Das Problem der Exklusion -...

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Heinz Bude und Andreas Willisch (Hg.) Das Problem der Exklusion Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige Hamburger Edition

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Heinz Bude und Andreas Willisch (Hg.)

Das Problem der Exklusion

Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige

Hamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

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Redaktion: Olaf IrlenkäuserUmschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan EnnsSatz aus der Sabon von Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN-10: 3-936096-69-4ISBN-13: 978-3-936096-69-91. Auflage Oktober 2006

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Inhalt

Heinz Bude / Andreas WillischDas Problem der Exklusion 7

Exklusion und Integration

Martin Kronauer»Exklusion« als Kategorie einer kritischen Gesellschaftsanalyse.

Vorschläge für eine anstehende Debatte 27

Armin NassehiDie paradoxe Einheit von Inklusion und Exklusion. Ein system-

theoretischer Blick auf die »Phänomene« 46

Rainer Land / Andreas WillischDie Probleme mit der Integration. Das Konzept des »sekundären

Integrationsmodus« 70

Ausgrenzung und Überflüssigkeit

Petra BöhnkeMarginalisierung und Verunsicherung. Ein empirischer Beitrag

zur Exklusionsdebatte 97

Heike SolgaAusbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen

Ausgrenzung 121

Nikola TietzeAusgrenzung als Erfahrung. Islamisierung des Selbst als

Sinnkonstruktion in der Prekarität 147

Volker EickUrbane Hygiene und sauberer Profit. Zur Exklusivität des

privaten Sicherheitsgewerbes 174

Ingrid OswaldNeue Migrationsmuster. Flucht aus oder in »Überflüssigkeit«? 200

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6 Inhalt

Hermann KotthoffÜberflüssige Loyalität in großbetrieblichen Sozialbeziehungen.

Der Modellwechsel von Anerkennungsmustern 225

Prekarität und Segregation

Michael VesterDer Kampf um soziale Gerechtigkeit. Zumutungen und

Bewältigungsstrategien in der Krise des deutschen Sozialmodells 243

Hartmut HäußermannDie Krise der »sozialen Stadt«. Warum der sozialräumliche Wandel

der Städte eine eigenständige Ursache für Ausgrenzung ist 294

Dirk Konietzka / Peter SoppArbeitsmarktstrukturen und Exklusionsprozesse 314

Berthold VogelSoziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand.

Für ein verändertes Vokabular sozialer Ungleichheit 342

Bibliografie 356

Zu den Autorinnen und Autoren 393

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Heinz Bude / Andreas WillischDas Problem der Exklusion

Im Alltagsbewusstsein besteht Einigkeit darüber, dass sich am Anfang un-seres Jahrhunderts die Landschaft der sozialen Ungleichheit in der Gegen-wartsgesellschaft dramatisch verändert hat. Nicht nur, dass sich die Scherezwischen Armen und Reichen öffnet, sondern es hat auch den Anschein,dass eine wachsende Gruppe von Leuten den Anschluss an den Main-stream unserer Gesellschaft verliert. Sie befinden sich in Gegenden, die garnicht weit entfernt sind von den Zentren der Initiative, des Individualis-mus und des Wachstums. Man fährt 50 Meilen nördlich von London odernimmt die Metro in die Vorstädte von Paris (Dubet/Lapeyronnie 1994),man fährt von Berlin 50 Kilometer Richtung Norden nach Mecklenburg-Vorpommern oder nimmt nach 20 Uhr einen Bus in ein bestimmtes Neu-baugebiet des sozialen Wohnungsbaus am Rande Bergamos, Utrechts oderReutlingens, dann gerät man jedes Mal in eine soziale Zone mit hoherArbeitslosigkeit oder massiver Unterbeschäftigung, maroden Schulen unddemolierten Bahnhöfen und Bushaltestellen. Hier treffen ökonomischeMarginalisierung, ziviler Verfall und räumliche Abschottung zusammen(Häußermann/Kronauer/Siebel 2004). Die Leute, die man in den Billig-märkten für Lebensmittel trifft, wirken abgekämpft vom täglichen Über-lebenskampf, ohne Kraft, sich umeinander zu kümmern oder aufeinanderzu achten, und lassen gleichwohl keine Anzeichen von Beschwerdeführungoder Aufbegehren erkennen. Die Jugendlichen hängen herum und träu-men vom schnellen Geld in der Drogenökonomie, die Männer mittlerenAlters haben sich in die Häuser und Wohnungen zurückgezogen, und dieFrauen mit den kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig schon so aus, alshätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten. Unwillkürlich stellt sichder Gedanke ein, dass ein Funke hier einen Flächenbrand wilder Gewalt-tätigkeit und wahlloser Zerstörungswut entfachen könnte.

Es kann einem aber auch passieren, dass man am späten Vormittag inden Innenstädten von Lüttich, Aberdeen oder Duisburg nur noch Leutesieht, die aus der Welt der Chancen verbannt zu sein scheinen. Die Werbe-plakate für italienischen Espresso und französische Coupés haben genausowenig mit ihnen zu tun wie die auf Dienstleistung, Lebensqualität und Frei-zeitwert ausgerichtete Stadtentwicklungspolitik. Sie bewegen sich eine Spur

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zu langsam, ihr Blick geht wahllos am Warenangebot vorbei, sie scheinengar nicht richtig anwesend zu sein. Es handelt sich um ein unauffälligesmenschliches Elend. Schlechtes Essen, billige Unterhaltung und endlos vielZeit haben ihnen die Energie geraubt. Die gesellschaftliche Teilhabe hatsich auf ein Mitlaufen ohne Ziel und ein Dasein ohne Ort reduziert.

