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96 Die möglicherweise ältesten Artefakte in Nordrhein-West- falen, aus dem Kartstein-Travertin, könnten 300000 Jahre alt sein, und der älteste, hinreichend sicher datierte Sied- lungsplatz, Rheindahlen, ist 200 000 Jahre alt. Nordrhein- Westfalen wurde also erst sehr spät, zwischen 300 000 und 200 000 Jahren vor heute, zum Handlungsort der Mensch- heitsgeschichte. Die zwei oder drei Jahrhunderttausende, die das Paläolithikum in unserem Land umfasst, sind zu dem noch sehr lückenhaft erforscht. Aus der vorletzten Kaltzeit, der letzten Warmzeit und dem Beginn der letzten Warmzeit (insgesamt der Zeitraum von 170 000 bis 60 000 vor heute) gibt es keine sicheren Nachrichten. Erst das späteste Mittelpaläolithikum (60 000 – 40 000 vor heute) ist mit mehreren Fundplätzen gut vertreten, darunter dem berühmten Neandertal-Fundort selbst. Aus der Zeit des frühen Jungpaläolithikums kennen wir nur zwei und aus dem mittleren Jungpaläolithikum kaum einen sicheren Fundort. Danach, während des Maximums der letzten Kaltzeit (28 000 – 18 000 vor heute) blieb Nordrhein-West- falen wohl 10000 Jahre siedlungsleer, wie ein großer Teil Mitteleuropas ebenso. Das späte Jungpaläolithikum ist mit einigen Magdalénien-, und vielen Azilien- und Ahrensbur- ger Fundplätzen dann am zahlreichsten vertreten, und so scheint es, dass Nordrhein-Westfalen seit immerhin 15 000 Jahren ununterbrochen besiedelt ist. Wird es irgendwann wieder unbewohnbar sein, wie so oft während des Alt- und Mittelpaläolithikums und während des frühen Jungpaläoli- thikums? Fast scheint es so … Das Altpaläolithikum (2,5 Mio.–300 000 Jahre vor heute) Die frühesten Vertreter der Gattung Mensch und die ältesten Werkzeuge der Menschheitsgeschichte wurden in Ostafrika gefunden und sind etwa 2,5 Mio. Jahre alt. Die Gattung Mensch entstand im Osten Afrikas und hat sich von dort über das übrige Afrika und nach Eurasien ausgebreitet. Die älteste Anwesenheit des Menschen in Eurasien ist im südlichen Kaukasusvorland, am Fundplatz Dmanisi in Jürgen Richter Das Paläolithikum in Nordrhein-Westfalen

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Die möglicherweise ältesten Artefakte in Nordrhein-West-falen, aus dem Kartstein-Travertin, könnten 300 000 Jahrealt sein, und der älteste, hinreichend sicher datierte Sied-lungsplatz, Rheindahlen, ist 200 000 Jahre alt. Nordrhein-Westfalen wurde also erst sehr spät, zwischen 300 000 und200 000 Jahren vor heute, zum Handlungsort der Mensch-heitsgeschichte. Die zwei oder drei Jahrhunderttausende,die das Paläolithikum in unserem Land umfasst, sind zudem noch sehr lückenhaft erforscht. Aus der vorletztenKaltzeit, der letzten Warmzeit und dem Beginn der letztenWarmzeit (insgesamt der Zeitraum von 170 000 bis 60 000vor heute) gibt es keine sicheren Nachrichten. Erst das späteste Mittelpaläolithikum (60 000–40 000 vor heute) istmit mehreren Fundplätzen gut vertreten, darunter demberühmten Neandertal-Fundort selbst. Aus der Zeit des frühen Jungpaläolithikums kennen wir nur zwei und ausdem mittleren Jungpaläolithikum kaum einen sicherenFundort. Danach, während des Maximums der letztenKaltzeit (28 000–18 000 vor heute) blieb Nordrhein-West-falen wohl 10 000 Jahre siedlungsleer, wie ein großer TeilMitteleuropas ebenso. Das späte Jungpaläolithikum ist miteinigen Magdalénien-, und vielen Azilien- und Ahrensbur-ger Fundplätzen dann am zahlreichsten vertreten, und soscheint es, dass Nordrhein-Westfalen seit immerhin 15 000Jahren ununterbrochen besiedelt ist. Wird es irgendwannwieder unbewohnbar sein, wie so oft während des Alt- undMittelpaläolithikums und während des frühen Jungpaläoli-thikums? Fast scheint es so …

Das Altpaläolithikum (2,5 Mio.–300 000 Jahre vor heute)

Die frühesten Vertreter der Gattung Mensch und die ältestenWerkzeuge der Menschheitsgeschichte wurden in Ostafrikagefunden und sind etwa 2,5 Mio. Jahre alt. Die GattungMensch entstand im Osten Afrikas und hat sich von dortüber das übrige Afrika und nach Eurasien ausgebreitet.

Die älteste Anwesenheit des Menschen in Eurasien istim südlichen Kaukasusvorland, am Fundplatz Dmanisi in

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Georgien, nachgewiesen. Die Hominiden der Art Homoergaster, die Faunenreste und Steinwerkzeuge dürften dortkaum weniger als 1,8 Mio. Jahre alt sein. Im östlichen TeilAsiens belegen Funde, dass der Mensch diese Region vormindestens 1 Mio. Jahren erreichte. Seine Ausbreitungerfolgte demnach von Nordostafrika über den VorderenOrient und den Kaukasus zunächst nach Asien.

Der älteste Menschenfund in Europa dagegen stammtvon der Iberischen Halbinsel und dürfte „nur“ etwa780 000 Jahre alt sein. Er wird der Art Homo antecessorzugerechnet und stammt aus der Gran Dolina von Ata-puerca (Abb. 45).

Abb. 45 Zeittafeldes Eiszeitalters mitKaltzeiten (blaueZiffern) und Warm-zeiten (rote Ziffern)

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In Mitteleuropa, nördlich der großen Gebirgszüge derAlpen und der Pyrenäen, markiert der Menschenfund ausden unteren Sanden von Mauer bei Heidelberg den frühe-sten Nachweis der Anwesenheit des Menschen und damitden Beginn der Altsteinzeit (Paläolithikum) in unsererRegion. Seine Datierung kann auf die Zeit der Tiefseesta-

Abb. 46 Hoch-dahl/Kreis Mett-mann. Faustkeil ausQuarzit; mit seinersinusförmigenArbeitskante ist ervielleicht einer derältesten Faustkeilein Nordrhein-West-falen. Das Stück istim RheinischenLandesMuseumBonn ausgestellt.

