Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. vorgelegt von Huan Liu aus China WS 2018/2019

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DasSichtbarmachendesUnerscheinbaren

Inaugural-Dissertation

zur

ErlangungderDoktorwürde

derPhilosophischenFakultät

derAlbert-Ludwigs-Universität

Freiburgi.Br.

vorgelegtvon

HuanLiu

ausChina

WS2018/2019

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Erstgutachter:Hans-HelmuthGanderZweitgutachter:OliverMüllerVorsitzenderdesPromotionsausschussesderGemeinsamenKommissionderPhilologischenundderPhilosophischenFakultät:Prof.Dr.DietmarNeutatzDatumderFachprüfungimPromotionsfach:31.10.2019

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung……………………………………………………………………...……...4

1.Zum Problemstand ............................................................................................ 4

2.Ziel und Aufbau der Arbeit ............................................................................. 10

1. Diltheys Thematik der gegenständlichen Gegebenheit ...................................... 15

1.1 Diltheys Begründung der Geisteswissenschaft in der Lebenslehre .............. 16

1.1.1 Das ursprüngliche Leben in der Ganzheit ............................................. 17 1.1.2 Der Zugang zum Leben ......................................................................... 18 1.1.3 Die schöpferische Kraft des Ausdrucks und die Unergründlichkeit des Lebens ............................................................................................................ 19

1.2 Die Theorie des Lebens sowie die Thematik der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey ................................................................................. 21 1.2.1 Die Gegebenheitsmodelle von Dilthey und Husserl ............................. 22 1.2.2 Diltheys Kritik an der Transzendentalphilosophie ................................ 26

1.3 Der volle Begriff des Lebens und die Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey ................................................................................. 28

1.3.1 Weltmäßigkeit und Transzendenz des Lebens ...................................... 29 1.3.2 Die Bedeutung und das Leben als der geschichtliche Horizont ............ 32 1.3.3 Die Divergenz der Auffassungen zur gegenständlichen Gegebenheit zwischen Dilthey und Husserl ........................................................................ 37

Fazit: ..................................................................................................................... 40

2. Phänomenologie als Ursprungswissenschaft ....................................................... 41

2.1 Das faktische Leben als Gegenstand der Phänomenologie ........................... 42

2.1.1 Das Prinzip der Prinzipien ..................................................................... 42

2.1.2 Voraussetzungslosigkeit ........................................................................ 44

2.1.3 Das faktische Leben als Gegenstand der Ursprungswissenschaft ......... 46

2.2 Hermeneutische Intuition als phänomenologischer Zugang zum faktischen Leben .............................................................................................................. 47

2.3 Formale Anzeige und Gegebenheitsthematik ............................................... 48

2.3.1 Heideggers Weltverfassung ................................................................... 49

2.3.2 Die Konzeption der Situation ................................................................ 52

2.3.3 Formale Anzeige ................................................................................... 54

2.4 Destruktion des faktischen Lebens auf den Ursprung als Lebensvollzug .... 59

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2

2.4.1 Die Gegebenheitsmodelle bei Natorp und Dilthey ................................ 60

2.4.2 Geschichtlichkeit und das Nichts .......................................................... 63

Fazit: ..................................................................................................................... 66

3. Heideggers ontologisches Projekt und Ursprungsdenken .................................. 68

3.1 Die Marburger Vorlesung „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ 69

3.2 Heideggers Kritik an Husserls phänomenologischer Methode ..................... 72

3.2.1 Kritik am Ausgangspunkt der Epoché ................................................... 72

3.2.2 Kritik an der Seinsbestimmung des Bewusstseins ................................ 74

3.2.3 Die Frage nach dem Seinssinn des Intentionalen .................................. 75

3.3 Epoché, Seinsverfassung und Platonischer Idealismus ................................ 76

3.3.1 Epoché ermöglicht Weltphänomen und Ontologie ............................... 77

3.3.2 Platonischer Idealismus und Transzendentalphilosophie ...................... 80

3.4 „Transzendentales Subjekt“ und Heideggers Bruch mit Husserl ................. 83

3.4.1 Innere Struktur der Gegebenheitsmodelle ............................................. 84

3.4.2 Leitmotive des Aufbaus des Gegebenheitsmodells ............................... 86

3.5 Heideggers ontologisches Projekt und Marions Rekonstruktion ................... 87

3.5.1 Heideggers Thematik des Lebensvollzugs und das Vorverständnis des ursprünglichen Seinssinns .............................................................................. 89

3.5.2 Marions Interpretation der Gegebenheitthematik bei Heidegger .......... 90

3.5.3 Der Seinssinn des Seienden und die Anerkennung des Rätselhaften der Offenbarung aus Verborgenheit ..................................................................... 93

Fazit: ..................................................................................................................... 95

4. Die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs .......................... 97

4.1 Die Rekonstruktion von Sein und Zeit auf Basis der Interpretation Jean-Luc Marions .......................................................................................................... 98

4.1.1 Das Sehenlassen der Phänomenologie .................................................. 98

4.1.2 Jean-Luc Marions Interpretation der Phänomenalität des Seins ......... 100

4.1.3 Die Perspektive der Rekonstruktion von Sein und Zeit ...................... 102

4.2 Die Gegebenheitsthematik in der Wahrheitslehre Heideggers .................. 103

4.3 Die Behandlung der Thematik der Gegebenheit in der Illustration des In-der-Welt-seins ......................................................................................... 108

4.3.1 Das Thema der Gegebenheit in der Fundamentanalyse des Daseins .. 108

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3

4.3.2 Die Wahrheitslehre als die Explikation des primären Verstehens ...... 114

4.4 Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der ursprünglichen Daseinsinterpretation ................................................................................... 116

4.4.1 Die transzendentale Zeitanalytik ......................................................... 117

4.4.2 Das Scheitern an der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs ............................................................................................. 122

Fazit: ................................................................................................................... 125

5. Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit im Kunstwerk .................................... 127

5.1 Das Nichts und die Thematisierung des Lebensvollzugs ........................... 128

5.2 Die Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ............................ 130

5.3 Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit in der Kunsterfahrung .................. 134

5.3.1 Die Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde und der geschehende Sinnkontext .................................................................................................. 135

5.3.2 Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes – die anti–subjektive Kunstverfassung ......................................................................... 137

5.3.3 Die Verkörperung der Erde – Der Zusammenhang von Raum, Sinn und Material ........................................................................................................ 140

5.3.4 Präsenz von Heideggers Kunstverfassung in der gegenwärtigen Kunstphilosophie ......................................................................................... 142

5.4 Ausblick: Kunst, Raum und Ort .................................................................. 147

Fazit: ................................................................................................................... 151

Literatur : ................................................................................................................. 153

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4

Einleitung

Zum Problemstand

Die vorliegende Studie behandelt zwei Fragestellungen in Bezug auf die

Gegebenheitsthematik bei Heidegger, die vor allem Ernst Tugendhat, Daniel. O.

Dahlstrom und Jean-Luc Marion herausgearbeitet haben. Die Phänomenologie fasst

Tugendhat als „die Lehre von den ‚Phänomenen’, [...] d.h. des gegenständlich

Gegebenen im Wie seines Gegebenseins“ 1 . Mit dieser Auffassung der

Phänomenologie bringt er Husserls und Heideggers Denken unter der

phänomenologischen Gegebenheitsthematik zusammen, wobei er Heideggers

ontologisches Projekt in Sein und Zeit zur Thematik der Gegebenheit rekonstruiert.

Heideggers Ontologie fragt Tugendhat zufolge nach dem möglichen Sinn von Sein,

und „das kann sie nun eben, weil sie radikalisierte Phänomenologie ist und ihr im Wie

des Gegebenseins ein Bereich vorgegeben ist, in den sie hineinfragen kann.“2 Der

Bereich für die Gegebenheitsthematik ist laut Tugendhat durch Husserls Epoché

eröffnet. Obwohl die Gegebenheitsthematik für die beiden im Zentrum des

phänomenologischen Denkens steht differenzieren sich, so sieht es Tugenhat, ihre

Fragestellungen sowie Behandlungen dieser Thematik. Denn Husserl fragt nach dem

Wie des Gegebenseins des Gegebenen, wobei er „schon in eine Dimension des

Begegnens hinein(fragt), die er jedoch nicht als solche in den Blick fasste, sondern in

den Begriffen ‚Intentionalität’ und ‚Gegebensein’ selbstverständlich voraussetzte.“3

Nach Tugendhats Ansicht wird Husserls Fragestellung bei Heidegger zur solchen

radikalisiert: wie so etwas wie „Gegebensein“ überhaupt möglich sei. Mit dem

Begriff der Radikalisierung meint er, dass Heidegger die Unterschiede der

Gegebenheitsweise „zur Basis der ontologischen Fragestellung machte“ und die

1 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2. Auflage, 1970, S. 27-28. 2 Ebd., S. 266. Tugendhat schreibt: „Welchen Sinn von Sein das Gegebene überhaupt und jeweils hat, ist jetzt vielmehr erst zu fragen und kann nur im Rückgang auf das Wie des Gegebenseins selbst entschieden werden“. 3 Ebd., S. 270.

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5

„Seinsfrage in diesem Sinn der gleichzeitigen Frage nach der Bedingung der

Möglichkeit von ‚Begegnung’, nicht nur gegenüber Husserl, sondern gegenüber der

ganzen philosophischen Tradition neu sei.“4

Die radikale Fragestellung wie das „Gegebensein“ überhaupt möglich ist behandelt

Heidegger, so Tugendhat, mit der Thematisierung der Erschlossenheit des Daseins,

die Heidegger als das ursprünglichste Wahrheitsphänomen bezeichnet. Obwohl

Tugendhat den radikalen Sinn der Fragestellung herausstellt, die Heidegger mit der

Gegebenheitsthematik behandelt, erklärt er nicht wie Heidegger die Radikalisierung

der phänomenologischen Fragestellung in der Thematisierung der Erschlossenheit

weiterführt, sondern er führt seine Interpretation der Erschlossenheits-Thematisierung

nur soweit, bis der Sinn der Erschlossenheit als bloße Möglichkeitsbedingung des

gegenständlichen Gegebenseins deutlich erkennbar ist. Und dann wendet er sich rasch

der Kritik an der mit der Gegebenheitsthematik verbundenen Wahrheitslehre

Heideggers zu. Für Tugendhat ist Heideggers Gleichsetzung von „Wahrheit“ und

„Erschlossenheit“ nicht haltbar und führt „sogar dazu, das Wahrheitsproblem zu

verdecken“ 5 . Erschlossenheit wird bei Heidegger als transzendentale

Möglichkeitsbedingung der Entdecktheit angenommen. Die Verwechslung mit den

Möglichkeitsbedingungen der Wahrheit und der Wahrheit an sich mache, so

Tugendhat, den Begriff der „Wahrheit“ nicht mehr sinnvoll. Darüber hinaus lässt sich

die Erschlossenheit aufgrund von Heideggers Bestimmung derselben als

“dynamischen Spielraum“ zwischen Durchsichtigkeit (in der eigentlichen Existenz)

und Undurchsichtigkeit (in der uneigentlichen Existenz), nicht an der Wahrheit

orientieren. Tugendhats Kritik wird weithin akzeptiert und als Vorbild des Vorwurfs

der fehlenden Normativität in Heideggers Wahrheitslehre angenommen.

In seiner kritischen Interpretation von Heideggers Gleichsetzung der Wahrheit mit

4 Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 271. „Begegnung“ wird als ein Ersatzbegriff für primäres Gegebensein bei Heidegger verwendet. 5 Ebd., S. 272.

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6

Erschlossenheit missversteht Tugendhat Dahlstrom zufolge Heideggers Motivation

zur Ausführung der Wahrheitslehre. Heideggers Analytik der Entdecktheit und deren

Möglichkeitsbedingen, nämlich die Erschlossenheit, diene nach Dahlstrom überhaupt

der Thematisierung der Erschlossenheit. Die Erschlossenheit sei „der Horizont, der

von der Entdeckung und somit von der Anschauungs- sowie der Aussagewahrheit

vorausgesetzt wird“, 6 und Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit ziele

darauf ab, die Erschlossenheit als diesen nicht objektivierbaren Horizont in der

Auslegung des Wahrheitsphänomens in Sicht kommen zu lassen, mit anderen Worten

zum Ausdruck zu bringen.7 Das heißt, Heideggers Hauptanliegen der Wahrheitslehre

liegt nicht darin, durch die Freilegung des Wahrheitsphänomens eine neue

Wahrheitsdefinition aufzustellen, in der das traditionelle Wahrheitskriterium und

somit die kritische Funktion des traditionellen Wahrheitsbegriffes über Bord

geworfen wird, sondern darin, mittels der Auslegung des Wahrheitsphänomens die

Erschlossenheit als den nicht objektivierbaren Horizont des Gegebenseins des

Seienden zum Ausdruck zu bringen. Dies fasste Tugendhat nicht ins Auge.

Im Vergleich zu Tugendhat steht Jean-Luc Marion in seiner Rekonstruktion von Sein

und Zeit Heideggers Motivation der Thematisierung der Erschlossenheit näher, indem

er die Gegebenheitsthematik von Sein und Zeit als Thematisierung der Erscheinung

des Phänomens, d. h. des Seienden, interpretiert und deren Ziel erkennt, das

Phänomen des Seins sichtbar werden zu lassen.8 Mit dem Phänomen des Seins ist die

Erschlossenheit, nämlich der Horizont des Gegebenseins gemeint. Den Horizont

nimmt Marion zwar auch als die Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des

Phänomens an, aber er erahnt Heideggers Motivation für die Thematisierung der

Erschlossenheit und fokussiert den Blick auf die Darstellung des nicht

6 Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger, Wien, 1994, S. 310. Das Horizontsein der Erschlossenheit sieht Tugendhat auch, aber er hält es nur für die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des Gegebenseins und begreift Heideggers Motivation der Thematisierung des erschlossenen Horizontes nicht. 7 Vgl. Ebd. 8 Vgl. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness: Investigations of Husserl, Heidegger, and phenomenology, Illinois, 1998, S. 2.

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7

objektivierbaren Horizontes als ein Spiel von Unverborgenem und Verborgenem, statt

ihn nur als transzendentale Möglichkeitsbedingung der Gegebenheit darzulegen. Mit

dem Verständnis von Heideggers Motivation im Sinn bezeichnet Marion Heideggers

Phänomenologie als die „Phänomenologie des Unerscheinbaren“ im Rahmen der

Gegebenheitsthematik. 9 An dieser Stelle gelangen wir zum Anliegen der

vorliegenden Arbeit, das sich in zwei Fragestellungen erfassen lässt: 1) Wie kommt

Heidegger im Rahmen der Gegebenheitsthematik zur Thematisierung des nicht

objektivierbaren Horizontes, mit anderen Worten, wie kommt Heidegger zur

„Phänomenologie des Unerscheinbaren“?; 2) Wie behandelt Heidegger das

Zum-Ausdruck-Bringen oder Zum-Sehen-Bringen des nicht objektivierbaren

Horizontes? Diese Fragen werden in den Interpretationen Tugendhats und Marions

zwar berührt, aber keiner näheren Betrachtung unterzogen.

Die Untersuchung der ersten Fragestellung führt zurück zu Heideggers Beschäftigung

mit dem faktischen Leben sowie seiner Auseinandersetzung mit Diltheys und

Husserls Denken in seinen Freiburger Anfängen. Heideggers phänomenologische

Forschung in den frühen Freiburger Vorlesungen stellt sich das Ziel, zum Ursprung

des Lebens vorzudringen und ihn sichtbar zu machen10, und zwar mit der destruktiven

Methode, der formalen Anzeige. Mit der Thematik der Destruktion auf den

Lebensursprung arbeitet Heidegger gleichzeitig seine Gegebenheitsthematik aus,

indem er mit Husserls phänomenologischem Ansatz und auf der Grundlage eines von

Dilthey übernommenen Gegebenheitsmodells operiert. Den Ursprung des Lebens

deutet Heidegger auf den Lebensvollzug, der als die sich dynamisch vollziehende

Offenheit der Verständnismöglichkeiten interpretiert wird, und diese Offenheit lässt

sich eben als der nicht objektivierbare erschlossene Horizont des gegenständlichen

Gegebenseins verstehen.

9 Marion,1998, S. 2. 10 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 127. Heidegger schreibt: „Das Ziel phänomenologischer Kritik ist das Sehen und Zum-Sehen-Bringen der echten, wahrhaften Ursprünge des geistigen Lebens überhaupt.“

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8

Da Heidegger das Ziel der phänomenologischen Forschung als das

Zum-Sehen-Bringen des Lebensursprungs formuliert, konfrontiert er sich mit der

Frage wie er den nicht objektivierbaren Ursprung oder Horizont des Lebens zum

Sehen bringen kann. In Dahlstroms Interpretation setzt Heidegger das

Zum-Sehen-Bringen des Horizontes in zwei Schritten um: Der erste Schritt ist die

Thematisierung des Horizontes und der erste Schritt nimmt sich wiederum den

zweiten Schritt zum Ziel, nämlich den nicht objektivierbaren Horizont zum

unmittelbaren Ausdruck zu bringen. Die Thematisierung des Horizontes erfolgt bei

Heidegger, so Dahlstrom, mit der philosophischen Begriffsbildung, in anderen

Worten, mit formal anzeigenden Begriffen. Die Thematisierung des Horizontes soll

„anhand der philosophischen Begriffe nicht zu einer Objektivierung führen“ und die

Begriffe können „den Sinn (Horizont) nur dadurch miterschließen, dass der Sinn

nach-vollzogen wird.“11 Dieser Charakter des philosophischen Begriffes versteht sich

als der formalanzeigende Charakter. Otto Pöggeler meint, dass die Thematisierung

des nicht Objektivierbaren mit der philosophischen Begriffsbildung bei Heidegger in

der philosophischen Hermeneutik mit dem „formal anzeigenden“ Charakter

ermöglicht werde. „Die formale Anzeige erschließt vorgreifend Seiendes auf seine

Seinsverfassung hin“.12 Die Erschließung der Seinsverfassung des Seienden bezieht

sich auf die Thematisierung des nicht objektivierbaren Horizontes, den Pöggeler als

Seinsverständnis annimmt. Dabei deutet er wie Dahlstrom an, dass die

Thematisierung des nicht Objektivierbaren zwar keine Objektvierung des

Thematisierten sei, aber das nicht Objektivierbare immer nur abhängig in der

Betrachtung des Seienden miterschlossen wird, das heißt es selbst allein nicht zum

unmittelbaren Ausdruck gebracht wird. Von daher lässt sich feststellen, dass die

Thematisierung des Horizontes von Anfang an die Frage bereits in sich birgt: Wie den

Horizont zum Ausdruck bringen, mit Heideggers Worten, zum Sehen zu bringen?

11 Dahlstrom, 1994, S. 309. Mit dem „Sinn“ in der Rede meint Dahlstrom die Sinnerschlossenheit, nämlich den Horizont. 12 Otto Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, 1983, S. 288.

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9

Dahlstrom verwendet den Terminus Vermittlung des späten Heidegger für das

Zum-Ausdruck-bringen des Horizontes und stellt fest, dass Heidegger in Sein und Zeit

in der Tat keine Prinzipien für die Vermittlung des Horizontes angibt. Noch

problematischer ist, dass die verlangte Vermittlung „der Richtung der Analyse in Sein

und Zeit entgegen(steht)“,13 da Heidegger den Horizont, d. h. die Erschlossenheit als

Möglichkeitsbedingungen der Entdecktheit bzw. des Gegebenseins in die analytische

Darlegung zieht, statt sie zum unmittelbaren Ausdruck zu bringen. Das heißt dass

Heideggers Behandlung der Thematik der Erschlossenheit seiner Motivation oder

seinem Ziel der Anführung der Thematik widerspricht. Vor diesem Hintergrund sei

Tugendhats Missverständnis der Motivation der Erschlossenheits-Thematisierung

Heideggers in gewissem Sinne verständlich, gibt Dahlstrom zu. Nach Dahlstrom liegt

der Grund des Scheiterns der Vermittlung des Horizontes in Sein und Zeit darin, dass

Heidegger keine Prinzipien für die Vermittlung aufstellt. Ob diese Argumentation den

Kern der Sache trifft oder nicht ist nicht Anliegen der vorliegenden Arbeit. Wichtig

ist festzuhalten, dass Dahlstroms Interpretation die Problematik der Vermittlung oder

des Zum-Sehen-Bringens des nicht objektivierbaren Horizontes bei Heidegger

herausarbeitet und ins Blickfeld rückt. Auch Marion fasst die Problematik des

Zum-Ausdruck-Bringens des Horizontes in Heideggers Denken ins Auge und hält sie

für ungelöst im Rahmen des Denkens des frühen Heidegger, nachdem er die

Hermeneutik als Lösung überprüft hat.14

„Vermittlung“ ist ein später Heidegger-Terminus, der in der Untersuchung der

Seinsgeschichte verwendet wird. Den Sinn der Vermittlung erklärt Borislav Mikulić

als das unmittelbare aber auch symbolische „Zur-Sprache-Kommen“ des Seins.15 Im

Sinne des unmittelbaren Zum-Ausdruck-bringens des nicht Objektivierbaren drückt 13 Dahlstrom, 1994, S. 311. 14 Vgl. Marion, 1998, S. 176-181. 15 Vgl. Borislav Mikulić, Sein, Physis, Aletheia. Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im 'ursprünglichen' Seinsdenken Martin Heideggers, Würzburg, 1987, S. 363. Der vollständige Text: „Wenn bei Heidegger von einer ‚Vermittlung’ des Seins gesprochen werden kann, dann einzig und allein in dessen ‚Zur-Sprache-Kommen’. Doch gerade diese ‚Vermittlung’ ist nicht nur unmittelbar, sondern auch nur symbolisch. Sie ist nämlich ein Geschehen zwischen Sein und Denken.“ Vgl. auch Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger, Freiburg/München, 2. Auflage, 1986, S. 21.

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10

der Terminus der Vermittlung durchaus die Kernbedeutung des

„Zum-Sehen-Bringens“ aus. Um sich jedoch vom Seinsgeschichte-Denken des späten

Heidegger abzugrenzen wird dieser Terminus in der nachfolgenden Diskussion für

das „Zum-Sehen-Bringen“ des Horizontes nicht verwendet werden. Stattdessen

sprechen wir von „Zum-Ausdruck-Bringen“ oder „Zur-Explikation-Bringen“. Hierbei

tragen die Begriffe des Ausdrucks und der Explikation einerseits nicht die Bedeutung

der theoretischen Verfestigung, sondern des unmittelbaren

„Zur-Sprach-Kommen-Lassens“; andererseits bergen sie den Verweis auf die

philosophische Auseinandersetzung mit dem nicht objektvierbaren Horizont. 16

Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass die Hermeneutik keine

zentrale Rolle beim „Zum-Sehen-Bringen“ des Horizontes spielt, da sie für Heidegger

als den verstehend-erlebmäßigen Zugang zum Leben oder Dasein fungiert im

Gegensatz zum analytischen und objektivierenden Zugang, und insofern eher mit dem

formalanzeigenden Charakter den Weg für die Thematisierung des Horizontes bereitet,

aber für Heidegger noch nicht genügt um den Horizont zum unmittelbaren Ausdruck

zu bringen.

Ziel und Aufbau der Arbeit

Das Vorhaben der vorliegenden Studie hat entsprechend der oben dargestellten zwei

Fragestellungen zwei Ziele. Das erste Ziel ist aufzuzeigen, wie Heidegger im Rahmen

der phänomenologischen Gegebenheitsthematik zur Thematisierung des nicht

objektivierbaren Horizontes, d. h. des Unerscheinbaren kommt.17 Dieses Vorhaben

16 Der Verweis auf die philosophische Auseinandersetzung mit dem Horizont in den Begriffen Ausdruck oder Explikation wird zwar auch vom Sinn des Terminus der Vermittlung übernommen. Dazu erklärt Orlando Pugliese, dass „die Philosophie sich nicht so sehr mit der Vermittlung als solcher und ihrem gründenden Erschließungscharakter, sondern eher mit dem in ihr Vermittelten auseinandergesetzt hat.“ Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger, Freiburg/München, 2. Auflage, 1986, S. 13. 17 Hierbei ist anzumerken, dass es bei diesem Vorhaben nicht um die Frage geht, ob die Thematisierung des nicht Objektivierbaren möglich ist oder unproblematisch ist. Diese Thematisierung des nicht Objektivierbaren wird eigentlich im hermeneutischen Diskurs bereits ausgiebig diskutiert und verteidigt. Die vorliegende Arbeit befasst sich eher damit, wie Heidegger die Dimension des Horizontes herausfindet und in die phänomenologische Gegebenheitsthematik einführt.

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11

konkretisiert sich in der vorliegenden Arbeit in zwei Schritten: Zunächst soll gezeigt

werden, wie Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen zur Thematisierung des

Lebensvollzugs kommt, der als nicht objektivierbarer und dynamischer Horizont des

gegenständlichen Gegebenseins fungiert, und dann soll die motivische Kontinuität der

Thematisierung des unerscheinbaren Horizontes im Laufe seines Denkens von den

frühen Freiburger Vorlesungen über Sein und Zeit bis zur Mitte der 1930er-Jahre

geprüft und aufgezeigt werden. Das zweite Ziel ist aufzuzeigen, wie Heidegger nach

dem Scheitern am Zum-Sehen-Bringen des Horizontes in den 1920er-Jahren mit

seinen Kunstüberlegungen in den 1930er-Jahren die Verkörperung des Sinnes als eine

ausgezeichnete Möglichkeit des Zum-Sehen-Bringens des Unerscheinbaren

herausarbeitet.

In Tugendhats Interpretation ist deutlich geworden, dass Heidegger in der

Gegebenheitsthematik mit der Anführung des erschlossenen Horizontes die

Gegenposition gegenüber Husserls Zurückführung auf das Konstitutionsbewusstsein

vertritt. Jedoch ist Heidegger nicht der Erste, der sich gegen Husserls

Gegebenheitsmodell des Bewusstseins ausspricht, und auch nicht der Erste, der die

Dimension des offenen Horizontes in die phänomenologische Gegebenheitsthematik

einführt. Der Erste ist Dilthey, dessen Beschäftigung mit der Gegebenheitsthematik

und dessen Spannung mit Husserl in Bezug auf diese phänomenologische zentrale

Thematik selten beachtet werden. Daher beginnt die Studie im ersten Kapitel mit der

Rekonstruktion von Diltheys Theorie des Lebens, in der seine Behandlung der

Gegebenheitsthematik im Spannungsfeld gegenüber Husserl, seine Kritik an der

Transzendentalphilosophie sowie seine Einsicht des geschichtlichen Horizontes des

Gegebenseins deutlich hervorgehoben werden sollen. Am Ende des ersten Kapitels

wird auch die Divergenz zwischen Dilthey und Heidegger deutlich werden. Diltheys

Untersuchung des geschichtlichen Horizontes zur Objektivation des Lebens zum

Aufbau der Typologie der Weltanschauungen führt mit der Motivation, den

geschichtlichen Horizont des Lebens zum Ausdruck zu bringen, während das Ziel des

Zum-Ausdruck-Bringens des geschichtlichen Horizontes für Heidegger nicht durch

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12

den Aufbau einer Typologie der Weltanschauungen zu erreichen ist, sondern im

Gegenteil durch den Abbau, nämlich die Destruktion des Lebensphänomens.

Von Diltheys Lebensphilosophie übernimmt Heidegger die Konzeption des

geschichtlichen Lebens sowie das Gegebenheitsmodell als Grundlage seines

Ursprungsdenkens in den frühen Freiburger Vorlesungen. Das zweite Kapitel befasst

sich mit Heideggers Auffassung der Phänomenologie des Lebens als der

Ursprungswissenschaft im Unterschied zu Husserls Verständnis der Urwissenschaft

und seiner Thematik der Destruktion auf den Lebensursprung, den er auf den

Lebensvollzug deutet, wobei die Destruktionsthematik sich in einer Rekonstruktion

als Heideggers Gegebenheitsthematik auffassen lässt. Der Lebensvollzug versteht sich

in Heideggers Illustration als die sich dynamisch vollziehende Offenheit der

Verständnismöglichkeiten, die in Annäherung zu Diltheys Einsicht eben den nicht

objektivierbaren und geschichtlichen Horizont des gegenständlichen Gegebenseins

bedeutet. In dieser Rekonstruktion wird Heideggers Gegebenheitsmodell, das er von

Dilthey übernimmt und durch formale Anzeige weiter entwickelt, demjenigen

Husserls gegenüber gestellt. Auch wird Heideggers Zielstellung der Destruktion als

Vordringen zum Lebensvollzug herausgearbeitet, die es ermöglichen soll, den nicht

objektivierbaren Lebensvollzug als Sinnoffenheit zum Sehen zu bringen.

Im dritten Kapitel wendet sich die Untersuchung einer Auseinandersetzung mit

Heideggers Kritik an Husserls Versäumnis der Seinsfrage in seiner

Transzendentalphänomenologie zu, die Heidegger in der frühen Marburger

Prolegomena-Vorlesung ausübt. In dieser Kritik scheint es, dass die Spannung im

Ursprungsdenken bzw. in der Gegebenheitsthematik zwischen Heidegger und Husserl

sich zur Divergenz bezüglich der Pertinenz eines ontologischen Projektes wandelt.

Anhand der Interpretation Marions wird jedoch ausgewiesen, dass die Divergenz

zwischen Husserl und Heidegger bezüglich der Pertinenz eines ontologischen

Projektes auf den Unterschied zwischen ihren Gegebenheitsauffassungen

zurückzuführen ist. Dabei wird auch aufgezeigt, wie Heidegger mit der

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13

Herausstellung der Seinsfrage seine Gegebenheitsauffassung behandelt. Der Seinssinn

des Seienden verweist Marion zufolge auf die primäre Gegebenheitsweise des

Seienden, nämlich das Sichzeigen im Spiel der Offenbarung aus der Verborgenheit.

Durch Marions Interpretation liegt die Vermutung nahe, dass die

Gegebenheitsthematik, die er in den frühen Freiburger Vorlesungen mit der Thematik

der Destruktion des Lebens auf seinen Ursprung erarbeitet, in Heideggers

ontologischem Projekt, das er in den Marburger Vorlesungen durchführt, immer noch

im Zentrum steht.

Das vierte Kapitel macht es sich zur Aufgabe, die motivische Kontinuität der

Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in Heideggers ontologischem

Projekt zu prüfen und auszuweisen. Die Prüfung wird vor allem anhand des Textes

Sein und Zeit durchgeführt werden, und zwar mittels einer Rekonstruktion des Textes.

Mithilfe von Marions Interpretation wird Heideggers Gegebenheitsthematik, die in

zwei Schichten erläutert wird, in der Rekonstruktion des ontologischen Projekts von

Sein und Zeit hervorgebracht. Und jeweils in diesen beiden Schichten lässt sich die

Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in Sein und Zeit

ausweisen, die in die Herausstellung des ursprünglichen Gegebenheitsmodells und die

Thematisierung des Lebensvollzugs als der Offenheit der Verstehensmöglichkeiten

zerlegt wird. Zum Schluss wird mit der kritischen Darlegung der Thematisierung der

Erschlossenheit in Sein und Zeit, die Heidegger mit der Zeitanalytik ausführt,

argumentiert, dass diese Thematisierung des Lebensvollzugs nicht ans Ziel, nämlich

nicht zur Explikation der Erschlossenheit, d.h. der Offenheit der

Verstehensmöglichkeit selbst geführt wird und dieses Scheitern in der

analytisch-paradigmatischen Konstruktion des transzendentalen Zeithorizontes liegt.

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht Heideggers Beschäftigung mit der Thematik

des „Zum-Sehen-Bringens“ oder „Zum-Ausdruck-Bringens“ der Offenheit der

Verstehensmöglichkeiten, die sich bei Heidegger in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre

als das Grundgeschehen der ursprünglichen Wahrheit auffasst. Auf dem Weg, die

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14

Offenheit der Verstehensmöglichkeit, mit anderen Worten, die nicht objektivierbare

und dynamisch sich vollziehende Sinnoffenheit zum Ausdruck zu bringen, bemüht

sich Heidegger zuerst das transzendentalistische Motiv zu überwinden, indem er den

Forschungsakzent von der transzendentalen Analytik des Zeithorizontes auf die

Darstellung der Verbergung-Entbergung-Dynamik des Wahrheitsgeschehens als der

Sinnoffenheit schiebt. In der Weiterführung der zentralen Thematik befasst Heidegger

sich mit der Kunstuntersuchung, die vor allem in seinem Kunstwerkaufsatz erläutert

wird. In seinen Kunstüberlegungen zeichnet sich die Möglichkeit aus, die

Sinnoffenheit unmittelbar zum Sehen zu bringen, nämlich die Verkörperung des

Sinnes im Kunstwerk. Dabei wird aufgezeigt, dass Heideggers Kunstauffassung der

Verkörperung des Sinnes auch in der gegenwärtigen Kunstphilosophie präsent ist und

weiter fruchtbar interpretiert werden könnte. Zum Schluss werden Heideggers

Ansichten über die Verkörperung des Sinnes, die Kunst-Raum-Thematik sowie das

Topologie-Denken, mit welchen er sich in seinem Spätdenken beschäftigt, einer

kurzen Betrachtung unterzogen, als gesamthafter Ausblick auf die vorliegende Arbeit.

Page 17: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

15

1. Diltheys Thematik der gegenständlichen Gegebenheit

Die Frage, welche Rolle Dilthey im Denken Heideggers spielt, wurde in der

Vergangenheit bereits ausgiebig diskutiert. Bekannt ist, dass Heidegger die

Konzeptionen des Lebens und der Geschichte bzw. Geschichtlichkeit von Diltheys

übernimmt und in einen phänomenologischen Horizont überführt; und dass es der

Einfluss Diltheys war, der ihn dazu veranlasste, über Husserls phänomenologisches

Denken hinauszugehen. Der unmittelbare philosophische Diskurs zwischen Dilthey

und Husserl erregt dabei beträchtliches Interesse. Nachdem Georg Misch in seinem

Werk Lebensphilosophie und Phänomenologie eine gründliche Analyse von Diltheys

und Husserls Denken und deren Unterschiede vorgelegt hat, rückt der bedeutsame

Dialog zwischen diesen beiden Denkern sowie ihre philosophischen Affinitäten und

Spannungen vermehrt ins Blickfeld, und es eröffnen sich dabei vielfältige

Diskussionsbereiche für die Untersuchung ihrer unterschiedlichen Zugänge zu Leben

und Bewusstsein. In allen diesen Untersuchungen fällt die phänomenologische

Thematik mit Blick auf Dilthey jedoch kaum ins Auge. Die Rolle der

phänomenologischen Analytik bei Dilthey wird meist „nur (als) eine Methode für die

epistemologische Gründung der Geisteswissenschaft (interpretiert), die sich von der

Naturwissenschaft differenziert“ 18 , wobei sein Engagement im Rahmen einer

zentralen phänomenologischen Thematik, der gegenständlichen Gegebenheit, selten

beachtet wird. Dies führt dazu, dass die Rolle, die Dilthey sowohl für Heidegger als

auch für Husserl spielt, bestenfalls als die eines philosophischen Gesprächspartners

außerhalb des Kernbereichs der Phänomenologie anerkannt wird, und so seine

Bedeutung für die Entwicklung der Phänomenologie im Allgemeinen und besonders

für die Entwicklung des phänomenologischen Denkens Heideggers viel zu wenig

berücksichtigt wird. Die Aufgabe dieses Kapitels wird es daher sein, mittels einer

Rekonstruktion der Lebenstheorie von Dilthey seine Beschäftigung mit der zentralen

phänomenologischen Thematik der gegenständlichen Gegebenheit herauszuheben,

18 Rudolf Adam Makkreel, Dilthey – Philosopher of the Human Studies. New Jersey, 1975, S. 275.

Page 18: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

16

und so die Perspektive zu eröffnen, wie Dilthey und Husserl entlang der

Gegebenheitsthematik einen maßgeblichen Dialog führen können, sowie inwiefern

Heidegger in seinem Aufgreifen der Gegebenheitsthematik im Zentrum der

phänomenologischen Forschung Unterstützung von Dilthey erfahren kann. 1.1 Diltheys Begründung der Geisteswissenschaft in der Lebenslehre Dilthey gelangt zum Begriff des Lebens, als er versucht, die Autonomie der

Geisteswissenschaft gegenüber der Naturwissenschaft zu behaupten. Den Bereich der

Geisteswissenschaft grenzt Dilthey dabei gegen den der Naturwissenschaft ab anhand

einer Differenzierung ihres Forschungsgegenstandes und ihrer Forschungsmethode. In

der Einleitung in die Geisteswissenschaften behauptet er das Leben als den

Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften, im Kontrast zum Gegenstand der

Natur bei den Naturwissenschaften.

Diese (Geisteswissenschaft) hat eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen.19

Der Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaft sind keine Naturdinge, sondern

das Leben des Menschen. In den Lebenserfahrungen herrschen nicht die Gesetze der

Kausalität und der Logik, sondern es gibt nur Lebenszusammenhänge, die direkt

erlebt und erfasst werden. Der Naturprozess wird dagegen in logischen Kategorien

und allgemeinen Zusammenhängen erkannt, aber „das Gefühl des Lebens in dem

wahrhaftigen, natürlichen starken Menschen und der ihm gegebene Gehalt der Welt

ließen sich nicht in dem logischen Zusammenhang einer allgemeingültigen

Wissenschaft erschöpfen.“20 Die Geisteswissenschaft gewinnt so bei Dilthey ihre

Autonomie zuerst dadurch, dass sie sich für die Analyse des menschlichen Lebens

einsetzt, das kein Naturding oder Naturprozess sei, wie sie die Naturwissenschaft in

den Blick nimmt.

19 Dilthey, I, S. 109. 20 Dilthey, I, S. 395.

Page 19: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

17

1.1.1 Das ursprüngliche Leben in der Ganzheit Die Geisteswissenschaften untersuchen laut Dilthey zwar historische und

gesellschaftliche Wirklichkeiten, aber ihr Gegenstand sei im Grunde also das

menschliche Leben. Die Autonomie der Geisteswissenschaften sei dadurch

gerechtfertigt, dass das Leben in Totalität, das heißt als ein Ganzes gegeben ist. Das

Lebensganze besteht nicht aus einzelnen Bestandteilen, die in der wissenschaftlichen

Analytik zergliedert und isoliert werden könnten, sondern aus einem lebendigen

Lebenszusammenhang, der keiner analytisch-naturwissenschaftlichen Betrachtung

zugänglich sei. In Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens

erweitert Dilthey den Sinn des Lebens als Gegenstand der Forschung, und er

behauptet nun sogar, dass das Wissen von beiden Wissenschaften, der

Geisteswissenschaft als auch der Naturwissenschaft, aus dem Leben entspringe.

Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt. Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit.21

Das Leben sei laut Dilthey nicht nur der Ursprung des geisteswissenschaftlichen

Wissens, sondern auch der Ursprung des Wissens überhaupt. Das

analytisch-theoretische Erkennen kann nicht hinter das Leben zurückgehen, denn es

selbst ist im Leben gegründet. Dilthey spricht von „innerer Logik“, die unmittelbar in

den inneren Erfahrungen gegenwärtig sei. Die im Erkennen fungierenden Logik und

Kategorien hält Dilthey, sich gegen Kants Transzendentalphilosophie wendend, nicht

für etwas Apriorisches im Verstande des Subjekts, sondern für eine Abstraktion der

„inneren Logik“ des Lebens, die in „elementarer logischer Operation“ des Lebens

fundiert ist.

21 Dilthey, V, S. 83.

Page 20: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

18

Nur durch eine Abstraktion heben wir eine Funktion, eine Verbindungsweise aus einem konkreten Zusammenhang heraus. [...] Ich möchte sagen, dass die elementaren logischen Operationen, wie sie an den Eindrücken und Erlebnissen aufblitzen, gerade von der inneren Erfahrung aus am besten erfasst werden können.22

Die „innere Logik“ und die „elementare logische Operation“ gehören zum inneren

Leben. Es sei die lebendige, einheitliche Tätigkeit in uns, welche selber

Zusammenhang ist.23 Das Leben, das aus dem Lebenszusammenhang besteht, sei der

unhintergehbare Ursprung des Erkennens und Wissens. „Es ist also aller

Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, der eigenen

inneren Lebendigkeit entnommen, [...] Das Bewusstsein kann nicht hinter sich selber

kommen.“24 Das Erkennen entstamme den Lebenszusammenhängen und kann daher

nicht hinter das Leben zurückgehen. Hier lässt sich bereits erkennen, dass Diltheys

Auseinandersetzung mit dem Thema des Lebens einen erkenntnistheoretischen

Ausgang hat, in der dieses die Rolle der Begründung der Geisteswissenschaften und

sogar des Wissens im Allgemeinen übernimmt.25 1.1.2 Der Zugang zum Leben Wenn das Leben als unhintergehbarer Ursprung des Erfahrens und Erkennens zu

verstehen ist, dann ergibt sich daraus die Frage, wie das Leben selbst zugänglich

machen lässt. Dilthey verweigert dem theoretischen Wissens den Zugang zum Leben,

da dieses „nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verstandes“26 wird. „Was wir

so erleben, können wir auch vor dem Verstand niemals klar machen.“27

Die Suche nach dem Zugang zum Leben in seiner Lebendigkeit ist eine allgemeine

Frage der Lebensphilosophie. Für Bergson und Klages wird das Leben in Intuition

22 Dilthey, V, S 171. 23 Vgl. Ebd., S. 193. 24 Ebd., S. 193. 25 Vgl. Dilthey, VII, S. 117. 26 Dilthey, I, S. 141. 27 Dilthey, V, S. 170.

Page 21: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

19

und Anschauung zugänglich. Aber Dilthey sieht zwischen subjektiver Intuition und

dem lebendigen bewegten Leben eine bleibende Kluft. Im Gegensatz zu Bergson und

Klages greifen Dilthey das Erleben oder das Erlebnis als Zugang zum lebendigem

Leben auf. Erleben bedeutet bei Dilthey die unmittelbare Weise, wie dem Menschen

sein eigenes Leben gewahr wird. In diesem Sinne spricht er auch oft vom

„Innewerden“, vom „Selbsthaben“ oder „Selbsterleben“. „Im Erleben ist Innesein und

der Inhalt, dessen ich inne bin, eins“.28 Das Erleben als Innewerden des Lebens

versteht sich nicht als eine Subjekt-Objekt-Relation zwischen dem Menschen und

seinem Leben, sondern im Innewerden des Lebens sind Erleben und Leben an sich in

einer ursprünglichen Einheit verbunden.

Wenn das Innewerden eine Einheit mit dem Leben bilde, wie lässt es sich dann

explizieren? An dieser Stelle kommt der grundlegende Zusammenhang zwischen

Erleben, Ausdruck und Verstehen zum Tragen. Unter Ausdruck versteht Dilthey den

unmittelbaren Zugang zum Erleben. Dieser berge daher in sich keine Reflexion. „Der

Ausdruck quillt aus der Seele unmittelbar, ohne Reflexion.“ 29 Wenn der

nicht-reflexive Ausdruck des Lebens als solcher verstanden wird, dann wird das

Leben selbst der Aneignung und Aufklärung zugänglich. „Es ist der Vorgang des

Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird.“30

Erleben, Ausdruck und Verstehen machen zusammen die Grundstruktur von Diltheys

Hermeneutik aus. 1.1.3 Die schöpferische Kraft des Ausdrucks und die Unergründlichkeit des

Lebens Im Ausdruck drücke das Leben nicht nur sich, sondern mehr aus, so Dilthey. „Der

Ausdruck kann nämlich vom seelischen Zusammenhang mehr enthalten, als jede

Introspektion gewahren kann. Er hebt [...] aus Tiefen, die das Bewusstsein nicht

28 Dilthey, VII, S. 27. 29 Ebd., S. 328. 30 Ebd., S. 87.

Page 22: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

20

erhellt.“31 Warum drückt das Leben im Ausdruck mehr aus als es, das in der

Introspektion oder im Bewusstwerden eingeholt werden kann? „Was im Erleben ohne

Besinnen auftritt, wird im Ausdruck desselben gleichsam herausgeholt aus den Tiefen

des Seelenlebens [...] So enthält er mehr vom Erlebnis, als Selbstbeobachtung

auffinden kann.“32 Dilthey verweist an dieser Stelle auf die schöpferische Kraft des

Ausdrucks. Der „Ausdruck hebt aus diesen Tiefen heraus. Er ist schaffend. Und so

wird uns im Verstehen das Leben selber zugänglich, zugänglich als ein Nachbilden

des Schaffens.“33 Der Ausdruck ist daher „schaffende Explikation“34 des Lebens,

und er bringt jedes Mal eine neue Gestaltung des Lebens hervor.

Hier stellt sich nun die Frage, woher die schöpferische Kraft des Ausdrucks von

Leben stammt. Nach Dilthey entspringe sie aus den Tiefen des Lebens, das heißt aus

seiner Unergründlichkeit, die eben den lebensphilosophischen Geist bei Dilthey

ausmacht und an die Grundlagen seines philosophischen Denkens heranreicht. Die

Konzeption der Unergründlichkeit bildet einen Kern seines lebensphilosophischen

Ansatzes, um in der Interpretation des Lebens alle erstarrenden und verfestigenden

Mächte des begrifflichen Denkens und des Intellektualismus zu bekämpfen. Dem

„Verstand sind die Leidenschaften, das Opfer, die Hingabe des Selbst an die

Objektivität undurchdringlich: nie kann Erleben in Begriffe aufgelöst werden“.35 Das

heißt, dass das Erleben als Innewerden des Lebens in dessen unergründlichen und

unerschöpflichen Tiefen verbleibt und dem Verstand unzugänglich ist. Aber führt diese Konzeption der Unergründlichkeit des Lebens nicht zu einem

Irrationalismus? Otto Friedrich Bollnow weist mit Blick auf den positiven Charakter

der Unergründlichkeit darauf hin, dass die Unhintergehbarkeit weder irrationalistische

Haltung noch aufbrechendes Lebensgefühl sei, sondern das eigene Wesen des Lebens

selbst ausmache. „Leben ist nicht darum unergründlich, weil wir nicht zu seinem

31 Dilthey, VII, S. 206. 32 Ebd., S. 328. 33 Ebd., S. 220. 34 Ebd., S. 138. 35 Ebd., S. 331.

Page 23: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

21

Grund vorzudringen vermöchten, sondern weil es wesensmäßig keinen ‚Grund’ hat,

sondern ‚offen’ ist in seine Möglichkeiten hinein.“36 Das unergründliche Leben ist

nicht über das begriffliche Denken zugänglich, sondern manifestiert sich nur, wie

oben erörtert, im schaffenden Ausdruck und Verstehen. Mit anderen Worten: es findet

„seine Erfüllung aus der geschichtlich-dynamischen Auffassung des menschlichen

Lebens: dass dieses nämlich schöpferisch Neues aus den unergründlichen Wurzeln

seines Daseins hervorzubringen vermag.“37 1.2 Die Theorie des Lebens sowie die Thematik der gegenständlichen

Gegebenheit bei Dilthey Im Vergleich zu anderen Lebensphilosophen, wie Bergson und Nietzsche, die das

Leben als etwas Ontologisches und Lebendiges im Gegensatz zum Verstand ansetzen,

versucht Dilthey vielmehr, die zentrale erkenntnistheoretische Frage, die seit Kant

alle Erkenntnislehre notwendig ins Auge fasst, nämlich wie Erkennen überhaupt

möglich sei, zu beantworten, um so eine Fundamentalwissenschaft vom Leben zu

begründen.