Bei diesen Ausdrucksformen sozialer Ungleichheit geht es nicht mehrallein um die Frage von Unten und Oben, sondern um die von Drinnenund Draußen. Die Sozialstrukturanalyse hat für diese Phänomene einenneuen Begriff geprägt: Man spricht nicht mehr von relativer Unterprivi-legierung nach Maßgabe allgemein geschätzter Güter wie Einkommen,Bildung oder Prestige, sondern von sozialer Exklusion aus den dominan-ten Anerkennungszusammenhängen und Zugehörigkeitskontexten unse-rer Gesellschaft (Byrne 1999; Büchel et al. 2000; Kronauer 2002; Hills/Le Grand/Piachaud 2002). Nach der für die Sozialberichterstattung derEU gültigen Definition handelt es sich um einen »Prozess, durch den be-stimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihreArmut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender An-gebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung ander vollwertigen Teilhabe gehindert werden« (Europäische Kommission2004, S. 12).

Hinter dieser Unterscheidung verbirgt sich die Erkenntnis, dass es nichtallein die von der Allgemeinheit in Form staatlicher Transfereinkommenbereitgestellten finanziellen Mittel sind, die über die Art und Weise dergesellschaftlichen Teilhabe entscheiden. Es gibt Menschen, deren Ein-künfte unter dem Existenzminimum liegen und die sich trotzdem auf eineselbstverständliche Weise als Teil des Ganzen fühlen. Doch auf der ande-ren Seite finden sich Bezieher eines durchaus ihren Bedarf abdeckendenTransfereinkommens, die die Hoffnung auf eine Existenz in eigener Regielängst aufgegeben haben. Soziale Exklusion ist ein abstrakter Sammelbe-griff für verschiedene Formen gezielter Ausgrenzung, funktionaler Aus-schließung und existenzieller Überflüssigkeit und thematisiert die »Des-illusionierung des modernen Fortschrittsglaubens« (Leisering 2004).

Das Globalisierungsargument

Die erste Antwort auf die Frage nach dem Grund für diese historische Zä-sur in Anbetracht einer Nachkriegsphase relativer Vollbeschäftigung, zu-rückgehender Einkommensungleichheit und fortschreitender Einbindung

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der Arbeitsbevölkerung in sozialstaatliche Rechte und Leistungen wirdmeistens mit dem Begriff der Globalisierung gegeben. Die neuen Formensozialer Ausgrenzung und kollektiver Exilierung, so das Argument(Reich 1996, S. 232ff.; Beck 1997, S. 253ff.; Giddens 1999, S. 123–149),habe die Dritte Welt in unsere Welt gebracht. Globale Preise für standar-disierte Arbeit in der industriellen Produktion, aber auch bei den ein-fachen informationsbezogenen Dienstleistungen führen zu weltweitenUmverteilungen in der Beschäftigung. Die Servicenummer der Telefon-gesellschaft vermittelt den Anrufer an ein Callcenter in Bulgarien, Autosfür die mittleren Einkommen werden in China, Indien oder Brasilien ge-fertigt. In den OECD-Ländern hat dies einen nachhaltigen Beschäfti-gungsrückgang in der klassischen Fabrikarbeit und eine tiefgreifendeDeregulierung der normalen Beschäftigungsverhältnisse zur Folge, wo-von besonders gering qualifizierte Arbeitskräfte aus bildungsfernenSchichten mit Migrationshintergrund betroffen sind. Die funktionaleArbeitsteilung zwischen wissensbasierten und dienstleistungsorientier-ten Tätigkeiten und solchen, die keine Ausbildung verlangen und wenigEigenverantwortung erfordern, vermittelt sich als sich vertiefende Kluftzwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern.Während die einen sich als Produzenten mit komplexen Arbeitsprojek-ten für anspruchsvolle Kunden in grenzüberschreitenden Verwertungs-ketten bewähren und als Konsumenten an der Vervielfältigung und Ver-billigung des Warenangebots aus aller Herren Länder erfreuen, müssensich die anderen mit prekären Beschäftigungsverhältnissen bei Ver-pflichtung zur Erwerbsarbeit um fast jeden Preis zufrieden geben. DemLoblied aufs lebenslange Lernen und der damit verbundenen Erweite-rung der Welterfahrung und des Sozialkontakts entspricht auf der ande-ren Seite die Beschränkung der sozialen Beziehungen auf Menschen inähnlich aussichtsloser Lage. Einbeziehung bedeutet für die Profiteureder Globalisierung Pflege des eigenen Humankapitals, Bereitschaft zumAushandeln einer marktgerechten Entlohnung und Engagement in un-ternehmensbezogenen Zielvereinbarungen zur Produktivitätssteigerung,während die Opfer der Globalisierung von der Unfähigkeit, mit diesenglorreichen Anderen mithalten zu können, geschlagen sind.

Manchmal treffen sich diese beiden Gruppen einer sich polarisierendenGesellschaft auf einem Raum. Es ist das Merkmal der »global cities« (Sas-sen 1996) von London (Hamnett 2003), Paris, Mailand oder Frankfurtam Main (Keil/Ronneberger 2000), dass sie die »globale Klasse« (Dahren-dorf 2000) der Investment-Banker, Werbeleute, Modemacher und Musik-

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produzenten in Kontakt mit den Jobkombinierern der personenbezoge-nen Dienstleistung bringen: Während die Ersten sich nach einem langenhochproduktiven Arbeitstag in ihre Dachgeschosswohnungen und Vor-stadthäuser begeben, sind ihnen die anderen nach ihrem Job als Verkäu-ferin in einem Backshop oder als Auslieferungsfahrer in einem weltweitoperierenden Logistikunternehmen noch als Personal fürs Säubern, Si-chern und Servieren zu Diensten. Die Globalisierung bringt insgesamteine »Gesellschaft des Weniger« (Ulrich Beck) hervor, die eine Spaltungder eingelebten Sozialstruktur mit sich bringt.

