Das Leitbild von der 'Urbanen Mischung' · Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu Anfang...

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Studie Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ IBA Berlin 2020

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StudieDas Leitbild von der „Urbanen Mischung“

IBA Berlin 2020

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Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“  Geschichte, Stand der Forschung, Ein‐ und Ausblicke 

Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin 

Bearbeitung: Freie Planungsgruppe Berlin, Dr. Nikolai Roskamm 

Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, SBD‐IBA Herr Joachim Günther Am Köllnischen Park 3 10179 Berlin 

Februar 2013 

INHALT 

Einleitung......................................................................................................................................................2

1) ...........................................................................................3 Die Geschichte der Trennung/Mischung

• .................................................................................................... 3 Trennung durch Zonierung• ................................................................................. 4 Großstadtfeindschaft und Gartenstadt• ................................................................................................................. 6 Funktionstrennung• ............................................................................................................. 7 Die gegliederte Stadt• ................................................................................................................................ 9 Urbanität• ............................................................................................................. 11 Die gemischte Stadt• .......................................................................................... 13 Von Brüchen und Kontinuitäten

2) ................................................................................................................15 Der Stand der Forschung

• ............................................................................................................... 15 Nutzungsmischung• .................................................................................................................. 18 Soziale Mischung• ............................................................................................................. 21 Ethnische Mischung• ....................................................................................................... 25 Neue Urbane Mischung

3) ..........................................................................................................................27 Ein‐ und Ausblicke

• ...................................................................... 27 „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept• ............................................................................................. 28 Das „Strategische Gutachten“• ..................................................................................... 29 Das Leitbild der Nutzungsmischung• ..................................................................................... 30 Das Leitbild der Sozialen Mischung• ................................................................................................................. 31 Mischung, anders

Literatur......................................................................................................................................................37

Anhang: Steckbriefe

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

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Einleitung 

Die  Senatsverwaltung  für  Stadtentwicklung und Um‐welt bereitet die Internationale Bauausstellung Berlin 2020 vor. In den bisherigen Überlegungen zur thema‐tischen  und  programmatischen  Ausrichtung  der  IBA 2020 wird die „gemischte Stadt“ beziehungsweise das Ziel der „Urbanen Mischung“ als ein Leitbild des über‐greifenden Mottos "Draußenstadt wird Drinnenstadt"  gesetzt: Mit der  IBA  soll  sich dem Thema der  sozial, kulturell, strukturell und  funktional gemischten Stadt gewidmet werden. Durch diesen Ansatz wird auf den gegenwärtigen  fachlichen Grundkonsens  in der  städ‐tebaulichen  Planung  fokussiert:  „Urbane  Mischung“ ist heute ein zentrales, wenn nicht das zentrale Leit‐bild von Städtebau und Stadtplanung. 

Allerdings  ist das nicht  immer so gewesen.  Im Gegenteil  hat  sich  die  städtebauliche  Disziplin  Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich mit dem gegenteili‐gen  Leitbild  der  Trennung,  genauer:  der  Funktions‐trennung  konstituiert, das bis  in die 1960er  Jahre  in den  städtebaulichen  Fachdebatten  unangefochten gewesen  ist.  Der  daraus  abgeleitete  städtebauliche Funktionalismus – das Denken von Stadt  in aufgeteil‐ten,  getrennten  und  gegliederten  Funktionen  –, war das verbindende Element beinahe sämtlicher Ansätze für  die Neu‐  und Umgestaltung  des Urbanen.  Stadt‐planung  und  Städtebau  sind  in  ihren  ersten  einhun‐dert Jahren als Fachdisziplinen Apparate der Trennung und  der  Entmischung  gewesen.  Erst  in  den  1960er Jahren  wurde  dem  Leitbild  der  Nutzungstrennung hörbar  widersprochen.  In  den  1970er  und  1980er Jahren  etablierte  sich  diese  Umkehrung  des  klassi‐schen städtebaulichen Ansatzes und wurde bald dar‐auf zum dominierenden und anerkannten neuen städ‐tebaulichen  Paradigma.  In  den  1990er  Jahren  setzte sich das Leitbild der Nutzungsmischung – nicht zuletzt befördert durch die Berliner IBA 1987 –  in allen städ‐tebaulichen Bereichen durch, zumindest was die pro‐grammatischen Ebene betrifft. Die Leipzig‐Charta von 2007  bündelt  diese  Entwicklung  zu  einem  übergrei‐fenden  städtebaulichen  Grundkonsens,  der  heute weitgehend unwidersprochen ist. 

Ziel der hier vorgelegten Studie  ist es, heraus‐zuarbeiten, welchen  inhaltlichen Gehalt, welche The‐sen  und  welche Möglichkeiten/Unmöglichkeiten mit dem Leitbild von der „Urbanen Mischung“ verbunden sind.  Internationale  Bauausstellungen  sind  in  der Vergangenheit  immer Räume  für ungewohnte,  inno‐vative und auch für kritische Ansätze gewesen. Gera‐de  der  IBA  1987 wird  attestiert,  dass  es  einer  ihrer 

Erfolgsfaktoren  gewesen  ist,  eingefahrene  Vorge‐hensweisen  radikal  zu hinterfragen  (SenStadt 2011b, 24). Mit  dem  hier  vorgelegten  Gutachten  soll  diese IBA‐Tugend  auch  auf  der  analytischen  Ebene  ange‐wendet werden. Üblicherweise wird  in den verfügba‐ren  städtebaulichen  Untersuchungen  und  Studien zum Thema der „Urbanen Mischung“ das Leitbild von der gemischten Stadt an den Anfang gestellt, um dann herauszuarbeiten, wie das gesetzte Leitbild am besten umgesetzt werden kann; die Frage nach dem Warum rückt dabei oftmals  in den Hintergrund (siehe Kapitel 2). Die  in diesem Gutachten  vertretene These  lautet dagegen, dass erst mit einem grundsätzlich hinterfra‐genden Vorgehen ein Ansatz möglich wird, der nicht lediglich  den  dominanten Wertekanon  des  aktuellen Städtebaus  verlängert,  sondern dazu  in der  Lage  ist, für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen. Die Strategie der hier vorgelegten Studie besteht also darin, das Leitbild der „gemischten Stadt“ zu prüfen, die  dahinter  liegenden  Routinen  zu  beleuchten  und den Kern herauszuarbeiten, der  im Zentrum des Beg‐riffs „Urbane Mischung“ zu  finden  ist. Schließlich soll am  Ende  diskutiert  werden,  ob  (und  wenn  ja:  wie) dieser Kern zugänglich für neue Inhalte ist, respektive in eine neue Richtung gewendet werden kann. 

Gegliedert  ist die  Studie  in drei  Teile.  Erstens wird  untersucht, wie  das  Leitbild  der  „Urbanen Mi‐schung“ historisch  zustande  gekommen  ist; dafür  ist ein Blick  in die Geschichte des modernen Städtebaus zu werfen und vom eindrucksvollen Wandel des Ziels von  der  funktionsgetrennten  Stadt  zur  gemischten Stadt zu berichten. Zweitens wird der Stand der For‐schung dargestellt und dabei einerseits die Ergebnisse der  umfangreichen  Forschungen  zum  Thema  „Nut‐zungsmischung  im Städtebau“ aus den 1990er Jahren dargestellt;  andererseits  wird  die  soziologische  For‐schung  zum  Thema  „Soziale Mischung“  und  „ethni‐sche  Mischung“  rekapituliert.  Schließlich  wird  auch die  aktuellen  Debatten  über  die  „Renaissance  der Städte“ betrachtet. Drittens wird untersucht, wie das Leitbild  von  der  „Urbanen  Mischung“  für  eine  IBA Berlin 2020  fruchtbar gemacht werden kann und die bisher  vorgelegten Ansätze  für  die  IBA  2020  hierauf geprüft. Abgerundet wird die Untersuchung von sechs Steckbriefen,  in denen Geschichte, Erfolge und Miss‐erfolge  von  dezidierten  Steuerungsansätzen  skizziert werden, die eine „Urbane Mischung“ zum Ziel gehabt haben.   

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

Die Geschichte der Trennung/Mischung 

Das  aktuelle  städtebauliche  Leitbild  der  Mischung wendet sich gegen die getrennte Stadt, die  ihrerseits das ureigene Produkt des klassischen modernen Städ‐tebaus  ist. Die  These, die der  folgenden Analyse  zu‐grunde  liegt,  lautet,  dass  Mischung  und  Trennung untrennbar  zusammengehören.  Um  die  Geschichte der Mischung  zu  erzählen,  ist  daher  erst  einmal  die Geschichte der Trennung zu untersuchen. Aus diesem Grunde wird hier eine wissenschaftsgeschichtliche Be‐trachtung unternommen, in der das Begriffspaar Tren‐nung/Mischung  zusammen  betrachtet  wird.  In  der historischen Herleitung werden die wichtigsten Strän‐ge  der  Begriffsgeschichte  zum  Konzept  der  Tren‐nung/Mischung  exemplarisch  zusammengefasst  und somit  ein  Überblick  hergestellt,  der  für  ein  tieferes Verständnis  des  Leitbildes  „Urbane  Mischung“  not‐wendig  ist.  Dabei  werden  die  Ursprünge  des  Ideals der Trennung/Mischung beleuchtet und insbesondere auf die Entwicklung der entsprechenden  städtebauli‐chen Leitbilder fokussiert.  

• Trennung durch Zonierung 

Der  instrumentelle Städtebau  ist eine Weiterentwick‐lung  der  seit  dem Mittelalter  bestehenden  bauord‐nungsrechtlichen Traditionen. Die reformerische Städ‐tebaubewegung, die  im  Zuge der  Stärkung der  kom‐munalen  Selbstverwaltung  und  eingebunden  in  die Diskurse der Gesundheitspflege entstanden ist, setzte sich von Anfang an das sozialreformerisch motivierte Ziel, einheitliche und allgemein geltende städtebauli‐che Regelungen herauszuarbeiten und durchzusetzen, um  damit  die  städtische  Alltagswirklichkeit  neu  zu ordnen. Die bauordnungsrechtlichen (auf das einzelne Grundstück bezogenen) Regelungen wurden dabei zur stadtplanerischen  und  städtebaulichen  Steuerung ausgeweitet.  Dieser  Maßstabs‐  und  Qualitätssprung markiert die Entstehung des modernen Städtebaus als eigene und bald auch als an den Universitäten gelehr‐te Disziplin.  

In dieser Phase entstanden die ersten Ansätze, städtebauliche  Mischung/Trennung  durchzusetzen. Die  Zusammensetzung der  Stadt  sollte  insbesondere mit dem  Instrument der  „Zonierung“  gesteuert wer‐den.  Die  Vorschriften  der  Zonenplanung  wurden  in einem größeren Stadtplan abgestuft, wobei die Stufen „aufgrund  der  bestehenden  Bodenwerte“  sowie mit Rücksicht  auf  die  „erwünschte  Bauweise“  gewählt wurden  (Baumeister  1906,  67).  Mit  dieser  Begrün‐dung  wurden  Ende  des  19.  Jahrhunderts  in  vielen deutschen  Städten  Zonen‐  und  Staffelbauordnungen verabschiedet,  die  in  verschiedenen  Bereichen  von 

innen nach außen abnehmend die zulässigen Höchst‐maße  des Maßes  der  baulichen  Nutzung  vorgaben. Erste  Formen  von  Zonenbauplänen  gab  es  1874  in Budapest,  1878  in  Dresden  und  1879  in  Erfurt.  Zu Anfang  handelte  es  sich  dabei  um  die  rudimentäre Form  einer  Abstufung  der  Bebauungsdichte  in  ge‐schlossene  und  offene  Bebauung  (Fisch  1990,  185), bald darauf wurden Zonenbauordnungen mit mehr als diesen  beiden  Zonen  verabschiedet  (1884  in  Altona und 1891 in Frankfurt/Main). In Berlin wurde 1892 als erste Zonenbauordnung die Bauordnung für die Berli‐ner Vororte beschlossen. Die differenzierteste Zonen‐bauordnung  war  die  Münchener  Staffelbauordnung von 1904, in der die Festlegungen an eine umfangrei‐che  Gebäudetypologie  (die  Staffeln)  gekoppelt  wur‐den.  Unter  dem  Dach  der  Zonierung  wurden  ganz unterschiedliche  Inhalte  versammelt:  Funktions‐  und Nutzungstrennung  spielten  zwar  noch  kaum  eine Rolle, in verschiedene Zonen (also getrennt) aufgeteilt werden sollten insbesondere die Bauweisen und Bau‐dichten.  

Die  Zonierungsplanung  war  nach  der  städte‐baulichen  Lehrmeinung  „von  großer  sozialer  Be‐deutung“  (Stübben  1902,  8).  Deshalb wird  in  dieser Gründungsdebatte  auch  das  Thema  der  „Sozialen Mischung“ diskutiert: „Wer kann auch  sein Auge der Tatsache  verschließen,  dass die  ärmere  Klasse  vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwoh‐nen gewährt. Nicht Abschließung, sondern Durchdrin‐gung scheint mir aus sittlichen und darum aus staatli‐chen  Rücksichte  das  Gebotene  zu  sein“  (Hobrecht 1868,  513).  Auch  Reinhard  Baumeister  plädiert  für eine maßvolle Vermischung der sozialen Klassen, eine „völlige  Vermischung  aller  Klassen“  könne  dagegen nicht  befriedigen:  Die  Trennung  der  Klassen  bringe „sociale Gefahren und auch hygienische Uebelstände mit  sich“, dagegen müsse  eine  „Mischung der Woh‐nungsclassen“  günstig  ausfallen  „für  den  Ausgleich der socialen Gegensätze, für das moralische Verhalten beider Theile und ganz speciell auch  für die Gesund‐heit der Aermeren“ (Baumeister/Miquel 1889, 30).  

In  der  Praxis  führte  die  komplexe  Begrün‐dungskonstruktion  aus  volkswirtschaftlichen  und betriebswirtschaftlichen  Annahmen  sowie  die  unter‐schiedlichen  Trennungs‐  und  Mischungsansätze  zu recht  widersprüchlichen  Ergebnissen  der  Zonie‐rungsplanung. Zudem gab es von den Grundbesitzern erhebliche Widerstände,  da  sie  ihre wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten beschränkt sahen (und die zeitgenössischen  Gemeindevertretungen  in  Deutsch‐land  waren  aufgrund  des  bestehenden  Wahlrechts überall  Hausbesitzerparlamente).  Auf  der  anderen 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Foto: Eva Brüggmann, 1962, Bundesarchiv: Bild 183‐92806‐0003 

Seite  wurde  jedoch  festgestellt,  dass  eine  Baube‐schränkung  dann,  wenn  sie  nicht  nur  das  eigene Grundstück,  sondern auch die aller Nachbarn betraf, auch  wertsteigernd  wirken  konnte.  Ein  Villengrund‐stück  ließ  sich  besonders  gut  verkaufen, wenn  dem Käufer garantiert wurde, dass er nicht von fünfstöcki‐gen Mietskasernen  eingekreist werden würde  (Fisch 1990,  186).  Die  erzieherische  und  paternalistische Note hinsichtlich der Sozialen Mischung ergab schließ‐lich  „eine  Ambiguität,  die  das  staatlich  geförderte `Durchmischungsziel´  auch  späterhin  nie  ganz  verlo‐ren hat“ (Harlander 2000, 110). 

Die  tatsächlichen  Auswirkungen  der  Zonen‐bauordnungen  auf  die  Stadtentwicklung  lassen  sich insgesamt allerdings nur schwer festmachen. Das liegt nicht  zuletzt  daran,  dass  die  städtebaulichen  Instru‐mente selbst zur Produktion der materiellen Wirklich‐keit beigetragen haben  (und beitragen) und dass die abgestufte Baudichte volkswirtschaftliche und städte‐bauliche  Realitäten  herstellte  (oder  verfestigte). Der Anfangsgedanke des  instrumentellen Städtebaus war es  jedenfalls, die  vorhandene  Stadt  anhand  „wissen‐schaftlich“ ermittelter Kriterien neu zu ordnen und  in einzelne definierte Bereiche aufzutrennen. Durch die Benennung und Festlegung von Zonen wurden einer‐seits  bereits  bestehende  Trennungen  nachvollzogen und  verfestigt,  andererseits wurden  solche  Trennun‐gen aber auch durch den Städtebau erst hergestellt. Die  Aufteilung  der  Stadt  in  getrennte  Bereiche  (qua Benennung und qua Verordnung)  ist der Gründungs‐akt des modernen Städtebaus. 

• Großstadtfeindschaft und Gartenstadt 

Um  die  Herkunft  des  städtebaulichen  Ideals  der funktionalen  Trennung  einordnen  zu  können,  ist neben  dem  instrumentellen  Städtebau  und  seinen Zonierungen  auch  die  Entwicklung  der  Debatte  zu betrachten,  in  der  die  Suche  nach  dem  Bild  einer künftigen, besseren, schöneren und sozial gerechte‐ren  Stadt  im  Vordergrund  steht,  in  der  also  über städtebauliche  Konzepte  und  Leitvorstellungen  so‐wie  über  das  geeignete  städtebauliche  Selbstver‐ständnis  gerungen  wurde.  Eingebunden  war  diese städtebauliche  Debatte  in  eine  politische  Stim‐mungslage, die Ende des 19. Jahrhunderts von einer breiten  Ablehnung  des  verhandelten Gegenstandes – der bestehenden Stadt – geprägt gewesen ist. Der inhaltliche  Kern  der  sich  mit  allgemeinen  Ausprä‐gungen  des  Zeitgeistes wie  Kulturpessimismus  und Fin‐de‐siècle‐Stimmung  verbündenden  Großstadt‐feindschaft  (Engeli 1999, 33) bestand  in der  These, dass  das  flache  Land  und  seine  Bevölkerung  durch die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtba‐

ren  massive  Verstädterung  unaufhaltsam  und  ge‐setzmäßig  geschwächt  werden  würde.  Der  Bauern‐stand  wurde  in  dieser  „Jungbrunnenideologie“  als „Urquell“,  „Urstand“,  „Urmaterial“  und  „Vorratsbe‐hälter  für  alle  übrigen  Stände“  idealisiert,  die Groß‐stadt  war  verlorenes  Terrain,  dem  Untergang  und dem  proletarischen  Siechtum  geweiht  (Bergmann 1970,  144).  Die  großstadtfeindlichen  und  argrar‐freundlichen Doktrinen bilden den Kern des  zu Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreiteten vaterländisch‐konservativen Denkens,  in dessen Kontext  sich  Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion über das richtige städtebauliche  Selbstverständnis  entwickelte  (vgl. Durth/Gutschow 1988).  

Im  Zentrum  dieser  Debatten  stand  bald  das Konzept  der  Gartenstadt,  das  durch  den  völkisch‐nationalen Publizisten Theodor Fritsch in die deutsch‐sprachige  städtebauliche  Debatte  eingeführt  wurde (1896). Auch Fritsch konzipiert seine Stadtvision dezi‐diert  als  antistädtisches Modell,  sein  Ausgangspunkt ist  ein  ausgeprägter  Hass  auf  die  bestehende  Groß‐stadt, die er als  „Lasterparadiese“ und  „wüste Stein‐haufen“ (1896, 4f.) bezeichnet. Fritsch postuliert, dass „dem  Volke  in  seinen  Großstädten  und  Industrie‐Zentren  schwere  Gefahren“  drohten  und  dass  die Bewohner  der  Städte  einem  „raschen  Aussterben preisgegeben“  seien  (1912,  28).  Trotz  dieser  Kritik betrachtet Fritsch die Stadt jedoch auch als eine Not‐wendigkeit.  Man  dürfe  „nicht  verhelen“,  so  erklärt Fritsch,  dass  es  „für  eine  größere  Nation  und  ihre manchfachen Bedürfnisse notwendiger Weise  Städte geben“  müsse.  Aus  diesem  Grunde  sollte  man  sie „wenigstens  vernünftig  anlegen“.  Was  den  alten 

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

Stadtvierteln  am meisten  fehle  sei  die  „innere  Ord‐nung“  und  „der  Plan“.  Fritschs  Ideal  ist  eine  kleine, überschaubare  Stadt,  die  sich  in  spiralförmig  erwei‐ternden bautypologisch und klassengetrennten Zonen entwickelt  und  in  der  sich Grund  und  Boden  in Ge‐meindeeigentum  befinden.  Im  Zentrum  von  Fritschs Zukunftsstadt  stehen die  „monumentalen Gebäude“, dann  folgen  „vornehme  Villen“,  „feinere Wohnhäu‐ser“, Wohn‐ und Geschäftshäuser, Arbeiter‐Wohnun‐gen,  kleine Werkstätten,  Fabriken  und  ländliche  Be‐triebe (ebd.).  

Im  Jahre  1897  veröffentlichte  Ebenezer  Ho‐ward  seine Schrift Garden Cities of Tomorrow, die  in der  heutigen  städtebaulichen  Rezeption  der Garten‐stadt  im Vordergrund steht. Die Gartenstadt von Ho‐ward  ist  eine  von  der  Einwohnerzahl  her  begrenzte Ansiedlung  auf  dem  Land,  in  der  die Naturnähe mit den Vorteilen der städtischen Lebensweise verbunden werden  sollte  (Howard  1968  [1897]).  Bei  Howard verschmelzen  die  jeweiligen  Vorteile  aus  Stadt  und Land im Begriff „Landstadt“. Zu diesen Vorteilen zählt er das Gesellschaftsleben, die  soziale  Solidarität und das  reiche kulturelle Angebot. Ebenso wie Stadt und Land sollen mit der Gartenstadt auch die verschiede‐nen sozialen Klassen versöhnt werden. Howard wollte in seinem Planungsmodell das private Grundeigentum abschaffen  und  das  gesamte  Siedlungsterrain  zum kollektiven Eigentum der Gemeinde erklären, um die aus  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  resultierenden Wertsteigerungen  als  kommunale  Einnahmen  verbu‐chen  zu  können.  Allerdings  trennt  auch Howard  die Zonen seiner Gartenstadt in verschiedene funktionale Bereiche, die sich kreisförmig nach außen entwickeln. 

Bei der  Einordnung des  Konzepts der Garten‐stadt  wird  heute  einerseits  festgestellt,  dass  die „Ideologie der Gartenstadt“ eine  „historische Auffor‐derung  eines  resignierenden  Städtebaus  an  die  Bes‐serverdienenden“  gewesen  sei,  die  „am  Proletariat und  den  Lasten  der  Industrialisierung  anscheinend unheilbar  kränkelnde  Stadt“  zu  verlassen  und  „sich auf dem billigen Land im Eigenheim“ neu anzusiedeln (Rodriguez‐Lores  1991,  75).  Das  „gartenstädtische Rezept  zur  Rettung  der Menschen“,  so  eine  promi‐nente Kritikerin,  sei „die Vernichtung der Großstadt“ gewesen  (Jane  Jacobs,  zitiert  nach  Bergmann  1970, 163).  Andererseits  wird  die  Gartenstadtidee  als  aus der Verschmelzung von „bürgerlich‐romantischen und sozialistischen Gedanken“  hervorgegangene  „ebenso naiv  wie  pragmatisch  klingende  Liaison“  bezeichnet (de Bruyn 1996, 171) oder auch als Synonym, für alle „fortschrittlichen  Bemühungen,  durch  Städtebau  die Lebensbedingungen  der  unteren  Mittelschichten  zu heben“ (Schubert 2004, 92). Unbestritten ist, dass das Modell „sehr schnell zum populärsten Planungsmodell der Moderne“ aufgestiegen (de Bruyn 1996, 173) und „von  Liebknecht  bis  Himmler“  beliebt  gewesen  ist (Durth/Gutschow 1988, 168).  

Die  kontroversen  Bewertungen  des  Garten‐stadtmodells  lassen  sich  vor allem darauf  zurückfüh‐ren, dass sich hier zwei unterschiedliche Denklinien – die  Diskurse  des  völkisch‐nationalen  Konservatismus und  der  reform‐sozialistischen Moderne  –  einander näherten und beide im Gartenstadtgedanken ihr städ‐tebauliches  Leitmotiv  fanden.  Die  Idee  der  Garten‐stadt wurde zum Vorbild einer Vielzahl von städtebau‐lichen  Konzepten,  in  denen  sich  sozialrevolutionäre Hoffnungen  auf  eine  Stadt  für die  arbeitende Klasse mit  Elementen  der  konservativen  Stadtfeindschaft mischten  (Häußermann/Läpple/Siebel  2008,  58).  Die sozialistischen und die völkischen Ideen trafen sich bei der  Ablehnung  der  bestehenden  städtischen  bauli‐chen  Strukturen  und  Eigentumsverhältnisse.  In  den beiden Gründungsgeschichten des Konzepts der Gar‐tenstadt  von  Fritsch  und  Howard  zeigt  sich  der  Ur‐sprung  sowohl  des modernen  als  auch des  völkisch‐nationalen  Diskurses.  Die  Großstadtkritik  machte „kausal ein baulich‐räumliches Phänomen“ für die mit Industrialisierung  und  Verstädterung  verbundenen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich  (Schubert 2004, 31). Damit steht das Gartenstadtmodell für den die Geschichte des Städtebaus dominierenden Ansatz, durch eine Manipulation der gebauten Umwelt gestal‐tend auf soziale Prozesse und Beziehungen einwirken zu wollen.  

 Abbildung: TThe Garden City Concept, E. Howard, 1902;  aus "Garden Cities of tomorrow", Sonnenschein publishing. 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

• Funktionstrennung 

Nach dem ersten Weltkrieg veränderte und erweiter‐te sich das Spektrum der städtebaulichen Debatte. Die vorherrschende  Stimmung  der  Weimarer  Republik war ein „komplexes Amalgam aus expressionistischer Schwärmerei,  sozialistischen  Utopieelementen,  Anti‐Wilhelminismus  und  Großstadtkritik“,  in  der  zum Aufbruch  zur neuen  Stadt,  zur  neuen Wohnung  und zum neuen Menschen gerufen wurde. Erhalten blieb jedoch die „Frontstellung gegen den gründerzeitlichen Moloch  Großstadt“  (Harlander  2006,  26f.).  In  der Weimarer  Republik  entstand  erstmals  eine  systema‐tisch  angelegte  Wohnungspolitik,  die  Lösung  der „Wohnungsfrage“ wurde auf allen Ebenen des Staates zur  vordringlichen  Aufgabe  der  Sozialpolitik  erklärt (vgl.  Kuhn  2012a).  Der  Anspruch  auf  gesunde Woh‐nung  wurde  in  die  Reichsverfassung  aufgenommen und bot die Basis  für weitreichende Staatsinterventi‐onen. Mit der neu eingeführten Hauszinssteuer wurde die  finanzielle  Grundlage  für  eine  staatliche  Städte‐bauförderung  gelegt  (Häußermann/Läpple/Siebel 2008,  55f.;  Durth/Gutschow  1988,  175;  Peltz‐Dreck‐mann  1978,  59). Das Gartenstadtkonzept wurde  vor allem in den sozialdemokratisch regierten Kommunen auf den Arbeitersiedlungsbau angewendet, allerdings ohne  die  ursprünglichen  sozio‐ökonomischen  Be‐standteile dabei umzusetzen. Bei den dann tatsächlich errichteten  Arbeiter‐  und  Kleinbürgersiedlungen  der Wohnungsbaugenossenschaften,  die  nur  aufgrund ihrer  landschaftlich  schönen  Lage  als  Gartenstädte bezeichnet wurden, blieb von Howards Konzept ledig‐lich  die  Naturnähe  und  das  preisgünstige  Wohnen übrig,  Howards  ökonomisches Model  hatte mit  den realisierten Projekten dagegen nicht mehr viel zu tun (Harlander 2006, 26f.). Auf der konzeptionellen Ebene formte  sich  –  als  Gegenbewegung  zum  historizisti‐schen  Stil  der  Heimatschutzbewegung  und  des  kon‐servativen Teils der Gartenstadtvertreter – das archi‐tektonische  und  städtebauliche  Konzept  des  Neuen Bauens.  Ziel  der  ersten  architektonischen  Moderne (für deren Entwicklung etwa der Deutsche Werkbund und das Bauhaus stehen) war es, ausgehend von den neuen  verfügbaren  Materialien  und  Bautechniken eine völlig neue Form der Architektur und des Städte‐baus zu entwickeln.  

Der  bedeutendste  Vertreter  des  städtebauli‐chen Modells der Funktionstrennung ist der Schweizer Architekt Le Corbusier. Le Corbusier betrachtete den industriellen und seriellen Wohnungsbau als die ent‐scheidende  Errungenschaft  der  „modernen  Bau‐kunst“, als „Revolutionierung der Architektur“  (1926, 166f.).  Le Corbusiers Ziel war es, die Stadt nach den Prinzipien  industrieller  Rationalisierung,  optimaler Besonnung, Belichtung und Durchlüftung zu gestalten 

und in seinen Thesen erhebt er den Städtebau zu der bestimmenden  gesellschaftlichen  Aufgabe.  Das „Werkzeug des Menschen“, so schreibt Le Corbusier, sei „zu allen Zeiten dem Menschen  in die Hand gege‐ben“ gewesen, nun müsse man „dem dummen Men‐schen beibringen, wie er seine Werkzeuge zu gebrau‐chen  hat“  (Le  Corbusier  1926,  239).  Le  Corbusiers Blick  auf  die  bestehende  Stadt  unterscheidet  sich dabei  kaum  vom  herrschenden  städtebaulichen  Dis‐kurs seiner Zeit. Für Le Corbusier waren die Großstäd‐te  „fruchtlose  Gebilde:  sie  verbrauchen  den  Körper, sie arbeiten dem Geiste entgegen, die Unordnung, die sich  in  ihnen vervielfältigt, wirkt verletzend:  ihre Ent‐artung  verwundet  unsere  Eigenliebe  unsere Würde. Sie  sind  des  Zeitalters  nicht würdig:  sie  sind  unsrer nicht mehr würdig“ (1929, VII). Das Zentrum der Städ‐te sei „tödlich erkrankt,  ihre Umfriedung  ist wie vom Ungeziefer zerfressen“  (1929, 83). Der Augenblick sei gekommen,  den  modernen  Städtebau  zu  schaffen, „weil  eine Kollektivleidenschaft  aufgewacht  ist unter dem  Drucke  der  brutalsten Not,  geleitet  von  einem hohen Gefühle für Wahrheit.“ Haus, Straße und Stadt müssten  in  Ordnung  gebracht  werden,  wenn  sie „nicht  den  Grundgesetzen  zuwiderlaufen  sollen,  auf denen wir selbst aufgebaut sind.“ (1929, 15). Wie ein solcher moderner  Städtebau  zu  handeln  habe, wird von  Le  Corbusier  ebenfalls  offen  gelegt:  „Ich  denke also ganz kühl daran, dass man auf die Lösung verfal‐len muß, das Zentrum der Großstädte niederzureißen und  wieder  aufzubauen,  dass  man  ebenfalls  den schmierigen Gürtel der Vorstädte niederreißen, diese weiter  hinausverlegen  und  an  ihre  Stelle  nach  und nach eine freie Schutzzone setzen muß“ (1929, 83).  

