven Status, dieglobale Beeinträchtigung oder ihr Alter unterschei-den. Dabei zeigt sich, dass der GDS-Wert als globa-

les Maß für die Beeinträchtigung in allen Clustern inetwa gleich ist, mit Ausnahme von Cluster 1, in demdie Einschränkungen etwas geringer eingeschätztwerden. Die einzelnen Gruppen unterscheiden sichjedoch deutlich in ihren MMST-Scores. Dies weistdarauf hin, dass ein Zusammenhang zwischen demkognitiven Status und Art und Ausprägung dernichtkognitiven Störungen besteht. Insbesondere dieapathische Subgruppe und die Bewohner mit zahl-reichen unspezifischen Symptomen zeigen ver-gleichsweise schlechte kognitive Leistungen. Im Alterunterscheiden sich die einzelnen Gruppen nicht sig-nifikant (siehe Tab. 4).

Subjektives Erlebenund emotionale Befindlichkeit

Die in Lawtons Modell der Lebensqualität hervor-gehobene Unterscheidung zwischen der objektiv ge-gebenen und der subjektiv erlebten räumlichen undsozialen Umwelt [17] ist auch für das H.I.L.DE.-Pro-jekt zentral. Bei der Erfassung der räumlichen Um-welt versuchen wir – wie bereits dargestellt –, einedifferenzierte „ökologische Karte“ der verschiedenenStationen und Gemeinschaftsräume der an unsererUntersuchung beteiligten Heime wie auch der Zim-mer, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner le-ben, zu entwickeln – hier stellt die Umweltpsycholo-gie Instrumente zur Verfügung, die sich auch für un-

117S. Becker et al.Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.)

Tab. 3 Ergebnis der Clusteranalysemit Ausprägung des jeweiligen NPI-Subscores in den einzelnen Clustern

1„wenig“N = 55

2„apathisch“N = 25

3„depressiv“N = 17

4„psychotisch“N = 15

5„ausgeprägt“N = 9

Wahn 0,13 ± 0,39 0,32 ± 0,9 1,18 ± 2,24 4,53 ± 4,5 2,56 ± 3,5Halluzinationen 0,16 ± 0,57 0,6 ± 2,45 0,76 ± 1,79 0,67 ± 1,8 3,67 ± 5,57Erregung 0,49 ± 1,14 2,76 ± 3,98 1,47 ± 2,15 5,73 ± 2,37 4,3 ± 4,12Depressivität 1,36 ± 1,92 0,92 ± 1,78 3,35 ± 3,84 2,6 ± 3,54 5,0 ± 3,97Angst 0,73 ± 1,48 0,64 ± 1,47 1,88 ± 2,71 0,87 ± 2,1 9,33 ± 2,83Euphorie 0,31 ± 1,26 0,76 ± 2,54 0,41 ± 1,46 0,47 ± 0,99 2,22 ± 3,07Apathie 1,38 ± 2,61 8,64 ± 2,87 1,0 ± 1,84 0,87 ± 1,88 3,33 ± 3,9Enthemmung 0,2 ± 0,65 0,16 ± 0,55 0,94 ± 2,08 2,13 ± 3,18 3,22 ± 4,74Reizbarkeit 0,42 ± 1,4 0,32 ± 0,85 2,65 ± 2,91 4,47 ± 3,4 2,67 ± 3,46Abweichende Motorik 1,73 ± 3,58 4,12 ± 4,06 4,82 ± 4,42 1,2 ± 1,82 4,44 ± 5,46Schlafstörungen 0,2 ± 0,75 3,0 ± 3,51 8,23 ± 3,29 0,0 ± 0,0 2,89 ± 3,85Essstörungen 1,96 ± 3,52 0,72 ± 1,72 1,94 ± 3,88 1,33 ± 2,89 5,11 ± 5,01

Tab. 4 Alter in Jahren, kognitiverStatus im MMSE und demenzschwerein der GDS in den einzelnen Clustern