In Diltheys Lehre ist das Leben verfasst als der unhintergehbare Ursprung allen

Erfahrens und Erkennens, der nur im unmittelbaren Selbsterleben erfahren wird. Einer

theoretisch-objektivierenden Sichtweise auf das Phänomen „Leben“ wirft er die

Unzugänglichkeit der Behandlung des Lebens vor. Dazu gehört auch die in Der

Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften geübte Kritik an der

Brentano-Schule, die das Leben in abstrakte Entitäten zu zerlegen und aus diesen das

Leben wieder zusammenzusetzen versuche. An dieser Stelle findet nun auch Husserls

Position Erwähnung. Hinter der Kritik an der zerlegenden Behandlung des Lebens

verbergen sich Spannungen zwischen Dilthey und Husserl, die noch eine andere

Thematik betreffen, nämlich die der gegenständlichen Gegebenheit. Diltheys Position

36 Otto Friedrich Bollnow, Dilthey, Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart, 2. Auflage, 1955, S. 141. 37 Ebd., S. 141.

Page 24: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

22

gegenüber Husserls phänomenologischer Auffassung der Gegebenheit verbirgt sich in

seiner Einsicht in die innere Struktur sowie den faktisch-geschichtlichen Charakters

des Lebens. Es ist diese Einsicht, die von Heidegger aufgegriffen wird, und die in

dessen Ausführungen der frühen Freiburger Vorlesungen über das faktische Leben

eine zentrale Rolle spielt. 1.2.1 Die Gegebenheitsmodelle von Dilthey und Husserl Die Spannung zwischen Dilthey und Husserl beschränkt sich nicht nur auf den

Kontrast zwischen dem unmittelbaren Selbsterleben und der theoretischen Zerlegung

als oppositionelle Zugänge zum Leben, sondern betrifft auch ihre unterschiedlichen

Auffassungen der gegenständlichen Gegebenheit. Der Begriff der

Gegebenheitsthematik ist mit Blick auf Dilthey durchaus etwas befremdlich, da sich

zunächst nicht feststellen lässt, dass das Thema der „Gegebenheit“ des Gegenstandes

bei Dilthey überhaupt auftaucht. Die Unsicherheit darüber, ob die

Gegebenheitsthematik bei Dilthey überhaupt zu finden ist, rührt daher, dass man mit

Gadamer davon ausgeht, dass die gegenständliche Gegebenheit auf „(einer) Trennung

des gegebenen von dem, dem es gegeben ist“ 38 basiere, was einen

theoretisch-objektivierenden Zugang verlangt. Dies ist eher die Husserlsche

Auffassung der Gegebenheit des Gegenständlichen. Dilthey vertritt jedoch eine

andere Auffassung.

Seine Auseinandersetzung mit der Gegebenheitsthematik beginnt Dilthey in

Anlehnung an Husserls Intentionalitätslehre. Es ist bekannt, dass die beiden

Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einen philosophischen

Gedankenaustausch traten, und sich, wie Georg Misch es beschreibt, nicht einfach

38 Der vollständiger Text: “Es ist eine zutiefst temporale, ontologische Problematik. Einerseits soll das Erlebnis die absolute Gegebenheit sein, die man nicht einmal Gegebenheit nennen sollte, weil darin eine Trennung des Gegebenen von dem, dem es gegeben ist, nahegelegt wäre. Der Ausdruck ‚Innesein’ will alle ‚Gegebenheit’ noch überbieten. Auf der anderen Seite konstituiert sich die Erlebniseinheit gerade nicht durch das bloße Dabeisein, das als Innesein einer inneren Erfahrung gelten soll, sondern durch das Besondere dessen, was da zur Erfahrungen kommt und im ganzen des Lebensverlaufs seine Bedeutung hat.“ Gadamer, BI 4, Neuere Philosophie, 1987, S. 413.

Page 25: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

23

miteinander maßen wie Hobbes und Descartes, sondern im gemeinsamem

philosophischen Bemühen zusammenfanden.39 Auf eine umfassende Analytik der

Beziehung zwischen den beiden Philosophen kann im Rahmen der vorliegenden

Arbeit nicht eingegangen werden. Womit wir uns an dieser Stelle aber näher befassen

möchten, ist die Frage, wie Dilthey im Ausgang von der Intentionalitätslehre Husserls

sein eigenes Verständnis der gegenständlichen Gegebenheit entwickelt.

In dem Moment, da Dilthey in Der Aufbau der geschichtlichen Welt seine

Untersuchung des Lebens und des Erkennens im erkenntnistheoretischen Rahmen

durchzuführen versucht, wendet er sich der Phänomenologie Husserls zu. In seiner

Darlegung der Struktur von Erkenntnis, strenger genommen, von Erlebnissen, nimmt

er gelegentlich auf Husserls Logische Untersuchungen Bezug. Die

Intentionalitätslehre, die Husserl in den Logischen Untersuchungen entfaltet, erfährt

in Diltheys Darstellung der gegenständlichen Auffassung Resonanz. Wie Husserl so

unterscheidet auch Dilthey das signifikante Auffassen (theoretisches Erkennen) vom

intuitiven Auffassen (Anschauung). Wahrheit stelle sich laut Husserl ein, wenn das

signifikante Auffassen der Aussage von Anschauungserlebnissen erfüllt wird. Auch

diese Wahrheitsbestimmung aus den Logischen Untersuchungen nimmt Dilthey auf.

„Jede Aussage über Erlebtes ist objektiv wahr, wenn sie zur Adäquation mit dem

Erleben gebracht ist.“40 Weitere Anleihen von Husserls Intentionalitätslehre finden

sich in Diltheys Darstellung der anschaulichen Erlebnisse. Wie dieser teilt er die

anschaulichen Erlebnisse in zwei Arten auf: „Wahrnehmung“ und „Wahrnehmung

zweiten Grades“,41 die auch als „elementare logische Operationen“ bezeichnet. Beide

Arten von Anschauung haben jeweils einen einzelnen Gegenstand bzw. hochstufige

Gegenstände wie Sachverhalte und Idealgegenstände als ihre Auffassungsobjekte.42

Mit der Hinwendung zur Intentionalitätslehre in den Logischen Untersuchungen tritt

39 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, Bonn, 1930, S. 180. 40 Dilthey, VII, S. 26. 41 Vgl. Ebd., S. 42. 42 Die Begriffe der Wahrnehmung und der elementaren logischen Operationen finden ihre Entsprechungen in der Intentionalitätslehre Husserls in Begriffen der „schlichten Anschauung“ und der „kategorialen Anschauung“.

Page 26: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

24

Diltheys erkenntnistheoretisches Denken ein in den phänomenologischen

Fragebereich der Evidenz oder der gegenständlichen Selbstgegebenheit. Er sucht

jedoch eine andere Interpretation der Selbstgegebenheit des Gegenständlichen zu

entwickeln, als sie bei Husserl vorliegt, um seine der traditionellen

Transzendentalphilosophie entgegengesetzte Position stark zu machen.

Für Husserls Interpretation der anschaulichen Auffassung des Gegenstandes ist das

Anschauungsmodell ausschlaggebend. Das Anschauungsmodell umfasst die Intention

(Auffassungssinn) und die sinnlichen Inhalte. 43 In diesem dualistischen

Anschauungsmodell werde Husserl zufolge der Gegenstand leibhaftig gegeben, das

heißt er ist selbst gegeben. In der Selbstgegebenheit erblickt Husserl den Charakter

der Evidenz. Der Begriff der Evidenz steht bei Husserl für das Phänomen der

Wahrheit, und somit für die Geltung der Erkenntnis. Zur Aufklärung der

Selbstgegebenheit zieht Husserl in den Logischen Untersuchungen die Bestandteile

des Anschauungsaktes heran, wie die Intention, den Gegenstand und den

Empfindungsinhalt usw.

Anders als Husserl beschäftigt sich Dilthey nicht mit der Zergliederung des intuitiven

Aktes in seine Bestandteile, sondern vielmehr mit den inneren Beziehungen der

anschaulichen Erlebnisse, denn seiner Ansicht nach sind es eben diese inneren

Beziehungen der Erlebnisse, welche die Selbstgegebenheit des Gegenstandes

bestimmen. Diese inneren Beziehungen bezeichnet er auch als strukturelle Beziehung

oder als Lebenszusammenhang. Die strukturellen Beziehungen, so Dilthey, seien

konstituiert durch die gegenständlichen Relationen, die in anschaulichen Inhalten

schon unmittelbar enthalten seien, und seien „Fortgang von Relationen, die im

Gegenstand vorfindlich sind, zu denen, die in größeren gegenständlichen

43 Vgl. Robert Sokolowski, The Formation of Husserl´s Concept of Constitution, The Hague, 1964, S. 54-57. Sinnliche Inhalte sind in Husserls Darstellung in der sinnlichen Anschauung als Empfindungsinhalt und in der kategorialen Anschauung als „psychisches Band“ oder „kategorialer Repräsentant“ bezeichnet.

Page 27: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

25

Zusammenhängen sattfinden“.44 Diltheys Interpretation der anschaulichen Erlebnisse

läuft in der gegenständlichen Auffassung nicht auf dualistisches Anschauungsmodell

hinaus, sondern auf die Forderung, „Beziehungen überall herzustellen zwischen allem

Erlebbaren und Wahrnehmbaren.“45 Die strukturelle Beziehung der Erlebnisse, die in

der Bestimmung des Gegenstandes durch erlebte Inhalte liegt, bringt das System der

gegenständlichen Relationen hervor und äußert sich in ihnen. 46 Aus dieser

Interpretation deutet Dilthey an, dass die inneren Beziehungen des Lebens das System

der gegenständlichen Relationen aufbauen, und dass sich in diesem und nur in diesem

das Gegenständliche im Vollzug der inneren Beziehungen offenbart oder gegeben

wird. Die Selbstgegebenheit des Gegenstandes sei nach Dilthey gerade nicht über das

Anschauungsmodell bzw. das Gegebenheitsmodell von Intention und sinnlichem

Inhalt auszuweisen, welche nur zerlegte Bestandteile des subjektiven Bewusstseins

seien. 47 Georg Misch fasst Diltheys Interpretation der Selbstgegebenheit des

Gegenstandes im Kontrast zu Husserls Bestimmung der Evidenz wie folgt auf.

Evidenz ist nicht Isoliertes [...] sondern eine eigentümliche Weise der Erfahrung, eine unter anderen, ausgezeichnet durch die „Selbsthabe“ der Sache, aber diese Auszeichnung kommt ihr nur durch ihre Funktion innerhalb des Zusammenhangs der Erlebnisse.48

Die Selbstgegebenheit, die Evidenz interpretiert Dilthey als „Selbsthabe der Sache“,

die sich von Husserls Auffassung dadurch unterscheide, dass das Gegenständliche als

gegenständliche Relation im System der inneren Beziehungen oder des

Lebenszusammenhangs erlebt und vollgezogen wird,49 während der intentionale

44 Dilthey, VII, S. 41. 45 Ebd., S. 43. 46 Vgl. Ebd., S. 41. 47 Obwohl Diltheys Kritik an Husserl ausdrücklich allein das statische Anschauungsmodell in der Intentionalitätslehre der Logischen Untersuchung betrifft, gilt die Kritik auch für die später erfolgten noesis-noema-Schemata, die sich als eine vertiefte und genetische Version des Intentionalitätsmodells kennzeichnet, da die neuen Schemata immer noch im Bereich der Subjektivität bleibt. Wie Georg Misch sagt: „Die intentionale Analyse, die zusieht, wie irgend eine Art von Gegenständlichkeiten [...] ihren Seinssinn in der Subjektivität und für sie aufbauen, ergänzt sich und vertieft sich zugleich zur genetischen.“ Georg Misch, 1930, S. 203. 48 Georg Misch, 1930, S. 206. 49 Für Dilthey ist das Gegenständliche kein realer Gegenstand, und auch vom intentionalen Gegenstand bei Husserl zu unterscheiden. In Diltheys Interpretation ist das Gegenständliche meistens als „gegenständliche Relationen“ erfasst, die in Erlebensakten enthalten, erlebt und vollzogen sind. (Vgl. Dilthey, VII, 35, 41, 42, 43, 44)

Page 28: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

26

Gegenstand im dualistischen Anschauungsmodell Husserls als ideale Einheit

aufgefasst wird. Von dieser Differenz in der Auffassung der Selbstgegebenheit

ausgehend, lässt sich Diltheys Gegebenheitsmodell gegenüber dem von Husserl

herausarbeiten. Das Gegebenheitsmodell bei Dilthey ist mit Blick auf dessen

Interpretation der Selbstgegebenheit des Gegenständlichen als ein inneres System

struktureller Beziehungen auszulegen, in dem das Gegenständliche gegeben, das heißt

erfahren und aufgefasst wird. Dieses System bestehe nicht bloß in der

gegenständlichen Auffassung, sondern in der Verwebung von Auffassung und

Gefühlen oder Willensintentionen.

Alle Erlebnisse, welche durch gegenständliches Auffassen charakterisiert sind, enthalten nun innere Beziehungen aufeinander. Diese strukturellen Beziehungen gehen durch alle Verwebungen hindurch, in denen Gefühle oder Willensintentionen mit dem gegenständlichen Auffassen verbunden sind.50

1.2.2 Diltheys Kritik an der Transzendentalphilosophie

Von diesem Gegebenheitsmodell her behauptet Dilthey seine Gegenposition zu

Husserls Auffassung des Lebens, und er verweist darauf, dass Husserls

Gegebenheitsmodell auf dessen zergliedernder Behandlung des Lebens, womit hier

das Bewusstsein gemeint ist, zurückzuführen sei. Für Dilthey sei das ursprüngliche

Leben, wie zuvor bereits erläutert wurde, nicht über eine zergliedernde und

analytische Behandlung zugänglich, da es sich ursprünglich als das Ganze des

Lebenszusammenhangs gibt. Von daher unterzieht er die Behandlung des

Bewusstseins bei Husserl der Kritik.

Wie weit kann nun diese Zergliederung gehen? Auf die der naturwissenschaftlichen atomistischen Psychologie folgte die Schule Brentanos, welche psychologische Scholastik ist. Denn sie schafft abstrakte Entitäten, wie Verhaltungsweise, Gegenstand, Inhalt, aus denen sie das Leben zusammensetzen will. Das Äußerste hierin Husserl. Im Gegensatz hierzu: Leben Ganzes. Struktur: Zusammenhang dieses Ganzen, bedingt durch die realen Bezüge zur

50 Dilthey, VII, S. 36.

Page 29: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

27

Außenwelt.51

Dieser Art und Weise der Behandlung des Bewusstseins oder des Lebens liege in den

Augen Diltheys darüber hinaus das erkenntnistheoretische Paradigma der

Transzendentalphilosophie zugrunde. Das Lebensganze fasst Dilthey als ein Ganzes,

das heißt als ein einheitliches System struktureller Beziehungen der Erlebnisse auf.

Diese seien keine Bewusstseinstatsachen, sondern „vom Bewusstsein unabhängige

Wirklichkeiten“.52 Jedoch werde im Paradigma der Transzendentalphilosophie immer

ein grundlegendes Bewusstsein als der letzte Grund der Erlebnisse, des

gegenständlichen Auffassens vorausgesetzt. Dilthey spricht sich aber gegen diese

Voraussetzung aus:

Das gegenständliche Auffassen bildet ein System von Beziehungen, in dem Wahrnehmungen und Erlebnisse, erinnerte Vorstellungen, Urteile, Begriffe, Schlüsse und deren Zusammenhangsetzungen enthalten sind. Allen diesen Leistungen im System des gegenständlichen Auffassens ist gemeinsam, dass in ihnen nur Beziehungen von Tatsächlichem gegenwärtig sind. So sind im Syllogismus nur die Inhalte und deren Beziehungen gegenwärtig, und kein Bewusstsein von Denkoperationen begleitet ihn.53

Dilthey kritisiert somit den transzendentalen Subjektivismus der kantischen Tradition,

an die Husserl anknüpft: „Das Verfahren, welches dem so Gegebenen als

Bewusstseinsbedingungen einzelne Akte unterlegt, welche den sachlichen Relationen

entsprechend gedacht werden, [...] enthält eine nie verifizierbare Hypothese.“54 Zum

transzendentalphilosophischen Paradigma gehört nicht nur die Annahme eines

zugrundliegenden Bewusstseins, sondern auch der künstliche Aufbau der

wesentlichen Struktur des Erkennens überhaupt. Laut Robert Scharff entfaltet sich

Diltheys Vorwurf einer Fehlinterpretation des Erkennens des Bewusstseins als eine

Kritik an der traditionellen Erkenntnistheorie: egal wie raffiniert in der

Erkenntnistheorie die epistemologische Fragestellung aufgebaut sei, und wie

51 Dilthey, VII, S. 237-238. 52 Ebd., S. 42. 53 Ebd., S. 121. 54 Ebd.

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28

durchdacht der Verlauf der Argumentation sei, es sei unmöglich zu wissen, wie das

Erkennen in der Wirklichkeit geschieht. In diesem Sinne unterliege die traditionelle

Erkenntnistheorie einem Selbstbetrug, wenn sie versucht, stets eine

meta-wissenschaftliche, wesentliche Struktur des Erkennens aufzubauen.55

Das Gegebenheitsmodell Diltheys hat zwar scheinbar auch Modellcharakter, jedoch

hat es dieser nicht mit dem reflexiven Aufbau einer Wesensstruktur des Erkennens

oder der Erlebnisse zu tun, sondern ist eher als deskriptive Explikation der

unmittelbaren „Beziehungen des Tatsächlichen“, nämlich des Lebenszusammenhangs

zu verstehen. Die Thematik der gegenständlichen Gegebenheit rückt bei Dilthey zwar

nicht in den Mittelpunkt einer eigenständigen Untersuchung, wird jedoch in seinen

Studien zum Leben mit berücksichtigt. Und gerade in seiner Behandlung dieser

Thematik wird Diltheys Gegenposition zur traditionellen Erkenntnistheorie, und vor

allem zur Transzendentalphilosophie, ersichtlich. Das zeigt sich besonders an seiner

Auseinandersetzung mit Husserl. Im Folgenden werden wir versuchen, einen

genaueren Blick auf seine Illustration des Begriffs des Lebens zu werfen, damit sein

Gegebenheitsmodell sowie auch seine Positionierung gegenüber Husserl zur genauen

Explikation gebracht werden kann.

1.3 Der volle Begriff des Lebens und die Auffassung der gegenständlichen

Gegebenheit bei Dilthey

Das Leben im ursprünglichen Sinn ist, wie erörtert, laut Dilthey dem analytischen

Denken nicht zugänglich, da jede denkende Zugangsweise die innere Lebendigkeit

des Lebens zerstört. Das Leben setzt er vielmehr mit dem nicht theoretischen bzw.

dem vortheoretischen Lebenszusammenhang gleich. Dieser sei von Trieb, Willen und

Gefühl motiviert und beziehe sich auf das menschliche Verhalten zur Welt. Im

Folgenden wird zunächst das Leben hinsichtlich seiner Weltmäßigkeit und der

55 Vgl. Robert Scharff, What Heidegger learnd from Dilthey, in: Britische Journal for the History of Philosophy, 2013, S. 138.

Page 31: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

29

Transzendenz betrachtet, welche beide kennzeichnend für Diltheys

Gegebenheitsmodell sind.

1.3.1 Weltmäßigkeit und Transzendenz des Lebens

Das Leben, so Dilthey, ist eine Vollendung der gegenständlichen Relationen, die in

Erlebnissen oder Erlebensakten enthalten sind. „Die Vollendung aller im Erlebten

oder Angeschauten enthaltenen Relationen wäre der Begriff der Welt.“56 Die Welt

hängt mit dem Leben einheitlich zusammen, streng genommen sind Welt und Leben

bei Dilthey eins. „Welt und Leben [...] ist ein ursprünglich einheitlicher Begriff und

bezeichnet die mit Worten nicht näher zu bezeichnende höhere Einheit, für die dann

ohne Änderung des Sinns auch das eine oder das andere Wort gesetzt werden kann“57,

so Bollnow. Die Welt bei Dilthey meine den Bezug des Menschen zur Welt, so

Bollnow weiter, und das Leben im Sinne des Lebenszusammenhangs verstehe sich

eben als das menschliche Verhältnis zur Welt. Daher handle es sich bei der jener

Einheit von Leben und Welt „nicht um ein bloßes Aufeinanderangewiesensein,

sondern um eine wirkliche übergreifende Einheit“. 58 Erst aus dieser Einheit

entwickelt sich laut Dilthey das korrelative Verhältnis von außen und innen. „Uns ist

nie bloße innere Lebendigkeit oder bloße äußere Welt gegeben, beide sind immer

nicht nur zusammen, sondern im lebendigsten Bezuge aufeinander: erst die

Entwicklung der intellektuellen Gebilde löst zunehmend diesen Zusammenhang.“59

Das heißt, in der ursprünglichen Einheit von Leben und Welt löst sich der dualistische

Gegensatz von Subjekt und Objekt, vom Ich und der Außenwelt auf. Solcher

Dualismus entstehe nur als Ergebnis des analytischen Denkens in der Theoretisierung

des Lebens.

Wenn die Welt in Einheit mit dem Leben zu denken ist, so stellt sich die Frage, wie

56 Dilthey, VII, S. 129. 57 Bollnow, 1955, S 37. 58 Ebd. S. 50. 59 Dilthey, VIII, S. 16.

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die Auffassung einer Außenwelt, zu der wir uns als außer uns seiend verhalten,

entsteht. Dilthey zufolge entspringe die Erfahrung der Außenwelt aus der

Zweckmäßigkeit des Lebens.60 Das Leben sei getrieben von der „Willensmacht des

Menschen, welche gleichsam ihre Fangarme ringsumher nach Erfüllung und

Befriedung ausstreckt“. 61 Der Lebenszusammenhang ist insofern als

Zweckzusammenhang gedacht, da er sich aus dem Willen des Menschen nach einem

bestimmten Zweck ergibt. Aber wie konstituiert sich die Erfahrung des Anderen und

der Außenwelt innerhalb dieses Zweckzusammenhangs? Die Erfahrung von

Hemmung und Widerstand ergibt sich, wenn wir wollend und zweckmäßig handeln

und uns dann gegenüber dem Äußeren verhalten. „Uns ist [...] in der Erfahrung der

Hemmung und des Widerstandes die Gegenwart einer Kraft gegeben, die wir dann als

eine äußere, von uns getrennte auffassen müssen.“ 62 Aus der Erfahrung der

Hemmung und des Widerstandes entsprängen unsere Auffassungen vom Anderen und

der Außenwelt, bzw. die Unterscheidung von Selbst und Anderen, Ich und

Außenwelt.

Der ganze Sinn der Worte Selbst und Anderes, Ich und Welt, Unterscheidung des Selbst von der Außenwelt liegt in den Erfahrungen unseres Willens und der mit ihm verbundenen Gefühle [...]Deren Kern ist [...] das Verhältnis von Impuls und Hemmung der Intention, von Wille und Widerstand.63

Hieraus lassen sich zwei Thesen folgern: 1) Die Auffassung des Gegenstandes und

der Außenwelt ist primär kein theoretisches Erkennen und Denken, sondern liege

ursprünglich in den zweckmäßigen inneren Lebenserfahrungen, die vom Willen und

von Gefühlen motiviert werden. 2) Da unsere Lebenserfahrung primär zweckmäßig

ist und vom Willen getrieben wird, suche sie spontan die Erfüllung, gehe von selbst

über sich hinaus und richte sich daher auf den Anderen, sowie auf den Gegenstand

60 Die hier erwähnte Erfahrung der Außenwelt ist immer als vortheoretische faktische Lebenserfahrungen zu betrachten und unterscheidet sich von der Objektauffassung im theoretischen Sinn. 61 Dilthey, V, S. 96. 62 Ebd., S. 131. 63 Ebd., S. 130.

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und die Welt. Das heißt, dass die Weltmäßigkeit und der über sich hinausweisende

Bezug, also die Transzendenz, Grundcharaktere des Lebens sind. Mit der zweiten

These lässt sich auch die Einheit von Leben und Welt deutlicher explizieren. Welt ist

bei Dilthey primär als Weltmäßigkeit des Lebens zu verstehen und gerade deswegen

nicht vom Leben zu trennen.

Mit den so hergeleiteten Thesen ist die Perspektive gewonnen, von der aus Diltheys

Gegenposition zu Husserl, in Bezug auf die Auffassung der gegenständlichen

Selbstgegebenheit im Bereich des immanenten Bewusstseins, bereichert und verstärkt

werden kann. Der ersten These entsprechend ist das Gegenständliche bei Dilthey

nicht, wie bei Husserl, primär das ideal Gegenüberstehende, auf das sich der

intentionale und erkennende Akt richtet, sondern ist primär das in den

vortheoretischen Erfahrungen Erfahrene. Der zweiten These entsprechend liegt die

Sphäre der gegenständlichen Gegebenheit nicht primär im erkennenden Bewusstsein,

sondern im faktischen und weltmäßigen Leben, das heißt, um es mit John Van Buren

zu sagen, „im Bereich der Lebenserfahrung der praktischen und kulturellen Welt“.64

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gegenständliche bei Dilthey primär im

vortheoretischen Leben, für das die Weltmäßigkeit und der Transzendenz

kennzeichnend sind, erfahren wird, während es bei Husserl als eine ideale Einheit in

der immanenten Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins intendiert wird. Es handelt

sich hier aber nicht um zwei unterschiedliche Ausgangpunkte in der Interpretation der

Gegebenheit, etwas um einen lebensphilosophischen und einen phänomenologischen

Ausgangpunkt, sondern es handelt sich überhaupt um die Spannung zwischen zwei

Erklärungsmodi, die hier angesetzt werden. Diese Spannung erkennt auch Heidegger,

und er bringt sie in seinen Untersuchungen zur Ursprungswissenschaft in den frühen

Freiburger Vorlesungen zum Ausdruck. Dabei positioniert er sich selbst auf der Seite

Diltheys statt auf der Seite seines Lehrers Husserl, worauf wir im nächsten Kapitel

näher eingehen werden. Zunächst werfen wir aber einen Blick auf eine weitere

64 Vgl. John Van Buren, The young Heidegger and phenomenology, in: Man and World 23, S. 250.

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zentrale Konzeption in der Lebenstheorie Diltheys, die dessen Gegenposition zu

Husserl noch einmal in vollem Ausmaß zum Ausdruck bringt: die Bedeutung.

1.3.2 Die Bedeutung und das Leben als der geschichtliche Horizont

Wie zuvor erläutert wurde ist das Leben als Ganzes bei Dilthey aus inneren

Beziehungen konstituiert. Insofern begreift er das Leben direkt als den

Lebenszusammenhang. Dieser wird auch als Ganzheitszusammenhang bezeichnet,

denn „Zusammenhang ist der Inbegriff der im Verhältnis des Ganzen zu den Teilen

bestehenden Beziehungen“.65 Der Lebenszusammenhang versteht sich wiederum als

Bedeutungszusammenhang oder als Bedeutung.66 „Bedeutung ist die besondere Art

von Beziehung, welche innerhalb des Lebens dessen Teile zum Ganzen haben“.67

Und erst durch die Beziehung zum Ganzen ist ein Erlebnis 68 bedeutsam.

„Bedeutsamkeit ist die [...] Bestimmtheit der Bedeutung eines Teiles für ein

Ganzes.“69 Das heißt, Leben fasst sich in seinem Bedeutungszusammenhang als ein

Ganzes, zu dem sich die Einzelerlebnisse als Teile des Lebens beziehen. Diese These

ist in drei Schritten zu vertiefen.

1) Erstens ist die Beziehung zum Ganzen der ursprüngliche Zusammenhang der

Erlebnisse. Zuvor wird die innere Beziehung als der Zusammenhang zwischen

Erlebnissen dargestellt. Dilthey hält aber den Zusammenhang zwischen

Einzelerlebnissen für das Abgeleitete aus dem ursprünglichen Bezug von einem

Einzelerlebnis zum Lebensganzen. Jedes Erlebnis hat in jeder Gestalt ursprünglich

65 Dilthey, XI, S. 218. 66 Dilthey, VII, S. 195, 197, 237. 67 Dilthey, VII, S. 233; Vgl. VII, S. 73, 243, 255; VI, S. 319. Der Begriff der Bedeutung hat zwar bei Dilthey den eigentümlichen Sinn des Zusammenhangs vom Teil zum Ganzen angenommen, jedoch verliert er seinen eigenen Wortsinn, nämlich „Bedeutung zum Verstehen“ nicht. 68 Der emotional gefärbte Begriff Erlebnis kommt in Diltheys Wortverständnis der Erfahrung nahe. In seinen Spätschriften ersetzt er den Begriff Erlebnis eher mit Erfahrnis oder Erfahrung. (Vgl. Dilthey, XXVI, Das Erlebnis und die Dichtung, 199, 394 und anderswo); In der Schrift Das Wesen der Philosophie erklärt Dilthey Erlebnis auch als Geschehnis, „dieses Wort ist einem Sinne genommen, in dem es Erlebbares wie Erlebtes, eigene wie fremde Erfahrung, Überliefertes wie Gegenwärtiges einschließt“.(Dilthey, V, 392) 69 Dilthey, VII, S. 238, Vgl. S. 229, 240.

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eine Beziehung zum Ganzen, und in dieser Beziehung zum Ganzen liegt seine

Bedeutsamkeit.70 Das Ganze ist nämlich das Leben. Das heißt, jedes Einzelerlebnis

ist in seiner Beziehung zum Lebensganzen bedeutsam.

2) Zweitens ist der Ganzheitscharakter des Lebens oder der Ganzheitszusammenhang

„durch die Zeit bestimmt.“71 Wie ist das zu verstehen?

Wir erfassen die Bedeutung eines Momentes der Vergangenheit. Er ist bedeutsam, sofern in ihm eine Bindung für die Zukunft durch die Tat oder durch ein äußeres Ereignis sich vollzog. Oder sofern der Plan künftiger Lebensführung erfasst wurde. Oder sofern ein solcher Plan seiner Realisierung entgegengeführt wurde [...] In allen diesen und anderen Fällen hat der einzelne (gegenwärtige) Moment Bedeutung durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen, durch die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft.72

Der Bedeutungszusammenhang des Lebens als Beziehung vom Einzelerlebnis zum

Lebensganzen vollzieht sich in der Beziehung des gegenwärtig erlebten Momentes zu

Vergangenheit und Zukunft. Das heißt, die Beziehung geschieht in einem zeitlichen

Horizont, der sich als eine innere Einheit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart

darstellt. Eben diese zeitliche innere Einheit macht die Ganzheit des Lebens aus. Die

Zeitlichkeit ordnet Dilthey daher den Lebenskategorien unter. „In dem Leben ist als

erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die

Zeitlichkeit enthalten.“73 Hier sei darauf hingewiesen, dass die Ganzheit des Lebens

nicht lediglich vom einheitlichen zeitlichen Horizont ausgebildet wird,74 sondern

70 Anzumerken ist, dass innere Beziehung als der Lebenszusammenhang für Dilthey nicht nur Zusammenhang zwischen Einzelerlebnissen bedeutet, sondern eher als ein Inbegriff für sowohl das Abgeleitete als auch den ursprünglichen Bezug vom Teil zum Ganzen erfasst werden soll, während unter Bedeutungszusammenhang nur der Bezug vom Teil zum Ganzen zu verstehen ist. 71 Dilthey, VII, S. 220. 72 Ebd., S. 223-233. 73 Ebd., S. 192. 74 Der Grund dafür, dass Zeitlichkeit die Einheit des Lebens ermöglicht, liegt in der Tat nicht darin, dass Zeitlichkeit als einheitlicher Horizont des Lebens oder der zeitlichen Erlebnisse fungiert, sondern darin, dass sie die Substanz des Lebens selbst ausmacht. Zeit stellt Dilthey als beständigen kontinuierlichen Strom dar, der sich in der Form des Lebensgeschehens aufzeigt und im Leben seine Erfüllung findet. ( Vgl. Dilthey, VII, 73, 193, 315) Insofern sagt er, dass Zeit nicht von Uhren gemessen wird, sondern durch das, was geschieht. (Vgl. Dilthey, VII, 221) Zwischen Zeit und ihrer Erfüllung, d. i. Geschehen ist bei Dilthey eine innere Verbundenheit zu sehen, die ebenfalls für seine Lebensinterpretation von großer Bedeutung ist. Diese bedürfte als selbständiges Thema weiterer Aufklärung, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit leider nicht möglich ist.

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vielmehr darin liegt, dass das, was in der Zeit geschieht, seine Bedeutung hat, nämlich

den Bedeutungszusammenhang des Teils zum Ganzen.

3) Mit Diltheys Interpretation der Einheit des Lebens durch die Zeitkategorie oder

Zeitlichkeit ist der dritte Aspekt der oben vorgelegten These eröffnet: Bedeutung als

die Beziehung vom Einzelerlebnis zum Ganzen ist in einem einheitlichen

dynamischen Geschehen konstituiert, das sich als Leben bezeichnet.

Im Leben allein umschließt die Gegenwart die Vorstellung von der Vergangenheit in der Erinnerung und die von der Zukunft in der Phantasie, die ihren Möglichkeiten nachgeht, und in der Aktivität, welche unter diesen Möglichkeiten sich Zwecke setzt. So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich. Dies ist der Sinn des Wortes „Entwicklung“ in den Geisteswissenschaften.75

So drückt sich bei Dilthey mit dem Wort „Entwicklung“ die Dynamik des

Lebenszusammenhangs in Sinne der inneren Wirkung zwischen den zeitlich

geschehenden Erlebnissen von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart im

einheitlichen Horizont aus. Diese Dynamik lässt sich mit Dilthey als

Geschichtlichkeit des Lebens bezeichnen. An dieser Stelle deutet er darauf hin, dass

Bedeutung, die Beziehung des Einzelerlebnis zum Ganzen, als innere Wirkung der

Erlebnisse zu konkretisieren sei, und insofern als geschichtlicher

Wirkungszusammenhang verstanden werden muss. Alle Einzelerlebnisse

konstituieren sich durch ihren Wirkungszusammenhang als Lebenseinheit, und sie

erhalten ihre Bedeutsamkeit primär aus diesem Wirkungszusammenhang, aus ihrem

Bedeutungszusammenhang zur Lebenseinheit. Dieses Verhältnis zwischen

Einzelerlebnis und Lebensganzem erläutert Landgrebe wie folgt:

Die einzelnen Momente des Strukturzusammenhanges, die Gefühle und Triebe, das gegenständliche Auffassen, die Wertgebungen und Zwecksetzungen – all das, was wir die einzelnen „Erlebnisse“ nennen – dürfen nicht psychologisch für sich analysiert werden als Phänomene einer isolierten Immanenz, sondern sie müssen in ihrer Lebensbedeutung verstanden werden, in ihrer Funktion, die Lebenseinheit zur bedeutsamen Einheit zu gestalten,

75 Dilthey, VII, S. 232.

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die in ihrer Bedeutung Kraft im geschichtlichen Wirkungszusammen ist.76

Das heißt, das Lebensganze ist zunächst nicht als eine bloße Gesamtheit von

Einzelerfahrungen, die sich in einer bestimmten Struktur zu einem Ganzen

verknüpfen, zu verstehen, sondern es muss ursprünglich als „eine bedeutsame Einheit

im konkreten Ganzen eines Lebensverlaufes, weiter gefasst, im Ganzen eines

geschichtlichen Wirkungszusammenhanges“77 begriffen werden. Dieses Ganze des

geschichtlichen Wirkungszusammenhangs interpretiert Landgrebe, in Vorausdeutung

auf die Nähe zwischen Dilthey und Heidegger, als „In-der-Welt-sein“, und er macht

darauf aufmerksam, dass alle Lebenskategorien in der Auslegung des Lebensganzen

dazu dienen, dass „der Strukturzusammenhang zur Deutlichkeit erhoben wird, (und)

nichts anderes als Explikation ihres In-der-Welt-seins“ 78 sind. Hier nun hebt

Landgrebe eine wichtige Einsicht Diltheys an den Tag. Wie zuvor aufgezeigt wurde,

steht das Leben für Dilthey zur Welt in einem Verhältnis der Einheit, und diese

Einheit liegt an der ursprünglichen Weltmäßigkeit des Lebens. Diese Weltmäßigkeit

des Lebens, so Landgrebe, beziehe sich auf den Horizont des Lebens, genauer gesagt

auf das Horizontsein des Lebens. „Welt begegnet als ... der universale

allumspannende Horizont der Möglichkeiten unseres Erfahrens – wobei Erfahren

ganz konkret verstanden sein soll“79. Das heißt, das Lebensganze als das weltmäßige

Leben lässt sich bei Dilthey als ein lebensweltlicher und einheitlicher Horizont

verstehen, der sich einerseits aus dem geschichtlichem Wirkungszusammenhang

unseres Lebens konstituiert, und der andererseits alle Möglichkeiten unseres

Erfahrens umspannt, vom der her alle unsere Erfahrungen verstanden werden. Hier ist

zu betonen, dass das Lebensganze als Horizont nicht bloß den Horizont des

individuellen Lebensverlaufes bedeutet, sondern, wie Karol Sauerland an dieser Stelle

ergänzt, es bezieht sich vielmehr auf das gemeinsame Leben mit Mitmenschen. Es

handelt sich hier auch um ein intersubjektiven Horizont. Diese Fassung des

76 Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh, 1967, S. 22-23. 77 Ebd., S. 22. 78 Ebd., S. 24. 79 Ebd., S. 25.

Page 38: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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Lebensganzen als eines intersubjektiven und lebensweltlichen Horizontes hänge

damit zusammen, „dass es dem Mensch gegeben sei, andere Menschen und die

vielfältigen Erscheinungen des Lebens zu verstehen, weil beim Erlebnis das ganze

Seelenleben mitspielt und wir im Erlebnis ein Ganzes erfahren.“80 Insofern gibt sich

das Lebensganze als universaler lebensweltlicher Horizont, in dem das Erfahren und

das Leben des Menschen in den vielfältigen Verstehensmöglichkeiten konstituiert

wird.

Zusätzlich dazu, universaler lebensweltlicher Horizont zu sein, ist noch ein weiterer

Charakter des Lebensganzen zu betonen. Es ist die schöpferische Kraft des Lebens,

die zuvor im Rahmen der Explikation der Unergründlichkeit des Lebens bereits

Erwähnung fand. Der Sinn der schöpferischen Kraft des Lebens wird in Diltheys

Begriff der Geschichtlichkeit aufgenommen und in der Konzeption der Bedeutung

konkret zur Darstellung gebracht. Da die Bedeutung sich erst von der Zukunft aus

konstituiere, und die Zukunft nie zu Ende geht, stellt er fest, dass Bedeutung nie

abgeschlossen sei. Bedeutung sei „eine Beziehung, die niemals ganz vollgezogen

wird“81 und die sich im Lebensverlauf nach ihren zukünftigen Möglichkeiten und

zwecksetzend stets ändert und erneuert. In diesem Sinne bezieht das Leben aus

seinem Bedeutungszusammenhang eine schöpferische Kraft, die für Diltheys

Konzeption der Geschichtlichkeit des Lebens kennzeichnend ist.82 Die schöpferische

Kraft bezieht sich hier auf den Vollzug der unerschöpften Verständnismöglichkeiten

des geschichtlichen Lebens des Menschen 83 und entspringe aus der

80 Karol Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff, Berlin, 1972, S. 143-144. 81 Dilthey, VII, S. 233. 82 In dieser Interpretation der Bedeutung liegt die Grundlage seiner Geschichtskonzeption. Die Bedeutung der Vergangenheit änderst oder erneut sich nach Dilthey im Verlauf der Geschichte und kann nie erschöpft werden, da die Geschichte ohne festlegbares Ende voran geht. „Man müsste das Ende des Lebenslaufes abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre. Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten, um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen.“ (Dilthey, VII, 233) Nach Bollnows Ansicht ist bei Dilthey die geschichtliche Wirklichkeit mit ihrer Auffassung nicht ablösbar, die sich von der nicht festzulegenden Zukunft aus stets erneut, insofern erhält die Geschichte immer neue Bedeutung und wird immer erneut verstanden und interpretiert. „Wirklichkeit und Wirksamkeit fallen im strengen Sinne zusammen. Freilich geschieht eine solche Verwandlung nicht im Sinne beliebiger Verschiedenheit, sondern als schöpferische Vermehrung.“(Bollnow, Dilthey, 122) 83 Die schöpferische Kraft bezeichnet Diltheys philosophischer Gesprächspartner Graf Paul Yorck von

Page 39: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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Unergründlichkeit des Lebens.

Zusammen mit der oben vorliegenden Explikation des lebensweltlichen Horizontes

erweitert und konkretisiert die Aufklärung der schöpferischen Kraft Diltheys Fassung

des Lebensganzen zu einem geschichtlichen Horizont, in dem sich die

Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten des menschlichen Lebens dynamisch

bildet oder vollzieht und das Erleben oder Erfahren in seiner ursprünglichen

Beziehung auf das Ganze seine unerschöpfte Bedeutsamkeit erhält.

1.3.3 Die Divergenz der Auffassungen zur gegenständlichen Gegebenheit

zwischen Dilthey und Husserl

Die Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey lässt sich nun in

Kontrast zu derjenigen Husserls folgendermaßen zusammenfassen: Bei Dilthey wird

das Gegenständliche ursprünglich aus dem Lebensganzen heraus als dem System des

Lebenszusammenhangs gegeben, das als die Verwebung von Gefühl, Wille und

gegenständlichen Auffassens erfahren und vollgezogen ist. Bei Husserl dagegen wird

es als ideale Einheit in der dualistischen Intentionalitätsstruktur von Intention und

sinnlichen Inhalten aufgefasst. Anzumerken ist hier, dass in Diltheys Auffassung des

Gegenständlichen eine gewisse Ambiguität zu erkennen ist. Einerseits wird das

Gegenständliche hier als das gehaltmäßig Erlebte im vortheoretischen Lebens direkt

erfahren; andererseits wird es als gegenständliche Relation betrachtet, die sich als

Wartenburg als „Virtualität” und setzt es direkt mit dem Termimus der Geschichtlichkeit gleich. Dabei nimmt er „Virtualität” als den Kern der Konzeption des historischen Bewusstseins bei Dilthey. (Vgl. Frithjof Rodi, Das Strukturierte Ganze, Weilerswist, 2003, 231) Diese Struktur der Geschichte, die mit der Kraft oder Virtualität kennzeichnet wird, fasst Fritz Kaufmann als folgendes zusammen: „Das Historische ist eben dadurch etwas anderes als das bloß Geschehene und Gewesene, dass es in einer solchen ursprünglichen Lebenshabe gegenwärtig gehalten wird, in deren Dauer und Erneuerung es selber als fruchtbare Lebensmacht immer neue, immer aus der Tiefe kommende und in sie zurückwirkende Antriebe aussendet.”(Fritz Kaufmann, Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg, Halle, 1928, 47) In Heideggers Augen ist der dynamischen Vollzugscharakter des faktischen Lebens, das nicht objektivierbar ist, mit diesem Terminus „Virtualität” im vollen Maß hervorgehoben und den macht er in Sein und Zeit auch bekanntlich, „Die klare Einsicht in den Grundcharakter der Geschichte als ‚Virtualität’ gewinnt Yorck aus der Erkenntnis des Seinscharakters des menschlichen Daseins selbst, also gerade nicht wissenschaftstheoretisch am Objekt der Geschichtsbetrachtung. ” (Heidegger, GA2, 530.)

Page 40: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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innere Beziehung der Erlebnisse zum Lebensganzen konstituiert. Das

Gegenständliche scheint daher bei Dilthey mit einer zweifachen Bedeutung behaftet

zu sein. Jedoch vermindert oder negiert diese Ambiguität nicht seine Positionierung

gegen Husserls Auffassung der Gegebenheitsweise des Gegenständlichen.

Die grundliegende Divergenz zwischen den Gegebenheitsmodellen bei Dilthey und

Husserl ist in ihren unterschiedlichen Auffassungen von der Sphäre, in der

Gegenständliche gegeben ist, zu verorten: im Leben oder im Bewusstsein. Für Dilthey

ist es das Leben als der vortheoretische und geschichtliche Horizont, in dem sich die

Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten des gemeinsamen menschlichen

Erfahrens vollzieht, und in dem sich somit der unerschöpfte Spielraum für das

Verstehen des Erfahrens, einschließlich des gegenständlichen Auffassens eröffnet.

Währenddessen gilt bei Husserl das transzendentale Konstitutionsbewusstsein als der

letzte Grund der Gesetzlichkeit, der somit eher auf die objektive Geltung der

Selbstgegebenheit des Gegenständlichen für die Erkenntnis hinausläuft. Die

Dimension des geschichtlichen Horizontes ist zwar in Husserls späterem Denken der

Lebenswelt auch präsent, aber diese bringt Husserl erst in 1930er Jahren zum

Ausdruck, das heißt mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen von Diltheys Werk Der

Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), wo er die

Thematik der gegenständlichen Gegebenheit behandelt. In wieweit Husserl durch

Dilthey zur Entwicklung des Denkens der Lebenswelt veranlasst wurde, wäre erst

noch zu untersuchen. Sicher ist aber, dass der geschichtliche Horizont den Kern der

Dilthey-Rezeption Heideggers ausmacht, und eine maßgebliche Rolle in der

Entwicklung des phänomenologischen Denkens des frühen Heideggers spielen wird,

insbesondere für Heideggers Distanznahme gegenüber Husserl.