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dien 13 oder 15 eingegrenzt werden und liegt damit zwi-schen 700 000 und 500 000 Jahren. Im Mittelrheingebietist das etwa in die gleiche Zeit datierte (wohl in das Tiefsee-stadium 14, um 600 000 vor heute) Kärlich G mit seinen14 Steinartefakten das älteste gesicherte Artefaktinventar.

Für diesen ältesten Abschnitt des Paläolithikums, für dasfrühe Altpaläolithikum also, fehlt im Gebiet von Nord-rhein-Westfalen jeglicher Beleg für die Anwesenheit desfrühen Menschen. Vermeintliche Steinwerkzeuge, die ausdieser Zeit stammen sollten, haben sich inzwischen alsPseudoartefakte erwiesen oder blieben in ihrem Artefakt-charakter zumindest unklar.

Auch aus der Zeit um 400 000 Jahre vor heute, demspäten Altpaläolithikum, aus der uns die Menschenfundevon Bilzingsleben/Sachsen-Anhalt und die weltweit ältes-ten Holzspeere von Schöningen/ Niedersachsen über-liefert sind (Tiefseestadium 11), fehlt in Nordrhein-West-falen noch der zuverlässige Beweis einer Besiedlung durchden frühen Menschen. Doch es gibt einen ersten, unsiche-ren Hinweis für dieselbe oder die nächstjüngere Warmzeit(Tiefseestadium 9, um 300 000 vor heute): Vielleicht gehö-ren die Artefaktfunde aus dem Kartstein-Travertin in diesenZeitabschnitt. Wenn sie wirklich so alt sind wie angenom-men wird, wären sie die ältesten Artefakte in Nordrhein-Westfalen.

Auch die 1928 von H. Reim ausgegrabenen Fundstückeaus Hochdahl, ein großer Faustkeil (Abb. 46), ein ein-facher Abschlag und ein Cleaver-ähnliches Artefakt, sindKandidaten für diesen Zeitabschnitt, in dem die mittel-paläolithische Levalloismethode noch unbekannt war.

Abgesehen von den unsicheren Vorkommen am Kart-stein und aus Hochdahl scheint das Altpaläolithikum inder Besiedlungsgeschichte von Nordrhein-Westfalen voll-ständig zu fehlen.

Frühes Mittelpaläolithikum (300 000–125 000 vor heute)

Mit dem Beginn des Mittelpaläolithikums treten standardi-sierte Techniken zur Steinwerkzeugherstellung nach festenRezepturen auf, deren berühmteste nach einem Fundortbei Paris „Levallois“-Konzept genannt wird. Die Werkzeu-ge selbst zeigen ebenfalls eine Anzahl standardisierterimmer wiederkehrender Formen. Eine Merkwürdigkeit desMittelpaläolithikums besteht darin, dass alle wesentlichenTechniken und Formen schon ganz am Anfang erfundenwurden, um zu späteren Zeiten an verschiedenen Ortenwieder zu verschwinden und erneut aufzutauchen, wieeine technische Bibliothek, die bei Firmengründung ange-

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schafft wurde und von der immer einmal wieder der eineoder andere Band benutzt wurde.

Um 300 000 vor heute, also in den Beginn des Mittel-paläolithikums, datiert wohl eine einzelne steinerne Klinge, die E. Kahrs 1927 in Essen-Vogelheim in einerSchicht unterhalb der Grundmoräne fand (s. Abb. 70,Abb. 71). Weil die Grundmöräne zur Zeit des größten Vor-stoßes des nordischen Inlandeises, zu Beginn der Saale-Vereisung etwa 300 000 Jahre vor heute, abgelagert wur-de, muss diese Klinge mindestens so alt oder älter als300 000 Jahre sein. Allerdings wurden die Fundverhält-nisse nicht detailliert dokumentiert und auch eine Ausgra-bung hat nie stattgefunden.

Wenn Nordrhein-Westfalen wirklich schon um 300 000vor heute von Menschen aufgesucht wurde, dann handel-te es sich um Zeitgenossen der so genannten Frau vonSteinheim (Steinheim a. d. Murr/Baden-Württemberg), alsodes späten Homo heidelbergensis, am Übergang zur Liniedes Prä-Neandertalers.

Der erste zweifelsfreie Beleg für die Besiedlung desGebietes von Nordrhein-Westfalen durch den Menschensind sicherlich die zahlreichen Artefaktfunde aus Mön-chengladbach-Rheindahlen. Hier wurde durch moderneAusgrabungen innerhalb einer detailliert dokumentiertenund analysierten Lössstratigraphie eine Serie von aufeinan-der folgenden Lagerplätzen nachgewiesen. Die ältesten,sehr spärlichen Funde in Rheindahlen (Fundschichten B4,B5, C1 und D1) datieren mindestens in eine Zeit vor oderzu Beginn der vorletzten Warmzeit um 200 000 vor heute.Die Fundschicht B3 bildet mit mehreren zehntausendenFundstücken den ältesten sicheren Nachweis einer in situerhaltenen Siedlungsfläche des prähistorischen Menschenin Nordrhein-Westfalen. Sie gehört entweder in die vor-letzte Kaltzeit, zwischen 200 000 und 125 000 vor heute,oder in die vorletzte Warmzeit um 230 000 bis 210 000vor heute.

Mit ihren sehr sorgfältig hergestellten Schabern undSpitzschabern ähnelt das Inventar B3 sehr dem benach-barten, vielleicht zeitgleichen Fundplatz von Maastricht-Belvedere (OIS 7). Die Menschen dieser Zeit stehen amÜbergang der Homoheidelbergensis-Linie zu den archai-schen Sapiensformen oder den Neandertalern. Manbenennt sie daher als Prä-Neandertaler. Beispiele sind dieFunde von Biache/Frankreich und Weimar Ehringsdorf/Thüringen.

In der nach oben folgenden Fundschicht B2 von Rhein-dahlen fand sich der bekannte, schöne Micoquekeil mitseiner wechselseitig-gleichgerichteten oder auch plankon-vexen/plankonvexen Überarbeitung. Trotz der Namens-verwandtschaft sind Micoquekeile nicht auf das Mico-

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quien (eine kulturelle Einheit des späten Mittelpaläolithi-kums) beschränkt, sondern sie kommen auch im frühenMittelpaläolithikum vor.