Le  Corbusier  avanciert mit  seinem  Stadt‐  und Städtebauverständnis  zum Begründer des  städtebau‐lichen  Funktionalismus beziehungsweise des Modells der  Funktionstrennung.  Er  ergänzt  dabei  den  Fort‐schritt der konstruktiven und materiellen Möglichkei‐ten  mit  einem  planerisch‐organisatorischen  Ansatz, der  die  Trennung  der  „menschlichen  Funktionen  in Wohnen, Arbeiten, Kultivierung von Körper/Geist und Fortbewegung (und der Anwendung dieser Funktiona‐lisierung auf den Städtebau) zum Ausgangspunkt hat. Le  Corbusiers Modell  der  Funktionstrennung war  in der  städtebaulichen Debatte  schnell  erfolgreich.  Auf dem ersten Congrès  International d’Architecture Mo‐derne (CIAM) in La Sarraz wird Städtebau als „seinem Wesen  nach“  funktioneller  Natur  deklariert.  Als  die drei grundlegenden Funktionen, über deren Erfüllung der  Städtebau  zu wachen  hat, werden  genannt:  „1. wohnen; 2. arbeiten; 3. sich erholen. Sein Gegenstand sind:  a)  Aufteilung  des  Bodens;  b)  Organisation  des Verkehrs;  c)  Gesetzgebung.“  (Le  Corbusier  1962).  In der berühmten Charta von Athen, dem Abschlussdo‐

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

kument des  IV. CIAM‐Kongresses von 1933 wird pos‐tuliert: „Die Schlüssel zum Städtebau liegen in folgen‐den  vier Funktionen: wohnen, arbeiten,  sich erholen (in der Freizeit), sich bewegen“ (1962, 118). Die städ‐tebaulichen Planungen sollten die Struktur der Viertel bestimmen, denen jeweils eine der vier Schlüsselfunk‐tionen zugewiesen wurde, und deren „entsprechende Lokalisierung  innerhalb  des  Ganzen  fixieren“  (1962, 119).  Die  künftig  als  funktionelle  Einheit  definierte Stadt  müsse  dann  harmonisch  in  jedem  ihrer  Teile wachsen, da  sie über Räume und Verbindungen ver‐füge,  in  denen  sich  die  Entwicklungsetappen  im Gleichgewicht vollziehen können; den Erfordernissen des Gebietes unterworfen, dazu bestimmt, den Rah‐men für die vier Schlüsselfunktionen abzugeben, wer‐de  die  Stadt  nicht  mehr  das  ordnungslose  Resultat zufälliger Initiativen sein, sondern den Charakter eines „im voraus durchdachten Unternehmens“ annehmen, das  den  strengen  Regeln  eines  allgemeinen  Planes unterworfen ist. Es sei von dringlicher Notwendigkeit, dass jede Stadt ihr Programm aufstellt und die Geset‐ze  erlässt,  die  seine  Verwirklichung  gestatten.  Zu‐sammengenommen  sei  das  ein  „totaler  Städtebau“, der imstande ist, das Gleichgewicht in der Provinz und im Lande herzustellen (1962, 123). 

Die Charta von Athen, die maßgeblich von den Ideen Le Corbusiers geprägt ist, gilt zurecht als diskur‐siver Höhepunkt des modernen Städtebaus und zeigt noch einmal, wie des Denken der Funktionstrennung entstanden ist und auf welchen Annahmen es beruht. Der  moderne  Städtebau  ist  eine  Disziplin,  die  sich konstitutiv  gegen  die  vorhandene  städtische Alltags‐wirklichkeit  gerichtet  hat  und  die  bestehende  Stadt als krankes, lasterhaftes und vor allem als ungeordne‐tes Gebilde ablehnte. Die selbstgestellte Aufgabe des modernen  Städtebaus  sollte  es  sein,  „objektive“, „wissenschaftliche“ und „wahre“ Kategorien und Ge‐setze zu schaffen, mit denen die Stadt von Grund auf neu  geordnet werden  sollte. Mit  der  Trennung  und Aufteilung  der  Stadt  –  in  Bereiche  verschiedener Bauweise  und  verschiedener  Dichten  –  wurde  der klassische Ansatz des sozialreformerischen instrumen‐tellen  Städtebaus  in  das  Programm  des  modernen Städtebaus integriert. Der neue Ansatz der Funktions‐trennung war eine Weiterentwicklung dieser  Traditi‐on, welche die bautypologische Trennung um eine or‐ganisatorische/soziale  Dimension  erweiterte.  Die Funktionstrennung rückte damit in den Kern des theo‐retischen  Ansatzes  des  modernen  Städtebaus  und wurde dort mit dem neoliberalen Ansatz verbunden, die  Stadt  als  ein  Unternehmen  zu  denken.  Die  aus heutiger Sicht naheliegende  Interpretation, die Tren‐nung  als  Schutz  (beispielsweise  des  Wohnens)  vor 

gewerblichen  Immissionen zu verstehen, wird zu die‐ser Zeit dagegen kaum thematisiert.  

Die  durch  die  Charta  gestellten Aufgaben  be‐standen  darin,  ein  allgemein  gültiges  und  verbindli‐ches  städtebauliches Regelwerk  zu  schaffen, und die Trennung  der  Stadt  nicht mehr  nur  nach  baulichen Kriterien,  sondern  nach  Funktionen  vorzunehmen. Diesen beiden Aufgaben nahm sich die städtebauliche Planung  in  Folge  auch  in  Deutschland  an.  Seit  1934 wurde im Reichsarbeitsministerium an einem Entwurf für ein Reichsbaugesetz gearbeitet, infolge der Kriegs‐ereignisse  wurden  diese  Kodifizierungsbestrebungen im Jahr 1942 jedoch vorerst eingestellt. Die Trennung der  Stadt nach  funktionellen Gesichtspunkten wurde erstmals mit der Bauregelungsverordnung von 1936 in das Planungsrecht aufgenommen. Durch die Baupoli‐zeiverordnung  konnten  nun  Kleinsiedlungsgebiete, Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete ausgewiesen werden. Die Bauregelungsverordnung ist damit  die  Vorläuferin  der  Baunutzungsverordnung, die bis heute die Funktionstrennung in verschiedenen Baugebietstypen zum stadtplanerischen Grundprinzip erhebt (siehe unten).  

• Die gegliederte Stadt 

Die  gegliederte  Stadt  ist  die  städtebauliche Weiter‐entwicklung des  Prinzips der  Funktionstrennung. Die Entwicklung  dieses  Leitbilds  lässt  sich  exemplarisch anhand des Wirkens des Stadtplaners Johannes Göde‐ritz  nachvollziehen.  Ende  der  1930er  Jahre  schreibt Göderitz  zwei  Grundsatzbeiträge  zu  den  Themen Städtebau und Altstadtsanierung. Erst nach dem poli‐tischen  Umbruch  des  Jahres  1933  sei  hier  „Klarheit geschaffen worden“, so formuliert Göderitz: Der neu‐zeitliche  Städtebau umfasse  „die Ordnung  des  völki‐schen Lebensraums“ (Göderitz 1938a, 1015). Mit dem Städtebau  setze der Staat die Ziele  für die „Ordnung des deutschen Lebensraumes“ und  regele das Bauen „auf deutschen Boden nach den Lebensnotwendigkei‐ten  des  Volkes“  (ebd.  1021f.).  Göderitz  fordert  den „Umbau“  und  die  „Auflockerung“  der  überalterten, ungesunden  und  „sonstwie  den  neuzeitlichen  An‐forderungen  nicht mehr  entsprechenden“  Stadtvier‐tel.  In den  Städten  zeigten  sich  so  viele Missstände, dass  sich  „deren  Beseitigung  zu  einer  technischen, sozialen  und  finanziellen  Sonderausgabe“  herausge‐bildet habe  (Göderitz 1938b, 15f.). Der Städtebau, so prognostiziert Göderitz, werde „zu einem großen Teil Städteumbau“.  Die  der  Begründung  dieser  ›Gesun‐dungsplanung‹  zugrunde  liegende  Analyse  bewegt sich  in  den  bekannten  Bahnen  des  Städtebaudiskur‐ses. Der  „Stadtkörper“  sei  „krank“ und müsse daher „gesundet“ werden.  In den Großstädten hätten  sich, 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

so  schreibt Göderitz,  „sozial und politisch unerträgli‐che Zustände“ gebildet, die Städte böten Unterschlupf für  „asoziale Elemente, Prostitution und Verbrecher‐welt“. Ganze  Stadtteile würden  „in  ihrer Anlage und vor  allem  in  ihren Wohnverhältnissen  den  neuzeitl‐ichen Leistungsansprüchen“ nicht mehr genügen. Be‐troffen  seien vor allem die Altstadtviertel, aber auch die „in neuerer Zeit, vor allem seit der zweiten Hälfte des  vorigen  Jahrhunderts  aufgrund  schlechter  Bau‐ordnungen  dicht  und  vielgeschossig bebauten  Stadt‐teile“  seien  „ungesund“  (ebd.).  Die  „erforderliche Auflockerung“ werde eine „Herabzonung“ notwendig machen  und  damit  eine  „Senkung  der Wohndichte“ herbeiführen,  in  vielen  Fällen  sei  der  Abriss  ganzer Blöcke  oder  gar  die  „Niederlegung  von  Stadtteilen“ erforderlich (ebd.). 

Im  Januar  1945  –  also  noch  während  des Kriegsgeschehens  –  formuliert Göderitz  den  Entwurf für ein Thesenpapier, das die Begriffe Gliederung und Auflockerung  als  zentrale  Aufgaben  des  Städtebaus erklärt (DASRL 1945). Die Gliederung der Stadt entwi‐ckelt Göderitz ganz  im Kontext der nationalsozialisti‐schen  Städtebaudebatte:  „Große Massen  von Men‐schen“  sollten organisiert werden,  indem man  sie  in „kleinere,  übersehbare,  einander  über  und  unterge‐ordnete Einheiten“ aufgliedere; zu orientieren sei sich dabei  an  der militärischen  Gliederung  in  Kompanie‐stärken (DASRL 1945, 571). Wie die „Masse der Men‐schen durch Gruppierung und Gliederung“ organisiert und  übersichtlich  gemacht werde,  so  leitet Göderitz den räumlichen aus dem militärischen Gliederungsge‐danken ab,  könne auch der Stadtraum – die  „Masse der  städtischen Baugebiete“  –  als das  „bauliche und räumliche Gefäß des menschlichen Lebens“ nur durch Gliederung  in  Stadtzellen  geordnet  und  organisiert werden (ebd.).  

Zusammen  mit  Roland  Rainer  und  Hubert Hoffmann fasst Göderitz im Jahre 1957 seine seit den 1930er  Jahren  vertretenen  Thesen  in der  Schrift Die gegliederte  und  aufgelockerte  Stadt  zusammen,  die zum  Standardwerk  des  westdeutschen  Nachkriegs‐städtebaus geworden  ist. Je mehr – so wird hier wei‐terhin  auf  die  konservativ‐völkische Bevölkerungsde‐batte  aus  der  ersten  Jahrhunderthälfte  rekurriert  – die  „lebensstarke  Landbevölkerung“  gegenüber  der Bevölkerung der Großstädte, die „ihre Volkszahl nicht aus eigener Kraft erhalten können“, zurück trete, um so  stärker müsse  sich der „ungünstige Bevölkerungs‐aufbau  dieser  immer  zahlreicher  werdenden  Groß‐städte  in  der Vergreisung  des  gesamten Volkes  aus‐wirken“  (Göderitz/Rainer/Hoffmann  1957,  9).  Die „allgemeine  bevölkerungspolitische  Lage“  und  die Folgen des Krieges machten es zu einer „brennenden Lebensfrage“,  die  „nicht  ernst  und  gründlich  genug 

erörtert  und  nicht  frühzeitig  genug“  beantwortet werden könnte. Der Städtebau habe für die Zeit nach dem  Krieg  eine  „besonders  ernste Verpflichtung“  zu erfüllen,  nicht  nur  die  baulichen  Schäden,  auch  die „Schädigungen  am  Volkskörper“  müssten  wieder gutgemacht  werden  (ebd.  84f.).  Sei  dagegen  der „Stadtkörper  durch  und  durch  gesund“,  so  würden auch  die  „in  ihm  lebenden  und  ihn  bildenden Men‐schen gesunden Sinnes sein“.  Im Städtebau seien die Lösungen  zu  bevorzugen,  die  geeignet  seien,  zum „Ausgleich der  schweren Verluste des Volkes an Gut und  Blut  den  gesunden  und  leistungsfähigen  Stadt‐körper zu schaffen“. Auf die „volksbiologischen, ethi‐schen  und  gesundheitlichen  Vorzüge“  des  Einfamili‐enhauses mit Garten sei daher besonders zu verwei‐sen.  Zur  Durchführung  dieser  Vorstellungen  seien „wenige, aber durchgreifende“ neue boden‐ und bau‐rechtliche Regelungen erforderlich (ebd.).  

Vor dem Hintergrund dieser Debatten wurde in Deutschland1  schon  bald  nach  Kriegsende  über  ein Bundesbaugesetz  diskutiert.  In  einem  Rechtsgutach‐ten  des  Bundesverfassungsgerichts  von  1954 wurde die städtebauliche Planung  (nach Art. 74 Ziff. 18 GG) in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes ver‐wiesen. Das alte Baupolizeirecht solle dabei nur Bun‐desrecht werden,  insofern  es  „Bestandteile  des  Pla‐nungsrechts“ enthalte  (Schöning 1968, 18). Die Fest‐setzung  von  „Art  und Maß  der  baulichen  Nutzung“ wird durch das Karlsruher Gutachten als eine städte‐bauliche  und  nicht  mehr  –  wie  nach  der  früheren preußischen Regelung – als eine baupolizeiliche Ange‐legenheit  definiert  (Wambsganz  1959,  26).  Im  Jahre 1960  wurde  das  Bundesbaugesetz  (BBauG)  verab‐schiedet.  Mit  dem  BBauG  wurde  eine  vereinheitli‐chende  Kodifikation  der  städtebaurechtlichen  Rege‐lungen umgesetzt und  eine  allgemeine Rechtsgrund‐lage  für die  städtebauliche Planung  in der Bundesre‐publik Deutschland  geschaffen.  Zentrales  Instrument des  Bundesbaugesetzes  ist  die  Bauleitplanung,  als dessen Zweck im BBauG die „Ordnung und die Steue‐rung der städtebaulichen Entwicklung“ definiert wer‐den. Die Gemeinden sollen – so lautet das allgemeine Modell der  formellen  Stadtplanung  – mit Bauleitplä‐nen  die  städtebauliche  Entwicklung  auf  ihrem  Ge‐meindegebiet  steuern. Wie  diese  Steuerung  konkret stattfinden  soll, wird  in  der  Baunutzungsverordnung BauNVO geregelt.  

Bereits  im  Jahre 1949 war – unter Vorsitz von Johannes Göderitz  –  ein  Arbeitsausschuss  der  Deut‐schen  Akademie  für  Städtebau  und  Landesplanung DASL  (der  Nachfolgerin  der  DASRL)  gegründet  wor‐den,  um  den  Entwurf  für  eine  Baunutzungsverord‐

                                                            1 Zur Entwicklung in der DDR vgl. Harlander 2012b. 

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

nung  zu  erstellen  (Schöning  1968,  18).  Die  beiden Kernelemente der 1962 beschlossenen BauNVO  sind die  Ausgestaltung  der  Regelungen  über  die  Art  und das Maß der baulichen Nutzung. Diese Kernelemente entsprechen direkt dem, was  in der  städtebaulichen Debatte seit den 1930er  Jahren als die grundlegende Aufgabe  des  Städtebaus weitgehend  akzeptiert wur‐de:  Die  Gliederung  der  Stadt  durch  die  Festsetzung der Art der Nutzung, die Auflockerung durch die Rege‐lung des Maßes der Nutzung. Die Festsetzung der Art der Nutzung nach der BauNVO  funktioniert über die Gliederung  der  städtischen  Wirklichkeit  in  unter‐schiedliche  Gebietstypen  –  etwa  in  Wohngebiete, Mischgebiete  und  Gewerbegebiete.  In  der  BauNVO werden  diese  Gebietstypen  definiert  und  es  wird geregelt,  welche  Nutzungen  in  den  Gebietstypen jeweils  zulässig,  ausnahmsweise  zulässig  oder  unzu‐lässig sind.  In der gemeindlichen Bauleitplanung wer‐den die Gebietstypen dann  in den Bebauungsplänen festgesetzt, um damit die baulich‐räumliche Entwick‐lung  zu  steuern. Mit  der  BauNVO  ist  der  Städtebau damit  an  seinem  selbstgesetzten  Ziel  angekommen: die BauNVO  ist das verbindliche und bundesweit gel‐tende Instrument, mit dem das „Wohl der Allgemein‐heit“  durch  die  Trennung  der  Stadt  in  vordefinierte funktionale Bereiche gewährleistet werden sollte und das  zum  allgemeinen  stadtplanerischen  Standard geworden ist.  

Foto: Jane Jacobs 1961, Quelle: New York World‐Telegram and the Sun Newspa‐per, Library of Congress, Reproduction No.: LC‐USZ‐62‐137838

Erst  nach  der  Einführung  der  BauNVO  regte sich hörbare Kritik  an diesem Ansatz und  es begann eine umfangreiche Debatte, in der Zweifel am Bild der gegliederten und aufgelockerten Stadt als nicht mehr zeitgemäßer Metapher  für die  „Lebensvorgänge und einer daraus hergeleiteten Stadtform“ geäußert wer‐den (Fahrenholtz 1963, 74). In dieser Fachdebatte  wurde  zum  einen  die Weiterentwicklung  und  thematische Auffächerung  des  städtebaulichen Diskurses  sichtbar,  zum  anderen die dabei  bis  heute  vermutlich  ausführ‐lichste  und  reflektierteste Auseinan‐dersetzung mit den beiden Grundfes‐ten  der  instrumentellen  Stadtpla‐nung  –  der  Auflockerung  und  der Gliederung – geführt. Einerseits wur‐de  in  den  1960er  Jahren  also  das Konstrukt Trennung durch die BauN‐VO  zum  einheitlichen  Planungsrecht bestimmt  und  tief  in  den  institutio‐nellen Grundfesten der Stadtplanung verankert. Andererseits wurde dieser Gebrauch  jedoch  auch  erstmals  Ziel einer vielschichtigen und vielstimmi‐gen Kritik. Das Konzept der aufgelo‐

ckerten und gegliederten Stadt büßte  im städtebauli‐chen  Diskurs  an  Deutungshoheit  ein,  die  klassische Beweisführung,  dass  nur  eine  funktional  getrennte Stadt  den  bestehenden  Zustand  von  Chaos  und Krankheit  in Ordnung bringen  könne,  verlor deutlich an Überzeugungskraft.  Im Rahmen dieser Diskussion wurde  als  Antithese  zur  Auflockerung  der  Stadt  ein Zielbild entworfen, welches durch Bezeichnungen wie gemischte Stadt und kompakte Stadt seinen begriffli‐chen Ausdruck fand. Erstmals wurde damit im städte‐baulichen Diskurs für eine funktionale Durchmischung und  eine  hohe  Einwohner‐  und  Bebauungsdichte plädiert, die grundlegenden Werte also um 180 Grad gedreht:  Eine  funktionale  Nutzungsmischung  wurde nun  tendenziell  als  etwas  Erstrebenswertes  angese‐hen und dem  Ideal der „gemischten Stadt der kurzen Wege“ der Boden bereitet.  

• Urbanität  

Entscheidenden  Anteil  an  dieser  Kehrtwende  hatte die Eröffnungsrede der Volkswirtschaftler Edgar Salin auf der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städte‐tages. Edgar Salin nimmt  in  seinem Grundsatzreferat Bezug auf die historischen Entstehungslinien des Beg‐riffs  Urbanität  in  der  Antike.  Urbanität  ist  hier  als stadtbürgerliches  Ideal  definiert  gewesen,  als  eine sich nur  in einem  speziellen  städtischen Umfeld her‐ausbildende  Geisteshaltung  der  Offenheit,  Toleranz und  Humanität  (Salin  1960,  14f.).  Im  europäischen Feudalismus  habe  der  Einzelne  dagegen  kaum mehr Teil am städtischen Geschehen genommen und daher sei  in dieser historischen Phase der Begriff praktisch komplett  von  der  Gebrauchsfläche  verschwunden. 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Erst  nach  der  französischen  Revolution  könne  vor allem  in  Paris  eine  wieder  erstarkende  ›Urbanität‹ festgestellt  werden,  in  Deutschland  habe  sich  die ›Urbanität‹  dagegen  deutlich  weniger  ausprägen können. Mit der Machtübernahme der Nationalsozia‐listen,  so Salin weiter,  seien „alle guten Ansätze“ er‐stickt worden, der „Sieg des Ungeistes“ habe bewusst und  erfolgreich  die  „Urbanität  von  den Wurzeln  her vernichtet“  (ebd.  22f.).  Da  die  deutsche  Vergangen‐heit  noch  „völlig  unbewältigt“  hinter  den Deutschen liege, sei dieser überaus folgenschwere Tatbestand in seiner  „geschichtlichen  Endgültigkeit“  noch  kaum wahrgenommen  worden.  Salin  bezeichnet  das  Jahr 1933  als  „das  Ende  der  deutschen  Urbanität“,  die „Verbrecher“ hätten „für Zeit und Ewigkeit“ die „hu‐manistische  Humanität“  genommen.  Salin  empfiehlt den  deutschen  Städtebauern  daher,  „auf  lange  hin‐aus“  das  „Wort Urbanität  ganz  zu  vermeiden“  (ebd. 24).  Salins  Vortrag  ist  dabei  weit  entfernt  von  der Postulierung  eines  neuen  städtebaulichen  Leitbildes. Salin  diskutiert,  welche  neuen  Handlungsfelder  der Stadtpolitik und Stadtplanung  in Frage kommen kön‐nten, das größte Augenmerk  legt er auf die Ermögli‐chung  der  politischen  Teilhabe  und  der  allgemeinen Bildung.  Salin  plädiert  dafür,  die  Städte  wieder  zu einer  „Burg  der  Demokratie“  zu  entwickeln  und  die Bevölkerung  einer  Stadt  in  eine  „Gemeinschaft  von Stadtbürgern“  zu  verwandeln. Vor  allem  die  Bildung sei als „existentielle Stadtaufgabe“ anzuerkennen und zu betreiben, Mitbestimmung, Mitverantwortung und Selbstverwaltung seien Schlüsselwörter für die künfti‐ge  Stadtgestaltung. Diese  Bereiche  sind  aber  gerade keine  baulich‐räumlichen  Themenfelder,  Salin  fokus‐siert  auf  gesellschaftliche  Inhalte.  Allerdings  können Inhalt und Umstände von Salins Vortrag – ein Volks‐wirtschaftler, der eine kulturphilosophische Rede vor der  versammelten  Riege  der  Städtebauer  hält  –  als Anzeichen  der Öffnung  der  städtebaulichen Debatte für  eine  soziologische und politische  Perspektive  ge‐nommen werden.  

Forciert  wurde  diese  Entwicklung  dadurch, dass sich erstmals Widerstand gegen die bestehende städtebauliche  Praxis  regte und  auf die  theoretische Ebene  reproduziert wurde.  Großen  Einfluss  auf  den städtebaulichen Diskurs entfaltete vor allem das Buch The Death and  the  Life of Great American Cities von Jane Jacobs, in dem die Autorin – selbst Aktivistin der in  einigen  amerikanischen  Städten  aufkommenden Bürgerbewegung  gegen  die  Flächensanierungen  – eine  grundsätzliche  Kritik  an  den  Grundfesten  der Stadtplanung übt  (1961).  In  ihrer Streitschrift protes‐tiert  Jacobs  gegen  die  vorherrschende  Stadtplanung und  das  dieser  Praxis  zugrunde  liegende  Stadtver‐ständnis.  Jacobs  entwickelt  als Gegenbild  zum hege‐

monialen  Städtebau  vier Bausteine, die  in  ihrem  Zu‐sammenwirken zum Entstehen von Stadt (den Begriff Urbanität  verwendet  Jacobs  nicht)  führen  würden: Erstens die Mischung von verschiedenen – möglichst mehr als  zwei – unterschiedlichen primären Funktio‐nen  (etwa von Wohnen und Arbeiten) an einem Ort, zweitens  eine  nicht  zu  große  Dimensionierung  der Baublöcke, drittens eine Mischung der Gebäude hin‐sichtlich ihres Alters und ihres Zustandes und viertens die  Konzentration  von  „genügend  Menschen“  auf einem  Raum  (Jacobs  1963,  95).  Die  Flucht  aus  der Stadt  (wie bei Howards Gartenstadtmodell) sei keine zeitgemäße  Antwort  auf  die  städtischen  Probleme, Fortschritte  in  der Medizin,  der Hygiene,  der  Epide‐miologie und  im Arbeitsrecht hätten die soziale Lage, die einst untrennbar mit den Bedingungen des hoch‐verdichteten  Stadtlebens  verbunden  gewesen  sei, grundsätzlich  geändert.  Jacobs  leistet  damit  Pio‐nierarbeit: Mischung und Dichte hatte im städtebauli‐chen Diskurs vor ihr noch niemand als Ziel formuliert. Die ersten deutlich wahrnehmbaren Rufe nach einer Umkehr  der  klassischen  städtebaulichen  Perspektive erklingen  somit  nicht  aus  den  eigenen  Reihen,  son‐dern  im Rahmen einer von außerhalb  in den Diskurs hineingetragenen disziplinären Fundamentalkritik. 

Im gleichen Jahr wie Jacobs veröffentlichte der Soziologe  Hans  Paul  Bahrdt  sein  Buch  Die moderne Großstadt  und  auch  hier  beschäftigt  sich  ein  außer‐halb  der  Disziplin  stehender  Protagonist  mit  den grundlegenden  Belangen  des  Städtebaus.  In  seinen Ausführungen  fundiert  Bahrdt  dabei  eine  „Kritik  der Großstadtkritik“,  in  der  er  die  historischen Wurzeln der  traditionellen  Großstadtfeindschaft  aufdeckt (Bahrdt 1969  [1961], 132). Zudem  formuliert er eine soziologische Perspektive und fordert die Mitwirkung der Soziologie  im Städtebau ein. Zwar  ließe sich „aus der Soziologie kein städtebaulicher Entwurf“ deduzie‐ren  (ebd.  34)  und  der  Soziologe müsse  dem  Städte‐bauer  klarmachen, dass  sich  „durch den Umbau der Städte“ nur „wenig an der Gesellschaft“ ändern ließe, dennoch  ist es  für Bahrdt ein wichtiges Anliegen, die Soziologie  im  städtebaulichen  Geschehen  einzubin‐den. Bahrdt  steht  damit  am Beginn  der  Entwicklung der Stadtsoziologie zur „Stadtplanungssoziologie“, mit der die Themen Urbanität und Mischung zunehmend auf der städtebaulichen Agenda erscheinen. 

Nach der  von  Soziologen wie Bahrdt  geleiste‐ten  Analyse  der  disziplinären  Großstadtfeindschaft wurde die Debatte dem stadtsoziologischen Stadtdis‐kurs  geöffnet.  Damit  wird  zu  diesem  Zeitpunkt  ein weiterer  Grundlagentext  in  die  Debatte  eingespeist, und zwar das Essay Urbanism as a Way of Life (1938) von Louis Wirth. Wirth stellt die „für unsere Zivilisati‐on  überlegene  Bedeutung  der  Stadt“  dem mageren 

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

Wissen „über das Wesen der Urbanität und den Pro‐zess der Urbanisierung“ gegenüber  (Wirth 1997, 44). Wirths zentrale These ist die Loslösung von Urbanität und  Urbanisierung  aus  ihrem  rein  physisch‐realen Zusammenhang. Urbanität definiert er als die Lebens‐form der Menschen  in der Stadt, also als Gefühl, Zu‐stand, Attitüde. Wirths Ansatz ist es, heraus zu finden, was dieses Gefühl ausmacht und vor allem, wodurch es  hervorgerufen  wird.  Nach  Wirth  kann  Stadt  als relativ  große,  dichte  und  dauerhafte  Siedlung  von sozial heterogenen Individuen definiert werden (1938, 8).  Wirth  postuliert,  dass  der  Großstadtbewohner dazu neige „ein gewisses Feingefühl einer Welt künst‐licher Erzeugnisse gegenüber zu erlangen und zu kul‐tivieren“  (Wirth 1997, 54). Die  „Konfrontation diver‐gierender Persönlichkeiten und Lebensformen“ schaf‐fe  im Allgemeinen eine „relativistische Betrachtungs‐weise“  und  ein  „Gefühl  der  Toleranz  Unterschieden gegenüber“, was wiederum eine  „Voraussetzung der Rationalität und der Säkularisierung des Lebens“ sei.  

In der Folge der diskursiven Interventionen von Salin,  Jacobs, Bahrdt und anderen wandelte  sich das städtebauliche  Selbstverständnis.  Ziel  war  es  nun weniger,  durch  städtebauliche  Planung  die  Gesell‐schaft  grundsätzlich  zu  ändern,  sondern  der  Gesell‐schaft  (wie  sie  ist)  mit  städtebaulichen  Mitteln  zu dienen,  mithin  „eine  wichtige  Erkenntnis  und  ein bedeutsamer  Fortschritt“  von  den  „häufig  recht  ge‐walttätigen  ideologischen  Forderungen  des  Städte‐baues“  (Schmidt‐Relenberg,  1968,  41).  Das  Leitbild der  „gegliederten  und  aufgelockerten  Stadt“  wurde zunehmend hinterfragt und kritisiert und dieser Kritik lag  eine  „grundsätzlich  ›stadtfreundliche‹  Tendenz“ zugrunde.  Diese  „positive  Hinwendung  zum  Städti‐schen“ und zur „städtischen Lebensweise“ kulminiert im „Schlagwort Urbanität“  (ebd. 208) und der These, dass  die  „städtische  Lebensweise“  eine  „gesamtge‐sellschaftlich  relevante  Funktion“  erfülle,  indem  sie „allgemeine  humane  Qualitäten“  und  speziell  die „Toleranz  der  Beteiligten“  untereinander  erfordere und erzeuge (ebd. 113). Der Einzug des soziologischen Denkens  in  den  städtebaulichen  Diskurs  der  1960er Jahre  bringt  damit  grundlegende  Neuerungen.  Die städtebauliche Diskussion wird  für eine soziologische Perspektive  geöffnet,  die  Stadtsoziologie  bietet  sich als Hilfswissenschaft  für  den  Städtebau  an  und wird auch als solche angenommen. Auf dieser Ebene wird der Wechsel bei der  städtebaulichen Bewertung von Trennung/Mischung unterstützt  (eingeleitet). Mit der Analyse  der  klassischen  Großstadtfeindschaft  wird auch  diese  zentrale  städtebauliche  Kategorie  seziert und  das  ehemalige  Vermeidungsedikt  zum  positiven Ziel  gewendet.  Deutlich  wird  bei  der  Ankunft  des stadtsoziologischen Mischungsparadigmas  im  städte‐

baulichen Diskurs,  dass  im  Städtebau  erst  die Groß‐stadtfeindschaft  überwunden werden musste,  bevor die  soziologische  Toleranzthese  diskutierbar  wurde. Immerhin bedeutete dieser Wechsel  ja, dass die The‐se „Großstadt produziert Seuchen und Revolte“ durch die Antithese „städtische Mischung führt zu Offenheit und  Toleranz“  abgelöst  wurde  –  mithin  (zumindest auf den ersten Blick) eine  recht  fundamentale Kehrt‐wende.  

• Die gemischte Stadt 

Zwischen der Neubewertung von Mischung als etwas tendenziell  Positives  und  Erstrebenswertes,  die  sich im  städtebaulichen  Diskurs  der  1960er  Jahre  (wenn auch  mit  unterschiedlicher  Konsequenz)  erstaunlich schnell  etablierte,  und  der  praktischen  Anwendung des Konstrukts, klaffte allerdings noch eine gewaltige Lücke.  Der  Konzeption  des  Städtebauförderungsge‐setzes, an der wiederum  Johannes Göderitz maßgeb‐lich beteiligt  gewesen  ist  (Fahrenholtz 1963, 69),  lag weiterhin  der  „Gesundungsansatz“  der  1930er  Jahre zugrunde. In den 1960er Jahren begann die Praxis der Flächensanierung  (im wahrsten  Sinne)  durchzuschla‐gen.  Erklärtes  Ziel  der  Stadtsanierung  war  es,  die verhassten  Gründerzeitviertel  zu  beseitigen  und  auf deren  Trümmern  die  aufgelockerte  und  gegliederte Stadt zu errichten. Auch renommierte Städtebautheo‐retiker waren  in dieser Zeit  in die Praxis der Flächen‐sanierung  eingebunden;  bei  der  Sanierungsplanung für  ein  Gebiet  im  Berliner  Bezirk Wedding  im  Jahre 1963  stellte  lediglich  eines der  von den  12 deutsch‐sprachigen  Städtebaulehrstühlen  erarbeiteten  Gut‐achten die Strategie des Totalabrisses grundsätzlich in Frage (vgl. Geist/Kürvers 1989, 594f.). 

