Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose...

85
Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung Das Spektrum der Religionen Quelle: http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.html Manfred Kremser und Veronica Futterknecht Institut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien Kapitelübersicht 1 Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St. Lucia / Karibik 1.1 Christliche Konfessionen 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1 "ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben" 1.4.2 Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie 1.4.3 Der Ort der Opferhandlungen 1.4.4 Die Opfergaben und Ritualobjekte 1.4.5 Das Opfertier und seine Reinigung 1.4.6 "Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen 1.4.6.1 Die Lieder und Gebete 1.4.6.2 Libationen mit Rum und Wasser 1.4.6.3 Das Speiseopfer 1.4.6.4 Das Blutopfer 1.4.6.4.1 Die Köpfung des Opfertieres 1.4.6.4.2 Die Annahme des Opfers 1.4.6.5 Die „zweite Fütterung von Shangó“ 1.4.7 Der Spruch des Kalebassen-Orakels 1.4.8 Die kreative Kommunion mit den Ahnen 1.4.9 Das Festmahl der Ritualgemeinschaft 1.5 Rastafari 1.6 Traditionelle Medizin 1.7 Landwirtschaftliche Arbeit und Mondmythen 2 Ethnische Religionen 2.1 Bön in Tibet 2.1.1 Das Studium des Bön in der KSA 2.1.1.1 Entwicklung des Bön nach Hoffmann 2.1.1.2 Einteilung nach Kvaerne 2.1.1.3 Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön 2.1.2 Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer 2.1.3 Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak 2.1.4 Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten" 2.1.4.1 Die obere Welt Lhayül 2.1.4.1.1 Die friedfertigen Gottheiten 2.1.4.1.2 Die zornvollen Gottheiten 2.1.4.2 Die mittlere Welt Miyül 2.1.4.3 Die Unterwelt Ogyül 2.1.5 Literatur 3 Weltreligionen 3.1 Sikhismus 3.1.1 Gründung und wesentliche Glaubensinhalte 3.1.2 Verhältnis zu Hinduismus und Islam 3.1.3 Äussere Merkmale seiner Anhänger rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu... 1 von 85 04.06.2010 17:09

Transcript of Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose...

Page 1: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung

Das Spektrum der Religionen

Quelle: http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-titel.htmlManfred Kremser und Veronica FutterknechtInstitut für Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien

Kapitelübersicht

1 Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St. Lucia / Karibik1.1 Christliche Konfessionen1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz1.4 Kélé1.4.1 "ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben"1.4.2 Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie1.4.3 Der Ort der Opferhandlungen1.4.4 Die Opfergaben und Ritualobjekte1.4.5 Das Opfertier und seine Reinigung1.4.6 "Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen1.4.6.1 Die Lieder und Gebete1.4.6.2 Libationen mit Rum und Wasser1.4.6.3 Das Speiseopfer1.4.6.4 Das Blutopfer1.4.6.4.1 Die Köpfung des Opfertieres1.4.6.4.2 Die Annahme des Opfers1.4.6.5 Die „zweite Fütterung von Shangó“1.4.7 Der Spruch des Kalebassen-Orakels1.4.8 Die kreative Kommunion mit den Ahnen1.4.9 Das Festmahl der Ritualgemeinschaft1.5 Rastafari1.6 Traditionelle Medizin1.7 Landwirtschaftliche Arbeit und Mondmythen2 Ethnische Religionen2.1 Bön in Tibet2.1.1 Das Studium des Bön in der KSA2.1.1.1 Entwicklung des Bön nach Hoffmann2.1.1.2 Einteilung nach Kvaerne2.1.1.3 Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön2.1.2 Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer2.1.3 Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak2.1.4 Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten"2.1.4.1 Die obere Welt Lhayül2.1.4.1.1 Die friedfertigen Gottheiten2.1.4.1.2 Die zornvollen Gottheiten2.1.4.2 Die mittlere Welt Miyül2.1.4.3 Die Unterwelt Ogyül2.1.5 Literatur3 Weltreligionen3.1 Sikhismus3.1.1 Gründung und wesentliche Glaubensinhalte3.1.2 Verhältnis zu Hinduismus und Islam3.1.3 Äussere Merkmale seiner Anhänger

