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J. J. Preyer DAS KENNEDY-RÄTSEL Ein Larry Brent-Roman

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J. J. Preyer

DAS KENNEDY-RÄTSEL

Ein Larry Brent-Roman

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© 2009 by BLITZ -VerlagRedaktion: Jörg Kaegelmann

Umschlaggestaltung und Satz: Mark Freier, MünchenIllustration: www.ralph-kretschmann.de

Druck und Bindung: Drogowiec, EUAll rights reserved

www.BLITZ -Verlag.deISBN 978-3-89840-276-7

Dieses neue Abenteuer von Larry Brent basiert auf den von Dan Shocker, alias Jürgen Grasmück (1940 - 2007),

geschaffenen Figuren.

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Das Schönste, was wir entdecken können,ist das Geheimnisvolle.

Albert Einstein

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Glossar

Die PSA (Psychoanalytische Spezial-Abteilung) hat ihrenHauptsitz mitten in New York, im Central Park unter dembekannten Speiserestaurant Tavern on the Green. ZweiStockwerke unter dem Kellergeschoss der Nobelgaststättebefindet sich die Welt der PSA. Büros, Labors und ein riesi-ges Rechen- und Kommunikationszentrum. Eine Geheim-tür führt in eine Kammer, die ein getarnter Lift ist, der nurvon PSA-Leuten genutzt werden kann. Einen besonderenZugang gibt es nur für den Begründer und Leiter der PSA,David Gallun, der als X-RAY 1 die mysteriöse Figur indem Gesamtgebilde der PSA ist.

PSA-Nachrichtenagenten verteilen sich zu tausendenin völlig normalen Berufen über die gesamte Welt. PSA-Agenten hingegen agieren nur in vierzig Positionen, vondenen zurzeit aus unterschiedlichen Gründen nicht allebesetzt sind. Diese Elite von Spezialisten wird durch einstrenges Auswahl- und Trainingsverfahren gewonnen.

Jeder PSA-Agent trägt einen Ring, der zur Kommuni-kation dient. Dieses winzige Schmuckstück hat die Formeiner Weltkugel. Weibliche Agenten tragen einen Anhän-ger. Ring und Anhänger sind auf die energetischen Kör-perströmungen ihres Trägers ausgerichtet. Entfernt mandieses Miniaturgerät gewaltsam oder sinkt die Körper-temperatur des Trägers, wird in der PSA-Zentrale dasTodessignal ausgelöst.

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MOON RIVER

New York, 11. September 2001

Larry Brent war spät dran. Das Treffen mit Joe Les-sing im World Trade Center war für halb neun ver-einbart. Als sich der Agent zu Fuß den Doppeltür-men im Süden Manhattans näherte, war es bereitszwanzig vor neun.

Für seine Verspätung hatte X-RAY 3, Agent derPSA, eigentlich keinen Grund. Er wäre pünktlich ge-wesen, hätte er seinen Lotus Europa von der LibertyStreet in die Tiefgarage des siebenteiligen Gebäu-dekomplexes manövriert. Von dort hätte er einender Aufzüge in das 34. Stockwerk des 1.368 Fuß ho-hen Nordturms nehmen können, in dem sich dieBüroräume des Kennedy Memorial Trust befanden,dem Lessing vorstand. Er hätte natürlich auch dieU-Bahn von seinem Apartment am Central Parknehmen und direkt unter dem World Trade Centeraussteigen können.

Larry entschied sich an jenem Morgen trotz desdichten Verkehrs dafür, mit dem Auto zum WorldTrade Center zu fahren. Etwas jedoch hielt ihn vondem Gebäude fern. Es war ein Gefühl, das ihn voreiner nahenden Gefahr warnte. Der Agent, der essich angewöhnt hatte, seinen Instinkten zu ver-

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trauen, stellte den roten Rennwagen auf einemParkplatz ab, der etwa eine halbe Meile entfernt vonseinem Ziel lag. Von dort bewegte er sich zu Fuß aufdas höchste Gebäude von New York zu.

Alles war wie immer, an jenem Dienstagmorgenim September. Ein kühler Wind vom Hudson herlöste den Nebel auf, der seit dem frühen Morgenüber Manhatten gelegen hatte. Die Herbstsonneschien trüb und müde auf die Metropole.

„Entschuldigen Sie mich bitte bei Mr. Lessing. Ichwerde in etwa einer Viertelstunde bei Ihnen ein-treffen“, teilte der PSA-Agent Miss Mortimer, derSekretärin des Kennedy Memorial Trust, über seinMobiltelefon mit.