Doch die populäre Plausibilität des Globalisierungsarguments lässtsich empirisch nicht so einfach halten (Goldthorpe 2003). Die Arbeits-losenquoten von Schweden, Großbritannien, Belgien oder Deutschlandvariieren erheblich, und zwischen den Wohlfahrtsordnungen der genann-ten Länder tun sich Welten auf. Die Nationalökonomien haben infolgeder Liberalisierung der Finanzmärkte ihre Zinssouveränität verloren,was den vom Keynesianismus inspirierten staatsinterventionistischenPolitiken Grenzen setzt, aber von einer Abdankung des Nationalstaateskann keine Rede sein. Das macht sich beispielsweise in nationalgesell-schaftlich ganz unterschiedlich disponierten Regulierungsformen der Ar-beitsmärkte geltend. In Deutschland hält man an den Errungenschaftendes Kündigungsschutzes fest und nimmt dafür einen stabilen Sockel vonsozialstaatlich versorgten Langzeitarbeitslosen in Kauf; in Großbritan-nien dagegen ist der Kündigungsschutz zurückgefahren worden, was einehohe Dynamisierung des Hire and Fire auf den Arbeitsmärkten in Ganggesetzt hat. Auch lässt sich der Eindruck einer wachsenden Armut zumin-dest in Deutschland nicht belegen. Die kompliziert errechnete Armuts-risikoquote (gemessen am Maßstab von 60 Prozent des Medians desNettoäquivalenzeinkommens) ist zwar in den Jahren von 1985 bis 2003um zwei Prozent von 13,2 auf 15,3 Prozent gestiegen, aber der Anteil derEinkommen, den die 10 Prozent der Bevölkerung mit den niedrigstenEinkommen zur Verfügung haben, liegt seit Jahren trotz Massenarbeits-losigkeit bei etwa vier Prozent aller Haushaltseinkommen.

Natürlich gibt es Verarmungsrisiken, aber die sind entgegen den Ent-grenzungsunterstellungen der Globalisierungstheoretiker nach wie vor inhergebrachter Weise ungleich verteilt. Besonders betroffen sind Arbeits-lose, Migranten, Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Nicht sehrüberraschend kommt geringe Qualifikation als ein benachteiligendesQuerschnittsmerkmal, das in jedem Fall die Gefahr der Verarmung er-höht, hinzu. Auch wird die Armut trotz Erwerbstätigkeit unterschätzt. So

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ist für die neunziger Jahre festgestellt worden, dass in der Mehrheit dereinkommensschwachen Haushalte in Deutschland zumindest eine Personerwerbstätig ist. Mehr als ein Drittel dieser Haushalte lebt sogar aus-schließlich von Erwerbseinkommen. Mit der schnellen Rede von den ar-beitsscheuen Armen sollte man also vorsichtig sein. Zumal bei denen, diewenig verdienen, die Altersversorgung häufig unzureichend, die Arbeits-tätigkeit gesundheitsbelastend und die Arbeitsplatzsicherheit bedroht ist(Andreß 1999). So beweisen alle verfügbaren Sozialstrukturdaten einehohe Makrostabilität der Verhältnisse, die nur nicht mit der Wahrneh-mung der Leute in Einklang zu bringen ist, die von der Erfahrung um sichgreifender Mikroturbulenzen bestimmt ist. Auf jeden Fall ist der Exklu-sionsbegriff an den Befunden über Armut und Ungleichheit nur schwerfestzumachen.

Die neue Programmatik des Wohlfahrtsstaates

Der Exklusionsbegriff hat in den 1990er Jahren insbesondere in deneuropäischen Wohlfahrtsstaaten den Armutsbegriff als Skandalisierungs-konzept sozialer Probleme ersetzt (Huster 1996; Alcock 1997, S. 56–61;Begg et al. 2001). Hier liegt der Ursprung des Exklusionsbegriffs freilichnicht in der Auseinandersetzung mit neuartigen Formen sozialer Un-gleichheit, sondern er hängt in erster Linie mit einem neuen Denken überdas Versagen des alten und die Aufgaben des neuen Wohlfahrtsstaats zu-sammen (als ein besonders bemerkenswertes Beispiel dieses WandelsEsping-Andersen 1996 und 1999). Soziale Exklusion bezeichnet die an-dere Seite verstärkter Anstrengungen zur sozialen Inklusion durch eineveränderte Grammatik unserer wohlfahrtsstaatlichen Versorgung. DieseVeränderung ist als Transformation vom schützenden und sorgendenzum befähigenden und aktivierenden Wohlfahrtsstaat beschrieben wor-den (Gilbert 2004). Am deutschen Fall ist dieser Vorgang an der politischgewollten und gesellschaftlich folgenreichen Umstellung vom Prinzip desStatuserhalts zu dem der Exklusionsvermeidung festzumachen. Die inAnrechten verbürgten wohlfahrtsstaatlichen Hilfen und Versorgungsleis-tungen müssen im Falle besonders von Arbeitslosigkeit, aber auch bei Ar-beitsunfähigkeit durch Krankheit und am Ende sogar im Augenblick desAustritts aus dem Erwerbsleben nicht mehr den vorherigen finanziellenund sozialen Status des Erwerbsbürgers garantieren, sondern sie sollenvielmehr den totalen sozialen Absturz verhindern und den Wiedereintritt

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ins Erwerbsleben und die Wiederherstellung einer selbstverantwortetenLebensführung ermöglichen. Soziale Investition in den Einzelnen hatVorrang vor der Versorgung von Solidarklassen. Damit ist eine Revisiondes Denkens über die Rolle des Marktes, des Begriffs der Arbeit, des Ar-rangements der Institutionen und der Vorstellung über soziale Gerechtig-keit verbunden.

Befähigung zum Marktverhalten

Verstand sich wohlfahrtsstaatliche Politik über eine lange Nachkriegszeitvornehmlich als Politik gegen die Unwägbarkeit und Unberechenbarkeitdes Marktgeschehens (Esping-Andersen 1985), um denjenigen kollekti-ven Schutz zu gewähren, die über keinen Besitz im Hintergrund verfügenund nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen hatten, so soll die Politikdes heutigen Wohlfahrtsstaats die Befähigung zum aktiven Marktverhal-ten gerade bei jenen fördern, die als einzelne Arbeitnehmer darauf ange-wiesen sind, mit der Dynamik der wettbewerbsbewegten ArbeitsmärkteSchritt halten zu können. Längst gilt es als ausgemacht, dass zwischenden Anforderungen der Arbeitswelt und den Qualifikationen und Fähig-keiten der Arbeitnehmer vielfach eine Lücke klafft. Diese ungleiche Posi-tion der Marktteilnehmer wird heute nicht mehr über kollektive Schutz-programme vermittelt, sondern zunehmend mit Hilfe individualisierterRequalifizierungsmaßnahmen ausgeglichen. Nicht die Stillstellung vonArbeitskraft durch staatlich finanzierte Frühverrentungsprogramme oderdurch tariflich ausgehandelte Arbeitszeitverkürzungen, sondern die Mo-bilisierung des individuellen Arbeitsvermögens auch und gerade der Älte-ren wird jetzt angestrebt. Dem Bild der verdienten Ruhe im Lebenszyklusfolgt das der lebenslangen Flexibilität und Plastizität. Wer unter diesenBedingungen nicht mithalten kann, verliert Anrechte und büßt Leistun-gen ein.