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

1 von 85 04.06.2010 17:09

Page 2: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

3.1.4 Körperliche und geistige Ideale3.1.5 Literatur3.2 Buddhismus3.2.1 Die Fahrzeuge des Buddhismus3.2.1.1 Hinayana oder Theravada3.2.1.2 Mahayana3.2.1.3 Vajrayana3.2.2 Grundlagen der buddhistischen Lehre3.2.2.1 Die Vier Edlen Wahrheiten3.2.2.2 Die Drei Gifte des Geistes3.2.3 Tibetischer Buddhismus3.2.3.1 Nyingma-Tradition3.2.3.2 Dzogchen3.2.4 Literatur4 Neue religöse Bewegungen4.1 Hinduistischer Hintergrund4.1.1 Sri Ramana Maharishi4.1.2 Mata Amritanandamayi/Amma4.1.3 Bhagvan/Osho4.2 Weitere4.2.1 A Course in Miracles4.2.1.1 Entstehungsgeschichte4.2.1.2 Philosophie und Praxis4.2.2 Avatar/Harry Palmer4.2.2.1 Entstehungsgeschichte4.2.2.2 Philosophie und Praxis4.2.3 Samarpan4.2.3.1 Philosophie und Praxis4.3 Buddhistischer Hintergrund4.3.1 Thich Nhat Hanh4.3.1.1 Tiep4.3.1.2 Hien4.3.1.3 Die Rechte Achtsamkeit4.3.1.4 Die Sieben Wunder der Achtsamkeit4.3.1.5 Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeit4.3.1.5.1 Körper4.3.1.5.2 Empfindungen/Gefühle4.3.1.5.3 Geist4.3.1.5.4 Objekte des Geistes4.3.1.6 Literatur4.3.2 Chögyam Trungpa (Shambhala)4.3.2.1 Das Leben Chögyam Trungpa Rinpoches4.3.2.2 Die Shambhala-Vision4.3.2.3 Geschichte eines Mythos4.3.2.4 Die Lehre nach Chögyam Trungpa4.3.2.4.1 Der ursprüngliche Punkt - Die fundamentale Gutheit4.3.2.4.2 Die Praxis der Sitzmeditation4.3.2.5 Die Shambhala-Zentren4.3.2.6 Literatur4.3.3 Sogyal Rinpoche4.3.4 Dzogchen-Community4.3.5 Vipassana / S.N. Goenka5 Transformationen in afrikanischen Religionen5.1 Afrikanische Traditionelle Religionen (ATR)5.2 Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

2 von 85 04.06.2010 17:09

Page 3: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten5.2.1.1 Die Metapher der Vase5.2.2 Afrikanischer Ursprung — amerikanisches Amalgam5.2.3 Die Vielfalt religiöser Kultur in Afroamerika5.2.3.1 Die 5 Kategorien nach Sipmson5.2.4 Die gemeinsamen Charakteristika5.2.4.1 Himmel und Erde5.2.4.2 Spirituelle Arbeit und rituelle Inszenierung5.2.4.3 Der initiatorische Prozess5.2.4.4 Possession — Die Dynamik der Verkörperung5.2.5 Die unterschiedlichen lokalen Traditionen5.2.5.1 Vodou in Haiti5.2.5.2 Santería in Kuba5.2.5.3 Orisha (Shangó) in Trinidad und Tobago5.3 Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR)5.3.1 Die ontologische Ebene5.3.2 Die sozio-kulturelle Ebene5.3.3 Information und Kommunikation5.3.4 Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace5.4 Literatur

1 Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St. Lucia / Karibik

Als konkretes Anschauungsbeispiel für dieGleichzeitigkeit und Parallelität religiöserTraditionen innerhalb eines geographisch äußerstbegrenzten Raumes dient die folgendeethnographische Momentaufnahme aus den 1980-erJahren. Sie soll das Spektrum gelebter religiöserKultur auf einer kleinen karibischen Insel beleuchten.