„Mr. Lessing wartet auf Sie“, vernahm Larry dieangenehme Stimme der Büroangestellten. Die da-zugehörige Person mochte eine elegante Frau An-fang dreißig sein. Blond, dezent und gediegen ge-kleidet, mit einem betörenden Duft. Larry ließ sei-ne Phantasie spielen.

In diesem Moment umschloss ihn ein dunklerSchatten. Larry blickte nach oben. Eine Boeing 767flog in so geringer Höhe, dass Larry die rot-blaueMarkierung und die Aufschrift AMERICAN er-kennen konnte.

Die Maschine ist viel zu niedrig unterwegs!, durch-zuckte es ihn.

Kurz darauf bohrte sich die Boeing scheinbar laut-los in das obere Drittel des Nordturms des World

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Trade Centers. Sekunden der Stille folgten, dannrollte ein gigantischer Feuerball aus dem Gebäude.

Der Boden bebte unter dem Aufprall des Flug-zeugs. Der Hall von mehreren Detonationen brachsich in den Häuserschluchten von Lower Manhat-tan.

In den vielen Jahren seiner Tätigkeit bei der PSAhatte Larry einiges erlebt, Unglaubliches gesehen,doch dieser Augenblick raubte ihm den Atem. Erbrauchte einige Sekunden, um die Realität zu be-greifen.

Joe Lessings Anwaltskanzlei befand sich im un-teren Teil des betroffenen Turms. Larry musste ver-suchen, ihn telefonisch zu erreichen.

„Ich habe mit Schwierigkeiten gerechnet, Mr.Brent“, sagte der Anwalt bemerkenswert ruhig.Kaum zu glauben, er hatte sofort auf den Anruf rea-giert.

„Sie meinen, dass das Unglück mit dem Materi-al zu tun hat, das Sie mir zeigen wollen?“ Larrys Sin-ne waren auf das Äußerste geschärft.

„Natürlich. Ich werde die Daten in Sicherheit brin-gen. Wir treffen uns im Südturm, 91. Etage, in un-serem Archiv. Ich melde mich bei Ihnen, wenn es soweit ist.“

Mittlerweile waren Feuerwehr, Ambulanz undPolizei eingetroffen. Fernsehleute richteten bereitsihre Kameras auf den nun in dunklen Qualm gehüll-ten Nordturm. Neugierige und Menschen, die

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Freunde und Angehörige im Gebäude hatten, starr-ten entsetzt in die Höhe.

Larry Brent suchte Laurie’s Café in der MurrayStreet auf, dort lief der Fernseher. CNN zeigte Auf-nahmen des qualmenden Nordturms, immer wie-der unterbrochen von Interviews mit verstörten Pas-santen.

Worin bestand das Material, das der Mann ihmzeigen wollte? Auch X-RAY 1, David Gallun, der ihnzu Lessing beordert hatte, hatte darüber keine nähe-re Auskunft geben können.

Das Institut verwaltete Dokumente, die in Zusam-menhang mit dem ermordeten Präsidenten John F.Kennedy und seinem Bruder, dem JustizministerRobert Kennedy, standen.

Larry schlürfte gerade an seinem zweiten Espres-so, als sich Lessing telefonisch meldete.

„Ich habe es geschafft. Ich bin in Sicherheit. Kom-men Sie!“ Im Hintergrund knisterte es. Der Anwaltschrie, fluchte. Dann sagte er zwei Wörter, bevor erendgültig verstummte: „Moon River.“

In diesem Augenblick raste eine Boeing 767 in denoberen Teil des Südturms.

Larry stockte der Atem. Er ertappte sich bei demGedanken, dass er nie erfahren würde, wie Joe Les-sings Sekretärin tatsächlich aussah.

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Larry Brent befand sich bereits auf dem Weg zu sei-ner Kollegin Morna Ulbrandson, X-GIRL C, als einehalbe Stunde später eine Boeing 757 in die Westsei-te des amerikanischen VerteidigungsministeriumsPentagon am Potomac River in Arlington raste.

Eine Minute vor zehn Uhr vormittags löste derKollaps des Südturmes des World Trade Centerseine gewaltige, gelblich graue Staubwolke überManhattan aus. Zehn Minuten danach stürzte einFlugzeug der United Airlines, eine Boeing 757, süd-östlich von Pittsburgh ab. Die Maschine hatte Kursauf die Ostküste genommen.

Larry Brent war trainiert, zielgerichtet zu denkenund zu handeln, und Emotionen, die einer Missionabträglich waren, zwar zu registrieren, ihnen abernicht nachzugeben. Dennoch fiel es ihm schwer, denSchauplatz des dramatischen Geschehens hintersich zu lassen.