Das Paradoxe an dieser Politik der Befähigung zum Marktverhalten ist,dass staatliche Maßnahmen weit mehr Einfluss auf die Lebenskonstruk-tionen der Einzelnen haben als zuvor. Der Staat handelt sich auf dieseWeise das Exklusionsproblem ein, indem er das Versprechen gibt, diestrukturelle Unvollkommenheit des Arbeitskräftepotentials im Diensteeines funktionierenden Arbeitsmarktes selbst beheben zu wollen.

Objekt des wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsapparats ist nicht mehrdie nach Kategorien geordnete und nach Gruppen gegliederte standardi-

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sierte Arbeitskraft, sondern das individualisierte Arbeitsvermögen, dasmit Hilfe von Fallmanagern wieder in Stand gesetzt und weiterentwickeltwerden soll. Der Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnendient die Sorge des neuen Wohlfahrtsstaats. Arbeitsmärkte sind nach die-sem Verständnis nicht allein Ausdruck einer aus der Wirtschaft kom-menden Nachfrage, sondern sie verändern sich auch durch das Angebotbilliger, flexibler und mobiler Arbeit, die sich ihre Beschäftigungsmög-lichkeiten so selbst schafft. Der einzelne Arbeitslose darf daher nicht aufeine zugeschnittene Nachfrage nur warten, ihm wird zugemutet, dasses sich beständig fortbildet, anbietet und einbringt. Anrechte auf Trans-fereinkommen und Sozialhilfen implizieren Verpflichtungen zur Eigen-initiative, Selbstmobilisierung und Anpassungsfähigkeit. Der neue Wohl-fahrtsstaat wird so zu einem Generator von Individualisierungsprozessen.Jeder Einzelne ist für die Variabilität seiner Berufsbiografie selbst verant-wortlich, muss sich vorausschauend fortbilden und zum richtigen Zeit-punkt Entscheidungen treffen. »Ich-Unternehmertum« ist da nicht mehrnur in der beruflichen Selbständigkeit, sondern auf den Arbeitsmärkteninsgesamt gefordert. Da sich der Einzelne dabei aber nicht mehr auf kol-lektive Absicherungsmuster stützen kann, wird er anfälliger und ver-wundbarer durch die Kontingenzen seines Lebenslaufs. Der jubilierendeIndividualismus der Selbstverwirklichung ist ohne seinen Schatten des»negativen Individualismus« (Castel 2000a) nicht zu denken.

Sanktionen und Anreize

Denn das neue institutionelle Arrangement ist nicht mehr auf staatlicheGarantien, staatlichen Ausgleich und kollektive Absicherung ausgerich-tet, sondern verlangt rentable Investitionen, verhängt ökonomischeSanktionen und verspricht soziale Anreize. Die Zumutbarkeitskriterienwerden auf der einen Seite verschärft und bessere Zuverdienstmöglich-keiten werden in Aussicht gestellt. Wer nicht folgt, wird bestraft, wer sichjedoch streckt, könnte belohnt werden.

Die öffentliche Verantwortung kommt nicht für alle Fälle auf, sondernprüft, bewertet und reagiert auf jeden einzelnen Fall. Das Ernstnehmendes Einzelschicksals wird mit der Abkehr vom Kollektivzuschnitt er-kauft. Darin steckt ein institutioneller Entsolidarisierungseffekt: Wer sichnämlich trotz aller Aktivierungsbemühungen nicht aktivieren lässt, stelltsich im Prinzip außerhalb der Allgemeinheit, die die staatlichen Maßnah-

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men zu seiner Versorgung finanziert. Man hat alles versucht, aber einRest will einfach nicht. So produziert gerade die Berücksichtigung des In-dividuellen einen »Rest« des Kollektiven, der allein durch den Mangelcharakterisiert ist: ein »verworfenes Leben« (Bauman 2005), das durchdie Gitter der Institutionen der Individualität fällt.

Die Wiederherstellung von Reziprozität

Die neue Politik kennt durchaus eine moralische Rechtfertigung. Durch»Fordern und Fördern« sollen die Klienten der Versorgung auf dieAugenhöhe von Partnern eines Eingliederungsvertrags gebracht werden.Der Arbeitslose soll sich nicht als Bittsteller auf einem Amt, sondern alsKunde einer Agentur verstehen. Damit wird moralisch gerechtfertigt,dass in den institutionellen Praktiken der Wiederherstellung von Rezi-prozität der Vorrang vor der Vermeidung von Stigma gegeben wird. Weiles im heutigen Wohlfahrtsstaat kein Recht auf Faulheit gibt, kann sichniemand auf bloße Rechtspositionen zurückziehen. Im Begriff der Allge-meinheit findet unter der Hand ein Wechsel von Thomas H. MarshallsProgrammatik (1992) garantierter sozialer Anrechte zu einem von ÉmileDurkheim beeinflussten Zugehörigkeitsdenken statt. Die fortschreitendeVergesellschaftung des Wohlfahrtsstaats bringt auf diese Weise einen mitnormativen Implikationen versehenen Exklusionsbegriff hervor.