Darüber liegt die Fundschicht B1, die wegen ihrerbesonderen Technologie bekannt geworden ist, ja sogarnamengebend für eine eigene kulturelle Einheit sogenannten Inventartyp Rheindahlen sein soll. DieBesonderheit dieser Fundschicht liegt in der Herstellunglang gestreckter Klingen, die im Mittelpaläolithikum sehrviel seltener vorkommt als die Abschlagproduktion. Manhat oft versucht, die mittelpaläolithischen Klingenindus-trien als fortschrittliche, also späte Elemente zu interpretie-ren oder doch wenigstens als chronologisch besonderskennzeichnende Industrien, die auf einen engen Zeithori-zont um 100 000 vor heute beschränkt wären. Allerdingsließ sich dies nicht aufrechterhalten, weil verschiedeneKlingenkonzepte im gesamten Mittelpaläolithikum vor-kommen. Die Fundschicht B1 gehört nach ihrer stratigra-phischen Position entweder an den Beginn der letztenKaltzeit, um 100 000, oder sie ist doppelt so alt und gehörtin einen jüngeren Abschnitt der gleichen Warmzeit wie dieFundschicht B3. Die oberen Fundschichten, A1, A2 undA3, stellen keine geschlossenen Fundkomplexe dar, siesind offenbar überwiegend verlagert und lassen sich daherkeinem Zeithorizont zuweisen.

Die beiden Datierungsalternativen, die für die Interpre-tation der beiden Hauptfundschichten B1 und B3 so störend sind, ergeben sich dadurch, dass zwei verschiede-ne geochronologische Modelle für die Datierung vonRheindahlen existieren. Das erste, traditionelle Modellnimmt an, dass in Rheindahlen insgesamt vier Bodenkom-plexe vorliegen, die unsere jetzige, die letzte, die vorletz-te und die vorvorletzte Warmzeit dokumentieren, wobeidie vorhandenen Bodenhorizonte von oben nach untenabgezählt werden. Voraussetzung für eine solche Datie-rung nach der „Abzählmethode“ wäre, dass das Profil denKlimaverlauf der letzten 200 000 oder 300 000 Jahre voll-ständig wiedergibt und jeder Warmzeit wirklich genau einBodenhorizont entspräche. Beides bestreiten die Befür-worter des zweiten, neueren Modells: Dieses nimmt an,dass der obere Teil der Abfolge weitgehend unvollständigist und die unteren drei Bodenkomplexe inklusive allerFundschichten und Zwischenlagen zusammen in eine ein-zige, nämlich die vorletzte Warmzeit gehören.

Hätte man die Artefakte von Rheindahlen nicht in plan-mäßiger Ausgrabung und im stratigraphischen Kontextzutage gefördert, dann hätte man sie lediglich allgemein,also ohne genauere Eingrenzung, in das Mittelpaläolithi-kum datieren können. Alle technologischen und formen-kundlichen Merkmale der Rheindahlener Artefakte kön-

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nen, wie datierte Vergleichsfunde aus ganz Europa zeigen,im gesamten Mittelpaläolithikum vorkommen, also imgesamten Zeitraum zwischen 300 000 und 35 000 vorheute. Der archäologische Vergleich kann also zur Datier-ung der Fundschichten nicht viel beitragen, und deshalbist es so wichtig, wie die von den Geowissenschaftlerngeführte Diskussion um die beiden Datierungsmodelle fürRheindahlen ausgeht.

Gleich, welchem Datierungsmodell man den Vorzuggeben möchte: Für den Zeitraum zwischen 230 000 und125 000 vor heute, also für die vorletzte Warmzeit und dieanschließende, vorletzte Kaltzeit, nehmen die Funde vonRheindahlen in Nordrhein-Westfalen eine einzigartigeStellung ein, wenn nur einigermaßen sicher datierte undzuverlässig dokumentierte Vorkommen betrachtet werden.

Legt man einen weniger strengen Maßstab an, dannkommen für den gesamten Zeitraum des frühen Mittelpa-läolithikums vor allem jene Fundplätze hinzu, an denenregelmäßig gearbeitete Faustkeile nachgewiesen sind, wiesie im französischen Acheuléen supérieur in dieser Zeitbesonders häufig vorkommen. Das wären vielleicht einigeFunde von Ratingen und Troisdorf-Ravensberg. WeitereKandidaten sind die beiden Faustkeile von Erkrath, derFaustkeil von Elmpt, der Faustkeil von Erkelenz (Veil 39), ein Teil der Oberflächenfunde von Körrenzig undeine ganze Reihe von Faustkeilfunden aus Westfalen.Doch sind die diese Vorkommen undatiert und entwederEinzelfunde oder in ihrer Zusammengehörigkeit unsichereFundserien.

Nimmt man alle sicheren und unsicheren Funde ausdem frühen Mittelpaläolithikum zusammen, so muss manannehmen, dass Nordrhein-Westfalen immer wieder fürlange Zeiträume, insbesondere während der Kaltzeiten,unbesiedelbar war. Die Gattung Mensch hatte wohl imMittelmeergebiet und in Südwestfrankreich jahrtausende-lang überdauert und sich nur (in Zeiten des Populations-wachstums) gelegentlich bis in unsere Breiten herausge-wagt, vielleicht auch nur für kurze Perioden von jeweilswenigen Jahrhunderten. Menschenleere Landschaftenwaren die Regel, die Anwesenheit von Menschen bildetedie seltene Ausnahme.

Spätes Mittelpaläolithikum (125 000–35 000 vor heute)

Das späte Mittelpaläolithikum ist die Zeit der Neanderta-ler. Die ältesten Vertreter dieser Art im engeren Sinne (dieGrenzziehung zwischen frühen und typischen Neanderta-lern wird von verschiedenen Forschern unterschiedlich

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vorgenommen) stammen aus der Fundstelle Krapina inKroatien und datieren in den Beginn der letzten Warmzeit.

Die Neandertaler dieser letzten Warmzeit (125 000–115 000 vor heute) und die Überreste ihrer Aktivitätenkennen wir vor allem von Freilandfundstellen im Travertinund in Beckenfüllungen, weniger häufig aus Höhlen. IhreUmwelt war geprägt von einem dem heutigen ähnlichenKlima und einer Waldlandschaft mit klimatisch anspruchs-voller Fauna, wie Auerochse, Reh, Rothirsch und Wild-schwein. Dazu kamen Waldelefant und Waldnashorn. Diewaldbewohnenden Tiere lebten relativ standorttreu als Ein-zelgänger oder in kleinen, weit verstreuten Herden. Sodürften auch die Menschen in kleinen, weit verstreutenGruppen gelebt haben, die innerhalb relativ kleiner Terri-torien hoch mobil waren.