1„wenig“N = 55

2„apathisch“N = 25

3„depressiv“N = 17

4„psychotisch“N = 15

5„ausgeprägt“N = 9

Duncan-Test

Alter 86,6 ± 6,1 82,9 ± 8,4 83,3 ± 6,7 83,4 ± 6,0 84,9 ± 9,5 n.sig.GDS 4,7 ± 1,4 5,8 ± 1,1 5,3 ± 1,1 5,1 ± 1,3 5,6 ± 1,2 „wenig“ < „ausgeprägt“MMSE 11,3 ± 7,9 5,8 ± 7,0 8,7 ± 6,8 9,3 ± 7,2 5,1 ± 7,3 „wenig“ > „ausgeprägt“

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sere Studie eignen. Zur Erfassung der sozialen Um-welt bedienen wir uns – auch darauf wurde bereitshingewiesen – der Methode der konzentrischen Krei-se nach Kahn und Antonucci [9]. Die subjektiv er-lebte räumliche Umwelt versuchen wir dadurch zuerfassen, dass wir den Bewohnern zum einen Bildervon verschiedenen Umweltbereichen des Heims zei-gen und deren mimische Reaktion auf diese Bilderanalysieren; zudem werden die Bewohner direkt zuihren Lieblingsplätzen (über diese geben uns diePflegekräfte, zum Teil auch die Angehörigen, Aus-kunft) sowie in ihr Zimmer begleitet, wobei ihr mi-mischer Ausdruck bei einem Verweilen an diesenPlätzen erfasst und analysiert wird. Bei der Erfas-sung der subjektiv erlebten sozialen Umwelt sind wirauf eine differenzierte Beschreibung des sozialenNetzwerks eines Bewohners sowie der Häufigkeit derKontakte mit den Mitgliedern dieses Netzwerkesdurch die Pflegekräfte angewiesen.

Für die Erfassung des subjektiven Erlebens derBewohner in H.I.L.DE. ist die Annahme zentral, dassauch in fortgeschrittenen Stadien der Demenz –wenn die Betroffenen nicht mehr in der Lage sind,sich sprachlich mitzuteilen – ein differenziertes emo-tionales Erleben erhalten bleibt, welches insbesonde-re über die Mimik ausgedrückt wird und so für hin-reichend sensible Kontaktpersonen erkennbar ist [1,25]. Entsprechend wird in H.I.L.DE. ein Bewohner-interview für die Erfassung der emotionalen Befind-lichkeit genutzt. Des Weiteren werden Pflegekräfteund Angehörige gefragt, in welchen Situationen dieBewohner mit positiven und negativen Emotionenreagieren und anhand welcher Merkmale auf die je-weilige emotionale Befindlichkeit der Bewohner ge-schlossen wird. Ein zusätzlicher Ansatz zur Erfas-sung der emotionalen Befindlichkeit der Bewohne-rinnen und Bewohner besteht in einer Erfassung derPersönlichkeit als Fremdeinschätzung durch Pfle-gekräfte und Angehörige. Hier wurden in den Inter-views je zwei Subskalen der PersönlichkeitsfaktorenNeurotizimus (Ängstlichkeit und Depression) undExtraversion (Fröhlichkeit und Geselligkeit) aus demNEO-FPI-R (Form F, 24) vorgelegt.

Das Bewohnerinterview beinhaltet zwei Teile: In ei-nem ersten Teil werden nach ihrer emotionalen Valenzstandardisierte Bilder aus dem International AffectivePicture System (IAPS, 13) vorgelegt, die sich in Vor-untersuchungen als für die Zielgruppe demenzkrankerHeimbewohner geeignet erwiesen haben.

Im zweiten Teil des Bewohnerinterviews werdenfür die Alltagsgestaltung der Bewohnerinnen undBewohner relevante Orte (z. B. Zimmer, Aufenthalts-raum, gewohnter Essplatz) aufgesucht, wobei durchdie Frage: „Wie gefällt es Ihnen hier?“ emotionaleReaktionen angeregt werden. Das mimische Aus-drucksverhalten in beiden Teilen des Bewohnerinter-

views wurde für die weiteren Analysen mit einer Vi-deokamera aufgezeichnet. In der ersten Projektphasewurden zur Analyse des emotionalen Erlebens dasFacial Action Coding System (FACS, 4, 5) und dieApparent Affect Rating Scale (AARS, 18) eingesetzt.Da das Ziel des H.I.L.DE.-Projekts in der Entwick-lung eines in der Praxis einsetzbaren Instrumentsbesteht, sollte das in der Durchführung sehr aufwän-dige FACS zur Validierung der weniger zeitaufwändi-gen und in ihrer Handhabung vom Pflegepersonaleinfacher zu erlernenden AARS genutzt werden. Un-ter dieser Zielsetzung wurden 27 Videosequenzenparallel mit FACS und AARS analysiert. Dabei wurdedie AARS unabhängig von zwei verschiedenen Per-sonen (Ratern) eingesetzt. Die folgenden Ergebnissewurden gefunden:n Übereinstimmung beider Rater