Die Komponenten des Exklusionsbegriffs

Im Rückgriff auf diese begriffsgeschichtliche Einbettung des Exklusions-konzepts in die Programmatik des gewährleistenden und befähigendenWohlfahrtsstaats werden die positiven Inklusionskomponenten des nega-tiven Exklusionsbegriffs deutlich.

AgencyIn der globalen Exklusionsdebatte ist heute der Sieg von Charles Murrays(1989) Invektiven gegen den wattierenden und sedimentierenden Wohl-fahrtsstaat der achtziger Jahre zu konstatieren. Seit dem von Bill Clintonformulierten Politikwechsel »From Welfare to Workfare« ist die Rede vonwohlfahrtsstaatlichen »Abhängigkeitskulturen«, systematischen »Armuts-fallen« und »erlernter Hilflosigkeit« auch im sozialdemokratischen Dis-

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kurs nicht mehr verpönt. Den Mikropolitiken der Aktivierung unterliegtein starker Begriff von Agency für jene, die sich in entwürdigender Ab-hängigkeit von sozialstaatlicher Fürsorge befinden. Theoreme wie »En-powerment«, »Selbstverstärkung« und »Eigentätigkeit« dienen der Be-gründung von Vorstellungen wohlfahrtsstaatlicher Hilfe zur Selbsthilfe.Man mag das als perfide Implementierung einer neuen »Technologiedes Selbst« im projektorientierten Kapitalismus denunzieren (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000), man kann das aber auch als Abkehr von staat-lichem Bevormundungsdenken und Rückbesinnung auf die unhintergeh-bare Freiheit der Person begrüßen.

KohäsionDie zweite Komponente des Exklusionsbegriffs hängt mit den besondersin der französischen Debatte betonten Aspekten der sozialen Spaltung,des institutionellen Ausschlusses und der kollektiven Missachtung zusam-men (Paugam 1998). Im hymnischen Pathos des französischen Republi-kanismus bedroht die soziale Exklusion die soziale Kohäsion der politi-schen Nation. Nach dieser Lesart haben wir es mit der Auswirkung vonProzessen zu tun, die die gesamte Gesellschaft durchqueren und ihren Ur-sprung im Zentrum und eben nicht in einer externalisierten sozialen Peri-pherie haben. Schwindende Solidaritäten, zerbröckelnde Absicherungenund das sich auflösende soziale Band schwächen den Zusammenhang derNation. Eine Politik gegen soziale Exklusion operiert daher mit Strate-gien der symbolischen Berücksichtigung, der kollektiven Ansprache undder kulturellen Einbeziehung. Exklusion bedroht demnach nicht alleindas einzelne Individuum, sondern die ganze Gesellschaft.

AnschlussDie dritte Komponente bezieht sich auf die mit sozialer Exklusion verbun-denen Prozesse des Driftens. Es handelt sich um Vorgänge von Mehrfach-betroffenheit und Vielfachbenachteiligung, die sich als fortschreitendeEntkoppelung und kumulative Entbindung niederschlagen. Es tretenBrüche, Schwellen und Stufen im Ungleichheitsspektrum hervor, die eineDifferenz zwischen Drinnen und Draußen erfahrbar machen. Dualisti-sche semantische Kategorien sprechen eine Zuspitzung multipler Depri-vationen an, die dem Einzelnen das Gefühl geben, im sozialen Aus gelan-det zu sein. Eine typische Exklusionskarriere kombiniert die Elemente vonArbeit, Familie beziehungsweise sozialen Netzwerken, Institution undKörper (Bude 1998). Beschäftigungsverlust, Netzwerkarmut, verfestigtes

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Misstrauen gegen Institutionen und sichtbare Körperbetroffenheit lösenden Einzelnen aus seinen sozialen Kontexten und fixieren ihn auf den so-zialen Ausschluss. Für die solchermaßen Exkludierten scheint es keinenPlatz mehr in der Gesellschaft zu geben.

Exkludierende Sozialverhältnisse

Mit Hilfe dieser drei Komponenten des Exklusionsbegriffs lassen sichwiederum drei typische Konstellationen exkludierender Sozialverhält-nisse identifizieren, die es rechtfertigen, von einer Gruppe von Überflüs-sigen zu sprechen.

Die erste Konstellation hängt mit einer für die deutschen Verhältnissetypischen Lösung der sozialen Frage zusammen. Es handelt sich umdie institutionelle Versorgungsparadoxie der sogenannten »sekundärenArbeitsmärkte« von Beschäftigungsgesellschaften und Weiterbildungs-kollektiven, die die Leute zwischen Agency und Abkoppelung hängenlassen. Angereizt werden das persönliche Engagement und die unterneh-merische Kreativität, die allerdings in einer Phantomwelt ohne Markttestleer läuft (Willisch 1999). Besonders in Ostdeutschland gibt es Heerscha-ren von Frauen und Männern, die tagtäglich einer durchaus sinnvollenBeschäftigung nachgehen, aber bei denen das Gefühl unmittelbar abruf-bar ist, überflüssig zu sein. Sie befinden sich in einer Sphäre »sekundärerIntegration« (Land/Willisch 2004), die einen starken Begriff menschli-cher Arbeit mit einem schwachen Begriff sozialer Relevanz versieht. Hierhaben wir eine Welt sozialer Exklusion vor Augen, wo für den Beobach-ter von außen alles in Ordnung zu sein scheint. Die Arbeitsbrigaden desneuen Wohlfahrtsstaats richten die Parks der vergangenen Großgrundbe-sitzer für die Freizeitnutzung eines neuen Publikums, sie verfügen überein auskömmliches Einkommen und sie haben einen intensiven sozialenKontakt. Aber es fehlt der Veranstaltung die Ernsthaftigkeit, die den mitAktivität Versorgten ein Gefühl lebendiger gesellschaftlicher Teilhabevermitteln könnte.