Der Einsatz des Lebens als des geschichtlichen Horizontes in der

Gegebenheitsthematik gibt Heidegger in seinen Freiburger Anfängen die Mittel an die

Hand, über Husserls Transzendentalphänomenologie hinauszugehen. Aber Diltheys

Objektivation des Lebens nimmt er nicht in Kauf. Die Objektivation des Lebens

Page 41: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

39

besteht in der Annahme, das vortheoretische Leben als des geschichtlichen Horizontes

unserer Erfahrung zum Ausdruck und auf Begriffe bringen zu können. Sie führt zu

einer Weltanschauung, die sich zwar als historisch bedingte und beschränkte

Sinnbildungen anerkennt, in denen das Leben sein Streben nach einer universalen

Geltungs- und Sinnsphäre von Normen, Zielen und Zwecken zu erfüllen versucht,84

aber unter der schaffenden Macht des Lebens immer wieder neu zu gestalten ist. Die

Objektivation des Lebens, das heißt den Aufbau der Weltanschauung, interpretiert

Landgrebe als die Leistung der Konstitution der Subjektivität des Menschen.

Landgrebe fährt fort, dass der Ursprung der geschichtlichen Gestaltung der

Weltanschauung als der „Kontinuität der schaffenden Macht“ bei Dilthey in der

Unergründlichkeit des Lebens liege. Die Unergründlichkeit des Lebens, so Landgrebe,

deren Rede ein Index für die Verborgenheit sei, sei nun aber „nicht mehr

philosophisch zu begründen“. 85 Die philosophische Begründung soll „in

methodischer Besinnung auf die Strukturen der Subjektivität“ geführt werden, wobei

die Subjektivität sich „nicht als die Subjektivität des Menschen in ihrer geschichtlich

bedingten Gebundenheit an die Horizonte jeweiliger historischer Welt, sondern als die

diese Horizonte selbst entspringen lassende transzendentale Subjektivität“86 zeigt.

Vor diesem Hintergrund meint Landgrebe, dass der Gegensatz zwischen dem

geschichtlich schaffenden Leben bei Dilthey und der konstituierenden

transzendentalen Subjektivität bei Husserl aufzulösen sei.

Die Rückführung des geschichtlichen Lebens auf das transzendentale

Konstitutionsbewusstsein, in der Suche nach der philosophischen Begründung der

Objektivation des Lebens, weist Heidegger zurück. Dagegen bemüht er sich, das

geschichtliche Leben in Richtung einer Gegen-Objektivation abzubauen, und so den

84 Vgl. Frithjof Rodi, Die Lebensphilosophie und die Folgen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1967, S. 602-603; Bollnow, Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, 4. Auflage , 2010, S. 42; Bambach, Phenomenological Research as Destruction, in: Philosophy Today,1993, S. 122; Andere Le Moli, Von der Phänomenologie des Lebens zur Ontologie der Geschichte, in: Perspektiven der Philosophie: Neues Jahrbuch, 2012, S. 371. 85 Vgl. Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, 1967, S. 32-33. 86 Ebd., S. 33.

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Horizont der Husserlschen Transzendentalphänomenologie zu überschreiten. Er tut

dies, indem er sich der undurchsichtigen Unergründlichkeit des Lebens, das heißt der

Offenheit der Möglichkeiten als des grundlosen Ursprungs des Lebens, anzunähern

versucht.

Fazit: In der bisherigen Rekonstruktion wurde Diltheys Behandlung der

Gegebenheitsthematik im Rahmen seiner Lebenslehre deutlich herausgearbeitet.

Seine Kritik am künstlichen Aufbau der meta-wissenschaftlichen Wissensstruktur der

traditionellen Erkenntnistheorie, vor allem aber der Transzendentalphilosophie,

manifestiert sich deutlich in seiner Gegenposition zu Husserl hinsichtlich der

Gegebenheitsthematik. Auf Husserls Intentionalitätslehre der Erlebnisse aufbauend,

entwickelt sich Diltheys eigene Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit mit der

Einführung der Lebenslehre in der Spätschrift. Er hält im Gegensatz zu Husserl das

Gegenständliche für das primär Erfahrene im vortheoretischen Lebensganzen, das als

Verwebung von Willen, Gefühl und gegenständlicher Auffassung zu begreifen ist. Er

führt den geschichtlichen und lebensweltlichen Horizont als den Spielraum des

Verstehens des Erfahrens ein, in dem das Gegenständliche gegeben und das Erfahren

in seinen unerschöpften Möglichkeiten verstanden wird. In Diltheys Auffassung der

gegenständlichen Gegebenheit, insbesondere in der Einsicht in den geschichtlichen

Horizont des Lebens, findet Heidegger die Mittel, um sich gegen Husserls

Transzendentalphänomenologie auszusprechen, und um die phänomenologische

Untersuchung des Lebens über diese hinauszuführen, wobei er stets im Kopf behält,

die Untersuchung des Lebens durch eine Destruktion zurück auf dessen grundlose

Offenheit, statt durch eine aufbauende Objektivation voranzubringen.

Page 43: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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2. Phänomenologie als Ursprungswissenschaft

Nach dem ersten Weltkrieg beginnt Heidegger als Assistent Husserls enger mit

diesem zusammen zu arbeiten, er hält Vorlesungen und verfasst Arbeiten unter dem

Titel Phänomenologie. Im Vorwort der Vorlesung Ontologie von 1923 drückt er

seinen Dank an Husserl so aus, dass es dieser gewesen sei, der ihm die

philosophischen Augen eingesetzt habe.87 Jedoch entwickelt sich sein Denken bereits

zu dieser Zeit in eine andere Richtung als Husserl. In der Nachfolge von Husserl

erfasst Heidegger Phänomenologie als „Wissenschaft vom Ursprung“.88 Aber seine

Auffassung sowie Interpretation des Ursprungs, die in Annäherung zu Dilthey steht,

differenziert sich von Husserls. In Heideggers früher Entwicklung der

Phänomenologie nimmt Dilthey eine besondere Stellung ein. Aus Diltheys

Lebensphilosophie entnimmt Heidegger die Einsicht, das Leben als Ursprung des

Wissens anzunehmen und die Möglichkeit eine Wissenschaft vom Leben selbst zu

gründen. Mit dem Titel der „Ursprungswissenschaft von Leben“ spricht Heidegger

das zentrale Thema an, das er auf dem Boden der Phänomenologie in den frühen

Freiburger Vorlesungen behandelt: das faktische Leben.

Dieses nimmt Heidegger als den fundamentalen Gegenstand seiner

phänomenologischen Forschung, welche sich in Abgrenzung zu Husserls

Transzendentalphänomenologie zur Aufgabe macht, das Ursprungsgebiet des

faktischen Lebens zu erschließen. Durch die phänomenologische Destruktion arbeitet

er die ursprüngliche Sinnstruktur des Lebens, die sich als das Gegebenheitsmodell des

Phänomens abzeichnet, heraus. Die ursprüngliche Sinnstruktur des Lebens gründet

nach Heidegger im grundlosen Lebensvollzug. Eben diesen grundlosen

Lebensvollzug nimmt er als den Ursprung des Lebens an, dem er sich mit seiner

destruktiven Methode anzunähern bemüht.

87 Heidegger, GA 63, Ontologie, S. 5. 88 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 3. Auflage, 1990, S. 28.

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2.1 Das faktische Leben als Gegenstand der Phänomenologie

In den Freiburger Anfängen sucht Heidegger nach einem erweiterten Begriff von

Phänomenologie – erweitert um diejenige Dimension, deren Fehlen er Husserl

gegenüber immer wieder moniert hat: das Leben. In der Vorlesung des

Sommersemesters 1919 zu Phänomenologie und Transzendentale Wertphilosophie

nimmt er das Ziel der phänomenologischen Kritik als „das Sehen und

Zum-Sehen-Bringen der echten, wahrhaften Ursprünge des geistigen Lebens

überhaupt“ 89 an. Das Leben wird in den frühen Freiburger Vorlesungen zum

fundamentalen Gegenstand der Phänomenologie, die Heidegger als die

„Ursprungswissenschaft des Lebens“ bestimmt.

2.1.1 Das Prinzip der Prinzipien

Die Bezeichnung der Ursprungswissenschaft stammt aus Husserls Bestimmung der

Philosophie in der im März 1911 in der Zeitschrift Logos erschienenen Schrift

Philosophie als strenge Wissenschaft. Dieser Text war die erste wichtige Publikation

Husserls nach den Logischen Untersuchungen. Um die Philosophie durch ein klares

und fundamentales Prinzip als erste Wissenschaft zu begründen, untersucht Husserl

eine lange Tradition, die von Descartes über Kant und Fichte in das 20. Jahrhundert

reicht, und weist darauf hin, dass der neue Anfang der Philosophie von zwei

gegenwärtigen Tendenzen bedroht wird. Die Erste ist der naive Naturalismus, der eine

Naturalisierung des Bewusstseins enthält. Die Zweite ist der Historismus, der zu

Relativismus und zu einer Weltanschauungsphilosophie führt. Nach Husserl sollten

beide Tendenzen bekämpft werden, um die wahre Bedeutung der Philosophie

hervorzubringen: Philosophie als die erste Wissenschaft. „Philosophie ist aber ihrem

Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen, von den

ῤιζώµατα πάντων.“90 Die „Ursprünge“ der Wissenschaft und der Erkenntnis liegen

89 Heidegger, GA 56/57, Zur Bestimmung der Philosophie, S. 127. 90 Hua XXV, S. 61.

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gemäß Husserl im absoluten Bewusstsein.

In seiner Kriegsnotsemestervorlesung unter dem Titel Die Idee der Philosophie und

das Weltanschauungsproblem von 1919 bezeichnet Heidegger in Einklang mit

Husserl die Philosophie als „Urwissenschaft“91, die die Ursprünge der Erkenntnis zum

Gegenstand hat.92 Husserl geht von dem „Prinzip der Prinzipien“ aus, wonach „jede

originäre gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was

sich in der Intuition originär, darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich

gibt.“93 Es ist das Prinzip der Prinzipien, an dem „uns keine erdenkliche Theorie irre

machen“ kann. Dieses Prinzip weist die anschauliche Gegebenheit als Rechtsquelle

aller Erkenntnisse auf. Die Phänomenologie lässt sich somit als die Untersuchung der

unmittelbaren Erlebnisse auffassen.

Husserls Prinzip der Prinzipien erkennt auch Heidegger als das grundlegende Prinzip

der phänomenologischen Untersuchungen an, da es ihm zufolge den unmittelbaren

Zugang zu den Erlebnissen selbst ausspricht. Aber Heideggers Auffassung des

Prinzips der Prinzipien weicht von der Husserls ab. Er verweist darauf, dass das

Prinzip der Prinzipien „nicht theoretischer Natur ist“94, da die Phänomenologie sonst

nur eine Art Metaphysik des wissenschaftlichen Denkens wäre. 95 Wenn

Phänomenologie die theoretische Wissenschaft begründen können soll, dann muss

dieses Prinzip, so Heidegger, selbst einen vortheoretischen statt theoretischen Sinn

haben, und muss sich als die „Urintention des wahrhaften Lebens überhaupt, die

Urhaltung des Er-leben und Lebens als solchen, die absolute, mit dem Erleben selbst

identische Lebenssympathie“96 bestimmen. Unter dem Begriff der Lebenssympathie

versteht Heidegger, das Erlebnis oder das Leben nicht von außen, sondern dieses von

91 Vgl. Heidegger, GA 56/57, S. 24, 26, 31, 96; Vgl. GA 58, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 2, 12, 19, 26, 171. 92 Vgl. Heidegger, GA 56/57, S. 31. 93 Hua III/1, 1976, S. 51. 94 Heidegger, GA 56/57, S. 109. 95 Vgl. Tugendehat, 1970, S. 254.96 Heidegger, GA 56/57, S. 110.

Page 46: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

44

innen her zu ergreifen. Lebenssympathie zeichnet sich bei Heidegger als die

Grundhaltung zum Leben aus.

Die ‚Strenge’ der in der Phänomenologie erwachten Wissenschaftlichkeit gewinnt aus dieser Grundhaltung ihren originären Sinn und ist mit der ,Strenge’ abgeleiteter, nicht-ursprünglicher Wissenschaften nicht vergleichbar. Zugleich wird ersichtlich, warum in der Phänomenologie das Methodenproblem eine so zentrale Stellung hat wie in keiner anderen Wissenschaft.97

Für Heidegger bezieht sich die „Strenge“ der Wissenschaftlichkeit der

Phänomenologie auf die Ursprünglichkeit, deren originärer Sinn aus der

Grundhaltung zum Leben zu gewinnen ist. Um die Ursprünglichkeit zu erreichen,

bedarf es aber der richtigen Methode.

2.1.2 Voraussetzungslosigkeit

In der Rede über die „Strenge“ der Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie geht es

bei Husserl zunächst um die methodische Anforderung einer Voraussetzungslosigkeit

in der Phänomenologie. Er versteht Phänomenologie als erste Wissenschaft, da sie die

Grundlage und die Voraussetzungen der Einzelwissenschaften im

erkenntnistheoretischen Sinne überprüft und untersucht. Husserl sieht aber, dass es

unmöglich ist, diese Untersuchung zu führen, wenn die Phänomenologie die gleiche

Einstellung zur Grundlage hat, die wir in unserem Alltagsleben sowie in den

Einzelwissenschaften voraussetzen. Dies ist der Glaube an die Existenz der

Gegenstände in einer realen Welt, welche unabhängig von dem Bewusstsein ist.

Solchen Glauben bezeichnet Husserl als die natürliche Einstellung zur Welt. Diese

muss aber eingeklammert werden, damit die Phänomenologie zur methodischen

Voraussetzungslosigkeit gelangen kann. Heidegger übernimmt Husserls Bestimmung der „Strenge“, sucht aber einen anderen

Weg, um die Forderung der Voraussetzungslosigkeit zu erfüllen. Die Wissenschaft

97 Heidegger, GA 56/57, S. 110.

Page 47: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

45

von den Ursprüngen ist laut Heidegger so geartet, „dass sie nicht nur keine

Voraussetzungen zu machen braucht, sondern sie nicht einmal machen kann, weil sie

nicht Theorie ist.“ 98 Seiner Ansicht nach ist die Voraussetzungslosigkeit der

phänomenologischen Untersuchung überhaupt erst dann möglich, wenn es um das

Nicht-Theoretische oder Vortheoretische geht. Denn im Vortheoretischen liegen die

Ursprünge. Sobald die phänomenologische Untersuchung über ein theoretisches

Prinzip verfügt, gerate sie in einen unendlichen Regress, da das Theoretische immer

Theoretisches voraussetzt. Der Voraussetzungs-Regress ist „eine theoretische und

theoretisch gemachte Schwierigkeit.“99 Die Phänomenologie sollte sich bemühen,

„an die Grenze von Voraussetzungslosigkeit zu kommen, d.h. zum Ur-sprung, alles

wegzuräumen, was mit Voraussetzungen belastet ist.“100

Die Anforderung der Voraussetzungslosigkeit wird bei Husserl zur Forderung, die

natürliche Einstellung zur Welt, die im Alltagleben und in den Einzelwissenschaften

vorausgesetzt wird, einzuklammern. Darauf basierend entwickelt Husserl die

Methode der phänomenologischen Reduktion, durch die Ausschaltung der

Seinssetzungen der realen Welt zum immanenten Bereich des absoluten Bewusstseins

zu gelangen. Aber für Heidegger muss man nicht die natürliche Einstellung, sondern

die theoretische Haltung vermeiden, und er entdeckt die Voraussetzungslosigkeit im

vortheoretischen Leben. Die Ursprungssphäre ist voraussetzungslos, da der Sinn der

Voraussetzung überhaupt aus ihr entspringt. 101 Für Heidegger ist die

Voraussetzungslosigkeit der phänomenologischen Forschung erst dann erfüllt, wenn

diese Ursprungssphäre im vortheoretischen Leben zugänglich wird. Hans Ruin stellt

an dieser Stelle fest, die Voraussetzungslosigkeit sei für Husserl, „mindestens in

weitesten Sinne, zunächst eine methodische Aufforderung, während sie in Heideggers

Ansatz, für sich genommen, eine ontologische Aufgabe wird.“102 Das heißt, die

98 Heidegger, GA56/57, S. 96 - 97. 99 Ebd., S. 95. 100 Ebd. 101 Vgl. Ebd., S. 97. 102 Hans Ruin, Enigmatic Origins, 1994, S. 51.

Page 48: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

46

Forderung der Voraussetzungslosigkeit führt bei Heidegger zur Suche nach dem

Ursprung oder dem Ursprungsgebiet. Dieses befindet sich für Heidegger in

Anlehnung an Diltheys Lebensphilosophie im faktischen Leben. 2.1.3 Das faktische Leben als Gegenstand der Ursprungswissenschaft

Dilthey nimmt im philosophischen Denken Heideggers eine besondere Stellung ein.

Dilthey versucht, die Wissenschaft vom Leben selbst aus zu begründen, und das

Leben als „die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden

muss“103 , zu bestimmen. In Diltheys Lebensphilosophie erkennt Heidegger die

Möglichkeit, eine Phänomenologie des Lebens zu entwerfen, „das Leben aus sich

selbst heraus, ursprünglich zu deuten.“104

Bereits im Kriegsnotsemester von 1919 spricht Heidegger über Diltheys Terminologie

vom Lebenszusammenhang, Lebensbezug, Selbstbesinnung, Motivationen usw. und

nimmt dessen Denken als Stütze, um sich gegen die Problematik der Wertphilosophie,

wie sie von Neukantianern wie Wilhelm Windelband entwickelt wurde, zu wenden. In

den Vorlesungen vom Wintersemester 1919/1920, Grundprobleme der

Phänomenologie, und vom Sommersemester 1920, Phänomenologie der Anschauung

und des Ausdrucks, bemüht sich Heidegger um eine Aneignung der Philosophie

Diltheys, und bestimmt die Phänomenologie als die „absolute Ursprungswissenschaft

vom Leben an und für sich“105.

Heideggers Konzeption des Lebens ähnelt derer Diltheys. Wie wir im vergangenen

Kapitel darstellt haben, hat Leben bei Dilthey zwei Grundcharaktere. Erstens ist

Leben in seiner Ganzheit gegeben und besteht nicht aus Bestandteilen, die durch

theoretische Objektivierung voneinander zergliedert und isoliert werden können.

103 Dilthey, VII, S. 359. 104 Heidegger, GA 59, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, S. 154. 105 Heidegger, GA 58, S. 171.

Page 49: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

47

Zweitens ist Leben in sich lebendig und seine innere Lebendigkeit, die für das Leben

kennzeichnend ist, liegt immer schon im Lebenszusammenhang, der sich als die

innere geschichtliche Beziehung zum Ganzen aufzeigt und nicht als bloße

Bestandteile herausgestellt werden kann. Daher nehmen Dilthey und auch Heidegger

zur Kenntnis, dass ein angemessener Zugang, durch den man das Leben in die

philosophische und wissenschaftliche Betrachtung bringen kann, ohne es zu

objektivieren und seine innere Lebendigkeit zu zerstören, für die Wissenschaft des

Lebens von großer Bedeutung ist. Der Zugang zum Leben ist bei Dilthey das

Selbsterleben, und bei Heidegger in Annäherung daran die hermeneutische Intuition.

2.2 Hermeneutische Intuition als phänomenologischer Zugang zum faktischen

Leben Für jeden, der versucht, im Ausgang vom Leben über das Leben zu sprechen, besteht

eine Schwierigkeit, nämlich der hermeneutische Zirkel. Eine Lösung dafür findet

Heidegger in der Hermeneutik Diltheys. Die zirkelhafte hermeneutische Struktur des

Lebens wird durch das Verhältnis von Erleben, Ausdruck und Verstehen verständlich

gemacht. In Heideggers Augen macht gerade die Zirkelstruktur des geschichtlichen

Lebens es möglich, das Leben unmittelbar zu betrachten. In Annäherung an Dilthey

spricht Heidegger vom „sich selbst mitnehmendem Erleben des Erlebens“106, das

nicht als die erkenntnistheoretische Reflexion, sondern als die „verstehende, die

hermeneutische Intuition“107 zu begreifen ist. In diesem Sinne vollzieht sich bei

Heidegger mit dem hermeneutischen Zugang zum Leben eine hermeneutische

Umwandlung der Phänomenologie.

Die Aufgabe der hermeneutische Intuition stellt sich, so Robert Scharff, als eine

Doppelte dar: Einerseits, alle traditionellen Verzerrungen der Phänomene in der

theoretischen Objektivierung abzuwenden und uns das Phänomen so darzustellen, wie

106 Heidegger, GA 56/57, S. 117. 107 Ebd.

Page 50: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

48

es selbst ist; Andererseits, das Lebensphänomen uns immer noch begrifflich

begreifen zu lassen.108 Mit der doppelten Aufgabe zeigt sich die hermeneutische

Intuition als phänomenologische Begriffsbildung, die Heidegger als „originäre

phänomenologische Rück- und Vorgriffs-bildung, aus der jede

theoretisch-objektivierende, ja transzendentale Setzung herausfällt“,109 bestimmt. Mit

Vorgriff meint Heidegger „die in ihm liegende [...] ausgreifende [...] Tendenz, die

darin zugleich immer auch Rückgriff ist, auf die im faktischen ‚Ich erlebe etwas’

tiefenwirksam zu denkende Motivation“.110 Hier weist Hans-Helmuth Gander darauf

hin, dass die gemeinte Motivation als „reine Motive des Sinnes der reinen

Erlebnisse“ verstanden werden soll, wobei das ‚Reine’ der Sinnmotive nicht als

transzendentale Möglichkeitsbedingung, sondern als „das Pure des Faktischen im

Sinne des Ursprünglichen des vortheoretischen Lebens“ 111 und Motivation als

Sinnverweisungszusammenhang des faktischen Lebens in ihrem Bedeutungscharakter

zu bestimmen ist. Mit der phänomenologischen Begriffsbildung vom ‚Leben’

versucht Heidegger, „die transzendentalen Konzeptionen des Ich als Zentrum des

Bewusstseins zu entkräften [...] (und) einen von der Theorie befreiten Begriff des

Lebens und des Selbst zu gewinnen“.112

2.3 Formale Anzeige und Gegebenheitsthematik Für Heidegger lautet die Aufgabe der Ursprungswissenschaft, „das Leben an sich und

für sich ursprünglich zu deuten“. Dies bedeutet für ihn, sich dem Ursprung oder

Ursprungsgebiet des Lebens zu nähern. Er stellt fest, dass das „Ursprungsgebiet nur

radikaler wissenschaftlicher Methode zugänglich, überhaupt gegenständlich nicht in

anderer Weise erlebnismäßigen Erfassens“ 113 sei. Mit dem „erlebnismäßigen

108 Vgl. Robert Scharff, What Heidegger learnd from Dilthey, in: Britische Journal for the History of Philosophy, 2013, S. 135-136. 109 Heidegger, GA 56/57, S. 117. 110 Hans-Helmuth Gander, Phänomenologie in Übergang – Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, 2004, S. 300. 111 Ebd., S. 300. 112 Vgl. Georg Imdahl, Das Leben Verstehen, 1997, S. 91.113 Heidegger, GA 58, S. 27.

Page 51: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

49

Erfassen“ meint Heidegger den phänomenologischen Zugang zum Ursprungsgebiet

des Lebens, nämlich die hermeneutische Intuition. Und mit „radikaler

wissenschaftlicher Methode“ meint er die formale Anzeige, Heideggers destruktive

Methode. In der Durchführung der Destruktion des faktischen Lebens wird eine

andere Problemsphäre eröffnet. Es geht um die gegenständliche Gegebenheit. Im

Folgenden werden wir zuerst zwei leitende Begriffe in Betracht ziehen: Welt (3.1)

und Situation (3.2). Da beides selbst bereits formal anzeigende Begriffe sind, fungiert

die Destruktion des faktischen Lebens in Heideggers Darstellung der beiden Begriffe,

welche dabei auch die Gegebenheitsthematik ins Auge fasst. Aber erst durch einen

tieferen Einblick in die formale Anzeige kann die Struktur der Gegebenheit sichtbar

werden (3.3).

2.3.1 Heideggers Weltverfassung

Die Ausführung der faktischen Lebenserfahrung erfolgt bei Heidegger immer über

zwei Leitbegriffe: Welt und Situation. Die faktische Lebenserfahrung beschreibt

Heidegger als „die gesamte aktive und passive Stellung des Menschen zur Welt“,114

nämlich des menschlichen Verhaltens zur Welt. Welt ist nach Heidegger nicht zu

objektivieren, sondern sie ist „etwas, worin man leben kann. […] Die Welt kann man

formal artikulieren als Umwelt, als das was uns begegnet, wozu nicht nur materielle

Dinge, sondern auch ideale Gegenständlichkeiten […] gehören.“115

Nach Heidegger ist die Welt durch den erfahrenen Gehalt zusammen mit dem

situativen Wie des Erfahrens gekennzeichnet. Das Wie des Erfahrens heißt

Bezugssinn der faktischen Lebenserfahrungen, der den Gehalt des Erfahrens bestimmt.

Der Bezugssinn wird aber nicht gegenständlich erfahren, sondern geht höchstens in

den Gehalt mit ein. 116 An dieser Stelle führt Heidegger den Begriff der

114 Heidegger, GA 60, Phänomenologie des religiösen Lebens, S. 11. 115 Ebd.116 Ebd., S. 12.

Page 52: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

50

Bedeutsamkeit ein und definiert Welt als das, was in der faktischen Lebenserfahrung

von uns gehaltmäßig erfahren wird und durch Bedeutsamkeit charakterisiert ist. In der

Definition von Bedeutsamkeit bezieht sich Heidegger auf den Begriff der Bedeutung

bei Dilthey, bei dem sie sich als innere Beziehung des Lebens versteht, nicht auf

denjenigen Husserls. Bei Heidegger ist die Bedeutsamkeit als Bezugssinn, nämlich

das Wie des Erfahrens oder der situativen Verweisungen zu verstehen. „In dieser

Weise der Bedeutsamkeit, die den Gehalt des Erfahrens selbst bestimmt, erfahre ich

alle meine faktischen Lebenssituationen.“ 117 Der erfahrene Gehalt wird nach

Heideggers Ansicht erfahren mit seinen situativen Verweisungszusammenhängen,

durch welche eine konkrete Welt, eine faktische Lebenswelt gehaltvoll ist.118 Diese

Auffassung der Welt wird auf Sein und Zeit übertragen, und ab hier definiert

Heidegger die Welt als die Gesamtheit der Bedeutsamkeiten mit allen ihren situativen

Verweisungen.

Aus dieser Erläuterung wird ersichtlich, wie Heideggers Weltverständnis sich von

dem Husserls unterscheidet, und sich dabei derer Diltheys annähert. Husserl spricht

über die Welt als „gesamte gegenständliche Einheit, welche dem idealen System aller

Tatsachenwahrheiten entspricht und von ihm untrennbar ist“.119 Die Definition der

Welt als Einheit der Gegenständlichkeit wird bei Heidegger durch die Auffassung der

Welt als eines Ganzen an Bedeutsamkeit überwunden, das sich aus situativen

Verweisungen zu einer einheitlichen Sinnerschlossenheit konstituiert und es daher

überhaupt möglich macht, dass die konkreten Lebenserfahrungen bedeutsam werden,

das heißt, dass die erlebte Gegenständlichkeit in der Bedeutsamkeit gegeben ist. Es

wird deutlich, dass die Weltauffassung bei Heidegger in Annährung an Diltheys

Weltverständnis, das aus der Einheit von Leben und Welt entspringt, entsteht. Das

faktische Leben als menschliches Verhalten zur Welt besagt sowohl für Dilthey als

auch für Heidegger kein Subjekt-Objekt-Verhältnis, sondern ein Ganzes an

117 Vgl. Heidegger, GA 60, S. 13. 118 Vgl, Gerhard Ruff, Am Ursprung der Zeit, 1996, S. 55. 119 Hua XVIII, S. 128.

Page 53: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

51

Bedeutsamkeit, eine sich aus situativen Verweisungen konstituierende Einheit, die als

die Sinnerschlossenheit die gegenständliche Erfahrung ermöglicht. Wie das Leben, so

ist auch Welt bei Dilthey und Heidegger nicht objektiviert, sondern kann nur

vortheoretisch erlebt werden.

Die Lebenserfahrung heißt bei Heidegger auch Phänomen. Mit der Rede vom

Phänomen kommt gerade hier Husserls phänomenologischer Ansatz ins Spiel. Es ist

die phänomenologische Reduktion - Epoché. Epoché bedeutet die Auschaltung der

naturalistischen Seinssetzung der realen Gegenstände und der Welt. Mit Epoché ist

die phänomenologische Sphäre der Gegebenheiten eröffnet, in der das

Gegenständliche als reines Phänomen zu betrachten ist. Aber schon seit dem Anfang

der 20er Jahre setzt Heidegger ein eigenes Verständnis gegenständlicher Gegebenheit

durch, das sich von dem Husserls unterscheidet.

Die Gegebenheit bedeutet die erste vergegenständlichende Antastung des Umweltlichen [...] Wird nun der eigentliche Sinn des Umweltlichen, sein Bedeutungscharakter, gleichsam ausgehoben, dann ist das bereits als gegeben Hingestellte zum bloßen Ding verblaßt. Es hat noch Qualitäten, Farbe, Härte, Räumlichkeit, Ausdehnung, Schwere usf., alles aber dinghaft.120

Für Husserl ist das Gegenständliche als isolierter Gegenstand gegeben, während es

sich bei Heidegger bei der gegenständlichen Gegebenheit im ursprünglichen Sinne

um umweltliches Begegnen handelt. Die Gegebenheit eines isolierten

Gegenständlichen gibt es gemäß Heidegger nur in der Theoretisierung und ist keine

ursprüngliche Gegebenheitsweise. Die ursprüngliche Gegebenheit geschieht nach

Heidegger im vortheoretischen, nämlich dem faktischen Leben. Wenn etwas in der

faktischen Lebenserfahrung gegeben ist, d.h. begegnet, so begegnet es immer in einer

Lebensumwelt oder in einer Situation. Das heißt, das Gegenständliche ist gegeben mit

und in seinen situativen Verweisungen, die den gegenständlichen Gehalt bestimmen

und sich als eine Welt als dem Ganzen der Verweisungen oder der Bedeutsamkeit

120 Heidegger, GA 56/57, S. 89.

Page 54: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

52

konstituieren. Gegenständliches ist primär in einer Welt gegeben.

2.3.2 Die Konzeption der Situation

Nach Tugendhats Ansicht sei Husserls Phänomenologie der Erlebnisse nur möglich,

wenn man die „intentionale Gegenständlichkeit“ thematisiere, und diese lasse sich als

das gegenständlich Gegebene im Wie seines Gegebenseins verstehen.121 Er weist

darauf hin, dass das gegenständliche Gegebensein auch bei Heidegger ein zentrales

Thema sei, das mit dem Wie des Erfahrens oder des Lebens bearbeitet wird. „Aber

Husserls Thematisierung des Wie des Gegebenseins bleibt am Gegenständlichen

orientiert. Gegenüber solchem Wie unterscheidet sich das Wie des Lebens selbst als

das ursprünglichere.“122 In Heideggers Augen ist die gegenständliche Gegebenheit in

faktischen Lebenserfahrungen ursprünglicher als in der Theoretisierung. Wie oben

dargestellt ist der Gegenstand im faktischen Leben mit und in situativen

Verweisungen gegeben. Die situativen Verweisungen machen „das Wie des

Lebens“ aus, das sich als Lebenssituation manifestiert.

„Situation“ trägt in der gewöhnlichen Sprache eine Bedeutung des Statischen an sich; dieser Nebensinn muss beseitigt werden. Aber ebenso verkennt eine „dynamische“ Auffassung die Situation, in der man den Phänomenzusammenhang als ein „Fließen“ auffasst und vom Fluss der Phänomene spricht. [...] der Zusammenhang der Situation steht jenseits der Alternative „statisch-dynamisch“. [...] Wir fassen Situation rein formal als Einheit einer Mannigfaltigkeit. [...] doch ist die Situation nicht ein homogener Bereich von Beziehungen; die Situationsstruktur verläuft nicht in einer oder mehreren Dimensionen, sondern ganz anders. Schon der Ansatz einer phänomenologischen Betrachtung als ordnungsmäßig und der Versuch

121 In Tugendhats Zusammenfassung der Phänomenologie Husserls wird ein zentrales Thema herausgehoben, nämlich die Herausarbeitung der gegenständlichen Gegebenheit durch die phänomenologische Methode. Gerade dieses Thema wird Tugendhat zufolge von Heidegger aufgegriffen und auf radikalere Weise erforscht. Diese Ansicht nehme ich als den Ausgangpunkt für die folgende Erläuterung. Das vollständige Zitat heißt: „Die Phänomenologie der intentionalen Erlebnisse ist überhaupt nur möglich bei gleichzeitiger Thematisierung der „intentionalen Gegenständlichkeit“ dieser Erlebnisse, d.h. der Gegenständlichkeit so wie sie von dem jeweiligen Akt gemeint ist. Diese gleichzeitige gegenständliche Ausrichtung macht erst den vollen Sinn der „Phänomenologie“ aus, so dass dieses Wort, das bei Husserl ursprünglich für die Lehre von den „Phänomenen“, d.h. den Erlebnissen steht, nun auch verstanden werden kann als die Lehre von den „Phänomenen“, d.h. des gegenständlich Gegebenen im Wie seines Gegebenseins.“ Tugendhat, Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1970, S. 27-28. 122 Tugendhat, 1970, S. 265.

Page 55: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

53

einer sachhaltigen Beschreibung scheitert an dem Phänomenen selbst.123

Makkreel meint, dass Diltheys Begriff des Lebenszusammenhangs bei Heidegger in

den Begriff der Situation umgewandelt wird.124 Eine Situation ist ein Komplex von

weltlichen Verweisungszusammenhängen, die auch als Verstehensmöglichkeit

anzunehmen sind. Mit dem Begriff der Situation unterstreicht Heidegger vor allem

die Vielfalt der Möglichkeiten der Weltverständnisse. Jedoch stellt sich in Heideggers

Begriffsbildung noch ein besonderes Element in der Konzeption der Situation ein,

nämlich der Vollzugscharakter. „Situation ist eben der eigentümliche Charakter, in

dem ich mich selbst habe, nicht den Inhalt des Erlebten.“ 125 Mit dem

Sich-Selbst-Haben meint Heidegger den Vollzug des Lebensbezugs. Der

Verweisungszusammenhang und der Inhalt des Erlebten lassen sich bei Heidegger

jeweils als Bezugssinn und Gehaltsinn der Lebenserfahrung verstehen. Diese macht

die Lebenswelt aus, die im Vollzug des Lebens geschöpft und stets neu gestaltet

wird.126 Der Vollzug kommt Heidegger zufolge aus der „Spontaneität des Selbst“ her.

„Das Selbst ist kein letzter Ichpunkt, es ist offen gelassen.“127 Mit der Konzeption

des Selbst wendet sich Heidegger gegen Husserls transzendentales Bewusstsein. Aber

der Begriff des Selbst wird schon ab den zwanziger Jahre nur noch selten verwendet,

da Heidegger diesen durch „Lebenssituation“ oder „Lebensvollzug“ ersetzt.

Von der oben vorliegenden Darstellung der Situation ausgehend erweitert sich

Heideggers Auffassung der Gegebenheit. Das heißt, die gegenständliche Gegebenheit

ist ermöglicht 1) nicht nur in der Welt, d.h. als Sinnerschlossenheit, die sich aus der

Mannigfaltigkeit der Verweisungszusammenhänge oder der Verstehensmöglichkeiten

ergibt; 2) sondern auch in diesem Vollzug der Sinnerschlossenheit, der sich in

meinem jeweiligen konkreten Umwelterleben vollzieht. Die zwei

123 Heidegger, GA 60, S. 92. 124 Vgl. Makkreel, Dilthey, Heidegger und der Vollzugssinn der Geschichte, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Heidegger- Jahrbuch 1, Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander, Holger Zaborowski (Hrsg.), Freiburg/München 2004, S. 308. 125 Heidegger, GA 58, S. 260. 126 Vgl. Ebd., S. 261. 127 Ebd., S. 260.

Page 56: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

54

Möglichkeitsbedingungen der gegenständlichen Gegebenheit machen den vollen Sinn

der Konzeption der Situation aus, die als die sich dynamisch vollziehende

Sinnerschlossenheit zu verstehen ist.

Es ist ersichtlich, dass die Situationsstruktur aus dem Gehaltsinn, dem Bezugssinn

und ihrem Vollzug zusammengesetzt ist. Aber die drei Momente sind nach Heidegger

nicht als Ordnungsmäßiges in homogener Dimension und auch nicht in sachhaltiger

Beschreibung zugänglich. „Schon der Ansatz einer phänomenologischen Betrachtung

als ordnungsmäßig und der Versuch einer sachhaltigen Beschreibung scheitert an den

Phänomenen selbst.“128 Hier setzt die „radikale Methode“ ein – die formale Anzeige.

2.3.3 Formale Anzeige

Schon in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks

behandelt Heidegger seine destruktive Methode. Er stellt dort die endgültige Aufgabe

der phänomenologischen Untersuchung des faktischen Lebens als „Zurückführung

auf die echten Sinnzusammenhänge und die Artikulierung der darin beschlossenen

genuinen Sinnrichtungen“ dar. 129 Die „Zurückführung auf die echten

Sinnzusammenhänge“ geht die kritische Destruktion an.

Der Sinnzusammenhang aber (z.B.) Geschichte verlangt nicht nur seinem Wasgehalt nach ein Verstehen im weiteren genetischen Zusammenhang mit anderen, sondern die kritische-Destruktion selbst läuft gleichsam aus in das, was die phänomenologische Diiudication genannt sei [...] Diese Diiudication ist die Entscheidung über die genealogische Stelle, die dem Sinnzusammenhang vom Ursprung her gesehen zukommt.130

Zum genetischen Ursprung des Sinnzusammenhangs vorzudringen, setzt Heidegger

als Ziel der Destruktion, nämlich der formalen Anzeige, die er in der Vorlesung

Grundprobleme der Phänomenologie 1919/1920 erörtert und in der Vorlesung

128 Sieh Anm. 123 129 Heidegger, GA 59, S. 74. 130 Ebd.

Page 57: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

55

Einleitung in Phänomenologie der Religion 1920/21 konkret ausführt.

2.3.3.1 Die Struktur der Phänomene: Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn

Durch formale Anzeige wird die Lebenserfahrung als Phänomen auf drei Momente

reduziert: Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn. Der Gehaltsinn ist der erfahrene

Gehalt des Gegenstandes. Der Bezugssinn betrifft das Wie seines Erfahrens, das heißt,

der Bezugssinn versteht sich als situative Verweisung. Vollzugssinn ist unter „dem

ursprünglichen Wie, in dem der Bezugssinn vollzogen wird,“131 zu erfassen.132 In der

Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles 1921/1922 gibt

Heidegger weitere Erläuterungen zu den drei Momenten des Phänomens. Bezugssinn

lässt sich als „sich verhalten zu ...“, „in Beziehung stehen zu ...“ erfassen und

Gehaltssinn als das „Worauf und Wozu des Bezugs“. Vollzugsinn ist das Wie des

Sichverhaltens, nämlich „die Weise, wie es vorgeht, d.h. vollzogen wird“133.

Durch formale Anzeige stellt Heidegger die Sinnstruktur der Lebenserfahrung von

den drei Momenten ausgehend heraus, die sonst vom Leben selbst verdeckt wird.

Daher stellt Heideggers formale Anzeige als Abwehr gegen eine Tendenz des

faktischen Lebens dar. Was ist diese abzuwehrende Tendenz des Lebens? „Die

Lebenserfahrung legt sich ganz in den Gehalt […] zeigt eine Indifferenz in Bezug auf

die Weise des Erfahrens.“ 134 Heidegger beschreibt diese Tendenz als die

131 Heidegger, GA 60, S. 63. 132 Gethmann sieht eine Parallele zwischen Gehaltssinn und Vollzugssinn bei Heidegger und noema-noesis bei Husserl, wobei er zugibt, dass er nicht genau weiß, was Heidegger mit der Einführung des Bezugssinn intendiert. Vgl. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit, in: Dilthey-Jahrbuch 4, 1986-1987, S. 46; In Makkreels Interpretation ist der Zusammenhang zwischen Gehaltsinn, Bezugssinn und Vollzugssinn als solches darstellt, dass der Vollzugssinn den Bezugssinn als den existenziellen Bezug des Lebens zur Welt mit dem Gehaltsinn als kognitiven Gehalt des Seienden in der Welt verbindet und vollzieht. Insofern wäre Gehaltssinn und Vollzugssinn nicht im Sinne von noema-noesis zu verstehen. Denn noema und noesis sind bei Husserl gleichursprünglich, während der Vollzugssinn ursprünglicher als der Gehaltsinn und auch der Bezugssinn ist und diese ermöglicht. Vgl. Makkreel, The genesis of Heidegger's phenomenological hermeneutics and the rediscovered „Aristotle introduction“ of 1922, in: Man and World 23, 1990, S. 309, 312.133 Heidegger, GA 61, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, S. 52-53. 134 Heidegger, GA 60, S. 12.

Page 58: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

56

„einstellungsmäßige, abfallende, bezugsmäßig-indifferente, selbstgenügsame

Bedeutsamkeitsbekümmerung“. 135 Mit der abzuwehrenden Tendenz ist die

objektivierende Betrachtungsweise gemeint, die für das Alltagsleben und in der

Theoretisierung kennzeichnend ist. Nach Heidegger verdeckt diese Tendenz des

faktischen Lebens das Wie des Erlebens, strenger genommen, das Wie des Erlebens

in seinem Vollzug. Das Wie des Vollzugs ist eben das, worauf Heidegger mit dem

Begriff der formalen Anzeige abzielt, deshalb muss die formale Anzeige diese

abfallende und sich verdeckende Tendenz abwehren, und zwar dadurch, dass sie den

Bezugssinn in der Schwebe hält. 136 Das Abwehren erklärt Heidegger mit der

Bezeichnung der formalen Anzeige. „Warum heißt sie ‚formal’? Das Formale ist

etwas Bezugsmäßiges. Die Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen

– in einem negativen Sinn allerdings, gleichsam zur Warnung!“137 Warnung gegen

die Indifferenz zum Bezugssinn. In diesem Punkt stellt Theodore Kisiel fest, dass die

formale Anzeige eine negative Methode ist, da sie nur auffordert, den Bezugssinn in

der Schwebe zu halten, ohne irgendwelche positive methodische Prinzipen

anzugeben. 138 Aber das „Negative“ der formalen Anzeige betrifft eben die

eigentümliche Operationsweise dieser Methode.

Die formale Anzeige ist immer missverstanden, wenn sie als fester, allgemeiner Satz genommen und mit ihr konstruktiv dialektisch deduziert und phantasiert wird. Alles liegt daran, vom unbestimmten, aber irgendwie verständlichen Anzeigegehalt aus das Verstehen auf die rechte Blickbahn zu bringen.139

Heidegger meint, dass die formale Anzeige mit dem negativen Charakter eben eine

positive Anweisung schafft. Formale Anzeige heißt, anzuzeigen, „was gesagt ist, vom

Charakter des ‚Formalen’ ist, uneigentlich, aber gerade in diesem ‚un’ ist zugleich

positiv die Anweisung. Das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das,

135 Heidegger, GA 60, S. 16. 136 Vgl. Ebd., S. 64. 137 Ebd., S. 63. 138 Vgl. Kisiel: The Genesis of Heidegger´s Being and Time, 1993, S. 170. 139 Heidegger, GA 63, S. 80.

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57

was die Vollzugsrichtung gibt.“140 Das heißt, mit der formalen Anzeige ist der

Bezugssinn, nämlich das Wie des Erfahrens oder das Wie des Sichverhalten, das den

Gehaltssinn bestimmt, in Bewegung zu halten, das heißt, nicht festzumachen, sondern

sich in die Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten oder Sinnerschlossenheit frei

entfalten zu lassen. Erst dadurch ist der dynamische Sinnvollzug oder der Vollzug der

Verstehensmöglichkeiten zugänglich. Die Sinnstruktur, die in formaler Anzeige

angezeigt wird, manifestiert sich in Heideggers Darstellung des Begriffs der Welt und

der Situation als die Struktur des Bedeutsamkeitsganzen, das sich aus situativem

Verweisungszusammenhang konstituiert und geschichtlich vollzieht, in dem das

Phänomen zur Erscheinung kommt oder gegeben wird. Dies führt zum

Gegebenheitsmodell Heideggers, das er von Dilthey übernimmt und weiterentwickelt.

2.3.3.2 Lebensvollzug als Ursprung des Lebens

Durch Heideggers Destruktion des Phänomens kann zuerst die Ambiguität der

Auffassung des Gegenständlichen sowie ihr Zusammenhang mit dem

Bedeutungsbegriff bei Dilthey aufgeklärt werden. Wie im vorangegangenen Kapitel

erläutert, ist Diltheys Auffassung des Gegenständlichen von einer gewissen

Ambiguität. Das Gegenständliche wird in seiner Interpretation einerseits als das

gehaltmäßig Erlebte im geschichtlichen Lebensganzen aufgefasst oder gegeben;

andererseits fungiert es als Bedeutungszusammenhang, der das Lebensganze

konstituiert. Das Gegenständliche scheint daher bei Dilthey eine Doppelbedeutung zu

haben. Diese Doppelbedeutung des Gegenständlichen wird bei Heidegger durch den

Gehaltsinn als den erlebten gegenständlichen Gehalt und den Bezugssinn als

situativen Verweisungszusammenhang bestimmt.