Mitte der 1960er  Jahre  formierte  sich auch  in den deutschen  Städten  erster Protest der Bewohne‐rInnen gegen die städtebauliche Praxis der Flächensa‐nierung  (vgl.  Geist/Kürvers  597f.).  Der  Widerstand gegen die  Flächensanierungen  (und damit  gegen die herrschende  Städtebaupolitik),  der  ab  Mitte  der 1970er  Jahre  zu  einer  allmählichen  Umkehr  dieser städtebaulichen  Praxis  führte,  ist  im  Kontext  der  in den 1960er Jahren gegründeten allgemeinen Politisie‐rung der gesellschaftlichen Debatten  zu  sehen. 1968 revoltierten – nach französischem Vorbild – die deut‐schen Studenten, Mitte 1969 wurde mit Willy Brandt der  erste  sozialdemokratische  Bundeskanzler  der Bundesrepublik gewählt. Stadtplanung und Städtebau änderten  sich  in dieser  Zeit  grundlegend, die  jungen und  kritischen  Stimmen  der  Zunft  gewannen  zuneh‐mend  an Einfluss. Die exemplarisch nachvollzogenen Änderungen des städtebaulichen Diskurses – auch die Etablierung  der  soziologischen  Perspektive  und  die 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Etablierung  der Mischung  –  sind  Anzeichen  wie  Er‐gebnis dieser Umwälzungen.  Stadtplanung und  Städ‐tebau wurden  in dieser Zeit vor allem als soziale Ent‐wicklungsplanung  definiert,  für  die  einerseits  der  in den 1960ern etablierte kritische theoretische Zugang, andererseits  der  Drang  zur  Verwissenschaftlichung und damit die Affinität  zum Gebrauch von vermeint‐lich objektiven  Zahlen und mathematischen  Formeln wichtige Erkennungsmerkmale sind.  

In den 1970ern hatte die Neuentdeckung von städtebaulichen Qualitäten der  über  Jahrzehnte  ver‐teufelten „Mietskasernenstadt“ begonnen und dieser Prozess erhielt durch das Europäische Denkmalschutz‐jahr  1975  einen  gewaltigen  Schub.  In  West‐Berlin wurde der Bau von Großsiedlungen am Stadtrand  im Jahre 1974 eingestellt; zu dieser Zeit entwickelte sich auch  die Hausbesetzerszene,  die  Anfang  der  1980er ihren  Höhepunkt  erreichte.  Gefordert  wurde  hier weniger eine städtebauliche Nutzungsmischung, son‐dern der Erhalt der bestehenden Strukturen und vor allem Mitbestimmung und Mitsprache bei der Stadt‐sanierung.  Der  Protest  gegen  die  bestehende  Stadt‐planungspraxis  und  die  umfangreichen  und  heftigen Auseinandersetzungen  im  Rahmen  der  Hausbeset‐zungen  beeinflussten  maßgeblich  die  programmati‐sche Ausgestaltung der  IBA 1984‐87. Mit der  IBA‐Alt in Kreuzberg wurden im Jahre 1982 die 12 Grundsätze der behutsamen  Stadterneuerung beschlossen. Auch in diesen Grundsätzen spielt das Thema Nutzungsmi‐schung noch kaum eine Rolle, gefordert wurde jedoch die  „Erhaltung der Kreuzberger  Eigenart“  (Grundsatz 3). Erst über den Kampf für den Erhalt dieser Eigenart wurde  dann  letztlich  die  Kreuzberger  Mischung  als Prototyp  der  gemischten  Stadt  in die  städtebauliche Leitbildebene  implementiert. Auch wenn von der  IBA 1987  eine  theoretische  Hinterfragung  des  Ziels Nut‐zungsmischung  nicht  geleistet  worden  ist  (SenStadt 2011b, 58), ist die „Urbane Mischung“ seitdem fester Bestandteil  des  übergreifend  konsensfähigen  Leitbil‐des der „gemischten und kompakten Stadt der kurzen Wege“ geworden.  

Gleichzeitig zu diesem epochalen Bewertungs‐wechsel  im städtebaulichen Diskurs etablierte sich  in den  1960er  Jahren  eine  grundlegendere  Form  von Kritik am Urbanismus. Von der reformerischen Positi‐on  eines Hans Paul Bahrdts, nach der den  räumlich‐physischen Faktoren eine – wenn auch eingeschränk‐te  – Wirkungsmöglichkeit  für  die  Verbesserung  des sozialen  Klimas  in  den  Städten  zugestanden  wurde und  deren  Ziel  es  war,  die  städtebauliche  Planung durch die „Hilfswissenschaft“ Soziologie zu unterstüt‐zen und  zu qualifizieren,  grenzte  sich nun mehr und mehr eine  fundamentalere gesellschaftskritische Hal‐tung ab. Die kritischen Soziologen  lehnten die These 

ab, dass räumliche Faktoren eine positive Wirkung auf das  Sozialverhalten  haben  könnten.  Ausgangspunkt dieser  Sichtweise  war  eine  grundsätzliche  Kritik  an Gesellschaft  und  Politik,  die  (als  deren  Bestandteil) speziell die  Städtebaupraxis  in den  Fokus nahm. Ge‐sucht wurde nicht nach besseren Modellen und Pla‐nungsmethoden, sondern nach den gesellschaftlichen Gründen für unzulängliche Ergebnisse des Städtebaus. Räumliche und bauliche Strukturen wurden aus dieser Warte nur als  Indikatoren gesellschaftlicher Prozesse gesehen, die  es  zu  ändern  galt.  Stadtplanung wurde als  „gesellschaftliches  Problem  innerhalb  eines  Be‐zugssystems  von  Herrschaftspositionen“  betrachtet, „Urbanität,  Öffentlichkeit  und  Nachbarschaftsidee“ samt  deren  räumlichen  Vorstellungen  wie  „Entmi‐schung, Verdichtung,  Funktionstrennung  und Gliede‐rung“  als  Versuche  interpretiert,  „Symptome  einer Gesellschaftsordnung“ kurieren zu wollen, ohne nach den  „Ursachen  der Mißstände“  zu  fragen;  gefordert wurden  in der kritischen Soziologie daher auch keine baulich‐räumlichen,  sondern  politische  Maßnahmen (vgl. Hohenadl 1977 , 66f). 

So  fokussiert  etwa  Werner  Durth  mit  einer grundlegenden Hinterfragung von Theorie und Praxis des  Städtebaus  und  Anleihen  an  neomarxistischen und  politökonomischen  Positionen  auf  die  soziologi‐sche Wende in der Städtebaudebatte (1977). In „ideo‐logie‐kritischer  Aufräumarbeit“  hätten  die  Sozialwis‐senschaftler zunächst geholfen, einige „allzu pessimis‐tische  Argumente  der  traditionellen  Großstadtkritik“ abzuräumen und an deren Stelle ein „leuchtendes Bild der  Möglichkeiten  städtischer  Lebensformen  aufzu‐bauen“  (Durth  1977,  30f.).  Nach  der  soziologischen Kritik  an  den  überkommenen  „organizistischen  Vor‐stellungen“,  so Durth,  seien deren eigenen Konzepte (Privatheit, Öffentlichkeit, Urbanität) in die „Lücke der Leitbilder“ gedrängt worden. Die soziologischen Kon‐zeptionen  von  Privatheit  und Öffentlichkeit  (Bahrdt) oder  von Urbanität  (Salin) wären  trotz  ihrer wissen‐schaftlichen Präsentation  im Grunde eine „simple  In‐Eins‐Setzung  gesellschaftlicher  Beziehung  mit  räum‐lich  eindeutigen  Einheiten.“ Gerade  der  von  Salin  in die Diskussion eingebrachte Begriff der Urbanität  sei „durch seine schillernde Unbestimmtheit allen Projek‐tionen offen und  für unterschiedliche Zwecke  instru‐mentalisierbar“  geworden  und  habe  zu  einer  „Aus‐blendung  des  gesellschaftlichen  Reproduktionszu‐sammenhangs“  geführt.  Damit  sei  bewusst  auf  eine „vom Wirtschaftssystem ausgehende Betrachtung des sozioökonomischen  Gebildes  der  modernen  Stadt“ verzichtet worden  (ebd.). Gleichzeitig kritisiert Durth den „Sieg der Zahlen über die Bilder“, mithin die Ablö‐sung  des  „organischen“  durch  das  „ökonomische“ Denken  als  die  neue  eigentliche  Antriebsfeder  der 

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1) Die Geschichte der Trennung/Mischung 

Disziplin. Die  jüngste Entwicklung  im Städtebau habe zu  einer  „Transformation  sozialer  und  räumlicher Qualitäten“ der Städte in quantifizierbare Größen wie „Geschoßflächenzahlen  und  Verdichtungsziffern“  ge‐führt. Durth beklagt die „Reduktion planerischen Den‐kens“,  für  die  Aufgabe  von  „differenzierten  Vorstel‐lungen vom gelebten Raum der Menschen“ auf „zwei‐dimensionale  Leit‐Bilder  der  Planung“  (Durth  1987, 46) und  für die Abkehr von den  (ehemaligen) „sozia‐len und politischen Qualitäten“ des Städtebaus hin zu einer  „Ökonomisierung“  der  Disziplin  (Durth  1985, 367).  Aus  dieser  fundamental‐kritischen  soziologi‐schen Perspektive wird die  städtebauliche Praxis  ins‐gesamt  zum  Objekt  der  Kritik.  Urbanität  und  Mi‐schung werden  dagegen  als  Leitbildsurrogate  in  der Tradition des orthodoxen Städtebaus verstanden.  

Diese  Debatte  führte  auf  unterschiedlichsten Ebenen der kritischen Theorie dazu, dass die Relevanz des Begriffs der Stadt grundsätzlich hinterfragt wurde. Jürgen Habermas schreibt 1985, mit dem Begriff ver‐binde  sich  eine  Lebensform,  die  sich  derart  verwan‐delt  hätte,  „dass  ihr  der  angestammte  Begriff  nicht nachzuwachsen vermag“ und dass daher „der Begriff der Stadt selbst überholt“ sei; (1985,22). Der Soziolo‐ge Peter Saunders wendet sich gegen den ›räumlichen Ortsbezug‹  der  Stadtsoziologie  und  leitet  daraus  die „stadtsoziologische Irrelevanz“ von Stadt ab. Saunders fordert, dass das „Problem des Raumes“, auf welches die Stadtsoziologie  traditionell orientiert  sei, von der Analyse spezifisch gesellschaftlicher Prozesse getrennt werden müsse. Die Stadtsoziologie könne nicht länger im  Sinne  einer  eigenständigen  Thematisierung  der „räumlichen Formen“ definiert werden  (ebd. 17). Die moderne  Stadt  sei  von  Gesellschaft  nicht  zu  unter‐scheiden,  die  „räumliche  Form  der  Stadt“  keine brauchbare  Konstruktion  für  eine  eigene  Theoriebil‐dung. 

Trotz dieser Kritik beschäftigten  sich  (und be‐schäftigen  sich  noch)  Städtebau  und  Stadtsoziologie auch weiterhin mit der Stadt. Begriffe wie Urbanität, Mischung und Dichte haben sich seit den 1980er Jah‐ren  auf  der  städtebaulichen  und  stadtplanerischen Ebene als allseits anerkannte Leitbilder durchgesetzt. Das Leitbild der gemischten Stadt  ist damit zu einem Zeitpunkt  dominant  geworden,  zu  dem  sich  die  kri‐tisch  reflektierte  Theorie  in  weiten  Teilen  von  der Stadt  abgewendet  hat. Grundsätzlich  hinterfragende Annäherungen  an  Begriffe  wie Mischung,  Urbanität und Dichte  sind heute daher nur noch  selten  zu  fin‐den. Die städtebauliche Debatte  ist  in  ihrer  jüngeren Vergangenheit  insgesamt  deutlich  pragmatischer, anwendungsbezogener  und  auch  unpolitischer  ge‐worden. Nicht  zuletzt  beruht  diese  Entwicklung  dar‐auf, dass sich die kritische Theorie in vielen Bereichen 

vom  Stadtbegriff  abgewendet hat  – und damit  auch von einer Beschäftigung mit Stadtentwicklung, Stadt‐planung  und  Städtebau.  Die  kontroverse  Diskussion um die städtebauliche Praxis wurde weitgehend abge‐löst von einem überwiegend affirmativen Diskurs über städtebauliche Leitbilder, der die  theoretische Exper‐tise der Disziplin seitdem dominiert.  

• Von Brüchen und Kontinuitäten 

Zusammenfassen  lässt  sich  dieser  historische  Rück‐blick  auf  die  Entwicklung  der  gemischten  Stadt  vom Schreckens‐ zum Leitbild der städtebaulichen Disziplin als  eine  Geschichte  des  Wandels  und  als  eine  Ge‐schichte der Kontinuität. Einerseits hat sich im städte‐baulichen Kontext tatsächlich der Blick auf die städti‐sche Alltagswirklichkeit  gewandelt. Bis  in die  1960er Jahre  gab  es  hier  große  Einigkeit  im  Städtebau,  die bestehende Großstadt als chaotische, krank machen‐de oder doch zumindest völlig ungeordnete Wirklich‐keit  zu  betrachten.  Vorrangiges  Ziel  des  Städtebaus war es, dieses Chaos neu und besser zu ordnen, und zwar  nach  den  eigens  aufgestellten  städtebaulichen Regeln  und  Gesetzen,  die  zentral  auf  der  Trennung der  städtischen  Realität  in  Funktionen  beruhte.  Nur mit dem Einstürzen des Schreckenbildes konnte dem Leitbild der gemischten Stadt der Boden bereitet wer‐den und schließlich statt der Trennung die Mischung gefordert werden.  

Andererseits gibt es eine ganze Reihe von Kon‐tinuitäten  festzuhalten:  erstens  das  kontinuierliche Denken  in Nutzungskategorien;  die  gemischte  Stadt, so  lässt  sich dieser Ansatz  vielleicht  zuspitzen, denkt weiter  in  Kategorien  der  Trennung.  Anders  gesagt muss die Stadt erst einmal gedanklich getrennt wer‐den,  um  ihre Mischung  städtebaulich  korrekt  einzu‐fordern. Dem Ziel Nutzungsmischung geht die gedank‐liche  Trennung  in  Nutzungsarten  voraus.  Verdeutli‐chen  lässt  sich  das  am Baugebietstyp des  „Mischge‐bietes“,  der  von  Anfang  an  im  Katalog  der  Baunut‐zungsverordnung enthalten gewesen ist. Ein Mischge‐biet nach BauNVO hat nur dann einen Sinn, wenn der Rest der  Stadt  kein Mischgebiet  ist; das Mischgebiet definiert sich also erst durch sein Äußeres. Und mehr noch:  Praxis  der  Mischgebietsfestsetzungen  in  der Bauleitplanung ist es, den Mischungsanteil zu definie‐ren. Auch hier wird deutlich, dass diese Art  von Mi‐schung  nicht  ohne  Trennung  auskommen  kann. Schließlich  lässt  sich  vermutlich  auch  nur  so,  also durch  die  konstitutive  Notwendigkeit  der  Trennung für  das  Leitbild  der Mischung,  erklären, weshalb  die auf  den Ursprüngen  des  Städtebaus  basierende  Sys‐tematik  der  Baunutzungsverordnung  innerhalb  der Disziplin Städtebau kaum als Hindernis für die allseits 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

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angestrebte  gemischte  Stadt  empfunden wird  (siehe Kapitel 2). Die gesetzlichen Grundlagen der Stadtpla‐nung – insbesondere die Baunutzungsverordnung von 1962 –, wurden  im Wesentlichen unverändert beibe‐halten. Weiterhin wird bei  jedem neuen Bebauungs‐plan  der  städtische  Raum  in  Baugebietstypen  einge‐teilt; die städtebauliche Trennung wird also durch die Stadtplanung unvermindert planerisch organisiert und vollzogen.  

Eine  weitere  Kontinuität  besteht  darin,  dass der Städtebau  immer noch dazu  tendiert, sich gegen die bestehende urbane Alltagswirklichkeit zu wenden. Denn  auch  wenn  die  Großstadt  heute  kaum  mehr pauschal  als  `Grab  der  Zivilisation´  gebrandmarkt wird, werden bestimmte Gebiete  auch weiterhin  als „städtebaulich  problematisch“  klassifiziert  und  die Kategorie des „städtebaulichen Missstandes“ hält sich hartnäckig  in  der  städtebaulichen  Analyse.  In  der aktuellen Debatte  finden  sich diese Missstände nicht mehr  in  den  gründerzeitlichen  Quartieren,  die  im Gegenteil  für  die  Leitbilder  der  Urbanität  und  Mi‐schung paradigmatisch  geworden  sind; heute  ist der städtebauliche Misstand  zum  einen  im  „suburbanen 

Siedlungsbrei“ und zum anderen im „problematischen Bestand des  Städtebaus nach dem 2. Weltkrieg“ be‐heimatet. Und natürlich  ist es weiterhin die Aufgabe des  Städtebaus,  diese  Missstände  zu  beheben.  Der Grund für diese Kontinuität  liegt tiefer, sozusagen  im Subkontext des  städtebaulichen Ansatzes  verborgen. Als  anwendungsbezogene Disziplin  ist der  Städtebau historisch als  Intervention gegründet worden, als  re‐parierende  Institution. Um  etwas  reparieren  zu  kön‐nen, ist es jedoch erst einmal notwendig, zu erkennen (zu bezeichnen), dass etwas kaputt ist, oder eben „un‐gesund“ – daher auch der bis heute anhaltende Drang zu  Biologisierung  von  Stadt.  Leitbilder  übernehmen dabei die Funktion, die notwendigen Kriterien für die Diagnosen kaputt/ganz oder krank/gesund herzustel‐len. War früher die dichte und ungegliederte Stadt ein zu korrigierender Zustand, so ist es heute die „mono‐funktionale“ Stadt, die repariert werden muss.  

 

 

 

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2) Der Stand der Forschung 

Der Stand der Forschung Im zweiten Teil dieser Studie wird die neuere Diskus‐sion  zum  Leitbild  der  „Urbanen  Mischung“  unter‐sucht. Dabei wird zunächst ein Blick auf die Forschung zum  Thema  „Nutzungsmischung  im  Städtebau“  ge‐worfen.  Anschließend  wird  der  Diskussionsstand  in der  stadtsoziologischen Debatte  zum Thema „Soziale Mischung“ dargestellt und dabei auch auf die  jüngst veröffentlichte umfangreiche Studie Soziale Mischung in der Stadt (Harlander/Kuhn/Wüstenrot 2012) einge‐gangen. Drittens wird  der  Forschungsstand  zum  eng verwandten  Themenbereich  der  „Ethnischen  Mi‐schung“  dargestellt  und  diskutiert.  Viertens  werden die  aktuellen  Debatten  untersucht,  die  unter  dem Titel  „Renaissance  der  Innenstadt“,  „Kreative  Stadt“ und  „Nachhaltige  Stadt“  geführt werden,  und  dabei geprüft,  ob  hier  neue  Impulse  für  das  Leitbild  der „Urbanen Mischung“ gegeben werden.  

• Nutzungsmischung  

In den  Jahren 1996‐1999 wurde  im Rahmen des Pro‐gramms  Experimenteller  Wohnungs‐  und  Städtebau eine  umfangreiche  Forschung  zum  Thema  „Nut‐zungsmischung  im  Städtebau“  durchgeführt.  In  13 Fallstudien wurden  Ansätze  untersucht,  in  denen  in Neubau‐ und Umbauprojekten das Ziel der „gemisch‐ten Stadt“ verfolgt worden ist. Zudem wurden Vertie‐fungsstudien  beauftragt,  etwa  zu  den  Themen  Pla‐nung  städtebaulicher  Nutzungsmischung  in  Stadter‐weiterungs‐ und Stadtumbauvorhaben in Europa (BBR 1999a) und Nutzungsmischung  und  Stadt der  kurzen Wege  (BBR 1999b). Gleichzeitig entwickelte sich eine Fachdiskussion  über  das  Leitbild  der  Nutzungsmi‐schung, die  sich  in  zahlreichen  Tagungen und Veröf‐fentlichungen widerspiegelt  (u.a.  Becker/Jessen/San‐der 1998).  Im  Folgenden werden die wichtigsten Er‐gebnisse  dieser  Forschungen  zusammengefasst  und diskutiert.  

Der  Forschungsgegenstand  dieser  Beiträge  ist die  Nutzungsmischung.  Andere  Mischungsformen, also etwa Soziale Mischung, konzeptionelle Mischung oder Akteursmischung, spielen, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Festgestellt wird dabei, dass das Konzept  der  Nutzungsmischung  in  Abkehr  von  der Funktionstrennung  als  dem  dominanten  städtebauli‐chen  Prinzip  der  letzten  50  Jahre  in  der  aktuellen städtebaulichen Diskussion und Praxis wieder an Be‐deutung gewinne und dass mit dem Leitbild der Nut‐zungsmischung sich vielfältige Hoffnungen verbinden, etwa auf einen Alltag mit kürzeren Wegen (Verkehrs‐vermeidung)  und  auf  Alltagserleichterungen  für  den Einzelnen  (BBR  1999b,  9).  Thematisiert  wird  zudem 

häufig die Frage des Maßstabes, also ob vertikal oder horizontal,  fein‐  oder  grobkörnig,  im  Gebäude,  im Block oder  im Quartier gemischt wird oder gemischt werden  soll.  Klar  benennbare  Aussagen werden  aus dieser Thematisierung jedoch kaum abgeleitet.  

Untersucht  werden  in  den  Studien  zur  Nut‐zungsmischung  zunächst  die  ökonomischen  und  be‐trieblichen  Rahmenbedingungen,  also  welche  äuße‐ren  Entwicklungen  dazu  führen,  dass  Nutzungsmi‐schung stattfindet beziehungsweise welche sie behin‐dern. Dabei werden Entwicklungen  in beide Richtun‐gen  ausgemacht.  Als  Funktionsmischung  fördernde Entwicklungen und Rahmenbedingungen werden  vor allem genannt: die zunehmende Miniaturisierung der Produkte  und  damit  einhergehend  abnehmende  Be‐darfe an Lagerflächen; die Diversifizierung/Individuali‐sierung  der  Produkte,  die  eine  größere  Kundennähe erfordern  (Produktfinishing);  der  Einsatz  moderner Immissionsschutztechnologien,  die  Umweltbelastun‐gen  weiter  reduzieren;  moderne  Informations‐  und Kommunikationstechnologien,  die  Wohnen  und  Ar‐beiten  in  enge  Nachbarschaft  bringen;  die  Annähe‐rung der Erwartungen zwischen dem sekundären und tertiären  Sektor  hinsichtlich  eines  höherwertigen Arbeitsumfeldes  und  damit  verbesserte  Möglichkei‐ten  der  städtebaulichen  Integration  von  Produktio‐nen;  die  zunehmenden  Verflechtungen  zwischen Produktion und Service (Herwarth/Holz 1997, 12). Als gegenläufige  Entwicklungen  werden  genannt:  eine allgemeine  Expansionstendenz  der  ökonomischen Entwicklung,  die  Lage  von  vielen  alten  Gewerbebe‐trieben  in  überalterter  Bausubstanz;  eine  unzurei‐chende Erschließung  solcher  Standorte; beengte  Flä‐chenzuschnitte  und  das  Fehlen  von  Erweiterungsflä‐chen  im Bestand.  Insgesamt wird konstatiert, dass es nur  eine  recht  geringe  Investitionsbereitschaft  bei privaten  Investoren  für  gemischte  Strukturen  auszu‐machen  ist  (ebd.). Von  Investorenseite aus wird ver‐merkt,  dass  die  kleinräumliche Mischung  aus Woh‐nen,  Arbeiten  und  sozialer  Infrastruktur, wie  sie  als Beispiel  der  alten  europäischen  Stadt  immer wieder diskutiert werde, „unter heutigen Marktbedingungen nicht  (mehr)“  herstellen  ließe  und  auch  von  vielen potentiellen  Nutzern  gar  nicht  nachgefragt  werde (Unger 1998, 268). 

Auch  bei  der Beurteilung  der  rechtlichen  und instrumentellen  Rahmenbedingungen  für  die  Durch‐setzung  von Nutzungsmischung  ergibt  sich  kein  ein‐heitliches Bild. Auf der einen Seite werden restriktive Umweltschutzauflagen, die häufig fehlende Planungs‐sicherheit,  das Nicht‐im‐Vordergrund‐Stehen  bei  der planenden  Verwaltung  und  vor  allem  das  im  Pla‐

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

nungsrecht verankerte Leitbild der Funktionstrennung als Hemmnisse genannt (Herwarth/Holz 1997, 12). Es wird  darauf  hingewiesen,  dass  Nutzungsmischung nicht als Ziel des  Städtebaurechts angelegt und dass der wichtigste Grundsatz des Baugesetzbuchs und der Baunutzungsverordnung  die  Optimierung  der  Rah‐menbedingungen  für einzelne  Funktionen durch  ihre räumliche  Trennung  ist  (BBR  2000,  31).  Insgesamt betrachtet seien die Handhabung des Planungsrechts durch  die  Stadtplanung  und  die  „wirtschaftlichen Tendenzen  und  Zwänge“  die  „eigentlichen Motoren der  Funktionstrennung“  (Scharmer  1998,  260).  Auf der  anderen  Seite  wird  im  Endbericht  des  ExWoSt‐Projektes  jedoch auch formuliert, dass „das allgemei‐ne Städtebaurecht kein Hindernis für die Nutzungsmi‐schung“ darstelle (BBR 2000, 31). 

In  einer  der  Studien  des  ExWoSt‐Forschungs‐feldes wird  explizit  untersucht, was  ein  Leitbild  der Nutzungsmischung  auf  der  ökologisch  motivierten Begründungsebene  zu  leisten  imstande  ist.  (BBR 1999b).  Dafür  werden  insbesondere  die  mögliche Verkehrswirkungen  einer  Nutzungsmischung  auf Quartiersebene  betrachtet und  damit  analysiert, wie  der Zusammenhang  zwischen  ei‐ner propagierten Nutzungsmi‐schung  und  dem  Leitbild  von der  „Stadt  der  kurzen Wege“ sich darstellt.  In dieser  Studie wird eine Reihe  von Maßnah‐men  für  die  Umsetzung  von Nutzungsmischung  vorge‐schlagen. In einer Beispielsam‐mlung  von  „organisatorischen Konzepten“ wird etwa der his‐torische  Werkswohnungsbau diskutiert,  die  Berücksichti‐gung der Lage des Arbeitsplat‐zes  bei  der  Vergabe  von Grundstücken  oder  die  vor‐zugsweise  Vermietung  kom‐munaler  Wohnungen  an  Ein‐pendler  (ebd.  111).  Auch  das umgekehrte  Prinzip,  bei  dem durch  spezielle  Jobbörsen der Arbeitsplatz  zum  Wohnort rücken  soll,  wird  hier  auf‐gelistet  und  das  Zusammen‐führen  beider  Ansätze  in  der Telearbeit  besprochen.  Insge‐samt wird herausgestellt, dass eine  große  Bandbreite  mög‐licher Ansatzpunkte  zur Redu‐zierung  von  Distanzen  durch 

Organisation besteht und dass sich eine kleinteiligere Verteilung  von  sämtliche  funktionalen  Bereichen  – seien  es  Bildungseinrichtungen,  Verwaltungsstandor‐te, Einzelhandelsbetriebe oder Freizeiteinrichtungen – tendenziell  positiv  auf  eine  gemischte  Struktur  der Stadt  auswirkt  (ebd.  111).  Allerdings wird  gerade  in dieser  Studie  auch  immer  wieder  herausgearbeitet, dass  die  Nutzungsmischung  keinen  nachweisbaren Einfluss auf den Berufsverkehr habe, dass eine nach‐haltige  Reduzierung  der  zurückgelegten  Durch‐schnittsdistanzen mit  dem  Konzept  der  quartiersbe‐zogenen Nutzungsmischung allein nicht herstellbar sei und dass das städtebauliche Konzept der Nutzungsmi‐schung  im  Hinblick  auf  den  gesamten  Verkehrsauf‐wand unter heutigen Rahmenbedingungen nur einen sehr geringen Beitrag zur Reduzierung von Distanzen leisten  könne  (ebd.  74).  Aus  ökologischer  Sicht  sei eine  nachhaltige  Reduzierung  der  zurückgelegten Durchschnittsdistanzen  zwar  wünschenswert,  könne durch  die  diskutierten Maßnahmen  jedoch  nicht  er‐reicht werden. Vielmehr entkoppele sich das individu‐elle  Verkehrshandeln  zunehmend  von  den  baulich‐

Abbildung „Nutzungsmischung“, aus: ExWoSt‐Forschungsfeld "Nutzungsmischung im Städtebau", Potsdam‐Kirchsteigfeld, Freie Planungsgruppe Berlin, 1999 

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2) Der Stand der Forschung 

räumlichen  Rahmenbedingungen  und  sei  somit  bei einer hohen und weiterhin steigenden Raumdurchläs‐sigkeit  immer  weniger  durch  siedlungsstrukturelle Ansätze  direkt  zu  beeinflussen  (ebd.  74). Aus  indivi‐dueller Sicht eröffne eine nutzungsgemischte baulich‐räumliche Struktur dagegen Möglichkeiten  zu kurzen Wegen,  die  alltagserleichternd  sind  (ebd.  4).  Zudem gebe es ohne entsprechende baulich‐räumliche Rah‐mensetzungen gar keine Möglichkeit zur Distanzredu‐zierung durch Organisation, organisatorische Konzep‐te  erhöhten  die Wirksamkeit  baulich‐räumlicher  An‐sätze. Gute Angebote beim Umweltverbund sowie für Fußgänger  und  Radfahrer  würden  den  Nahbereich attraktiver machen, nur  in einer Umgebung, die aus‐gestattet  ist  mit  Geschäften,  Freizeitgelegenheiten, Schulen,  sozialer  Infrastruktur  und  Arbeitsplätzen, könne  man  als  Fußgänger  oder  Radfahrer  sein  Ziel erreichen (ebd. 112).  

Die  allgemeinen  Forschungsergebnisse  zum Thema Nutzungsmischung  im Städtebau  fallen wenig überraschend aus.  Insgesamt werden  vier Aufgaben‐bereiche  identifiziert: Stadterweiterung, Stadtumbau, Nutzungsbereicherung monofunktionaler  Stadtgebie‐te, Erhalt der bestehenden Nutzungsmischung in alten Stadtquartieren (BBR 1999a, 3). Das Wohnen wird als die  Schlüsselfunktion  in  allen  Projekten  bezeichnet, auf  die  das  Ziel  der  städtebaulichen  Nutzungsmi‐schung bezogen ist (BBR 1999a, 10). Dabei wird resü‐miert, dass  innenstadtnahe Brachen  gute Vorausset‐zungen  für  das  Herstellen  von  Nutzungsmischung bieten,  während  dies  bei  Siedlungen  am  Stadtrand: deutlich  schwerer  falle  (BBR  2000,  1).  Bereits  ge‐mischt  genutzte  Quartiere würden  günstige  Voraus‐setzungen und Anknüpfungspunkte für eine Stabilisie‐rung  und  funktionale Weiterentwicklung  bieten.  Die Planung und Realisierung neuer  städtebaulicher Nut‐zungsmischung  sei  dagegen  schwierig,  aber möglich (BBR 1999a, 27). Als Maßnahmen  für die Umsetzung von  Nutzungsmischung  werden  ein  kleinräumliches Stadtteilmanagement  und  eine  integrierte  Stadtent‐wicklungspolitik  eingefordert.  Notwendig  seien  eine kommunale  Bodenvorratspolitik,  ein  Stadtentwick‐lungskonzept  und  ein  kooperativer  Planungsansatz (BBR  1999  a,  30).  Die  wichtigsten  Elemente  seien dabei  die  konsequente  und  innovative  Anwendung des bau‐ und planungsrechtlichen  Instrumentariums, die  aktive  Vermarktung  des  Produkts  „Nutzungsmi‐schung“  sowie die Unterstützung durch die Kommu‐nalpolitik  und  Informaton/Beratung  der  Träger  und Nutzer  (BBR  2000,  1).  Als  Ergebnis  des  ExWoSt‐Projektes wird zum einem festgestellt, dass es in allen Städten Deutschlands bereits Quartiere gibt, in denen Wohnungen und Betriebe unterschiedlicher Art  fein‐körnig gemischt  sind. Solche Quartiere,  so  lautet die 

Zusammenfassung der Forschung, bieten insbesonde‐re  kleinen  und  mittleren  Betrieben  sowie  Existenz‐gründern  gute  Standortbedingungen. Allerdings wird ebenso  festgestellt,  dass  traditionelle  feinkörnige Mischungen  durch  ökonomische  Entwicklungen  zu‐nehmend bedroht sind. Die Modellvorhaben zeigten, dass diese Gebiete durch Einsatz planungsrechtlicher Instrumente,  Information  und  Beratung  stabilisiert und modernisiert werden können. Gerade innenstadt‐nahe Brachen würden gute Voraussetzungen für Nut‐zungsmischung  bieten.  Nutzungskonflikte  könnten durch  Planung weitgehend  vermieden werden.  (BBR 1999).  