Es galt, kühlen Kopf zu bewahren. Er durfte sichnicht selbst gefährden. Nur so konnte es ihm gelin-gen, die Hintergründe des Anschlags zu klären.

Es musste sich um eine wahrhaft große Sache han-deln, der Joe Lessing auf der Spur gewesen war. DieTatsache, dass man beide Türme des World TradeCenters treffen wollte und auch traf, ließ vermuten,dass der Gegner ihn und das Material in seinenHänden vernichten wollte, bevor es an die Öffent-lichkeit gelangte.

Kennedy und Moon River waren die einzigen An-

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haltspunkte, über die der PSA-Agent Larry Brent imAugenblick verfügte.

Das Gebiet um das World Trade Center war weit-räumig abgeriegelt. Der U-Bahn-Verkehr in den Sü-den Manhattans war unterbrochen, die Börse bliebgeschlossen.

Über der Stadt dröhnten die Triebwerke von Mi-litärjets, die man wegen des Rauchs nicht sehenkonnte. Es stank nach verbranntem Kunststoff.

Larry ließ seinen Lotus stehen und begab sich mitHunderten New Yorkern auf einen langen Fuß-marsch weg vom Ort der Katastrophe. Die wegendes grauen Staubs, mit dem sie bedeckt waren, geis-terhaft wirkenden Menschen sprachen nicht unddrehten sich nicht zur qualmenden Ruine des WorldTrade Centers um. Sie wollten nur nach Hause, zuihren Familien.

Am Union Square Park konnte Larry ein Taxistoppen, das ihn schließlich zur PSA und zu Mor-na Ulbrandson bringen sollte.

X-RAY 3 betrat das Restaurant Tavern on the Greenim südlichen Teil des Central Park. Durch eine Ge-heimtür gelangte er zu einem getarnten Lift, der ihnzwei Stockwerke tiefer zum Hauptquartier der PSAbeförderte. Er benötigte mehr als fünf Minuten, umdurch die Labors und Arbeitsräume zum Büro vonMorna zu gelangen. Die grünen Augen seiner schwe-dischen Kollegin starrten auf den Bildschirm einesTV-Geräts.

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„Die Medienleute sind verrückt. Sie zeigen Auf-nahmen von Menschen, die in den Tod springen.Jedes Kind kann diese Bilder sehen“, sagte Mornaempört. „Schau dir das an!“

Der TV-Kommentator berichtete gerade von ei-nem Feuerwehrmann, der von einem fallenden Kör-per getroffen worden war.

Als sie zu Larry aufblickte, bemerkte sie, dass ermit hellem Staub bedeckt war.

„Du warst auch dort?“, fragte sie leise.Larry nickte. „Ein Auftrag von X-RAY 1. Ich kam

leider zu spät.“ Nach einer Pause fügte er hinzu:„Oder glücklicherweise.“

Larry Brent drehte den Ton des Fernsehers zurückund erzählte seiner Kollegin von dem geplantenTreffen mit Joe Lessing und dem brisanten Materi-al, von dem dieser gesprochen hatte.

„Seine letzten Worte waren Moon River. Er woll-te auf etwas hinweisen.“

„Moon River“, wiederholte Morna. „Ich schlagevor, wir recherchieren.“

Der PSA-Bunker unter dem Tavern, in dem unteranderem auch die EDV-Anlage der Organisationuntergebracht war, befand sich in einem chaotischenZustand. Das Kommunikationssystem steckte tief ineiner Phase der völligen Umgestaltung. Die PSApasste sich der rasanten technologischen Entwick-lung des 21. Jahrhunderts an.

Als Schwerpunkt entwickelte die EDV-Expertin

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Sharon Monastir gemeinsam mit ihrem KollegenLiam Turmont eine verbesserte Mobilität des Sys-tems. Statt der Anlage im Bunker sollte das künfti-ge Netzwerk in kleine Einheiten aufgeteilt werden,die Tag und Nacht unterwegs waren. Auf LKWs, inWohnmobilen, auf Schiffen. In den USA, in Kana-da, Mexiko und natürlich Europa. Sollte es demGegner gelingen, Zugriff auf eine dieser Einheitenzu bekommen, löschte diese automatisch alle Daten.Der Rest des Systems würde klaglos weiter funk-tionieren. Eine perfekte Symbiose, die somit un-schlagbar wurde.

X-RAY 1, David Gallun, hatte jedoch angeordnet,das alte System vorläufig beizubehalten, inklusiveder Kommunikation über die Ringe und Anhänger,bis absolut sichergestellt war, dass die Neuerungeneinwandfrei funktionierten.