Leider gibt es keinen einzigen sicheren Nachweis fürdie Anwesenheit des Menschen in Nordrhein-Westfalenwährend der Eem-Warmzeit, obwohl es natürlich unwahr-scheinlich ist, dass er sich gerade zu dieser klimagünstigenZeit nicht hier aufgehalten haben sollte.

Vielleicht gehört ein Teil der spärlichen Funde aus demunteren Fundkomplex der Balver Höhle (Balve I mit denSchichten 6 und 5) hierher. In der Schicht 6, ganz unten inder Abfolge, konnten Pollen von Hasel, Erle und Linde,also die Reste einer warmzeitlichen Waldvegetation nach-gewiesen werden, zusammen mit Resten vom Höhlenbär.Direkt darüber, in Schicht 5, ist aber neben dem Höhlen-bären schon das Wollhaarige Nashorn belegt, das in diekaltzeitliche Steppe gehört und damit in eine Zeit nach70 000 vor heute. Einige der wenigen Steingeräte aus demKomplex Balve I könnten also vielleicht aus der letztenWarmzeit stammen, ein größerer Teil dürfte allerdingserheblich jünger sein. Insgesamt wissen wir daher über dieEem-Warmzeit in Nordrhein-Westfalen so gut wie nichts.

Ab 115 000 vor heute kühlte sich das Klima immer wei-ter ab. Die letzte Kaltzeit hatte begonnen. Das Klima wur-de trockener und die langen Winter erlaubten nur kurzeVegetationsperioden. Über lange Zeiträume hinweg warMitteleuropa kein Lebensraum mehr für den Menschen.

Während des frühen Abschnittes der Weichsel-Kaltzeitkam es jedoch noch zweimal zu lang andauernden Perio-den eines gemäßigten Klimas, den so genannten Früh-weichsel-Interstadialen, in denen sich Nadelwälder inMitteleuropa ausbreiteten. In diesen beiden großen Inter-stadialen dürfte sich die Neandertaler-Population Mittel-europas, die während der Kälteperioden arg geschrumpftwar, jeweils wieder regeneriert haben. Dies zeigen zumBeispiel die Funde aus den unteren Schichten der Sessel-felsgrotte in Neuessing bei Kelheim/Bayern oder der Kul-na-Höhle bei Sloup in Mähren. Am Mittelrhein gibt es aus

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der frühen Weichsel-Kaltzeit Siedlungsplätze des Nean-dertalers, so beispielsweise das Lager der Wisentjäger vonWallertheim/Rheinhessen oder jenes in der Kratermuldedes Tönchesberg/Neuwieder Becken; ihre Umgebungprägten allerdings nicht oder nicht nur Nadelwälder, son-dern auch Steppenlandschaften (Abb. 47). Wie sich diesemittelrheinischen Steppenvorkommen in die Vegetations-geschichte des Frühglazials (115 000–70 000 vor heute)einfügen, scheint noch unklar.

Zur gleichen Zeit ist im Nahen Osten der anatomischmoderne Mensch, der um 200 000 vor heute in Ostafrikaentstanden war, erstmals in Eurasien nachweisbar. Europablieb jedoch für weitere 60 000 Jahre alleiniger Lebens-raum der Neandertaler.

Nordrhein-Westfalen kann bislang zu dieser Problema-tik nichts beitragen. Aus der Zeit des Weichsel-Frühglazi-als fehlt jeder datierte Beleg.

Um 71 000 vor heute ereignete sich eine der größtenNaturkatastrophen der jüngeren Erdgeschichte. Ein gewal-tiger Ausbruch des Toba-Vulkans in Indonesien hat wohlzu einer jahrzehntelangen, hohen Aschekonzentration inder Erdatmosphäre geführt und damit die Klimaver-schlechterung während des Frühglazials noch beschleu-nigt. Zwischen 70 000 und 60 000 vor heute herrschten inMitteleuropa arktische Klimaverhältnisse. Während jenesersten Kältemaximums der letzten Kaltzeit dürfte derMensch in Mitteleuropa ausgestorben sein.

Nach dem ersten Kältemaximum folgte das so genann-te Interpleniglazial, die Zeit zwischen 60 000 und 28 000vor heute die durch eine ganze Reihe sehr „schnell“ (imgeologischen Zeitmaßstab „schnell“) aufeinander folgen-den Warm- und Kaltphasen geprägt war. In diesem Zeit-raum muss Mitteleuropa mehrfach entvölkert und wiederaufgesucht und besiedelt worden sein. Mindestens fünf Interstadiale sind für diesen Abschnitt nachgewiesen,der in seinem ersten Teil, bis etwa 40 000 vor heute, ins-gesamt etwas klimagünstiger war als in seinem zweiten(40 000–28 000 vor heute). In diesem zweiten Teil (um35 000 vor heute) endete das Mittelpaläolithikum und dieNeandertaler verschwanden. Seitdem sind sie ausgestor-ben und die anatomisch modernen Menschen erreichtenauf ihrem Ausbreitungsweg, der in Ostafrika begonnenund um 100 000 vor heute Israel berührt hatte, vor mehrals 30 000 Jahren schließlich Europa.

Im letzten Abschnitt des späten Mittelpaläolithikumslassen sich zum ersten Mal in der europäischen Mensch-heitsgeschichte Serien von Artefakten nachweisen, dieeinen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit kenn-zeichnen und damit benachbarte, regional unterschied-liche Traditionszonen anzeigen. Dies sind die Artefakte

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des MtA (Moustérien de tradition acheuléenne) in Westeu-ropa und die des mitteleuropäischen Micoquien (auchKeilmessergruppen bzw. KMG genannt) in Mitteleuropa.Die Verbreitungsgebiete von MtA und Micoquien über-schneiden sich zwar, aber das MtA hat doch einen deut-lichen linksrheinischen Schwerpunkt, das Micoquien hin-gegen einen rechtsrheinischen.

Zu dem Repertoire der Menschen, die wir mit demmitteleuropäischen Micoquien verbinden, gehört nebenden üblichen mittelpaläolithischen kantenretuschierten,an Abschlägen angelegten Werkzeugen eine Reihe flächig

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Abb. 47 ZweimittelpaläolithischeJäger durchstreifendie Landschaft.

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formüberarbeiteter Werkzeuge mit plankonvexen Quer-schnitten. Dazu zählen Keilmesser, Faustkeilblätter, Blatt-spitzen, blattförmige Schaber, seltener auch Faustkeile undFäustel. Gut datierte Inventare dieser Art gibt es in Lichten-berg, Salzgitter-Lebenstedt, im G-Komplex der Sesselfels-grotte und in der Schicht 7a der Kulna-Höhle.