Aber in Heideggers Destruktion der Lebenserfahrung tritt neben dem Gehaltsinn und

dem Bezugssinn auch noch der Vollzugssinn auf. Erst mit der Artikulation der drei

140 Heidegger, GA 61, S. 33.

Page 60: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

58

Momente ergibt sich ein klar strukturiertes Gegebenheitsmodell, in welchem das

erlebte gehaltmäßige Gegenständliche in einer Sinnerschlossenheit, die sich aus

situativen Verweisungszusammenhang (Bezugssinn) konstituiert und als

geschichtlicher Vollzug (Vollzugssinn) vollzieht, gegeben wird. Heideggers

Gegebenheitsmodell ist durch formale Anzeige herausgearbeitet und macht dabei die

Aufgabe der phänomenologischen Destruktion der Lebenserfahrung ersichtlich,

nämlich den Blick von dem Gehaltsinn abzuwenden und den Bezugssinn in

Bewegung zu halten, um zum Vollzugssinn vorzudringen. Destruktion versteht sich

daher als „die Herausstellung der eigentlichen ursprünglichen

phänomenologisch-philosophischen Vollzugs- und Ursprungsbesinnung“. 141 Den

Vollzugssinn oder den Lebensvollzug deutet Heidegger als den Ursprung des Lebens

an. Als Kriterium der Ursprünglichkeit nennt er, „dass im Sinne des Vollzugs die

Forderung einer Erneuerung liege, die selbstweltliches Dasein mit ausmacht.“142

Heidegger zufolge ähnelt sein Gegebenheitsmodell eher der Konstruktion des Lebens

bei Dilthey, nicht dem Konstitutionsmodell des transzendentalen Bewusstseins bei

Husserl. Wie im vergangenen Kapitel erläutert, liegt die entscheidende Einsicht

Diltheys in der Einführung des geschichtlichen Horizontes in die Gegebenheit des

Lebensganzen. Diese Einsicht wird von Heidegger übernommen und macht den Kern

seines Gegebenheitsmodells aus. Dabei lässt sich der geschichtliche Horizont bei

Heidegger als Lebensvollzug, als sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit,143

in der das Phänomen gegeben wird, bezeichnen. Aber Diltheys Entwicklung der

Lebensphilosophie orientiert sich am Aufbau der Typologie der Weltanschauungen,

das heißt, an die Objektivation des Lebens, während Heidegger sich eher auf die

Destruktion oder den Abbau des Lebens konzentriert und versucht, sich dem 141 Heidegger, GA 59, S. 185-186. 142 Ebd., S. 148; Vgl. S. 152, 186. Der Begriff der Erneuerung in der Rede ist auch unter Vollzug zu verstehen und drückt die Dynamik des Lebensvollzugs aus, dabei spricht Heidegger an manchen Stellen von „erneuerungs- und vollzugsmäßig“, das heißt, „Erneuerung“ und „Vollzug“ sind wohl als eins zu erfassen. 143 Die Lebenssituation ist, wie früher erläutert wurde, auch die sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit. Insofern ist Lebensvollzug in eins mit Lebenssituation. Das Letztere ist eine situative Konkretisierung des Ersteren, da das konkrete Umwelterleben im Begriff der Situation betont wird.

Page 61: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

59

Lebensvollzug als dem Ursprünglichen anzunähern. Und in der Destruktion auf den

Lebensursprung gewinnt Heidegger einen Ansatzpunkt, um sich gegen Husserls

Transzendentalphänomenologie auszusprechen. Dies reflektiert sich zunächst in der

Divergenz ihrer Gegebenheitsmodelle des transzendentalen Bewusstseins und des

faktischen Lebens.

2.4 Destruktion des faktischen Lebens auf den Lebensursprung

Im Gegebenheitsmodell des transzendentalen Bewusstseins bei Husserl144 ist der

intentionale Gegenstand in der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins

mit apodiktischer Gewissheit gegeben. 145 Im Vergleich dazu manifestiert sich

Heideggers Gegebenheitsmodell als das faktische Leben, genauer gesagt, die sich

geschichtlich vollziehende Sinnerschlossenheit. Nach Meinung einiger Interpreten ist

der Sinnvollzug der Sinnerschlossenheit aber mit der Bewusstseinskonstitution

gleichzusetzen, da es in beiden Modellen im Grunde um die Sinnkonstitution der

gegebenen Erlebnisse ginge. 146 Darauf, inwiefern das Gegebenheitsmodell des

faktischen Lebens von dem des transzendentalen Bewusstseins zu differenzieren ist,

wird jetzt einzugehen sein. Die folgende Erläuterung nähert sich diesem Thema aber

über einen Umweg, nämlich nicht direkt über die Spannung zwischen Husserl und

Heidegger, sondern über diejenige zwischen Natorp und Dilthey, die für Heidegger

aber als Stellvertreter für die erstere fungiert.

144 Husserls Gegebenheitsmodell erlebt eine kleine Modifikation von der Zeit der Logischen Untersuchungen zur Phase der Transzendentalphänomenologie, nämlich, von der dualistischen Schemata von Intention – Intuitiven Repräsentant in Logischen Untersuchungen zum Modell der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins, einschließlich der noesis-noema genetischen Schemata. Die erste Schemata von Intention – Intuitivem Repräsentant ist von Husserls selber aufgegeben. Was hier in der Diskussion steht ist das Modell der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins. 145 Vgl. Landgrebe, Faktizität und Individuation, 1982, S. 75-76; Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1970, S. 272; Pöggeler, Heidegger und die Hermeneutische Philosophie, 1983, S. 98. 146 Vgl. Gethmann, Verstehen und Auslegung – Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn, 1974, S. 48-52; Hans Ruin, Enigmatic Origins, 1994, S. 55-61; Steven Crowell, Heidegger´s Phenomenological Decade, in: Man and World 28, no. 4, 1995, S. 435-438.

Page 62: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

60

2.4.1 Die Gegebenheitsmodelle bei Natorp und Dilthey

In der Vorlesung vom Sommersemester 1920, Phänomenologie der Anschauung und

des Ausdrucks, betrachtet Heidegger die Philosophien Natorps und Diltheys mit Blick

auf das Thema der ursprünglichen Philosophie. Bei beiden geht es um das Erlebnis,

wenn auch je als Bewusstseinserlebnis (Natorp) und als seelisches Leben (Dilthey).

Bei den beiden Weisen, wie sie jeweils das Erlebnisproblem behandeln, handelt es

sich laut Heidegger um einen radikalen Gegensatz. Dabei sei Natorps Philosophie

aber ursprungsfern und Diltheys ursprungsnah.147 In dieser Stellungnahme drückt

sich indirekt Heideggers eigene Position gegen Husserl aus, da ihm zufolge Natorps

Ansatz im Grunde der gleiche wie Husserls sei.

Natorp verweigert einen unmittelbaren Zugang zum Gegebenen des Bewusstseins

durch Reflexion. „Jede vermeintlich unmittelbare Beobachtung des Erlebten ist

bereits Reflexion; als in der Selbstbeobachtung reflektiert, ist aber das Unmittelbare

schon nicht mehr das Unmittelbare.“148 Gleichwohl sieht er die Möglichkeit, die

Unmittelbarkeit des Bewusstseins zu „rekonstruieren“, indem wir „den Prozess der

Objektivierung durch alle Stufen rückwärts verfolgen bis zu dem, was aller

Objektivierung voraus das im Bewusstsein Gegebene war“149. Obwohl Natorp das

Gegebene in Annäherung an die Lebensphilosophie als „Strom des Erlebens“, „ewig

flutende Leben“ und „Lebendigkeit“150 bezeichnet, nimmt er für die Methode der

Rekonstruktion die subjektive Deduktion bei Kant zum Vorbild.

Nach Heideggers Interpretation setzt Natorp den „Strom des Erlebens“ als

Bewusstsein an, das als der letzte Grund die Erlebniszusammenhänge in der Einheit

konstituiert.151 „Bewusstsein wird aber nicht als ein besonderes Sachgebiet, als

147 Heidegger, GA 59, S. 164. 148 Natorp, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, 1888, S. 88. 149 Ebd. S. 105. 150 Natorp, Allgemeine Psychologie, 1912, S. 190, 202. 151 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 130.

Page 63: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

61

Arsenal von Kategorien verstanden, sondern in seiner reinen Fassung als Einheit der

Bestimmung eines Mannigfaltigen von Beziehungen.“152 Bewusstsein bei Natorp ist

auch als subjektive Icheinheit zu verstehen. Heidegger weist darauf hin, dass Natorp

die Determination des Bewusstseins mit dem Vorgriff der Konstitution des

Bewusstseins verbindet. Aus dem Vorgriff der Konstitution des Bewusstseins

bestimmt sich der Sinn von Erlebniszusammenhang und Bewusstsein. Im Ausgang

von Natorps Auffassung fasst Heidegger drei Charaktere des

Konstitutionsbewusstseins zusammen.

1) Erstens, Bewusstsein oder Icheinheit als die letzte apriorische Gesetzlichkeit,

nämlich der letzte Grund. Bewusstsein bekommt bei Natorp „so eine ganz bestimmte

Rolle zugesprochen, und zwar die entscheidende und ursprüngliche, nämlich Grund

aller Konstitution, Einheit aller Mannigfaltigkeit im Bewusstsein zu sein.“153 2)

Zweitens, Bewusstsein als das Ursprungsdenken. Heidegger verweist daraufhin, dass

die Bestimmung der Icheinheit von Anfang an in eine ganz bestimmte Richtung

gedrängt sei: dass das „Ich“ in der Rolle der letzten Einheitsbedingung des

Bewusstseins als des konstituierenden steht und dass von diesem der Sinn von

Denkeinheit bestimmt ist. 154 In dieser Denkeinheit steht nach Heidegger das

Konstituierte als logische und universale Wechselbezüge. 3) Drittens, Bewusstsein,

Bewusstseinsinhalt sowie Bewusstseinskonstitution sind bewusst. Das „Bewusste als

solches und in jeder Hinsicht – konstituiert sich und die Subjektivität“155. Insofern

deutet Heidegger an, dass die Bewusstheit des Bewusstseins als

Gegenstandsbestimmung und dabei die Bewusstseinskonstitution als ein Vorkommen

des Ordnungszusammenhangs anzusehen sind.

Nach dieser Auslegung des Konstitutionsbewusstseins bei Natorp zieht Heidegger den

Schluss, die Natorpsche Philosophie sei „nicht ursprünglich, sondern in einen

152 Heidegger, GA 59, S. 130.153 Ebd., S. 131-132. 154 Vgl. Ebd., S. 132. 155 Ebd. S. 135.

Page 64: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

62

einstellungsmäßigen Charakter abgefallen“. Dieser Position stellt er nun diejenige

Diltheys gegenüber. Bei Natorp handele es sich um das Ganze der

Konstitutionsbeziehungen und bei Dilthey um den Wirkungszusammenhang des

Lebens, der kein logischer und dialektischer Ordnungszusammenhang sei, sondern

von der wechselnden inneren Beziehung von Vorstellung (Denken), Gefühl und

Willen konstituiert wird. Das Ganze der Konstitutionsbeziehungen erfordert die

Methode der Rekonstruktion, und der Wirkungszusammenhang des Lebens erfordert

ursprüngliche Explikation, die im Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und

Verstehen gründet.156 Ein mit dem Konstitutionsbewusstsein vergleichbarer Begriff

bei Dilthey sei das „Selbst“, das die „Einheit des Seelischen zusammenhält“ und „die

Rolle der Triebkräfte, des Antriebs für die Entwicklung“ 157 spiele. Heidegger

bezeichnet es als „das historisch vollzogene Dasein“158. Das Selbst ist keine letzte

Gesetzlichkeit, in der die logischen Konstitutionsbeziehungen gründen, sondern das

vollzugsmäßige selbstweltliche Dasein, das nicht objektivierbar ist und in dem sich

der Wirkungszusammenhang entwickelt. Es ist als Vollzugsmäßiges charakterisiert

und wird in der hermeneutischen Explikation zugänglich.

Von Heideggers Standpunkt der formalen Anzeige gesehen ist der Zugang zum

Ursprung im Konstitutionsmodell bei Natorp (und Husserl) versperrt, denn die

Konstitutionsbeziehung (Bezugssinn) wird als theoretisch fest gesetzt statt in

Bewegung gehalten, wobei die bewusste Konstitution (Vollzug) als „Vorkommen in

einem Ordnungsbezug gefasst“ und insofern „der eigentliche Sinn des

Vollzugsmäßigen von vornherein ausgeschaltet“159 wird. Nicht zuletzt da das als

letzte Gesetzlichkeit fungierende Bewusstsein sich an Universität und Allgemeinheit

orientiert, ist der vollzugsmäßige Sinn des Bewusstseins überhaupt nicht in Rede. Im

Vergleich dazu ist in Diltheys Modell der Wirkungszusammenhang (Bezugssinn) als

die wechselnde innere Beziehung zwischen Denken, Gefühlen und Willen bereits von

156 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 159, 166, 168, 169. 157 Ebd., S. 167. 158 Ebd., S. 169. 159 Ebd., S. 148.

Page 65: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

63

Bewegtheit charakterisiert und vollzieht sich als das Selbst, das als Vollzugsmäßiges

in der hermeneutischen Explikation zugänglich ist.

Daher zieht Heidegger den Schluss, dass die Natorpschen Philosophie ursprungsfern

und diejenige Diltheys ursprungsnah sei. Alle oben dargestellten Bestimmungen des

Konstitutionsmodells bei Natorp treffen in den Augen Heideggers gleichsam auf

Husserls Konstitutionsmodell des transzendentalen Bewusstseins zu. Deswegen ist

seine Kritik an Natorp andeutungsweise auch auf Husserl zu übertragen. Die

Divergenz zwischen Husserls und Heideggers Gegebenheitsmodell liegt also darin, ob

jenes einen Zugang zum Ursprung, dem Vollzug des Lebens, eröffnet.

2.4.2 Geschichtlichkeit und das Nichts

Aus der vorherigen Erläuterung wird ersichtlich, dass Phänomenologie als

Ursprungswissenschaft durch eine Destruktion des faktischen Lebens in den

Lebensvollzug als dessen Ursprung vorzudringen sucht. Dabei ist auf zwei wichtige

Charakteristika dieses Lebensvollzugs hinzuweisen. Diese sind Geschichtlichkeit und

„das Nichts des faktischen Lebens“.

Der Begriff des Vollzugssinns als des Ursprünglichen des Lebens wird bei Heidegger

immer um Geschichtlichkeit ergänzt. „Ursprünglichkeit (ist) motiviert in ...

Geschichtlichkeit jeder geistigen oder überhaupt Lebens-Situation“ 160 . In

Anmerkungen zu Karl Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen“ von 1920/1921

sagt er: „Die faktische Lebenserfahrung selbst ist ein wesentlich dem Wie seines

Eigenvollzugs nach ‚historisches’ Phänomen, und zwar primär, ein sich selbst so

erfahrendes vollzugsgeschichtliches Phänomen.“ 161 Dabei werden in frühen

Freiburger Vorlesungen „Zeitlichkeit“ und „Zeitigungssinn“ auch als Ersatzbegriffe

160 Heidegger GA 59, S. 185. 161 Heidegger, GA 9, S. 32.

Page 66: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

64

für den Vollzugssinns verwendet.162 Von daher sagt Kisiel, dass formale Anzeige als

phänomenologische Destruktion einen störungsfreien Zugang zur Zeitlichkeit und

Geschichtlichkeit des vortheoretischen Phänomens suche.163

Um den Grundcharakter des Vollzugs des Lebens zu beschreiben, führt Heidegger die

Konzeption „das Nichts des faktischen Lebens“ ein. 164 In der Vorlesung vom

Wintersemester 1921/1922 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles,

spricht er über „das Nichts des faktischen Lebens“. „Das Nichts des faktischen

Lebens ist dessen eigenes, von ihm und für es selbst gezeitigtes lebensmäßiges

umweltliches Nichtvorkommen im ruinanten Dasein seiner selbst (Faktizität).“165

Nichts bedeutet weder bloße Negation noch Leersein, sondern „Bewegtheit des

faktischen Lebens“. Zeit ist das „Wie der Bewegtheit“166. Wie versteht sich diese

Bewegtheit? 1) Zuerst, es ist nicht objektivierbar und verweigert daher alle

gegenständlichen Bestimmungen167; 2) zweitens, es ist für die Gegenständlichkeit

(Realität) der gelebten bedeutsamen Welt in Sinne des Charakters der

Widerständigkeit des Lebens konstitutiv.168 3) Drittens, es macht den Charakter der

Undurchsichtigkeit des Lebens im Gegensatz zum Bewusst-sein aus.

Das umweltliche Leben meldet sich noch in seinem Nichtvorkommenkönnen und zwar so, dass es sich dabei nicht eigens abhebt, sondern so unabgehoben mit der gelebten Welt und als solche begegnet, so zwar dass dieses damit den Charakter des Undurchsichtigen, doch noch, wenn auch nur in ihrem Dasein und Begegnen als solchen, bei aller Unmittelbarkeit Rästelhaften behält.169

162 Vgl. Heidegger, GA 61, S. 20, 31, 60. 163 Vgl. Kisiel, 1993, S. 219.164 “Das Nichts des faktischen Lebens“ bezeichnet Heidegger auch terminologisch als „Ruinanz des Lebens“. Die verweist auf „die Bewegtheit des faktischen Lebens, die das faktische Leben in ihm selbst als es selbst für sich selbst aus sich hinaus und in all dem gegen sich selbst vollzieht.“ (Heidegger, GA 61, 131) Das heißt, der Terminus “Das Nichts des faktischen Lebens“ dient dazu, den Grundcharakter des Lebensvollzugs als Bewegtheit zu beschreiben. 165 Heidegger, GA 61, S. 148. 166 Ebd., S. 139. Früher Heidegger verwenden die Begriffe wie Geschichtlichkeit, Historisches, Zeit, Zeitigung als dasselbe, ohne klare Unterscheidung von ihnen zu machen. Sie sind die Bezeichnung für entweder den Vollzugssinn des Lebens oder den Charakter der Bewegtheit des Lebensvollzugs. 167 Ebd., S. 144 - 145. 168 Vgl. Ebd., S. 148 - 149. 169 Ebd., S. 148. Anzumerken ist, dass Heidegger Auffassung des Lebensvollzugs als das Nichtvorkommenkönnen und das Rätselhafte ein zentrales Element seiner Dilthey-Rezeption ausmacht. Das Leben bei Dilthey ist unergründlich und erscheint nicht in der Introspektion des Bewusstseins. Es

Page 67: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

65

Über den Vollzug als „das Nichts des faktischen Lebens“ wird im Anschluss an die

Vorlesung des Wintersemester 1921/1922 nur noch sehr selten gesprochen. Erst nach

Sein und Zeit fängt Heidegger mit Was ist Metaphysik von 1929 wieder an, sich mit

dem „Nichts“ auseinanderzusetzen. Aber das „Nichts“ bleibt als die rätselhafte

Bewegtheit des Lebens immer noch im Spiel, auch wenn es zwischenzeitlich nicht

zum Ausdruck gebracht wird.

In die Auffassung des Lebensvollzugs integriert ist Heideggers ontologisches

Interesse, obwohl er zu dieser Zeit sein ontologisches Projekt noch nicht wirklich in

Gang setzt. Bereits in der Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu

Aristoteles wird der Vollzugssinn als „Seinssinn“ und „Seinssinn des Habens“170

andeutet und die Philosophie wiederum als „ontologische Phänomenologie“ 171

bezeichnet, wobei Heidegger das Ziel der Phänomenologie weiterhin im Auge behält,

nämlich den Lebensursprung zum Sehen, mit anderen Worten, zum Ausdruck zu

bringen. Dies Ziel formuliert Heidegger nun aber folgendermaßen um: „die so

angezeigte Lebenssituation als Seiendes in ihrem Was und Wie zu bestimmen“.172

Mit der Lebenssituation ist hier eben der Lebensvollzug gemeint.173 Dabei erkennt

Heidegger selbst die Schwierigkeit des Zum-Ausdruck-Bringens des Lebenssituation.

„Eine Schwierigkeit ist schon, die Situation selbst als solche zu sehen, sie ferner

genuin als Seiendes zu fassen,“174 da dieses sich durch den geschichtlichen Vollzug

charakterisiert. Heideggers experimentaler Versuch, den geschichtlichen

Lebensvollzug zum Ausdruck zu bringen, entfaltet sich später durch die

Daseinsanalytik von Sein und Zeit. Darauf wird im vierten Kapitel einzugehen sein.

fungiert als die lebendige Kraft, die unser Weltverstehen in Bewegung hält und uns in die Offenheit der Möglichkeit freilässt. Diese Bedeutung des Lebens ist bei Heidegger als rätselhafte Bewegtheit des Lebensvollzugs übernommen und bleibt inseinenfrühenDenkgängenimmerimSpiel.170 Heidegger, GA 61, S. 61. 171 Ebd., S. 60.172 Ebd., S. 64.173 Sieh. Anm. 143.174 Heidegger, GA 61, S. 64.

Page 68: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

66

In der Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924, Einführung in die

phänomenologische Forschung, fasst Heidegger die Aufgabe der Phänomenologie

erneut so auf, „Leben selbst in seinem eigentlichen Sein zu verstehen und die Frage

nach seinem Seinscharakter zu beantworten.“175 Heideggers Phänomenologie als

Ursprungswissenschaft wandelt sich in den Marburger Vorlesungen also zur

ontologischen Phänomenologie. Dies zeichnet sich insbesondere der Marburger

Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs von 1925 ab.

Fazit:

Zusammenfassend lassen sich zwei wichtige Einsichten aus der phänomenologischen

Destruktion auf den Lebensursprung festhalten. Erstens, die ursprüngliche

Sinnstruktur des Lebens, die sich als Gegebenheitsmodell des Phänomens abzeichnet,

manifestiert sich als Sinnerschlossenheit, die sich aus allen Verstehensmöglichkeiten

in Form des Verweisungszusammenhangs konstituiert und geschichtlich vollzieht,

und in der das Gegenständliche gegeben ist oder erscheint, d. h. in der das Phänomen

sich offenbart. Zweitens, der Lebensursprung als der Lebensvollzug ist rätselhafte

Bewegtheit. Die „rätselhafte Bewegtheit“ ist eine Bezeichnung des Grundcharakters

des Lebensvollzugs, der als die sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit die

Erscheinung des Phänomens ermöglicht, aber selbst nicht erscheint. Diese Auffassung

von der Sinnerschlossenheit steht in Einklang mit Diltheys Konzeption des

geschichtlichen Horizontes und macht den entscheidenden Aspekt aus, in dem sich

Heideggers Gegebenheitsmodell von dem Husserls unterscheidet.

Die zwei Einsichten machen den Kern von Heideggers Auffassung der Gegebenheit

in seiner Stellung gegen Husserls transzendentale Konstitution des Bewusstseins aus,

und bilden auch den Fokus der phänomenologischen Untersuchungen seines

ontologischen Projektes, die er in den Marburger Vorlesungen durchführt, wobei die

175 Heidegger, GA 17, Einführung in die Phänomenologische Untersuchung, S. 275.

Page 69: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

67

Spannung zwischen Husserl und Heidegger bezüglich ihrer Auffassung der

ursprünglichen Gegebenheit sich zur Divergenz der Seinsverfassung zu modifizieren

scheint.

Page 70: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

68

3. Heideggers ontologisches Projekt und Ursprungsdenken

Im Vergleich zu den eher indirekten Vorwürfen während der frühen Freiburger

Vorlesungen unterzieht Heidegger in der Marburger Prolegomena–Vorlesung die

Transzendentalphänomenologie Husserls nach Logischen Untersuchungen einer

ausdrücklichen Kritik. Über die Logischen Untersuchungen spricht Heidegger stets

lobend, da er in diesem Werk Husserls die Möglichkeit angelegt sieht, das

menschliche Leben zum Boden der phänomenologischen Untersuchungen zu machen.

Aber mit der transzendentalen Wende Husserls ab den Ideen I sieht er diese

Möglichkeit verloren.

Anders als die Kritik am Ursprungsfern-sein der transzendentalen

Bewusstseinskonstitution nimmt Heidegger in der Prolegomena-Vorlesung Husserls

Versäumnis der Seinsfrage zum Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung mit

dessen Transzendentalphänomenologie. In dieser Kritik zeichnet sich sein Bruch mit

Husserls Transzendentalphänomenologie darin ab, dass er nun das Projekt einer

Ontologie zum zentralen Thema der Phänomenologie macht. Phänomenologie

bezeichnet er in Sein und Zeit als „Wissenschaft vom Sein des Seienden“176. Wie Otto

Pöggeler sein Denken der 1920er Jahre interpretiert: „Phänomenologie ist vielmehr

die methodische, Ontologie die sachhaltige Bezeichnung für dasselbe.“177 Insofern

wandelt sich die Ursprungwissenschaft in den Marburger Vorlesungen in eine

„ontologische Phänomenologie“ um.

Heideggers Kritik an Husserls Versäumnis, die Seinsfrage zu stellen, ist seit langem

umstritten. Die Aufgabe dieses Kapitels aber nicht, diese Kritik als gültig auf ihre

Gültigkeit hin zu betrachten, sondern im Anschluss an Jean-Luc Marions

176 Heidegger, GA 2, S. 50. 177 Otto Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, 1983, S. 98. Vgl. Heidegger, GA 2, S. 51. „Ontologie und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach Gegenstand und Behandlungsart.“

Page 71: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

69

Interpretation herauszuarbeiten, wie Heidegger sich zugleich auf Husserl beziehen

und sich von ihm absetzen kann. Es geht um das Spannungsfeld, in dem er sich gegen

Husserls Transzendentalphänomenologie ausspricht, aber von Husserls

phänomenologischem Ansatz her das Projekt der Ontologie als klaren Bruch mit

Husserls Denken entwickelt. Dabei wird auch zu erörtern sein, welcher

Zusammenhang zwischen Heideggers ontologischem Projekt in den Marburger

Vorlesungen und seiner phänomenologischen Destruktion auf den Lebensursprung

besteht und wie das Ursprungsdenken in der Erschließung des Seinssinns ins Spiel

gesetzt wird.

3.1 Die Marburger Vorlesung „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“

In der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925, Prolegomena zur

Geschichte des Zeitbegriffes, skizziert Heidegger zunächst die phänomenologischen

Untersuchungen Husserls. Zuerst spricht er sein Lob für Husserls drei entscheidende

Entdeckungen der Phänomenologie aus: Intentionalität, kategoriale Anschauung und

den ursprünglichen Sinn des a priori. Unter den drei Entdeckungen sei die

Intentionalität die wichtigste, weil sie die anderen zwei ermöglicht. Husserl selbst

meint: „Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt

Intentionalität.“178

Die Konzeption der Intentionalität übernahm Husserl von Brentano, dessen

bedeutendste These lautet, dass Intentionalität der Grundcharakter der Erlebnisse ist

und es unterschiedliche intentionale Bezüge gibt. Heidegger zufolge übersteige

Husserls Intentionalitätslehre die Brentanos aber dadurch, dass Husserl sehe, dass der

intentionale Gegenstand nicht für sich genommen, sondern je nach seinem

Intendiertsein zu bestimmen sei. Er unterscheidet in den Logischen Untersuchungen

den Gegenstand, so wie er intendiert ist, und den intendierten Gegenstand

178 Hua XIX/1, S. 303.

Page 72: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

70

schlechthin.179 In der Marburger Prolegomena-Vorlesung unterzieht Heideggers diese

Unterscheidung zwischen dem, was intendiert ist, und der Weise, wie es intendiert ist,

einer eigenen Betrachtung. Und davon ausgehend deutet er den Kern der

Intentionalitätslehre Husserls als die Unterscheidung zwischen „dem Seienden selbst

[...] und dem Seienden in der Weise seines Intendiertseins“.180

Auf der Unterscheidung zwischen dem intendierten Gegenstand und dem Gegenstand,

so wie er intendiert ist, baut Husserls Lehre der Wahrheit auf. Er unterscheidet zwei

Arten intentionaler Erlebnisakte. Die erste ist „bloß vermeinender Akt“, in dem man

auf den Gegenstand bloß intentional gerichtet ist. Der „bloß vermeinende“ Akt oder

das „Leermeinen“ benötigt eine Erfüllung durch die zweite Art des Erlebnisaktes,

wenn er sich als „wahr“ erweisen soll. Der zweite Akt ist nämlich Anschauung. In der

Anschauung ist der Gegenstand nicht nur intentional vermeint, sondern leibhaftig

gegeben. Erst durch das leibhaftig Gegebensein kann die Anschauung das bloß

Vermeinte in der Leermeinung erfüllen. Dabei kommt der Unterschied der

intentionalen Struktur der zwei Arten von Erlebnisakten zum Augenschein. Der

Gegenstand in beiden Akten ist intendiert. Was die Anschauung von dem Leermeinen

unterscheidet, ist der intuitive sinnliche Empfindungsinhalt. Durch sinnliche

Empfindungsinhalte kann der Gegenstand in der Anschauung leibhaftig gegeben

werden. „Leibhaftigkeit ist ein ausgezeichneter Modus der Selbstgegebenheit eines

Seienden.“181

Anschauung wird üblicherweise als sinnliche Wahrnehmung verstanden. Aber in

Husserls Wahrheitsanalyse geht es nicht nur um sinnliches Wahrnehmen, sondern

vielmehr um kategoriale Anschauung. Zum Gegenstand der intentionalen Erlebnisse

zählt nicht nur der einzelne Gegenstand, der sich in sinnlichen Wahrnehmungen

darstellt, sondern vielmehr der Sachverhalt und das generelle Wesen. Solche

179 Hua III/1, S. 302-303. 180 Heidegger, GA 20, S. 53. 181 Ebd., S. 54.

Page 73: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

71

höherstufigen Gegenstände werden nach Husserl in kategorialen Anschauungen

aufgefasst oder gegeben.

Einzelne Gegenstände sind, wie Husserl meint, in sinnlichen Wahrnehmungen auf

schlichte Weise, bzw. „mit einem Schlag“ gegeben. „Schlichtheit besagt Fehlen von

gestuften, erst nachträglich Einheit stiftenden Akten.“182 Kategoriale Anschauung ist

dagegen gestufter Akt. Die kategoriale Anschauung fasst als der Akt, der die

sinnlichen Wahrnehmungsakte synthetisiert, kategoriale Gegenstände intuitiv auf.

Heidegger beschreibt die Auffassung der kategorialen Gegenstände als Abhebung des

Idealen aus der sinnlichen schlichten Wahrnehmung. „Diese Abhebung vollzieht sich

in neuen eigenen Akten der Explikation.“183

Die kategoriale Anschauung ist nach Husserl aber in sinnlichen Wahrnehmungen

fundiert, da die sinnlichen Inhalte wie auch die Teilintentionen, die in kategorialer

Synthesis gesetzt werden, aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen. Heidegger

zufolge verschärft Husserls Analyse der kategorialen Anschauung den Sinn des

Apriori. „Die Konsequenz dieser Entdeckung (kategorialer Anschauung) liegt darin,

dass dadurch die philosophische Forschung instand gesetzt wurde, das Apriori

schärfer zu fassen“.184 Das Allgemeine sowohl im Feld des Realen, wie zum Beispiel

Farbe, Materialität usw., als auch im Feld des Idealen, wie zum Beispiel Einheit,

Mehrheit und Beziehung, ist in der kategorialen Anschauung, in sinnlicher

Wahrnehmung fundiert, aufgefasst. Das heißt, das Allgemeine und das Ideale, das in

der kategorialen Anschauung direkt erfasst wird, ist schon in der sinnlichen

Wahrnehmung impliziert. Von der Lehre der kategorialen Anschauung ausgehend

entdeckt Heidegger, dass das Apriorische nicht so etwas ist wie transzendentale

Kategorien oder adäquate Ideen im Subjekt, die von der Wahrnehmung unabhängig

seien, sondern in sinnlicher Wahrnehmung fundiert, die in den Augen Heideggers auf

182 Heidegger, GA 20, S. 82. 183 Ebd., S. 85. 184 Ebd., S. 98.

Page 74: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

72

das reale Leben verweist. Das Apriori ist „nicht nur nichts Immanentes, primär der

Subjektsphäre zugehörig, es ist auch nichts Transzendentes, spezifisch der Realität

verhaftetes.“ 185 Ihm zufolge liege das Apriori „strukturmäßig früher in realen

Erlebnissen“, da es „in den Sach- und Seinsgebieten gründet“186:

Eine grundsätzliche Hebung des apriorischen Feldes der Intentionalität wird als Aufschluß geben müssen: ersten über den exemplarischen Boden, das Feld der konkreten Vereinzelungen der Erlebnisse, aus dem heraus ihre Struktur der Intentionalität ideativ abgehoben werden soll; zweitens über die Art dieser Abhebung der apriorischen Strukturen aus diesem Vorfeld; drittens über den Charakter und die Seinsart dieser herausgehobenen Region als solcher.187

Nachdem Heidegger Husserls drei fundamentale Entdeckungen der Phänomenologie

lobend anspricht, unterzieht er die weitere Entwicklung seiner Phänomenologie, vor

allem in den Ideen I der Kritik, indem er sich mit der phänomenologischen Reduktion

und Husserls Bewusstseinsauffassung kritisch auseinandersetzt.

3.2 Heideggers Kritik an Husserls phänomenologischer Methode

Husserls entwickelt in den Ideen I die phänomenologische Reduktion, um die volle

Struktur der Intentionalität herauszuheben. Diese Methode bezeichnet er auch als

epoché, die seinen Endpunkt im absoluten Bewusstsein finde. Heidegger bringt nun

gegen Husserl zwei Haupteinwände vor: Der erste Einwand richtet sich gegen den

Ausgangpunkt der Epoché; der zweite gegen die Seinsbestimmung des Bewusstseins.

Beide Einwände weisen aber auf dieselbe Problematik hinaus: die Seinsvergessenheit

in Husserl Bestimmung des Seins des Intentionalen.

3.2.1 Kritik am Ausgangspunkt der Epoché

Der Mensch, so Husserl, sei in der natürlichen Einstellung „ein reales Objekt wie

185 Heidegger, GA 20, S. 101. 186 Ebd. 187 Ebd., S. 130.

Page 75: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

73

andere in der natürlichen Welt“ 188 und vollziehe intentionale Akte, die auch

„Vorkommnisse derselben natürlichen Wirklichkeit“189 seien. In reflexiven Akten

werden die intentionalen Akte aber selbst Gegenstand der Reflexion. In diesem Fall

gehören die intentionalen unreflexiven Akte und die Reflexion zu ein und derselben

Seinssphäre und sind gegenseitig immanent. „Immanenz hat hier den Sinn des reellen

Zusammenseins des Reflektierten und der Reflexion.“190 In der Reflexion ist nach

Husserl die transzendente und reale Welt auszuschalten. Heidegger interpretiert diese

Ausschaltung als das Nicht-Mitmachen der Thesis der Welt. „Dieses

Nicht-Mitmachen der Thesis der materiellen Welt und jeder transzendenten Welt wird

als epoché, Sichenthalten, bezeichnet.“191 So versteht er Husserls epoché, die auch

als Einklammerung bezeichnet wird.

Nach Heidegger betrachtet man in der Epoché den Stuhl, statt ihn einfach

wahrzunehmen, als wahrgenommenen, sozusagen im Akte des Wahrnehmens. Man

lebt nicht in der Wahrnehmung des Stuhls als solchem, sondern „in der Einstellung

der immanenten reflektiven Erfassung der Stuhlwahrnehmung.“ 192 So wird die

Realität des Bewusstseins im Sinne der menschlichen faktischen Existenz in der Welt

eingeklammert, damit der immanente Bewusstseinsbereich abgehoben wird. In seinen

Augen nimmt sich die phänomenologische Reduktion zur Aufgabe: „Aus dem in der

natürlichen Einstellung gegebenen faktischen, realen Bewusstsein ist das reine

Bewusstsein zu gewinnen.“193 Husserl versuche aber mit der phänomenologischen

Reduktion, „zunächst von der Realität abzusehen, um sie dann gerade als Realität

betrachten zu können, so wie sie sich im reinen Bewusstsein, das ich durch die

Reduktion gewinne, bekundet.“194 Das heißt, der Ausgangspunkt der Epoché sei

keineswegs eine natürliche Erfahrungsweise, sondern „eine ganz bestimmte

188 Hua III/1, S. 67. 189 Ebd. 190 Heidegger, GA 20, S. 132. 191 Ebd., S. 136. 192 Ebd., S. 135. 193 Ebd., S. 150. 194 Ebd.

Page 76: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

74

theoretische Haltung, eine solche, für die alles Seiende a priori als gesetzlich

geregelter Ablauf von Vorkommnisssen im räumlich-zeitlichen Auseinander der Welt

gefasst wird.“195 Insofern ist in den Augen Heideggers der Ausgangspunkt der

Epoché widersprüchlich gegenüber ihrer Aufgabe. Dies sei darauf zurückzuführen,

dass Husserl nicht „nach dem Sein der Akte im Sinne ihrer Existenz“196 fragt. Die

Frage nach dem Sein des Intentionalen bleibe bei Husserl unerörtert.197

3.2.2 Kritik an der Seinsbestimmung des Bewusstseins

Die Epoché führt zum immanenten Bewusstseinsbereich, dem reinen Feld des

absoluten Bewusstseins. Die zweite Kritik Heideggers wendet sich an Husserls

Seinsbestimmung des Bewusstseins. Er stellt Husserls Formulierungen vom absoluten

Sein des Bewusstseins dabei wie folgt dar: das Bewusstsein sei absolutes Sein im

vierfachen Sinne: 1) dass es „immanent“ ist, das heißt, ein reelles Beschlossensein;198

2) dass es „als Absolutes gegeben“ ist; absolut in dem Sinne, dass „es die

Seinsvoraussetzung ist, aufgrund deren überhaupt Realität sich bekunden kann.“199 3)

dass es „für uns das Erste ist“: „Dieses erste Sein hat den Vorzug, dass es der Realität

nicht bedarf, sondern umgekehrt diese des ersten Seins.“200 4) dass es „rein“ ist,

sofern es als ideales, d.h. nicht reales Sein bestimmt ist und es als diese Region nicht

mehr in seiner konkreten Vereinzelung und in Anknüpfung an Lebewesen betrachtet

wird.201

Nach Heidegger gehe es in dieser Seinsbestimmung des Bewusstseins nicht um den

Seinscharakter des Intentionalen oder des Bewusstseins, sondern um die

Seinsbestimmung der Intentionalität. Und die Seinsbstimmung des Bewusstseins ist

195 Heidegger, GA 20, S. 155-156. 196 Ebd., S. 151. 197 Ebd., S. 157. 198 Vgl. Ebd., S. 142. 199 Ebd., S. 144. 200 Ebd. 201 Vgl. Ebd., S 145, 146.

Page 77: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

75

nicht „im Hinblick auf das Intentionale in seinem Sein selbst gewonnen, sondern [...]

als erfasst, gegeben, konstituierend und ideierend gefasst als Wesen.“202 Dass Husserl

nicht nach dem Sein des Intentionalen fragt, liege daran, dass er die Frage nach dem

Seinssinn des Intentionalen und auch dem Seinscharakter des Bewusstseins nicht als

die primäre Frage erkennt. Heidegger sieht zwar, dass für Husserl das Leitmotiv der

Phänomenologie ist, das Bewusstsein als Region einer absoluten Wissenschaft zu

erschließen. Aber für Heidegger ist dessen Herausarbeitung des reinen Bewusstseins

als thematisches Feld der Phänomenologie nicht phänomenologisch im Rückgang auf

die „Sache selbst“ gewonnen, sondern im Rückgang auf eine traditionelle Idee der

Philosophie, die bereits seit Descartes die neuzeitliche Philosophie beschäftigt.203

3.2.3 Die Frage nach dem Seinssinn des Intentionalen

Husserl stehe, so Heidegger, mit den drei zuvor dargestellten Entdeckungen in den

Logischen Untersuchungen dem phänomenologischen Geist näher als in seiner

Entwicklung der Transzendentalphänomenologie. Denn in den Logischen

Untersuchungen bereitet er sich auf den Weg „zur Sache selbst“ vor, indem er den

phänomenologischen Boden im Feld der konkreten faktischen Erlebnisse findet. Aber

in der Entwicklung der Transzendentalphänomenologie seit den Ideen I ist dieser

Boden aus der Hand gegeben, auf dem einzig nach dem Sein des Intentionalen gefragt

werden könne.204 Für Heidegger setzt sich die phänomenologische Untersuchung zur

„Sache selbst“ immer mit der Frage nach dem Sein bzw. dem ursprünglichen Sein des

Intentionalen in Bewegung, und die Frage nach dem Sein des Intentionalen soll im

konkreten und faktischen Leben den Ausgang nehmen. Aber Husserl geht in den

entgegengesetzten Weg:

Nicht die individuelle Vereinzelung einer konkreten intentionalen Beziehung steht zur Verhandlung, sondern die intentionale Struktur überhaupt, nicht die Konkretion von Erlebnissen, sondern ihre Wesensstruktur, nicht das reale Erlebnis-Sein, sondern das ideale

202 Heidegger, GA 20, S 146. 203 Vgl. Ebd., S. 147. 204 Vgl. Ebd., S. 150.

Page 78: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

76

Wesens-Sein des Bewusstseins selbst, das Apriori der Erlebnisse im Sinne des gattungsmäßigen Allgemeinen, das je eine Erlebnisklasse bzw. einen Erlebnisstrukturzusammenhang bestimmt.205

Nach Heidegger geht die Frage nach dem ursprünglichen Sein oder Seinssinn des

Intentionalen in der phänomenologischen Reduktion, die von der Konkretion sowie

von der jeweiligen Vereinzelung der Erlebnisse absieht und die theoretische

Einstellung sowie ideale Seinsbestimmung des Bewusstseins voraussetzt, verloren.

Das heißt, die Seinsfrage gerät in Vergessenheit und wird versäumt.

Aber hier lässt sich fragen, ob es in Husserls Phänomenologie um die Frage nach dem

Seinnsinn geht? Lässt sich die Seinsfrage überhaupt als Leitmotiv für Husserls

phänomenologische Studien auffassen? Ist die Freilegung des Seins des Bewusstseins

oder des Intentionalen notwendig im thematischen Feld der Phänomenologie als

absolute Wissenschaft? Für die ersten zwei Fragen hält Heidegger schon eine Antwort

bereit. Wie aufgezeigt wurde, sieht er selbst, dass das Leitmotiv der Phänomenologie

bei Husserl nicht in erster Linie die Seinsfrage, sondern die Auslegung des

Bewusstseins als Region einer absoluten Wissenschaft ist. Husserls Leitmotiv ist

jedoch in Heideggers Kritik nicht wirklich in Betracht gezogen. Die Gültigkeit der

Kritik entscheidet sich aber mit der dritten Frage. Für diese hat Heidegger sich aber

anscheinend überhaupt nicht interessiert. Daher ist es durchaus umstritten, ob die

Kritik an Husserls Versäumnis der Seinsfrage noch standhält.

3.3 Epoché, Seinsverfassung und Platonischer Idealismus

Obwohl Heideggers Kritik gegenüber Husserls Phänomenologie nicht völlig

zutreffend ist, eröffnet sie doch ein Spannungsfeld, in welchem sich Heideggers

Auffassung des Seinssinns gegen die metaphysische Seinsinterpretation, die in

Husserls Transzendentalphilosophie übernommen wird, richtet. Dieses Spannungsfeld

205 Heidegger, GA 20, S 146.

Page 79: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

77

entfaltet sich jedoch in der phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die Husserl

durch die Epoché erreicht. So erhalten wir eine weitere Perspektive, um die

Divergenz zwischen Husserl und Heidegger noch genauer zu betrachten. Im

Folgenden wird zunächst erneut die Epoché betrachtet, um Husserls reduktive

Methode sowie ihren Zusammenhang mit der Seinsfrage kurz ins Auge zu fassen.

3.3.1 Epoché ermöglicht Weltphänomen und Ontologie

Heidegger Vorwurf ist, dass von der Realität der Welt in der Epoché abgesehen wird.

An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass Husserl die Gefahr bereits

geahnt hat, dass die Rede von der Ausschaltung der realen Welt zu einem

Missverständnis führen könnte, nämlich dass das Thema des Daseins der realen Welt

von der Phänomenologie ausgeschlossen würde. Deshalb betont er in verschiedenen

Texten stets, dass das Thema des Seins der Welt nicht von der phänomenologischen

Sphäre ausgetrieben wird.

Die Welt ist nicht verloren gegangen durch die Epoché, sie ist nicht überhaupt Enthaltung hinsichtlich des Seins der Welt und jedes Urteils über sie, sondern sie ist der Weg der Aufdeckung der Korrelationsurteile, der Reduktion aller Seinseinheiten auf mich selbst und meine sinnhabende und sinngebende Subjektivität mit ihren Vermöglichkeiten.206

Die reale Welt bleibe in der Epoché als das Korrelat des transzendentalen Subjektes

immer noch im Horizont der Phänomenologie, und gerade auf diese Weise wird sie

als empirische Transzendentalwissenschaft von Husserl benannt.207 Zahavi weist

darauf hin, dass die sogenannte Ausschaltung der Welt in der Epoché eine

206 Hua XV, S. 366. 207 Vgl. Hua VIII, S. 432. Husserl schreibt: „Zunächst ist die Rede von phänomenologischen „Residuum“ besser zu meiden, wie auch die von der „Ausschaltung der Welt“. Sie verführt leicht zu der Meinung, dass die Welt nunmehr aus dem phänomenologischen Thema herausfällt und stattdessen nur die „subjektiven“ Akte, Erscheinungsweisen etc., die sich auf die Welt beziehen, thematisiert würden. In gewisser, wohlverstandenen Weise ist das richtig. Aber wenn die universale Subjektivität in ihrer vollen Universalität, und zwar als transzendentale, in rechtmäßige Geltung gesetzt wird, so liegt in ihr auf der Korrelat-Seite als rechtmäßig seiend die Welt selbst, nach allem, was sie in Wahrheit ist: eine universale transzendentale Forschung umspannt also in ihrem Thema auch die Welt selbst [...] als empirische Transzendentalwissenschaft alle Tatsachenwissenschaften von der faktischen Welt.“

Page 80: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

78

Verwerfung oder Neutralisation der dogmatischen Einstellung zur Realität bedeutet,

so dass wir uns direkt auf das phänomenologisch Gegebene fokussieren können.208

Hopkins sieht auch, dass Epoché eine ontologisch neutrale Dimension schafft, die

„über alle ontologischen Bestimmungen [...] irgendeines anderen Phänomens

transzendiert“.209

Tugendhat führt ein noch treffendere Analytik über Heideggers Fehlinterpretation

über die Weltausschaltung in der Epoché durch, darauf hinweisend, dass die Welt, die

in der Epoché eingeklammert ist, nur die „einstimmig setzbare“ und „objektive

Welt“ sei. Nur mit der Ausschaltung dieser naiv gesetzten, vom Setzen scheinbar

unabhängigen Welt kann gerade die Welt als „Phänomen“ sich erschließen, das

wesensmäßiges Korrelat der Subjektivität ist, und zugleich die Subjektivität, die

ego-cogito-cogitatum wesensmäßig auf diese Welt als Phänomen bezogen ist.210 Das

heißt, erst durch die Epoché steht die Welt oder stehen die Gegenstände als das bloß

gegebene Phänomen den phänomenologischen Forschungen zur Verfügung. Diese

Methode ist auch für das Herausarbeiten des In-der-Welt-seins notwendig. Die

Weltmäßigkeit des Daseins als des In-der-Welt-seins, die Heidegger immer wieder

unterstreicht, bezieht sich ebenso nicht auf eine reale Welt, sondern auf die Welt als

Phänomen. Die Welt zum Phänomen zu bringen ist aber nur durch Epoché möglich.