Das religiöse Profil der Karibik und damit auch St.Lucias wird durch die Tatsache, daß mehrere religiöseTraditionen gleichzeitig sowohl nebeneinander als oftauch ineinander verwoben existieren, äußerst komplex.

Die offizielle Religion in St. Lucia ist das katholischeChristentum. Daneben gibt es aber starke Einflüsseund Elemente afrikanischer Religionen, sowie auchSpuren indischer Religionen. Seit Mitte der 1970erJahre hat die Ausbreitung der Rastafari-Bewegung einweiteres Element hinzugefügt.

Um die Beziehung von Religion und spirituellerMacht in St. Lucia zu kontextualisieren, wird imFolgenden kurz auf jede dieser religiösen Traditionen inihren verschiedensten Facetten verwiesen — auf ihregrundsätzlichen Glaubensinhalte, einige ihrerwichtigsten Praktiken, aber auch, wie diese das täglicheLeben beeinflussen. Was jedoch weit komplexer unddaher auch in diesem Rahmen kaum beschreibbar ist,ist die Art und Weise, in der viele St. Lucianer imtäglichen Leben Glaubensinhalte wie auch Praktikenaus verschiedenen religiösen Traditionenmiteinander verbinden.

Foto: Die Piton, das Wahrzeichen St. Lucias.(Manfred Kremser © 1988)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

3 von 85 04.06.2010 17:09

Page 4: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

1.1 Christliche Konfessionen

Abbildung: Landkarte der Karibikinsel St.Lucia

Abbildung: Die karibische Inselgruppe der Kleinen Antillen

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

4 von 85 04.06.2010 17:09

Page 5: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die weitaus überwiegende Mehrzahl der St. Lucianer gehört heute christlichen Konfessionen an, wobei seit derfranzösischen Vorherrschaft im 18. Jahrhundert der Katholizismus bei weitem dominiert. Im Laufe der letztendreißig Jahre hat jedoch die Anzahl der Katholiken abgenommen. War St. Lucia vor 30 Jahren noch zu 97 %römisch-katholisch, so belaufen sich heute vorsichtige Schätzungen auf maximal 80 Prozent. Dieser Trend istim wesentlichen auf das Anwachsen protestantischer Kirchen aus den USA zurückzuführen. Protestantenwaren seit langem durch die anglikanische (lt. Census von 1980 ca. 2,7%) und methodistische (0,8%) Kirchevertreten, wenn auch nur in vergleichsweise kleiner Anzahl. Trotzdem war ihr Einfluß vor allem auf dem Gebietder Erziehung deutlich spürbar. Jedoch seit 1960 haben andere Konfessionen wie Sieben-Tage-Adventisten(4,3%), Baptisten (1,4%), Pentecostalisten (1,3%) und Zeugen Jehovahs ihre Mitgliederzahlen deutlich erhöht.Daneben werben u.a. Presbyterianer, Kongregationalisten, Bretheren, die Heilsarmee, Moravianer, Menoniten,A.M.E. (Zion) und die Church of God verstärkt um neue Mitglieder.

Ein anderer Trend war durch Veränderungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche selbst gekennzeichnet.Veränderungen, die dazu führten, die Messfeier in Englisch anstatt in Latein zu zelebrieren, mehr Rollen fürLaien innerhalb der Kirche zu schaffen, die Entwicklung des lokalen Klerus zu fördern und das Engagementder Kirche in sozialen und weltlichen Angelegenheiten der Gesellschaft wahrzunehmen, sind alle als Teildieses Trends anzusehen, die römisch-katholische Kirche für die St. Lucianische Bevölkerung relevanter zumachen. Die meisten dieser Veränderungen, die nach dem 2. Vatikanum (1962-1965) eingeführt wurden, sindals Antwort auf die stark anwachsende öffentliche Meinung zustande gekommen.