Fundensembles mit Kombinationen der genanntenWerkzeugformen sind in Nordrhein-Westfalen recht häu-fig. Viele ansonsten nicht datierbare Sammel- und Oberflä-chenfunde in Nordrhein-Westfalen dürften ebenfalls zumMicoquien gehören. Wahrscheinlich stammen mehr als90 % aller mittelpaläolithischen Funde in Nordrhein-West-falen aus der Zeit des Interpleniglazials. Neben Siedlungs-plätzen, meist in Höhlen und Grotten, und vermutlichenJagdplätzen, meist Freilandstationen, gibt es auch ausge-dehnte Feilandfundstellen, an denen Gesteinsrohmaterialgesammelt und vor Ort verarbeitet wurde, wie zum Bei-spiel auf dem Ravensberg bei Troisdorf oder auf der Noll-heide bei Bielefeld.

In Nordrhein-Westfalen kennen wir darüber hinauszwei stratifizierte Vorkommen des mitteleuropäischenMicoquien: die Balver Höhle im Sauerland und der Kart-stein in der Eifel. Beide Vorkommen bedürfen noch einergenaueren Datierung. Die Tierarten, die mit den Artefaktenzusammen gefunden wurden, gehören aber der kaltzeit-lichen Mammutsteppe an, wie sie in allen fünf größerenInterstadialen des Interpleniglazials belegt ist. Pferd undRen waren die wichtigsten Jagdtiere, begleitet von Mam-mut und Wollnashorn.

Berühmtester Fund dieses Zeitabschnittes ist der Nean-dertaler aus dem Düsseltal selbst, der mittlerweile aufetwa 40 000 vor heute datiert werden konnte. Aus demAbraum der Grabungen des 19. Jh. wurden eine ganzeReihe von Micoquien-artigen Werkzeugen geborgen,deren Zugehörigkeit zu den Skelettresten zwar nicht ge-sichert ist, die Fundstelle des Neandertalers aber dennochunter die Micoquien-Vorkommen im Rheinland einreiht.Ob auch der Neandertaler von Warendorf in diese Zeitgehört, wissen wir nicht.

Nordrhein-Westfalen liegt zusammen mit dem belgi-schen Höhlengebiet an der westlichen Peripherie desmitteleuropäischen Micoquien. So ist es nicht weitererstaunlich, dass in Nordrhein-Westfalen auch vereinzelteFunde aus dem benachbarten, westeuropäischen MtA auf-getreten sind: dreieckige, blattförmige Faustkeile mitschneidender Basispartie aus Ternsche, Haltern und derBarmer Heide. Es mag also in dieser wechselhaften Zeitdes spätesten Mittelpaläolithikums Perioden gegebenhaben, in denen Nordrhein-Westfalen zur westeuropäi-schen Traditionszone gehörte. Das späte Mittelpaläolithi-

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kum endete in Mitteleuropa am Ende der dritten wärmerenPhase des Interpleniglazials, also um 40 000 vor heute.

Frühes und mittleres Jungpaläolithikum (40 000–18 000 vor heute)

Der Übergang vom Mittelpaläolithikum zum Jungpaläoli-thikum war wohl die größte Umwälzung der gesamtenMenschheitsgeschichte. Vielfach wird diese Umwälzungdeshalb auch als „Jungpaläolithische Revolution“ bezeich-

Abb. 48 Datteln/Kreis Reckling-hausen. Elfenbein-spitze aus demGravettien (?)

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net, wobei allerdings zu bedenken ist, dass es sich in Wirk-lichkeit um einen jahrtausendelangen Prozess gehandelthaben muss.

An seinem Ende lebte nur noch der anatomisch moder-ne Mensch in Europa. Er verfügte über eine Steinindustrie,die auf Serien gleichartiger Klingen aufgebaut war, undüber eine große Vielfalt von Knochenwerkzeugen. Dazukamen Schmuckformen und – als größte Neuerungen – dieersten Kunstwerke, die sowohl in der Gestalt von Kleinpla-stiken als auch in Höhlenmalereien ihren Ausdruck fanden.

Das Jagdwild der frühen Jungpaläolithiker und ihreLebensumwelt entsprachen weitgehend den Verhältnissen,wie wir sie aus den Lebzeiten der letzten Neandertalerkennen; sie können folglich nicht ursächlich für die radi-kalen Veränderungen des kulturellen Repertoires sein. Dieeinfachste Erklärung für die „Jungpaläolithische Revolu-tion“ in Europa wäre, dass die ersten modernen Menschensie mitgebracht oder ausgelöst hätten, als sie über denNahen Osten nach Europa einwanderten.

Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass dasJungpaläolithikum schon bald nach 40 000 vor heutebeginnt, die ältesten Funde des anatomisch modernenMenschen in Europa aber erst um 34 000 vor heute (OaseCave/Rumänien) bzw. 32 000 vor heute (Mladec/Tschechi-sche Republik) datieren. Es fehlen uns also noch Belege fürihre Anwesenheit aus der Zeit zwischen 40 000 und34 000/32000 vor heute. Solange sie nicht gefunden sind,kommt auch noch der Neandertaler als Urheber des Jung-paläolithikums in Frage.

Am Beginn des Jungpaläolithikums steht in Mitteleuro-pa das Aurignacien. Das Aurignacien ist nach dem Fund-ort Aurignac in Frankreich benannt. Es begann in einer kal-ten Zeit zwischen zwei gemäßigteren Klimaphasen (nach40 000 vor heute) und endete in der zweiten dieser beidenPhasen (um 30 000 vor heute). In Nordrhein-Westfalen istes mit drei Fundpunkten vertreten, nämlich an der Karst-steinhöhle (hier mit einer Knochenspitze), an der BalverHöhle (einige umgelagerte Artefakte) und bei Weilerswist-Lommersum/Kreis. Euskirchen mit einem großen, moderngegrabenen Freiland-Lagerplatz, wo Rentiere und Pferdegejagt wurden.

Im anschließenden mittleren Jungpaläolithikum, in demdie Speerschleuder erfunden wurde, muss das Klimaimmer rauer und eingehend damit die Besiedlung immerdünner geworden sein, bis Mitteleuropa zwischen 28 000und 18 000 vor heute praktisch siedlungsleer war. Wahr-scheinlich gehören einige Einzelfunde aus Bonn und dieElfenbeinspitze von Datteln (Abb. 48) in die Zeit des Gra-vettien (nach dem Fundort La Gravette in Frankreich), alsokurz vor die siedlungsleere Periode.