Auffällig  bei  den  Forschungsarbeiten  zum Thema „Nutzungsmischung  im Städtebau“ ist ein sich in  nahezu  allen  Beiträgen wiederholender Argumen‐tationsbogen: Stets wird an den Anfang gesetzt, dass Nutzungsmischung als  städtebauliches Ziel unter Pla‐nern fast unumstritten ist und kaum noch von jeman‐dem „ernsthaft in Frage gestellt“ werde (Sander 1998, 475). Gefolgt wird diese Feststellung von der Diagno‐se, dass die „reale Entwicklung unserer Städte jedoch weiterhin durch Entmischung und Funktionstrennung geprägt“  (BBR 2000, 9) und dass ein „anhaltend star‐ker gegenläufiger Trends in der Siedlungsentwicklung“ festzustellen  sei  (Sander  1998,  475).  Zusätzlich wird vermerkt, dass  städtebauliche Nutzungsmischung ein abstraktes Ziel und „nur sehr indirekt programm‐ und politikfähig“ ist (BBR 1999a, 31) und dass es sich auch „nur schwer empirisch überprüfen“ lasse (BBR 1999b, 1). Die Beseitigung  von Restriktionen und die  Förde‐rung  von  Potentialen  könnten  nur  sehr  vermittelt geschehen  und  aus  den  „bisher  eher  bescheidenen wissenschaftlichen  Befunden“  bezüglich  der  ökologi‐schen  Wirkungen  der  Nutzungsmischung  könnte kaum  ein  besonderer  Fördertatbestand  hergeleitet werden  (BBR  1999a,  30).  Trotz  dieser  erheblichen Zweifel wird  jedoch  regelmäßig am Ende der  jeweili‐gen  Studien dafür plädiert, das Ziel der Nutzungsmi‐schung weiter zu verfolgen und „mischungsstützende Baussteine“ gezielt zu  fördern  (BBR 1999a, 31). Auch Zweifel  an  den  „Ursache‐Wirkungs‐Beziehungen“,  so wird  hier  schon  beinahe  beschwörend  formuliert, sollen  das  Leitbild  „nicht  in  Frage“  stellen  (BBR, 1999b, 5). Regelmäßig wird in diesen Untersuchungen also nicht nur festgestellt, dass sich Leitbild und Reali‐tät gegenläufig entwickeln, sondern auch, dass es mit städtebaulichen/stadtplanerischen  Mitteln  kaum möglich erscheint, das Ziel des Leitbildes zu erreichen; und dennoch wird das  Leitbild  selbst am Ende  jedes Mal  bestätigt.  Dieser  in  sich widersprüchliche  Argu‐mentationsaufbau ist symptomatisch für das gesamte Forschungsfeld  „Nutzungsmischung  im  Städtebau. Was mit der Forschung durchgehend nicht hinterfragt 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

wird,  ist das  Leitbild der  „Nutzungsmischung“  selbst; weder  wird  diskutiert,  warum  eigentlich  eine  Nut‐zungsmischung  angestrebt werden  sollte,  noch, wel‐che Implikationen das Vorhaben „Herstellen von Nut‐zungsmischung“ mit sich bringt. Damit ist die Anwen‐dungsforschung  des  ExWoSt‐Projekts  eher  als  eine programmatische  Vertiefung  und  Verfestigung  des bestehenden Leitbildes einzuschätzen und weniger als eine  grundlegende  und  wissenschaftlichen  Ansprü‐chen  genügende  Auseinandersetzung  mit  dem  For‐schungsgegenstand selbst. 

Insgesamt entsteht der Eindruck, dass sich die Debatte tief in den eigenen Widersprüchen verfangen hat  und  dass  daher  klare  Positionen  fast  unmöglich geworden  sind.  Der  Hauptwiderspruch  besteht  zwi‐schen der Analyse, die  zeigt, dass die Rahmenbedin‐gungen  äußerst  komplex  und  gegenläufig  sind,  und dem  Festhalten  an  einer  Programmatik,  die  keine Antworten darauf geben kann. 

• Soziale Mischung  

Der  Themenbereich  „Soziale Mischung“  ist  das  not‐wendige  Pendant  zur  Nutzungsmischung,  erst  beide zusammen  bilden  das  Leitbild  der  „Urbanen  Mi‐schung“.  Bereits  im  ersten  Paragraphen  des  Bauge‐setzbuchs  wird  die  „Schaffung  und  Erhaltung  von sozialen Bewohnerstrukturen“ als Ziel gesetzt und da‐mit  das  Leitbild  von  der  „gesunden  sozialen,  ethni‐schen  und  kulturellen  Mischung“  umschrieben.  Die Soziale Mischung war über Jahrzehnte hinweg (und ist auch heute) selbstverständliches, kaum  je hinterfrag‐tes und daher  reichlich diffuses Gemeingut der städ‐tebaulichen  Planung  (vgl. Harlander  2000,  109), und zwar relativ unabhängig davon, ob auf der funktiona‐len Seite Trennung oder Mischung propagiert wurde. Konkretisiert  wurde  der  Topos  der  „Sozialen  Mi‐schung“ erst  in Folge des beschriebenen städtebauli‐chen  Paradigmenwechsels  von  der  getrennten  zur gemischten  Stadt. Mit der  Soziologisierung der  städ‐tebaulichen Debatte wurde die „Soziale Mischung“ als Heterogenität  konzeptualisiert,  der  positive  Auswir‐kungen  auf die  Stadtgesellschaft  zugeschrieben wur‐den.  Diese  Sichtweise  konnte  dann  direkt  mit  der dominant werdenden Vorstellung  von Urbanität  ver‐knüpft werden.  Die  soziale  und  ethnische Mischung wurde zum Sinnbild der urbanen, europäischen Stadt, die den städtebaulichen Diskurs seit den 1980er  Jah‐ren als Leitbild zu Grunde liegt. Zum anderen gewann das Thema  jedoch auch von einer anderen Seite aus an Aktualität, und zwar durch die zunehmende Migra‐tion nach Westdeutschland in den 1970er Jahren. Die Problematisierung der  räumlichen Verteilung der Mi‐gration  führte zu einer Praxis der großen Wohnungs‐

unternehmen,  die  als  richtig  erachtete  „Soziale Mi‐schung“ durch Steuerung der Belegung ihrer Bestände herzustellen;  auf  der  städtebaulichen/stadtplaneri‐schen Seite wurde diese Praxis kaum hinterfragt. Eine intensive  Forschung  über  die  Grundlagen  einer  sol‐chen  Steuerungspolitik  findet  sich  allerdings  in  der sozialwissenschaftlichen  Forschung, wo  Themen wie Segregation,  Quartierseffekte  und  Integration  um‐fangreich verhandelt wurden und werden. Im Folgen‐den wird daher ein kurzer Überblick über die Ergeb‐nisse  der  sozialwissenschaftlichen  Forschung  gege‐ben. 

Im  Mittelpunkt  der  sozialwissenschaftlichen Stadtforschung steht der Segregationsbegriff, der mit `Absonderung´  oder  `Trennung´  übersetzt  werden kann.  Auch  bei  der  Untersuchung  der  „Sozialen Mi‐schung“ findet sich somit gleich zu Anfang ein Begriff der Trennung. Segregation kann dabei nach sozialem Status,  nach  demografischen  Merkmalen  und/oder nach  ethnischen,  religiösen  und  kulturellen  Kriterien auftreten. Aufbauend auf die Klassiker der Soziologie (Karl Marx,  Emil  Durkheim, Max Weber  und  Georg Simmel) wurden  in den 1920er  Jahren durch die Ar‐beiten der Chicago  School of  Sociology die  Theorien über das Entstehen von sozialer Ungleichheit zusam‐mengebracht  und  dabei  besonders  deren  räumliche Ausprägung betont. Ergebnis dieser Übertragung war das Konzept der  residentiellen  Segregation, mit dem die städtische soziale Ungleichheit durch ihr Abbild im städtischen  Raum  analysiert werden  sollte.  Seit  den 1970er  Jahren wurde  das Modell  der  Segregation  – häufig mit Bezug auf Pierre Bourdieu – weiter ausge‐baut.  Segregation wird dabei  als die Verräumlichung sozialer  Ungleichheit  definiert,  die  wiederum  selbst die bestehenden sozialen Ungleichheiten verstärkt. In diesem Theorieansatz wird davon ausgegangen, dass die  ohnehin  sozial  Benachteiligten  in  ihren  Hand‐lungsmöglichkeiten  und  Partizipationsmöglichkeiten zusätzlich  benachteiligt  werden,  und  zwar  aufgrund ihrer  räumlichen  Konzentration  (Dangschat  2000, 210). Die wachsende  sozialräumliche Differenzierung habe  in  den  großen  Städten  die  Herausbildung  von Quartieren  bewirkt,  in  denen  sich  soziale  Probleme konzentrieren.  Dadurch  würde  die  Segregation  eine neue Qualität gewinnen: Sie bewirke eine soziale und ethnische  `Spaltung´  und  `Polarisierung´  der  Städte, bei der der Wohnort  selbst  zu einer Quelle weiterer Benachteiligung und Ungleichheit wird. Somit können in den Städten Orte der Ausgegrenzten entstehen, die auch Orte der Ausgrenzung sind  (Häußermann/Läpp‐le/Siebel 2008, 198).  

Der  Begriff  der  Segregation  ist  ein  Analyse‐werkzeug, mit  dem  die  Ungleichheit  in  den  Städten erfasst und verstanden werden soll. Das Ziel der städ‐

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2) Der Stand der Forschung 

tebaulichen  und  wohnungspolitischen  Planung,  Seg‐regation zu steuern, wurde  in der soziologischen For‐schung bereits vielfach kritisiert und dieser planungs‐bezogene  Ansatz  bildet  ein  eigenständiges  Untersu‐chungsfeld  (siehe  auch  das  Kapitel  „Ethnische  Mi‐schung“).  Aber  auch  auf  der  Theorieebene wird  das Modell  der  Segregation  grundlegend  hinterfragt. Bei dem  Fokus  auf die  räumliche Ausgestaltung und Be‐dingtheit von Segregation – so lautet eine dieser Kriti‐ken – werden politische und ökonomische Einflussfak‐toren häufig ausgeblendet; zudem setze der positivis‐tische Zugang zum Thema Segregation oftmals Theo‐riebildung mit „festgestellter empiristischer Regelhaf‐tigkeit gleich“  (Dangschat 2000, 211). Eine solch aus‐gestatte Ansicht der „nahezu unmittelbaren Übertra‐gung  sozialer Ungleichheit  in den Raum“  findet auch heute  noch  ihren  Zuspruch  in  der  Sozialökologie,  in der polit‐ökonomischen Stadt‐ und Regionalforschung und in der Kultursoziologie (ebd.). Zudem werden die Arbeiten der Chicago School und der dabei  transpor‐tierte Ansatz als Beispiel  für einen  „Reduktionismus“ bei  der  sozialwissenschaftlichen  Thematisierung  des Räumlichen bezeichnet, der vor allem auf die Traditi‐on der dort gepflegten naturwissenschaftlichen Bezü‐ge  zurückzuführen  ist  (Werlen  2005,  17f.).  Von  den Protagonisten  der  Chicago  School wurden  – mit  der Orientierung an biologistischen Analogien – die „nor‐malerweise  als  sozial“  bezeichneten  Dinge  in  den Begriffen  von  „Raum  und  Positionsveränderung“  ge‐fasst und beschrieben und damit konsequenterweise Räumliches  zum  Index  für  Erklärungen  des  Sozialen gemacht. Dies  hat  zu  einer  „fatalen  argumentativen Verwerfung“ geführt und der Beliebigkeit der Analo‐gie ein „breites Feld problematischer Kreativität“ ge‐öffnet. Mindestens  implizit  erlangt  das Materielle  in den Arbeiten der Chicago School und ihrer Nachfolger damit argumentativ „sinnstiftenden Gehalt“, dement‐sprechend schließen die Versuche der räumlichen Er‐klärungen des Sozialen eine „argumentative Überstra‐pazierung  des Materiellen“  ein.  Folglich  geraten  die räumlichen Erklärungen des Sozialen zwingend „in die Nähe vulgär‐materialistischer Argumentationsmuster“ (ebd.). Damit wird  von  theoretischer  Seite  aus  auch der  soziologische  Forschungsansatz der  sogenannten „Quartierseffekte“ hinterfragt und es scheint wissen‐schaftlich  keineswegs  hinreichend  geklärt,  „ob  und gegebenenfalls  auf  welche Weise  das  Umfeld  eines Wohnviertels die  individuellen  Lebenschancen  seiner Bewohner beeinflusst“ (Münch 2010, 49). 

In neueren Arbeiten wird vor allem auf die Wir‐kung  einer  zunehmenden marktförmigen Organisati‐on  der  Wohnungsversorgung  hingewiesen,  die  zu immer  stärkerer  sozialer,  kultureller  und  ethnischer Segregation  führe,  als  dies  auf  sozialstaatlich mode‐

rierten und regulierten Märkten der Fall sei  (Häußer‐mann/Läpple/ Siebel 2008, 289). Besonders wird auch auf die tendenziell segregationsfördernden Folgen der Privatisierung  ehemals  öffentlicher  Wohnungsunter‐nehmen hingewiesen  (Münch 2010, 222): „Marktför‐miger Städtebau bringt starke und feinkörnige Segre‐gation  hervor“  (Häußermann/Läpple/Siebel  2008, 200). Die vorherrschende Tendenz der Stadtpolitik sei, dass die  Ideologie des Wachstums als Allgemeinwohl propagiert  werde  und  die  Städte  sich  „unter  dem Wachstumsdiktat  zum Handlanger von privaten  Inte‐ressen“ machen würden (ebd. 355). Folge dieser Poli‐tik  sei  es,  dass  die wachsende  Zahl  von  Armen  auf einem  schrittweise  liberalisierten Wohnungsmarkt  in wenige  Quartiere  mit  geringer  Attraktivität  gelenkt werde, in denen sich dann die sozialen Probleme kon‐zentrieren.  Deshalb  würden  die  einheimischen  und die  ausländischen  Mittelschichten  spätestens  zur Einschulung  ihres Nachwuchses  „Exitstrategien“  ent‐werfen  (Dangschat 2000, 220) und aus diesen Gebie‐ten wegziehen, so dass sich die Segregation der sozial randständigen Bevölkerung noch  verschärfe.  In  allen großen  Städten  seien  solche  Prozesse  der  Residuali‐sierung von Stadtteilen mit einer hohen sozialen Prob‐lemdichte zu beobachten (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 363). 

Der am weitesten  reichende Versuch, Ansätze der Hierarchisierung von städtischen Räumen und der Ausdifferenzierung  moderner  (Stadt‐)Gesellschaften entlang vertikaler und horizontaler Merkmale sozialer Ungleichheit  zu  erklären,  findet  sich  im Modell  der Gentrification (Dangschat 2000, 212), welches gerade in den  letzten  Jahren die  sozialwissenschaftliche De‐batte zur Stadtentwicklung dominiert. Mit Gentrifica‐tion/Gentrifizierung wird  ebenfalls  ein  Segregations‐prozess  bezeichnet:  Innenstadtnahe Altbauquartiere, die  einen  hohen  Anteil  an  bezahlbaren Wohnungen haben, werden von jungen Künstlern und Intellektuel‐len als günstiger, urbaner und  trendiger Wohnstand‐ort entdeckt. Dieser Zuzug setzt Aufwertungsprozesse in Gang, die zu einer Steigerung der Wohnungsmieten führen, die letztlich die ursprünglichen Einwohner_in‐nen  (und  häufig  auch  die  Gentrifizierungs‐auslösen‐den Pioniere  selbst) aus dem Viertel verdrängen. Ein Effekt dieses derzeit besonders  in Berlin gut  zu beo‐bachtenden Prozesses  ist es, dass gerade das von  so vielen  Stadtplaner_innen  gepriesene  Leitbild  der Ur‐banität dort, wo es angetroffen wird (beziehungswei‐se  wo  es  sich  gerade  entwickelt),  eine  Aufwertung bestimmter Wohnviertel  bewirkt,  die  schließlich  zur Verdrängung von denjenigen  führt, die diese Urbani‐tät  eigentlich  erst  ausgemacht  haben  –  auch  dieses Phänomen zeigt eine zentrale Widersprüchlichkeit des Leitbildes der gemischten Stadt. Das flächendeckende 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Entstehen  einer  solchen  Urbanität  und  die  oftmals propagierte  Renaissance  der  Städte  (vgl.  Kapitel  3) würde – den Vorbildern  London und Paris  folgend – zu einer flächendeckenden Gentrifizierung der  innen‐städtischen Wohngebiete  führen und damit  zu einer Vertreibung  der  Haushalte  mit  niedrigeren  Einkom‐men an die Ränder der Städte  (Häußermann/Läpple/ Siebel 2008, 372).  

In aktuellen Beiträgen zum Themenbereich der Gentrifizierung  wird  dem  Paradigma  der  „Sozialen Mischung“  selbst  eine  tragende  Rolle  zugeteilt.  Das Ziel der Sozialen Mischung „beziehungsweise ihr Alter Ego der Durchschnitt“ sei das eigentliche Leitbild der fordistischen Stadtentwicklung geworden und genüge sich  auch  „im  Zeitalter der  technokratischen Moder‐ne“  selbst  (Holm 2009, 23). Lediglich  in einer kurzen Phase  in den 1980er  Jahren  sei es bei der Rede von der Sozialen Mischung nicht um die Verordnung eines sozialpolitischen oder  städteplanerischen  Ideals,  son‐dern um den Erhalt von gewachsenen sozialen Struk‐turen gegangen. Mit der Privatisierung und Ökonomi‐sierung der  Stadtentwicklungspolitik  seit den 1990er Jahren  sei  diese  kurze  Phase  der  sozialorientierten Sanierungspolitik  jedoch beendet gewesen. Die aktu‐ellen  sozialpolitischen  Interventionen  orientierten sich  allerdings  weiterhin  an  dem  Ziel  der  Sozialen Mischung,  und  zwar  trotz  „fehlender  empirischer Evidenz“ dafür, dass die Umkehr der räumlichen Aus‐grenzung  tatsächlich  eine  Lösung  des  Problems  dar‐stellt. Mit diesem Festhalten am überkommenen Leit‐bild würden ökonomische und gesellschaftliche Ursa‐chen sozialer Ungleichheiten systematisch ausgeblen‐det und das wohlmeinende Sprechen von der Sozialen Mischung  diene  nur  allzu  oft  der  Legitimation  von repressiven und autoritären Neuordnungen der städ‐tischen  Umwelt  (ebd.).  Letztlich werde  die  Rhetorik der  Sozialen  Mischung  selbst  zur  Legitimation  von Aufwertungsprozessen herangezogen  (ebd.). Der My‐thos der Sozialen Mischung sei nicht nur gescheitert, sondern  Ausdruck  einer  „revanchistischen  Stadtpoli‐tik“, da die „Soziale Mischung“  fast ausschließlich  im Kontext  einer  Rückeroberung  von  Arbeitervierteln durch die Mittelklasse denkbar  sei und nur  selten  in umgekehrter  Richtung  (ebd.,  vgl.  auch  Slater  2006 und Smith 2002). 

Mit der Studie der Wüstenrot‐Stiftung  zur So‐zialen Mischung  in der Stadt  (2012) wurde auch von Seiten  der  städtebaulichen  Forschung  ganz  aktuell eine  ausführliche Untersuchung  zum hier  verhandel‐ten Themenbereich vorgelegt. In der Studie wird fest‐gestellt,  dass  gegenwärtig  in  vielen  städtebaulichen und  stadtpolitischen  Debatten  das  `Mischungsideal´ dominiert  (Harlander/Kuhn  2012c,  386).  Vermutet wird, dass dies damit  zusammen hängt, dass die An‐

zeichen  wachsender  sozialräumlicher  Polarisierung und  eines  `Auseinanderdriftens  der  Stadtgesellschaf‐ten´  immer unübersehbarer werden.  Im Hintergrund stehe  ein  in  Deutschland  im  Vergleich  zu  anderen OECD‐Staaten  besonders  ausgeprägtes  Wachstum von sozioökonomischer Ungleichheit, das auch immer deutlicher  sozialräumliche  Ausdrucksformen  fände (ebd.).  Gerade  in  Deutschland  sei  die  Einkommen‐sungleichheit seit 1990 stärker gewachsen. Die Folgen und  Lasten dieser Entwicklung  seien  in den Kommu‐nen  im „Anschwellen der Arbeitslosen, Hartz  IV‐ und Obdachlosenzahlen“  am  unmittelbarsten  spürbar, drückten sich aber auch „im Wachstum marginalisier‐ter Quartiere  auf  der  einen  Seite  und  der  Zunahme `abgeschirmter´ und abgeschlossener Wohnkomplexe auf der anderen Seite“ aus (ebd.). Gated Communities seien  hierzulande  noch  Einzelfälle,  aber  „als  (sozi‐al)räumlicher  Ausdruck  einer  sich  vertiefenden  Kluft zwischen Arm und Reich  […] und dem damit einher‐gehenden  allmählichen  Auseinanderdriften  unserer Stadtgesellschaften durchaus ernst zu nehmen“ (ebd. 389).  In  der  Studie  der  Wüstenrotstiftung  werden damit zunächst wichtige politische Problemstellungen thematisiert:  etwa  von  der  nicht  nur  globalen,  son‐dern  gerade  auch  in  Deutschland  zunehmenden  so‐zioökonomischen Polarisierung bis hin zum Phänomen der Gated Communities  (vgl. auch Harlander 2012c), die  sicherlich  zu  Recht  zu  den  im  globalen Maßstab dringendsten  Problemen  der  Stadtentwicklung  ge‐zählt werden.  

In  der  Wüstenrot‐Studie  wird  also  versucht, das  Leitbild  der  „Sozialen Mischung“  zu  verteidigen und aufrecht zu halten. Unter anderem wird die Frage gestellt, ob durch die Gentrifizierung eine „erwünsch‐te  Aufwertung“  nicht  erst  ermöglicht werde  und  ob nicht  „in  sozialer Hinsicht Mischungsvehältnisse  ent‐stehen,  die  die  Zusammensetzung  der  Gesellschaft sehr viel besser abbilden als zuvor“ (Kuhn 2012b 324). Dabei  zeigt  es  sich,  dass  das  Ziel  der  „Sozialen Mi‐schung“  in Konkurrenz mit dem Ziel der sozialen Ge‐rechtigkeit  tritt. Es  ist nämlich  tatsächlich ein Unter‐schied, ob gegen die räumliche Ausprägung von sozia‐ler Ungleichheit  vorgegangen werden  soll oder eben gegen soziale Ungleichheit selbst. Und wenn es beim Leitbild  der  „Sozialen Mischung“ wirklich  nur  darum geht,  die  „Zusammensetzung  der  Gesellschaft  abzu‐bilden“  und  dieses  Leitbild  gleichzeitig  als  letztlich relevantes Ziel gesetzt wird, dann bedeutet das, dass die  zunehmende  sozioökonomische Polarisierung auf ordentliche Weise verortet, aber nicht mehr bekämpft werden  soll. Der  räumliche Aspekt  scheint damit,  so lässt sich dieser Ansatz zuspitzen, Oberhand über den sozio‐ökonomischen Ansatz  gewonnen und  letzteren von der Agenda vertrieben zu haben. 

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2) Der Stand der Forschung 

Insgesamt  wird  in  der  aktuellen  städtebauli‐chen Debatte  jedenfalls wieder stark auf das Leitbild der  „Sozialen  Mischung“  abgestellt  (vgl.  Harlan‐der/Kuhn 2012a; Bundesamt für Raumentwicklung et al.  2011;  zur  europäischen  Ebene  Harlander/Kuhn 2012b) und dabei das Ziel einer „aktiven, steuernden Politik sozialer Durchmischung“ (Harlander 2012a, 89) in den Vordergrund  gerückt. Dabei werden  zwar die grundsätzlichen Kritiken am Mischungsziel zur Kennt‐nis  genommen  und  teilweise  sogar  bestätigt;  aller‐dings wird daraus nicht die Konsequenz gezogen, auf das  Leitbild  zu  verzichten. Das  Bild  einer  „nutzungs‐ und  funktionsgemischten,  kompakten  europäischen Stadt“ wird weiterhin als ein „wichtiger und konsens‐fähiger Handlungsrahmen“  gesetzt; weiter wird  pos‐tuliert,  die  „Soziale Mischung“  stehe  auch  heute  für „eine gewachsene Urbanität, für gemeinsam empfun‐dene  Identität,  für  anregende  kulturelle  Vielfalt,  für spontane öffentliche Begegnungen und für eine stabi‐le soziale Kohäsion“ (Krämer/Kurz 2012, 8). In solchen Beiträgen  wird  also  am  Leitbild  festgehalten,  auch wenn  seine  Komplexität und Widersprüchlichkeit  Er‐wähnung findet. Das Problem, so die durchgängige Ar‐gumentation,  läge aber eben nicht am Leitbild selbst, sondern daran, wie unvollständig und fragmentarisch die Handlungsstrategien  in  ihrer  „konkreten  Ausfüh‐rung“ geblieben wären (ebd. 10).  

Genau  in dieser Argumentationsweise spiegelt sich jedoch nochmals die Problematik der Suche nach der  „adäquaten  Sozialen  Mischung“  (Krämer/Kurz 2012,  11),  die  das  Leitbild  seit  jeher  (re)produziert. Was dabei nämlich nicht geleistet wird,  ist, das  Leit‐bild mitsamt  seiner diskursiven und materiellen Aus‐wirkungen selbst zu hinterfragen.  Immer wieder wird die  These  vertreten,  dass  das  Ziel  der  Sozialen Mi‐schung nur halbherzig durchgeführt worden und des‐halb gescheitert sei (Krämer/Kurz 2012, 9). Dass dem Leitbild der „Sozialen Mischung“ selbst eine paterna‐listische  und  dirgistische  Wirkung  zu  eigen  ist,  die letztlich eine sozialen Polarisierung eher befördert als verhindert, wird  in  letzter Konsequenz nicht erkannt. Die  auffällige  Diskrepanz  zwischen  der  reflektierten Analyse  und dem  Festhalten  an  der  Forderung  nach einer „aktiven Mischungspolitik“  lässt sich vermutlich nur dadurch erklären, dass – ähnlich wie beim  im Ka‐pitel  1  herausgearbeiteten  Fall  der  „Nutzungs‐  und Funktionsmischung“ –  in der  städtebaulich/stadtpoli‐tisch gedachten  „Sozialen Mischung“ der Trennungs‐ansatz historisch fest verankert ist.  

• Ethnische Mischung 

Auch  zur Frage der  „ethnischen Mischung“ wurde  in den  letzten  Jahren  eine  umfangreiche  Auseinander‐

setzung geführt – sowohl in den populären Medien als auch in diversen Fachdebatten. Die Verknüpfung zum gerade skizzierten Diskurs über den Begriff der Segre‐gation  ist  dabei  offensichtlich,  die  Bereiche  soziale und  ethnische Mischung  sind  kaum  voneinander  zu trennen.  In  den  programmatisch  angelegten  Diskur‐sen chargiert die Debatte dabei zwischen zwei Polen: Auf der positiven Seite findet sich das geläufige Urba‐nitätsbild  einer  multikulturellen  und  „ausgewogen“ ethnischen  Bevölkerungsmischung,  am  Negativende der Skala das Schreckensbild des ethnisch homogenen „Ghettos“,  das  insbesondere  durch  die  Revolten  in den  französischen und englischen Vorstädten an dis‐kursiver Aktualität  gewonnen hat. Die  ethnische Mi‐schung  ist dabei auf den ersten Blick ebenso wie die Soziale Mischung  nicht  im  direkten Handlungszugriff von  städtebaulich  planerischen  Ansätzen.  Stadtent‐wicklungspolitisch hat die Frage nach der ethnischen Mischung  jedoch  eine  erhebliche  und  aktuelle  Rele‐vanz, und auch die Frage der Steuerung – und damit das Kernelement städtebaulicher Planung – kann hier in besonderem Maße expliziert werden. 

Grundlage des Ideals der ethnischen Mischung ist  wiederum  der  räumliche  Ansatz  der  Chicago School.  Louis Wirths  Text Urbanism  as  a way  of  life (vgl.  Kapitel  1)  ist  der  Ausgangspunkt  für  die  unter dem Begriff  `Kontakthypothese´ versammelte Diskus‐sion  in der Soziologie, die  in den 1950er und 1960er Jahren  vor  allem  in  den  USA  bezüglich  der  sozialen und sozialräumlichen Distanzierung zwischen Weißen und Afroamerikanern  geführt wurde  (vgl. Dangschat 1998, 45f.). Kern dieser These  ist die Annahme, dass ein häufiger Kontakt mit  „Fremden“ dazu  führe,  sich besser  zu  verstehen, und  dass Menschen mit  unter‐schiedlichem  kulturellem Hintergrund die  gegenseiti‐gen Vorurteile dann am  schnellsten abbauten, wenn sie einen  intensiven  (positiven) sozialen Kontakt mit‐einander hätten  (Dangschat/Hamedinger 2007, 227). Wirth  behaupte,  so  formuliert  es  Hartmut  Häußer‐mann,  Großstädte  seien  „Brutstätten  von  Toleranz und  Zivilisation“ und Wirths Ansicht  sei, dass die  In‐tegration von heterogenen Kulturen und Lebensstilen am besten  in den Städten gelingen könne. Wirth ver‐trete die Auffassung „der  `Stadtmensch´ zeichne sich – weil er  in der Großstadt  lebt! – durch eine `kosmo‐politische  Haltung´  aus“,  und  für  diese  These  seien ihm  „Generationen  von  Stadtplanern  und  Stadtlieb‐habern“ dankbar gewesen, weil sich damit ein direk‐ter  Zusammenhang  zwischen  des  »zweifellos  unge‐mütlichen Wohn‐ und Lebensbedingungen« der Groß‐städte  am  Anfang  des  20.  Jahrhunderts  und  einer „superioren,  zivilisierten  Geisteshaltung“  herstellen ließ (Häußermann 1994, 3).  