Wie auch immer. Larry Brent fand, dass SharonMonastir ehrgeizig war und enorm motiviert wirk-te. Sie war ein Gewinn für die PSA. Wenn sie lach-te, ging für Larry die Sonne auf. Morna teilte denEnthusiasmus ihres Kollegen kaum, was jedoch we-niger an den Fähigkeiten der neuen Kollegin lag, alsan Larrys Begeisterung über sie.

„Die Anlagen funktionieren“, kam Sharon Monas-tir lächelnd auf Larry Brent und Morna Ulbrandsonzu. „Welche Infos braucht ihr?“

„Wenn Big Wilma tatsächlich noch arbeitet, kom-me ich allein zurecht“, wies Morna die Kollegin kühl

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ab und suchte im alten Rechner nach Text und Me-lodie von Moon River.

„In Ordnung, wir haben ohnehin noch genug zutun“, verabschiedete sich die rothaarige EDV-Ex-pertin. Sie ging und Larry schaute ihr lange nach.

Morna wurde schließlich fündig und fragte, ob erdie Stimme von Frank Sinatra oder die von AudreyHepburn bevorzuge.

Larry entschied sich für Audrey Hepburn, die denSong Moon River in dem Film Frühstück bei Tiffanygesungen hatte. Die zarte Stimme der Schauspiele-rin, begleitet von Gitarrenklängen und dem Rau-schen von Meereswellen, bildete einen beruhigen-den Kontrast zu den sonstigen Ereignissen dieses 11. Septembers.

Moon River, wider than a mile, I’m crossing you in style some day –„Sehr beeindruckend“, stellte Morna Ulbrandson

fest. „Wenn auch nicht mehr ganz auf der Höhe derZeit. Wo sollen wir ansetzen?“

„Einen Besuch bei Lessings Witwe. Gemeinsammit dir.“

„Zu trauernden Witwen wagst du dich nicht al-lein?“ Morna versuchte die übliche lockere Stim-mung zwischen ihr und Larry wieder aufzubauen,doch seitdem diese neue rothaarige Mitarbeiterinaufgetaucht war, wollte ihr das nicht mehr so rechtgelingen.

„So ist es.“

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„Und ich soll herausfinden, wo sich die Wohnungder Lessings befindet?“

„Bitte.“Kaum eine Minute später hatte Morna ihr Ergeb-

nis. „Mafia-Land. Die Südseite von Long Island.Massapequa Park.“

„Reiche Mafia wenigstens.“ Larry zwinkerte sei-ner schwedischen Kollegin zu. „Unweit von Amity-ville. Dann auf in den Kampf!“

*

Am Nachmittag suchten die beiden Agenten Mrs.Ava Lessing auf.

Die Frau war nicht allein in ihrem schneeweißlackierten Holzbau vom Beginn des 20. Jahrhunderts.An der Hand hielt sie Brenda, ihre kleine Tochter.

Ein Mann, der sogar den sechs Fuß hohen Larryum einen Kopf überragte, trat aus dem Salon desHauses, um zu sehen, wer gekommen war. Er stell-te sich als Sam Ferguson vor.

„Sam ist Astronaut. Ein Freund von Joe. Er stehtuns in diesen schlimmen Stunden bei.“

Larry und Morna wechselten einen raschen Blick. Aus der halb geöffneten Tür des großen Wohn-

raumes drang dumpf die Stimme einer Frau. Esklang, als ob sie betete.

„Meine Schwiegermutter. Sie ist völlig verstört“,erklärte Mrs. Lessing.

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„Können wir vor der Kleinen sprechen?“, fragteLarry.

„Brenda weiß, dass ihr Vater ...“ Die dunkelhaarige Frau, die nicht einmal dreißig

Jahre alt sein mochte, begann zu schluchzen.„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mrs. Lessing,

werde ich mit Ihrer Tochter ...“ Morna näherte sichdem Kind.

„Ich heiße Olivia. Olivia Lessing.“ Die Vierjähri-ge sprach langsam und sehr betont.

„Ich werde mit Olivia spazieren gehen“, vollen-dete Morna. „Sie soll mir die Gegend erklären. Mr.Brent kann inzwischen das Dienstliche mit Ihnen be-sprechen.“

„Ich bin froh, wenn Olivia auf andere Gedankengebracht wird. Nehmen Sie Platz, Mr. Brent. Sammacht uns frischen Kaffee.“

„Und warme Brötchen.“ Der große Mann nicktegutmütig. „Wir Astronauten sind notgedrungenhäusliche Typen.“

Astronauten!Larry Brent eilte Morna auf dem Flur nach und

bat sie, Olivia zu befragen, ob sie etwas über MoonRiver sagen konnte. „Aber vorsichtig.“ Er senkte sei-ne Stimme. „Wir dürfen die Kleine nicht gefährden.“

Larry drehte sich um und ging zurück, als SamFerguson gerade Kaffee, Butter und Brötchen in denSalon brachte.