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Rund 10 000 Jahre lang herrschte dann ein lebensfeind-liches Klima und das Inlandeis drang von Norden bis indie Gegend von Hamburg vor, während die Alpenglet-scher von Süden her das Alpenvorland bis etwa auf dieHöhe von Rosenheim bei München bedeckten. Im eis-freien Korridor dazwischen dürften zum Teil Dauerfrostbö-den und Tundren das Überleben für die Menschen unmög-lich gemacht haben.

Spätes Jungpaläolithikum (18 000 vor heute – 12 000 v. Chr.)

Vor etwa 18 000 Jahren erwärmte sich das Klima etwas,aber in den folgenden Jahrtausenden kam es immer wie-der zu Kälteperioden. So beginnt die menschliche Besied-

Abb. 49 Zeittafeldes späten Jungpa-läolthikums, Spät-paläolithikums undMesolithikums

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lung in Nordrhein-Westfalen erst um etwa 13 500 v. Chr.mit dem so genannten Magdalénien, das bei uns nur mitseiner jüngeren Phase vertreten ist, während es in Frank-reich schon einige Jahrtausende früher begonnen hatte. Esist deshalb sehr wahrscheinlich, dass das zuvor menschen-leere, westliche Mitteleuropa von Südwesten her aufgesie-delt wurde. Von nun an gibt es auch in Nordrhein-Westfa-len keine Unterbrechung in der Siedlungskontinuität mehr(Abb. 49).

Im Magdalénien erlebte die Kultur der eiszeitlichenJäger ihren Höhepunkt, jedenfalls aus dem Blickwinkel derArchäologen: Die Menschen des Magdalénien lebten ingroßen Gruppen, die den Herden eiszeitlicher Steppentie-re, vor allem Pferd und Ren, offenbar über Entfernungenvon mehreren Hundert Kilometern folgten. Hierbei ent-stand ein differenziertes Siedlungssystem mit großen Basis-lagern und kleineren Jagdlagern. Neben den Steingerätenbestimmen die vielfältigen, manchmal reich verziertenKnochenartefakte das Fundspektrum; daneben gibt esSchmuckformen und Kleinkunstwerke in Gestalt gravierterPlatten. In Frankreich und Spanien ist dies die Hauptzeitder bemalten und gravierten Höhlenräume.

In Nordrhein-Westfalen tritt das Magdalénien in zweirelativ begrenzten Regionen auf, nämlich im westlichenNiederheingebiet (Alsdorf, Indetal, Beeck und Kamphau-sen) und in einigen südwestfälischen Höhlen (Balver Höh-le, Feldhofhöhle). Vielleicht hat diese Konzentration mitden etwas intensiveren Forschungsaktivitäten zu tun. Es istaber auch möglich, dass die niederrheinischen Plätze zueinem Territorium gehörten, das vom Maasgebiet bis zumNeuwieder Becken reichte, und die südwestfälischenHöhlen zu einem Territorium, das sich nach Norden bis zuden Siedlungsplätzen der so genannten Hamburger Kulturerstreckte. Wenn diese Vermutung stimmt, wäre ein großerTeil von Nordrhein-Westfalen eine Art Niemandsland zwi-schen diesen beiden Territorien gewesen, das nur gele-gentlich durchstreift wurde.

Basislager hat es in Nordrhein-Westfalen offenbar nichtgegeben. Alsdorf bei Aachen dürfte ein größeres odermehrfach aufgesuchtes Jagdlager gewesen sein (Abb. 50),das allerdings erst durch seine Zerstörung in den 1970erJahren entdeckt und dann nur noch randlich durch eineplanmäßige Ausgrabung von H. Löhr untersucht werdenkonnte. Auch die benachbarten niederrheinischen Plätzekönnten kleine Jagdlager gewesen sein, während die ganzgeringe Artefaktzahl in den südwestfälischen Höhlen aufkurze, seltene und sporadische Aufenthalte weniger Jägerhinweisen. Trotzdem muss es auch hier größere Jagdstatio-nen gegeben haben. Die wenigen Magdalénien-Funde ausder Balver Höhle enthalten auch ein kleines Geröll mit der

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Das Paläolithikum in Nordrhein-Westfalen

Gravierung eines Pferdekopfes, das einzige jungpaläolithi-sche Kunstwerk in Nordrhein-Westfalen (s. Abb. 143).Leider bestehen – wegen der ungeklärten Umstände beider Bergung des Stückes – Zweifel an seiner Echtheit.

Älteres Spätpaläolithikum (12 000–10 700 v. Chr.)

Mit dem Magdalénien endete um 12 000 v. Chr. dasJungpaläolithikum; die Steppentiere starben in unseremGebiet aus, und es begann das Spätpaläolithikum. Dasältere Spätpaläolithikum verbinden wir mit dem sogenannten Azilien, nach dem Fundort Mas d’Azil/Ariègeam Nordrand der Pyrenäen benannt, bzw. den Federmes-sergruppen, bezeichnet nach einer typischen Waffenspit-zenform.

Aus der Zeit um 12 000 v. Chr. sind in Nordrhein-Westfalen nur zwei Fundorte bekannt; diesen kommt aller-dings große Bedeutung zu. Genau in diese Übergangszeitgehört eine Doppelbestattung mit Hund von Oberkasselbei Bonn, der ein Knochenstab (oft auch als Kommando-stab bezeichnet) und eine Tierskulptur beigegeben waren.War der alte Mann ein Schamane, dem die Frau und derHund in den Tod folgen mussten?

Der einzige Siedlungsplatz, den wir aus der Zeit diesesGrabes kennen, ist Rietberg bei Gütersloh. Es liegt am

Abb. 50Alsdorf/KreisAachen. DasModell einerBesiedlungsentwik-klung zeigt, je län-ger ein Platzgenutzt wird, umsomehr unterschiedli-che Werkzeugekommen innerhalbder Artefaktkonzen-tration hinzu. Dasvon H. Löhr beider Bearbeitungdes magdalénien-zeitlichen Fund-platzes entwickelteModell ist ein Bei-spiel für die metho-dischen Fortschritteder modernenSteinzeitforschung.

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Oberlauf der Ems, gerade an der Stelle, an der sich Emsund Lippe am nächsten liegen, im Vorfeld des nördlichenMittelgebirgsrandes. Ausgrabungen konnten hier die Resteeiner großen Behausung und, jeweils einige Meter ent-fernt, einen großen Aktionsplatz, an dem Klingenkernehergestellt, sowie einen kleineren, an dem Geschosse her-gerichtet wurden, nachweisen. Das Besondere an Rietbergsind die ungewöhnlichen Steinwerkzeuge, darunter „Bipo-intes“ genannte Geschossspitzen, die ihre nächsten zeit-gleichen Parallelen im Pariser Becken haben.