(Inter-Rater Reliabilität): 0,85n Übereinstimmung jedes Raters bei

wiederholtem Rating (Retest-Reliabilität): 0,95n Übereinstimmung zwischen FACS

und AARS (Validität): 0,89

Die gefundenen Ergebnisse machen deutlich, dass esmit der AARS möglich ist, die jeweiligen Emotionenmit sehr hoher Wahrscheinlichkeit richtig zu identi-fizieren und zu klassifizieren. Als Schwäche derAARS stellt sich heraus, dass insbesondere feine,sehr gering ausgeprägte Gesichtsbewegungen in derdirekten Beobachtungssituation nicht erkannt wur-den. Eine klare Stärke gegenüber FACS war jedoch,dass wesentliche Beobachtungseinheiten wie z. B.„ausdruckslos“ bzw. „entspannter Gesichtsausdruck“,welche wichtige Unterscheidungskriterien für „Apa-thie“ bzw. „Wohlbefinden“ darstellen, in der AARSals Beobachtungseinheit vorkommen, während imFACS hierfür keine Codiereinheiten vorgesehen sind.

Auf die Frage nach emotional bedeutsamen Situa-tionen wurden von den Angehörigen mehr positiverlebte Situationen genannt als von den Pflegekräf-ten. Hier kann vermutet werden, dass Bewohner imAllgemeinen positiv auf Besuch reagieren und An-gehörige im Kontakt mit den Bewohnern entspre-chend häufig positive Emotionen beobachten. Unab-hängig davon wäre es wünschenswert, wenn Pfle-gekräfte mehr durch Freude bestimmte Situationenim Alltag der Demenzkranken nennen könnten, dadie Kenntnis entsprechender Situationen als eine we-sentliche Voraussetzung für eine gezielte Verbes-serung der emotionalen Grundstimmung von Be-wohnern anzusehen ist [1]. In einer stärkeren Sensi-bilisierung der Pflegekräfte für positiv valente Situa-tionen und – darauf aufbauend – in der gezieltenFörderung positiver Emotionen demenzkranker Be-wohner sehen wir entsprechend eine zentrale Auf-gabe zukünftiger Forschung.

118 Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Band 38, Heft 2 (2005)© Steinkopff Verlag 2005

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Hinsichtlich der Frage, anhand welcher Merkmaledie emotionale Befindlichkeit der Bewohner einge-schätzt wird, zeigte sich, dass die relative Bedeutungverbaler und mimischer Information mit der in Fra-ge stehenden Emotion variiert. Während sich das Er-leben von Freude den Auskünften der Pflegekräfteund Angehörigen zufolge vor allem aus dem mimi-schen Ausdruck ableiten lässt, wird Ärger primärdurch verbale Äußerungen erkennbar (vgl. Abb. 10und 11). Dabei antworteten die Angehörigen in ähn-licher Weise wie die Pflegekräfte. Es fällt allerdingsauf, dass alle Indikatoren emotionaler Befindlichkeitin der Gruppe der Angehörigen tendenziell häufigergenannt werden, was möglicherweise im Sinne einergegenüber den Pflegekräften höheren Sensibilität ge-deutet werden kann.