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Die Gültigkeit  der  Kontakthypothese  ist  über‐aus umstritten.  In Abhängigkeit  zu unterschiedlichen Kontexten (Statusunterschiede, Art und Intensität der Kontakte,  unterschiedliche  Anlässe  der  Kontakte, individuelle und  institutionelle Kontakte etc.) wurden zahlreiche Studien durchgeführt, mit denen bewiesen werden sollte, dass wenn man „die Fremden“ kennen‐lerne,  sich  die  Verhaltensunsicherheiten  verringern und  sich  Vertrauen  entwickeln  würde  (Dangschat 1998, 81). Die entsprechenden Untersuchungen  sind stark  abhängig  von  den  normativen Wertungen  der Wissenschaftler_innen, die häufig etwas Positives aus den  tatsächlichen  Integrationsbedingungen herausle‐sen möchten. Der Kontakt zwischen unterschiedlichen ethnischen  Gruppen  führt  zwar  zu  veränderten  Ein‐stellungen und Verhaltensweisen, Ausmaß und Rich‐tung der Änderungen bleiben aber weitgehend unklar (ebd. 45). Die Kontakthypothese  lässt  sich daher nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen verifizieren, bei „günstigen“ Kontexten, etwa bei ähnlichem sozia‐lem Status, bei normativer Unterstützung von außen und oder bei einem relativ hohen Status der Minder‐heitengruppe.  Allgemein  funktioniert  die  Hypothese bei der bildungsbürgerlichen Mittelschicht besser als bei  sozial  benachteiligten  Gruppen.  Bei  schwer  zu ertragender Nähe zu „Anderen“ schlägt die soziale Be‐ziehung leicht in einen Konflikt um (Dangschat/Hame‐dinger  2007,  227). Dieses  Fazit  gilt  nicht nur  für  die USA,  auch  für  die  hiesige  Situation  bleibt  unklar,  in welchem Maße Bewohner_innen Mischung tolerieren und ob sie tatsächlich von einem heterogenen Umfeld profitieren  (Münch  2010,  442).  Häufigere  Kontakte ändern Einstellungen zudem nicht unbedingt in die in‐tendierte Richtung;  je ungünstiger die Rahmenbedin‐gungen  sind, desto  eher wirkt  sich der Kontakt  kon‐traproduktiv  aus  (Dangschat  1998,  82).  Unsicherhei‐ten  über  die  eigene  soziale  Position,  Abstiegsängste und  ‐erfahrungen,  Konkurrenzen  um  knappe  Güter und  häufige,  eher  unfreiwillige  Kontakte  führten  zu negativeren  Vorurteilen,  stärkerer  Ablehnung  und häufigerer Aggressivität gegenüber „Fremden“ (Dang‐schat/Hamedinger 2007, 227).  

Die  in  der  städtebaulichen Debatte  bis  heute meist  unhinterfragte  Kontakthypothese,  die  dem extensiven  Gebrauch  der  Leitbilder  Urbanität  und gemischte Stadt stets zumindest latent zugrunde liegt, wird  von  soziologischer  Warte  also  nicht  bestätigt. Der  in vielen Städten verfolgte „Imperativ der Begeg‐nung“, mit dem eine vermeintlich verloren gegangene Urbanität  wiederhergestellt  werden  soll,  ignoriert damit die wenig zustimmenden Ergebnisse der sozio‐logischen  Forschung  genauso wie  die  städtische  All‐tagswirklichkeit (vgl. Blockland/Rae 2008, 24).  

In Folge der Zweifel an der Kontakthypothese hat  sich  seit  den  1970er  Jahren  in  der  sozialwissen‐schaftlichen  Forschung  die Unterscheidung  zwischen freiwilliger  und  erzwungener  Segregation  etabliert (vgl. Gans 1982). Hingewiesen wird dabei  zum einen auf die gewollte Absonderung der Mittel‐ und Ober‐schichten in den „guten Gegenden“, die die Kehrseite der  räumlichen  Polarisierung  in  den  Städten  bildet und bei der Analyse oftmals unberücksichtigt bleibt; zudem scheint hinsichtlich dieses freiwilligen Segrega‐tionsprozesses  eine  planerische  Steuerungsmöglich‐keit  kaum  vorhanden  zu  sein  (Häußermann/Siebel 1990, 29). Zum anderen gerät aber auch die freiwillige ethnische  Segregation  in  das  Blickfeld:  Migranten ziehen ganz gezielt in Quartiere, in denen sie auf vor‐handene  Netzwerke  zurückgreifen  können,  und  sol‐che Quartiere zeichnen sich gerade durch eine ethni‐sche Konzentration aus, und nicht durch die von der Stadtentwicklungspolitik  gewünschte  „ausgewogene Mischung“. Daher besteht heute  keine Einigkeit dar‐über, ob ethnische Segregation als Problem zu begrei‐fen  ist  oder  nicht,  und  die wissenschaftliche  Bewer‐tung der Folgen von Segregation  im Allgemeinen und von ethnischer Segregation in Besonderen fällt ausge‐sprochen ambivalent aus (Münch 2010, 49).  

Genau  an  diesem  Punkt  lässt  sich  auch  die grundsätzliche Problematik der gesteuerten Mischung zeigen, die sämtlichen Ansätzen des Leitbildes von der gemischten  Stadt  immanent  ist.  Die  Versuche  eines „Social  Engineering“,  also  einer  Beeinflussung  der Zusammensetzung  der  Quartiersbevölkerung,  haben eine  lange  Tradition  (vgl.  Roskamm  2011).  In  dieser Tradition stehen auch die Bemühungen, eine  `ausge‐wogene´  und  `sozial  stabile´  Zusammensetzung  von einheimischer  und  zugewanderter  Bevölkerung  her‐zustellen  (Münch  2010,  295).  Besonders  in  den 1970er Jahren wurde die sozialräumliche Organisation der Siedlungsweise angesichts der Zuwanderung von Angehörigen  anderer  Kulturen  neu  problematisiert und gefragt, wie  segregiert oder  gemischt die multi‐kulturelle  Stadt  eigentlich  sein  solle  (Häußermann/ Siebel 1990, 29). Auf der stadtentwicklungspolitischen Ebene wurden  die  Alternativen  `sozialräumliche Mi‐schung´ und `Segregation´ gegenübergestellt und sich insbesondere  im  Rahmen  der Wohnungspolitik  stets zugunsten  der  Mischung  entschieden  (ebd.).  Diese Entscheidung  führte  zu  umfangreichen  Steuerungs‐versuchen.  In  einer  Bund‐Ländervereinbarung  von 1975 wurden die Städte und Landkreise dazu ermäch‐tigt,  solche Bereiche als  „überlastete Siedlungsgebie‐te“  zu  klassifizieren, deren Ausländeranteil mit 12 % doppelt so hoch  lag wie der Bundesdurchschnitt. Auf Grundlage von § 7 Abs. 3 Ausländergesetz wurde den Einwander_innen  ein  Sperrvermerk  in  die  Aufent‐

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2) Der Stand der Forschung 

haltserlaubnis oder die Arbeitsgenehmigung  gestem‐pelt, der eine polizeiliche Anmeldung in den „Überlas‐teten Siedlungsgebieten“ untersagte.  Im  Januar 1977 hatten 55 deutsche Städte dementsprechende Rege‐lungen.  Diese  flächendeckenden  Zuzugsperren  wur‐den  im  April  1977  wieder  aufgehoben  (und  zwar nicht,  weil  sie  als  diskriminierend  erkannt  wurden, sondern  aus  Gründen  der  fehlenden  Effizienz).  In Berlin wurde  die  ethnische Mischung  durch  Zuzugs‐sperre  dagegen  über  15  Jahre  lang  praktiziert  (von 1975‐1990, vgl. Fallbeispiele).  

Das  Ziel,  die  Zusammensetzung  einer  ethni‐schen Mischung zu steuern, wird in Deutschland auch heute und  insbesondere von den großen Wohnungs‐unternehmen  verfolgt  (Münch  2000,  396).  Bemer‐kenswert  ist  dabei  die  Ausnahmeregelung  für  Kom‐munen  und Wohnungsanbieter  im  2006  verabschie‐deten  Allgemeinen  Gleichbehandlungsgesetz  AGG (umgangssprachlich  auch  Antidiskriminierungsgesetz genannt).  Dieses  Gesetz,  mit  dem  vier  Europäische Richtlinien  aus  den  Jahren  2000  bis  2004 umgesetzt wurden,  soll  Benachteiligungen  aus  Gründen  der „Rasse“,  der  ethnischen  Herkunft,  des  Geschlechts, der  Religion  oder  Weltanschauung,  einer  Behinde‐rung,  des Alters oder der  sexuellen  Identität  verhin‐dern und beseitigen.  In § 19 Abs. 3 AGG wird  jedoch geregelt,  dass  bei  der  Vermietung  von  Wohnraum eine unterschiedliche Behandlung „im Hinblick auf die Schaffung  und  Erhaltung  sozial  stabiler  Bewohner‐strukturen  und  ausgewogener  Siedlungsstrukturen sowie  ausgeglichener  wirtschaftlicher,  sozialer  und kultureller  Verhältnisse“  zulässig  ist.  In  der  Begrün‐dung des Gesetzes wird ausgeführt, dass diese Rege‐lung  dem  Anliegen  der  Wohnungswirtschaft  Rech‐nung  trage, bei der Vermietung  von Wohnraum den bewährten  Grundsätzen  einer  sozialen  Stadt‐  und Wohnungspolitik  zu  entsprechen.  Die  „europäische Stadt“  setze  auf  Integration  und  schaffe  damit  die Voraussetzungen  für  ein  Zusammenleben  der  Kultu‐ren ohne wechselseitige Ausgrenzung.  Je  stärker der soziale  Zusammenhalt  sei,  desto weniger  komme  es zu Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft (Deutscher Bundestag 2006, 42).  

Wie berichtet, lässt sich diese Begründung von sozialwissenschaftlicher  Seite  aus  jedoch  keineswegs bestätigen;  ob  Integration  durch Mischungsversuche erleichtert  wird,  ist  eine  weitgehend  unbewiesene Behauptung und es finden sich in der Forschung keine Hinweise,  dass  „eine  erzwungene  residentielle  Mi‐schung  ein  angemessener Weg  zu  sozialer  Integrati‐on“ darstellt  (Münch 2010, 388).  Insgesamt betrach‐tet ist die Sonderbehandlung der Wohnungswirtschaft im AGG  einem  „paternalistischen Verständnis“  zuzu‐schreiben,  bei  dem  es  darum  geht,  die  Zuwanderer 

gewissermaßen vor  ihren eigenen Entscheidungen zu schützen und  ihnen damit die  Integration zu ermögli‐chen  (ebd.  326).  Auf  den  Punkt  gebracht  wird  die Kritik  an  der  gängigen  Mischungspraxis  der  Woh‐nungswirtschaft  im  Familienbericht der Bundesregie‐rung.  Mit  dem  „vermeintlich  vorbeugenden  Modell der  prozentualen  Zielmischung“  werde  der  Wider‐spruch  zu  einer  menschenwürdigen  Integration  nur verieft,  da  dabei  Ausländer_innen  „wie  Schadstoffe behandelt“ würden, für die „Obergrenzen festzulegen sind“  (Deutscher  Bundestag  2000,  164).  Die  EU‐Kommission eröffnete im Oktober 2007 – unter ande‐rem  aufgrund  der  Sonderbehandlungsklausel  für  die Wohnungswirtschaft  –  gegen  Deutschland  ein  Ver‐tragsverletzungsverfahren (Münch 2010, 328). 

Auf  der  allgemeinen  Betrachtungsebene  zeigt die hier referierte Kritik die Schwierigkeiten, die allen Bemühungen  zu  Eigen  sind,  bei  denen  eine  soziale oder ethnische Mischung hergestellt werden soll. Zum einen  ist bereits die Frage nach der `richtigen´ Bevöl‐kerungsmischung problematisch, und auch die darauf üblicherweise  gegebenen Antworten,  die mehr  oder weniger  offen  von  der  normativen  Vorstellung  der Gleichverteilung  sozialer Gruppen  in einer Stadt aus‐gehen, ohne dabei  zu  fragen, welche  soziale Gruppe das eigentlich wirklich möchte (Dangschat 2000, 209). Das Leitbild der ethnisch gemischten Stadt basiert auf einer  „vagen Storyline  zu  Integration und Kohäsion“, die  auf  „Common  Sense  und  nicht  auf  empirischer Forschung“ beruht (Münch 2010, 399).  

Obwohl  das  Konzept  der  sozialen  und  ethni‐schen Mischung bereits  seit  langem  in Frage gestellt wird – sowohl was die Herstellbarkeit der residentiel‐len Mischung  als  auch, was  die Wirkung  dieser Mi‐schung betrifft  –, hält  sich der  Topos hartnäckig  auf der  stadtentwicklungspolitischen Agenda. Dabei wird einerseits die zunehmende gesellschaftliche Ausdiffe‐renzierung  bei  der Aufnahme‐  und Migrationsgesell‐schaft negiert  (Dangschat 2000, 209). Andererseits – und das ist noch entscheidender – wird die vage Ana‐lyse  zum  Leitbild  gewendet  und  zur  Grundlage  von restriktiven  Steuerungsmaßnahmen  gemacht.  Diese Leitbildwerdung  selbst, bei der  ein Bevölkerungsmo‐dell  von  der  analytischen  auf  die  programmatische Ebene gehievt wird, ist der eigentliche kritische Punkt eines solchen Vorgehens. 

In  der  bereits  erwähnten  Studie  der Wüsten‐rotstiftung wird festgestellt, dass in der Programmatik und Praxis  von Kommunen und Wohnungswirtschaft nach wie vor das `Mischungsideal´ dominiert (Harlan‐der/  Kuhn  2012c,  386).  Kommunen  und Wohnungs‐wirtschaft fühlten sich „ganz überwiegend einer  inte‐grativen Politik sozialer Mischung verpflichtet“. Insge‐samt  sei  der  Umgang  der  Wohnungswirtschaft  mit 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Mischungsfragen durch „ein hohes Maß an `feinfühli‐gen´  und  ganz  auf  die  spezifische  lokale  Situation abgestimmten  Pragmatismus  gekennzeichnet“  (ebd. 391).  Auf  Quartiersebene  die  „richtige  Balance  zwi‐schen einem  `Zuwenig´ und einem  `Zuviel´ an öffent‐lich  gefördertem  Wohnraum“  zu  finden,  gehöre  zu den „schwierigsten Herausforderungen gegenwärtiger kommunaler Mischungspolitiken“ (ebd. 398). Fraglich sei  lediglich,  ob  die Wohnungswirtschaft  auch  über die  geeigneten  Instrumente  verfügte,  die  richtige Soziale  Mischung  durchzusetzen.  Notwendig  sei  in jedem  Falle eine  „aktive,  ja offensive Mischungspoli‐tik“ (ebd. 401).  

Diese  Argumentationsweise  ist wiederum symptomatisch  für das  gesamte Mischungsthema  im Rahmen  der  städtebaulichen  Debatte.  Auch  in  der Wüstenrot‐Studie wird  zwar die grundsätzliche Kritik der  Sozialwissenschaftler_innen  ausführlich  referiert, aber  am  Ende  doch  –  beinahe  trotzig  –  am  Mi‐schungsziel festgehalten und nur noch die Frage nach den  Instrumenten und nach der  „richtigen Körnung“ gestellt. Gleich einem Mantra wird die These wieder‐holt,  „Soziale Mischung  fördere  Kontakt  und  dieser baue Vorurteile ab“ (ebd. 391), auch wenn kurz davor davon berichtet worden ist, dass die Segregationsfor‐schung diese These nicht bestätigen kann.  

Symptomatisch ist auch der Bericht von einem Fallbeispiel, bei dem durch „falsche Belegungspolitik“ ein „Problem‐Mikrokosmos“ aus „kinderreichen Fami‐lien mit geringen Einkommen, Flüchtlingsfamilien und Asylbewerbern“  entstanden  sei,  der  durch  „hohen Vandalismus, Vernachlässigung  der  Freibereiche  und den  schlechten  Zustand  der  nicht  renovierten Woh‐nungen“  charakterisiert  gewesen  wäre;  Abhilfe  ge‐schaffen hätte dann die Herstellung der richtigen Mi‐schung  (ebd. 401). Erwähnung  findet auch die Studie Überforderte  Nachbarschaften  vom  Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen  GdW  (1998),  die in  der  aktuellen Wüstenrot‐Studie  als  „Plädoyer  für Soziale Mischung“ bezeichnet wird (Harlander 2012d, 306).  In der Gdw‐Untersuchung wird eindringlich von „Sozialghettos  der  Zukunft“  gewarnt,  in  denen  eine Konstellation entstehe, die als  „als  Leere, Ereignisar‐mut,  Abgeschnittenheit  und  Initiativlosigkeit“  zu  be‐schreiben sei  (GdW 1998, 105). Gefordert wird unter anderem,  dass  „leistungsbereite  und  gut  integrierte Familien“  (ebd. 24)  in den Großsiedlungen  zu halten seien um die „überforderten Nachbarschaften“ zu er‐tüchtigen.  

Mit solchem Vokabular, das sich kaum von den Ausdrücken wie „überlastete Gebieten“, „Ballung/Ent‐ballung“,  „Ghettosierungstendenzen“  und  „erheb‐lichen  Ausländerbesatz“  unterscheiden,  die  in  den 1970er  Jahren  als  Begründung  für  die Westberliner 

Zuzugssperre verwendet wurden (vgl. Fallbeispiel 1 im Anhang),  werden  nicht  nur  die  immer  problemati‐schen Zuschreibungen von sozialen Eigenschaften  für räumliche Gebilde  in Reinkultur exerziert, sondern es wird  auch  eine  eindeutige  Problemzuweisung  vorge‐nommen. Diagnosen wie: „die Einheimischen werden zu Fremden  im eigenen Land“  (GdW 1998, 33) gehö‐ren zu einer Semantik, die sonst nur von rechtspopu‐listischen Gruppierungen  verwendet wird.  In  diesem „Meilenstein  der  Debatte“  (Harlander  2012d,  306) über  die  Soziale  Mischung  (der  in  der  Wüstenrot‐Studie  ausschließlich  affirmativ  referiert  wird)  zeigt sich eine tiefliegende Schicht, auf der zumindest Teile der  planerischen  Mischungsdebatte  aufgebaut  sind. Hier  wird  es  zudem  überdeutlich,  dass  ganz  funda‐mentale Dinge  in der Mischungsdebatte nicht geklärt sind,  dass  weiterhin  „vulgär‐materialistische“  Argu‐mentationsweisen“  (Benno  Werlen)  nachgehangen wird und dass viele der Geschichten, die den städte‐baulichen Diskurs bestimmen, auf einem höchst prob‐lematischen begrifflichen Niveau stattfinden.  

Eine  ganz  andere  Richtung wird  im  aktuellen sozialwissenschaftlichen  und  migrationspolitischen Kontext  vorgeschlagen.  So wird  etwa  im  Projekt  Zu‐wanderer in der Stadt mit der These „Integration trotz Segregation“  seit  einigen  Jahren  für  einen  Paradig‐menwechsel  geworben,  bei  dem  auf  die  positiven Funktionen  von ethnischer Konzentration  als  Schutz‐ und Übergangsraum hingewiesen wird. Unterstrichen wird dabei, dass es die oberste Maxime einer solchen städtischen  Integrationspolitik sein muss, dass Segre‐gation  nur  freiwillig  und  nicht  gezwungenermaßen durch Diskriminierung, Wohnungspolitik oder Markt‐mechanismen  zustande  kommt.  Bezeichnenderweise wird eine  solche positive Diskussion von Segregation bei  vielen  Vertretern  der  Wohnungswirtschaft  und der  Stadtplanung  abgelehnt  (vgl. Münch  2010,  21). Auch  in anderen Initiativen sind  in neuerer Zeit alter‐native  Ansätze  entstanden,  mit  denen  eine  andere Form  von  Intervention  versucht  und  anstatt  auf Mischproportionen auf pluralistische  Integrationsmo‐delle  gesetzt werden  soll  – nicht  zuletzt  im Rahmen des Programms Soziale Stadt. Ziel von solchen plura‐listischen  Integrationsmodellen  ist  es,  unterschiedli‐che  Migrantengruppen  und  verschiedene  deutsche Haushaltsformen ohne mengenmäßige Quotierung  in einer  vielfältigen Nachbarschaft  zu  integrieren, ohne dass einzelne Bewohnergruppen ihre Eigenständigkei‐ten  aufgeben  müssen  (Deutscher  Bundestag  2000, 164).  Die  Pflege  der  Herkunftskultur  wird  dabei  als wichtiger  Beitrag  verstanden.  In  dieser  Sichtweise werden Migrant_innen nicht  in der allgemeinen Pro‐portion zu einheimischen Deutschen wahrgenommen, sondern als bunte Mischung verschiedener Nationen 

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2) Der Stand der Forschung 

und Ethnien mit einer eigenständigen  Identität. Das‐selbe  gilt  aber  auch  für  unterschiedliche  Lebensstile deutscher Haushalte,  seien  es  nichteheliche  Lebens‐gemeinschaften,  Alleinerziehende,  Wohngemein‐schaften  oder  junge  bzw.  alte  Einpersonenhaushalte und  Familienhaushalte.  Unter  einem  pluralistischen Blickwinkel bedeutet  Integration vor allem eine hohe Akzeptanz  gegenüber  Nachbarn  unterschiedlicher Herkunft und Lebensstile  (ebd.).  Insgesamt setzt sich dabei mehr  und mehr  die  Forderung  durch,  die  Bil‐dung von ethnisch segregierten Gebieten  in verschie‐denen Teilen der Stadt  zu akzeptieren. Die Anerken‐nung der multikulturellen Realität  ist aus dieser Sicht das oberste Gebot urbaner Kultur (Häußermann/Läp‐ple/Siebel 2008, 373). Die Quartiere,  in denen die  In‐tegrationsarbeit für die gesamte Stadtregion geleistet wird,  sollten  jedoch  durch  besondere  Maßnahmen der  sozialverträglichen  Stadterneuerung,  durch  eine besonders  intensive  Infrastrukturausstattung und be‐sonders  gute  verkehrliche  Anbindung  `belohnt  wer‐den´ (Dangschat 2000, 220).  

• Neue Urbane Mischung 

In  diesem  letzten  Kapitel  zum  Stand  der  Forschung wird auf die aktuellen Diskurse  zur „Renaissance der Städte“ und zur „kreativen Stadt“ fokussiert, in denen das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ an exponier‐ter  Stelle  vertreten  ist.  Die Metaerzählung  von  der Renaissance  der  Stadt  und  von  den  Creative  Cities (Jessop 2004, 154) basiert dabei auf einem Import aus Großbritannien, mit dem eine marktförmige Variante von  Stadtkultur  propagiert  wird,  die  sich  von  der fortwährenden Vermischung der Kulturen  eine  (öko‐nomische)  Bereicherung  des  Stadtlebens  verspricht. Der Kreativität kommt in dieser auf neoliberale Tradi‐tionen  rekurrierenden  These  als  wesentlicher  Be‐standteil  der  Wissensökonomie  zentrale  Bedeutung zu. Die urbane Kultur wird als dynamische Kraft eines neuen  kreativen  Kapitalismus  konzeptualisiert  und das Bild  von  eigenständig handelnden  Stadtregionen entworfen,  die  im  globalen Maßstab  um  Unterneh‐mensansiedlungen, Kapitalinvestitionen und Prosperi‐tätseffekte konkurrieren (Ronneberger 2011, 38). Die verstärkte  Durchdringung  von  Kultur  und Ökonomie wird  dabei  als  wesentliche  Voraussetzung  für  die Prosperität  der  Städte  gesehen  und  das  städtische Leben als ökonomische Ressource, die es zu erschlie‐ßen und marktförmig zu verwerten gilt (Ronneberger 2011, 40). Eine weitere These der Urban Renaissance ist es, dass die Kulturalisierung der Stadtentwicklung zu  einer  verstärkten  sozialen  Kohäsion  in der  städti‐schen Gesellschaft beitrage (Landry 2009, 7‐11).  

Ausgebaut  und  popularisiert  wurde  das  Kon‐zept  der  Creative  Cities  insbesondere  von  Richard Florida  in seiner Schrift The Rise of the Creative Class (2004).  Floridas These  ist es, dass die Kreativen  ten‐denziell  zur  herrschenden  Klasse  der  Gesellschaft geworden  seien  und  dass  in  der  Bereitstellung  von Rahmenbedingungen,  die  sich  an  den  Konsum‐  und Freizeitpraktiken der kreativen Klasse orientieren, die vorrangige Aufgabe der Stadtpolitik  liege. Die  Indika‐toren Technology, Talent and Tolerance (Florida 2004, 249) werden dabei zu den Gradmessern, die die Mo‐dernität einer Stadt bestimmen können und die Kultur zum  ökonomischen  Motor,  der  mit  der  Kraftstoff Diversität angetrieben wird; propagiert wird dabei die multikulturelle,  europäische  Kompaktstadt,  die  über ein  produktives  Patchwork  von  Kreativ‐Clustern  ver‐fügt  (Ronneberger  2011,  42).  Der  überaus  großen Wirkung der These von den Creative Cities, die auch in Deutschland in vielen Fällen zu einer „Floridarisierung der  Stadtpolitik“  (Holm  2010,  43)  geführt  hat,  steht auf  der  sozialwissenschaftlichen  Seite  jedoch  eine beträchtliche  Skepsis  hinsichtlich  ihrer  Geltung  und Überprüfbarkeit gegenüber. 

In  Beiträgen  der  städtebaulichen  Debatte  zur Renaissance der Stadt wird ausgeführt, dass der „heu‐te oft deklarierter Zielbegriff“ der Nutzungsmischung eine „verbindende Erfolgsformel für zwei strategische Richtungen“ geworden sei, nämlich für die „Urbanität und  die  Nachhaltigkeit  der  kompakten  Stadt“  (Bret‐schneider  2007,  13). Nachhaltigkeit  könne  vor  allem durch  Dichte,  Nutzungsmischung  sowie  Soziale  Mi‐schung  erreicht  werden  (ebd.  5).  Die Mischung  der Stadtfunktionen bilde ein „natürliches Stadtgewebe“, das  immer die wichtigste Eigenschaft der  lebendigen Stadt  gewesen  und  für  die  „Wiedergewinnung  der Diversität“  als  Stadtentwicklungsziel  und  Stadtum‐baumodell  dringend  notwendig  sei  (ebd.  19).  Das Leitbild  der  europäischen  Stadt wird  hier  besonders betont und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass „die Stadterweiterungsgebiete  der  monofunktionalen Siedlungsräume“ die  „Urbanität der  innerstädtischen Gebiete“ nie wirklich erreicht hätten (ebd. 23). Weiter wird  verlautbart,  dass  Nutzungs‐  und  Funktionsmi‐schung eine wesentliche Voraussetzung für die `krea‐tiven  Milieus´  einer  wissensbasierten  Stadtgesell‐schaft seien (Frey 2009, 77) respektive ganz allgemein „Vorraussetzungen  für  Urbanität“  (ebd.  79).  In  be‐merkenswerter  Neuinterpretation  der  historischen Abläufe wird erklärt, dass die Kreuzberger Mischung als  Modell  des  19.  Jahrhunderts  der  funktionalen Entmischung der Moderne entgegengesetzt gewesen sei und gleichzeitig das  „Modell der Kreuzberger Mi‐schung als Erbe der aktuellen  Leitbilder Nutzungsmi‐schung und Urbanität“ interpretiert (ebd.).  

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

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Solche Verlautbarungen knüpfen zum einen an die  Studien  zur Nutzungsmischung  im  Städtebau aus den 1990er  Jahre an  (siehe oben),  indem  sie auf die Hinterfragung  ihres  Forschungsgegenstandes weitge‐hend  verzichten.  Zum  anderen  wird  jedoch  auf  der anwendungsbezogenen Ebene das damalige Analyse‐niveau kaum mehr erreicht und die Programmatik mit lediglich  affirmativen  und  deskriptiven  Beschreibun‐gen von städtebaulichen Projekten ergänzt.  

In  der  deutschsprachigen  Stadtsoziologie  ist schließlich  eine  deutlich  differenziertere Version  der neuen Urbanen Mischung  zu  finden. Dabei wird  for‐muliert, dass  sich die Erzählung von der Renaissance der  Stadt  besser  anhöre,  als  sie  „in  vielen  Städten tatsächlich  ist“  (Häußermann/Läpple/Siebel  2008, 372). Die Rückkehr  in die Städte, so  lautet der sozial‐wissenschaftliche  Erklärungsansatz,  sei  vor  allem durch Veränderungen der vorherrschenden Produkti‐onsweise bedingt. Der Auszug aus der Stadt ins Eigen‐heim  seit  den  1970er  Jahren  habe  stabile  ökonomi‐sche Verhältnisse vorausgesetzt, die es dem Haushalt erlaubten, das nötige Kapital aufzubringen, eine Fami‐lie zu gründen und sich mehr oder weniger auf Dauer an  einem  Ort  niederzulassen.  Diese  Bedingungen würden heute für eine wachsende Zahl von Berufstä‐tigen  (auch  für hoch qualifizierte Arbeitskräfte) nicht mehr  gelten.  Berufsbiographien,  die weder  kontinu‐ierliche  Einkommen  noch  räumliche  und  berufliche Stabilität  garantierten, würden  zunehmend  zur Nor‐malität. Das verlange lebenslanges Lernen, dauerndes sich neu Orientieren,  ein möglichst weit  verzweigtes Netz  von  Kontakten,  hohe Mobilität  und  Zugang  zu ständig neuen  Informationen. Und diese Anforderun‐gen würden  sich weniger  im  voll  verkabelten  Eigen‐heim am Stadtrand realisieren lassen als mitten in der 

Großstadt  im gemieteten Appartement (Häußermann 2011,  33).  Zudem  gehe  der  Suburbanisierung  „sozu‐sagen  das  Personal  aus“,  da  den  Frauen  durch  ihre wachsende Berufstätigkeit  keine  Zeit mehr  für die  – aufgrund  der  großen  Entfernungen  besonders  zeit‐aufwendige  –  Haushaltsarbeit  und  Kinderbetreuung zu  Verfügung  stehe  (Häußermann/Läpple/Siebel 2008, 370).  In der neuen urbanen Arbeitsgesellschaft verflüssige  sich  insgesamt die  traditionelle  Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit  (ebd. 365). Funk‐tionsmischung,  vielfältige  Infrastruktur  und  kurze Distanzen  kämen  den  Anforderungen  der  Wissens‐ökonomie ebenso entgegen wie den Lebensstilen, die sie hervorbringt. Und vor diesem Hintergrund würden viele  die  Vorteile  der  Stadt  wiederentdecken  (ebd. 371).  

Die neue Urbane Mischung  scheint  insgesamt gesehen  also  beides  zu  sein:  Städtische  Alltagswirk‐lichkeit  und  Leitbild  eines  kulturalisierten  und  neoli‐beralen  Stadtdiskurses,  Ergebnis  von  veränderten Produktionsbedingungen  und  aufgewärmtes  Ziel  des städtebaulichen  Urbanitätsnostalgie.  Und  während das  explizite  Bemühen  der  städtebaulichen  Planung um  die  Herstellung  von  Nutzungsmischung  meist gescheitert  ist,  hat  sich  eine  viel  feinkörnigere  Mi‐schung  in  der  Stadt  großflächig  durchgesetzt.  Die Mischung  von Wohnen  und Arbeiten  ist  –  nicht  nur bei den urbanen Kreativen – oftmals  schon Normali‐tät,  die  alte  Trennung  von  Arbeitszeit  und  Freizeit (oder von Wohnen und Büro) ein Modell von vorges‐tern: Neben den meisten Betten steht heute ein Lab‐top,  Stadtplanung braucht es  für diese neue Urbane Mischung gar nicht,  sie  ist  längst  zur Realität gewor‐den.  

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Ein‐ und Ausblicke 

Ein‐ und Ausblicke 

Im dritten Teil dieser Studie wird diskutiert, was das Leitbild  der  „Urbanen Mischung“  zu  einer  IBA  2020 Berlin  beitragen  kann. Dazu wird  in  einem  vorberei‐tenden  Schritt  untersucht,  auf welche Weise  dieses Leitbild  in  den  bisherigen  Überlegungen  für  die  IBA 2020 verwendet worden  ist. Dazu werden zum einen das  Konzept  IBA  Berlin  Zwanzig  Zwanzig  (SenStadt 2011a)  und das  strategische Gutachten  Perspektiven einer  IBA 2020  (Bodenschatz/Polinna 2011) herange‐zogen  und  untersucht,  welche  Rolle  der  „Urbanen Mischung“  dort  zugeschrieben  wird.  Im  zweiten Schritt  wird  aufbauend  auf  der  bisherigen  Analyse diskutiert, welche Chancen und welche Fallstricke das Leitbild  von  der  „Urbanen  Mischung“  für  die  pro‐grammatische Ausgestaltung der  IBA mit  sich bringt. Schließlich  wird  im  abschließenden  Kapitel  ein  ge‐wandeltes Mischungsdenken  für die  IBA 2020 vorge‐schlagen. 