Kein einziger Fundplatz lässt sich in die folgenden 500Jahre einordnen. Zwischen 12 000 und 11 500 v. Chr.klafft in Nordrhein-Westfalen und auch in den benachbar-ten Regionen eine große Forschungslücke. Das ist bedau-erlich, denn gerade in diesem Zeitraum sind die um-fangreichen Umstellungen in der Sozialstruktur, der Wirt-schaftsweise und im Siedlungsverhalten zu erwarten, diezu den nacheiszeitlichen Jägergesellschaften überleiteten,bei denen statt der Jagd auf die großen Tierherden der kalt-zeitlichen Steppe die Pirsch auf im Wald lebendes Stand-wild den Alltag bestimmte.

Erst in einer Zeit, in der diese Umstellung schon abge-schlossen gewesen sein muss, um 11 500 v. Chr. setzendie archäologischen Quellen wieder ein – und zwar in sogroßer Zahl wie nie zuvor. Die nun folgenden 500 Jahreder jüngeren Federmessergruppen sind in Nordrhein-Westfalen mit rund 30 Fundplätzen der am besten do-kumentierte Zeitraum des Paläolithikums überhaupt –allerdings handelt es sich dabei meist um Oberflächen-fundplätze. Die planmäßige Freilegung einer größerenSiedlungsoberfläche gelang bislang nur in Westerkappeln,am Südrand des Teutoburger Waldes (s. Abb. 3). Reste derJagdbeute fand man bislang nur in wenigen Höhlenfund-stellen in der Nordeifel und in Südwestfalen, die allerdingsalle in der Frühzeit der Forschung ausgegraben wurden, sodass über die Fundzusammenhänge und Befunde wenigbekannt ist.

Seit der Entvölkerung während des Kältemaximums derletzten Kaltzeit muss die Bevölkerungsgröße nun einenersten Höhepunkt erreicht haben. Die Menschen lebtenim gemäßigten Klima in ausgedehnten Nadelwäldern.Auerochse, Rothirsch, Reh und Wildschwein waren wohldas bevorzugte Jagdwild, daneben müssen Fischfang unddas Sammeln von pflanzlicher Nahrung an Bedeutunggewonnen haben. Die Territorien waren vermutlich kleinerals im vorangegangenen Magdalénien. Trotzdem müsseneinzelne Personen weit herumgekommen sein, und esmüssen Kontakte über weite Entfernungen bestandenhaben, wie von weither importierte Gesteinsrohmateria-lien zeigen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Menschen

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nun neben Speer und Speerschleuder auch Pfeil undBogen sowie weitere spezielle Jagdwaffen zu ihrer Verfü-gung hatten.

Die Blütezeit der spätpaläolithischen Waldjäger endetemit einer Naturkatastrophe. Im Frühsommer 10 966 v. Chr.brach der Laacher-See-Vulkan aus. Ungeheure Bimsmas-sen wurden hierbei in die Luft geschleudert, regneten zuBoden, bedeckten die nähere Umgebung des Vulkans miteiner meterdicken Bimsschicht und bildeten einen nachSüdwesten und Nordosten ausgreifenden Bimsschleier,dessen Ausläufer beispielsweise bis in die KasselerGegend und vereinzelt bis nach Südskandinavien nachge-wiesen werden konnten (Abb. 51). Das Gebiet von Nordr-hein-Westfalen blieb zwar vom Bimsniederschlag ver-schont, aber die vulkanische Asche, die in der ersten Pha-se des Vulkanausbruchs in die Atmosphäre gelangt war,muss noch monatelang nachgewirkt haben. Der Rhein warbei Andernach zu einem See aufgestaut worden und warnördlich davon nur noch ein Rinnsal, bis er die natürlicheStaumauer aus Bims durchbrach. Es ist davon auszugehen,dass kein Lebewesen im Umkreis von einigen HundertKilometern dieser Katastrophe entkommen konnte. Ob esim Gebiet von Nordrhein-Westfalen Überlebende gab,lässt sich aus Mangel an datierten Inventaren und Überre-sten nicht sagen.

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Abb. 51 Als derLaacher-See-Vulkanim Frühjahr 10966 v. Chr. aus-brach, wurdenenorme Bimsmas-sen in die Luftgeschleudert unddurch den Windvor allem RichtungOsten transportiert.

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Jüngeres Spätpaläolithikum (10 700–9 600 v. Chr.)

Kaum 300 Jahre nach dem großen Vulkanausbruch, um10 700 v. Chr., ereignete sich eine weitere Naturkatast-rophe. War der Laacher-See-Vulkan in unmittelbarerNachbarschaft ausgebrochen, so lag der Ort des Gescheh-ens nun in großer Entfernung: Vor der nordamerikanischenWestküste und im Nordatlantik hatten sich eiskalte Süß-wasserströme ausgebreitet, die durch das Abschmelzendes nordamerikanischen Inlandeises mit großer Ge-schwindigkeit freigesetzt worden waren. Sie sorgten füreine gut 1 000-jährige Abkühlung des Klimas in der nörd-lichen Hemisphäre mit einschneidenden Folgen für dieVegetation in Nordwesteuropa.

Die mitteleuropäische Nadelwaldzone schrumpfte aufihre südliche Hälfte zusammen, und der Raum nördlichder Mittelgebirge, die nordeuropäische Tiefebene, wurdein einen Zustand versetzt, wie er eineinhalb Jahrtausendezuvor geherrscht hatte: Offene Tundren- und Steppenland-schaften breiteten sich aus, und die Rentiere, die schonlängst ausgestorben schienen, wanderten aus ihren Rück-zugsgebieten im Norden und Osten Europas wiederzurück bis an den Rand der nördlichen Mittelgebirgszoneund sogar ein Stück weiter hinunter in den Süden.

Nordrhein-Westfalen gehörte nun wieder in die Zoneder kaltzeitlichen Tundren- und Steppenlandschaft, wäh-rend Süddeutschland weiter bewaldet blieb. Das Lebender Jägergruppen wurde durch die jahreszeitlichen Wan-derungen der Rentierherden bestimmt. Zum Überwinternwanderten sie in die tiefer gelegenen nördlichen Regio-nen, zum Frühjahr bewegten sie sich nach Süden, um sichwährend der kurzen warmen Jahreszeit in kleinere Grup-pen aufzuteilen, die in den Mittelgebirgen ihre Sommer-weiden bezogen. Zum Herbst sammelten sie sich wiederin großen Herden, um ihre nördlichen Wintereinständeaufzusuchen.