Heidegger selbst spricht nur wenig darüber, wie Husserls phänomenologischer Ansatz

zu seinem Projekt der Ontologie beiträgt. Nach Caputos Sicht setze Heideggers

Epoché als seine Methode in Sein und Zeit an. Das Sein bei Heidegger sei als Wie des

Gegebensein, das erst durch Einklammerung der naturalistischen Einstellung eröffnet

wird, zu verstehen. 211 Mearleau Ponty verweist in der Phänomenologie der

Wahrnehmung darauf, dass die ganze Ausführung des In-der-Welt-seins nur auf dem

208 Dan Zahavi, Husserls Phenomenology, S. 45. 209 Burt C. Hopkins, Intentionality in Husserl and Heidegger, 1993, S. 8. 210 Vgl. Tugendhat, 1970, S. 263. 211 Vgl. John. D. Caputo, The Question of Being and Transcendental Phenomenology: reflextions on Heidegger´s Relationship to Husserl, in: Research in Phenomenology 7, 1977, S. 89-91.

Page 81: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

79

Hintergrund der phänomenologischen Reduktion möglich sei.212 Nach Tugendhat

gewinnt Heidegger erst durch Epoché die phänomenologische Sphäre für die

Seinsfrage. „Heidegger benötigt die Epoché nicht mehr, um in die Dimension der

Gegebenheitsweisen zu gelangen, weil er, nachdem sie von Husserl eröffnet wurde,

von vornherein in ihr steht“.213 Heideggers phänomenologische Ontologie sei nach

Tugendhat dadurch charakterisiert, dass „sie nach dem möglichen Sinn von Sein

überhaupt erst fragt“.214 Und sie setzt sich erst ins Spiel, wenn „ihr im Wie des

Gegebenseins ein Bereich vorgegeben ist, in den sie hineinfragen kann.“215 In diesem

Sinn sagt auch Heidegger selbst: „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich.”216

Zur hier gemeinten Phänomenologie gehört auch Epoché.

In der phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die durch die Epoché erreicht

wird, fasst sich das Sein als Wie des Gegebenseins. In dieser Thematik erkennt

Heidegger die Möglichkeit einer Erschließung des Seinssinns und einer Ontologie im

ursprünglichen Sinne. Aber für das ontologische Projekt interessiert sich Husserl nicht.

Vielmehr bemüht er ich, im erkenntnistheoretischen Ausgang das Wie des

Gegebenseins des Gegenstandes durch die Konstitution des phänomenologischen

Subjektes zu erklären, wobei er das Sein des Gegebenen am Objektsein orientiert und

das Sein des Bewusstsein als ideal gegebenes Wesen bestimmt. An dieser Stelle

distanziert sich Heidegger von Husserl.

Wie oben dargestellt wurde, richten sich Heideggers Einwände hauptsächlich gegen

die Annahme der theoretischen Einstellung als Ausgang der Epoché und gegen die

Seinsbestimmung des absoluten Bewusstseins. Ihm zufolge zeichnet sich die

theoretische Einstellung im Grunde durch die Objektivierung des Gegebenen aus, d.h.

durch die objektivierende Seinssetzung des Gegebenen. Gleichwohl ist bei Husserl

212 Vgl. Merleau Ponty, Phenomenology of Perception, 2002, xiv 213 Tugendhat, 1970, S. 263. 214 Ebd., S. 267. 215 Ebd. 216 Heideger, GA 2, S. 48.

Page 82: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

80

das absolute Bewusstein als konstituierendes und ideales Wesen wie ein Objekt

vorgestellt.217 In den Augen Heideggers ist solche objektivierende Seinssetzung eine

willkürliche Seinsbestimmung, die das Sein des Seienden als Vorhandenheit218, mit

anderen Worten als beständige Anwesenheit bestimmt, ohne nach dem Sinn von Sein

überhaupt zu fragen. Ihm zufolge ist die theoretische Einstellung und die

Seinsbestimmung des Bewusstseins das Charakteristische der

Transzendentalphänomenologie, welche die willkürliche Seinsbestimmung der

beständigen Anwesenheit vom Platonischen Idealismus übernimmt und so die

Seinsfrage versäumt. Daher nimmt sich Heidegger zur Aufgabe, die Seinsverfassung

aus den Platonischen Anfängen durch phänomenologische Destruktion zu beziehen

und den Sinn von Sein zu erschließen.

3.3.2 Platonischer Idealismus und Transzendentalphilosophie

Die Seinsvergessenheit der Transzendentalphilosophie wurzelt gemäß Heidegger in

der Altgriechischen Philosophie, bzw. in Platos Lehre von den Ideen, die als der

Anfang der westlichen metaphysischen Tradition anzusehen sei.219 Ersichtlich ist der

innere Zusammenhang zwischen der Seinsfrage und der ontologischen Destruktion,

durch die Heidegger die Seinsvergessenheit im Rückgang auf die Altgriechischen

Anfänge der westlichen Philosophie herauszustellen und abzubauen versucht, um so

den Sinn des Seins erneut in Frage zu stellen. In Heideggers Destruktion der

metaphysischen Seinslehre werden eine Reihe großer Philosophen, einschließlich

217 Vgl. Heidegger, GA 20, S. 146. 218 Im Wintersemester 1920/1921 und im Sommersemester 1923 sowie im Wintersemester 1925/1926 hält Husserl die Vorlesung mit dem Titel Grundzüge der Logik. Diese Vorlesung ist erst in den Analysen zur passiven Synthesis 1966 herausgegeben. In dieser Vorlesung führt Husserl schon die erste genetische Analyse der Intentionalität in Rahmen der Untersuchungen zum Zeitbewusstsein aus. In der neuen genetischen Intentionalitätsstruktur wird der intentionale Gegenstand nicht mehr als vorhandenes Gegenständliches betrachtet, sondern der intentionale Gegenstand ist als das immanente Zeitobjekt zu betrachten, das von dem Zeitbewusstsein als dem kontinuierlichen Fluss von Urimpression, Protention und Retention konstituiert wird. Daniel Dahlstrom meint, dass Heidegger zu dieser Zeit sehr wahrscheinlich schon zu diesen unveröffentlichten Vorlesungen Husserls Zugang hatte. (Vgl. Dahlstrom, 1994, 111) 219 Jeffrey Andrew Barash, Heidegger´s Ontological “Destruktion“ of Western Intellectual Traditions, in: Reading Heidegger from the Start, Theodore Kisiel und John van Buren (Hrsg.), New York, 1994, S. 117.

Page 83: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

81

Kant und Husserl, einer Kritik unterzogen. Den Zusammenhang zwischen

Transzendentalphilsophie und Seinsvergessenheit benennt Heidegger in den 20er

Jahren jedoch nur selten. Erst in den Beträgen zur Philosophie bringt Heidegger

diesen Zusammenhang im Rahmen seiner Analytik des Platonischen Idealismus zum

Ausdruck.

In den Beiträgen zur Philosophie setzt Heidegger sich mit dem Idealismus in Platos

Lehre von den Ideen auseinander. Er interpretiert ἰδἐα bei Plato als das Sein des

Seienden, genauer, als die Seiendheit des Seienden, die zuerst als einheitliche und

beständige Anwesenheit zu erfassen ist.220 Das Seiende bei Plato zeige sich immer in

Hinsicht auf das beständige Aussehen, die ἰδἐα, die alle verschiedenen und sich

ändernden Situationen transzendiert und selbst unverändert bleibt. Neben der

Bedeutung der beständigen Anwesenheit ist nach Heidegger in der Konzeption der

ἰδἐα noch eine weitere Bedeutung herauszuheben, nämlich das Apriori.

Das Apriori eigentlich erst da, wo ἰδἐα, und damit gesagt, dass die Seiendenheit als ὂντως ὂν seiender und damit zuerst seiend ist. [...] Das Apriori meint immer künftig in der Metaphysik, eintsprechend deren Ansatz bei Plato, die Vorgängigkeit der Seiendheit vor dem Seienden. [...] Das Apiroi wandelt sich mit der ἰδἐα zur perceptio, d.h. das Apriori wird dem ego percipio und damit dem „Subjekt“ zugewiesen; Es kommt zur Vorgängigkeit des Vor-stellens.221

Platos Konzeption von ἰδἐα sei als die Urform des Idealismus zu verstehen und

gründe als die erste Seinsinterpretation alle Seinslehre und Metaphysik in der

westlichen Tradition. Bei der Seinsinterpretation handelt es sich um die

Doppelbedeutung von ἰδἐα. Auf der einen Seite ist ἰδἐα als Sein des Seienden, als die

beständige Anweseheit im Aussehen angenommen. Auf der anderen Seite versteht

sich ἰδἐα als die „Vorgängigkeit der Seiendheit vor dem Seienden“, die sich zur

„Vorgängigkeit des Vor-stellens“ im Subjekt wandelt. In Heideggers Interpretation

wird die Doppelbedeutung von ἰδἐα jeweils erweitert zur „Vorgestelltheit als

220 Vgl. Heidegger, GA 65, Beiträge zur Philosophie, S. 208-220. 221 Ebd., S. 222-223.

Page 84: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

82

Gegenständlichkeit“ und zur „Selbstgewißheit als Grund der Gegenständlichkeit“222,

die selbst jedoch auch als vorgestellte Gegenständlichkeit aufzufassen und somit auch

als beständiges Anwesendes zu betrachten sei. Aus diesen zwei Bedeutungen von ἰδἐα

stammen ihm zufolge Husserls jeweilige Seinsbestimmungen des konstituierten

Gegebenen und des Konstituierenden, des transzendentalen Subjektes. Das heißt,

Husserls transzendentales Denken sei verwurzelt im platonischen Idealismus.

Platos Seinsinterpretation der ἰδἐα sei nach Heidegger im Grunde genommen die

willkürliche Seinsbestimmung als beständige Anwesenheit. Und in dieser

Seinsbestimmung verwurzelt sei die Metaphysik und Ontologie der westlichen

Tradition. Da die Platonische Seinsverfassung das Sein als Seiendheit, als beständige

Anwesenheit bestimmt, statt nach dem Sinn von Sein selbst zu fragen, sei für

Heidegger solche Seinsverfassung durch Seinsvergessenheit charakterisiert und die

Wurzel der Seinsvergessenheit der ganzen metaphyisischen Traditon in der

westlichen Philosophie, einschließlich der Transzendentalphilosophie.

Mit Blick auf die Seinsinterpretation behandelt Heidegger die

Transzendentalphilosophie als Metaphysik bzw. als traditionelle Ontologie, die durch

Destruktion abzubauen sei. Otto Pöggeler zufolge versucht Heidegger in Sein und Zeit

zu zeigen, wie der Boden der Transzendentalphilosophie einbricht und der Abgrund

der Metaphysik in den Blick gerät.223 Erst durch „die am Leitfaden der Seinsfrage

sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf

die ursprüngliche Erfahrungen“ 224 sei die Ontologie im ursprünglichen Sinne

möglich. Diese sei nach Heidegger primär aus der ursprünglichen Lebenserfahrung

her zu deuten.

222 Heidegger, GA 65, S. 215. 223 Vgl. Otto Pöggeler, 1983, S. 96-97. 224 Heidegger, GA 2, S. 30.

Page 85: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

83

3.4 „Transzendentales Subjekt“ und Heideggers Bruch mit Husserl

Da die Transzendentalphilosophie für Heidegger aufgrund ihrer Seinsvergessenheit

einer ursprünglichen Seinsinterpretation entgegensteht, mutet es widersprüchlich an,

zu sagen, es gehe im Denken Heideggers um das Transzendentale. Dennoch wird oft

über Heideggers transzendentales Denken gesprochen. Dahlstrom bezeichnet

Heideggers Denken als ein Transzendentalismus des Daseins.225 Caputo wiederum

fasst Sein und Zeit als ein Werk der Transzendentalphänomenologie auf. In seiner

Interpretation wird dort nach dem Sein des Daseins gefragt als dasjenige, welches das

Sein des innerweltlichen Seienden möglich macht. Insofern wird auch in Sein und Zeit

eine Reduktion auf das transzendentale Subjekt vollzogen, wenn auch in Heideggers

Version. 226 Auch gemäß Seeburger handelt es sich um eine Untersuchung der

transzendentalen Subjektivität, wobei Dasein als das transzendentale Subjekt das Sein

des innerweltlich Seienden durch den Weltzusammenhang bestimme.

Es ist jedoch offensichtlich, dass das transzendentale Subjekt bei Heidegger etwas

Anderes meint als bei Husserl. Caputo weist darauf hin, dass Heideggers Version des

transzendentalen Subjekts im Vergleich zu Husserls als „radikalerweise auf die Welt

richtend“ bestimmt werden muss. Seeburger unterstreicht den Unterschied zwischen

Husserlscher und Heideggerscher transzendentaler Subjektivität, indem er aufzeigt,

wie Dasein als transzendentales Subjekt kein absolutes und von der Welt

unabhängiges Bewusstsein, sondern In-der-Welt-sein ist. 227 Im Vergleich zum

transzendentalen Bewusstsein, das als das von der Welt unabhängige und ideale

Wesen anzusehen sei, ist Dasein aus seiner faktischen Existenz, d.h. aus seinen realen

Verhältnissen zur Welt her zu verstehen. Das Sein des anderen Seienden ist durch das

Verhältnis zwischen Dasein und Umwelt, zu Mitmenschen, sowie zu ihm selbst

225 Vgl. Dahlstrom, Heidegger´s Transzendentalism, 2005, S. 51. 226 Vgl. Caputo, The Question of Being and Transcendental Phenomenology: reflextions on Heidegger´s Relationship to Husserl, in: Research in Phenomenology 7, 1977, S. 100. 227 Vgl. Fransis F. Seeburger, Heidegger and the Phenomenological Reduction, in: Philosophy and Phenomenological Research 36, 1975, S. 213.

Page 86: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

84

bestimmt.228 Dies macht den transzendentalen Sinn des Daseins aus.

Die oben dargestellte Differenzierung des transzendentalen Subjektes bei Husserl und

Heidegger ist jedoch nur gemäß seiner inhaltlichen Bestimmung verfasst und betrifft

nicht dessen innere Struktur, auch nicht das Leitmotiv beider Philosophen, welches

erst entscheidet, in welchem Fragekontext ihre jeweilige Bezugnahme auf das

„transzendentale Subjekt“ steht. Die folgende Darlegung fokussiert nicht auf eine

umfangreiche Analytik des Transzendentalismus bei Husserl und Heidegger, sondern

wirft einen Blick auf die innere Struktur des transzendentalen Subjektes bei Husserl

und Heidegger, und zeigt das Leitmotiv für ihren transzendentalen Aufbau auf.

Zunächst muss aber darauf hingewiesen werden, dass die folgende Darlegung

voraussetzt, dass die jeweiligen transzendentalen Subjekte, nämlich absolutes

Bewusstsein und Dasein, das in Sein und Zeit als Ersatzbegriff für das faktische

Leben fungiert, ihrer Transzendentalfunktion nach entlang der Konstitutions- oder

Gegebenheitsmodellen bei Husserl und Heidegger aufzufassen sind. Diese These ist

hier zunächst eine Hypothese, da erst geprüft werden muss, ob Heidegger im Begriff

des Daseins das Gegebenheitsmodell einsetzt. Dieser Prüfung ist das nächste Kapitel

gewidmet. Im Hinblick auf die innere Struktur der Modelle sowie auf das Leitmotiv

für dessen Aufbau ist eine Perspektive zu gewinnen, welche die grundliegende

Divergenz zwischen den Transzendentalauffassungen bei Husserl und Heidegger

verdeutlicht.

3.4.1 Innere Struktur der Gegebenheitsmodelle

Im Gegebenheitsmodell Husserls wird das Gegenständliche im immanenten

Bewusstseinsbereich, der durch die Einklammerung der ontologischen

Seinssetzungen der realen Welt gesichert wird, vom transzendentalen Bewusstsein

228 Vgl. Fransis F. Seeburger, 1975, S. 221; Vgl. Rudolf Bernet, Husserl and Heidegger on Intentionality an Being, in: Journal of the Britisch Society for Phenomenology 21, 1990, S. 145-147.

Page 87: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

85

konstituiert, d.h. sich selbst gegeben. Das Gegebenheitsmodell ist hier ein

Konstitutionsmodell. Heideggers Gegebenheitsmodell manifestiert sich im

Lebensvollzug oder in der sich geschichtlich vollziehenden Sinnerschlossenheit des

faktischen Lebens, das in Sein und Zeit unter der Bezeichnung des Daseins ausgeführt

wird. Von außen gesehen fungiert das Dasein auch als transzendentales Subjekt, da es

das Sein, genauer gesagt das Gegebensein des anderen Seienden ermöglicht. Jedoch

unterscheidet sich die innere Struktur des Daseins, genauer gesagt des

Gegebenheitsmodells des Daseins, von der bei Husserl.

Wie zuvor aufgezeigt wurde, unterzieht Heidegger die Bewusstseinskonstitution bei

Natorp einer Kritik, wobei das Gegebenheitsmodell Husserls als der eigentliche

Adressat dieser Kritik anzusehen ist. Heidegger zeigt auf, dass das Bewusstsein in

Natorps Modell als die letzte Gesetzlichkeit den Erlebniszusammenhang, d.h. den

logischen Ordnungszusammenhang, konstituiert. Er betont, dass für Natorp die

Konstitution im Bereich des Bewusstseins oder in der Icheinheit stattfindet, und dass

jede einzelne Konstitution dem Ich bewusst und insofern Vorkommnis ist. Daher ist

Bewusstseinskonstitution als Selbstkonstitution des Ich, nämlich des Subjektes zu

begreifen. Dies charakterisiere die transzendentale Subjektivität.

In den frühen Freiburger Vorlesungen erarbeitet Heidegger bereits sein eigenes

Gegebenheitsmodell, von Husserls Ansatz ausgehend, aber in Annährung an Diltheys

Lebensphilosophie. Statt vom Bewusstsein spricht Heidegger nun vom faktischen

Leben. Das faktische Leben ist kein letzter Grund, sondern geschichtlicher und

dynamischer Lebensvollzug, also die Konstitution selbst, die weder objektiviert noch

als Vorkommnis bewusst werden kann. Obwohl das Gegebenheitsmodell in den 30er

Jahren von Husserl auch genetisch entwickelt wird, betrifft aber das „Genetische oder

Kinetische [...] den durchsichtigen Aufbau der Dinge.“ 229 In Heideggers

Gegebenheitsmodell handelt es sich jedoch nicht um eine durchsichtige

229 Günter Figal, Phänomenologie und Ontologie, in: Heidegger und Husserl: Neue Perspektiven, 2009, S. 16.

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86

Sinnkonstitution, sondern im Gegenteil um einen undurchsichtigen Lebensvollzug

oder eine „nicht mehr bewusst erlebte Offenheit“230. Hierin unterscheidet sich Dasein

als „transzendentales Subjekt“ bei Heidegger von dem transzendentalen Bewusstsein

bei Husserl, in dessen immanentem Bereich die Sinnkonstitution letztgründet, nicht

bloß durch seine Weltmäßigkeit, sondern vielmehr durch die innere Struktur seines

Gegebenheitsmodells, für die das Grundlossein sowie die Undurchsichtigkeit des

Lebensvollzugs kennzeichnend ist.

3.4.2 Leitmotive des Aufbaus des Gegebenheitsmodells

Husserls Leitmotiv im Aufbau des Gegebenheitsmodells besteht darin, Evidenz als

Selbstgegebenheit in der Region des absoluten Bewusstseins herauszuarbeiten und die

Objektivität der Erkenntnis durch die transzendentale Konstitution zu rechtfertigen.

Wie Landgrebe meint, ist die Selbstkonstitution des Ich bei Husserl nicht anders zu

begreifen als das Grundmodell aller Konstitution von gegenständlicher Einheit. Dies

ist aus „der schon vielbemerkten Tatsache“ zu verstehen, dass für Husserl „Sein“ das

Gegenständlich-Sein für ein darauf gerichtetes Vorstellen bedeutet. Dabei bedeutet

das absolute Selbstsein des Ich für Husserl nichts anderes als die in der

phänomenologischen Reflexion gegenständlich vorgestellte Beständigkeit des Ich als

Vollzugspol seiner Akte und der letzte Grund der Konstitution.231

Im Gegensatz dazu wird bei Heidegger eher die Konstitution, mit seinen eigenen

Worten, der Lebensvollzug selbst zum Thema seines transzendentalen Denkens. In

seinen Augen, wie Manfred Brelage aufzeigt, liege das Versäumnis der bisherigen

Transzendentalphilosophie gerade darin, „ein Subjekt in Ansatz gebracht zu haben,

ohne den Grund mitzudenken, der es in seinem Subjektsein ermöglicht.“232 Den das

Subjektsein ermöglichenden Grund erkennt Heidegger als die Konstitution selbst und

230 Martina Roesner, Zwischen transzendentaler Genese und faktischer Existenz. Konfigurationen des Lebensbegriffs bei Natorp, Husserl und Heidegger, in: Husserl Studie 28, 2012, S. 78. 231 Vgl. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, 1963, S. 192, 198. 232 Manfred Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie, 1965, S. 206.

Page 89: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

87

macht diese zum Thema seiner phänomenologischen Untersuchungen. Wie oben

aufgezeigt wurde, versteht diese Konstitution sich, anders als bei Husserl, als den

unbewussten und grundlosen Lebensvollzug. Die Differenzierung der Leitmotive des

transzendentalen Aufbaus bei Husserl und Heidegger eröffnet jenes Spannungsfeld,

innerhalb dessen Heidegger sich gegen Husserl ausspricht und dessen Versäumnis,

die Frage nach dem Grund des Subjektseins sowie auch des Objektseins zu stellen, als

das Versäumnis der Frage nach dem Seinssinn interpretiert, das aus der Platonischen

Tradition in Husserls Denken überliefert sei. Die Untersuchung der Seinsfrage macht

eben sein ontologisches Projekt aus. Insofern unterscheidet sich Heideggers

„transzendentales Subjekt“ (Dasein oder Leben) von dem Husserls, das

transzendentale Subjekt, nicht nur durch dessen innere Struktur, sondern im Grunde

auch dadurch, dass dieses bei Heidegger umwillen der Erschließung des

ursprünglichen Seinssinns in Frage steht, während die ontologische Thematik bei

Husserl gar nicht thematisiert wird. Bemerkenswert ist, dass die Frage nach dem

Seinssinn bei Heidegger in Grunde mit der Thematik des Lebensvollzugs in Rahmen

der Gegebenheitsthematik verbunden ist.

3.5 Heideggers ontologisches Projekt und Marions Rekonstruktion

Heideggers Projekt der Ontologie entfaltet sich zunächst mit der Ausarbeitung der

Frage nach dem Sinn des Seins durch die Analytik des Seinssinnes des Daseins.

Dieses Seiende, das wir selbst sind und das uns in Hinsicht des Gegebenseins das Fernste ist, soll phänomenologisch bestimmt, zum Phänomen gebracht werden, d.h. so erfahren werden, dass es sich an ihm selbst zeigt, so dass wir aus dieser phänomenalen Gegebenheit des Daseins gewisse Grundstrukturen herausholen, die hinreichend sind, um die konkrete Frage nach dem Sein als durchsichtige zu vollziehen.233

Der in der Prolegomena-Vorlesung skizzierte Plan einer Vorbereitung sowie

Ausarbeitung der Seinsfrage in der Analytik der Grundstruktur des Daseins, wird in

233 Heidegger, GA 20, S. 202.

Page 90: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

88

Sein und Zeit durchgeführt. Aber hier muss Heideggers Argumentation noch präziser

betrachtet werden. Heidegger meint, dass die Daseinsanalytik der Seinsfrage und die

phänomenologische Bestimmung des Seienden der Daseinsanalytik vorhausgehen.

Hier nimmt sich die phänomenologische Bestimmung des Seienden als die

Seinsbestimmung dieses Seienden an. So ergibt sich die Frage: Wie kann Heidegger

sicherstellen, dass die Seinsbestimmung des Seienden und die darauf basierende

Daseinsanalytik zur ursprünglichen Seinsverfassung führt?

Müsste es sich nicht gerade so darstellen, dass Heidegger zunächst ein gewisses

Verständnis des Seinssinns bereits herausarbeite, und von diesem ausgehend dann das

Sein des Seienden bestimmen kann? Hierfür liefert Orlando Pugliese einige

Argumente. Den formalen Aufbau von Sein und Zeit erklärt er derart, dass „das

Verhältnis zwischen Ausarbeitung der Seinsfrage und Frage nach der menschlichen

Seinsart umgekehrt (sei) zu dem, was der formale Aufbau der Gesamtuntersuchung

und die Methode selbst annehmen lässt.“234 Das heißt, dass die Fragestellung der

Seinsfrage durch „die Analyse der Seinsart des menschlich Seienden vorbereitet und

methodisch angefangen werden muss, liegt nur darin (begründet), dass zuallererst das

Seiende dieser Seinsart den Sinn von Sein überhaupt erschließt.235 Dieses Argument

kann noch gestärkt werden dadurch, dass Heidegger ein bestimmtes Vorverständnis

des ursprünglichen Seinssinns bereits in die Erörterung einbringt, nach der das Sein

des Daseins als In-der-Welt-Sein und nicht auf irgendeine andere Art bestimmt ist,

und so die Seinsfrage in der ontologischen Analytik des Daseins ausgearbeitet werden

kann. Dann ist aber zu fragen, was dieses bestimmte Vorverständnis vom

ursprünglichen Seinssinn bei Heidegger auszeichnet.

234 Orlando Pugliese, 1986, S. 95. 235 Vgl. Ebd.

Page 91: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

89

3.5.1 Heideggers Thematik des Lebensvollzugs und das Vorverständnis des

ursprünglichen Seinssinns

In der Marburger Vorlesung des Wintersemesters 1923/1924, Einführung in die

phänomenologische Forschung, wirft Heidegger die Aufgabe der Phänomenologie,

das „Leben selbst in seinem eigentlichen Sein zu verstehen und die Frage nach seinem

Seinscharakter zu beantworten“236, erneut auf. Somit ist herauszustellen, dass der

eigentliche Seinssinn des Lebens sich auf dessen Seinscharakter bezieht. Aus der

Marburger Vorlesung wird ersichtlich, dass sich Heideggers Destruktion wandelt, von

der Destruktion auf den ursprünglichen Vollzugssinn in den Freiburger Anfängen, hin

zur Destruktion auf den ursprünglichen Seinssinn. Aber diese ursprüngliche

Seinsverfassung ist immer noch aus dem faktischen Lebens her zu deuten.

Martina Roesner legt den Grundcharakter des faktischen Lebens bei Heidegger so dar,

dass es bei der Bestimmung der Bedeutung des faktischen Lebens nicht um ein

extensional erfassbares Was, sondern „um ein intensionales Wie gehe, das auch die

bereits konstituierten, scheinbar verfestigten Sinngebilde aus der entfremdeten

Veräußerlichung und Objektivierung wieder in die Ursprungsdynamik des Lebens

zurückzunehmen vermag.“237 Die Ursprungsdynamik als der Ursprung des Lebens

verweigert alle Gehaltmäßigen und gegenständlichen Seinsbestimmungen, und dies

ist laut Roesner auf Heideggers „Radikalisierung des Phänomens der

Ursprünglichkeit“ zurückzuführen, durch die er für die Verfassung des faktischen

Lebens „ein Synonym des Nichts“ gewinnt, „von dessen negativer Bedeutung als

schlechthinniges Nicht-Etwas es so gut wie nichts und zugleich doch alles trennt,

nämlich dessen positive Fassung im Sinne grundlos-unumschränkter

Beweglichkeit.“238

236 Heidegger, GA 17, S. 275. 237 Martina Roesner, 2012, S. 75.238 Ebd. S. 79.

Page 92: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

90

„Ursprungsdynamik“ oder „grundlos-unumschränkte Beweglichkeit“, die sich auf das

Charakteristikum des Vollzugs des Lebens bezieht, ist die Bezeichnung des

ursprünglichen Grundcharakters des Lebensvollzugs. 239 Jedoch macht die

„Ursprungsdynamik“ nicht den vollen Sinn des Grundcharakters des Lebens aus. Der

volle Sinn des Grundcharakters des Lebens umspannt Geschichtlichkeit und

Rätselhaftigkeit oder Undurchsichtigkeit. Die Anweisung auf Rätselhaftigkeit hier hat

nichts mit irrationalistischer Haltung oder mit Mystizismus zu tun, sondern bezieht

sich auf den entscheidenden Einsatz, welcher der Annäherung an die tiefere

Ursprünglichkeit des Lebens zugrunde liegt. Der Grundcharakter des Lebens ist daher

in vollem Maß als Ursprungsdynamik oder Beweglichkeit, die geschichtlich und

rätselhaft ist, aufzufassen.

Ist dieses Verstehen des Grundcharakters des Lebensvollzugs als der Seinssinn und

als Seinscharakter des Lebens anzusehen? Geht dieses über ein bloßes Vorverständnis

vom ursprünglichen Seinssinn hinaus? Für diese Identifikationen muss zunächst die

Frage geklärt werden, wie sich Heideggers Fassung des Grundcharakters des

Lebensvollzugs in sein gesamtes Projekt der Ontologie einfügt. In dieser Frage gibt

Jean-Luc Marions Interpretation über Heideggers Aufbau seines ontologischen

Projekts aus dem Ansatz der phänomenologischen Reduktion Husserls heraus

Aufschluss.

3.5.2 Marions Interpretation der Gegebenheitsthematik bei Heidegger Marion liefert uns eine scharfsinnige Analytik über Husserls und Heideggers

unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der phänomenologischen Reduktion für

die Entwicklung ihrer jeweiligen zentralen Thematik. Für Husserl ist die

phänomenologische Reduktion „die Methode der Rückführung des

phänomenologischen Blickes von der natürlichen Einstellung des in der Welt der

239 Hier ist anzumerken: „Ursprungsdynamik“ oder die „grundlos-unumschränkte Beweglichkeit“ ist als keine gegenständliche und gehaltmäßige Seinsbestimmung von etwas Substanziellem zu verstehen, sondern sie drücken nur den Grundcharakter des nicht objektivierbaren Lebensvollzugs aus.

Page 93: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

91

Dinge und Personen hineinlebenden Menschen auf das transzendentale

Bewusstseinsleben und dessen noetisch-noematische Erlebnisse in denen sich die

Objekte als Bewusstseinskorrelate konstituieren.“ 240 Das heißt, die

phänomenologische Reduktion fungiert bei Husserl als die Methode, um die Welt der

Gegenstände als reale und transzendente Welt in natürlicher Einstellung zu einem

reinen Phänomen in der absoluten Region des konstituierenden Bewusstseins zu

machen, und so die evidente Selbstgegebenheit zu gewinnen. Für ihn ist das

reduzierte Phänomen in seiner evidenten Präsenz als Korrelat des Bewusstseins zu

nehmen, nicht aber als ein Seiendes.241 Im Vergleich dazu ist die Rolle der Reduktion

bei Heidegger gerade, die Bestimmung des Seins des Seienden zu ermöglichen.

Die Einklammerung des Seienden nimmt am Seienden selbst nicht vor, sie besagt auch nicht annehmen, dass das Seiende nicht sei, sondern diese Umschaltung des Blickes hat den Sinn, gerade den Seinscharakter des Seieinden präsent zu machen. Diese phänomenologische Ausschaltung der transzendenten Thesis hat einzig nur die Funktion, das Seiende hinsichtlich seines Seins präsent zu machen. Der Ausdruck Ausschaltung ist deshalb immer missverständlich, sofern man meint, in der Ausschaltung der Daseinsthesis und durch sie hätte die phänomenologische Betrachtung es gerade nicht mehr mit dem Seienden zu tun; umgekehrt: gerade extrem und einzig handelt es sich nun um die Bestimmung des Seins des Seienden selbst.242

Von diesem Zitat her argumentiert Marion, dass die Einklammerung der These des

Seienden nicht das Seiende ausblendet, sondern umgekehrt uns dazu zwingt, das

Seiende nicht anders zu nehmen als wie es selbst ist, das heißt, das Seiende

hinsichtlich seines Seins zu sehen. 243 Die „Einklammerung der These des

Seienden“ bedeutet, dass alle Arten der Seinssetzung des Seienden eingeklammert

werden. Mit der Einklammerung aller Arten der Seinssetzung des Seienden ist uns

dann das Seiende als „rein“ gegeben. Hier unterscheidet sich Heidegger von Husserl

darin, dass er hinzufügt, das Seiende zeige sich in seiner „reinen“ Gegebenheit, wie es

240 Heidegger, GA 24, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 29. 241 Vgl. Marion, Reduction and Givenness, 1998, S. 66. 242 Heidegger, GA 20, S. 136. 243 Vgl. Marion, 1998, S. 65. Der vollständige Text: „To suspend the thesis of being does not eliminate being but prohibits one from seeing it otherwise than according to the thing itself, and therefore compels one to see it as it is – namely as being according to Being.“

Page 94: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

92

selbst ist, d.h. hier es zeige sich „hinsichtlich seines Seins“.

Marion stellt des Weiteren fest, dass Heideggers phänomenologische Reduktion sich

von der Husserls nicht etwa unterscheide durch eine regressive Rückkehr zur naiven

Position der Welt, sondern durch ein überschreitendes Vorstoßen zum Sinn des Seins

des Seienden.244 Diese Behauptung bedarf der Aufklärung. Aus dem Zitat von

Heidegger ist ersichtlich, dass 1) das Sichselbstzeigen des Seienden hinsichtlich

seines Seins für ihn als „die Bestimmung des Seins des Seienden selbst“ zu verstehen

ist. Und 2) die Seinsbestimmung des Seienden vollzieht sich selbst durch „die

Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten

Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins (Entwerfen auf die Weise seiner

Unverborgenheit) dieses Seienden“245. 3) Dieses Verstehen des Seins des Seienden

konkretisiert sich als der Sinn des Seins des Seienden. Aus den drei Thesen lässt sich

ein Syllogismus herausziehen, der auf die letzte These führt, nämlich, dass das

Sichselbstzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins als den Sinn des Seins des

Seienden im Verstehen zu erfassen ist. Von daher sagt Marion, dass die Reduktion bei

Heidegger zum Sinn des Seins des Seienden führt.

Abschließend fasst Marion zusammen, dass es Husserl um nur eine Reduktion gehe,

nämlich die Reduktion von der transzendenten Welt zum gegeben Phänomen (die

These der Welt/ reduziertes Phänomen), während es Heidegger um eine

Doppel-Reduktion gehe: Zuerst die Reduktion von der transzendenten Welt zum

gegebenen Phänomen durch eine rein Husserlsche Reduktion, und dann die Reduktion

vom Seienden zum Sinn des Seins durch die phänomenologische Interpretation (die

These der Welt/ reduziertes Phänomen; Seiendes/ Seinssinn). 246 Bei diesem

244 Vgl. Marion, 1998, S. 66. Der vollständige Text: „The Heideggerian transgression does not distinguish itself from the Husserlian reduction by a retrogressive return toward the naive position of the world; it distinguishes itself by passing beyond, toward the meaning of the Being of being.“ 245 Heidegger, GA 24, S. 29. 246 Vgl. Marion, 1998, S. 66. Der vollständige Text: „Husserl envisages only two terms that constitute the two sides of one reduction (thesis of the world/reduced phenomenon), without suspecting that Heidegger see three, worked out in two reductions: thesis of the world/phenomenon through a purely Husserlian phenomenological reduction, and then being/meaning of Being through phenomenological

Page 95: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

93

Vergleich unterstreicht Marion, dass das reduzierte Phänomen bei Husserl sich nur als

selbstgegebenes Phänomen, aber bei Heidegger als Seiendes (reduziertes

Phänomen=Seiendes) verstehen lassen muss.247

3.5.3 Der Seinssinn des Seienden und die Anerkennung des Rätselhaften der

Offenbarung aus Verborgenheit

Der Bruch zwischen Husserl und Heidegger besteht zusammenfassend darin, ob das

Projekt der Ontologie im Zentrum der phänomenologischen Untersuchung stehe oder

nicht. Husserl übernimmt unbewusst die Seinsbestimmung des Seienden oder des

Phänomens als beständige Anwesenheit (Präsenz) aus der Platonischen Tradition,

ohne die Ontologie zum Thema zu machen. Dagegen strebt Heidegger mit dem

Projekt der Ontologie nach einer Klärung der ursprünglichen Seinsverfassung, und

bemüht sich um eine Destruktion der seit Plato überlieferten Ontologie in der

metaphysischen Tradition. Heideggers Destruktion auf die ursprüngliche

Seinsverfassung vollzieht sich Marion zufolge schließlich in der doppelten Reduktion,

und führt zur Thematisierung des Seinssinns des Seienden. Das heißt, hinter der

Divergenz der Pertinenz eines Projektes der Ontologie steht zwischen Husserl und

Heidegger die Spannung bezüglich der Seinsbestimmung des Seienden oder des

Phänomens: Präsenz contra Seinssinn des Seienden. Marion kommt durch die

Analyse einiger Erläuterungen in und in Folge von Sein und Zeit zu dem Schluss, dass

die Divergenz zwischen Husserl und Heidegger in der Pertinenz eines ontologischen

Projekts „auf die Spannung zwischen der Reduktion des Phänomens zur Präsenz und

der Anerkennung des Rätselhaften der Offenbarung aus Verborgenheit

zurückgeht.“248 Damit meint er, dass der Seinssinn des Seienden bei Heidegger als

das Sichzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins zu erfassen sei und in einer

rätselhaften Offenbarung des Seienden aus Verborgenheit liege.249

interpretation. “ 247 Vgl. Marion, 1998, S. 66. 248 Ebd., S. 59.249 An diesem Punkt ist schon zu erkennen, dass die Divergenz zwischen Husserl und Heidegger in der

Page 96: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

94

An dieser Stelle stellt sich die Frage: Warum fasst Heidegger das Sichzeigen des

Seienden hinsichtlich seines Seins als den Seinssinn des Seienden auf? Warum nimmt

Heidegger das Sichzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins als das Sichzeigen

des Seienden in einer rätselhaften Offenbarung aus Verborgenheit an? Diese Fragen

haben Jean-Luc Marion nicht interessiert. Für unsere Diskussion sind sie aber

bedeutend, da sie in die Richtung einer Antwort auf die oben gestellte Frage weist,

nämlich wie sich Heideggers Ursprungsdenken in sein Projekt der Ontologie einfügt.

Die Fassung des Lebensvollzugs arbeitet Heidegger, wie im vergangenen Kapitel

erläutert wurde, durch formale Anzeige im Gegebenheitsmodell aus, wobei diese

destruktive Methode in den frühen Freiburger Vorlesungen bereits in der

phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die durch die Husserlsche Epoché

eröffnet wird, operiert. Das heißt, die gegenständliche Erfahrung ist in der Operation

der formalen Anzeige bereits auf das reduzierte Phänomen zurückgeführt. Heidegger

artikuliert formal anzeigend das Phänomen in seinem Gehaltsinn, Bezugssinn und

Vollzugssinn, die das ursprüngliche Gegebenheitsmodell des Phänomens

konstituieren. In diesem Gegebenheitsmodell wird das Phänomen hinsichtlich seines

weltmäßigen Verweisungscharakters im grundlosen Lebensvollzug gegeben, statt als

etwas Bestimmtes und Objektiviertes. Heideggers Anliegen der Durchführung des

Gegebenheitsmodells besteht darin, das ursprüngliche Gegebensein des Phänomens

im Gegensatz, genauer gesagt in der Abwehr einer Objektivierung des Phänomens

darzustellen. Aber das Herausarbeiten des ursprünglichen Gegebenseins des

Phänomens ist nicht das Endziel der formalen Anzeige. Heidegger möchte mit der

destruktiven Methode vielmehr auf den ursprünglichen Lebensvollzug, der das

Gegebensein des Phänomens möglich macht, verweisen und gleichwohl in diesen

vordringen, d.h. zu thematisieren. Der Lebensvollzug, in dem das Phänomen gegeben

ist, sei Heidegger zufolge keine erscheinende Substanz, sondern bleibe als die

Pertinenz eines ontologischen Projekts nach Marions Interpretation auf die in ihrer Gegebenheitsthematik zurückzuführen ist.

Page 97: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

95

unbewusste Sinnerschlossenheit hinter der Erscheinung des Phänomens, und wird bei

Heidegger als die geschichtliche und rätselhafte Ursprungsdynamik oder Bewegtheit

charakterisiert.

In diesem Punkt ist bereits eine starke Verbundenheit zwischen Heideggers

Interpretation des Seinssinns des Seienden250 als des Sichselbstzeigens des Seienden

in einer Offenbarung aus Verborgenheit, und seiner Fassung des ursprünglichen

Gegebenseins des Phänomens im Lebensvollzug zu sehen. Jedoch bleibt noch zu

überprüfen, ob die Interpretation des Seinssinns des Seienden als des

Sichselbstzeigens des Seienden aus dem ursprünglichen Gegebenheitsmodell

Heideggers herstammt. Auch ist zu überprüfen, ob der Seinssinn des Daseins aus der

Fassung des Lebensvollzugs, dessen Grundcharakter die geschichtliche und

rätselhafte Ursprungsdynamik ist, zu deuten ist. Wir können allerdings bemerken,

dass Heideggers Motiv einer phänomenologischen Destruktion auf den

geschichtlichen Lebensvollzug auch in den Grundzügen der Daseinsanalytik in Sein

und Zeit präsent ist, die zur Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit des Daseins führt. Die

Prüfung der Verbindung zwischen Heideggers Ursprungsdenken und seinem

ontologischen Projekt, strenger genommen, das Prüfen und Ausweisen der

motivischen Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in

Heideggers ontologischem Projekt ist die Aufgabe des nächsten Kapitels.

Fazit:

Die Entwicklung von Heideggers phänomenologischem Ansatz in den 1920er Jahren

ist begleitet von der Kritik an seinem Lehrer Edmund Husserl, genauer gesagt, an

Husserls transzendentaler Konstruktion der Phänomenologie. Mit der Umwandlung

von einer Ursprungwissenschaft zur ontologischen Phänomenologie wendet sich

Heideggers kritische Vernehmlassung des ursprungsfernen phänomenologischen

250 Dabei ist anzumerken, dass hier mit dem sichselbstzeigenden Seienden das nicht-daseinsmäßige Seiende gemeint ist.

Page 98: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

96

Denkens auf das Versäumnis der Seinsfrage bei Husserl, wobei ihre grundlegende

Divergenz sich vom ursprünglichen Gegebenheitsmodell des Phänomens zur

ursprünglichen Seinsverfassung modifiziert. In Marions Interpretation ist die

Divergenz bezüglich der Seinsverfassung bei den beiden Denkern jedoch auf die

Divergenz der Auffassung der Gegebenheitsweise des Phänomens zurückzuführen. Er

sieht den grundlegenden Kontrast weiterhin in ihren unterschiedlichen

Gegebenheitsmodellen.

Im Gegebenheitsmodell, das Heidegger durch formale Anzeige in den frühen

Freiburger Vorlesungen mit Husserls phänomenologischem Ansatz herausarbeitet,

zeichnet sich das ursprüngliche Gegebensein des Phänomens ab, nämlich hinsichtlich

des weltmäßigen Verweisungsbezugs im unbewussten und grundlosen Lebensvollzug,

der durch eine rätselhafte Dynamik oder Bewegtheit charakterisiert ist, zur

Erscheinung zu kommen. Mit der Herausarbeitung des Gegebenheitsmodells strebt

Heidegger an, auf den grundlosen Lebensvollzug, der das Ursprungsgebiet des

Lebens ausmache, vorzudringen, bzw. ihn zu thematisieren. Gerade an diesem Punkt

legt sich die Vermutung nahe, dass die Thematik der Destruktion auf den

Lebensvollzug ein Vorverständnis der Fundamentalontologie ausmacht und das

Ursprungsdenken die Grundlage für Heideggers Aufbau seines Projektes der

Ontologie liefert, welche die Destruktion der metaphysischen Seinverfassung auf die

Erschließung des ursprünglichen Seinssinns des Seienden zum Anspruch hat. Dies

soll sich in der Ausweisung der motivischen Kontinuität dieser Thematik in Sein und

Zeit abzeichnen.

Page 99: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

97

4. Die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs

Heidegger führt das ontologische Projekt, die Erschließung des ursprünglichen

Seinssinns, zuerst in der Prolegomena-Vorlesung ein und baut es in Sein und Zeit

systematisch aus. Sein und Zeit behandelt nicht direkt die Frage nach dem Sinn von

Sein, sondern arbeitet die Frage nach dem Sinn des Seins als solche erst aus. Diese

Ausarbeitung der Seinsfrage bezeichnet Heidegger als Fundamentalontologie oder als

Daseinsanalytik. Der Begriff des Daseins taucht bereits in den frühen Freiburger

Vorlesungen auf, in dem ihm die Bedeutung des faktischen Lebens im weiteren Sinne

zukommt. Obwohl die Konzeption des faktischen Lebens im Begriff des Daseins

weiter bestehen bleibt, steht die Thematik einer Destruktion auf den Lebensursprung

oder den Lebensvollzug, gemäß des formalen Aufbaus der ausgesprochenen Thematik

der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, nicht im Mittelpunkt von Heideggers

Ontologie. Theodore Kisiel argumentiert jedoch, dass die formale Anzeige den nicht

ausgesprochenen Kern von Sein und Zeit ausmache.251 Laut Kisiel lasse sich bereits

in den Marburger Vorlesungen Unterstützung für die Hypothese einer motivischen

Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug finden. Allerdings

ist eine Rekonstruktion von Sein und Zeit für die Hervorhebung dieser motivischen

Kontinuität notwendig. Für diese Rekonstruktion beziehen wir uns erneut auf

Jean-Luc Marions Heidegger-Interpretation, da Marions Studie, in der Heideggers

phänomenologische Untersuchung des ontologischen Projektes auf seine

Thematisierung des Erscheinens des Phänomens reduziert wird, einen angemessenen

Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion bietet, in der die motivische Kontinuität der

Thematik des Lebensvollzugs deutlicher ins Blickfeld kommen kann. Die Aufgabe

der Rekonstruktion ist dahingehend zu prüfen, ob die zentrale Thematik, die

Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen behandelt, auch in Sein und Zeit

noch präsent ist, und wenn ja, ob diese in Sein und Zeit weiter entwickelt wird.