Foto: Das Altarbild von Dunstan St. Omer in der katholischen Kirche von Roseau /

St. Lucia(Manfred Kremser © 1982)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

5 von 85 04.06.2010 17:09

Page 6: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Eine andere interessante Entwicklung im religiösen Bild St. Lucias war die Zunahme der Anzahl vonindividuellen Straßenpredigern, die nicht unbedingt einer spezifischen Konfession zuzuordnen sind.Ausgerüstet mit der Bibel, ihrer Stimme und ihrem Charisma, verkünden diese Prediger das Wort Gottes zujeder gegebenen Zeit und an jedem beliebigen Ort, wo immer gerade die Leute vorbeikommen. Einige vonihnen wurden aufgrund der Unterhaltung, die sie während des Predigens lieferten, überaus bekannt. IhreOrientierung ist jedoch grundsätzlich christlich.

Es gab auch Bemühungen, die unterschiedlichen Kirchen zusammenzubringen, um in gemeinsamen Fragenzusammenzuarbeiten. Die ökumenische Bewegung ist nach einem Anwachsen in den letzten Jahren wiederversiegt. Aber im allgemeinen gibt es heute zwischen den Kirchen mehr offizielle Toleranz und Akzeptanz als inder Vergangenheit.

1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite

Eine wichtige Rolle im Prozeß der Herausbildung neuersozio-religiöser Gruppierungen seit den Zeiten derSklaverei spielte die katholische Kirche. Unter ihrer Obhutentsprangen eine Reihe von religiösen Bruderschaften,die auch den Charakter von Selbsthilfeorganisationenaufwiesen. Vielleicht am bekanntesten wurden diebrasilianischen „Confrarias" mit ihren üppigenFestlichkeiten, den sogenannten „Congadas". Unterfranzösischem Kolonialeinfluß und im Umfeld derkatholischen Kirche entwickelten sich auf mehrerenkaribischen Inseln sogenannte „Schutzpatron-Gesellschaften". Sie stellten für die Sklaven die einzigelegale Form der Selbstorganisation dar.

Heute finden sich die derartige „Gesellschaften" nur nochauf der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Unter demNamen „La Rose" und „La Marguerite" bilden diese„Flower Societies" mit ihren Blumenfestivals ein Symbolkreolischer Kultur und gelten als Ausdruck nationalerIdentität dieses erst seit 1979 unabhängig gewordenenKleinstaates. Vor allem die „La Rose Festivals" zeugenvon der Vitalität der kreolischen Kultur, die eine vielfältigeMischung aus afrikanischen, französischen undbritischen Traditionen darstellt.

Erste Berichte dieser Blumenfestivals stammen bereitsaus der Mitte des 18. Jahrhunderts — also aus einer Zeit,in der die Insel St. Lucia heftigst von Franzosen undEngländern umkämpft war und allein in diesemJahrhundert 14 Mal den Besitz zwischen ihnen wechselte.Erst am Wiener Kongress 1814/1815 wurde St. Lucia derbritischen Krone endgültig übertragen bzw. zuerkannt. Sowar es auch nicht verwunderlich, daß diese politische Rivalität in der expressiven Kultur derBlumengesellschaften ihren Ausdruck fand.

Bei ihren Seancen und großen Festlichkeiten imitierten sie zunächst ihre weißen Herren und derenmonarchische Hofstaaten, was schließlich zur Persiflage der kolonialen Machtstrukturen führte. DieBlumengesellschaften, die wichtige Segmente in der Sozialstruktur der Insel bildeten, waren hierarchischstrukturiert:

An ihrer Spitze standen ein König und eine Königin, gefolgt von anderen Würdenträgern nach dem Musterder sozio-ökonomischen Struktur der kolonialen Gesellschaft — meist nach englischem Vorbild.