•  „Urbane Mischung“ beim PRAE‐IBA‐Konzept 

Im Konzept des PRAE‐IBA‐Teams spielen die gemisch‐te  Stadt  und  das  Leitbild  der  „Urbane  Mischung“ durchgehend eine große Rolle. Allerdings ist die Funk‐tion,  die  der  „Urbanen Mischung“  dabei  zukommen soll,  nicht  immer  einheitlich.  Unterschieden werden kann  in eine pluralistische und  in eine  traditionalisti‐sche Argumentationslinie. Mit der pluralistischen Ar‐gumentationslinie  werden  an  vielen  Stellen  die  Be‐deutung der „vielfältigen Stadt“ und insbesondere die Teilhabe  der  Stadtbewohner_innen  betont.  Gefragt wird, wo die  IBA ansetzen kann und  soll, um die  für eine  Neuausrichtung  der  Planung  erforderlichen  Zu‐gänge  zur Wirklichkeit  der  Stadt  aufzutun  (ebd.  29). Ziel  der  IBA  solle  es  sein,  Teilhabe  zu  ermöglichen statt  Partizipation  zu  organisieren  (ebd.  10).  Beson‐ders  mit  dem  Begriff  der  „Sofortstadt“  wird  diese Richtung  verfolgt.  Die  Sofortstadt  ist  eine  Strategie, die „Teilhabe nicht sucht, weil sie muss, sondern weil sie es will und kann“ (ebd. 38). Mit dem Konzept So‐fortstadt  soll  auf  einem  langjährigen  Berliner  Erfah‐rungsschatz  in den Bereichen  „Aneignung, Zwischen‐nutzung, urbane Pioniere und kulturelle Aktivierung“ aufgebaut  werden.  Viele  Berlinerinnen  und  Berliner hätten mit „unterschiedlichen Formen von Temporali‐tät und Unsicherheit“ die Stadtkultur bereits nachhal‐tig geprägt (ebd.). Eine moderne, pluralistische Stadt‐gesellschaft produziere ihre Stadt zunehmend selbst – und das gelte ganz besonders für Berlin (ebd. 8). Nötig für  das  Prinzip  Sofortstadt  seien  „besondere  Spiel‐räume  in  Zeit  und  Raum,  für  Experimente  und  Aus‐handelsprozesse“  (ebd.). Und genau dafür könne die 

IBA als großes  Labor den passenden Rahmen geben. Bemerkenswert  ist dabei auch die wiederholte Beto‐nung  der  Unsicherheit  und  der  Nicht‐Festlegung: „Niemand unter all diesen Beteiligten weiß von vorn‐herein, was richtig ist und wo genau das gemeinsame Lernen hinführt“ (ebd. 31). Gerade unbestimmte und flexible Orte  erlaubten  „eine  Aneignung  durch  noch unbestimmte Nutzer“ (ebd. 36). Entgegen dem Wort‐sinn  könne  Sofortstadt  auch bedeuten,  „Prozesse  zu ihrer Verbesserung zu entschleunigen, Reflexions‐ und Erprobungsschlaufen einzubauen, bevor es schließlich zu  einer  baulichen  Nutzungsverfestigung  kommt“ (ebd. 38).  Insgesamt sei die  IBA Berlin 2020 als  inno‐vatives  Labor  „ein  unverzichtbarer  Beitrag  zu  jener urbanen Vielfalt  im 21.  Jahrhundert, wie  sie  im  Leit‐bild  der  gemischten  Stadt  zum  Ausdruck  kommt“; eine  solche Urbanität  entstehe  „in  der Differenz,  im Konflikt und in der Mischung als Synergie unterschied‐lichster  Funktionen  und Mentalitäten  in  verschiede‐nen Räumen“ (ebd. 9).  

Auf der anderen Seite findet sich im PRAE‐IBA‐Konzept  auch  der  klassische  Ansatz  des  städtebauli‐chen  Leitbildes  von  der  „Urbanen Mischung“. Unter dem  Stichwort:  „Vielfältige Urbanität: Die  gemischte Stadt“ wird hier der „Weiterbau der monofunktiona‐len Quartiere aus dem 20.  Jahrhundert hin zu  leben‐digen Strukturen mit unterschiedlichsten Nutzern und Funktionen“ zu einer „großen Aufgabe in der Zukunft“ erklärt  (ebd. 10) und etwa der Gropiusstadt ein „Be‐darf an Urbanität“ attestiert (ebd. 60). Auch die sozial gemischte  Stadt  wird  als  ein  Ziel  der  IBA  genannt (ebd. 50), allerdings ohne genauer auszuführen, was darunter verstanden wird respektive auf welche Wei‐se diese Mischung erreicht werden soll. Mit Begriffen wie  „Stadtkapital“,  „ressourceneffizente  Stadt“  oder „zukunftsorientiert‐unternehmerische  Stadt“  (ebd. 13) wird gleichzeitig an zentraler Stelle auf ein neoli‐berales  Vokabular  zurückgegriffen  und  damit  auf Richard  Floridas  Creative‐City‐These  abgestellt,  nach der eine Ökonomisierung  von  Stadtkultur  zu  sozialer Kohäsion beitrage. Vor allem bei der Vorstellung der Suchräume der  IBA wird das  Leitbild der gemischten Stadt  dann  omnipräsent;  in  beinahe  sämtlichen  Bei‐spielen  besteht  das  projektierte  Ergebnis  der  IBA  in der Herstellung von „gut gemischten“, „neu gemisch‐ten“,  „gemischten  attraktiven“  Stadtquartieren  mit „urbaner Nutzungsmischung“ (ebd. 46‐63).  

Ingesamt betrachtet hat das PRAE‐IBA‐Konzept also  zwei  verschiedene  Gesichter:  zum  einen  den klassischen  Ansatz,  mit  dem  Mischung  als  planeri‐sches  Ziel  konstruiert  wird,  welches  es  herzustellen gilt; und zum anderen die – und das ist hier die These 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

– gegenläufige Konzeptualisierung, mit der Mischung als  Pluralität  übersetzt  und  als  vorhandener  Aus‐gangspunkt für einen offen gehaltenen Prozess veror‐tet  wird.  Angedeutet  wird  dabei  eine  Verschiebung des klassischen Ideals der Urbanität in Richtung einer stark  pluralistisch  argumentierenden  Auslegung,  die zugleich mit dem Begriff  „Konflikt“ eine oftmals ver‐nachlässigte  Dimension  des  Städtischen  ins  Spiel bringt  und  diese  sogar  als  konstituierendes  Element von Urbanität  verwendet. Damit wird  zumindest  im‐plizit Anschluss an das große Feld sozialwissenschaft‐licher  Forschung  gefunden,  in  dem  aktuell  Begriffe wie  Pluralismus,  Differenz,  Kontingenz  und  Konflikt bewegt werden (vgl. etwa Moebius/Reckwitz 2008, S. 7‐23). Die urbane Praxis als Wirklichkeit der Stadt wird bei dieser Auslegung in den Vordergrund gestellt und anstatt  einer  festlegenden  und  ordnenden  Planung von oben die Strategie einer offenen und prozesshaf‐ten Aneignung von unten das Wort geredet.  

•  Das „Strategische Gutachten“ 

Auch  in  der  zweiten  hier  betrachteten  Veröffentli‐chung Perspektiven einer IBA Berlin 2020. Ein strategi‐sches Gutachten  (Bodenschatz/Polinna 2011) hat die „Urbane Mischung“ einen zentralen Platz. In dem von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beauftrag‐ten Gutachten wird  zunächst ein historischer Zugang gewählt  und  auf  die  Nutzungsmischung  fokussiert. Dabei wird  berichtet,  dass  in  den  1970ern  die Neu‐entdeckung von städtebaulichen Qualitäten der über Jahrzehnte  verteufelten  „Mietskasernenstadt“  zu einer  Rehabilitierung  von Nutzungsmischung  geführt und  durch  das  Europäische Denkmalschutzjahr  1975 einen gewaltigen Schub erhalten habe (ebd. 14). Aus‐führlich wird die Rolle der Nutzungsmischung bei der IBA  1987  betrachtet.  Die  einseitige  Ausrichtung  auf Fördergelder  aus dem Bereich des unflexiblen  sozia‐len Wohnungsbaus habe hier  zu einer geringen Nut‐zungsvielfalt  der  Projekte  geführt  (ebd.  24).  In  den Erdgeschoßzonen  seien  kaum  Gewerbeflächen  reali‐siert worden, weil  für  Läden  in den Richtlinien keine Fördergelder vorgesehen waren und für sie im Gegen‐satz zu den Wohnflächen die volle Kostenmiete hätte verlangt  werden  müssen  (ebd.  58).  In  den  IBA‐Bereichen,  die  außerhalb  des  Sanierungsgebietes lagen, hätten trotz anderer Zielsetzungen und Vorga‐ben der Erhalt oder der Neuaufbau einer gemischten Nutzung  nur  in  Ausnahmefällen  realisiert  werden können. Ein weiteres Problem habe darin bestanden, dass die IBA nicht mit planungsrechtlichen Kompeten‐zen ausgestattet war und keinen direkten Zugriff auf die Vergabe von Fördermitteln hatte (ebd. 33). Insge‐samt hätte die  IBA 1987 das Ziel einer Mischnutzung 

nur  partiell  realisieren  können.  Viele  gewerbliche Nutzungen  aus  Zeiten  der  IBA‐Alt  hätten  zwar  nicht überlebt,  allerdings  hätte  eine  Nutzungsmischung ermöglichende  Gebäudestruktur  erhalten  werden können.  Im überwiegenden Teil des Gebiets der  IBA‐Neu  seien  dagegen  große,  zusammenhängende Wohnquartiere  entstanden,  deren  Struktur  wenig geeignet  sei,  um  nachträglich  umkompliziert  eine Nutzungsmischung  zu  realisieren;  die  `Kreuzberger Mischung´  sei  als  wichtige  städtebauliche  Qualität zwar  auf  der  Programmebene  hochgehalten,  jedoch nur  in  Ausnahmefällen  praktisch  realisiert  worden. Auf der Theorieebene hätte die  IBA 1987 die Fragen nach  den  Bedingungen  und Möglichkeiten  der  Nut‐zungsmischung  weder  gestellt  noch  beantwortet (ebd. 58). 

Eine  inhaltliche  Verbindung  zum  PRAE‐IBA‐Konzept  lässt sich beim Thema der Partizipation fest‐stellen.  Hier  wird  –  wiederum  von  der  historischen Analyse  ausgehend  –  der  große  Stellenwert  der  Be‐wohner_innenbeteiligung  an  der  Ausgestaltung  vor allem  der  IBA‐Alt  herausgearbeitet.  So  wird  etwa berichtet,  dass  die  Materialien  bei  einigen  IBA‐Projekten  auch  in  türkischer  Sprache  abgefasst wor‐den  sind  und  dass  in  der  Erneuerungskommission Kottbusser Tor die Stadtteilbewohner mit einer Stim‐me die Mehrheit gegenüber den Repräsentanten der Verwaltung gehabt haben  (ebd. 30). Auch der  Fokus auf Einbindung und Beteiligung in den 12 Grundsätzen der  behutsamen  Stadterneuerung  von  1982  findet Erwähnung. Es wird angeregt zu prüfen, „ob Elemente des  Konzepts  der  Selbsthilfe  –  also  die  Eigenbeteili‐gung von Mietern an baulichen Maßnahmen in ihrem Wohnhaus  –  im  Zuge  der  Erschließung  von  neuen Ressourcen  für  die  IBA  2020  wiederbelebt  werden können“  (ebd. 31). Soziale  Inklusion von ausgegrenz‐ten  sozialen  und  ethnischen  Gruppen  sei  zu  einer Daueraufgabe der Stadtentwicklungspolitik geworden und solle auch  in eine neue  IBA Eingang finden  (ebd. 42). Schließlich wird vor der bestehenden Gentrifizie‐rungsgefahr  gewarnt,  welche  die  „wünschenswerte soziale Vielfalt solcher Quartiere“ bedrohe (ebd. 42). 

Im  programmatischen  Schlussteil  des Gutach‐tens  wird  dann  auf  das  Thema  Nutzungsmischung fokussiert.  Hier  wird  an  den  Anfang  gestellt,  dass Nutzungsmischung ein  zentrales Thema der nachhal‐tigen Stadt von morgen sei und bleibe – in wirtschaft‐licher,  sozialer  und  ökologischer  Hinsicht  (ebd.  58). Auch  auf  Defizite  des Mischungsdiskurses  wird  hin‐gewiesen und erläutert, dass sich zu diesem Themen‐feld  sehr  abstrakte  oder  naive  Vorstellungen  finden würden  (allerdings  ohne  diese  These  auszuführen). Die nationale wie internationale Diskussion zu diesem Thema sei sehr breit und müsse angemessen rezipiert 

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Ein‐ und Ausblicke 

werden.  Eine  der  zu  stellenden  Fragen  laute,  was Nutzungsmischung  in  einer  „postindustriellen  und postfossilen“ Gesellschaft heißt. Zudem müsse unter‐sucht  werden,  vor  welchen  Nutzungen  die  Bewoh‐ner_innen heute noch geschützt werden müssten und vor welchen nicht. Bei der Ableitung einer Program‐matik wird dann recht unvermittelt proklamiert, dass sich hier das „Problem der Nutzungsmischung  in ers‐ter Linie  für die  (städte‐)baulichen Produkte des mo‐dernen Städtebaus nach dem Ersten, vor allem nach dem  Zweiten  Weltkrieg“  stelle.  Zu  fragen  sei,  was Nutzungsmischung  für  die Großsiedlungen mit  ihren „introvertierten, mehr oder weniger funktionierenden Zentren“ bedeuten würde. Ganz konkret wird schließ‐lich als Hauptaufgabe der künftigen  IBA gesetzt, Ant‐worten auf die Frage zu finden, wie Großbauten durch eine  andere Nutzungsmischung  revitalisiert und bes‐ser in den sie umgebenden Kontext integriert werden können: „Die Nutzungsmischung  im Bestand der Pro‐dukte des modernen  Städtebaus  – das  ist die  große Herausforderung für morgen!“ (ebd. 58).  

Bezogen  auf  das  Leitbild  der  „Urbanen  Mi‐schung“ lässt sich zusammenfassen, dass das strategi‐sche Gutachten zu den Perspektiven einer  IBA Berlin 2020  einerseits  eine  gut  informierte  Analyse  zur (weitgehend  fehlgeschlagenen)  Nutzungsmischung bei der IBA 1987 liefert und dass – ebenfalls überzeu‐gend – nicht nur der große Stellenwert und innovative Charakter  der  Beteiligung  der  Bewohner_innen  bei der IBA 1987 herausgearbeitet, sondern dass auch mit guten  Argumenten  für  eine  Wiederbelebung  dieses Gedankens  im Rahmen der  IBA 2020 geworben wird. Weniger  überzeugend  fällt  dann  die  Einbindung  des Konzepts  der  Nutzungsmischung  im  programmati‐schen Teil aus, da hier weder auf die Erkenntnisse der städtebaulichen  Forschung  der  1990er  Jahre  einge‐gangen  wird,  noch  die  sozialwissenschaftlichen  Er‐kenntnisse  der  Segregations‐  und  Integrationsfor‐schung  auch nur  ansatzweise berücksichtigt werden. Die  unvermittelte  Schwerpunktsetzung  auf  die „Durchmischung“ und eine Nachrüstung  von Urbani‐tät  in  den  Siedlungen  der  städtebaulichen  Nach‐kriegsmoderne  importiert daher vor allem ein nostal‐gisches  Urbanitätsbild  und  eine  traditionalistische Planermentalität  in  die  Debatte.  Vor  diesem  Hinter‐grund  erscheint  die  wiederholt  geforderte  Kompe‐tenzerweiterung der Planer_innen  in einem durchaus fragwürdigen Licht.  

• Das Leitbild der Nutzungsmischung 

Die Forderung nach Nutzungsmischung im Städtebau, so  formuliert  es  der  Stadtplaner  Thomas  Sieverts (dessen  Positionen  in  beiden  Publikationen  zur  IBA 

Berlin  2020  als  übergreifende  fachliche  Instanz  der städtebaulichen Planung gesetzt werden), sei im kon‐zeptionellen  Überbau  der  planungstheoretischen Diskussion  inzwischen  unumstritten;  in  der  alltägli‐chen Bau‐ und Planungsrealität werde  jedoch weiter überwiegend  nach  den  Grundsätzen  der  Nutzungs‐trennung verfahren  (1998, 142). Dieser Widerspruch, so  Sieverts,  zwinge  zu  einer  kritischen  Auseinander‐setzung; man müsse angesichts einer weiter auf Ent‐mischung  angelegten  Realität  misstrauisch  werden „gegen  die  oberflächlichen  Bekenntnisse  zur  Nut‐zungsmischung“  (ebd.).  Es  sei  zu  hinterfragen,  „wer oder was überhaupt noch gemischt werden will“ (ebd. 147)  und  auch,  woher  diese  „Sehnsucht  nach  Nut‐zungsmischung“ eigentlich komme.  

Tatsächlich  ist  der  Widerspruch  frappierend, der  im aktuellen Diskurs der städtebaulichen Planung immer  wieder  zum  Vorschein  kommt.  Operatives Kerngeschäft der instrumentellen Stadtplanung ist es, städtische Alltagsrealität  in Funktionen zu trennen,  in Wohngebiete,  in  Gewerbegebiete,  in  Mischgebiete; im  programmatischen  Diskurs  regiert  dagegen  das „unumstrittene  Ziel“ der Mischung. Um dieser Prob‐lematik auf den Grund  zu gehen, wurde  in dem hier vorliegenden  Gutachten  eine  historisch‐analytische Herangehensweise  gewählt.  Dabei  wurde  gezeigt, dass  städtebauliche  Planung  auf  dem Gedanken  der Trennung  aufbaut und dass  Städtebau und  Stadtpla‐nung die Funktionstrennung – zumindest begrifflich – erst  hervorgebracht  haben:  sie  haben  sie  entdeckt, benannt,  dargestellt,  verordnet und  gebaut. Der Be‐richt  von  der  Inthronisierung  der  gemischten  Stadt zum anerkannten städtebaulichen Leitbild hat gezeigt, dass  dieser  fundamentale  Positionswechsel  in  den 1970er bis 1980er Jahren auf dem Widerstand gegen die Praxis der Flächensanierung beruht und die Über‐windung  der  Großstadtkritik  in  den  städtebaulichen Fachdiskursen  zur  Voraussetzung  hatte.  Die  neue Wertschätzung  der  vorhandenen  gemischten  Stadt ermöglichte es erst, dass die „Urbane Mischung“ zur bestimmenden fachlichen Position im städtebaulichen Diskurs werden konnte. Im Rückblick scheint mit dem Leitbild  der Mischung  also  –  und  so  lautet  auch  die üblicherweise  verbreitete  historische  Analyse  –  mit dem eigenen disziplinären Erbe gebrochen worden zu sein.  

Das Ergebnis der hier zur Diskussion gestellten Analyse  ist  jedoch  ein  abweichendes; und dieses  Er‐gebnis soll an dieser Stelle noch einmal  in drei Punk‐ten zusammengefasst werden:  

a)  Trennung/Mischung  gehören  zusammen:  Mi‐schung und Trennung sind weniger gegensätzlich, als es auf den ersten Blick erscheint. Mischung ist 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

immer  eine  Form  von  Trennung  und  Trennung immer eine Form von Mischung. Auch das stadt‐planerische  Ziel  der  gemischten  Stadt  selbst  ist ein Begriff und ein Instrument der Funktionstren‐nung. Trennung muss erst hergestellt werden, um Mischung (und Mischungsverhältnisse) denken zu können. Mit diesem Befund  lässt sich auch erklä‐ren, weshalb  die  Diskrepanz  zwischen  Anspruch und  Wirklichkeit  hinsichtlich  des  Ziels  der  Nut‐zungsmischung im Städtebau so gleichmäßig groß zu bleiben scheint: Die Rede von der „funktiona‐len Mischung“  transportiert den Funktionalismus und reproduziert ihn. Der Ansatz der Nutzungsmi‐schung führt den Ansatz der Trennung unbewusst weiter und kann schon aus diesem Grunde  letzt‐lich nicht erfolgreich sein. 

b)  Stadt  ist Mischung  (auch Marzahn):  In  einem der  Nutzungsmischungs‐Gutachten  aus  den 1990er Jahren findet sich folgender Passus: „Städ‐tebauliche  Nutzungsmischung  ist  räumlich  defi‐niert  durch  die  räumliche  Abgrenzung  und  die Körnung. Je nachdem, wo die räumlichen Grenzen gezogen werden, hat man es mit Mischung oder Trennung  zu  tun“  (BBR  1999a,  3).  Dieses  „je nachdem“  relativiert  die  Unterscheidung  von Trennung und Mischung grundlegend: Je nach Be‐trachtungsmaßstab  ist die Kreuzberger Mischung Trennung  oder  Mischung,  und  Gleiches  gilt  für Marzahn  und  Hellersdorf.  Eine  solche  Relativie‐rung hat Auswirkungen auf die Begriffe „gemisch‐te Stadt“ und „Urbane Mischung“. Denn nun zeigt es  sich, dass Stadt  immer gemischt, dass die ge‐mischte Stadt nichts anderes ist, als eine Bezeich‐nung  für die  städtische Alltagspraxis. Und weiter lässt  sich  folgern,  dass,  wenn  Städtebau  und Stadtplanung  die  gemischte  Stadt wirklich  ernst nehmen möchten, diese gemischte Stadt, also die städtische  Alltagspraxis,  in  ihren  unterschiedli‐chen Maßstäben erst einmal erkannt und akzep‐tiert werden muss.  

c)  Leitbild  vs.  Stadt:  Zwischen  der  (gemischten) Stadt und dem  Leitbild der  „Urbanen Mischung“ besteht  ein  latenter  und  struktureller  Wider‐spruch.  Und  zwar  deshalb,  weil  die  gemischte Stadt  die  städtische  Alltagswirklichkeit  ist;  das Leitbild  einer  `anderen´,  `richtigen´  und  `herzu‐stellenden´  „Urbanen Mischung“  tendiert  immer dazu,  die  städtische  Alltagwirklichkeit  (die  ge‐mischte  Stadt)  zu negieren.  Je nachdem,  in wel‐cher Ausprägung dieses Leitbild letztlich vertreten wird,  verstärkt  oder  vermindert  sich  dieser Wi‐derspruch.  Der  Ansatz,  eine  bestehende  Groß‐

siedlung mit  „Urbaner Mischung“  nachzurüsten, ist  aus  dieser  Perspektive  durchaus  problema‐tisch; mit  dem  Leitbild  der  „Urbanen Mischung“ wird  sich hierbei  in eine  Lage manövriert,  in der die  bestehende  „Urbane Mischung“  selbst  nicht nur nicht verstanden, sondern in der ihre Existenz mit  der  geplanten  Intervention  gefährdet  wird. Besonders  ausgeprägt  ist  diese  Gefahr  dann, wenn Mischung (in der Tradition der historischen Begründung  des  Planungsziels  der  Trennung)  als „natürliches“,  „planungswissenschaftlich  abgelei‐tetes“  und/oder  objektive/rationales  Ziel  ausge‐geben wird. 

Insgesamt  ist  das  Leitbild  der  Nutzungsmischung  in der  städtebaulichen  Planung  deshalb  so  erfolgreich, weil damit ein  spezifisches und dominantes Bild  von „Urbanität“  transportiert wird. Diesem Bild mag man anhängen oder auch nicht – es auf die gesamte Stadt überzustülpen,  ist  jedenfalls  ein  verheerender  wie verbreiteter Ansatz. Und dieses Vorgehen ist genauso ein Blindfeld  (eine urbanistische  Illusion) wie der his‐torische Ansatz des städtebaulichen Funktionalismus. Anders gesagt: Es kann im speziellen Fall gute Gründe für Trennung und es kann gute Gründe für Mischung geben.  Der  totalitäre  Ansatz,  die  gesamte  Stadt  auf ein bestimmtes Bild hin  trimmen zu wollen,  ignoriert die  bestehende  urbane  Praxis  (und  ignoriert  daher auch Urbane Mischung).  

• Das Leitbild der Sozialen Mischung 

Etliche  der  für  das  Leitbild  der  Nutzungsmischung herausgearbeiteten  Argumente  treffen  auch  für  das Leitbild der Sozialen Mischung zu und auch hier wer‐den innerhalb der wissenschaftlichen Debatten erheb‐liche und  grundlegende  Zweifel daran  geäußert, wie die Problematik selbst konstruiert  ist. So  formulieren etwa  Hartmut  Häußermann  und Walter  Siebel  (also zwei  Autoritäten  auf  der  stadtsoziologischen  Mei‐nungsseite), dass die entsprechende Kontroverse „alt und ungelöst“ sei, was wiederum ein Indiz dafür wäre, dass  „das  Problem  falsch  gestellt  ist“  (Häußermann/ Siebel  1990,  30).  Auch  bei  der  „Sozialen Mischung“ gibt  es  einen  inhärenten  Zusammenhang  zwischen sozialer  Mischung  und  sozialer  Trennung  und  auch hier  finden  sich  strukturelle Fallstricke,  in die  sich  zu verfangen droht, wer  „Soziale Mischung“ als  Leitbild inszeniert.  Beide  Leitbilder  beruhen  zudem  auf  dem gleichen traditionalistischen und meist reichlich diffu‐sen  Bild  von  Urbanität.  Aber  es  gibt  auch  Un‐terschiede und weitere Problemdimensionen. 

Erstens wird mit der Themensetzung „Sozialen Mischung“  ein  soziales  Problem  (nämlich  das  der 

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Ein‐ und Ausblicke 

Ungleichheit)  auf  seine  räumlichen  Ausprägung  he‐runtergebrochen; oftmals  scheint es  so  zu  sein, dass das soziale Problem der sozialen Ungleichheit auf sei‐ne  räumliche  Ausprägung  reduziert  wird.  Und  hier findet  sich  bereits  das  Kernproblem  des  Denkansat‐zes: Soziale Ungleichheit kann nicht damit verhindert oder beseitigt werden, dass sie stadträumlich umver‐teilt  wird.  Anders  gesagt:  räumliche  Mischung  von bestehender  sozialer  Ungleichheit  zielt  am  eigentli‐chen  Problem  vorbei.  Jede  „Raumpolitik  zur  Behe‐bung sozialer Problemsituationen“ muss zwangsläufig „ins  Leere  greifen““  (Werlen  2005, 18), weshalb der Einfluss öffentlicher räumlicher Planung auf die sozia‐le  Struktur  „getrost  als  gering“  bezeichnet  werden kann (Häußermann 1996, 7). 

Zweitens  importiert  das  Leitbild  der  „sozialen (oder ethnischen) Mischung“ regelmäßig ein paterna‐listisches  und  dirigistisches  Grundverständnis  in  die Debatte. Das von den Planer_innen definierte „richti‐ge“  Mischungsverhältnis  ist  oftmals  gegenläufig  zu den  vorhandenen  Prioritäten  der  Bewohner_innen, die  neu  gemischt  werden  sollen.  Die  dargestellte sozialwissenschaftliche  Debatte  zu  der  Frage  nach freiwilliger  beziehungsweise  unfreiwilliger  Segregati‐on  hat  gezeigt,  dass  eine  verordnete  Mischung zwangsläufig (strukturell) dazu führt, dass bestehende Bedürfnisse ignoriert werden. Forderungen nach einer „gesunden Sozialen Mischung“  fungieren daher auch eher  als  ein  Sammelbecken  von  Diskriminierung,  da dabei ein allgemeines Leitbild über die Interessen der Stadtbewohner_innen  gestellt  wird.  Die  Aktualität dieser  Debatte  wurde  beim  Bericht  über  das  Allge‐meine  Gleichbehandlungsgesetz  gezeigt  (vgl.  Kapitel 2).  In  der  städtebaulichen  Leitbilddebatte  sollten diese  Erkenntnisse  zu  größerer  Vorsicht  bei  allen Ansätzen eines wie auch immer ausgestalteten „Social Engineering“ führen.  

Dennoch, und das sollte dabei nicht vergessen werden, kann Stadtpolitik und städtebauliche Planung natürlich  soziale  Strukturen  beeinflussen,  bezie‐hungsweise sind sie beide „sozial wirksam“. Das zeigt sich auch bei der  in Berlin derzeit sehr aktuellen De‐batte  zur Gentrifizierung weiter  Bereiche  der  innen‐stadtnahen  Quartiere.  Städtebauliche  Aufwertungs‐maßnahmen  in  diesen  Gebieten  verschärfen  beste‐hende Gentrifizierungsprozesse (sind also sozial wirk‐sam); baulich‐räumliche Maßnahmen, die dazu  in der Lage sind, eine Gentrifizierung zu verhindern, gibt es dagegen kaum. Spätestens hier zeigen sich – bezogen auf  die  Steuerungsmöglichkeiten  von  sozialen  Struk‐turen  –  die Grenzen  von  städtebaulichen  Planungen insgesamt und die Grenzen eines  Leitbildes der  „So‐zialen Mischung“ im Besonderen.  

Stadtentwicklungspolitik  (und damit auch eine IBA‐Strategie)  sollte  soziale  Ungleichheit  im  Blick haben  und  entsprechende  Analysen  bei  ihren  Ent‐scheidungen, wo sie  intervenieren/investieren möch‐te;  aber  sie  sollte nicht  versuchen,  Soziale Mischung herzustellen oder gar nachzurüsten. Zu unterscheiden ist  dabei  grundsätzlich  in  dirigistisch  ordnende  Pla‐nungsansätze  und  behutsam  ermöglichende  Strate‐gien. Während eine dirigistische Steuerung der Bevöl‐kerungszusammensetzung (und das ist regelmäßig das Ziel,  das  mit  dem  Leitbild  der  „Sozialen Mischung“ verfolgt  wird)  deshalb  immer  scheitert,  weil  das zugrundeliegende Denkmodell nicht funktioniert, gibt es auf der anbietenden Seite natürlich unzählige (und auch  baulich‐räumliche)  Möglichkeiten,  eine  Politik der „Sozialen Stadt“ zu verfolgen. Die einzige Chance, eine  sozial  gemischte  Stadt herzustellen, besteht da‐gegen  vermutlich  in der Option, bezahlbaren Wohn‐raum auch dort anzubieten, wo er marktmäßig sonst keine Chance hätte. Auf den Prüfstand der  IBA 2020 gehört damit nicht der Ansatz, Städtebau als soziales Instrument  zu  betrachten,  sondern  das Modell,  das Soziale  (die  Bevölkerungszusammensetzung)  durch Trennung/Mischung von oben zu steuern und durch‐zusetzen. Dieser bevormundende Ansatz ist unabhän‐gig  davon,  ob  Trennung  oder Mischung  das  Ziel  ist; aber  er  ist  der  Kern  einer  immer  noch  verbreiteten Haltung  in der  städtebaulichen Planung, die die  vor‐handene Urbane Mischung konterkariert.  

Schließlich  lohnt  es  sich  bei  einer  Strategie‐entwicklung  für  eine  neue  IBA  unbedingt  auch,  sich mit  den  Errungenschaften  der  IBA  1987  vertraut  zu machen  (beziehungsweise  sie  sich  noch  einmal  ins Gedächtnis  zu  rufen). Kern der behutsamen  Stadter‐neuerung war gerade die Akzeptanz der bestehenden Stadt und die Verlagerung von Entscheidungskompe‐tenzen  hin  zu  den  Bewohner_innen  der  beplanten Gebiete. Dass viele der damals durchgesetzten Quali‐täten und Innovationen (insbesondere bei der Beteili‐gung von Bewohner_innen) keineswegs zum Standard der heutigen Planung gehören, zeigt, dass ein solcher Ansatz auch heute wieder äußerst aktuell sein kann.  