251 Vgl. Kisiel, 1993, S. 152.

Page 100: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

98

4.1 Die Rekonstruktion von Sein und Zeit auf Basis der Interpretation Jean-Luc

Marions

Die Rekonstruktion von Sein und Zeit dient dazu, die motivische Kontinuität der

Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug seit den Marburger Vorlesungen zu

überprüfen. Für diese Rekonstruktion bietet uns Marions Interpretation des

ontologischen Projektes Heideggers eine Perspektive, in der wir auf dem Boden einer

übergreifenden Thematik Heideggers Auseinandersetzungen in den frühen Freiburger

und Marburger Vorlesungen zusammenfassen, und somit die motivische Kontinuität

in den zwei Phasen Heideggers deutlicher herausarbeiten können.

4.1.1 Das Sehenlassen der Phänomenologie

In § 7 von Sein und Zeit entwirft Heidegger eine Skizze seines ontologischen

Projektes, die uns einen Überblick darüber gibt, was Heidegger im Hauptteil von Sein

und Zeit zu thematisieren beabsichtigt.

Was ist das, was die Phänomenologie ‚sehenlassen’ soll? Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne „Phänomen“ genannt werden muss? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht.252

Als die Aufgabe einer Phänomenologie erklärt Heidegger hier das Sehenlassen von

dem, „was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt“, was aber den Sinn und

Grund vom „sich zunächst und zumeist Zeigenden“ ausmacht. Was meint Heidegger

mit dem „sich zunächst und zumeist gerade Zeigende[n]“ und dem „sich zunächst und

zumeist gerade nicht Zeigende[n]“? Was ist das, was Heidegger mit der

Phänomenologie „sehenlassen“ möchte?

252 Heidegger, GA 2, S. 47.

Page 101: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

99

Hinter dem Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts Anderes, wohl aber kann das, das, was Phänomen werden soll, verborgen sein. Und gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu „Phänomen“.253

Hier ist anzumerken, dass Heidegger das Wort Phänomen sowohl im Singular als

auch im Plural verwendet. Mit „Phänomen“ ist das Sich-Zeigende gemeint und mit

den „Phänomenen“ das „sich zunächst und zumeist nicht Zeigende“, das der

Phänomenologie bedürfe und erst in der Phänomenologie gesehen würde. Die sich

„zunächst und zumeist“ nicht zeigenden Phänomene sind laut Heidegger Gegenstände

der Phänomenologie. Was aber sind diese Gegenstände? „Die Begegnisart des Seins

und der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens muss den Gegenständen der

Phänomenologie allererst abgewonnen werden.“254 „Die Begegnisart des Seins und

der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens“ interpretiert Marion als die

Gegebenheit des Phänomens. Es geht im Modus des Phänomens nicht mehr um „das

unmittelbar Gegebene, um den perzeptiven Inhalt oder das bewusst Erlebte; kurz

gesagt um das Gegebene“, sondern um „den Stil seiner Phänomenalisierung als

Gegebenes, kurz gesagt um seine Gegebenheit“ 255 . Im Anschluss an Marions

Interpretation lässt sich gut verstehen, was Heidegger mit dem „sich zunächst und

zumeist gerade nicht Zeigenden“ meint. Es ist die Gegebenheit des Phänomens. Das

Sehenlassen der Phänomene in der Phänomenologie bedeutet dann die Gegebenheit

des Gegebenen aufzuzeigen. (1)

Als den Gegenstand des Sehenlassens der Phänomenologie nimmt Heidegger neben

dem „sich zunächst und zumeist gerade nicht Zeigenden“ auch das Sein des Seienden

an.

253 Heidegger, GA 2, S. 48.254 Ebd., S. 49.255 Jean-Luc Marion, Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger, in: Husserl und Heidegger: Neue Perspektiven, 2009, S. 26. Der vollständige Text: „Derart, dass es sich nicht mehr um das unmittelbar Gegebene handelt, um den perzeptiven Inhalt oder das bewusst Erlebte, kurz gesagt um das Gegebene, sondern um den Stil seiner Phänomenalisierung als Gegebenes, kurz gesagt um seine Gegebenheit.“

Page 102: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

100

Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur ‚verstellt’ sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern [...] das Sein des Seienden. [...] Was demnach in einem ausgezeichneten Sinne, aus seinem eigensten Sachgehalt her fordert, Phänomen zu werden, hat die Phänomenologie als Gegenstand thematisch in den „Griff“ genommen.256

Aber wie lässt einen Phänomenologie das Sein des Seienden sehen, wenn das Sein

des Seienden kein Seiendes und selbst nicht wahrnehmbar ist? „Das Sein des

Seienden kann [...] so etwas sein‚ [...] was nicht erscheint.“257 Das heißt, das

„Sehenlassen“ vom Sein des Seienden ist das „Sehenlassen“ von etwas, das nicht

erscheint. (2) Aber das Sein des Seienden deutet Heidegger nicht als die Gegebenheit

des Seienden. Mit den zwei Behauptungen (1) und (2) zeigen sich zwei Schichten in

Heideggers phänomenologischer Ausarbeitung der Ontologie. Handelt es sich bei den

zwei Schichten um unterschiedliche Thematiken? In welchem Zusammenhang stehen

sie? Lässt sich die Erläuterung von Sein und Zeit in den zwei Schichten skizzieren?

Diese Fragen können mit Hilfe von Marions Interpretation geklärt werden.

4.1.2 Jean-Luc Marions Interpretation der Phänomenalität des Seins

Marion unterscheidet zwei Modi des Phänomens in der Phänomenologie. Das erste ist

das oberflächliche Phänomen, nämlich die Präsenz, die durch Konstitution bei

Husserl angemessen ausgelegt ist; das zweite ist die Tiefe des Phänomens (the depth

of phenomenon). Die Tiefe des Phänomens bedeutet nicht, dass sich etwas hinter dem

Phänomen verbirgt, darauf wartend, sich zu zeigen, sondern sie ist gerade das

Erscheinen des Phänomens selbst.258 Die Tiefe des Phänomens als dessen Erscheinen

selbst bezeichnet Marion als die Phänomenalität des Seins. Phänomenalität des Seins

bedeutet, dass sich Sein als Phänomenalität zeigt und sich nur in dieser zeigt.259 In

256 Heidegger, GA 2, S. 47. 257 Ebd., S. 48. 258 Vgl. Marion, 1998, S. 63. 259 Vgl. Ebd., Marion schreibt: Depth here does not indicate that „behind“ the phenomenon something else would be waiting to appear, but that the very appearing of the phenomenon – as a way (of Being) and therefore as a nonbeing – reveals a depth. The depth does not dub or betray the phenomenon (in the cinematographic or detective sense of doubler); it reveals it to itself – namely, it shows that it is

Page 103: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

101

seiner Interpretation der Phänomenalität des Seins übersetzt Marion Heideggers

ontologische Thematik in eine phänomenologische Sprache und rekonstruiert das

ontologische Projekt Heideggers als die Thematisierung des Erscheinens des

Phänomens oder der Phänomenalität des Seins.

Die Phänomenalität des Seins legt Marion auf zwei Ebenen aus: Auf der ersten Ebene

wird die Phänomenalität des Seins als solche dargestellt, sodass das Phänomen als das

Seiende zur Erscheinung kommt.260 Das heißt, die erste Ebene der Phänomenalität

des Seins ist die Erscheinung des Phänomens selbst, oder in Heideggers Worten: die

ontische Erscheinung des Phänomens. Der phänomenologische Zugang zur

Erscheinung des Phänomens ist bei Heidegger die phänomenologische Beschreibung

der Gegebenheit des zur Erscheinung Kommenden. Diese phänomenologische

Beschreibung der Gegebenheit entspricht gleichsam dem sogenannten „Sehenlassen

des Phänomens“ in der Phänomenologie.

Die zweite Ebene der Phänomenalität des Seins befasst sich mit dem „Rätsel des

Phänomens“. Mit dem Rätsel des Phänomens meint Marion, dass das Sein sich nie

selbst zeige, aber gerade durch dieses Nicht-Zeigen ermögliche, dass das Seiende sich

enthüllt. Marion nennt es „das Rätsel des Spiels zwischen Unverborgenem und

Verborgenem“.261 Die Entdeckung dieses Rätsels des Phänomens ist laut Marion

entscheidend, da sie überhaupt erst die Phänomenalität des Seins konstituiert, die

sonst gerade im Erscheinen des Seienden verdeckt wird. Das Rätsel des Phänomens

ist zu verstehen als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden, die selbst

im Erscheinen des Seienden nicht erscheint und als „das Spiel zwischen

Unverborgenem und Verborgenem“ bleibt. Das oben erwähnte „Sehenlassen des

Seins des Seienden“ in der Phänomenologie, dass nach Heidegger das Aufzeigen vom

Nicht-erscheinenden meint, sei gerade als die Phänomenalität des Seins im Sinne der

inasmuch as Being first opens as the phenomenality in which, only then, it can itself be discovered.” 260 Vgl. Marion, 1998, S. 63. 261 Ebd., S. 60.

Page 104: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

102

zweiten Ebene zu begreifen. Bei Marion wird das ontologische Projekt Heideggers als

die Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, d.h. des Seienden rekonstruiert,

das auf zwei Ebenen durchgeführt wird. Auf der ersten handelt es sich um die

phänomenologische Beschreibung der Gegebenheit des Seienden und auf der zweiten

um die Untersuchung des „Rätsels des Phänomens des Seins“, also um die

Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden. Jedoch lässt sich der Terminus

der Möglichkeitsbedingung bei Heidegger nicht im Sinne von Kantischen und

Husserlschen transzendentalem Sinne verstehen. Dies wird in der folgenden

Erläuterung aufgezeigt.

4.1.3 Die Perspektive der Rekonstruktion von Sein und Zeit

Mit Hilfe der Rekonstruktion Marions gewinnen wir eine Perspektive, von der her wir

die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs von den frühen

Freiburger Vorlesungen bis zu den Marburger Vorlesungen betrachten und prüfen

können, auch wenn das Anliegen Heideggers in den zwei Phasen zunächst

unterschiedlich zu sein scheint. Die Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug

in den frühen Freiburger Vorlesungen befasst sich in der Tat auch mit der

Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, das ebenfalls auf zwei Ebenen

durchgeführt wird. Die erste Ebene: Bei Heideggers Herausarbeitung des

Gegebenheitsmodells des Phänomens handelt es sich um die phänomenologische

Beschreibung der Gegebenheit des Phänomens. Die zweite Ebene: Mit dem

Vordringen auf den Lebensvollzug, bzw. mit der Thematisierung des Lebensvollzugs

an sich, zeigt sich Heideggers Versuch, die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten im

Lebensvollzug, die als unbewusst erlebte und rätselhafte Bewegtheit das Erscheinen

des Phänomens erst ermöglicht, ans Licht zu bringen. Die Thematisierung des

Lebensvollzugs gehört zur Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen des

Erscheinens des Seienden. Insofern kann man Heideggers Beschäftigung mit der

Destruktion auf den Lebensursprung und mit dem ontologischen Projekt auf eine

übergreifende Thematik zurückführen, nämlich das Erscheinen des Phänomens. Diese

Page 105: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

103

motivische Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug von den

frühen Freiburger Vorlesungen zu den Marburger Vorlesungen kann somit auf dem

Boden dieser übergreifenden Thematik geprüft werden.

Im Folgendem wird Sein und Zeit als ein Hauptexempel des ontologischen Projekts,

mit dem Heidegger sich in den Marburger Vorlesungen befasst, aus der Perspektive

der Thematisierung des Erscheinens des Phänomens rekonstruiert. Zunächst ist es

Aufgabe dieser Rekonstruktion zu prüfen, inwieweit das durch formale Anzeige

herausgearbeitete ursprüngliche Gegebenheitsmodell und die Thematisierung des

Lebensvollzugs in Sein und Zeit präsent ist, um anschließend zu betrachten, inwieweit

die Thematisierung des Lebensvollzugs in Sein und Zeit schließlich weiter entwickelt

wird, das heißt, ob die Offenheit des Lebensvollzugs zur Explikation gebracht wird.

4.2 Die Gegebenheitsthematik in der Wahrheitslehre Heideggers

Die folgende Rekonstruktion muss zunächst bei der Wahrheitslehre, die Heidegger in

der Marburger Zeit ausführt, ansetzen, da es gerade in dieser um das Thema des

Erscheinens des Seienden geht. In der Einleitung von Sein und Zeit betrachtet

Heidegger den Begriff der Phänomenologie aus etymologischer Sicht, wobei er sich

auf die altgriechischen Begriffe λὀγος und ἀλἠθεια bezieht. ἀλἠθεια erfasst Heidegger

dabei als Entdecktheit oder Unverborgenheit und interpretiert dies als den

eigentlichen Sinn der Wahrheit. λὀγος deutet er als ἀποφαντικὀς, als Sehenlassen des

Seienden, wie es ist. „Weil der λὀγος ein Sehenlassen ist, deshalb kann er wahr oder

falsch sein. Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im

Sinne einer Übereinstimmung freizuhalten.“262 Heideggers Bemühen um eine neue

Auffassung des Wahrheitsbegriffs läuft nicht nur auf eine Distanzierung von der

traditionellen Übereinstimmungswahrheit hinaus, sondern zielt vielmehr auf seine

Behandlung der Thematik des Erscheinens des Seienden ab.

262 Heidegger, GA2, S. 44.

Page 106: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

104

Zu Beginn des § 44 geht Heidegger in Sein und Zeit auf die traditionelle These ein,

Erkenntnis in Form des Urteils sei der Ort der Wahrheit. Er fragt daher: „Wann wird

im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal ausdrücklich?“263, und antwortet selbst:

„Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist.“ 264 Wie weist sich das

Erkennen als wahres aus? Das Beispiel und die Argumentation zur Klärung dieser

Frage leitet Heidegger unmittelbar aus den Logischen Untersuchungen Husserls ab.

Die Ausweisung vollziehe sich etwa, wenn jemand mit dem Rücken zur Wand steht

und sagt: „Das Bild an der Wand hängt schief.“ Daraufhin dreht er sich um und sieht,

dass das Bild an der Wand tatsächlich schief hängt. Was aber wird durch diese

Wahrnehmung ausgewiesen? „Nichts anderes als dass es das Seiende selbst ist, das in

der Aussage gemeint war ... Ausgewiesen wird das Entdeckend-sein der Aussage.“265

Die Wahrheit geschehe also, so Husserl, wenn die meinende Aussage von der

Anschauung erfüllt sei, das Gemeinte und das Geschaute sich also decken. Heidegger

wiederum formuliert dies so, dass die Aussage dann wahr sei, wenn das Ausgesagte,

das das Seiende selbst ist, sich als dasselbe zeige wie in der Wahrnehmung. Das

bedeutet, sie entdecke das Seiende an ihm selbst.266 Das ist gemeint, wenn Heidegger

die Wahrheit als das Entdeckendsein bezeichnet, das eins mit dem Entdecktsein oder

der Entdecktheit des Seienden, mit anderen Worten, den innerweltlich Seienden ist.

Die Erweiterung des Wahrheitsbegriffs sucht Heidegger im altgriechischen Begriff

der ἀλἠθεια. Er legt dar, dass ἀλἠθεια bedeute: „Seiendes – aus der Verborgenheit

herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen (zu) lassen.“267

Daher sei Wahrheit als Unverborgenheit oder Entdecktheit zu verstehen. Mit diesem

erweiterten Sinn von Entdecktheit geht Heideggers Wahrheitsbegriff über den von

Husserl hinaus, da er die Entdecktheit des Seienden näher betrachtet, und das

263 Heidegger, GA 2, S. 287-288. 264 Ebd., S. 288. 265 Ebd., S. 288. 266 Vgl. Ebd., S. 289. 267 Vgl. Ebd., S. 290.

Page 107: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

105

Phänomen des Entdeckens von der Aussage zum Besorgen erweitert.

Entdecken sei laut Heidegger eine Seinsweise des Daseins als das „umsichtige oder

auch das verweilend hinsehende Besorgen entdecken innerweltliches Seiendes.“268

Die Seinsart des innerweltlich Seienden, so lautet seine These nun, ist von unserer

Zugangsweise zu diesem entschieden. Diese These lässt sich zurück verfolgen zur

Analyse der Seinsart des innerweltlichen Seienden in der Prolegomena-Vorlesung.

Dort diskutiert Heidegger erstmals die Seinsart des Seienden und weist darauf hin,

dass das Seiende im reinen Wahrnehmen oder Anschauen kein primäres Seiendes ist,

um Husserls objektivierende Auffassung des Seins als Gegenständliches zu

hinterfragen. Vielmehr gibt es unterschiedliche Seinsarten des Seienden. Das Seiende

im bloßen Wahrnehmen habe den Charakter des Vorhandenen, allerdings sei dies kein

primäres Seiendes. Das primär Seiende bei Heidegger heißt das Zuhandene. Es ist

„das im besorgenden Umgang Anwesende“269 und tritt nicht vor Augen. Dieser

Unterschied der Seinsart des innerweltlich Seienden gründe nun, so Heidegger, in der

Zugangsweise zu demselben. Da das besorgende Umgehen in der Welt ihm zufolge

aber im Vergleich zum bloßem Wahrnehmen eine primärere Zugangsart zum

Seienden sei, zeichnet sich das Zuhandene, das nur im besorgenden Umgang des

Daseins zugänglich ist, als das primäre innerweltlich Seiende ab. Das bloße

Wahrnehmen als der Zugang zum Vorhandenen sei nur eine darin fundierte

Zugangsweise, die sich durch eine bestimmte Unterbrechung des umsichtigen

Besorgens konstituiert. Daher wird das bloße Wahrnehmen dann auch als „verweilend

hinsehendes Besorgen“ bezeichnet. Beim bloßen Wahrnehmen setzt das Erkennen an,

das ebenfalls das Vorhandene als seinen Gegenstand hat. Das heißt, sowohl

verweilend hinsehendes als auch umsichtiges Besorgen sind entdeckende Zugänge

zum Seienden und entscheiden dabei jeweils die Seinsart dieses Seienden. Das

Seiende wird entdeckt im menschlichen Verhalten zu ihm. Daher weist Heidegger

darauf hin, dass sich die Definition der Wahrheit als Entdecktheit aus der Analytik

268 Heidegger, GA 2, S. 292. 269 Heidegger, GA 20, S. 264.

Page 108: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

106

unserer Verhaltung speist.

Die Definition der Wahrheit als Entdecktheit und Entdeckendsein ist auch keine bloße Worterklärung, sondern sie erwächst aus der Analyse der Verhaltung des Daseins, die wir zunächst „wahre“ zu nennen pflegen. [...] Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins. [...] Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gründet in der Erschlossenheit der Welt. Erschlossenheit aber ist die Grundart des Daseins.270

In der Erschlossenheit des Daseins erkennt Heidegger nun die ursprünglichste

Wahrheit.271 In dieser, d.h. in der Erschlossenheit, ist die Entdecktheit fundiert.272

Erschlossenheit ist daher „die ontologische Bedingung der Möglichkeit“ der

Entdecktheit. 273 Im weiteren Verlauf der Erklärung führt Heidegger noch die

Dimension der Verborgenheit ein. Erschlossenheit sei die Grundart des Daseins,

daher sei Dasein in der Wahrheit. Diese Behauptung ist nach Heidegger aber

gleichursprünglich mit: „Dasein ist in der Unwahrheit.“ Denn „sofern mit dem Dasein

je schon innerweltliches Seiendes entdeckt ist, ist dergleichen Seiendes als mögliches

innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen) oder verstellt.“274 Die Dimension

der Verborgenheit wird an dieser Stelle allerdings nur erwähnt, aber nicht wirklich in

die Diskussion einbezogen.

In Heideggers Darstellung des Wahrheitsphänomens wird die Gegebenheitsweise des

Phänomens thematisiert. Die unseren entdeckenden Zugängen zum Seienden

entsprechenden Seinsarten desselben beziehen sich gerade auf die Art und Weise, in

der das Seiende gegeben ist. Die Vorhandenheit ist als fundierte Gegebenheitsweise

des Seienden in der objektivierenden Betrachtung zu begreifen, während die

Zuhandenheit als die primäre oder ursprüngliche Gegebenheitsweise des Seienden im

umsichtigen Besorgen ausgewiesen wird. Die Gegebenheit des Seienden als

Entdecktheit wird durch die Welterschlossenheit des Daseins ermöglicht. Das heißt,

270 Heidegger, GA 2, S. 291-292. 271 Vgl. Ebd., S. 295. 272 Vgl. Ebd., S. 297. 273 Vgl. Ebd., S. 299. 274 Ebd., S. 294.

Page 109: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

107

die Erschlossenheit ist die Möglichkeitsbedingung des Gegebenseins oder des

Erscheinens des Seienden. Auf die Welterschlossenheit geht die Wahrheitslehre

Heideggers nicht ausführlich ein, dennoch wird schon hier ersichtlich, dass das

Erscheinen des Seienden auch in Sein und Zeit eigens thematisiert wird. Ob aber das

ursprüngliche Gegebenheitsmodell aus den frühen Freiburger Vorlesungen auch hier

greift, sowie ob der Lebensvollzug als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des

Seienden auch eigens behandelt wird, ist noch zu klären.

Der Einsatz des ursprünglichen Gegebenheitsmodells, welches Heidegger mittels

formaler Anzeige herausarbeitet, ist in der Wahrheitslehre wie auch in den weiteren

Ausführungen in Sein und Zeit offenbar nicht zu finden. Ein Grund dafür ist freilich,

dass Heidegger nach den Marburger Vorlesungen selten von formaler Anzeige sowie

von der Thematik, die mittels formaler Anzeige erschlossen werden sollte, spricht.

Das bedeutet jedoch nicht, dass diese nicht auch in seiner ontologischen

Untersuchung präsent ist. In einem Brief, den Heidegger an Löwith im Jahr 1928 nach

der Publikation von Sein und Zeit schrieb, verweist er auf die Kontinuität der

Thematik von den Freiburger Anfängen bis zu Sein und Zeit.

Die Probleme der Faktizität bestehen für mich ebenso wie in den Freiburger Anfängen ... ich musste zuvor extrem auf das Faktische losgehen, um überhaupt die Faktizität als Problem zu gewinnen. Formale Anzeige, Kritik der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da, wenn ich auch jetzt nicht davon rede.275

Theodore Kisiel vertritt sogar die These, dass die formale Anzeige den wesentlichen

Kern von Sein und Zeit ausmacht.276 Hier wird jedoch nicht die zentrale Rolle der

275 Heidegger, Brief an Karl Löwith, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Band 2, Papenfuß/Otto Pöggeler (Hrsg.), Frankfurt am Main, S. 37. 276 In seiner ausführlichen Untersuchung der Texte sowie Vorlesungen Heideggers, die vor der Publikation von Sein und Zeit verfasst wurden, und die zusammen die Entwicklung seines Denkens illustrieren, das endlich in Sein und Zeit systematisch zur Explikation gebracht wird, argumentiert Kisiel, dass die formale Anzeige und die Kairologie zusammen den wesentlichen aber nicht ausgesprochenen Kern von Sein und Zeit ausmacht. Vgl. Kisiel, 1993, S. 152. Der vollständige Text: “Kairology and formal indication will together constitute the most essenstial, but largely unspoken, core of Being and Time itself.“ Kairologie ist eine Konzeption, die Heidegger nach Kisiel in seiner Untersuchung des Phänomens des christlichen Urglaubens herausholt und zur Thematik der Geschichtlichkeit oder Zeitlichkeit des Daseins entwickelt.

Page 110: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

108

formalen Anzeige für Sein und Zeit, sondern eher die oben dargestellte motivische

Kontinuität seit den frühen Freiburger Vorlesungen im Vergleich zu den Marburger

Vorlesungen befragt. In der folgenden Ausführung wird es um die Rekonstruktion die

Figur des In-der-Welt-seins gehen müssen, die Heidegger im ersten Abschnitt von

Sein und Zeit beschreibt. In seiner Illustration desselben zeichnet sich nicht nur eine

Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, sondern auch der Einsatz des

ursprünglichen Gegebenheitsmodells deutlicher ab.

4.3 Die Behandlung der Thematik der Gegebenheit in der Illustration des

In-der-Welt-seins

Die Thematisierung des Erscheinens des Phänomens umfasst zwei Ebenen. Auf der

ersten Ebene geht es um die Gegebenheit des Seienden, und auf der zweiten um die

Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden. Die beiden Ebenen sind

jeweils im ersten Abschnitt, „Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins“,

und im zweiten Abschnitt, „Dasein und Zeitlichkeit“, von Sein und Zeit behandelt.

Die Wahrheitsanalyse im § 44 dient, wie John Sallis zusammenfasst, als ein Übergang

von der „gesamten vorbereitenden Analysen des Daseins“ im ersten Abschnitt zur

ursprünglicheren Interpretation des Daseins im zweiten Abschnitt. 277 Wie oben

aufgezeigt wurde, lässt sich in diesem Übergang auch die Thematisierung des

Erscheinens des Seienden skizzenhaft zusammenfasst.

4.3.1 Das Thema der Gegebenheit in der Fundamentanalyse des Daseins

Zu Beginn seiner Einführung der Wahrheitslehre in § 44 weist Heidegger darauf hin,

dass das Wahrheitsphänomen bereits Thema der früheren Analysen gewesen ist,

wenngleich nicht ausdrücklich unter diesem Titel.278 Das Wahrheitsphänomen wird

in § 44 als Entdecktheit des innerweltlichen Seienden und Erschlossenheit des

277 Vgl. John Sallis, Heidegger und der Sinn von Wahrheit, Frankfurt am Main, 2012, S. 94. 278 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 283.

Page 111: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

109

Daseins ausgelegt. Die Begriffe des Entdeckens und besonders der Erschlossenheit

werden jedoch schon in der Illustration des In-der-Welt-seins ab § 14 thematisiert.

Die Aufgabe des nächsten Abschnitts wird es sein, Heideggers Ausführungen zum

In-der-Welt-sein zu rekonstruieren, um die erste Ebene der Thematisierung des

Erscheinens des Seienden, nämlich die Gegebenheit des Seienden hervorzuheben.

4.3.1.1 Das begegnende innerweltlich Seiende – das Zuhandene

Werfen wir zunächst einen Blick auf Heideggers Analytik des Seins des innerweltlich

Seienden. Die Analyse fängt an mit der „ontologischen Interpretation des

nächstbegegnenden inner-umweltlichen Seienden“279. Dieses Seiende begegnet uns in

unserem besorgenden Umgang. Heidegger bezeichnet das im Besorgen

nächstbegegnende Seiende als Zeug und er legt dar, dass das Zeug wesentlich die

Struktur des „Um-zu“ hat. In der Struktur des „Um-zu“ liegt „eine Verweisung von

etwas auf etwas“. 280 Diese Verweisungs-Struktur bringt eine

„Verweisungsganzheit“ in den Blick, wobei diese Ganzheit nicht als Totalität,

sondern als „Verweisungsmannigfaltigkeit“ aufzufassen ist. 281 Mit der

„Verweisungsmannigfaltigkeit“ meint Heidegger, dass das Zeug in seiner

Dienlichkeit mit allen anderen Dingen aus der Verweisungsganzheit zusammenhängt,

je nachdem wie Dasein mit dem Zeug besorgend umgeht. Im besorgenden Umgang

des Daseins begegnet uns das Zeug „unauffällig“ und überhaupt nicht als ein vor

Augen entgegenstehender Gegenstand, so fährt er fort. „Die Seinsart von Zeug, in der

es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit.“ 282 „Das

Zuhandene“ dient als Bezeichnung für dasjenige innerweltlich Seiende, das zunächst

im umweltlichen Besorgen begegnet und die Struktur der Verweisung hat. Mit dieser

Struktur steht die Zuhandenheit in dem „ontologischen Bezug zur Welt und

279 Heidegger, GA 2, S. 89. 280 Ebd., S. 92. 281 Vgl. Ebd.282 Ebd., S. 93.

Page 112: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

110

Weltlichkeit“. 283 Neben der „Zuhandenheit“ spricht Heidegger auch von der

„Vorhandenheit“, einer abgeleiteten Seinsart des innerweltlich Seienden, das aber im

Gegensatz zum Zuhandenen im Moment des Abbruchs des Besorgens ins Auge fällt.

Das Vorhandene gehört laut Heidegger zu den „bloßen Dingen“.284

Die Struktur der Verweisung des Zuhandenen, so Heidegger, sei „die seinsmäßige

Bedingung der Möglichkeit“285 dafür, dass das Zuhandene als etwas begegnet. Da

das Zuhandene immer als ein solches begegnet, das sich auf etwas bezieht oder das

bei etwas sein Bewenden hat, bezeichnet er die ontologische Bestimmung des Seins

des Zuhandenen als Bewandtnis.286 Das Begegnenlassen des innerweltlich Seienden

auf der Seite des Daseins nennt Heidegger Entdecken. Begegnen und Entdecken

beziehen sich beide auf das Gegebensein des innerweltlich Seienden. Das Zuhandene

„ist daraufhin entdeckt, dass es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen

ist.“ 287 Bemerkenswert ist, dass das „auf etwas verwiesen-sein“ einerseits die

ontologische Bestimmung des Zuhandenen, d.h. die Bewandtnis ist, andererseits sich

auf die Struktur der Verweisung bezieht. Das heißt, dass die Bewandtnis als

ontologische Bestimmung des Zuhandenen mit seiner Verweisungsstruktur eins ist. In

diesem Punkt lässt sich argumentieren, dass die Bewandtnis als der Bezugssinn des

Gegebenen im Sinne des Gegebenheitsmodells zu verstehen ist, der als der

Verweisungszusammenhang des Gegebenen das gehaltliche Was des Gegebenseins

bestimmt.

4.3.1.2 Die Welterschließung des Daseins

Die Verweisungsstruktur oder die Bewandtnis des innerweltlich Begegnenden

gründet in einer vorentdeckten Bewandtnisganzheit, die durch die vorgängige

283 Heidegger, GA 2, S. 111. 284 Ebd., S. 99. 285 Ebd., S. 112. 286 Vgl. Ebd. 287 Ebd.

Page 113: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

111

Erschließung des Daseins ermöglicht wird.288 Diese vorgängige Erschließung erklärt

Heidegger „als das Verstehen der Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon

immer verhält“. 289 Hier ergibt sich ein Komplex an Termini, der weiterer

Erklärungen bedarf.

Zunächst ist zu klären, was Bewandtnisganzheit heißt. Heidegger beschreibt es als die

Weltmäßigkeit des Zuhandenen, d.h. der ontologische Bezug des Zuhandenden zur

Welt.290 Für die Bewandtnisganzheit greift Heidegger auf ein Beispiel aus dem

alltäglichen Leben zurück: Für einen Hammer kann die Bewandtnisganzheit eine

Werkstatt mit allen anderen Zeugen und Einrichtungen sein, wobei die Werkstatt

selber ein Zeug in einem Hof mit seinem Gerät und seinen Liegenschaften sein kann,

die wiederum ihre Bewandtnisganzheit ausmacht. Das heißt, die Bewandtnisganzheit

ist die Umwelt des Begegnens oder des Gegebenseins des Zuhandenen. Das

Bewandtnisganze ist das Ganze des Verweisungzusammenhanges des Zuhandenen

und konstituiert so seine Bewandtnis. Bewandtnis als der Verweisungszusammenhang

ist, wie oben bereits aufgezeigt wurde, der Bezugssinn des Seienden als des

Gegebenen. Gemäß dem Gegebenheitsmodell aus den frühen Freiburger Vorlesungen

konstituiert der Bezugssinn als der Verweisungszusammenhang das Weltphänomen.

Gerade hier, in den Darstellungen in Sein und Zeit, konstituiert die Bewandtnis

(Bezugssinn) das Bewandtnisganze, das ebenfalls als das Weltphänomen bezeichnet

wird.291 Das Bewandtnisganze als die Welt ist durch die Welterschließung des

Daseins ermöglicht. Das Welterschließen des Daseins meint das Verhalten des

Daseins zum innerweltlichen Seienden in der Welt. Das Welterschließen lässt das

innerweltlich Seiende in seiner Umwelt begegnen. Mit der Behauptung, dass das

Bewandtnisganze durch die Welterschließung ermöglicht wird, meint Heidegger, dass

die Konstitution des Bewandtnisganzen im Welterschließen vollgezogen wird.

288 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 112-116. 289 Ebd., S. 115. 290 Vgl. Ebd., S. 114. 291 Vgl. Ebd., S. 116-117.

Page 114: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

112

Heidegger weist darauf hin, dass das Bewandtnisganze als das Weltphänomen auf

einer Seite im Welterschließen geschieht; auf der anderen Seite „in Verständlichkeit

vorgängig erschlossen“292 ist, d.h. vorgängig verstanden ist. Tugendhat stellt das

Verhältnis von Weltverständnis und Welterschließen so dar: „Welt ist nicht nur die

Bedingung der Welterschließung, sondern gehört auch in dieses selber.“ 293

Tugendhat setzt an dieser Stelle Welt und vorgängiges Weltverständnis gleich, was

bei Heidegger als Welterschlossenheit bezeichnet wird. Das heißt, einerseits gehört

das Weltphänomen zur Welterschließung des Daseins, d.h. es ist im Welterschließen

vollgezogen; andererseits ist das Weltphänomen im vorgängigen Verständnis der

Welt erschlossen, und diese Welterschlossenheit fungiert als Bedingung der

Welterschließung. Dieses Wechselverhältnis zwischen Welterschließen und

Weltverständnis, d.h. Welterschlossenheit, verweist auf den eigentümlichen Charakter

der Welterschlossenheit, und zwar seine dynamische Offenheit. Das Dasein erschließt

die Welt mit seinem vorgängigen Weltverständnis, aber gleichwohl wird sein

Weltverständnis in der Welterschließung immer wieder neugestaltet. Das offene

Weltverständnis ist eben die Welterschlossenheit in der dynamischen Offenheit. Diese

kann als Welterschließungsvollzug betrachtet werden, der sich in die Offenheit der

Verstehensmöglichkeit entfaltet. An dieser Stelle nun lässt sich das ursprüngliche

Gegebenheitsmodell des Seienden am Beispiel des nächstbegegnenden Seienden, des

Zuhandenen, vollständig herauskristallisieren. Das Zuhandene begegnet oder wird

gegeben in seiner Bewandtnis (Verweisungszusammenhang). Dieser fungiert, wie

oben bereits aufgezeigt wurde, als der Bezugssinn des Gegebenen. Die Bewandtnis ist

in der Welterschließung vollgezogen und konstituiert sich als Weltphänomen. Die

jenes Weltphänomen vollziehende Welterschließung fungiert als der Vollzugssinn des

Gegebenen und entfaltet sich als die Welterschlossenheit in seiner Offenheit, die wir

den Welterschließungsvollzug nennen können. Die Möglichkeitsbedingung des

Erscheinens des Seienden macht Heidegger zufolge die Welterschlossenheit aus,

präzise gesagt, die Welterschlossenheit, die sich dynamisch als die Offenheit der

292 Heidegger, GA 2, S. 115. 293 Tugendhat, 1970, S. 290.

Page 115: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

113

Verstehensmöglichkeiten vollzieht. In dieser Sinnoffenheit kommt das Seiende zur

Erscheinung. Obwohl Heidegger den Terminus der Möglichkeitsbedingungen für die

Erschlossenheit verwendet, ist sie als die Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des

Seienden nicht in Kantischen oder Husserlschen transzendentalem Sinne zu verstehen.

Die Erschlossenheit erfasst sich eher als den sich faktisch und geschichtlich

vollziehenden Horizont des Erscheinens des Seienden. Sie ist insofern die horizontale

Möglichkeitsbedingung der Begegnung des innerweltlich Seienden.

Durch diese Erläuterung werden die im vergangenen Kapitel aufgestellten

Hypothesen belegt. Die erste Hypothese war, dass die innere Struktur des Daseins als

des „transzendentalen Subjektes“, gemäß dem Gegebenheitsmodell aufzufassen ist.

Aus der obigen Rekonstruktion von Heideggers Auslegung des In-der-Welt-seins

wird klar, dass die einheitliche Struktur des Daseins als In-der-Welt-sein eine Struktur

des Erscheinens des Seienden in der Welterschließung des Daseins ist, und sich dem

ursprünglichen Gegebenheitsmodell, das Heidegger in den frühen Freiburger

Vorlesungen ansetzt, angleicht. Die zweite Hypothese war, dass Heideggers

Auslegung des Sichzeigens des nicht daseinsmäßigen Seienden vom ursprünglichen

Gegebenheitsmodell des Phänomens herrührt. Diese ist durch die Rekonstruktion

direkt ausgewiesen. Das Sichzeigen des Seienden bedeutet das Gegebensein des

Seienden. Wie dargelegt wurde, ist Heideggers Darstellung der Gegebenheit des

primär gegebenen Seienden, des Zuhandenen, selbst schon eine Wiederholung des

ursprünglichen Gegebenheitsmodells. Die Ausweisung der zweiten Hypothese ist

auch Bestätigung dafür, dass die erste Ebene der Thematisierung des Erscheinens des

Seienden, nämlich die der Gegebenheit des Seienden, auch in Sein und Zeit präsent ist,

und nicht nur das Thema der Gegebenheit, sondern auch das Gegebenheitsmodell der

frühen Freiburger Vorlesungen hier zum Einsatz kommt. Es bleibt noch zu prüfen, ob

die Thematisierung des Lebensvollzugs, der sich, wie aufgezeigt wurde, zum Begriff

der Welterschlossenheit wandelt, in Sein und Zeit präsent ist und weiterentwickelt

wird.

Page 116: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

114

4.3.2 Die Wahrheitslehre als die Explikation des primären Verstehens

Im in § 44 erläuterten Wahrheitsphänomen der Entdecktheit und der Erschlossenheit

wird die Gegebenheit des Seienden ausgelegt. Dabei stellt sich die Frage, wie

Heidegger das Wahrheitsphänomen mit dem Thema der Gegebenheit in Beziehung

setzt. Hier soll es daher um den hermeneutischen Ansatz in seiner Untersuchung der

Gegebenheit gehen. Das Gegebensein des Seienden ist für Heidegger als dessen

Verstandensein anzunehmen. Das heißt, das Gegebene ist das Verstandene. In § 32

und § 33 führt er seine Konzeption des Verstehens aus und erläutert, dass das

Verstehen von innerweltlich Seiendem die Form hat, etwas als etwas „auszulegen“,

d.h. es hat die Form der Als-Struktur. Die Verstehensstrukturen differenzieren sich

nach der Seinsart des Seienden. „Alles vorprädikative schlichte Sehen des

Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend“.294 Die Als-Struktur des

Verstehens von Zuhandenem zeichnet sich durch das ursprüngliche Als des

Verstehens aus, und wird auch als „hermeneutisches Als“ benannt. Im Vergleich dazu

vollzieht sich das Verstehen des Vorhandenen im „apophantischen ‚Als’ der

Aussage“295. Es ist eine mitteilende prädizierende Aufzeigung des Vorhandenen.

Als-Strukturen tragen die Funktion des Aufzeigens des Verstandenen, nur jeweils auf

unterschiedliche Weise. Das Verstehen des Vorhandenen ist ein „pures hinsehendes

Aufweisen“, während sich das Verstehen des Zuhandenen in der

„Verständniszueignung im verstehenden Sein zu einer schon verstandenen

Bewandtnisganzheit“ 296 bewegt. Mit dem Kontrast der Verstehensweise von

Zuhandenen und Vorhandenen wendet sich Heidegger wieder gegen Husserls

objektivierenden Zugang zum Seienden. Für die ursprüngliche Seinsart des Seienden,

d.h. die ursprüngliche Gegebenheit des Seienden, gilt ihm stets das Zuhandene als

Exempel.

294 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 198. 295 Ebd., S. 210. 296 Ebd., S. 199.

Page 117: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

115

In seiner Erläuterung der Verstehensstruktur des Seienden setzt Heidegger in der Tat

den hermeneutischen Zugang zur Gegebenheit des Seienden an, so dass wir das

Gegebensein des Seienden als dessen Seinssinn zum Ausdruck bringen können.

„Wenn innerweltliches Seiendes ... entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist,

sagen wir, es hat Sinn. ... Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen

wir Sinn.“297 Der Sinn des primären Gegebenen, d.h. des Zuhandenen, ist das

Gegebensein hinsichtlich seines Verweisungszusammenhanges im vorgängigen

Weltverständnis, in dem Dasein die Welt erschließt, d.h. in dem es sich verstehend

zum begegnenden Seienden verhält. Wie Hans-Helmuth Gander dargelegt hat, wird

das Seiende gegeben, d.h. ist verstanden, sofern es „als etwas Sehen“ geleitet wird

„von einem vorgängigen Verständnis des ihm zugehörigen

Verweisungszusammenhanges. Dieser zieht jenem lebensweltlichen Horizont aus, in

dem ich mich verstehend auslegend zu dem umweltlich Begegnenden verhalte.“298

Als ein Verstehen des Seins des Seienden manifestiert sich also das Gegebensein oder

das Sichaufzeigen des Seienden hinsichtlich seines Verweisungszusammenhanges im

Welterschließungsvollzug des Daseins. Die Explikation der Gegebenheit des

Seienden sowie seiner Möglichkeitsbedingung wird dann die Explikation des

Seinsverständnisses des Daseins, die Heidegger sich mit der Wahrheitslehre in Gang

zu bringen bemüht.

In der Vorlesung des Sommersemesters 1927 unter dem Titel Die Grundprobleme der

Phänomenologie, die laut Heidegger eine neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des

ersten Teiles von Sein und Zeit in Angriff nehme, fallen Verstehen, Enthüllen, sowie

Wahrsein nun in eins. Das Verstehen sei nun als das Aufzeigen von etwas in sich

selbst seiner Struktur nach als Enthüllen zu bestimmen. 299 „Wahrsein besagt

Enthüllen. Damit umfassen wir sowohl den Modus des Entdeckens wie den des

Erschließens, das Enthüllen des Seienden, das nicht daseiend ist, und das des

297 Heidegger, GA 2, S. 201. 298 Hans-Helmuth Gander, Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger, in: Heidegger und Husserl: Neue Perspektiven, 2009, S. 152. 299 Vgl. Heidegger, GA 24, S. 309.

Page 118: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

116

Seienden, das wir selbst sind.“300 Das heißt, Erschließen des Daseins und Entdecken

des innerweltlich Seienden sind jeweils Enthüllen. Enthüllen ist auf der einen Seite

Wahrsein, dementsprechend lassen sich die Erschlossenheit des Daseins und die

Entdecktheit des Seienden als Wahrheit bezeichnen; Auf der anderen Seite ist das

Enthüllen das Verstehen, das Heidegger als Seinsverständnis bezeichnet.301 Insofern

handelt es sich bei der Wahrheitslehre in Sein und Zeit um eine hermeneutische

Explikation des Seinsverständnisses, das Entdecktheit (Gegebenheit des Seienden)

und Erschlossenheit des Daseins umfasst. Am Ende des § 44 expliziert Heidegger die

Aufgabe der Daseinsanalytik dahingehend, dass das ursprüngliche Seinsverständnis

„zum Begriff gebracht“ 302 werden muss. Dies führt zur Thematisierung des

ursprünglichsten Wahrheitsphänomens: der Erschlossenheit.

4.4 Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der ursprünglichen

Daseinsinterpretation

Wie an früherer Stelle erwähnt wurde, entspricht der erste Abschnitt von Sein und

Zeit, d.h. die Illustration des In-der-Welt-seins, nur der ersten Ebene der

Thematisierung des Erscheinens des Seienden, und zwar der Thematisierung seiner

Gegebenheit. Bei der zweiten Ebene handelt es um die Thematisierung der

Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden. Diese ist durch das Thema

des Welterschließungsvollzugs des Daseins, der in Sein und Zeit als

Welterschlossenheit oder Erschlossenheit des Daseins bezeichnet wird, angedeutet.

Im ersten Abschnitt wird die Struktur der Erschlossenheit nur freigelegt, ohne aber

intensiv thematisiert zu werden. Die Thematisierung der Erschlossenheit ist Aufgabe

des zweiten Abschnittes von Sein und Zeit.

300 Heidegger, GA 2, S. 307. 301 Vgl. Ebd., S. 304. 302 Ebd., S. 305.

Page 119: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

117

4.4.1 Die transzendentale Zeitanalytik

Im ersten Abschnitt von Sein und Zeit, in der „vorbereitenden Fundamentalanalyse

des Daseins“, führt Heidegger die Grundbestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein

aus. Dasein und Welt werden im In-der-Welt-sein zu einem einheitlichen Phänomen

zusammengeführt. Was die Einheitlichkeit des Phänomens des In-der-Welt-seins

ausmacht, ist die Sorge-Struktur. „Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit

existenzial-apriorisch ‚vor’ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen

‚Verhaltung’ und ‚Lage’ des Daseins.“303 Die im ersten Abschnitt durchgeführte

Analytik des Daseins „kann den Anspruch auf Ursprünglichkeit nicht erheben.“304

Wenn die Daseinsanalytik auf „eine ursprüngliche Interpretation des Seinssinnes des

Daseins“305 zustrebt, dann „muss sie das Sein des Daseins zuvor in seiner möglichen

Eigentlichkeit und Ganzheit existenzial ans Licht gebracht haben“306 , um „die

Zeitlichkeit als den ursprünglichen Seinssinn des Daseins“307 herauszuheben. In

zweiten Abschnitt expliziert Heidegger das Dasein in seiner Eigentlichkeit sowie in

seinem transzendentalen zeitlichen Horizont, wobei Erschlossenheit nun als die

„Wahrheit der Existenz“ im Zentrum der Analytik des ursprünglichen Daseins steht.