Eine zweite Konstellation ergibt sich aus der kollektiven Verwilderungvon Agency in populistischen Volksbewegungen. Man könnte von einermotivationalen Paradoxie sprechen, wonach sich die Schwächsten inihrer protestierenden Erregung als die Stärksten fühlen. Der mobilisie-rende Mechanismus insbesondere des demagogischen Populismus arbei-tet mit den Verzweiflungsgefühlen derer, die glauben, aussortiert und ab-

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geschrieben zu sein. Sie spalten sich durch ihre Protestaktivität von derzivilen Mehrheitsklasse der Gesellschaft ab und befeuern sich dadurch inihrer extremistischen Gesinnung. Für Degradierung und Deklassierungbietet das politische System unserer Gegenwartsgesellschaften offenbarnur wenig Ausdrucksgestalten, weshalb sich die Überflüssigen zu Par-teien und Gruppierungen flüchten, die das System in seiner Gesamtheit inFrage stellen. Hier liegt der Nährboden für den klassischen politischenExtremismus unserer westlichen Gesellschaften, wie für den neuen Extre-mismus im Kampf der Kulturen.

Eine dritte Konstellation bringt Entkoppelung und Kohäsion zusam-men. In diesem Fall bildet sich vor dem Hintergrund einer Deutungspa-radoxie von Zugehörigkeit durch Abgetrenntheit eine Kultur der Selbst-ähnlichkeit, die das eigene Unglück als ewige Kondition feiert. DieserMiseria-Kult ist für Regionen der Unterentwicklung zum Beispiel imMezzogiorno Italiens mustergültig beschrieben worden (Lepsius 1990,S. 170–210), findet aber auch heute eine untergründige Wiederkehr. Mankapselt sich im trotzigen Bestehen auf die eigene Andersheit in der Aus-gegrenztheit und Abgehängtheit ein und sieht sich sozusagen zur Exklu-sion berufen. Der Bindemechanismus dieser Konstellation besteht darin,dass die Überflüssigen über eine kohärente Interpretation ihres Makelsverfügen und sich dadurch von allen andern im Gefühl ihrer Gemeinsam-keit entkoppeln. Der aktivierende Wohlfahrtsstaat erscheint ihnen des-halb als Lüge, weil er ihnen die kulturelle Disposition nehmen will, dieihre Gemeinsamkeit ausmacht.

Wen kümmert’s? Wer spricht?

Hier deuten sich einige gesellschaftliche Konsequenzen des Exklusions-begriffs an, die auf eine Infragestellung des neuen wohlfahrtsstaatlichenParadigmas hinauslaufen. Dabei geht es um die Frage, wer sich um dieÜberflüssigen kümmert, die der Wohlfahrtsstaat erzeugt, und wer sichfür diejenigen verantwortlich fühlt, die aufgrund ihres Verhaltens ihrenAnteil scheinbar verwirkt haben. Gefragt ist nach der Zivilgesellschaft,die dann noch aufkommt und antwortet, und nach Institutionen, die zu-letzt helfen, ohne zu fragen. Die Exklusionsproblematik führt die mo-derne Gesellschaft an die Grenze ihrer Gerechtigkeitsvorstellungen undTeilhabeideen. Die politische Frage nach dem »Anteil der Anteillosen«(Rancière 2002) berührt den meritokratischen Kern unseres Selbstver-

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ständnisses. Gibt es eine Sprache der Gerechtigkeit, die sich nicht in denFallen einer Anrechtspolitik verstrickt und trotzdem nicht auf bloßeBarmherzigkeit zurückzieht? Der Begriff, auf den das Exklusionskonzeptam Ende verweist, ist ein renovierter Subsidiaritätsbegriff, der diezivilgesellschaftliche Verantwortung ohne wohlfahrtsstaatliche Regime-rigidität denken kann.

Exklusion und Integration

Unter der Überschrift von Exklusion und Integration sollen am Anfangdes vorliegenden Bandes die beiden Pole, zwischen denen die Diskussionum soziale Exklusion in Deutschland geführt wird, markiert werden. Da-bei verdeutlichen die beiden Beiträge von Armin Nassehi für die System-theorie und Martin Kronauer für die Seite einer kritischen Gesellschafts-analyse des fortgeschrittenen Kapitalismus, dass nach Zeiten strittigerKontroverse doch Annäherungen zwischen beiden Positionen auszuma-chen sind, einerseits, wenn von der »Generalisierung der Exklusionser-fahrungen« (Nassehi), oder andererseits »von der Gleichzeitigkeit desDrinnen und Draußen« (Kronauer) die Rede ist. Wo die Differenzie-rungstheorie sich den Erfahrungen der Menschen öffnet, sieht sich diekritische Gesellschaftstheorie in der Ambivalenz der Sozialverhältnisseverstrickt.

Doch trotz dieser Annäherungen unterscheidet beide Positionen dasProblem der Zurechenbarkeit sozialer Exklusion, mehr noch, die zen-trale Frage nach dem Ort der Auseinandersetzung und nach den Ak-teuren, die die soziale Exklusion als einen Kampf gegen die integrierteGesellschaft führen. Handelt es sich bei sozialer Exklusion um einenProzess, der vom älteren der Ausbeutung nicht nur die provokatorischeGestik, sondern auch dessen politische Ökonomie übernommen hat,oder aber bezeichnet soziale Exklusion den Prozess, in dem sich dieLücke zwischen Inklusionsverhältnissen und Exklusionsindividualitätoffenbart? Die systemtheoretische Beobachtung hätte zwar ein Senso-rium für die Provokation, warum von Exkludierten gesprochen werdenkönnte, aber auf der anderen Seite treten einem so nur die menschlichenKosten für das evolutionäre Experimentieren von neuen, funktional dif-ferenzierten Gesellschaften angepassten Organisationsarrangements vorAugen. Aus der Sicht der kritischen Gesellschaftsanalyse stellt sich dieFrage, ob sich nur die »gewohnte industriegesellschaftliche Passung von

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Das Problem der Exklusion 19

individuellen Karrieren und gesellschaftlichen Organisationen« verän-dert oder ob »die Ausgrenzung von Akteuren und Institutionen betrie-ben« wird.