Diskussion

Die Zielsetzung des vorliegenden Beitrags bestandweniger darin, Befunde zur Lebensqualität demenz-kranker Menschen in stationären Einrichtungen zuberichten, als vielmehr in der Darstellung eines mul-tidimensionalen Verständnisses von Lebensqualitätund der zur Operationalisierung der differenziertenDimensionen gewählten Verfahren. Es sollte deutlich

gemacht werden, dass das im H.I.L.DE.-Projekt ein-gesetzte Instrumentarium – auch wenn dieses nichtin seiner Gesamtheit dargestellt werden konnte –umfassende Informationen über die Lebensqualitätdemenzkranker Menschen in stationären Einrichtun-gen zu erheben in der Lage ist, wobei der Perspekti-ve der Bewohner ebenso Rechnung getragen wirdwie der Perspektive der Pflegekräfte und jener derAngehörigen. Bereits die wenigen exemplarisch dar-gestellten Ergebnisse machen in vielfacher Weisepraktische Implikationen der Ergebnisse desH.I.L.DE.-Projekts deutlich, von denen abschließendeinige skizzenartig genannt werden sollen.

Die Ergebnisse zum medizinisch-funktionalenStatus zeigen, dass der Allgemein- und Ernährungs-zustand der Bewohnerinnen und Bewohner gut ist,was für eine gute pflegerische Grundversorgungspricht. Alle Bewohner litten an einer Demenz, wo-bei erwartungsgemäß der Alzheimer-Demenz diegrößte Bedeutung zukam. Eine Abklärung der De-menz war zuvor in aller Regel nicht erfolgt, obwohleine Diagnosesicherung auch unter Einsatz apparati-ver Untersuchung wie bildgebender Verfahren durch-aus möglich und sinnvoll ist.

Fast alle Bewohner litten unter nichtkognitivenSymptomen. Die psychiatrischen Auffälligkeiten tra-ten in unterschiedlichem Ausmaß auf und die Bewoh-ner lassen sich anhand der Ausprägung und gemäßklinischen Prägnanztypen in Gruppen unterteilen.Etwa die Hälfte der Bewohner weist nichtkognitiveStörungen in geringem Umfang auf, während die an-dere Hälfte schwerer betroffen ist. Hier zeigt sich dieBedeutung der klinischen Untersuchung, die eine Be-wusstseinsstörung oder ein delirantes Syndrom als Ur-sache der Auffälligkeiten ausschließen konnte. Die kli-nische Bedeutung der psychopathologischen Auffäl-ligkeiten ist kaum zu überschätzen, da diese das Er-leben und Empfinden der Betroffenen entscheidendprägen. Zudem besteht ein Zusammenhang zum kog-nitiven Status, weshalb eine adäquate Behandlungauch einen Beitrag zu einer Verbesserung der Kogni-tion leisten kann. Eine entsprechende Therapie erfor-dert jedoch eine differenzierte Diagnostik, die unteranderem primäre und sekundäre Ursachen unter-scheidet. Wie dargelegt, findet eine genaue Abklärungjedoch zumeist nicht statt.

Im Vergleich von internistischer und psychotro-per Medikation zeigt sich, dass auf rein somatischemGebiet offenbar eine ausreichende Versorgung vor-handen ist. Dagegen werden selbst Bewohner mitausgeprägten psychiatrischen Symptomen nicht odernur unzureichend behandelt. Dies betrifft insbeson-dere die zielgerichtete Behandlung spezifischer Stö-rungsbilder, wie Depressionen oder psychotischeSymptome, die häufig nicht adäquat sondern ledig-lich symptomatisch, insbesondere durch primär se-

119S. Becker et al.Das Heidelberger Instrument zur Erfassung von Lebensqualität bei Demenz (H. I. L. DE.)

Abb. 10 Identifikationsmerkmale von Freude

Abb. 11 Identifikationsmerkmale von Ärger

VerbaleÄußerungen

VerbaleÄußerungen

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dierende Medikamente, behandelt werden. Vor allembei ausgeprägter Unruhe wird oft ungerichtet eineKombination verschiedener Pharmaka verabreicht.Eine mögliche Ursache für die Lücken in Diagnostikund Behandlung demenzkranker Bewohner könnenunzureichende Information und Fortbildungsdefiziteauf Seiten der Behandler sein, zumal nur etwa 20%der Bewohner fachpsychiatrisch mitversorgt werdenund auch unter den Psychiatern die wenigsten übergerontopsychiatrische Expertise verfügen. Eine adä-quate gerontopsychiatrische Versorgung wäre nichtnur unter Einsatz vergleichsweise geringer Kosten zuerzielen, sondern dürfte auch erheblich zu einer ver-besserten Gesamtsituation der Bewohner beitragen.Auch ein verbessertes Fort- und Weiterbildungsange-bot erscheint hier sinnvoll.