Auf diese Wanderungszyklen der Rentiere hatten sichdie spätpaläolithischen Rentierjäger einzustellen, die mannach ihren charakteristischen Geschossspitzen unter demBegriff „Stielspitzengruppen“ oder nach einem Fundort beiHamburg als „Ahrensburger Kultur“ zusammenfasst.

Die Verbreitung der Ahrensburger Kultur und damit dasWanderungsgebiet der Rentiere scheinen sich von derNorddeutschen Tiefebene in Nordrhein-Westfalen nachSüden mindestens bis in das Mittelrheingebiet, etwa imBereich der Ahr, erstreckt zu haben. Die Fundplätze derAhrensburger Kultur säumen die Mittelgebirgsränder, vonder Nordeifel im Westen über den Westrand des Rhei-

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Das Paläolithikum in Nordrhein-Westfalen

nisch-Bergischen Hügellandes bis zum Sauerland imOsten (Abb. 52). Hier boten offenbar Passagen die bestenJagdchancen, wenn die Rentiere zwischen Ebene undGebirgsregion hin- und herwechselten. Beispiele für sol-che Jagdstationen sind der Kartstein und der Hohle Steinbei Kallenhardt.

Mesolithikum (9 600–5 400 v. Chr.)

Ab 9 600 v. Chr. erwärmte sich das Klima relativ schnell,und es entwickelte sich eine ökologische Sukzession,beginnend mit Offenlandschaften, in denen die Hasel einegroße Rolle spielte, hin zu immer stärkerer Bewaldung,zunächst mit Nadelhölzern und später mit einem wach-senden Anteil von Laubhölzern bis hin zu den Laub-mischwäldern des 6. Jts. v. Chr.

Abb. 52 Fundplät-ze aus der Zeit desAusbruches desLaacher-See-Vul-kans (Federmesser-gruppen) und ausder danach folgen-den Zeit des Kälte-rückschlages um10 800 und 9 600v. Chr. (Ahrensbur-ger Kultur). DieRentierjagdlagersäumen den Randder Mittelgebirge.

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Die Rentiere waren verschwunden und es stellte sichwieder die Faunengesellschaft mit Standwildarten (Ur, Rot-hirsch, Wildschwein, Biber) ein, die schon einmal währenddes 12. Jts. v. Chr. in Nordrhein-Westfalen existiert hatte.Die Menschen lebten in kleineren mobilen Gruppen undnicht mehr in so großen Territorien wie zuvor. Mit wach-sender Bewaldung verminderte sich das Angebot anbodennaher Vegetation, so dass die Populationsdichte derHuftiere schrumpfte. Den Menschen wurde dadurch einewichtige proteinhaltige Nahrungsquelle entzogen. Sieerweiterten deshalb ihr Nahrungsspektrum um kohlenhy-dratreiche Pflanzen und deckten ihren Eiweißbedarf

Abb. 53 Bedburg-Königshoven/Erft-kreis. Eine der bei-den entdecktenHirschgeweihma-sken, kurz vor ihrerBergung (oben); sokönnte das Lebenauf dem Lagerplatzan der Erft zu Be-ginn der mittlerenSteinzeit um 9 500v. Chr. ausgesehenhaben (unten).

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zusätzlich durch Fischfang und, an den Küsten, durch dasSammeln von Muscheln.

Die typischen Steinwerkzeuge des Mesolithikums sinddie geometrischen Mikrolithen, kleine sorgfältig retu-schierte, immer wiederkehrende Formen von dreieckigemund trapezförmigem Umriss. Die große Zahl der Mikro-lithen erklärt sich durch die nun bevorzugte Nutzung vonKompositgeräten, also Waffen und Werkzeugen, die ausunterschiedlichen Materialien zusammengesetzt warenund deren Spitzen, Schneiden oder Arbeitskanten durcheingesetzte Mikrolithen gebildet wurden.

Über die Siedlungsweise des Mesolithikums in Nordr-hein-Westfalen ist nur wenig bekannt, weil fast nur Stein-artefakte aus Aufsammlungen vorliegen. Lediglich einSiedlungsplatz datiert bisher ganz in den Beginn desMesolithikums. Es handelt sich um ein größeres, von M.Street ausgegrabenes Siedlungsareal in Bedburg-Königsho-ven (Abb. 53), mit hervorragenden Erhaltungsbedingungenfür die Faunen und Florenreste. Berühmt wurde dieserFundplatz durch die beiden Hirschgeweihmasken, einemKopfschmuck prähistorischer Schamanen.

Aus den späteren Perioden des Mesolithikums stammeneinige kleine, von S. K. Arora ausgegrabene Lager- oderJagdplätze. Der durch seine ovalen Behausungsgrundrisseehemals recht berühmte spätmesolithische Siedlungsplatzan den Retlager Quellen, auf dem lange Zeit die Vorstel-lung beruhte, die Mesolithiker hätten in bienenkorbförmi-gen Reisighütten gelebt, wurde in den 90er Jahren erneutuntersucht. Hierbei stellte sich heraus, dass die Befundevermutlich zu einer Übersiedelung des Areals aus der vor-römischen Eisenzeit stammen.

Das Mesolithikum endete in Nordrhein-Westfalen um 5 400 v. Chr., als die ersten Bauern der linearbandke-ramischen Kultur von Osten her einwanderten, Lichtungenschlugen, Häuser bauten und Felder anlegten. Wie sichin den letzten Jahren zeigte, hatten die mesolithischen

Jäger aber schon zuvor Kontakt mit einer neolithischenBevölkerung im Westen Europas, offenbar einer Hirtenbevölkerung, die Keramik benutzte. Nach Fundorten typischer Keramik werden diese frühen, westlichen Nachbarn der linearbandkeramischen Kultur als „LaHoguette Gruppe“ und „Limburger Gruppe“ bezeichnet.So entsteht für das 6. Jt. v. Chr. ein komplexes Bild mitmindestens vier verschiedenen Akteuren. Welche Rolleden mesolithischen Jägern in dieser Phase des Umbruchszukam, bis ihre kulturellen Merkmale im letzten Dritteldes 6. Jt. v. Chr. völlig verschwanden, ist noch völligunklar. Die rein jäger- und sammlerische Lebensweise, dieüber 90 % der Menschheitsgeschichte prägte, war damitzu Ende.

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