Zwischen diesen beiden steht die Position der »sekundären Integra-tion« von Rainer Land und Andreas Willisch, die eine Nähe zu den Phä-nomenen, die Martin Kronauer für die Begründung seines Begriffs von so-zialer Exklusion heranzieht, zugibt, aber ihm nicht auf der Suche nach denExkludeuren folgt. In einer gewissen Nähe zur Systemtheorie beschreibtdie Theorie der »sekundären Integration« die Prozesse gesellschaftlichenWandels als die einer Verwandlung des Sozialcharakters moderner Gesell-schaften. Die Menschen werden mit ihren Exklusionserfahrungen durch-aus nicht allein gelassen, sondern im Grunde immer weiter integriert,wenn auch in ein System, das die Gesetze der industriellen Leistungsgesell-schaft nur simuliert.

Ausgrenzung und Überflüssigkeit

Die Texte im zweiten Teil beschäftigen sich vor allem mit der Suche nachden Gruppen, die von sozialer Ausgrenzung und Benachteiligung beson-ders betroffen sind. Petra Böhnkes Beitrag in der Tradition klassischerSozialstrukturanalyse untersucht die Kumulation sozialer Risiken in denunterschiedlichen Klassen der deutschen Gesellschaft. Jugendliche undderen soziale Ausgrenzung sind das Thema der Beiträge von Heike Solgaund Nikola Tietze. Heike Solga stellt die veränderte Zusammenset-zung der Gruppe der ausbildungslosen Jugendlichen unter verändertenQualifikationsanforderungen dar und macht die schon frühzeitig einset-zende Ausgrenzungsdynamik des deutschen Bildungssystems dafür ver-antwortlich. Nikola Tietze legt in einer ethnographischen Herangehens-weise dar, wie »muslimische Religiositätsformen junger türkischerMänner« als subjektive Auseinandersetzungen mit dauerhaften »Aus-grenzungserfahrungen« verstanden werden können.

Volker Eick verfolgt die Praxis des sich ausweitenden privaten Sicher-heitsgewerbes, das die Wohlstandsenklaven getrennt halten soll von denArmutsinseln des städtischen Sozialraums. Exklusion wird hier begriffenals eine Raumordnungskategorie, die an denjenigen exekutiert wird, de-ren physische Existenz an den öffentlichen Raum gebunden ist wie bei-spielsweise Wohnungslose. Durchgesetzt wird diese private Ordnungnicht selten von jenen, die sozialstrukturell selbst den durch sie Vertrie-

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benen näher stehen als denen, die die privaten Shopping Malls und Erleb-nisbahnhöfe störungsfrei nutzen sollen.

Ingrid Oswald nimmt in ihrem Beitrag eine weitere exklusionsgefähr-dete Gruppe in den Blick. Die Frage, die sie zu beantworten sucht, lautet,ob und welche Zuwanderer von Überflüssigkeit bedroht sind. Ihre Ant-wort ist eindeutig: Diejenigen Zuwanderer, die Anschluss an Migranten-netzwerke finden, können weit besser als die ohne diesen Anschluss undmitunter erfolgreicher als die Etablierten die neuen Anforderungen derArbeitswelt meistern. Sie finden in dem Maße gesellschaftlich Anschluss,wie ihre in- und ausländischen Konkurrenten diesen gerade dadurch ver-lieren. Hier wird die Exklusionskonstellation am Rand unserer Gesell-schaft mit einer ganz eigenen Sprengkraft herausgestellt.

Hermann Kotthoffs Personal findet sich dagegen nur selten im Fokusder Exklusionsforscher, und doch zeigt gerade sein Beitrag, wie für dieakademisch gebildete Funktionselite im mittleren Management der Unter-nehmen durch einen Wechsel der Anerkennungsmuster ein Sortierungs-und Verunsicherungsprozess in Gang kommt. Überflüssig werden hierbeizunächst bestimmte innerbetriebliche Verhaltensmuster wie Loyalität,nicht die Personen selbst. Auch nach ihrer Entlassung dürfen sich die Ma-nager als »Überflüssige erster Klasse« fühlen.

An der Frage, welche Rolle die gesellschaftliche Mitte überhaupt beider Thematisierung sozialer Exklusion spielt, entzündet sich in denAufsätzen jenseits der Definitionsarbeit eine hintergründige Debatte. Istdas »Interesse an den Exkludierten nur ein Symptom« (Armin Nassehi)für eine Verallgemeinerung von Exklusionsrisiken oder reagiert die Mit-telklasse panisch, weil das alte Ausgrenzungsmuster, das sie bisher be-schützt hat, plötzlich nicht mehr greift? Geht es der Mitte tatsächlich anden »weißen Kragen« (Martin Kronauer)? Petra Böhnke hat darauf eineAntwort, wenn sie ausführt, dass die Mittelklassen zwar »destabilisiert«würden, die ganze Last sozialer Ausgrenzung aber die unteren Klassen zutragen hätten. Für Ingrid Oswald gewinnt der Überflüssigen-Begriff (an-ders als der der Exklusion) nur im Bezug auf die Mittelschichten Kontur,da er vor allen Dingen auf die Falle, in der diese sich wiederfinden, ab-hebt. Einerseits sei ihr notwendiger Aufstieg blockiert, anderseits scheintauch eine Emigration unmöglich.

Steht, wenn die Mittelklassen von Exklusionsprozessen erreicht sind,das gesamte Ungleichheitsgefüge Deutschlands auf dem Spiel und mit ihmunsere Vorstellungen von Gerechtigkeit und Demokratie (Martin Kro-nauer)? Verdampft der Exklusionsprozess gesellschaftliche Sicherheit wie

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zuvor schon die Loyalität zugunsten einer breiten Zone der Prekarität?Ziehen die Mittelklassen in ihrem begonnenen Abwehrkampf die Grenzenneu und fester oder werfen sie sich auch für die unteren Klassen in die Bre-sche? Die dritte Abteilung des Bandes soll darauf Antworten geben.