Die Ergebnisse zur Betreuungsqualität sprechentrotz einer erfreulicherweise guten Grundqualifikati-on der Pflegekräfte für ein Defizit an gerontopsychi-atrischen Kenntnissen, denen durch geeignete Wei-terbildungsangebote zu begegnen wäre. Die bislangvorliegenden Befunde zum Schmerzerleben sprechendafür, dass der in der Literatur häufiger berichteteBefund, dass demenzkranken Menschen wenigerAnalgetika verschrieben werden [6, 8, 27], nicht aufeinen geringeren Bedarf an Schmerzmitteln zurück-geht, sondern vielmehr auf eine mangelnde Sensibili-tät für die Bedürfnisse von Menschen mit einge-schränkter Kommunikationsfähigkeit.

Die Ergebnisse zur Wahrnehmung der sozialenUmwelt demenzkranker Menschen durch das Pflege-personal zeigen, dass soziale Kontakte jeder Art, unddamit auch die emotional eher negativ geprägten,für Demenzkranke von großer Bedeutung seinkönnen. Die Auseinandersetzung mit anderen Mit-bewohnern kann eine wesentliche Quelle der Sti-mulation im Alltag von demenzkranken Pflegeheim-bewohnern darstellen, welche über die damit ver-bundenen Gefühle die Erfahrung der Lebendigkeitund Teilhabe am sozialen Leben des Wohnbereichsbegründen kann. Diese Gefühle wiederum, auchwenn sie durch ursprünglich negativ geprägte Emo-tionen ausgelöst wurden, haben einen durchaus po-sitiven Einfluss auf die erlebte Lebensqualität der be-

troffenen Demenzkranken. Eine mögliche Schlussfol-gerung aus diesen Ergebnissen ist, dass zumindestdie häufig geäußerte generelle Forderung nach derUnterbringung Demenzkranker in Einzelzimmernüberdacht und auf jeden Fall im Einzelfall kritischgeprüft werden sollte.

Der Befund, dass auch bereits verstorbenen Per-sonen eine bedeutsame Rolle für das Erleben de-menzkranker Menschen zukommt, unterstreicht dieBedeutung einer differenzierten Biographiearbeit inder Pflege und Betreuung Demenzkranker. Mit derenHilfe können wichtige Informationen über früheresoziale Kontakte gewonnen werden, die dann zur Sti-mulation emotional positiver Situationen und damitzur Lebensqualität Demenzkranker einen wichtigenBeitrag liefern können.

Als Ergebnis der Analyse mimischer Ausdrucks-muster ist festzuhalten, dass sich die AARS als reli-ables und valides Instrument zur Erfassung der emo-tionalen Befindlichkeit der Bewohnerinnen und Be-wohner in stationären Pflegeeinrichtungen und da-mit auch zur Operationalisierung einer zentralen Di-mension von Lebensqualität bei Demenzkranken be-währt hat. Weiterhin weisen diese Ergebnisse auchdarauf hin, dass die AARS im Vergleich zu FACSmöglicherweise das Verfahren mit der höheren An-wendungsrelevanz darstellt, da insbesondere für dienegative Emotion Ärger Lautäußerungen, welche inder AARS eine eigene Kodiereinheit darstellen, amhäufigsten zur Interpretation der Situation heran-gezogen wurden.

Sowohl die Pflege- als auch die Angehörigeninter-views machen deutlich, dass das mimische Aus-drucksverhalten eine wesentliche Bezugsgröße fürdie Beurteilung des emotionalen Zustandes dementerBewohnerinnen und Bewohner darstellt. Weiterhinkann daraus geschlossen werden, dass sowohl An-gehörige als auch Pflegekräfte durchaus bereits überimplizites Wissen hinsichtlich der Interpretation desmimischen Ausdrucksverhaltens verfügen, das übergezielte Schulung bewusst gemacht und damit alsMittel zur Beurteilung der Lebensqualität in der Pfle-ge und Betreuung Demenzkranker gezielt eingesetztwerden kann.

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