• Mischung, anders 

Ziel der hier vorgelegten Studie war es herauszuarbei‐ten, welcher  inhaltliche Gehalt und welche Möglich‐keiten/Unmöglichkeiten  mit  dem  Leitbild  von  der „Urbanen  Mischung“  verbunden  sind.  Die  Anfangs‐these lautete dabei, dass erst über die grundsätzliche Hinterfragung  ein Ansatz möglich wird,  der  nicht  le‐diglich  den  dominanten  Wertekanon  des  aktuellen Städtebaus  verlängert,  sondern dazu  in der  Lage  ist, für sich selbst stehende inhaltliche Akzente zu setzen.  

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Insgesamt  hat  es  sich  dabei  gezeigt,  dass  das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ als planungswis‐senschaftlich  hergeleitetes  Ziel  wenig  überzeugen kann. Die gemischte  Stadt  ist nicht mehr wie  in den 1980er Jahren ein Inhalt, der mit einer IBA im städte‐baulichen  Diskurs  durchgesetzt  werden  muss  (oder kann); Mischung  ist dort seit  langem diskursiver Kon‐sens  und  Kanon,  und  daher wird  eine  IBA  2020 mit dem Leitbild der Urbanen Mischung auch nicht trump‐fen können, zumindest nicht, was die Aspekte Kreati‐vität oder  Innovation betrifft. Unter dem Leitbild der gemischten  Stadt  lassen  sich  zwar  alle  möglichen Maßnahmen  und  Projekte  irgendwie  versammeln  – und diese Eigenschaft scheint das Leitbild  tatsächlich strategisch attraktiv zu machen. Allerdings  ist es sehr fraglich, ob ein solches Leitbild auch inhaltlich weiter‐führend  ist. Von sich aus kann es  jedenfalls kaum als innovativer inhaltlicher Leuchtturm glänzen.  

Bei der Frage nach den Möglichkeiten einer IBA ist  zu  berücksichtigen,  dass  eine  IBA  kein  Stadtent‐wicklungsprogramm  ist. Allerdings  ist  ebenso  festzu‐stellen,  dass  eine  IBA Ansätze  und  Inhalte  nicht  nur transportiert, sondern durch ihren „Ausnahmecharak‐ter“  neue  und  die  üblichen Routinen hinterfragende Positionen nicht nur einnehmen  kann,  sondern auch einnehmen  soll. Nach der bisherigen Analyse  scheint es  naheliegend  zu  sein,  einfach  auf  das  Leitbild  der „Urbanen Mischung“ bei der Zielsetzung der IBA 2020 zu  verzichten.  Gegen  ein  solches  Vorgehen  spricht allerdings  zumindest,  dass  das  Leitbild  – wie  bereits mehrfach  festgestellt – vorhanden  ist, und  zwar vor‐handen  als  Leitbild mit  „hegemonialem  Status“  (Jo‐hann  Jessen, nach Harlander/Kuhn 2012d, 422). Des‐halb mündet diese Studie nicht  in den Vorschlag, auf das  Leitbild der  „Urbanen Mischung“ einfach  zu ver‐zichten,  sondern  in  Vorschlägen,  wie  das  klassische Leitbild  mit  einer  subversiven  Strategie  unterlaufen und  damit  gewendet  und  aktualisiert, wie Mischung anders gedacht werde könnte.  

Zu  diesem  Zwecke werden  abschließend  fünf programmatische  Punkte  für  eine  solche  Aktualisie‐rung ausgeführt und zur Diskussion gestellt. Die emp‐fohlene  Subversion  setzt  zuerst  bei  der  Präzisierung der Begriffe an (1), schlägt dann eine Neuinterpretati‐on vor (2) und kommt schließlich zu Mischungsansät‐zen  jenseits der  klassischen Mischungsideals  ((3),  (4) und (5)).  

 Ohne Trennung/Mischung (1) Eine produktive und kritische Aktualisierung des Leit‐bildes der „Urbanen Mischung“ muss bei der Hinter‐fragung  der  eigenen  Begriffe  und  Denkstrukturen ansetzen.  Das  bedeutet,  sich  der  Problematik  Tren‐nung/Mischung  nicht  nur  anwendungsorientiert  zu 

nähern,  sondern  an  den  Anfang  eine  Distanz  zum üblichen  planerischen  Ordnungs‐,  Gestaltungs‐  und Mischungsimpetus zu setzen. Das Problem des Ansat‐zes  der  Mischung/Trennung  ist  nämlich  in  weiten Teilen  in  der  traditionellen  Herangehensweise  der Profession  selbst  zu  finden,  in  der  dort  eingeübten Sicht auf das Urbane. Die der städtebaulichen Planung historisch  maßgeblich  zugrundeliegende  Großstadt‐feindschaft  hat  sich  –  das  ist  hier  die  These  –  beim großen  Paradigmenwechsel  der  1960er  bis  1980er Jahre  keineswegs  in  Luft aufgelöst oder  zu einer be‐dingungslosen  Großstadtfreundschaft  umgekehrt, sondern  sich  im  wesentlichen  einfach  verschoben. Nicht  mehr  die Mietskasernenstadt  ist  seitdem  das Feindbild  der  städtebaulichen  Planung,  sondern  die Einfamilienhausgebiete  der  Zwischenstadt  und  die „monofunktionalen“  Großsiedlungen  des  sozialen Wohnungsbaus.  Dass  sich  das  Negativbild  nun  auf Bereiche  richtet,  die  im Grunde  genau  das  Ergebnis der  eigens  entwickelten  und mit  der  Bau‐  und  Pla‐nungsgesetzgebung  verwirklichten  Leitlinien der  auf‐gelockerten  und  gegliederten  Stadt  darstellen,  wird dabei meist mit bemerkenswerter Nonchalance über‐gangen.  

Für  die  These,  dass  der  städtebaulichen  Pla‐nung  in großen Teilen weiterhin ein  tendenziell anti‐städtisches Denken zugrunde  liegt, spricht auch, dass Begriffe wie  „städtebauliche Missstände“  oder  auch „Stadtgesundung/  Stadtsanierung“  den  skizzierten Paradigmenwechsel im städtebaulichen Diskurs unbe‐schadet überstanden haben und damit  selbst  Träger einer  bestimmten  Kontinuität  sind.  Weiter  wird  an dem Glauben  festgehalten, damit beauftragt zu sein, städtebauliche  (und  damit  gesellschaftliche)  Miss‐stände zu lösen. Ehemals wurde für die Überwindung des Chaos Großstadt die geordnete funktionsgetrenn‐te Stadt verordnet, heute wird den „monofunktiona‐len“ Gebieten, und den „überforderten Nachbarschaf‐ten“  das  Elixier  des  „lebendigen“  und  nutzungs‐/sozialgemischten Urbanen übergestülpt. Und  immer noch wird maßgeblich  in  der  Kategorie  der  Funktio‐nen  gedacht: Eine  solche  funktionalistische  Sicht  auf das  Urbane  produziert/reproduziert  das  Paar  Mi‐schung/Trennung ständig aufs Neue.  

Der  Ansatz  einer  anders  gedachten Mischung beginnt  damit  bei  der  kritischen  Hinterfragung  des eigenen  Tun  und Handelns  sowie  bei  einer  Präzisie‐rung  der  Begrifflichkeiten.  Eine  Strategie,  die  Mi‐schung  nicht  als  etwas  Herzustellendes,  sondern  als etwas Vorhandenes und sich ständig selbst Produzie‐rendes begreift, muss Mischung erst einmal akzeptie‐ren.  Eine  solche  Strategie will  nicht Mischung/Tren‐nung  herstellen,  sondern  das  Urbane  begreifen  ler‐nen. Konkret bedeutet das unter anderem, nicht die 

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Ein‐ und Ausblicke 

„problematischen Strukturen“ des Städtebaus des 20. Jahrhunderts  nachrüsten  zu  wollen,  sondern  diese Strukturen als Teil der Stadt, als Teil der bestehenden „Urbanen Mischung“  zu  verstehen.  Eine  solche  Stra‐tegie  ist  ein  städtebaulicher  Planungsansatz  ohne städtebauliches  Leitbild. Das muss und das  soll nicht heißen,  sich  von  jeglicher  inhaltlichen  Position  zu verabschieden –  im Gegenteil. Eine Positionierung  im sozialen und politischen Kontext,  in dem städtebauli‐che  Planung  immer  stattfindet, wird  einfacher  (oder sogar erst möglich), wenn auf die übergreifende Leit‐bildnerei des klassischen Urbanismus verzichtet wird. Aus der Mischung wird bei einer solchen Strategie das Urbane  selbst,  aus  der  „Sozialen  Mischung“  mögli‐cherweise  die  „solidarische  Stadt“.  Anfangspunkt  ist dabei nicht die These, mit baulich‐räumlichen Eingrif‐fen die richtige Gesellschaft herzustellen, sondern aus dem  Gesellschaftlichen  baulich‐räumliche  Aufgaben‐stellungen  abzuleiten.  Auf  der  Handlungsebene  be‐deutet das, sich aktuellen Debatten zu öffnen, Neues zuzulassen und  auszuhalten,  im  Lokalen  zu überzeu‐gen und vielleicht am meisten: offen  zu halten:  „Die Offenhaltung  für  veränderte  Zukunftsoptionen  ist vielleicht das Wesentlichste“, was der Städtebau heu‐te zu leisten in der Lage ist (Sieverts 1998, 150).2 

Mischung als Diversität/Differenz (2) Mischung als Diversität zu denken  ist ein Ansatz, mit dem die städtebauliche Planung Anschluss an aktuelle Diskurse  der  Sozial‐  und,  Kulturwissenschaften  und der  politischen  Theorie  finden  kann.  Die  Kultur  der Stadt wird hier als eine Kultur der Differenz konzeptu‐alisiert.  Differenz  bedeutet  dabei  vor  allem,  Vielfalt anzuerkennen:  Vielfalt  der  Positionen,  Vielfalt  der Identitäten, Vielfalt der Kulturen und Vielfalt der städ‐tischen Aneignungsformen. Auch hierbei geht es nicht darum, Vielfalt im Sinne eines nostalgischen Leitbildes von  Urbanität  zu  rekonstruieren  und  herzustellen, sondern  darum,  Vielfalt  zu  akzeptieren  und  zuzulas‐sen.  Das Weiterdenken  von Mischung  als  Diversität könnte  ein  vielversprechender Gründungsakt  für  ein gewandeltes  Leitbild  der  „Urbanen Mischung“  sein. Diversität  als  Ausgangspunkt  zu  nehmen,  bedeutet auch, sich von dem Ansatz des einen Leitgedankens zu verabschieden.  Gerade  in  der  städtebaulichen  Pla‐nung fällt das oftmals schwer, weil sich in der Disziplin historisch die Annahme entwickelt und verfestigt hat, dass  städtebauliche  Planung  in  der  Lage  sei,  einen solchen allein geltenden Leitgedanken für die richtige Form  von  Stadtentwicklung  liefern  zu  können.  Die 

                                                            2 Sieverts schreibt eigentlich: „was der Städtebau zur Förde‐rung einer lebendigen Nutzungsmischung leisten könnte“; der Vorschlag hier ist es jedoch, genau auf diese Begrifflich‐keit zu verzichten. 

Entscheidung für ein Differenzdenken hat damit auch beträchtliche  Auswirkungen  auf  die  Konzeption  des Planungsansatzes: Wenn der Planer die eine Antwort nicht kennt, dann ändert sich sein Vorgehen grundle‐gend; möglich wird es nun, sich auf die Positionen des Anderen einzulassen. 

Allerdings  ist  auch  der  Begriff  der  Diversi‐tät/Differenz  nicht  unproblematisch.  Der  Fokus  auf Differenz  gerät  nämlich  schnell  in  die  Gefahr,  zur postmodernen  Beliebigkeit  zu  führen.  Das  zeigen nicht  zuletzt  die  Ausführungen  zum  Konzept  der „neuen Urbanen Mischung“ im Rahmen des Diskurses der Creative Cities  (vgl. Kapitel 2) und die Uneindeu‐tigkeiten, auf die bei der Betrachtung des PRAE‐IBA‐Konzeptes  hingewiesen  wurde.  Eine  Konzeptualisie‐rung  von  Differenz  im  Sinne  der  Konzentration  der Stadtentwicklungspolitik  auf  Kreativität  und  Konsum ist häufig „mit einer Vernachlässigung oder gar Miss‐achtung  von  Alltagspraktiken  und  Institutionen  ver‐bunden,  die  nicht mit  der  Logik  der  Kulturalisierung kompatibel sind“  (Ronneberger 2010, 43). Die Aufga‐be  für einen Ansatz, bei dem Mischung als Differenz gedacht wird, wäre es daher einerseits, der Beliebig‐keit  etwas  Konkretes  abzugewinnen,  ohne  dabei  in einen städtebaulichen Fundamentalismus zurückzufal‐len, und  andererseits,  Stadt nicht  kulturalistisch und in Kategorien von kommerzieller Eventkultur  zu den‐ken.  Dass  diese  Gefahr  ganz  konkret  besteht,  zeigt sich  nicht  zuletzt  bei  der  extensiven  Verwendung eines  ökonomisierten  Vokabulars  in  den  bisherigen Publikationen  zur  IBA  2020:  etwa  der  Setzung  von "Stadtkapital"  als  Titel  einer  ersten  IBA‐Konzeption, der Rede von der „ressourcen‐effizienten Stadt“ oder der Aufforderung, Stadt als Unternehmen zu denken. Auch wenn das Ziel bei der Platzierung dieser Begriff‐lichkeiten gewesen sein mag, eine aktualisierte/alter‐native Bedeutung  von  „Kapital“,  „Ressourcen“,  „Effi‐zienz“ etc.,  zu  lancieren, wird damit doch  immer auf eine Nähe zu neoliberalistischen Denkstilen verwiesen und  solche  Ansätze  in  den  Kern  der  Thematik  IBA 2020 transportiert. 

Auch  die Wendung  der Mischung  zur Diversi‐tät/Differenz bringt daher nicht nur Chancen für neue Ansätze  bei  der  Ausgestaltung  von  städtebaulichen Interventionen  mit  sich,  sondern  ebenso  das  Erfor‐dernis, sich zu dem (mit dem Differenzbegriff teilwei‐se  kompatiblen)  neoliberalen  und  ökonomistischen Denken  zu  verhalten.  Anders  gesagt,  sollte  bei  der Wendung von Mischung zur Diversität/ Differenz nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden und die Abkehr vom stadtplanerischen Dirigismus zur Aufgabe des  (ebenfalls  in  der  eigenen  Tradition  angelegten) sozialen  und marktkritischen  Gedankens  in  der  Pla‐nung führen.  

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Diese  schwierige  Aufgabe  könnte mit  dem  in den  Vordergrundstellen  einer  Beteiligung  im  Sinne von Teilhabe  in Angriff genommen werden. Ziel wäre es dabei, eine neue Qualität von Partizipation zu ent‐wickeln,  Verantwortung  abzugeben,  mitmischen  zu lassen (vgl. Steckbrief zu Tübinger Südstadt) und – das ist  speziell  für  eine  IBA  von  Bedeutung  –  zu  experi‐mentieren.  Es  könnte  bei  einer  IBA  explizit  darum gehen,  was  „Bewohner  und  Benutzer  machen,  und nicht – sei es gestalterisch oder technisch – es vorzu‐schreiben“  (Kaltenbrunner  2009,  100).  Ein  weiterer Schwerpunkt könnte darin  liegen, das „Temporale als gestalterische  und  funktionale  Herausforderung  zu‐künftiger Stadtentwicklungsprozesse zu qualifizieren“; zu diesem Thema gilt es „gerade  in Berlin“ zu experi‐mentieren  (Braum  2009,  166).  Als  begriffliches  Kon‐zept für die Rolle einer IBA als Testlabor erscheint der Diversität‐Differenz‐Mischungs‐Ansatz  damit  vielver‐sprechend  zu  sein.  Und  ein  solcher  Ansatz  könnte wiederum an die Erfahrungen der  IBA 1987 anschlie‐ßen: Elemente des Konzepts der Selbsthilfe, Eigenbe‐teiligung von Mietern an baulichen Maßnahmen, Ent‐scheidungsmehrheit  für die Stadtteilbewohner_innen in Gremien der Stadtentwicklung: All das lässt sich mit einem  an  den  Anfang  gesetzten Differenzbegriff  be‐gründen  und  befruchten.  Im  Konzept  des  PRAE‐IBA‐Teams finden sich bereits einige solcher Ansätze (sie‐he  oben)  und  könnten mit  einem  Differenz‐Denken weiter ausgearbeitet werden.  

„Living closer together” (3) Die  Analyse  von  Hartmut  Häußermann  zur  Renais‐sance der Stadt hat überzeugend gezeigt, dass die viel gepriesene Wiederbelebung der  Innenstädte nicht so sehr auf der Erfüllung einer Urbanitätssehnsucht, son‐dern  in  erster  Linie  auf  ziemlich pragmatischen öko‐nomischen Beweggründen beruht (vgl. Kapitel 2). Die Renaissance der Innenstadt ist aus dieser Perspektive weniger  eine  romantische  Angelegenheit,  sondern eine  Notwendigkeit  und  Folge  von  sozial  prekären Verhältnissen.  Folgt man  dieser  Analyse,  dann  gerät nicht  eine  Floridasche  Stadtpolitik  in  den  Blick,  die Stadtentwicklung als  vermarktungsfähiges Event prä‐sentieren und damit die Wirtschaft ankurbeln möch‐te, sondern die Frage nach den Lebensbedingungen in verdichteten  städtischen  Strukturen. Und  an  diesem Punkt kann tatsächlich auf die Ergebnisse der Anwen‐dungsforschung  der  1990er  Jahre  zur  Nutzungsmi‐schung  im  Städtebau  zurückgegriffen  werden.  Dort wird etwa erklärt: „Diejenigen, die in eher gemischten Quartieren  wohnen,  nutzen  die  Angebote  im  Quar‐tier. Dies allein  ist Grund genug, derartige Strukturen zu  erhalten  und,  sofern  möglich,  zu  fördern“  (BBR 1999b, 5). Wenn die ökonomische Entwicklung also – 

und  das  scheint  in  einigen  Berliner  Quartieren  zu beobachten zu sein – dazu führt, dass die Stadt dich‐ter  und  gemischter  wird,  dann  entsteht  dabei  ein Aufgabengebiet auch für städtebauliche Maßnahmen. Und  diese  konzentrierte  und  vorhandene Mischung lässt  sich  mit  dem  Instrumentenkoffer  des  ökologi‐schen Städtebaus verbessern: etwa bei der Umgestal‐tung  des  autogerechten  Straßenraums,  bei  der  Ver‐besserung  des  wohnungsnahen  Stadtgrüns  oder  bei der Konzeption von neuen Fahrradverbindungen.  

Bei  der  Konzentrierung  von  verschiedenen städtischen  Funktionen  auf  begrenztem  Raum  neh‐men potenziell die Konflikte zwischen diesen Funktio‐nen  zu.  Gerade  für  den  öffentlichen  (im  Sinne  von öffentlich zugänglichen) Raum stellt sich in einer dich‐ter werdenden  Stadt damit  auch  verstärkt die  Frage der  Zuteilung  von  Flächen,  etwa  ob  es  gerecht  und gerechtfertigt  ist,  den  größten  Teils  des  öffentlichen Straßenraums  für  den  ruhenden  und den  fahrenden motorisierten Verkehr zu reservieren. Bei dieser genu‐in  städtebaulichen Frage  lassen  sich ökologische und soziale Aspekte miteinander verknüpfen. Eine Umver‐teilung der Flächenanteile vom motorisierten Verkehr zugunsten von Flächen für Fußgänger und Fahrradfah‐rer ist aus dieser Perspektive durchaus auch eine Fra‐ge der „Urbanen Mischung“ und zudem im Zugriffsbe‐reich der städtebaulichen Planung. Eine solche Erpro‐bung  von  neuen  Mischungsverhältnissen  im  öffen‐tlichen  Straßenraum,  bei  der  etwa  auf  Beispiele  an‐derer europäischer Städte (Kopenhagen, Amsterdam) zurückgegriffen werden könnte,  ist eine ganz andere Lesart  von  „Urbaner Mischung“  und  ein  naheliegen‐der  Aufgabenbereich  einer  IBA,  die  dieses  Motto inhaltlich füllen möchte. 

Allerdings, und das lässt sich nicht voneinander trennen, sind es genau jene Gebiete, in denen sich die neue Konzentration realisiert, die auch im Mittelpunkt der  Gentrifizierungsprozesse  stehen.  Städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen geraten in diesen Bereichen daher  immer  in  Gefahr,  eine  Verdrängung  der  Be‐wohner_innen  zu  beschleunigen.  Eine  IBA,  die  sich dem  Thema  der  neuen  Verdichtung  und  Mischung annehmen möchte, muss  sich  daher  zwingend  auch mit dem  komplexen  Spiel  von Ursache und Wirkung auseinandersetzen,  als  dessen  Ergebnis  die  Gentrifi‐zierung  ganzer  Quartiere  stehen  kann.  Das  IBA‐Ziel der „Sozialen Mischung“ (respektive „Diversität/Diffe‐renz“)  sollte  hier  dazu  verpflichten,  städtebauliche Aufwertungsmaßnahmen in ihrem Gesamtzusammen‐hang  zu  denken  und mit  kreativen  Ideen  gegen  die Verdrängung der Bewohner_innen zu verknüpfen. Der Zustand einer demokratischen Stadtgesellschaft misst sich auch daran, inwieweit die Interessen der weniger privilegierten  Bevölkerungsgruppen  einbezogen wer‐

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Ein‐ und Ausblicke 

den. Dass eine Verknüpfung von städtebaulichen Pro‐jekten und einer sozialen Stadtpolitik nicht unmöglich ist,  zeigt wiederum  nicht  zuletzt  die  Geschichte  der IBA 1987 und auch hier  lässt sich an deren Erfahrun‐gen anschließen. So könnten etwa innovative Konzep‐te,  die  den  Berliner  Sozialwohnungsbau  nicht  an  in‐ternationale  Investoren  veräußern,  sondern  in  die Verantwortung der Bewohner_innen übergeben, dazu beitragen, den  schwierigen  Spagat  zwischen Aufwer‐tung und Verdrängung zu bewältigen. Das vom Berli‐ner Senat initiierte „Bündnis für soziale Wohnungspo‐litik  und  bezahlbare  Mieten“  mit  den  städtischen Wohnungsunternehmen  ist  möglicherweise  ein Schritt  in die Richtung einer  Stadtpolitik, die  sich ei‐nen  sozialen  Ausgleich  zum  Ziel  setzt;  mit  der  IBA 2020  könnten  und  sollten weitere  solcher  dringend benötigten Schritte folgen.  

Neuer Sozialer Wohnungsbau (4) In  aktuellen  sozialwissenschaftlichen  Studien  über Stadt‐ und Wohnungspolitik wird oftmals die Abnah‐me  von  Steuerungsmöglichkeiten  beklagt. Durch  die zunehmende  Privatisierung  des Wohnungsbestandes bestände  kaum  mehr  Handlungsfähigkeit  (Münch 2010, 399) und auch ganz allgemein würden die Steu‐erungsansprüche bzw. ‐möglichkeiten der Stadtpolitik im Zuge eines neuen Staatsverständnisses kontinuier‐lich  abnehmen  (Häußermann/Läpple/Siebel  2008, 196). Diese  sicherlich  zutreffende Analyse  zeigt  zum einen  noch  einmal,  dass  das  so  schwierig  zu  errei‐chende Ziel der Nutzungsmischung im Städtebau nicht nur mit  der  zunehmenden  Komplexität  der  diskursi‐ven und materiellen städtischen Bedingungen zu käm‐pfen  hat,  sondern  auch mit  abnehmenden Möglich‐keiten, überhaupt Stadtentwicklung zu steuern (die in Berlin beim Beispiel der Privatisierung von kommuna‐len Wohnungen jedoch hausgemacht sind). 

Die einzige Möglichkeit, das wurde schon wei‐ter vorne betont, Mischung wirklich herzustellen, liegt vermutlich  im kommunalen Wohnungsbau; hier  lässt sich  (potenziell)  Nutzungsmischung  errichten,  und hier  lässt  sich  durch  die  Standortwahl  bezahlbarer Wohnungsbau  in  Lagen  realisieren,  in  denen  sich sonst nur eine kleine Klientel Wohnraum  leisten kön‐nen würde. Schon aus dem Grunde, dass es  in Berlin lange  Zeit  keinen  kommunalen  und  keinen  sozialen Wohnungsbau  mehr  gegeben  hat,  wäre  eine  neue Initiative auf diesem Gebiet ein überaus  spannendes Projekt.  Und  hier  könnte  von  Erfahrungen  profitiert werden,  die  an  anderen  Orten  mit  kommunalem Wohnungsbau  auch neueren Datums  vorliegen.  Eine Konzentration der  IBA 2020 auf die  intelligente Neu‐auflage  von  sozialem  Wohnungsbau  in  Berlin  wäre somit im Grunde die einzig erfolgversprechende Stra‐

tegie  für die Umsetzung zentraler Elemente des klas‐sischen  Mischungsleitbildes.  Dass  Berlin  an  diesem Punkt  im nationalen Vergleich eher „hinten dran“  ist und aufpassen muss, nicht den Anschluss zu verlieren, zeigen  die  vielen  Fallbeispiele,  die  in  der  aktuellen Wüstenrot‐Studie  aufgeführt  werden  (vgl.  z.B.  Har‐lander/Kuhn 2012d, S. 392f.).  

Zumindest zum  jetzigen Zeitpunkt spielt dabei jedoch  das  Leitbild  der  „Urbanen  Mischung“  selbst keine so große Rolle. Da es wenig wahrscheinlich  ist, dass durch eine IBA kommunaler Wohnungsbau in der Dimension  eines Märkischen  Viertels  oder  von Mar‐zahn/Hellerdorf entstehen wird, ist die Feinkörnigkeit (und damit das strukturelle Haupterfordernis von Mi‐schung)  gewissermaßen  schon  im Ansatz erfüllt. Der Forderung  nach  der  „Sozialen  Mischung“  wäre  vor allem  dadurch  zu  entsprechen,  dass  der  neue Woh‐nungsbau nicht in solchen Bereichen realisiert wird, in denen  tendenziell  die  sozial  schwach  gestellten  Be‐wohner_innen  ohnehin  verdrängt  werden.  Falls  es wirklich  gelingen  sollte,  zu  einer Neuauflage  von  so‐zialem  Wohnungsbau  in  Berlin  zu  gelangen,  wäre schließlich  darauf  zu  achten,  dass  nicht  wie  in  den 1980er  Jahren die Nichtförderungsmöglichkeiten von gewerblichen Flächen dazu führen, dass Läden in den Erdgeschoßzonen  verhindert  werden.  Bevor  diese Punkte  jedoch  konkret  angegangen werden  können, steht die Frage, wie ein solcher sozialer Wohnungsbau politisch  überhaupt  durchgesetzt  werden  kann.  Die Frage nach der (anderen) Mischung hängt immer von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und lässt sich an diesem  Punkt daher  auch  erst dann  konkreter bear‐beiten, wenn  auch  das  Projekt  eines  neuen  sozialen Wohnungsbaus  eine  konkretere  Form  angenommen hat.  

Ein  weiteres  Instrument,  das  möglicherweise auch für die IBA 2020 eine Rolle spielen könnte, ist die Einführung  einer  Förderquote  für  sozialen  Woh‐nungsbau bei Neubauprojekten. Dieses seit langem in München erfolgreich erprobte und inzwischen auch in Heidelberg,  Regensburg,  Nürnberg,  Freiburg  und Aachen  angewandte  Instrument  (vgl.  Fallstudie  2  im Anhang)  ist  gerade  zum  jetzigen  Zeitpunkt,  an  dem der private Wohnungsbau  in Berlin wieder Fahrt auf‐nimmt,  ein  unbedingt  überlegenswertes  Instrument der Wohnungspolitik. Bei der Ausgestaltung des För‐deranteils könnte die IBA 2020 ein Laboratorium wer‐den,  das bei der  konkreten Durchführung  von Woh‐nungsbauprojekten Hilfestellung anbietet.  

Zu  vermerken  ist  an diesem Punkt  jedoch  ge‐nerell, dass  sämtliche hier nur  kurz  skizzierten Mög‐lichkeiten  einer Neuauflage  des  sozialen Wohnungs‐baus das klassische Ziel der „Sozialen Mischung“ nicht benötigen.  Sozialer  Wohnungsbau  lässt  sich  auch 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

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anders  (und überzeugender) begründen  als mit dem „dubiosen  Ziel“  von  der  Sozialen  Mischung.  Soziale Stadtpolitik, die gegen die zunehmende Polarisierung der  Stadtbevölkerung  intervenieren  möchte,  ist  auf dessen problematische Semantik nicht angewiesen. 

Randgebiete aufwerten (5) Die Gentrifizierung in den innenstadtnahen Bereichen führt  zu  einer  Verdrängung  von  sozial  schwächer gestellten  Bevölkerungsgruppen  an  die  Ränder  der Städte. In den Beständen der Großsiedlungen aus den 1970er  Jahren  sammeln  sich die Menschen, die  sich das Wohnen  in den  Innenstadt‐ und Gründerzeitvier‐teln  nicht  leisten  können  beziehungsweise  dort  kei‐nen  bezahlbaren  Wohnraum  mehr  finden.  Für  die Ausrichtung der IBA 2020 auf die Großsiedlungen gibt es  gute Gründe. Auch wenn Art  und Weise  einer  fi‐nanziellen Ausstattung  der  IBA  heute  noch  kaum  zu bemessen  sind  –  eine  IBA  bewegt  immer  auch Geld und  lenkt  Investitionen  in den ein oder  in den ande‐ren Bereich. Daher  ist auch unter dem Gesichtspunkt der  „Urbanen  Mischung“  gut  zu  überlegen,  welche Schwerpunktbereiche  für  eine  IBA  ausgewählt  wer‐den. Die Großsiedlungen  in den  städtischen Randge‐bieten  in  den  Fokus  einer  IBA  und  ihrer  Investitio‐nen/Interventionen  zu  stellen, wäre  ein  Ansatz,  der einer sozialen Stadtentwicklung verpflichtet ist. Damit könnte  im Rahmen einer  IBA auch  versucht werden, einem weiteren strukturellen Mangel der gegenwärti‐gen  Städtebauförderungspraxis  entgegen  zu  wirken. Denn hier, darauf wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung  hingewiesen,  hat  der  partizipativ  ausge‐richtete Ansatz  inzwischen dazu geführt, dass Städte‐bauförderungsmittel  oft  dorthin  fließen, wo  sich  am stärksten  dafür  eingesetzt  wird.  Und  das  bevorzugt häufig  die  gut  ausgebildeten  und  durchsetzungsstar‐ken  Mittelschichten  und  deren  Projektideen.  Mit einer  IBA  könnte  versucht  werden,  Beteiligung  und 

Teilhabe  gezielt  dort  zu  fördern,  wo  ein  solch  aus‐drucksstarkes Milieu weniger vertreten ist. 