Heidegger behauptet, dass die ursprüngliche Interpretation des Seinssinnes des

Daseins die Explikation des Seins des Daseins in seiner möglichen Eigentlichkeit und

Ganzheit sei. Was ist mit „Sein des Daseins“ gemeint? Das „Sein des Daseins“ sei

laut Heidegger primär als Seinkönnen zu bestimmen.308 Das Sein des Daseins in

seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit expliziert sich nach Heidegger im

Phänomen der Entschlossenheit. „Mit dem Phänomen der Entschlossenheit wurden

wir vor die ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt. Entschlossen ist das Dasein

303 Heidegger, GA 2, S. 257. 304 Ebd., S. 310. 305 Ebd., S. 311. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 312. 308 Vgl. Ebd., S. 405.

Page 120: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

118

ihm selbst in seinem jeweiligen faktischen Seinkönnen enthüllt“.309 Das bedeutet, das

„Dasein in seinem jeweiligen faktischen Seinkönnen“ als das

Entschlossenheitsphänomen zeigt sich als die „ursprüngliche Wahrheit der Existenz“.

Was aber ist diese „ursprüngliche Wahrheit der Existenz“? „Die ursprünglichste und

zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die

Wahrheit der Existenz.“ 310 Von daher wird bereits ersichtlich, dass die

Erschlossenheit, bzw. „die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit“311,

im Zentrum der „ursprünglichen Interpretation des Seinssinns des Daseins“ steht. In

der ursprünglichen Daseinsanalytik wird die Erschlossenheit selbst thematisiert. Die

Thematisierung der Erschlossenheit ist gleichsam als die Thematisierung des

Lebensvollzugs anzusehen, da Erschlossenheit ein Ersatzbegriff für den

Lebensvollzug ist. Die Thematisierung des Lebensvollzugs ist somit auch in Sein und

Zeit präsent. Die motivische Kontinuität der Destruktion auf den Lebensvollzug von

den frühen Freiburger Vorlesungen bis zur Marburger Zeit ist somit aufgezeigt. Aber

die Aufgabe der Rekonstruktion ist damit nicht vollständig erfüllt, da noch zu zeigen

sein wird, ob und inwieweit sich dieses Motiv in den Marburger Vorlesungen

weiterentwickelt hat, das heißt, ob und wie Heidegger den Lebensvollzug oder die

Erschlossenheit an sich zum Sehen, mit anderen Worten, zum Ausdruck bringt.

Der Lebensvollzug oder die Erschlossenheit ist, wie dargelegt wurde, die faktische

und horizontale Möglichkeitsbedingung für das Erscheinen des Seienden. Daher lässt

309 Heidegger, GA 2, S. 407. 310 Ebd., S. 293. 311 Mit der Bezeichnung der „ursprünglichsten und zwar eigentlichsten Erschlossenheit“ ist der Einsatz der formalen Anzeige in die Ausführungen eingebracht. Formale Anzeige dient bei Heidegger in erster Linie als die Abwehr gegen die sich-selbst-verdeckende Tendenz des Lebens oder Daseins, indem sie den Bezugssinn der Lebenserfahrung in der Schwebe hält, damit sich die Offenheit des Lebensvollzugs oder Sinnvollzugs zeigt. Diese methodische Anwendung vollzieht sich in Sein und Zeit mit der Analyse des Entschlossenheitsphänomens, wobei der Sinnvollzug als die „ursprünglichste und eigentlichste Erschlossenheit“ benannt wird. Diese ist laut Heidegger durch die Analytik des Entschlossenheitsphänomens als des eigentlichen Daseins ans Licht gebracht. „Die Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit führte zugleich auf das Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Wahrheit.“ (GA 2, 418) Heidegger zufolge ist die ursprünglichste Erschlossenheit im Daseins, wie es "zunächst und zumeist" ist, nämlich im uneigentlichen und alltäglichen Dasein, verdeckt. Erst im Entschlossenheitsphänomen offenbart sich die ursprünglichste Erschlossenheit als die ursprüngliche Seinsart des Daseins. Von daher kann man argumentieren, dass das Entschlossenheitphänomen eine Anwendung der formalen Anzeige ist.

Page 121: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

119

sich sagen, dass es in der Thematisierung der Erschlossenheit um die

Möglichkeitsbedingung, genauer gesagt, die faktische Möglichkeitsbedingung des

Erscheinens des Seienden geht. Die hier entscheidende Frage lautet, wie man die

Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden zum Ausdruck bringen kann.

In den frühen Freiburger Vorlesungen dient die Auseinandersetzung mit dem

Lebensvollzug der Abgrenzung von Husserls Paradigma einer transzendentalen

Konstitution des Bewusstseins. Insofern beurteilte Heidegger das Denken Husserls

dort, wenn auch auf indirekte Weise, als ursprungsfern. Im Unterschied dazu setzt er

den Lebensvollzug als Möglichkeitsbedingung der Gegebenheit des Seienden an, der

als sich geschichtlich vollziehende Offenheit der Verstehensmöglichkeiten unbewusst

erlebt wird. Die Rede von „Vordringen zum Lebensvollzug“ drückt den Versuch aus,

diese Offenheit zum Ausdruck oder zur näheren Explikation zu bringen. Jedoch treibt

Heidegger die Auslegung des Lebensvollzugs nur so weit, dass sein dynamischer und

rätselhafter Charakter freigelegt wird. Seine Untersuchung ist erst noch auf dem Weg

hin zu einer Explikation der Offenheit des Lebensvollzugs. Das Fortschreiten der

Thematisierung des Lebensvollzugs bestünde also darin, dass die Offenheit des

Lebensvollzugs an sich zur Explikation gebracht wird.

Heideggers Behandlung der Erschlossenheit in Sein und Zeit ist eine Analytik der

transzendentalen Konstitution der faktischen Erschlossenheit in Form der Zeitanalytik.

Erschlossenheit sei konstituiert im transzendentalen ekstatischen Horizont der

Zeitlichkeit. Die zeitliche Konstitution der Erschlossenheit erweist sich als die

ontologische Bedingung der Möglichkeit, dass Dasein als In-der-Welt-sein

existiert.312 Erschlossenheit ist „ein wesenhaftes Konstitutivum des In-der-Welt-seins

als solchen“, 313 das in der ekstatisch-horizontalen Einheit der Zeitlichkeit

312 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 463. Dazu schreibt Heidegger: „Die Erschlossenheit des Da und die existenziellen Grundmöglichkeiten des Daseins, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, sind in der Zeitlichkeit fundiert. [...] In der Orientierung an der zeitlichen Konstitution der Erschlossenheit muss sich daher auch die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür aufweisen lassen, dass Seiendes sein kann, das als In-der-Welt-sein existiert.“ 313 Ebd., S. 393.

Page 122: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

120

verständlich wird.314 Das heißt, die Thematisierung der Erschlossenheit entfaltet sich

durch das Herausarbeiten seines transzendentalen Horizontes der Zeitlichkeit. Aber

warum thematisiert Heidegger die Erschlossenheit des Daseins in Form einer

transzendentalen Auslegung? Weil er die ontologische Differenz zum Ausgangspunkt

der ursprünglichen Daseinsinterpretation macht.

In der ontologischen Differenz geht es um den Unterschied zwischen Sein und

Seiendem. Das Sein sei nach Heidegger nicht Seiendes, auch nicht das Sein des

Daseins.315 Da wir wissen, was das Seiende ist, bleibe nur zu fragen, was das Sein ist,

und worin der Unterschied besteht. Der Sinn des Seins „lässt sich ursprünglich nur

fassen auf dem Grunde einer ursprünglichen Interpretation des Daseins.“316 Die

direkte Auffassung des Sinns des Seins wird nicht unmittelbar durch eine

ursprüngliche Interpretation des Daseins erreicht, sondern die eigentliche Frage nach

dem Sinn des Seins soll, so Heidegger, durch die Herausstellung des transzendentalen

Horizonts der Zeitlichkeit in der ursprünglichen Interpretation des Daseins erst

vorbereitet werden.317 Gerade in der Herausstellung des transzendentalen Horizontes

der Zeitlichkeit lässt sich die ontologische Differenz explizieren.318

Marion Heinz zufolge kann die ontologische Differenz folgendermaßen expliziert

314 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 384. 315 Zur ontologischen Differenz gehören die Ausdrücke wie: “ ‘Sein’ ist nichts so etwas wie Seiendes.” (GA 2, 5) „“Das Sein des Seienden ist selbst nicht ein Seiendes.“ (GA 2, 8) „Am Ende wird sich zeigen, dass die Idee von Sein überhaupt ebenso wenig einfach ist wie das Sein des Daseins.“(GA 2, 260) 316 Heidegger, GA 2, S. 416. 317 Ganz am Ende von Sein und Zeit fasst Heidegger die ganze Argumentationsstruktur der Daseinsanalytik als drei Hauptschritte zusammen, wobei der dritte Schritt in der veröffentlichten Version von Sein und Zeit eher als ein Ausblick dient: 1) Die Dasein als existierende In-der-Welt-sein ermöglichende unbegriffliche Erschlossenheit hervorzuheben; 2) Basierend auf 1) die transzendentale Zeitlichkeit herauszuarbeiten; 3) Basierend auf 2) den Sinn des Seins überhaupt zu finden oder zu erschließen. Das heißt, die Explikation des transzendentalen Horizontes der Zeitlichkeit soll die Frage oder die Erschließung des Sinns vom Sein überhaupt vorbereiten. „Die vorgängige, obzwar unbegriffliche Erschlossenheit von Sein ermöglicht, dass sich das Dasein als existierendes In-der-Welt-sein zu Seiendem, dem innerweltlich begegnenden sowohl wie zu ihm selbst als existierendem, verhalten kann. Wie ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? [...] Die existenzial-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeitlichkeit. [...] Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ (GA 2, 577) 318 Dazu sagt Heidegger: „Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt.“ (GA 24, 454)

Page 123: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

121

werden: Das Sein als die Offenheit des transzendentalen ekstatischen Horizontes der

Zeitlichkeit ermöglicht das intentionale Verhalten, d.h. das Enthüllen des Seienden.319

Eine ähnliche Ansicht vertritt Steven Crowell. Er meint, dass die ontologische

Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein bei Heidegger als die Differenz

zwischen dem verstandenen Seienden und der intentionalen Struktur der Zeitlichkeit,

die das Verstehen des Seienden ermöglicht, zu erfassen sei. 320 Auf Basis der

ontologischen Differenz ist die Zeitanalytik als Explikation der transzendentalen

Konstitution des Daseins, in der das Seiende enthüllt oder gegeben wird, zu

interpretieren. Hierzu schreibt Walter Biemel, „Die transzendentale Konstitution ist

eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst.“321 Davon ausgehend

kritisiert wiederum William Blattner, dass Heideggers Ontologie, entgegen seiner

Behauptung, selbst transzendental sei und im Grunde nicht von der

Transzendentalphilosophie und besonders von Husserls

Transzendentalphänomenologie zu unterscheiden sei. Das ist so zu verstehen, dass

seine Ontologie die Explikation der Formen der Zeitlichkeit, die alle Versuche des

begrifflichen Verstehens des Gegenstandes, der uns begegnet, unterliegt und

ermöglicht.322 Auch wenn William Blattner hinsichtlich der Gleichartigkeit von

Husserls und Heideggers transzendentaler Konstitution übertreibt, wirft seine

Argumentation doch die Frage auf, ob Heideggers transzendentale Konstruktion des

Welterschließungsvollzugs im zeitlichen Horizont als unproblematisch zu betrachten

sei. 319 Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, Würzburg, 1982, S. 190. Der vollständige Text: „Der Unterschied von Sein und Seiendem kann demnach folgendermaßen expliziert werden: Sein ist die durch den Selbstentwurf der Ekstase produzierte Offenbarkeit ihrer selbst, aus der sich das primär durch die jeweilige Ekstase ermöglichte intentionale Verhalten versteht, so dass es ein bestimmtes Enthüllen sein kann; [...] Seiendes ist das, was in einem sich aus dem horizontalen Schema der primär konstitutiven Ekstase verstehenden Enthüllen begegnen kann.“ 320 Steven Galt Crowell, Husserl, Heidegger and the Space of meaning – Path toward transcendental Phenomenology, Illinois, 2001, S. 196. 321 Walter Biemel, Husserls Encyclopaedia-Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Tijdschrift voor Philosophie 12, 1950, S. 246. Vgl. S. 274. 322 Vgl. William Blattner, Ontology, the A Priori and the Primacy of Practice, in: Transcendental Heidegger, Steven Crowell und Jeff Malpas (Hrsg.), California, 2007, S. 20-21, Der vollständige Text: „Ontology, therefore, is a priori, because it is the expression of the forms of temporality that underlie and makes possible all attempts to articulate in conceptual form the nature of the objects we confront.“ William Blattner vertritt die These, dass die allgemeine Struktur des ontologischen Projektes Heideggers eine transzendentale Konstitution sei, die nahe an Husserls Transzendentalphänomenologie steht, sei. Vgl. William Blattner, Heidegger´s Temporal Idealism, Cambridge, 1999.

Page 124: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

122

4.4.2 Das Scheitern an der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs

Es zeigt sich, dass William Blattners These zu stark ist, sobald man sich die

Unterschiede in der Grundstruktur des transzendentalen Konstitutionsmodells bei

Husserl und Heidegger anschaut. Die Struktur des „transzendentalen Subjektes“ bei

Heidegger, d.h. die des Daseins, unterscheidet sich von der des transzendentalen

Bewusstseins darin, dass bei Husserl die intentionale Konstitution als

Bewusstseinserlebnis paradigmatisch im transzendentalen und subjektiven

Zeitbewusstsein letztgründet323, während es im Konstitutionsmodell des Daseins um

einen unbewusst erlebten und grundlosen Vollzug der Offenheit geht. Aus der

Zeitanalytik Heideggers wird ersichtlich, dass die transzendentale Zeitlichkeit nicht

als Grund des Vollzugs, sondern nur als Horizont des Welterschließungsvollzugs

fungiert. In Husserls transzendentaler Konstruktion, einschließlich der

Lebenswelttheorie, für die sich der späte Husserl einsetzt, herrschen laut Waldenfels

immer die Geltungsansprüche, deren Rahmenbedingungen sich „in einer allgemeinen

Begründung einholen und wahrmachen lassen“ 324 . In seiner kritischen

Auseinandersetzung mit Husserls philosophischer Forschung, „zwischen

Alltagsmeinung und Vernunfteinsicht“325 angesiedelt und als Wissenschaftskritik

behandelt, fordert Waldenfels „das Vergessen des paradigmatischen, modellhaften

Charakters der Wissenschaften“, und er weist darauf hin, dass es Aufgabe der

Philosophie sei, „gegenüber Eindeutigkeit und Exklusivitätsansprüchen die

Vieldeutigkeit und Offenheit des Erfahrungskontextes im Blick zu halten und

gegenüber Fixierung von Regelsystemen das Ungeregelte und das durch die Regeln

Ausgeschlossene zu betonen.“326

323 Husserls transzendentale Konstruktion fasst Derrida als solche auf, die den transzendentalen Hintergrund einer Egologie bildet. Das Ego erscheint als Ort der Selbstpräsenz und als letztfungierende Instanz in Bezug auf alle Sinnbildung. Vgl. Derrida, Of Grammatology, Baltimore, 1976, S. 417. 324 Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1985, S. 32. 325 Ebd., S. 28. 326 Ebd.

Page 125: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

123

Waldenfels Kritik des paradigmatischen, modellhaften Charakters der

transzendentalen Konstruktion lässt sich aber auch auf Heideggers transzendentale

Konstitution der Erschlossenheit des Daseins im zeitlichen Horizont übertragen. In

der Thematisierung des Lebensvollzugs in seinen Freiburger Anfängen fasst

Heidegger die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten als den Erfahrungskontext,

mit Waldenfels’ Worten, „das Ungeregelte und das durch die Regeln

Ausgeschlossene“ mit der Destruktion auf den Lebensursprung ins Auge. Aber wie

die Offenheit des Lebensvollzugs als des Ungeregelten zur Explikation gebracht

werden kann, bleibt noch unklar. Von der obigen Rekonstruktion her lässt sich sehen,

dass das Moment des Lebensvollzugs im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit in

Gestalt der Erschlossenheit des Daseins weiter thematisiert wird. Aber die

transzendentale Auslegung der Erschlossenheit kann die Offenheit nicht erschließen

und explizieren, denn die transzendentale Konstitution der Erschlossenheit im

allgemeinen, modellhaften Horizont der Zeitlichkeit ist selbst schon eine

paradigmatische Behandlung der Erschlossenheit. Wie Waldenfels auch an Husserl

kritisiert, so verstellt die paradigmatische und modellhafte Konstitution die

Erschließung der Offenheit. Daher lässt sich der Schluss ziehen, dass die

fortschreitende Weiterentwicklung der Thematisierung des Lebensvollzugs in der

Marburger Zeit scheitert.

Dieses Scheitern ist ein zweifaches, wenn man Heideggers Idee einer ursprünglichen

Ontologie, zu der die Daseinsanalytik führen solle, mitberücksichtigt. Heidegger setzt

die ontologische Differenz als den Ausgangspunkt der Ontologie an, die er als

Philosophie der Wissenschaft bezeichnet, um sie von der traditionellen Metaphysik

frei zu halten.327 Die Verfehlung der Metaphysik liege darin, „dass sie das Denken

als ein ‚Sehen’, das Sein als stets Vor-Augen-Sein, als stete Anwesenheit denkt und

327 Dazu schreibt Heidegger, „Mit der Möglichkeit eines hinreichend klaren Vollzuges dieser Unterscheidung von Sein und Seiendem und demnach mit der Möglichkeit des Vollzuges des Überschritts von der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen Thematisierung des Sein steht und fällt die Möglichkeit der Ontologie, d.h. der Philosophie als Wissenschaft.“ (GA 24, 322)

Page 126: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

124

so den nicht zum Stehen zu bringenden Vollzug des faktisch-historischen Lebens

selbst nicht zur Erfahrung bringen kann.“ 328 Dies sei laut Otto Pöggeler die

entscheidende Einsicht Heideggers. Die Thematisierung des „nicht zum Stehen zu

bringenden Vollzug des faktisch-historischen Lebens“ könne, wie Otto Pöggeler

impliziert, die ontologische Differenz bzw. den Unterschied zwischen der Seiendheit,

die in der traditionellen Metaphysik als Sein hingenommen wird, und dem Sein selbst

ans Licht bringen, womit die Erschließung des ursprünglichen Seins als des

„vergessenen Grundes der Metaphysik“ 329 vorbereitet wird. Im Rahmen des

ontologischen Projekts besteht der in Sein und Zeit vollzogene Schritt darin, die

ontologische Differenz in der Thematisierung des Erschlossenheit des Daseins

aufzuweisen und zu illustrieren. Pöggeler skizziert das ontologische Projekt

Heideggers im Ganzen folgendermaßen: Von der Illustration der ontologischen

Differenz, d.h. des Unterschiedes zwischen der Seiendheit als der metaphysischen

Seinsbestimmung und dem Sein im ursprünglichen Sinne, ausgehend ist die Ontologie

als „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“330 in Abgrenzung

zur traditionellen Metaphysik aufzubauen. Hier lässt sich zudem argumentieren, dass

die Thematisierung der Erschlossenheit zu einer Explikation der Offenheit der

Verstehensmöglichkeiten des Seins hinleiten soll, damit die Heideggersche Ontologie

sich als eine „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“ bestimmen

und gegen die Metaphysik positionieren kann.

Heidegger illustriert die ontologische Differenz durchgängig in Sein und Zeit,

zunächst indem er 1) den nicht stehenbleibenden Lebensvollzug als die

Erschlossenheit ins Blickfeld bringt und thematisiert; und schließlich indem er 2) die

Zeitlichkeit als den transzendentalen Horizont des Daseins bzw. des Lebensvollzugs,

in der die Seiendheit des Seienden ermöglicht wird, auslegt. Laut Heidegger könne

328 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 46. 329 Vgl. Ebd., S. 47. Der vollständige Text: „Sein und Zeit ist der Versuch, das ungedacht Gebliebene, den vergessenen Grund der Metaphysik, auf dem freilich all ihr Gedachtes ruhte, denkend zurückzuholen.“ 330 Ebd., S. 49.

Page 127: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

125

die ontologische Differenz, die Differenz zwischen Sein und Seiendem (Seiendheit),

in der transzendentalen Auslegung des Daseins mittels Zeitanalytik expliziert werden.

Somit können wir „von der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen

Thematisierung des Seins“331 voranschreiten, d.h. nach dem Sinn des Seins fragen.

Wie jedoch oben aufgezeigt wurde, trägt eine analytische paradigmatische

Konstruktion 332 der Erschlossenheit im allgemeinen modelhaften Horizont der

Zeitlichkeit nichts zur Erschließung der Offenheit der Erschlossenheit bei, die erst zur

Ontologie als „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“ hinleiten

soll. Insofern ist Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der

transzendentalen Konstruktion ein zweifaches Scheitern, da sie weder die

Entwicklung der kontinuierlichen Thematik des Lebensvollzugs selbst, noch die des

ontologischen Projektes voranbringt.

Fazit:

Mithilfe von Marions Interpretation des ontologischen Projektes im Ausgang des

phänomenologischen Ansatzes ließ sich, in der Rekonstruktion von Sein und Zeit, die

Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug von Heideggers

Freiburger Anfängen bis zu den Marburger Vorlesungen aufzeigen. Jedoch kommt die

Thematisierung des Lebensvollzugs in Heideggers transzendentaler Konstruktion der

Erschlossenheit des Daseins nicht ans Ziel, nämlich zu einer Explikation der

Offenheit. Denn Heidegger Ansatz einer paradigmatischen Zeitanalytik im Ausgang

von einer transzendental verstandenen ontologischen Differenz verstellt den Zugang

zur Erschließung der Offenheit und Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeit. Aus

dem gleichen Grund kann auch das Projekt des Aufbaus einer Ontologie im

ursprünglichen Sinne, d.h. der „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von

331 Sieh Amn. 327. 332 Orlando Pugliese fasst den transzendentalen Zeithorizont als„analytisch gewonnen Strukturen“ auf und meint, dass Heidegger von den „analytisch gewonnen Strukturen [...] auf ihren nichtseienden Grund hin“ zurückzuführen versucht. Vgl. Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Freiburg/München, 1986, S. 76.

Page 128: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

126

Sein“ in Opposition zur traditionellen Metaphysik, nicht an sein Ziel gelangen.

Hinsichtlich ihrer paradigmatischen Behandlungsart gleichen sich das transzendentale

Denken Husserls und Heideggers. Dies erkennt Heidegger selbst als das

transzendentalistische Motiv an, und er versucht dieses im Verlauf seiner

philosophischen Forschung zu überwinden. Aber wie er das ontologische Projekt

daraufhin weiterentwickelt, ist hier nicht unser Anliegen. Im nächsten Kapitel geht es

vielmehr darum, wie Heidegger die im Zuge dessen behandelten Themen in den

1930er Jahren weiterentwickelt, und zwar in der Überwindung des paradigmatisch-

transzendentalistischen Motivs.

Page 129: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

127

5. Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit im Kunstwerk Wegen des Scheiterns der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs im

Rahmen einer analytischen Konstruktion der transzendentalen Zeitlichkeit, sucht

Heidegger in den 1930er Jahren nun nach einer anderen Möglichkeit, um diese

Thematik voranzubringen, wobei darin zugleich das

transzendental-phänomenologische Motiv überwunden werden soll. Diese Suche

beginnt mit der Entwicklung der Wahrheitslehre und der Untersuchung der

Kunsterfahrung, in der die ursprünglichste Wahrheit als die Offenbarkeit des

Seienden im Ganzen in der Entbergung-Verbergung-Dynamik geschieht. In seinen

Untersuchungen der 1930er Jahre zur Kunst, die vor allem im Aufsatz Der Ursprung

des Kunstwerkes verschriftlicht werden, erkennt Heidegger eine ausgezeichnete

Möglichkeit, die Offenheit der Verstehensmöglichkeit zum Ausdruck oder zur

Explikation zu bringen. Friedrich-Wilhelm von Herrmann erkennt im

Kunstwerkaufsatz Heideggers erste Auseinandersetzung mit dem Ereignis-Denken,

und er kommt daher zu dem Schluss, dass die Untersuchungen des

Kunstwerkaufsatzes „in das Gesamtgefüge des Ereignis-Denkens“333 gehören. Diese

Einschätzung ist weithin akzeptiert, weshalb der Kunstwerkaufsatz daher

gängigerweise den Beginn des Ereignis-Denkens des späten Heideggers markiert.

In der folgenden Diskussion wird es aber nicht um die Darstellung des

Ereignis-Denkens gehen, sondern um die Rekonstruktion der Kunstauffassung am

Leitfaden des Zum-Ausdruck-Bringens der Sinnoffenheit, das Heidegger im

Kunstwerkaufsatz ausführt. Auf diese Weise ist ans Licht zu bringen, wie Heidegger

die Thematik des Lebensvollzugs mittels der Überlegungen zur Kunst voranzubringen

versucht. Auch wird zu klären sein, welcher Aspekt dies Zum-Ausdruck-Bringen der

Sinnoffenheit, die Heidegger mit seinen Kunstauffassung herausarbeitet, im Denken

des späten Heidegger weiter zu verfolgen erlaubt. Schließlich soll auch aufgezeigt

333 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst, 1994, XIII-XIV

Page 130: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

128

werden, dass Heideggers eigentümliche Kunstauffassung in der gegenwärtigen

Kunstphilosophie präsent ist und weiter fruchtbar gemacht werden kann. 5.1 Das Nichts und die Thematisierung des Lebensvollzugs

In Sein und Zeit ist die Thematisierung des Lebensvollzugs zwar präsent, aber nicht

weiterentwickelt worden. Denn die transzendentale Konstruktion verstellt den Weg

zur Explikation der Offenheit des Lebensvollzugs. Daher zögert Heidegger im den

Jahren nach Sein und Zeit nicht, die Analytik der transzendentalen Zeitlichkeit fallen

zu lassen. In seinem Vortrag von 1929, Was ist Metaphysik, hebt er dagegen den

Begriff des Nichts ins Blickfeld, was sich als ein Versuchs deuten lässt, die Thematik

des Lebensvollzugs nun auf andere Weise voran zu bringen.

Den Begriff des Nichts bezieht Heidegger auf das Sein des Seienden. „Das Nichts ...

enthüllt sich als zugehörig zum Sein des Seienden.“334 Es mutet widersprüchlich an,

dass das Nichts zum Sein gehöre. Daher stellt sich zunächst die Frage, was Heidegger

mit dem Nichts meint. Manche Interpreten halten das Nichts bei Heidegger für einen

Verweis auf die Nicht-Seiendheit des Seins.335 Jedoch lassen sich mit der Bedeutung

als „Nicht-Seiendheit“ eine Reihe von Formulierungen in diesem Vortrag nicht

hinreichend erklären. Wie zum Beispiel in der Aussagen: „Nur auf dem Grunde der

ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts kann das Dasein des Menschen auf Seiendes

zugehen und eingehen“336; „Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des

Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein“337; und „Im Sein des

334 Heidegger, GA 9, S. 120. 335 Vgl. Joseph J. Kockelmans´ Interpretation des Begriffes des Nichts bei Heidegger geht auf die ontologische Differenz zurück. Er versteht das Nichts als den Charakter des Seins gegenüber Seiendheit des Seienden. „In What is Metaphysics?, Non-being describes the Not which is characteristic of Being when it is seen from the perspective of being.“ Joseph J. Kockelmans, On the Truth of Being – Reflections on Heidegger´s Later Philosophy, Bloomington, 1984, S. 83; Vgl. Marion, 1998, S 61, 179; 336 Heidegger, GA 9, S. 114-115. 337 Ebd., S. 115.

Page 131: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

129

Seienden geschieht das Nichten des Nichts.“ 338 Auch wenn sich hier nicht

ausschließen lässt, dass die Nicht-Seiendheit ein Charakter des Nichts ist, können wir

jedoch mit Sicherheit sagen, dass diese Bedeutung den vollen Sinn des Nichts nicht

umgreifen kann. Im Folgenden wollen wir daher einen Blick auf den vollen Sinn des

Nichts werfen.

Der Begriff des Nichts gerät bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen in den

Blick. Wie im zweiten Kapitel erwähnt wurde, begreift Heidegger dort den

Grundcharakter des Lebensvollzugs als das „Nichts des faktischen Lebens“. Das

„Nichts des Lebens“ sei keine bloße Negation, sondern die nicht zu objektivierende

und rätselhafte Bewegtheit, die konkret als die sich dynamisch vollziehende Offenheit

der Verstehensmöglichkeiten zu erfassen sei. In seinem Vergleich der beiden

Auseinandersetzungen Heideggers mit dem Begriff des Nichts in Was ist Metaphysik

und im „Nichts des faktischen Lebens“ kommt Francesco Malisardi zu dem Schluss,

dass die beiden Begriffe des „Nichts“ identisch sind und jeweils auf die Bewegtheit

des Lebens verweisen.339 Martina Roesner fasst die Konzeption des „Nichts“ noch

konkreter als ein solches auf, von dessen negativer Bedeutung als schlechthinniges

Nicht-Etwas doch dessen positive Fassung im Sinne von grundlos-unumschränkter

Bewegtheit und dem „All“ der Verstehensmöglichkeiten zu trennen sei.340 Die

negative und die positive Auffassung des Nichts machen zusammen seinen vollen

Sinn aus.

Die negative Bedeutung der Nichts lässt sich über die folgende Formulierung

338 Heidegger, GA 9, S.115. 339 Vgl. Francesco Malisardi, Die „Ruinanz“ als Grundbewegtheit des Faktischen und die Wurzeln der Seinsfrage, Paragrana 19, Berlin, 2010, S. 90-93. 340 Vgl. Martina Roesner, 2012, S. 79. Der vollständige Text: „Das Leben [...] ist im Grunde ein durch Radikalisierung des Phänomens der Ursprünglichkeit gewonnenes Synonym des Nichts, von dessen negativer Bedeutung als schlechthinniges Nicht-Etwas es so gut wie nichts und zugleich doch alles trennt, nämlich dessen positive Fassung im Sinne grundlos-unumscränkter Beweglichkeit. Zugleich ist dieses „Nichts“ des Lebens aber keine sich jedem Verständnis verweigernde Ununterschiedlichkeit, sondern gerade das „All“ jedes möglichen Verstehens; ist es doch von einem immanenten Rhythmus durchzogen, der zwischen den von ihm selbst hervorgebrachten Formen des ursprünglichen wie auch des verfallenden Erlebens nach eigengesetzlichen Regeln hin und her schwingt und so das Leben stets in die absolute Ursprünglichkeit erlebter Bedeutungsfülle zurückzuholen vermag.“

Page 132: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

130

Heideggers ausweisen: „Das Nichts ist weder ein Gegenstand noch überhaupt ein

Seiendes.“341 Marion interpretiert die Nichts als „Nicht-sichtbar-sein“342. Jedoch

bezieht sich die Nichts für Heidegger nicht nur auf das „Nicht-sichtbar-sein“, sondern

auch auf das „Unbewusst-erlebt-sein“, das er als „rätselhaft“ bezeichnet. Das

rätselhafte Nichts in seinem positiven Sinne ist die grundlose Bewegtheit vom „All

der Verstehensmöglichkeiten“, mit anderen Worten: die sich dynamisch vollziehende

und grundlose Offenheit der Verstehensmöglichkeiten. Hier wird ersichtlich, dass

Heidegger mit dem Begriff des Nichts gerade die Offenheit des Lebensvollzugs meint.

Mit der Fragestellung: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“,

weist Heidegger auf die Forschungsrichtung der 30er Jahre hin, nämlich die

Thematisierung des Nichts. In der Thematisierung des Nichts vollzieht sich nun die

Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs von den Freiburger Anfängen über die

Marburger Vorlesungen bis in die 1930er Jahre. Es wird aufzuzeigen sein, dass diese

Thematik nicht nur nach Sein und Zeit noch präsent ist, sondern dass es sich zudem

dahingehend weiterentwickelt, dass nun die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten,

die wir auch Sinnoffenheit nennen können, auf den Weg gesetzt wird, zum Ausdruck

gebracht zu werden.

5.2 Die Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen

Das Nichts bezeichnet Heidegger in Was ist Metaphysik auch als das Seiende im

Ganzen. „Das Nichts begegnet ... ‚in eins mit’ dem Seienden im Ganzen.“343 Und

diese „im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen ...

ist das Wesen des Nichts: die Nichtung.“344 Der volle Sinn des Nichts als rätselhafte

341 Heidegger, GA 9, S.115. 342 Marion, 1998, S. 61. Der vollständige Text: „Being itself does not show itself precisely because it is not. [...] Being, at least from the point of view of the present phenomenon, and therefore of evident beings, is nothing of a being, and it is nothing visible“. 343 Heidegger, GA 9, S. 113. 344 Ebd., S. 114. Die Formulierungen wie „Nichtung des Nichts“ und „das Nichten des Nichts“sollen sich auf die negierende Funktion der formalen Anzeige beziehen, durch die die Offenheit der Verstehensmöglichkeit erst zugänglich ist. Die negierende Funktion heißt Negierung jeder festen gehaltsmäßigen Bestimmung von Seiendem. Der Grund, warum die feste gegenständliche Bestimmung negiert werden muss, liegt in der Abwehr der objektivierenden Tendenz des Lebens, die für die

Page 133: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

131

Sinnoffenheit ist somit auf den Begriff des Seienden im Ganzen zu übertragen. Die

Thematisierung des Nichts vollzieht Heidegger in der ersten Mitte der 30er Jahre im

Rahmen seiner Lehre der Wahrheit des Seins des Seienden. Die Wahrheit des Seins

des Seienden verortet er in der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen. In der

Wahrheitslehre der 1930er Jahre geht es also um die Explikation, mit anderen Worten,

das Zum-Ausdruck-Bringen der rätselhaften Sinnoffenheit.

Zu jener Zeit spricht Heidegger nicht mehr von der Wahrheit als Entdecktheit oder

Erschlossenheit, sondern von der Wahrheit des Seins des Seienden. Im Aufsatz Vom

Wesen der Wahrheit von 1930 definiert Heidegger die Wahrheit des Seins als die

Offenbarkeit bzw. Unverborgenheit des Seienden im Ganzen.345 In der Offenbarkeit

entbirgt sich einerseits dieses und jenes Seiende im Seinlassen des Seienden im

Ganzen; andererseits liegt das Seiende im Ganzen wiederum in der Verborgenheit.346

„Gerade indem das Seinlassen im einzelnen Verhalten je das Seiende sein lässt, zu

dem es sich verhält, und es damit entbirgt, verbirgt es das Seiende im Ganzen.“347

Das Seinlassen bezieht sich auf die vortheoretische Welterschlossenheit348, in der das

Seiende zur Erscheinung kommt. Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen fungiert

aber eher als Startpunkt für das Erscheinen des Seienden.

Im Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit zeigt sich die Akzentverschiebung in

Heideggers Ansatz von einer analytischen transzendentalen Konstruktion der

Welterschlossenheit, hin zu dem Versuch, die Welterschlossenheit, genauer gesagt:

Theoretisierung und das Alltagsleben kennzeichnend ist. Jede Objektivierung, die tendenziell mit der Erscheinung des Seienden geschieht, verdeckt die sich vollziehende Offenheit der Möglichkeit, die Erscheinung eben möglich macht. Erst durch das Freihalten des Bezugssinns und durch die Negierung der festen gegenständlichen Bestimmungen aus dem Gehaltsinn wird die Objektivierung abgewehrt und somit die Offenheit der Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten, in der das Seiende verstanden wird, das heißt zur Erscheinung kommt, uns zugänglich. 345 Heidegger, GA 9, S. 192, 198. 346 Vgl. Ebd., S. 190, 193, 194. 347 Ebd., 193. 348 Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen spielt als das Seinlassen für Heidegger die gleiche Rolle der vortheoretischen Welterschlossenheit in Sein und Zeit. Dazu sagt er, „Wo für den Menschen das Seiende [...] durch Wissenschaft kaum und nur roh erkannt ist, kann die Offenbarkeit des Seienden in Ganzen wesentlicher walten als dort, wo das Bekannte und jederzeit Kennbare unübersehbar geworden ist“. (GA 9, 192)

Page 134: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

132

die rätselhafte Sinnoffenheit, unmittelbar zu explizieren. Das Seiende im Ganzen in

der Offenbarkeit als der Startpunkt, in dem das Seiende im Einzelnen sich offenbart,

erscheint selbst nicht, das heißt es liegt in der Verborgenheit. In der Wahrheit als der

Offenbarkeit des Seienden im Ganzen vollzieht sich dann das Spiel von der

Entbergung des Seienden im Einzelnen und der Verborgenheit des Seienden im

Ganzen. Dieses ist bei Marion eben als das „Spiel zwischen Verborgenem und

Unverborgenem“ zu verstehen. In einer Fußnote, die Heidegger 1943 an das oben

gegebene Zitat anfügt, erklärt er den Einblick in die Verborgenheit als den „Sprung in

die (im Ereignis wesende) Kehre“.349 Der „Sprung in die Kehre“ symbolisiert die

Akzentverschiebung hin zur unmittelbaren Explikation der Sinnoffenheit in der

Verborgenheit.

Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen umfasst in Heideggers Auslegung das Spiel

zwischen Entbergung des Seienden im Einzelnen und Verbergung des Seienden im

Ganzen. Zum Verständnis dieses Spiels ist Tugendhats Interpretation aufschlussreich.

Dieses kann seinerseits entborgen werden, aber dann liegt auch über dieses hinaus Verborgenes: das Verborgene wechselt, aber die Verborgenheit – die ‚Verbergung’ – bleibt, und sie macht es überhaupt möglich, dass wir das jeweils Entborgene übersteigen können.350

Nehmen wir hier ein anschauliches, wenn auch nicht ganz angemessenes Beispiel, um

diesem Fall zu erklären: Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ist wie das

Sonnenlicht im Meerwasser. Das Meerwasser wechselt seine Farbe, manchmal

erscheint es als blau, manchmal als grün und manchmal gemischt. Wir sehen niemals

alle Farben des Sonnenlichts im Meerwasser auf einmal, da die anderen Farben

jeweils verborgen sind, und sich je nur die eine oder andere offenbart. Das heißt wir

sehen das Licht, während wir es nicht sehen. Die Offenbarkeit des Seienden im

Ganzen als die dynamische Entbergung dieses und jenes Seienden ist gleichwohl auch

eine dynamische Verbergung des Seienden im Ganzen.

349 Heidegger, GA 9, S. 192.350 Tugendhat, 1970, S. 389.

Page 135: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

133

Diese Dynamik in der Spannung zwischen Entbergung und Verbergung in der

Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ist auf das dynamische Geschehen des

Seienden im Ganzen zurückzuführen. Das Seiende im Ganzen als die Sinnoffenheit

fungiert einerseits als die Welterschlossenheit, das Seinlassen des Seienden im

Einzelnen; andererseits liegt es in der Verborgenheit. Die Verborgenheit und

Offenbarkeit beziehen sich nicht auf zwei Seiten des Seienden im Ganzen, sondern

drücken den Grundcharakter der Sinnoffenheit aus. Mit der Verborgenheit ist das

Unbewusst-erlebt-sein der Sinnoffenheit gemeint. Diese rätselhafte Sinnoffenheit geht

dadurch in die Offenbarkeit, dass sie das Seiende im Einzelnen erschein lässt. Jedoch

ist das Seiende im Einzelnen nicht als etwas Stabiles zu bestimmen, da es nur eine

mögliche Erscheinung bzw. eine mögliche Instanziierung aus der Sinnoffenheit als

der Mannigfaltig der Möglichkeiten ist und stets auch anders sein könnte, und zwar

im Vollzug der Sinnoffenheit. Das heißt, das Seiende im Einzelnen ist nie fest zu

bestimmen, sondern es speist sich im dynamischen Sinnvollzug aus der rätselhaften

Tiefe, und es zeigt sich nur als eine Möglichkeit in der Offenheit und

Mannigfaltigkeit des Sinnes. Dies macht eben die Verbergung-Entbergung-Dynamik

des Wahrheitsgeschehens aus. Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen sei, so

Heidegger, im Vergleich mit der Entbergung das Grundliegende und Ursprünglichste.

„Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen [...] ist älter als jede Offenbarkeit von

diesem und jenem Seienden. Sie ist älter auch als das Seinlassen selbst, das

entbergend [...] zur Verbergung sich verhält.“ Sie fungiert als der Ursprung der

Entbergung-Verbergung-Dynamik. Mit dieser Behauptung verweigert sich Heidegger

jeder auf Subjektivität basierenden Interpretation der Sinnoffenheit. Auf diesen Punkt

kommen wir später noch einmal zurück.

Mit der Illustration der Wahrheit als der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen

versucht Heidegger die transzendentale Konstruktion der Sinnoffenheit zu vermeiden,

und die Thematisierung der Sinnoffenheit auf den Weg zu einer darstellenden

Explikation dieses dynamischen Sinnoffenheitsgeschehens zu bringen. Mit der

Illustration der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen als ein näherer Hinblick auf die

Page 136: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

134

Sinnoffenheit vollzieht Heidegger den ersten Schritt auf diesem Weg. Die weiteren

Schritte erfolgen im Rahmen seiner Kunstauffassung.

Die Offenbarkeit des Seienden in Ganzen, also die Sinnoffenheit in der Dynamik

erkennt Heidegger als das ursprüngliche Geschehen der Wahrheit. Die Zeugerfahrung,

von der ausgehend er das Wahrheitsphänomen in Sein und Zeit illustriert, ist ihm

zufolge nun nicht mehr anwendbar, wenn es um die Darstellung des Grundgeschehens

der Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen geht. Denn Zeugerfahrung

gehört zum Alltagsleben. Heidegger weist nun aber darauf hin, dass die Wahrheit als

Offenbarkeit des Seienden im Ganzen nicht im alltäglichen Leben geschieht. „Dieses

‚im Ganzen’ erscheint aber im Gesichtsfeld des alltäglichen Rechnens und

Beschaffens als das Unberechenbare und Ungreifbare.“351 Es ist im „Umkreis der

gangbaren Absichten und Bedürfnisse“ als „Grundgeschehnis in der Vergessenheit

versunken“.352 Das Grundgeschehen der Wahrheit geschieht gleichwohl auch nicht in

der Theoretisierung. Wissenschaft ist „kein ursprüngliches Geschehen der Wahrheit,

sondern jeweils der Ausbau eines schon offenen Wahrheitsbereiches“. 353 Das

ursprüngliche Geschehen der Wahrheit entfaltet sich laut Heidegger in der Dichtung,

bzw. Kunst.354

5.3 Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit in der Kunsterfahrung

Dies ist der Hintergrund, auf dem Heidegger den Aufsatz Der Ursprung des

Kunstwerkes verfasst. Das Grundgeschehen der ursprünglichen Wahrheit geschehe im

Kunstwerk als der „Streit zwischen Welt und Erde“. Die

Entbergung-Verbergung-Struktur des Wahrheitsgeschehens erfasse sich dann als

Welt-Erde-Struktur der Wahrheit im Kunstwerk. Das Wesen der Kunst erkennt

351 Heidegger, GA 9, S. 193; Vgl. GA 5, S. 59. „Aus dem Vorhandenen und Gewöhnlichen wird die Wahrheit niemals abgelesen.“ 352 Heidegger, GA 9, S. 195. 353 Heidegger, GA 5, S. 49. 354 Vgl. Heidegger, GA 40, Einführung in die Metaphysik, S. 140.

Page 137: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

135

Heidegger im „Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“. Obwohl der Startpunkt für

Heideggers Überlegungen des Kunstwesens der ist, das ursprüngliche

Wahrheitsgeschehen, also die rätselhafte Sinnoffenheit in der Dynamik, ans Licht

kommen zu lassen, sind in seinem Kunstverständnis auch neue Perspektiven eröffnet,

die in der gegenwärtigen Kunstphilosophie bereits präsent sind, und die für die

gegenwärtigen Kunsttheorien fruchtbar gemacht werden können.

5.3.1 Die Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde und der geschehende

Sinnkontext

Im Ursprung des Kunstwerkes definiert Heidegger das Wesen der Kunst als

„Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“. In diesem Aufsatz legt er die Wahrheit als ein Streit

zwischen Welt und Erde aus, „in dem die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen,

die Wahrheit erstritten wird“355. Der Streit von Welt und Erde wird konkretisiert als

der Streit zwischen Entbergung und Verbergung. „Die Wahrheit richtet sich ins Werk.

Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der

Gegenwendigkeit von Welt und Erde.“356 Mit „Welt“ und „Erde“ sind hierbei nicht

zwei voneinander unabhängige Substanzen gemeint, vielmehr verwendet Heidegger

die Begriffe für die Entbergung und Verbergung des Selben, nämlich des Seienden im

Ganzen in der Dynamik. „In dem Streit wird die Einheit von Welt und Erde

erstritten.“357 Entbergung und Verbergung sind zusammengehörig und machen die

Entbergung-Verbergung-Dynamik des Seienden im Ganzen, des

Wahrheitsgeschehens aus.

Heidegger betrachtet einige Kunstwerke im Besonderen, um die sich entbergende

Welterschlossenheit aufzuzeigen. So zum Beispiel das Bild „Bäuerin-Schuhe“ von

Van Gogh, das Gedicht „Der römische Brunnen“ von C.F. Meyers und ein

355 Heidegger, GA 5, S. 42. 356 Ebd., S. 50. 357 Ebd., S. 51.

Page 138: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

136

altgriechischer Tempel. In Van Goghs Bild zeigen sich nach Heidegger nicht nur ein

paar gebrauchte Schuhe, sondern vielmehr die Lebenswelt einer Bäuerin. Mit dem

Öffnen der Welt einer Bäuerin eröffne sich gerade die Wahrheit der Schuhe im Werk.

Im Gedicht „Der römische Brunnen“ sogar wird überhaupt kein vorhandener Brunnen

beschrieben, sondern es wird geschildert, wie im Alltag das Wasser aus dem Brunnen

geholt wird. In dieser Schilderung erkennt Heidegger: „die Wahrheit ist ins Werk

gesetzt.“358 Beim griechischen Tempel schließlich „sieht“ Heidegger die Götterwelt

und „die Welt dieses geschichtlichen Volkes“ 359 des alten Griechenlands. Die

Wahrheit im Kunstwerk ist in Heideggers Interpretation keine Abbildung von Etwas,

keine Übereinstimmung von Bild und Abgebildetem, sondern das Vollzugsgeschehen

der Welt, das heißt des offenen Sinnkontextes, in dem das dargestellte Ding

verstanden wird und verständlich gemacht werden kann.