Prekarität und Segregation

Michael Vester findet bei seinen Recherchen in der deutschen Milieuweltin nahezu allen Teilmilieus einige Veränderungsgewinner und viele Ver-änderungsverlierer. Der Wandel der deutschen Gesellschaft – und sei erzunächst auch nur rhetorisch von bestimmten pressure groups lebendiggehalten – betrifft nicht nur die unteren Milieus. Das hohe Maß an Un-zufriedenheit wird nur zum kleineren Teil durch jene in unmittelbarenNotlagen hervorgerufen. Doch Verlieren ist nicht gleich Verlieren. Wäh-rend die oberen gesellschaftlichen Milieus unter dem Verlust an Statusund Einfluss leiden, die »Milieus der autoritären kleinen Leute« zumRechtspopulismus neigen, finden die »da unten« Strategien und Mög-lichkeiten, ihr Leben trotz Notlagen zu meistern. Bei Michael Vester sindaber auch die »Ausgrenzer« auszumachen, jene »Rambos mit Besitz undMacht«, die unpopuläre Konflikte durchziehen. Doch auch ihr Stern istschon wieder am Verglühen.

Den Optimismus, dass sich die von Marginalisierung betroffenen Be-völkerungsschichten besser zu helfen wüssten, als die Debatte um sozialeAusgrenzung suggeriert, teilt Hartmut Häußermann nicht. Im Gegenteil:An den »Orten der Ausgrenzung« konzentrieren sich Verhaltensweisensozialer Verwahrlosung, die weit entfernt sind von der »emanzipatori-schen Kultur« der alten Arbeiterklasse, die ehedem in den benachteiligtenQuartieren der Großstädte ihr Zuhause hatte. Doch die Entstehungs-geschichte dieser »Ghettos ohne Mauern« belegt auch die enge sozialeVerbindung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten. Erst dermassenweise Wegzug – die selektive Mobilität – der Mitte und die mate-rielle Polarisierung führen dazu, dass die städtischen »Integrationspro-zesse prekär« werden und die Quartiere selbst benachteiligende Wirkun-gen auf das Leben ihrer Bewohner entfalten können.

Die Prozesse des Öffnens und Schließens von Teilarbeitsmärkten sinddas Thema des Beitrags von Dirk Konietzka und Peter Sopp. Sie zeigen,dass sich das Arrangement des in drei Segmente aufgegliederten Arbeits-marktes radikal verändert hat, dass aber für einen analytisch sauberen

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Exklusionsbegriff zwischen einer strukturellen Perspektive und einer per-sonellen Dimension unterschieden werden muss. Nicht alle Veränderun-gen auf den Arbeitsmärkten führen zu exklusionsgefährdeten Erwerbs-verläufen. Erst die Verfestigung von Segmentationsprozessen auf demArbeitsmarkt und die dadurch hervorgerufenen Spaltungen sind Voraus-setzung für unterschiedliche Verlaufsformen von Exklusionen. Dabeispielt die spezifisch deutsche Frage nach der Berufsförmigkeit von Er-werbsarbeit gerade wieder für die bisher gut abgesicherten Positionen derMitte eine zentrale Rolle. In welcher Weise kann Bildung, auch Berufs-ausbildung, die Menschen befähigen, die Spaltungen des Arbeitsmarkteszu überwinden? Kann Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts be-antworten helfen?

Für Berthold Vogel, dessen Beitrag den Band abschließt, werfen die mitdem Begriff der sozialen Exklusion bezeichneten Phänomene die Fragenach einem »veränderten normativen Konzept der Sozialordnung« auf.Nicht nur einzelne Gruppen und nicht nur die Ränder der Gesellschaftsehen sich diesem sozialen Wandel ausgesetzt. Wenn aber das Ganze inFrage steht, dann ist Exklusion keine begriffliche Option mehr. Wenn dieallgemeine Zunahme sozialer Verwundbarkeit und prekären Wohlstandsdie Leitbegriffe der Ungleichheitsforschung sein sollten, rückt mit der»Brüchigkeit sozialer Positionen« die Reformulierung der sozialen Fragein den Mittelpunkt, weshalb wir uns am Anfang einer »neuen Epochewohlfahrtsstaatlicher Ordnung« befinden.

Vermutlich sind die Überflüssigen von heute die Armen von morgen.Denn wer jetzt nicht mithalten kann, wird dafür später die Zeche zah-len. Einer beträchtlichen Minderheit quer durch alle gesellschaftlichenSchichten, die ihre Qualifikationen entwertet sieht, sich mit Gelegenheits-jobs und Scheinfirmen, mit prekären Beschäftigungsverhältnissen oder inendlosen Qualifizierungsschleifen über Wasser hält, drohen im Alter Ein-samkeit und Verwahrlosung. Sie werden diese Erfahrungen an ihre Kin-der weitergeben und so zu einer sozialen Vererbung von stiller Entkoppe-lung beitragen. Von daher gewinnt die Diskussion um soziale Exklusionihre Brisanz sowohl für die große Politik als auch für jeden Einzelnen.Noch scheint es möglich, die Grundzüge moderner Wohlfahrtsstaatlich-keit im Licht der neuen Herausforderungen gesellschaftlich zu diskutie-ren und sich mit Entwürfen zu befassen, die 2040 oder 2050 zum Tragenkommen. Was hilft dabei der Exklusionsbegriff?

Die Problematik der Exklusion wird vom Wohlfahrtsstaat neuer Prä-gung durchaus aufgegriffen. Exklusionsvermeidung wird sogar zum zen-

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tralen Gesichtspunkt der verschiedenen Maßnahmen der wohlfahrtsstaat-lichen Apparatur. Aber was ist die leitende Idee dieser multiplen Inter-ventionsstrategien? Welche Idee von Gesellschaft wollen wir mit Beschäf-tigungszwang und Arbeitsmotivation verteidigen? Wo liegt die Grenzezwischen ertragbarer Ungleichheit und unerträglicher Aussortierung?

So wie der Exklusionsbegriff unter der Hand zum Statthalter eineraufs Ganze gehenden Gesellschaftsanalyse kritischer Schwellen, irrever-sibler Brüche und kontingenter Übergänge geworden ist, stellt er an diePolitik die Frage nach dem Gesellschaftsentwurf, von dem eine robustePolitik der Inklusion erst ihre Legitimität gewinnen könnte.