Ziel  einer  in  dieser Weise  ausgerichteten  IBA sollte  es  jedoch nicht  sein,  ein  traditionelles Urbani‐tätsbild und einen „Zwang zur Mischung“ in die Groß‐siedlungen  zu  importieren.  Aus  Marzahn  lässt  sich kein Prenzlauer Berg machen und Strategien, welche mit  einem  undifferenzierten Nachverdichtungs‐  oder Mischungsideal und der Urbanität der „europäischen Stadt“  punkten  wollen,  ignorieren  tendenziell  die Lebenswirklichkeit  der Großsiedlungen  und  auch  die dort  durchaus  vorhandenen  Qualitäten.  Denn  die Lebenswirklichkeit wird  letztlich nicht durch Planung hergestellt,  sondern  durch  die  alltäglichen  Aneig‐nungspraxen  ihrer  Bewohner_innen.  Interventionen einer  IBA sollten nicht gegen solche Praxen arbeiten, sondern mit  ihnen.  Und  das  funktioniert  wiederum am besten, wenn möglichst große Bereiche der Kon‐zeption,  Planung  und Durchführung  solcher  Projekte selbst  gemacht  sind,  also  im Verantwortungsbereich der Bewohner_innen  liegen. Es  ist ein großer Unter‐schied, ob in einer Großsiedlung nachverdichtet wird, weil  die  Planung  sich  davon  eine  Nachrüstung  von Urbanität verspricht, oder ob – unabhängig, ob dabei eine Nachverdichtung stattfindet oder nicht – Projek‐te  in  Angriff  genommen  werden,  die  sich  aus  den konkreten  Ideen  der  Bewohner_innen  entwickelt haben. Auch bei der Aufgabe, die Randgebiete aufzu‐werten,  besteht  der  Ansatz  eines  anders  gedachten Leitbildes der „Urbanen Mischung“ also vor allem aus einem Verstehen der vorhandenen Mischung und der Initiierung/Ermöglichung  eines  Mitmischens.  Das Prinzip, Planung weitestgehend  in die Hände der Be‐planten  selbst  zu  legen,  ist das eigentliche Erfolgsre‐zept der IBA 1987 gewesen (zumindest der IBA‐alt). Es wäre eine spannende Herausforderung, mit einer IBA 2020  dieses  Prinzip  in  den  randständigen  Bereichen der Stadt zu erproben.  

   

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

ANHANG

 

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Anhang: Steckbriefe 

Steckbrief 1: Zuzugssperre für Ausländer in West‐Berlin 

Am 1.1.1975 wurde vom Berliner Senat eine Zuzugssperre für Ausländer in die Bezirke Kreuzberg, Wedding und Tiergarten beschlossen. Ziel der Maßnahme  war  die  sogenannte  "Entballung",  mit  der  bestehenden „Ghettoisierungstendenzen“  in Viertel mit  einem  „erheblichen Auslän‐derbesatz“ entgegen gewirkt werden sollte  (Reg. Bürgermeister 1980a, 12). Mit der Zuzugssperre sollte also eine bessere soziale und ethnische Mischung  hergestellt werden,  und  zwar  dadurch,  dass Ausländern  die polizeiliche Anmeldung  in den  „belasteten Gebieten“ untersagt wurde. Begründet wurde diese Zielstellung, dass auf die  „stadtplanerischen und kommunalpolitischen Probleme“  in den „Ballungsgebieten in Berlin (West)“ reagiert werden müsse, die sich „infolge der wachsenden Zahl auslän‐discher Arbeitnehmer und ihrer Familien einstellten“ (ebd.). Die Zuzugssperre wurde erst im Jahre 1990 aufge‐hoben, und zwar nicht wegen ihres diskriminierenden Ansatzes, sondern weil festgestellt wurde, dass sie nicht ausreichend wirksam gewesen sei. 

In einem Gutachten der Freien Planungsgruppe Berlin aus dem Jahre 1980 wird das  Instrument Zuzugssperre vehement kritisiert.  Insgesamt werde, so wird hier  formuliert, die soziale Benachteiligung der Ausländer, die letztlich  ihren Ursprung  in deren ökonomischen Situation und dem daraus folgenden Status  innerhalb der so‐

zialen  Schichtung  habe,  durch  weitere  Benachteiligungen  im Bereich  der  Wohn‐  und  Infrastrukturversorgung  verstärkt  fort‐gesetzt  (ebd.  62).  Restriktiven  staatlichen  Maßnahmen  wie  Zu‐zugssperre  und  ähnliche  die  Ausländer  diskriminierende  Verbote würden nicht helfen, die Problematik wirklich zu  lösen.  In diesem Gutachten  wird  auch  die  Frage  der  „freiwilligen“  bzw.  der  „un‐freiwilligen  Segregation“  diskutiert  und  die  „widersprüchlichen Positionen  zur  Frage  sozial  gemischter  oder  homogener  Wohn‐quartiere“  herausgearbeitet  (ebd.  156).  Das  Ziel  einer  geplanten (erzwungenen) räumlichen  Integration, d.h. gleichmäßigen Vertei‐lung der Ausländer über das Stadtgebiet, wird dabei insgesamt ab‐gelehnt  (ebd.  160).  Das  Problem  der  schlechten Wohnraumver‐sorgung  und  der  „Ballung  der  Ausländer“  sei  nicht  durch  einen rechtlichen  Zuzugsstop,  sondern  vielmehr  durch  eine  Aufhebung 

der „faktischen und psychologischen Zuzugssperre“ in die übrigen Bezirke durch Bereitstellung entsprechender Wohnungsangebote zu lösen (1980b, 22). Das Ziel der „Entballung“ selbst wird im Gutachten der FPB allerdings nicht in Frage gestellt.  

Das Instrument Zuzugssperre zeigt die Implikation des Ziels der „Sozialen Mischung“ und die Wirkung von de‐terministischen  begrifflichen Verräumlichungen  wie  „Bal‐lung“/  “Entballung“,  „Auslän‐derbesatz“  oder  „Tragfähig‐keiten“. Auch wenn  eine  Zu‐zugssperre  in  der  aktuellen politischen  Stimmungslage kaum mehr vorstellbar  ist,  ist bei  der  Diskussion  des Leitbildes  der  "Urbanen Mischung"  darauf  hinzuwie‐sen, dass bei jeglichen restrik‐tiven  Mischungsversuchen zentrale  Selbstbestimmungs‐rechte  der  Betroffenen verletzt werden. 

 

Was?   Wer?  Ziel?   Wann? 

Zuzugssperre für drei Berliner Bezirke   Berliner Senat   Soziale/Ethnische Mischung,  „Entballung“  1975‐1990 

 Gutachten, Freie Planungsgruppe Berlin und Prognos, 1980 

 

„Die 1975 verhängte Zuzugssperre  für die drei Bezirke  Wedding,  Tiergarten  und  Kreuzberg hat,  wenn  überhaupt  nur  eine  geringfügige Entlastung  für  die  jeweiligen  Problemgebiete gebracht. Aber abgesehen davon, dass diese in der  Tendenz  die  Ausländer  diskriminierende Maßnahme nur bedingt greift, da ein Großteil der  Ausländerzuzüge  in  diese  Gebiete  infolge der  Familienzusammenführung  davon  auszu‐nehmen  sind,  ist  u.  E.  diese  Maßnahme  der Problemstellung nicht adäquat.“  (Freie Planungsgruppe Berlin 1980, 22). 

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Steckbrief 2: Soziale Bodenordnung, München 

Die  „Sozialgerechte  Bodennutzung“  SoBoN  ist  ein  im  Jahre  1994  vom Münchner  Stadtrat  beschlossenes  Regelwerk  für  den  Abschluss  pla‐nungsbegleitender  städtebaulicher  Verträge  und  Vereinbarungen.  Da‐nach  sind  Planungen mit Werterhöhungen  für  die  betroffenen Grund‐stücke nur dann durchzuführen, wenn die Begünstigten die ursächlichen Kosten  und  Lasten  der  Planung  tragen.  Sie müssen  die  „Förderquote“ von  heute  30  Prozent  (ehemals  40  Prozent)  vertraglich  übernehmen, was  bedeutet,  30  Prozent  der  neu  geschaffenen Wohnbauflächen  für Personen mit besonderem Wohnraumversorgungsbedarf herzustellen  (bei  städtischen Grundstücken beträgt die Förderquote  sogar 50 Prozent). Zudem werden die  Investoren  für den Ausbau der Erschließungsstraßen und örtlichen Grünflächen, die soziale Infrastruktur (in der Regel in Form eines Finanzierungsbeitrags und durch Grundstücksbereitstellung), den Ausgleich für Eingriffe in Natur und Landschaft und Planungskosten sowie die zügige Verwirklichung der Planungen (Baupflicht) verpflichtet.  

Die SoBoN wird dadurch begründet, dass wünschenswerte und erforderliche städtebauliche Planungen  in der Regel mit großen wirtschaftlichen Belastungen für Städte und Gemeinden verbunden seien, die aus den allge‐meinen Haushaltsmitteln nicht vollständig finanziert werden könnten. Daher sollen die Planungsbegünstigten, 

denen  primär  die  Vorteile  in  Form  von  planungsbedingten Grundstückswertsteigerungen  zufließen,  zur  Finanzierung  der Voraussetzungen  und  Folgen  solcher  Planungen  herangezogen werden.  Dafür  werden  bestimmte  Planungsziele  vertraglich  ver‐ankert.  Ein  "angemessener  Teil"  des  planungsbedingten  Wert‐zuwachses soll bei den Planungsbegünstigten verbleiben, damit ein Investitionsanreiz  besteht  und  die  individuellen  Kosten  gedeckt werden können. Mit dem  Instrument SoBoN  soll  für Transparenz der Verhandlungen, Kalkulierbarkeit der Kosten und Bindungen für die Investorenseite und die Stadt sowie für eine Gleichbehandlung 

der Vertragspartnerinnen und ‐partner gesorgt werden. (Landeshauptstadt München 2009).  

Die Sozialgerechte Bodenordnung in München ist (unter anderem) ein Mischungsinstrument, das jedoch nicht bei der restriktiven Mischung von Bevölkerung ansetzt, sondern bei Restriktionen für die privaten Bauherren. Gemischt werden soll mit der SoBoN die soziale Zusammensetzung in Neubaugebieten, eingegriffen wird dafür in die Verwertungspotentiale von Investoren. Mit der Erweiterung der bestehenden planungsrechtlichen Rege‐lungen  um  das  politische  Ziel  eines  bestimmten  Anteils  von geförderten  und  unteren/mittleren  Einkommensgruppen zugänglichen  Wohnungen  soll  Soziale  Mischung  hergestellt werden.  Die  Höhe  der  Förderquote  und  die  Definition  von "preiswerten  Wohnraum"  ist  dabei  Verhandlungsmasse  der stadtpolitischen Zielsetzung  (und diese Themen werden  in der Münchner Stadtpolitik auch  immer wieder diskutiert). Der Pla‐nungsansatz zeigt, wie die Steuerung einer "Sozialen Mischung" mit  den  zu  Verfügung  stehenden  planungsrechtlichen Instrumenten  (insbesondere  mit  städtebaulichen  Verträgen) prinzipiell  möglich  und  erfolgreich  sein  kann.  Mit  der  Aus‐richtung des Münchner Instruments auf Neubauplanungen (und nicht  auf  Bestandssituationen) wird  zudem  deutlich,  dass  die Steuerungsmöglichkeiten  von  sozialer Mischung  vor  allem  in diesem  Bereich  zu  finden  sind. Das  Instrument  SoBoN wurde mit  etlichen  Preisen  (z.B.  im  Jahre  2005  im  Rahmen  des Forschungsprogramms ExWoSt als „Gutes Beispiel“ des Gender Mainstreaming) ausgezeichnet und wurde in einigen deutschen Städten zur Grundlage der Stadtplanung gemacht.  

„Inzwischen  ist nicht nur die Münchner  Stadt‐verwaltung,  sondern  die  gesamte  Münchner Fachwelt einschließlich derer, die  in Grundstü‐cke  investieren,  fest davon überzeugt, ein Mo‐dell  erarbeitet  zu  haben,  das  auch  für  viele Städte  im  In‐  und  Ausland  Vorbildcharakter hat.“  (Landeshauptstadt München 2009, 1). 

Was?   Wer?  Ziel?   Wann? 

Sozialgerechte Bodenordnung   Stadt München   Soziale Mischung, Zugänglichkeit mitt‐lerer Einkommensgruppen   Seit 1994 

  

Landeshauptstadt München (2009). 

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Anhang: Steckbriefe 

 Steckbrief 3: Kirchsteigfeld, Potsdam 

Das Kirchsteigfeld hat eine Größe  von  ca. 60 ha und befindet  sich am Rande des Stadtgebietes  im Südosten Potsdams. Das Kirchsteigfeld war nach 1989 das einzige größere Areal in der Stadt, das kurzfristig für eine Siedlungsergänzung zur Verfügung stand. Bereits in DDR‐Zeiten war hier Wohnungsbau  geplant  gewesen. Das Gebiet wurde  analog  des  in  den 1990er Jahren dominanten Leitbildes der Nutzungsmischung entwickelt und der Versuch unternommen, städtische Funktionen wie Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Erholen miteinander zu vereinen. Das Quartier wurde von einem privaten Investor entwickelt und ist somit als Planung aus einer Hand  zu bezeichnen. Bei der  städtebaulichen Planung wurde versucht, mit Elementen wie Blockrandbebauung, zur Straße hin orientierten Fassadenentwicklung, Gebäude‐höhen und Platzgestaltungen das Bild einer traditionellen europäischen Stadt nachzuempfinden. 

Was?  

 Das Kirchsteigfeld wurde  in das ExWoSt‐Forschungsprogramm „Nutzungsmischung  im Städtebau“ aufgenom‐men und dabei ausführlich untersucht.  Im Endbericht der Untersuchung wird  festgestellt, dass die gewerbli‐chen Nutzungen auf den hierfür vorgesehenen Bauflächen nicht umgesetzt worden  sind. Nutzungsmischung bedeutet  im Kirchsteigfeld  in erster  Linie Mischung  von Wohnungsbau mit den  sozialen und  kommerziellen 

Wohnfolgeeinrichtungen  (Gemeinbedarf,  Handel).  Vor  diesem Hintergrund, so  lautet das Ergebnis der Begleitforschung, könnten Aussagen  zum  Thema  'Nutzungsmischung  im  Städtebau'  nur  be‐grenzte Aussagekraft  zugestanden werden. Die  Erwartungen,  die die  meisten  Bewohner  mit  dem  Leben  im  Kirchsteigfeld verknüpfen,  würden  allerdings  weitgehend  erfüllt:  Als  Zuzugs‐gründe  für die Wahl dieses Wohnortes wurden hauptsächlich die angenehme Atmosphäre, das Grün und die Ruhe genannt. Weiter wird  resümiert,  dass  die  „Voraussetzung  zur  Herstellung  einer sozial gemischten Bevölkerungsstruktur in einem Neubaugebiet ein 

breitgefächertes Wohnungsangebot“  sei,  das  neben  den  unterschiedlichen  Bedürfnissen  der  verschiedenen Bevölkerungsgruppen  auch  die  unterschiedlichen  finanziellen  Verhältnisse  berücksichtigt  (FPB  1999,  121). Durch das Fehlen der "richtigen" Nutzungsmischung (Wohnen und Gewerbe) im Kirchsteigfeld könnten zu der These, dass nutzungsgemischte Gebiete Vorteile  insbesondere  für benachteiligte  Sozialgruppen bringen, nur eingeschränkt Aussagen getroffen werden. Die Annahmen, dass diese Vorteile  in einer stärkeren sozialen Ge‐borgenheit, kürzeren Wegen, günstigeren Versorgungsmöglichkeiten einfacher herstellbaren sozialen Kontak‐ten liegen, konnten nicht empirisch belegt werden (ebd. 118). 

Die Geschichte des  Kirchsteigfelds  zeigt  symptomatisch, dass das  Ziel  eines  lebendigen, durchmischten und pulsierenden  Stadtviertels,  das  so  vielen  aktuellen  Stadtplanungsprojekten  zugrunde  gelegt wird,  bei  soge‐nannten top‐down‐Planungsansätzen schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt ist. Der Bau von städtisch anmutenden Blockrandstrukturen  führt keineswegs automatisch  zu der gewünschten  „Urbanität“. Weiterhin wird offensichtlich, dass einer verordneten Nutzungsmischung deutliche Grenzen gesetzt sind, selbst wenn das Ziel von allen Planungsbeteiligten geteilt wird. Die festgestellte hohe Wohnzufriedenheit im Kirchsteigfeld zeigt aber schließlich auch, dass von den Bewohner_innen selbst häufig ganz andere Prioritäten gesetzt werden. 

 

 Wer?  Ziel?  Wann?  Größe? 

Quartiersentwicklung  Stadt Potsdam, Investor  Nutzungsmischung, Urbane Mischung   Seit 1993  60 ha 

„Die  kleinräumliche  Mischung  aus  Wohnen, Arbeiten und  sozialer  Infrastruktur, wie  sie als Beispiel  der  alten  europäischen  Stadt  immer wieder diskutiert wird, lässt sich unter heutigen Marktbedingungen  nicht  (mehr)  herstellen, wird aber auch von vielen potentiellen Nutzern gar nicht nachgefragt.“  (Gerd Unger 1998, 268). 

   Fotos: (1): Groth‐Gruppe, (2): Potsdam‐Kirchsteigfeld, Am Hirtengraben, L. Schulz, 2005 

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Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Steckbrief 4: Südstadt, Tübingen 

Als  im  Jahre  1991  das  französische  Militär  aus  Tübingen  abgezogen wurde, begannen die Planungen  für das ehemalige Kasernengelände  in der Südstadt zu einem  lebendigen und durchmischten Stadtquartier.  In einem  städtebaulichen Wettbewerb und der darauf aufbauenden Rah‐menplanung  entwickelte  die  Stadt  eine  Konzeption  für  den  neuen Stadtteil, in der von Anfang an eine gemischte, kleinteilige und lebendige Mischung  das  klar  formulierte  Ziel  gewesen  ist.  Das  rechtliche  Instru‐ment  für  die Realisierung wurde  die  Städtebauliche  Entwicklungsmaß‐nahme angewandt, mit der auch der eigentumsrechtliche Zugriff auf das Gebiet sichergestellt worden ist. Bis heute sind in der Südstadt Wohnungen und Gewerbeflächen für ca. 6.500 neue Bewohner und ca. 2.000 neue Arbeitsplätze entstanden. 

Bei der Ausgestaltung des Mischungsziels wurde  in Tübingen  immer betont, dass die gemischte Stadt  insbe‐sondere dadurch herzustellen  sei,  indem Offenheit gegenüber neuen und unterschiedlichen  Lebensstilen er‐möglicht wird. Weitere Schwerpunkte der Planung waren Kooperation  im Stadtteil zwischen Wirtschaft, Me‐dien, Wissenschaft und kulturellen Einrichtungen sowie die Wiederherstellung der öffentlichen Räume als An‐gebot  für das  alltägliche  Zusammenleben. Hinzugefügt wurde dem  Leitbild der  gemischten  Stadt damit das 

Leitbild der solidarischen Stadt und damit der Fokus erweitert: Es ging von Anfang an nicht nur um die Frage der gerechten Vertei‐lung  von Wohnstandorten,  sondern um die  Frage des Zugehörig‐keitsgefühls der verschiedenen Gruppen zum Stadtquartier in einer „zusammengewürfelten  Gesellschaft“  (Feldkeller  1998,  278).  Als Maßstab wurden dabei die Kinder und Jugendliche gesetzt und er‐kundet, was „gerade diese Gruppen mit unseren Plänen“ anfangen können. Insgesamt, so lautet das mit großer Überzeugung vertrete‐ne  Credo  in  Tübingen,  bräuchte  die  gemischte  Stadt  Strukturen, die integrationsfähig, robust, konfliktfähig, weitgehend selbstregu‐lierend, gestaltbar und veränderbar sind“ (ebd.).  

Die  Interpretation  des  Mischungsbegriffs  fällt  bei  der  Tübinger Südstadt  entscheidend  anders  aus,  als  bei  den meisten  anderen Mischungsprojekten aus den 1990er Jahren: Der Schwerpunkt wird weniger auf das „Mischen“, sondern auf ein „Mit‐Mischen“ gelegt. Das  (bauliche) Herstellen  von Mischung  tritt bei diesem wohl  als 

erfolgreichstes Beispiel wahrgenommenen Projekts eines gemischten Städtebaus  in Deutschland stark  in den Hintergrund, fokussiert wird dagegen auf Begriffe wie „Offen lassen“, „Ermöglichen“ und „Anbieten“ sowie auf die Bereitstellung von öffentlichen Räumen (baulich‐räumlichen aber auch diskursiv‐organisatorischen). Deut‐lich wird in Tübingen allerdings auch, dass eine solche Form von Mit‐Mischen nur unter ganz bestimmten Be‐dingungen möglich  ist. Voraussetzungen für den Erfolg  in Tübingen waren unter anderem das Vorhandensein leerstehender Gebäude, die Verfügungsgewalt über die Grundstücke, der Einsatz von erheblichen finanziellen Mitteln, der starke Wille und die Fähigkeit, gegen bestehende planungsrechtlichen Restriktionen zu arbeiten, die Einbindung vielfältiger Akteure und nicht zuletzt eine Verwaltung, die gewillt und  in der Lage war, sich  in den  Planungsprozessen an  bestimmten  Punk‐ten  immer  wieder  zu‐rückzunehmen.  

 

Tübinger Südstadt, Französisches Viertel, Foto: Ramessos, 2007 

Was?   Wer?  Ziel?  Wann?  Größe? 

Quartiersentwicklung  Stadt Tübingen  Nutzungsmischung, Urbane Mischung   Seit 1991  60 ha 

„Das wesentliche Merkmal städtischer Struktu‐ren  ist Vielfalt: Vielfalt  an Nutzungen, Vielfalt an Wohnformen, Vielfalt an Gebäudetypen und Vielfalt  an  sozialen  Gruppen.  In  der  Südstadt entsteht ein Stadtteil, der Kontakte und soziale Netze  ermöglicht,  ein  breites  Spektrum  an Räumen  anbietet  und  für  unterschiedliche Generationen,  soziale  oder  kulturelle Gruppen attraktiv ist. Die Südstadt‐Entwicklung versteht sich  als  Angebot:  viele  Bewohner  profitieren von  einer  vereinfachten Alltagsorganisation  in einer  "Stadt  der  kurzen  Wege"  und  von  der hohen  Dichte  an  sozialen  Einrichtungen  und Angeboten.“  (www.tuebingen‐suedstadt.de). 

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Anhang: Steckbriefe 

Steckbrief 5: Möckernkiez, Berlin 

Die  Möckernkiez  Genossenschaft  für  selbstverwaltetes,  soziales  und ökologisches  Wohnen  eG  wurde  im  Mai  2009  gegründet.  Die  Ge‐nossenschaft hat die Aufgabe, das Baufeld Möckernkiez zu beplanen, zu bebauen  und  schließlich  die Wohnungen,  Gewerbeeinheiten  und  das Gelände  zu  verwalten  und  zu  bewirtschaften.  Sinn  und  Zweck  ist  laut Satzung die Förderung  ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sich‐ere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung.  Insbesondere för‐dert die Genossenschaft gemeinschaftliches, ökologisches, barrierefrei‐es, Generationen verbindendes,  interkulturelles und  selbst bestimmtes Wohnen in dauerhaft gesicherten Verhältnissen.  

Ziel der Genossenschaft ist die Errichtung eines Modellprojekts. Konkret wird darunter die partizipative Errich‐tung eines „autofreien“ Stadtquartiers im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung verstanden. Dabei sollen neben qualitativ hochwertigem Wohnraum auch Räume für gemeinschaftliches und Generationen verbinden‐des Wohnen sowie ein Gewerberiegel entstehen. Das Quartier soll für breite Bevölkerungs‐ und Einkommens‐schichten erschwinglichen Wohnraum bieten. Das am südöstlichen Rand des neuen Gleisdreieck‐Parks gelege‐ne, 30.000 m² große Quartier Möckernkiez umfasst 430 Wohnungen, ein Hotel sowie 2.500 m² Gewerbeflächen 

zur wohnungsnahen Versorgung der Bewohner. Das städtebauliche Konzept wurde  in  einem partizipativen  Prozess unter Beteiligung der zukünftigen Bewohner entwickelt. Seit Bestehen der  Initiative wurde an der sozialen Vision des Projekts gearbeitet. Im Möckern‐kiez soll im Sinne gelebter Nachbarschaft ein „Wohn‐ und Lebens‐raum“ entstehen, in dem sich alle gegenseitig nach ihren Möglich‐keiten  unterstützen,  Jüngere  und  Ältere,  Familien  und  Alleinste‐hende, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit und ohne Migrationshintergrund. Alle Gruppen und Personen sollen gemein‐sam  Aktivitäten  gestalten,  sich  gegenseitig  helfen,  voneinander lernen und dabei erleben, dass jeder und jede wichtig ist.  

Das Projekt Möckernkiez  ist eine Quartiersentwicklung von unten, die nicht aufgrund eines kommunalen Entwicklungsplans oder aus den Planungen eines verwertungsorientier‐ten Investors entstanden ist, sondern aus dem Zusammenschluss einiger Anwohner_innen des Gebietes an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg. Das Mit‐Mischen  ist beim Möckernkiez der konstitutive Faktor, dessen Auswirkungen im bisherigen Projektverlauf direkt ablesbar sind. Die Ziele Nutzungsmischung und Sozia‐le Mischung, die beim Projekt Möckernkiez ebenfalls einen hohen Stellenwert haben, sind  jedoch – trotz des fundamental‐partizipativen Ansatzes – keine Selbstläufer und müssen in aufwändigen und oft auch mühsamen Prozessen  lokaler  Demokratie  ständig  erneuert  werden.  Die  relativ  homogene  sozialen  Herkünfte  der  Ge‐noss_innen, die gleichzeitige Errichtung des Quartiers und der einheitliche übergreifende Genossenschaftsge‐danke stellen die projektierten Mischungsabsichten vor permanente Herausforderungen und unterlaufen häu‐fig das Ziel der „Urbanen Mischung“  (vgl. Häußermann 1996). Dennoch  scheinen  sich beim Möckernkiez die Erfahrungen aus der Tübinger Südstadt zu bestätigen: Je höher der Grad an Eigeninitiative ist, desto eher ist so etwas wie eine geplante und hergestellte  „Urbane Mischung“  tatsächlich erreichbar. Der Baubeginn  für das Projekt,  das  inzwischen  mit  einer  Begleit‐forschung  im  Rahmen  des  ExWoSt‐Pro‐gramms  ausgestattet  ist,  soll  im  Jahre  2013 erfolgen.  

„Wenn ältere Menschen Kinder betreuen, einen Mittagstisch  organisieren,  wenn  gemeinsam gefeiert  wird,  wenn  Hobbys  gemeinsam  ge‐pflegt werden, wenn Menschen  bei  Krankhei‐ten  oder  in  anderen  Belastungszeiten  unter‐stützt  werden,  entsteht  ein  Umfeld,  in  dem soziales Miteinander erlebt und gestärkt wird. Dabei  setzen  wir  auf  das  Prinzip  Geben  und Nehmen  –  jeder  wie  er  kann/jede  wie  sie kann.“  www.moeckernkiez.de 

Was?   Wer?  Ziel?  Wann?  Größe? 

Quartiersentwicklung  Genossenschaft Möckernkiez, Berlin  Nutzungsmischung, Soziale Mischung  Seit 2009  3 ha 

 

Visualisierung Möckernkiez, Loomilux, 2012 

Page 47: Das Leitbild von der 'Urbanen Mischung' · Budapest, 1878 in Dresden und 1879 in Erfurt. Zu Anfang handelte es sich dabei um die rudimentäre Form einer Abstufung der Bebauungsdichte

Studie für die IBA Berlin 2020                                            Das Leitbild von der „Urbanen Mischung“ 

Steckbrief 6: Ørestad, Kopenhagen  

Ørestad  ist ein neuer Stadtteil  in Kopenhagen, der seit dem Jahre 1993 auf  einem  früheren Militärgelände  entwickelt wird. Die  in den  1970er Jahren entwickelten Pläne für eine S‐Bahn‐erschlossene Trabantenstadt für  25.000  EW  waren  aufgrund  wirtschaftlicher  Stagnation  nicht  um‐gesetzt worden.  Im  Zusammenhang mit  dem  Bau  der Øresundbrücke wurden  die  Stadterweiterungsplanungen  in  den  1990er  Jahren  reak‐tiviert. Eine  im städtischen Besitz befindliche, marktwirtschaftlich orga‐nisierte Gesellschaft entwickelte die  Infrastruktur des neuen Stadtteils, die mit dem Erlös des neu erschlossenen Baulandes  finanziert werden sollte. „Urbane Mischung“ findet sich beim Ørestadprojektes kaum als postuliertes Ziel. Die  Implementierung eines größeren Wohnanteils des anfangs vor allem als Bürostandort geplanten Projektes  ist vor allem ein Er‐gebnis der Kritik, die die Planungen in der stadtpolitischen Diskussion in Kopenhagen hervorgerufen haben.  

Das Ørestad‐Projekt ist ein Beispiel für die besonders in den 1990er Jahren aufkommenden Stadtentwicklungs‐projekte der „Urban Regeneration“, mit der in vielen europäischen Städten eine marktförmige Form von Stadt‐planung durchgesetzt worden ist (vgl. Arthur 2007). Diese Form der Stadtentwicklung ist inzwischen vor allem von  sozialwissenschaftlicher Seite aus kritisiert worden. Solche  regelmäßig unter  „Ausschluss der Öffentlich‐

keitsbeteiligung“  (Priebs 2000, 216) geplanten Projekte sind stark abhängig  vom Vermarktungs‐ und Erfolgsdruck der Entwicklungs‐gesellschaft,  die  trotz  der  über  die  jeweiligen  Aufsichtsgremien möglichen politischen  Kontrolle  stets  ein  starkes  Eigenleben  ent‐faltet, das durch den angestrebten wirtschaftlichen Erfolg der Ge‐schäftsführung motiviert  ist (ebd. 218). Der Blick auf das Ørestad‐projekt  zeigt,  dass  das  Ziel  der  „Urbanen Mischung“  im  europä‐

ischen Vergleichskontext deutlich weniger  im Vordergrund steht, als dass das  in Deutschland der Fall  ist  (vgl. BBR 1999a, 32). Zudem wird der Blick auf die marktförmig organisierten städtebaulichen Großprojekte gelenkt.  

Großprojekte wie Ørestad  stehen  für große Veränderungen  innerhalb der Stadtplanung und  sind  inzwischen integraler Bestandteil einer neoliberal orientierten Stadtpolitik, welche die eher traditionellen Umverteilungs‐ansätze weitgehend  ersetzt hat  (Swyngedouw  et  al.  2002,  576f). Das  Streben nach Wachstum und wettbe‐werbsorientierter Entwicklung ist zum führenden Ziel der New‐Urban‐Policy geworden. Tatsächlich haben sol‐che städtischen Großprojekte eine wachsende physische und soziale Fragmentierung in der Stadt bewirkt und Lücken  für  eine  Stärkung des Mittelklassewohnungs‐ und  Konsumptionsmarktes  geschlossen,  aber nicht  für andere, sozial schwächere und/oder Immigrantengruppen der städtischen Bevölkerung. Während der Immobi‐lienmarkt bedient wurde, wurden mit den Großprojekten oft größere soziale Ungleichheit und sozial‐räumlich Fragmentierung  hergestellt.  Die  Etablierung  der  neuen  Strukturen  beinhaltet  regelmäßig  massive  Umver‐teilungen  von  politischer  Macht,  Kompetenz  und  Verantwortlichkeit,  und  zwar  weg  von  den  lokalen  Re‐gierungen hin zu exklusiven Partnerschaften. Dieser Prozess kann als „Privatisierung der Stadtpolitik“ beschrie‐ben werden (ebd.). Der Trend zum netzwerkorientierten Ansatz der Urban‐Regeneration‐Projekte wird oftmals als bottom‐up‐Planung mit partizipatorischen Dynamiken dargestellt. Eine solche Art von Partizipation ist aller‐dings auf ausgewählte Experten begrenzt (Architekten, Planer, Ökonomen, Ingenieure), die an Einfluss gewin‐nen, während nicht ‐professionelle und weniger machtvolle Gruppen ausgeschlossen bleiben (ebd.). 

 

Was?   Wer?  Ziel?  Wann?  Größe? 

Quartiersentwicklung  Ørestad  Urban Regeneration  Seit 1995  310 ha 

„Befürchtet  wird  insbesondere,  dass  der  Ver‐marktungsdruck  zu einer Aufweichung der auf eine Mischung von Wohn‐ und Dienstleistungs‐funktionen abzielenden Konzeption führen wer‐de.“, Axel Priebs 2000, 218 

 Ørestad, Fotos: N. Roskamm, 2012