Der Sinnkontext im Geschehnis verweist eben auf die Sinnoffenheit in der Dynamik,

die als Wahrheit ins Kunstwerk gesetzt und in der performativen Darstellung des

Kunstwerkes erfahren wird. In Sein und Zeit fungierte die Welterschlossenheit als

Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden, die analytisch mit der

transzendentalen Zeitanalytik behandelt wird. Im Kunstwerkaufsatz wendet sich

Heidegger von der transzendentalen Darlegung der Erschlossenheit ab und der

Darstellung des inhaltlichen und phänomenalen Geschehens der Erschlossenheit

(Sinnoffenheit) zu, das als der Sinnkontext des Verstehens des Kunstwerkes zwar

über das Kunstwerk hinausgeht, jedoch mittels der Darstellung des Kunstwerkes

„gesehen“, das heißt phänomenal erfahren werden kann. Dieses phänomenale

Geschehen des Sinnkontextes macht eben das Wahrheitsgeschehen im Kunstwerk

aus.360

358 Heidegger, GA 5, S. 23. 359 Ebd., S. 28. 360 Es muss darauf hingewiesen werden, dass ein paar Begriffe in der Erläuterung, wie Erschlossenheit, Sinnkontext, Sinnvollzug, Sinngeschehnis usw. untereinander Ersatzbegriffe sind und das Selbe meinen, nämlich die rätselhafte (unbewusst erlebte) Sinnoffenheit in der Dynamik als das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen (in 1930er Jahre).

Page 139: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

137

In seiner Kunstauffassung zeigt Heidegger die Möglichkeit auf, die rätselhafte

Sinnoffenheit als den Sinnkontext des Kunstwerkes phänomenal zu erfahren.

Aufgrund dieser Kunstauffassung erkennt Gadamer die Möglichkeit einer Explikation

der Sinnoffenheit. Dies ist die Hermeneutik des Kunstwerkes. Heidegger nimmt

jedoch den hermeneutischen Zugang zur Sinnoffenheit nicht in Kauf. Er sucht nach

einer anderen Möglichkeit, um die Sinnoffenheit noch unmittelbarer sichtbar zu

machen. Durch seine Untersuchungen zur Kunsterfahrung etabliert Heidegger aber

auch einige Einsichten in das Kunstverständnis, die in der gegenwärtigen

Kunstphilosophie aufgegriffen werden. Von der bisherigen Darstellung her lässt sich

eine erste Einsicht aus dem Kunstverständnis Heideggers hervorheben: Das

Kunstwerk lässt etwas sehen, was sonst unsichtbar und unbewusst bliebe. Was im

Kunstwerk sichtbar wird, ist nicht nur die sinnliche Darstellung, sondern vielmehr das

über das Kunstwerk hinausgehende Geschehen des Sinnkontextes des Kunstwerkes,

in dem wir das Ding erfahren und verstehen. Insofern ist ein Kunstwerk primär als

Sinn zu verstehen (1). Von daher behauptet Heidegger, dass es in der Kunst nicht um

die Schönheitsästhetik gehe. Es gehe in der Kunst nicht um die Schönheitsästhetik,

sondern um die Möglichkeiten des menschlichen Lebens, die sich im nicht

erscheinenden Sinnkontext geschichtlich vollziehen und zu Ausdruck zu bringen sind.

Mit der Kunst, wie Günter Figal zusammenfasst, werden „in der innigen

Gegenwendung zum Verborgenen, Undurchdringlichen wesentliche Möglichkeiten

geschichtlichen Lebens ins Offene gestellt.“361

5.3.2 Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes – die anti–subjektive

Kunstverfassung

Für einige Interpreten ist Heideggers Auslegung der im Kunstwerk erlebten Wahrheit

problematisch, sofern sie nicht von der subjektiven Projektion eines Individuum zu

trennen sei.362 Heidegger selbst behauptet aber, dass die Wahrheit in der Kunst keine

361 GünterFigal,Kunst,2012,S.160-161. 362 In seinem Vorwurf an Heideggers Kunstverfassung hält der Kunsthistoriker Meyer Schapiro die

Page 140: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

138

subjektive Projektion sei.363 Daher stellt sich die Frage, in welchem Sinne sie keine

subjektive Projektion sei. Der nicht-subjektive Charakter der Wahrheit gründet im

Begriff der Erde.

Das phänomenale Geschehnis des Sinnkontextes erfasst sich bei Heidegger als Welt,

die innig mit der Erde zusammenhänge. Beides bezieht sich auf die

Entbergung-Verbergung-Dynamik des Wahrheitsgeschehens. Dabei merkt Heidegger

an, dass die Erde ursprünglicher als die Welt sei. „Die Welt gründet sich auf die Erde,

und Erde durchragt Welt.“364 Welt stehe uns offen, während die ursprünglichere Erde

uns aber verschlossen sei. Der Begriff der Erde mutet daher etwas mythisch und

gnostisch an. Worin besteht dann aber das Existenzrecht dieses Begriffs? Nach

Gadamer ist „die wichtige Einsicht, die Heideggers Kunstwerkaufsatz über den

Ursprung des Kunstwerks eröffnet, dass ‚Erde’ eine notwendige Seinsbestimmung

des Kunstwerks ist.“365 Der gleichen Ansicht ist auch Otto Pöggeler: „In diesem

Begriff der Erde verbirgt sich der entscheidende Schritt, den Heidegger auf seinem

Denkweg tat, als er sich auf die Kunst besann.“366

Erde ist der Begriff für die Verbergung und Verborgenheit des Seienden im Ganzen.

Wie zuvor aufgezeigt wurde, sei die Verborgenheit das Ursprünglichste, und der

Ursprung der Dynamik des Wahrheitsgeschehens. Gadamer interpretiert Erde als die

Verborgenheit auf die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes, und die „Wahrheit erlebte Welt, die in Heideggers Darstellung als die Wahrheit des im Kunstwerk dargestellten angesehen wird, eben für eine subjektive Projektion Heideggers. So sind etwa die Schuhe im Gemälde Van Goghs, die Heidegger als Bäuerinnenschuhe interpretiert wissen will, sind von Schapiro als Abbildung von Van Goghs eigenen Schuhen ausgewiesen. Vgl. Meyer Schapiro, The Still Life as a Personal Object - A Note on Heidegger and Van Gogh, in: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society, 1994, S. 138. Jacques Derrida weist darauf hin, dass Schapiro vom Standpunkt der traditionellen Übereinstimmungswahrheitslehre ausgehend Heideggers Wahrheitskonzeption missversteht. Die Wahrheit im Kunstwerk sei vielmehr als enthüllte Präsenz im Gegensatz zur Übereinstimmung vom Bild und Abgebildeten zu verstehen. Derrida klärt jedoch nicht auf, inwiefern die erlebte Wahrheit keine subjektive sei. Vgl. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien, S. 372. 363 Vgl. Heidegger, GA 5. S. 21. 364 Vgl. Ebd. S. 35. 365 Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Reclam Ausgabe, S. 106. 366 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 207. Jedoch bleibt Pöggelers Einsicht der entscheidenden Rolle der Erde bei der Einführung der Verborgenheit oder Unwahrheit in Heideggers Wahrheitslehre und geht nicht in Heideggers Kunstverständnis an sich hinein.

Page 141: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

139

(des Kunstwerkes) ist nicht das plane Offenliegenen von Sinn, sondern vielmehr die

Unergründlichkeit und Tiefe seines Sinnes.“367 Mit der Einführung des Begriffs der

Erde in der Darstellung der Wahrheit des Kunstwerkes erkennt er Heideggers

„Bestreben, die ontologische Struktur des Werkes unabhängig von der Subjektivität

seines Schöpfers und Betrachters zu verstehen“. 368 Das heißt die erlebte Wahrheit im

Kunstwerk ist nichts Subjektives, sondern entspringt als der geschehende Sinnkontext

in der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes, der unabhängig von Subjektivität ist.

Mit dem Einsatz des Begriffs der Erde, so Gadamer, vermeide Heidegger „jeden

Rückgriff auf den Geniebegriff der klassischen Ästhetik“369.

Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes ist nicht nur der Grund für den

nicht-subjektiven Charakter der Wahrheit, sondern sie fungiert auch als Quelle

künstlerischen Schaffens. Aus der Tiefe des Sinnes geht etwas Neues als Wahres

hervor.370 Das heißt, in der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes entspringt die

schöpferische Kraft der Kunst. In der Vorlesung vom Sommersemester 1935,

Einführung in die Metaphysik, bezeichnet Heidegger in einer metaphorischen Sprache

das Schaffen als das „Gewalttätige“, das „das Ungeschehene erzwingt und das

Ungeschaute erscheinen macht“371. Das Schaffen ist für Heidegger keine subjektive

Aktivität des Schöpfers, sondern das Erscheinen-machen des Sinnkontextes aus der

Tiefe des Sinnes, das universal, sowohl vom Schöpfer als auch vom Betrachter,

erfahren werden kann.

An dieser Stelle lässt sich Heideggers zweite Einsicht über das Kunstverständnis

abheben: Was wir im Kunstwerk erfahren ist nicht das Ergebnis einer subjektiven

Aktivität, sondern ist universal, da es sich aus der Tiefe des Sinnes als der

367 Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Reclam Ausgabe, S. 115. Ersichtlich ist, dass Gadamer die Konzeption der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes von Dilthey übernimmt und ihre Umsetzung in Heideggers Denken sieht. 368 Ebd., S. 111. 369 Ebd. 370 Vgl. Ebd., S. 117-118. 371 Heidgger, GA 40, S. 170. Vgl., S. 162.

Page 142: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

140

geschehende Sinnkontext in seinen Möglichkeiten speist. Das Hervorkommen des

Sinnkontextes aus der Tiefe des Sinnes manifestiert sich als künstlerisches Schaffen,

das im Kunstwerk zur Erscheinung oder Darstellung kommt. (2)

5.3.3 Die Verkörperung der Erde – Der Zusammenhang von Raum, Sinn und

Material

Die dritte Einsicht im Rahmen der Kunstauffassung Heideggers bezieht sich auf die

Verkörperung der Erde, in der Heidegger entscheidende Möglichkeit erkennt, das

Zum-Ausdruck-Bringen der rätselhaften Sinnoffenheit zu vollziehen. Heidegger

untersucht den Zusammenhang zwischen Kunstwerk und Material am Beispiel des

griechischen Tempels, und er zeigt auf, dass der Stoff des Zeuges bei seinem

Herstellen „gebraucht und verbraucht“ wird und in der Dienlichkeit verschwindet372,

während das Kunstwerk den Werkstoff nicht verschwinden, sondern gerade

hervorkommen lässt.

Das Tempel–Werk dagegen lässt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen und zwar im Offenen der Welt des Werkes: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dieses kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes. Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Sichzurückstellen hervorkommen lässt, nannten wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende.373

In Vergleich zum alltäglichen Gebrauchszeug, dessen Material in der Dienlichkeit

verschwindet, zeichne sich das Kunstwerk in seinem Werksein dadurch aus, dass alle

seine sinnlichen Elemente eigens in Erscheinung treten, den geschehenden

Sinnkontext tragen, und zusammen mit diesem Sinnkontext das Erscheinungsmilieu,

also „die hervorkommende Erde“, konstituieren. Das Erscheinungsmilieu ist die

Verkörperung des Sinnkontextes, das heißt die Sinnoffenheit, und lässt sich nicht als 372 Heidegger, GA 5, S. 32. 373 Ebd.

Page 143: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

141

festbestimmte Substanz verstehen, sondern bleibt als Verkörperung der Sinnoffenheit

immer offen im dynamischen Sinnvollzug.

Das Erscheinungsmilieu charakterisiert auch die spezifisch räumliche Natur des

Kunstwerkes. Die konstitutiven materialen Elemente des Kunstwerkes, sowohl des

zweidimensionalen als auch des plastischen Kunstwerkes, die sich als Unterbau des

Sinngeschehens in der Kunsterfahrung herausbilden, erscheinen nicht in irgendeinem

gegebenen Raum, sondern machen selbst den Raum ihres Erscheinens aus. Wie Ilya

Inishev in ihrer Interpretation darlegt, gestattet die Zusammengehörigkeit von

sinnlichen Elementen und des sinnhaft Erfahrenen im Kunstwerk „es nicht mehr,

zwischen dem Erscheinungsraum und Erscheinungsobjekt zu unterscheiden, oder das

Bildliche von der es verkörpernden Materialität zu separieren.“374 Obwohl Ilya

Inishev die Kunstverfassung bei Heidegger vor allem am Beispiel des

zweidimensionalen Bildes interpretiert, wird durch das Beispiel des griechischen

Tempels doch klar, dass seine eigentümliche Kunstverfassung auch auf

dreidimensionale Kunstformen zu übertragen ist.

So ergibt sich Heideggers dritte Einsicht in die Kunstverfassung: Das, was wir primär

im Kunstwerk erfahren, nämlich der geschehene Sinnkontext, kommt mit dem

sinnlichen Material des Kunstwerkes in Erscheinung und konstituiert sich mit ihm

zum Erscheinungsmilieu, das auch den Raum des Kunstwerkes ausmacht. (3) In

dieser Einsicht erkennt Heidegger die ausgezeichnete Möglichkeit, die rätselhafte

Sinnoffenheit zum Ausdruck zu, mit anderen Worten, diese zum Sehen zu bringen.

Das Zum-Ausdruck-bringen ist keine begriffliche Explikation, sondern das direkte

Sichtbar-machen der Sinnoffenheit mittels der Materialität des Kunstwerkes. Es ist

die Verkörperung der Sinnoffenheit.

374 Ilya Inishev, Heideggers Philosophie der Kunst im Lichte gegenwärtiger Ästhetik und Bildtheorie, in: Phainomena, Journal of Phenomenology and Hermeneutics. 2013. Vol. 22. No. 84-85. S. 212.

Page 144: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

142

Bemerkenswert ist jedoch, dass das Sichtbar-machen der Sinnoffenheit in der

Verkörperung des Kunstwerkes keine begriffliche Explikation durch irgendeine

Methode, sondern selbst schon die Kunsterfahrung an sich ist. Insofern stellt sich die

Frage, wie man die die Sinnoffenheit verkörpernde Kunsterfahrung explizieren kann,

ohne sich an die Hermeneutik zu wenden, und ob es überhaupt möglich ist, die

Sinnoffenheit begrifflich zu vermitteln. Diese Fragen verweisen aber auf die

Untersuchungen des Ereignisses beim späten Heidegger. Darauf wird in dieser Arbeit

nicht mehr einzugehen sein.

In Heideggers Überlegungen zum Wesen der Kunst, die er in der ersten Mitte der

1930er Jahren mit dem Kunstwerkaufsatz entfaltet, lassen sich seine Bemühungen

entdecken, in der Kunsterfahrung die Möglichkeit des Zum-Ausdruck-Bringens der

Sinnoffenheit freizulegen. Obwohl am Ende immer noch offen bleibt, wie die

Sinnoffenheit zur begrifflichen Explikation gebracht werden kann, eröffnen

Heideggers Kunstauffassungen doch neue Perspektiven, um Kunst zu verstehen.

Diese Perspektiven sind in der gegenwärtigen Kunstphilosophie bereits präsent und

können weiter fruchtbar gemacht werden.

5.3.4 Präsenz von Heideggers Kunstverfassung in der gegenwärtigen

Kunstphilosophie

Da es unmöglich ist, in dieser Arbeit eine umfangreiche Darstellung der

gegenwärtigen Ästhetik und Kunsttheorie vorzulegen, hat die folgende Erläuterung

nur die Aufgabe, einen kurzen Blick auf die der Kunstauffassung Heideggers

entsprechenden Kunstdefinitionen in der gegenwärtigen Kunstphilosophie zu werfen.

Dabei wird vor allem die Philosophie von Arthur C. Danto und Dennis J. Schmidt

näher betrachtet.

Arthur C. Danto, einer der bekanntesten amerikanischen Kunstphilosophen und

Kunsthistoriker, legt in seinem Buch Was Kunst ist eine sorgfältige Untersuchung der

Page 145: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

143

modernen Kunstentwicklung vor, insbesondere im Bereich der Malerei, und er

versucht darin, den Begriff der Kunst erneut zu definieren, da er feststellt, dass die

Kunst und das Kunstverstehen seit dem späten 19. Jahrhundert eine grundlegende

Transformation erlebt hat, und uns heute vermehrt mit der Frage konfrontiert: Ist das

Ding vor meinen Augen wirklich ein Kunstwerk? Vor diesem Hintergrund bestimmt

Danto sein Projekt, eine neue Definition der Kunst auszuarbeiten, als eine Ontologie

der Kunst in Abgrenzung von einer Epistemologie der Kunst. Die Kunstontologie

behandle die Fragestellung, was Kunst ist, während es in der Kunstepistemologie um

die Frage gehe, wie man ein Kunstwerk erkennt. Die epistemologische Fragestellung

abstrahiert also gerade von der Frage, mit der wir uns immer wieder konfrontiert

sehen, ob das Ding vor meinen Augen wirklich ein Kunstwerk sei. Danto meint, dass

das, was sich hinter dieser Frage verbirgt, unsere Verwirrung über das Kunstsein sei.

Eine Verwirrung, die sich ergibt, wenn unsere Kunstauffassung sich unbewaffnet, das

heißt ohne über eine der Kunst der Moderne375 angepassten Kunstontologie zu

verfügen, den Herausforderungen der künstlerischen Entwicklung seit dem späten 19.

Jahrhundert ausgesetzt sieht. Daher müssen wir die Kunst, strenger genommen, das

Kunstsein, erneut in den Blick nehmen, und eine neue Kunstontologie in

Entsprechung der Kunst der Moderne erarbeiten. Dantos entwirft jene neue

Kunstontologie jedoch nicht nur umwillen einer Anpassung an die moderne Kunst,

sondern vielmehr auch, um ein neues Verstehen des Kunstseins an sich zu entfalten.

Zu Beginn seines Buches stellt Danto das Gedicht „Der Man mit blauer Gitarre“ von

Wallace Stevens vor und deutet an, dass Kunst etwas ist, das über uns hinausgeht,

jedoch noch unser selbst ist und davon motiviert ist, das Ding, wie es selbst ist, zu

zeigen.376 Danto führt in seinem Buch drei Kriterien für das Kunstsein der modernen

375 In der vorliegenden Erläuterung wird der Begriff der “Kunst der Moderne” in Abgrenzung von der “modernen Kunst”, die meistens die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts bezeichnet, verwendet. Die Kunst der Moderne ist eher der Oberbegriff für alle künstlerischen Entwicklungen seit zirka 1870. 376 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, New Haven/London, 2013. S. 10. Der Volltext des Gedichtes: „ ‚You have a blue guitar, You do not play things as they are.’ The man replied, ‚Things as they are, are changed upon the blue guitar.’ And they said then, ‚But play, you must, a tune beyond us, yet ourselves, a tune upon the blue guitar of things exactly as they are.’ “

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144

Kunst ein: das erste ist der Sinn (meaning), der „über uns hinausgeht, jedoch noch

unser selbst ist“; das zweite ist die Verkörperung (Embodiment), die den Sinn mit

dem materialen Kunstwerk verbindet und ihn damit erscheinen lässt; die dritte ist,

etwas poetisch ausgedrückt, „der wache Traum“, „das schöpferische Prinzip“377, das

unabhängig von der individuellen Subjektivität das künstlerische Schaffen ins

Kunstwerk bringt.378 Hier lässt sich sogleich die zuvor erläuterte zweite Einsicht aus

der Kunstauffassung Heideggers Kriterium Dantos wieder auffinden. Wegen seiner

Unklarheit und wegen der Nähe zu Hegels erhabener Ästhetik ist die Erklärungskraft

dieses dritten Kriteriums für die Kunst der Moderne weithin umstritten. Daher

beschränken wir uns im Folgenden auf die ersten zwei Kriterien des Kunstseins: Der

Sinn und die Verkörperung, die heutzutage weithin akzeptiert sind.

Danto bemerkt, dass der Sinn und die Verkörperung als Kriterien des Kunstseins

untrennbar verknüpft sind. Daher spricht er auch immer wieder vom „verkörperten

Sinn“. „Die Verkörperung der Ideen oder, ich werde eher sagen, des Sinns ist wohl

alles was wir als philosophische Theorie darüber, was Kunst ist, benötigen.“379 Um

seinen Standpunkt zu verstärken, zitiert er Kirk Varnedoe, „Wir sind Sinnmacher,

nicht nur Bildmacher. Es ist nicht nur, dass wir die Bilder erkennen ... es ist

(vielmehr), dass wir so eingerichtet sind, aus den Dingen den Sinn herauszuholen, und

wir lernen voneinander, wie das geht.“380 Mit dem Kriterium des Kunstseins als des

verkörperten Sinns schlägt Danto vor, unseren Fokus von dem im Kunstwerk bloß

sinnlich Dargestellten auf den verkörperten Sinn des Kunstwerkes, sowie auf seine 377 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, S. 15. 378 Micheal Kelly verweist, bezugnehmend auf das von Danto zitierte Gedicht von Wallance Stevens, in seiner Rezension darauf, dass „der wache Traum“ als „das schöpferische Prinzip“ verstanden werden solle, das der „blauen Gitarre“ die Kraft verleiht, den universal kommunizierten Sinn, der „über uns hinaus, jedoch uns selbst“ ist, hervorzubringen und ihm die Form und Verkörperung gibt, somit die Kunst ermächtigt, „das Ding wie es selbst ist“, zu zeigen. Vgl. Micheal Kelly, Book Review of Was Art is, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 72:2, 2014, S. 201. 379 Arthur C. Danto, What art is, S. 128. Danto schreibt: “The embodiment of ideas or, I would say, of meanings is perhaps all we require as a philosophical theory of what art is. But doing the criticism that consists in finding the way the idea is embodied varies from work to work.” An dieser Stelle impliziert Danto die Offenheit des verkörperten Sinnes, die den Spielraum für Interpretationen öffnet. 380 Ebd., S. 129. Danto gibt an, dass Kirk Varnedoe, der einflussreiche amerikanische Kunsthistoriker, in seiner Vorlesung Bild des Nichts für die Verteidigung der abstrakten Kunst diese Behauptung macht, aber die Quelle des zitierten Satzes von Kirk Varnedoe ist unbekannt und wird nicht bei Danto angegeben.

Page 147: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

145

narrative Struktur, zu verschieben. Er nimmt als Beispiel die Restaurierung der

Wandmalerei Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle (in den 1990er Jahren). Die

Anwesenden machten sich oft Sorgen, dass die Farbe des großen Werkes bei der

Restaurierung verändert würde. Danto deutet an, dass diese Sorge nur mit dem

Geschmack zu tun habe und die Restauration zu keinem Sinn-Verlust des großen

Werkes führe, sobald der Restaurateur versteht, was das Werk Michelangelos

bedeutet, das heißt welche Geschichte es mitteilt.381

Konfrontiert mit der Frage nach dem Kunstsein, die sich aus den Herausforderungen

der Entwicklung der modernen Kunst seit dem 19. Jahrhundert ergibt, kommt Danto

in seiner Ontologie der Kunst zu der Einsicht, dass die Definition der Kunst sich vom

traditionellen Kriterium der Schönheit abwenden muss. „Kunst kann überhaupt nicht

schön sein. Schönheit war ein Wert, der zum 18. Jahrhundert gehörte.“382 An dieser

Stelle bringt er seine Bewunderung Heideggers zum Ausdruck, und er weist darauf

hin, dass dieser es war, der als erster versuchte, die Ästhetik von der traditionellen

Verbindung mit der Schönheit zu befreien. Als Ersatz des Kriteriums der Schönheit

für das Kunstsein definiert Danto in Annäherung an Heideggers Kunstauffassung das

Kunstseins mittels der Kriterien des Sinns und der Verkörperung. Mit der Einführung

dieser beiden Kriterien von Sinn und Verkörperung in der Ontologie der Kunst, macht

sich Danto, wie er selbst behauptet, dafür stark, die Kunst mit dem Verstehen

zusammenzubringen, und zwar dem Verstehen dessen, was möglich und was

eigentlich ist. Mit dieser Behauptung verweist Danto auf den hermeneutischen

Zugang zum Kunstwerk und verteidigt die Kunst der Moderne, indem er aufzeigt,

dass diese, trotz des Fehlens von Schönheit, in sich die Kraft des Sinnes und die

Möglichkeit der Wahrheit hat, die durch die Interpretation ins Spiel gebracht wird.383

381 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, S. 57-73. 382 Ebd., S. 155. 383 Vgl. Ebd., S. 154-155. Danto schreibt: “My sense, in bringing to art the double criteria of meaning and embodiment, ist to bring to art a connection with cognizance: to what is possible and, to the faithful, to the actual. [...] Much of contemporary art is hardly aesthetic at all, but it has in its stead the power of meaning and the possibility of truth, and depends upon the interpretation that brings these into play.“

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An Dantos Einsatz für ein neues Verständnis des Kunstseins, das sich von der

traditionellen Kunstdefinition dadurch abgrenze, dass es das Wesen der Kunst als

Verkörperung des Sinnes bestimmt und den hermeneutischen Zugang zur im

Kunstwerk verkörperten Sinnoffenheit als den Zugang zum Kunstwerk ansetzt, knüpft

auch Dennis J. Schmidt teilweise an. In seinem Werk Between Word and Image

versucht Schmidt aus einem mehr philosophisch geprägten Blickwinkel die Richtung

der gegenwärtigen Kunstphilosophie in Anpassung an die moderne Kunstentwicklung

aufzuzeigen, und im Lichte von Heideggers und Gadamers Kunstauffassung die

Kunst mit unserem Lebensverständnis zusammenzubringen.

Dennis J. Schmidt verankert seine Erschließung der Kunstauffassung vor allem im

Bereich der Malerei, und er sieht, dass sich die Kunst der Moderne dem verweigert,

die objektive Realität zu imitieren und dem Kriterium der Schönheit zu folgen.

Gerade darin lasse sich Kunst erneut verstehen. Schmidts Suche nach einem neuen

Verständnis des Kunstseins entfaltet sich in seiner Untersuchung über Heideggers

Beschäftigung mit der Malerei von Paul Klee. Inspiriert von dessen Bemühen, die

Verkörperung des Sinnvollzugs des Lebens in der Kunst der Moderne vor allem in

Paul Klees Malerei aufzufinden, kommt Schmidt zu der Einsicht, dass das Kunstsein

nicht darin liege, die Welt und die Dinge in ästhetisch schöner Weise abzubilden,

sondern darin, das genetische Geschehen unseres Lebens in der Welt aufzuzeigen.384

Im Kunstwerk, womit hier die Malerei gemeint ist, sehe man „die Genesis selbst,

nicht das ‚Endergebnis’ der Genesis, nicht das Ding der Welt.“ Die Genesis sei „die

Bewegung des Lebens selbst“385. Bild ist „das Sein des Werden, der unendlichen

Genesis, [...] der Geburt“,386 und macht als die Verkörperung des Sinnvollzugs diese

Genesis sichtbar.

384 Vgl. Dennis J. Schmidt, Between Word and Image, Heidegger, Klee and Gadamer on Gesture and Genesis, Indiana University Press, 2013, S. 131. 385 Ebd., S. 92 386 Ebd.

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Obwohl Heidegger seine Beschäftigung mit der westlichen Malerei bereits in den

1960er Jahren beendet, argumentiert Dennis J. Schmidt in der Folge von Gadamer,

dass die Möglichkeit des Sichtbarmachens der Genesis des Lebensverstehens immer

noch in der Malerei, in der sie verkörpert ist, zu finden ist, und zwar im

hermeneutischen Zugang.

Die Malerei ist bei Heidegger aber nicht die einzige Kunstform, die die genetische

Sinnoffenheit, also das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen verkörpert. 387 Auch

wendet sich der späte Heidegger nicht an die Hermeneutik für das

Zum-Ausdruck-Bringen der Sinnoffenheit, sondern beschäftigt sich mit der

Kunst-Raum-Thematik. Ein kurzer Einblick in seine Beschäftigung mit dieser

Thematik soll hier dem Ausblick auf die weitere Forschungsarbeit dienen.

5.4 Ausblick: Kunst, Raum und Ort Zu Heideggers Hinwendung zur Kunst-Raum-Thematik388 ist zunächst zu bemerken,

dass es sich hierbei nicht um traditionelle Vorstellungen des Raumes im Sinne einer

„dreidimensionalen Ausdehnung“ handelt, die bei „allen Unterschieden im

griechischen und neuzeitlichen Denken“ stets mit der Bedeutung von extensio und mit

der Vorstellung des Körpers verbunden ist.389 Heideggers Raum dagegen ist durch

das Geschehnis charakterisiert. Raum verweist hier auf das Räumen oder Einräumen.

„Indem ein Werk Werk ist, räumt es jene Geräumigkeit ein. Einräumen bedeutet hier

387 In der Tat hat Heidegger nach der Begegnung mit dem Japanischen Zen-Meister Hoseki Shin’ichi Hisamatsu im Jahr 1958 seine Beschäftigung mit der westlichen Malerei der Moderne beendet, da er unter dem Einfluss des Zen-Meisters festlegt, dass die westliche Malerei der Moderne einerseits sich noch nicht von metaphysischen Hypothesen (wie zum Beispiel der Verbindung an Form) befreit und andererseits auch zur Technologisierung der modernen Zeit gehört, daher nicht imstande ist, die reine freie Genesis des Sinnes sichtbar zu machen. 388 Zu Heideggers späten Schriften zur Kunst-Raum-Thematik gehören zum Beispiel: Die Kunst und der Raum (1969), Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum (1964), Bauen Wohnen Denken (1951). Heideggers Berührung der Raum-Thematik beginnt aber bereits in Sein und Zeit (§22-§24). 389 Heidegger, Bemerkungen zu Kunst-Plastik-Raum, 1996, S. 11. An dieser Stelle kritisiert Heidegger Kants Auffassung des Raums: „Diesen immer noch vom physikalischen Körper her gesehenen Raum deutet dann Kant als eine Weise, wie sich der Mensch - als das für sich seiende Subjekt – die ihm affizierenden Gegenstände im Vorhinein vorstellt. Der Raum wird zur reinen Form des Anschauens, die allen Vorstellungen von sinnlich gegebenen Gegenständen voraufgeht. Der Raum [...] ist eine subjektive Form des Anschauens der menschlichen Subjektivität“. Ebd.

Page 150: Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren

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zumal: Freigeben das Freie des Offenen“.390 Im Kunstwerk erblickt Heidegger ein

ausgezeichnetes Beispiel für das Phänomen des Einräumens des geschehenden

Raumes.

Im Phänomen des geschehenden Raumes erkennt er eine ausgezeichnete Möglichkeit

der Verkörperung des Wahrheitsgeschehens, die sich als Erscheinungsmilieu des

genetischen Sinnkontextes unseres Verstehens im Einräumen vollzieht. In seiner

Schrift Die Kunst und der Raum (1969), die er Eduardo Chillida widmete,

unterstreicht Heidegger den dynamischen Geschehnischarakter des Raumes bzw. des

„künstlerischen Raumes“391 in Abgrenzung von den überlieferten Vorstellungen

eines statischen Raumes. „Im Räumen spricht und verbirgt sich zugleich ein

Geschehen“. 392 In Chillidas Kunst zeige sich in ausgezeichneter Weise die

Verkörperung des Wahrheitsgeschehens, mit anderen Worten: die Genesis des Sinnes

im Räumen der Skulpturen. Wie Wolfgang Ullrich darstellt, wird in Chillidas

plastischer Kunst das Phänomen des Räumens hervorgehoben, indem „die Skulpturen

die ‚Form’ der Räume zwischen ihren Elementen mit (berücksichtigen), ... von den

Zwischenräumen her aufgebaut (sind), die sich ihrerseits ineinander verschlingen oder

gegeneinander stellen können.“393 Gerade in den Zwischenräumen, den vermeintlich

unbedeutenden Zonen der Skulptur, den Leerstellen, erwächst „ein gestalterisches

Potenzial“, das sich als Räumen, als prozessuales Raumverstehen hervorbringt und

den künstlerischen Raum geschehen lässt, so Elisabeth Körfer. 394 Aber was

konstituiert sich in diesen Zwischenräumen, in den Leerstellen der Skulpturen?

Chilida selbst bemerkt Petzet gegenüber: „Nicht die Form ist es, auf die es mir

ankommt, sondern die Beziehung der Formen untereinander – das Verhältnis, das

zwischen ihnen entsteht.“395 Die Verhältnisse zwischen Elementen der Skulpturen an

390 Heidegger, GA 5, S. 31. 391 Heidegger, Die Kunst und der Raum, in: GA 13, S. 204. 392 Ebd., S. 207. 393 Wolfgang Ullrich, Der Garten der Wildnis. Zu Martin Heideggers Ereignis-Denken, München, 1996, S. 230. 394 Vgl. Elisabeth Körfer, Abwesen entbirgt Anwesen, Bonn, 2008, S. 262.395 Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnung mit Martin Heidegger 1929 bis 1976, Frankfurt,1983, S. 165.

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den Leerstellen konstituieren sich im genetischen Sinnkontext der Skulpturen, der als

gestalterisches Potenzial oder schöpferische Kraft die Offenheit der Möglichkeit der

Gestaltung des Kunstwerkes öffnet und sich in der Gestaltung genetisch verkörpern

lässt. Dieses Verkörperungsgeschehnis lässt sich bei Heidegger eben als das

Phänomen des Räumens im Kunstwerk verstehen.396

Aus der Perspektive Heideggers weist Dieter Jähnig darauf hin, dass Chilidas

Raumerfassung sich von der klassischen und neuzeitlichen Raumvorstellung dadurch

unterscheide, dass sich sein Raum „nur im Sehen und Hören des Menschen ‚bildet’.

Der Raum der Kunst ist Topos, Ortschaft.“397 In dieser Zusammenfassung hebt

Jähnig einen wichtigen Aspekt in Heideggers Kunst-Raum-Thematik heraus, nämlich

das Mitmachen des Menschen im Räumen oder im Raumgeschehnis, strenger

genommen, die Räumlichkeit des Menschen. Nicht nur der Raum der Kunst ist Topos,

sondern der ursprüngliche Raum des Menschen ist ebenfalls Topos. Hier wird eine

weitere Perspektive einer Erforschung der Verkörperung oder des Sichtbarmachens

der Sinnoffenheit bei Heidegger sichtbar, nämlich die Topologie, deren zentraler

Begriff der „Ort“ ist.

Bereits in Sein und Zeit deutet Heidegger darauf hin, dass Dasein „in einem

ursprünglichen Sinne räumlich“398 sei. In der Schrift Die Kunst und der Raum stellt

Heidegger das Verhältnis von Raum und Ort nun so dar, dass das Räumen „in sein

Eigenes gedacht, Freigabe von Orten“ 399 sei. Im Kunstwerkaufsatz heißt es:

396 In einer Beschreibung Elisabeth Körfers über Chillidas Skulptur Autour du vide (1968) tritt das Phänomen des dynamischen Räumens des Kunstwerkes vivid vor Augen. „Die mehrfach miteinander verstrebten Quader scheinen um einen leeren Innerraum zu kreisen während die Räume bzw. die Gänge und Schächte zwischen den kubischen Formen sich selbst wiederum ineinander verschlingen und sich geradezu bedrohlich gegeneinander zu stellen. Da die schweren Eisenstücke jedoch nur mit ihren Ecken oder Kanten und nicht mit ihren breiten Flächen auf dem Untergrund, diesen kaum berührend, aufruhen, wirkt die Gesamtplastik doch leicht, schwebend, der Gravitation fast enthoben. Diesen Eindruck verstärkt noch das Lichtspiel auf den glatten Eisenoberflächen, in denen sich je nach Tageszeit die Lichtverhältnisse spiegeln und mit ihren Hell-Dunkel-Effekten die Dynamik des Werkes steigern. “Körfer, 2008, S. 263. 397 Dieter Jähnig, Die Kunst und der Raum, in: Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen, 1977, S. 133. 398 Heidegger, GA 2, S.149. 399 Heidegger, GA 13, S. 206.

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„Einräumen bedeutet hier zumal: Freigeben das Freie des Offenen“.400 Der Vergleich

legt nahe, dass der Ort bei Heidegger das Offene bezeichnet. Was ist dieses Offene?

Es ist der sich in der Offenheit dynamisch vollziehende Sinnkontext, mit anderen

Worten: die genetische Sinnoffenheit, in dem das Ding ursprünglich verstanden wird.

Das heißt, der Ort ist die in der Lebenswelt verkörperte Sinnoffenheit, die zum

Menschen gehört.401

„Der Ort öffnet jeweils eine Gegend, indem er die Dinge auf das Zusammengehören

in ihr versammelt.“402 Der Terminus Gegend ist in Sein und Zeit als das „Wohin des

möglichen zeughaften Hingehörens“ 403 von Seiendem, nämlich den Dingen,

ausgelegt und lässt sich von der Bewandtnisganzheit des Dinges, den weltmäßigen

Verhältnissen des Dinges her verstehen, die im Erschließungsvollzug, das heißt in der

Welterschlossenheit des Daseins gründen. Den Sinn der Welterschlossenheit trägt

gerade der Ort als die Sinnoffenheit. Aber im Unterschied zu Sein und Zeit versucht

Heidegger im Topologie-Denken die Erschlossenheit als den genetischen Sinnkontext

sichtbar zu machen, das heißt ihn zu verkörpern, statt ihn als transzendentale

Welterschlossenheit analytisch darzulegen.404

Die hier skizzierte Erläuterung ist keine vollständige Argumentation und hebt nur

einige wenige Aspekte der Kunst-Raum-Thematik sowie des Topologie-Denkens bei

Heidegger heraus. Sie hat einzig zur Aufgabe, einen kurzen Ausblick darauf zu geben,

wie diese beiden Momente beim späten Heidegger als Weiterentwicklung der

Thematik des Zum-Ausdruck-Bringens der Sinnoffenheit in den gegenwärtigen

philosophischen Forschungen sowie in der Kunsttheorie fruchtbar gemacht werden 400 Heidegger, GA 5, S. 31. 401 Heideggers Raum-Thematik hat ihre Basis in Sein und Zeit. Der Ort als der zentrale Begriff in der spät erfolgten Raum-Thematik oder Topologie wird in Sein und Zeit eher als der Raum dargestellt. Dort nimmt Heidegger den Raum als den Raum des Daseins an. “Der Raum ist vielmehr in der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“ Heidegger, GA 2, S. 149. 402 Heidegger, GA 13, S. 207.403 Heidegger, GA 2, 137. 404 Mit dem Topologie-Denken ist die Möglichkeit wiedergewonnen, das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen im menschlichen Umgang mit der Welt darzustellen, statt es nur in der Dichtung und Kunst zu suchen.

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können. Vorbilder dafür finden sich in den Untersuchungen von Andrew J. Mitchell

und Jeff Malpas, die beide gründlich auf Heideggers Kunst-Raum-Thematik und das

Topologie-Denken eingehen und das Potenzial aufzeigen, das in einer Interpretation

dieses Denkens umwillen der Entwicklung der gegenwärtigen Kunst- und

Architekturtheorie, sowie auch der philosophischen Forschung über die Menschen

und die Welt, verborgen ist.405

Fazit:

Die Aufgabe der Arbeit bestand darin, darzustellen, wie die Thematik des

Lebensvollzuges, die in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen sich zu formen

beginnt, sich im Verlauf vom KNS-Semester über Sein und Zeit und bis zu seinem

späten Denken kontinuierlich entwickelt. In den Freiburger Anfängen versucht

Heidegger noch, sich der Thematik durch die phänomenologische Destruktion auf den

rätselhaften Lebensvollzug, der als unbewusst erlebte Offenheit der

Verstehensmöglichkeit in der Vollzugsdynamik ausgelegt wird, anzunähern. Über die

Rekonstruktion von Sein und Zeit ließ sich feststellen, dass die Thematik des

Lebensvollzugs, trotz des programmatischen Wandels von einer

Ursprungswissenschaft der Freiburger Anfänge zum ontologischen Projekt der

Marburger Vorlesungen, noch immer einen zentrales Moment in Heideggers Denken

bleibt, sich aber auch nicht weiter zu entwickeln vermag, da die paradigmatische und

transzendentale Konstruktion die Erschließung der Sinnoffenheit verwehrt. In den

Jahren nach Sein und Zeit löst sich Heidegger vom

transzendental-phänomenologischen Standpunkt, und er sucht nun nach der

Möglichkeit des Zum-Ausdruck-Bringen der Sinnoffenheit in der Dichtung und der

Kunst. Das Kunstwerk impliziert nun für Heidegger die Verkörperung der sich

vollziehenden Sinnoffenheit, und sie bringt die rätselhafte Sinngenesis mittels der

405 Werke der beiden Autoren bezüglich Heidegger sind zum Beispiel, Andrew J. Mitchell, Heidegger Among the Sculptors, Standford, 2010; Jeff Malpas, Heidegger´s Topology, Cambridge, 2006; Jeff Malpas, Heidegger und the Thinking of Place, Cambridge, 2012.

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Materialität des Kunstwerkes zur Erscheinung, das heißt, sie macht die dynamische

und nicht objektivierbare Sinnoffenheit sichtbar. Jedoch bleibt die Frage noch offen,

wie die Verkörperung der Sinnoffenheit im Kunstwerk weiter, durch die

philosophische Auseinandersetzung, zur begrifflichen Explikation gebracht werden

kann.

In wieweit Heidegger mit dem Kunstthema auf eine neue Kunstphilosophie abzielt, ist

umstritten.406 Aber zweifelsohne vermag seine eigentümliche Kunstauffassung als

ein Vorbild für eine gegenwärtige Kunstphilosophie zu dienen, die sich von der

traditionellen Ästhetik zu trennen bemüht. Die späten Heideggerschen

Untersuchungen zur Verkörperung der Sinnoffenheit erweitern sich in der

Kunst-Raum-Thematik und im Topologie-Denken und eröffnen einen noch nicht

erschöpften Spielraum für die Entwicklung der Heidegger-Interpretationen, sowie der

Interaktion zwischen Heideggers Denken und der gegenwärtigen Kunsttheorie.

406 Joseph J. Kockelmans ist der Ansicht, dass Heidegger mit der Kunstuntersuchung auf eine neue Kunstphilosophie abziehlt. Vgl. Kockelmans, Heidegger on Art and Art Works, Dortrecht, 1985, S. 125-132. In Vergleich dazu meint Otto Pöggeler eher zurückhaltend, dass Heideggers Kunstuntersuchung zu seinem anständigen Kampf gegen die westliche Metaphysik seit Platons Ideenlehre gehört. Vgl. Otto Pöggeler, Bild und Technik, München, 2002, S. 73-93.

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Literatur

Werke von Heidegger Heidegger, GA 5, Holzwege, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 1977. Heidegger, GA 7, Vorträge und Aufsätze, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 2000. Heidegger, GA 9, Wegmarken, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 1976. Heidegger, GA 13. Aus der Erfahrung des Denkens, Herrmann Heidegger (Hrsg.), 2002 Heidegger, GA 17, Einführung in die Phänomenologische Untersuchung, Friedrich - Wilhelm. von Herrmann (Hrsg.), 1994. Heidegger, GA 20, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, Petra Jaeger (Hrsg.), 1979. Heidegger, GA 24, Die Grundprobleme der Phänomenologie, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 1975. Heidegger, GA 40, Einführung in die Metaphysik, Petra Jaeger (Hrsg.), 1983. Heidegger, GA 56/57, Zur Bestimmung der Philosophie, Bernd Heimbüchel (Hrsg.), 1987. Heidegger, GA 58, Grundprobleme der Phänomenologie, Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), 1992. Heidegger, GA 59, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung, Claudius Strube (Hrsg.), 1993. Heidegger, GA 63, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität, Käte-Bröcker Oltmanns (Hrsg.), 1988. Heidegger, GA 60, Phänomenologie des religiösen Lebens, Matthias Jung, Thomas Regehly, Claudius Strube (Hrsg.), 1995. Heidegger, GA 61, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Walter Bröcker und Käte-Bröcker Oltmanns (Hrsg.), 1985.

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154

Heidegger, GA 65, Beiträge zur Philosophie, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 1989. Heidegger, GA 64, Der Begriff der Zeit, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hrsg.), 2004. Heidegger, Bemerkungen zu Kunst - Plastik - Raum,Hermann Heidegger (Hrsg.), St. Gallen, 1996. Werke von Husserl III/1, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Karl Schuhmann (Hrsg.). Nachdruck. 1976. VIII, Erster Philosophie (1923/1924), Zweiter Teil, Rudolf Boehm, (Hrsg.), 1959. XV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dirtter Teil: 1928-1935, Iso Kern (Hrsg.), 1973. XVIII, Logische Untersuchungen: Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik, Elmar Holenstein (Hrsg.) 1957. XIX/1, Logische Untersuchungen: Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Erster Teil, Ursula Panzer (Hrsg.), 1984. XXV, Aufsätze und Vorträge (1911-1921), Thomas Nenon (Hrsg.), 1987 Werke von Dilthey I: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band, Bernhard Groethuysen (Hrsg.),1914. V: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Georg Misch (Hrsg.), 1924. VI: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte: Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Pädagogik, Georg Misch (Hrsg.), 1924.

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VII: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Bernhard Groethuysen (Hrsg.), 1927. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Bernhard Groethuysen (Hrsg.), 1931. XI: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewusstseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen, Erich Weniger (Hrsg.), 1936. XXVI: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin, Gabriele Malsch (Hrsg.), 2005. Konsultierte Forschungsliteratur Andrew J. Mitchell, Heidegger Among the Sculptors, Standford, 2010. Andere Le Moli, Von der Phänomenologie des Lebens zur Ontologie der Geschichte, in: Perspektiven der Philosophie: Neues Jahrbuch, 2012, Vol. 38, 363-385. Arthur C. Danto, What art is, London, 2013. Borislav Mikulić, Sein, Physis, Aletheia. Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im 'ursprünglichen' Seinsdenken Martin Heideggers, Würzburg, 1987. Burt C. Hopkins, Intentionality in Husserl and Heidegger: the problem of the original method and phenomenon of phenomenology, Dordrecht, 1993. Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1985. Carl Friedrich Gethmann, Verstehen und Auslegung-Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn, 1974. - Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit, in: Dilthey-Jahrbuch 4, (1986-1987) John D. Caputo, The Question of Being and Transcendental Phenomenology: reflections on Heidegger´s Relationship to Husserl, in: Research in Phenomenology 7, 1977, 84-105. Charles R. Bambach, Phenomenological Research as Destruction: The Early Heidegger's Reading of Dilthey, in: Philosophy Today, vol. 37, no. 2. 1993, 115-132.

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