Sie setzten sich schweigend. Larry genoss den Im-

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biss, dann erklärte er Ava Lessing den Grund sei-nes Besuchs. „Ich hatte mit Ihrem Mann ein Treffenin seinem Büro vereinbart. Da ich mich verspätete,telefonierten wir kurz vorher miteinander. Zum ei-gentlichen Treffen kam es dann nicht mehr.“

„Joe muss in seinem Büro ums Leben gekommensein. Offenbar konnte er das Gebäude nicht recht-zeitig verlassen.“

Aus diesen Worten schloss Larry, dass Mrs. Les-sing nichts vom Archiv des Kennedy-Instituts imSüdturm des World Trade Centers wusste. Er muss-te vorsichtig sein und genau abwägen, was er ihrund ihrem Trauerbegleiter mitteilten konnte.

„Es ging um einen Vertrag zur Veröffentlichungvon Dokumenten des Instituts. Wir wollten letzteDetails besprechen“, erklärte er.

„Joe übermittelte sämtliche Daten aus seinemBüro zu seinem PC hier im Haus. Er arbeitete oftnoch daheim weiter.“ Mrs. Lessing rührte nachdenk-lich in ihrem Kaffee.

„Wir sind an diesen Aufzeichnungen sehr inter-essiert“, sagte Larry.

„Entschuldige, dass ich mich einmische“, unter-brach der Astronaut und strich mit einer Handüber seinen Bürstenhaarschnitt. „Die Arbeitgeberdeines Mannes vertrauen auf dessen Verschwiegen-heit.“

„Wir werden die Daten selbstverständlich in Zu-sammenarbeit mit der Polizei sichten und auswer-

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ten. Sie erlauben, dass ich gleich einen entsprechen-den Anruf mache?“

Sam Ferguson pflanzte sich unvermittelt vorLarry auf. „Ich ersuche Sie dringend, dies zu un-terlassen, bis Joe beerdigt ist. Oder sagen wir, biseine symbolische Bestattung stattgefunden hat.“ Et-was ruhiger fügte er hinzu: „Wir dürfen Ava in die-sen schweren Stunden nicht überfordern.“

Die dunkel gekleidete, zierliche alte Dame im Sa-lon hatte ihr Gebet unterbrochen, aufgeschrecktdurch die gehobene Lautstärke des Gesprächs vorder halb offenen Tür. Mit einem Buch in der Handtrat sie aus dem dämmrigen Raum.

„Es ist ein Zeichen. Ein Zeichen Gottes. Haltet Ein-kehr, bedenkt eure Taten, bereut, und vielleicht wirdEr euch vergeben“, verkündete sie mit überra-schend kräftiger Stimme.

„Bitte, Mutter, verschone uns damit. Es ist allesschwer genug“, bat Ava Lessing die Mutter ihresMannes.

„Wer Augen hat, sehe, wer Ohren hat, höre“, fuhrdie Frau unbeirrt fort und begann mit monotonerStimme aus ihrem Buch zu lesen: „Und sprachen:Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen,des Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einenNamen machen! Denn wir werden sonst zerstreut in alleLänder. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadtund den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und derHerr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Spra-

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che unter ihnen allen, und sie haben das angefangen zutun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sichvorgenommen haben zu tun.“

„Hör auf, das ist unzumutbar“, unterbrach Mrs.Lessing ihre Schwiegermutter. „Diese grauenvollenWorte ...“

„Ich werde einen Arzt rufen“, sagte Sam Fergu-son. „Er muss sie beruhigen.“

Die Alte aber fuhr unbeirrt fort: „Wohlauf, lassetuns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren,dass keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreu-te sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie musstenaufhören, die Stadt zu bauen.“

„Ich bitte Sie, mich kurz zu entschuldigen.“ LarryBrent schob den Astronauten beiseite und verließden Raum.

Vom Badezimmer aus nahm er über den Kom-munikationsring mit Sharon Monastir Kontakt auf.Er gab ihr den Auftrag, unverzüglich Zugang zu JoeLessings PC zu suchen. „Die Zeit eilt. Ich vermute,man will Material vernichten.“

Als er in den Salon zurückkehrte, hörte er die Altenoch sagen: „Daher heißt ihr Name Babel, dass der Herrdaselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zer-streut von dort in alle Länder.“

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