Nach der Königinmutter, den Prinzen und Prinzessinnen, Präsident oder Generalgouverneur kam eine

Foto: Beim Kreuz eines katholischen Friedhofs mit "afrikanischen" Trommeln

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: La Rose Prozession nach der Festmesse

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

6 von 85 04.06.2010 17:09

Page 7: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

große Anzahl von pseudo-legalem, militärischem und professionellem Personal. Darunter waren z. B.Magistrat, Sekretär, Rechtsanwälte, Richter, Polizisten, Soldaten, Doktor, Krankenschwestern, Matronen,Blumenfrauen und -mädchen verschiedenster Rangordnungen, Vorsänger, und nicht zuletzt die Musiker mitihren Instrumenten: Trommeln, Geigen, Gitarren, Banjos, Quartros, Rasseln und Horn.

Beeindrucken heutzutage die prunkvollen Kostüme derBlumengesellschaften vor allem an ihrem großen Festtag— für „La Rose" am 30. August, dem Tag der heiligenRosa von Lima; für „La Marguerite" am 17. Oktober,dem Tag der heiligen Maria Marguerita von Alacoque— so zeichnet die Erinnerung an die Anfänge dieserSchicksalsgemeinschaften ein anderes Bild:

Die aus Afrika gewaltsam verschleppten und versklavtenMenschen wurden nicht nur ihrer materiellen Existenzberaubt. Sogar das Trommeln und Tanzen aufafrikanische Art wurde ihnen verboten, denn dieSklavenherren sahen darin eine ernsthafte Gefahr vonRevolten. Um diesen Verboten zu entgehen, mußten dieSklaven in die äußere Hülle des weißen Mannesschlüpfen. Durch Imitation versuchten sie ihren Herrenzu gefallen; den Schritt von der Parodie zur Persiflagegönnten sie sich selbst.

Zwischen den „La-Rose"- und den „La-Marguerite"-Gesellschaften entwickelte sich alsbald diesecharakteristische Rivalität, die bis zum heutigen Tagedas Verhältnis zwischen ihnen bestimmt und in fast allenihren Liedern besungen wird.

Leitet sich diese Rivalität ursprünglich aus denfeindlichen Positionen zwischen Engländern undFranzosen, später zwischen Bonapartisten undRepublikanern sowie deren jeweiligen Sympathisantenund Gegnern unter den Sklaven ab, so entwickelte siesich schließlich zu einer sozialen und kulturellenRivalität. Diese kennzeichnet sich nun durch diejeweilige Herkunft aus unterschiedlichen sozialen

Schichten innerhalb der kreolischen Gesellschaft, an deren Basis auch jeweils unterschiedlicheGeschmäcker bezüglich der Produktion expressiver Kultur standen. Während „La Rose" das heiße Element inder Kultur verkörpert und daher die Farbe „Rot" und „Rosa" für ihre Kostüme, Dekoration, Fahnen,Transparente usw. auserkoren hat, so repräsentiert „La Marguerite" das kalte Element der Kultur;dementsprechend ist ihre Farbe „blau".

Die Mitglieder der „La-Rose"- Blumengesellschaft lieben nichts mehr als Bewegung und sinnlicheStimulation. Sie bauen ihre ganze Reputation auf ihre spektakuläre Performance auf: reden, musizieren,tanzen, singen und trinken. Wenige von ihnen besitzen viel Geld. Als Arbeiter verdienen sie nur niedrigeLöhne. Viele sprechen nur Kreolisch, und die meisten können weder lesen noch schreiben.

Foto: La Rose Blumenfrauen in Festtagskleidung

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

7 von 85 04.06.2010 17:09

Page 8: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

„La Marguerite" hingegen zieht solche Leute an, die sozial reserviert sind — etwa praktizierende Katholikenund „ernsthafte" Eltern, die ihren Kindern eine solide und konventionelle Erziehung zu geben versuchen.Viele von ihnen besitzen kleine Unternehmen oder sind ganzzeitig beschäftigte Angestellte. Sie sprechensowohl Kreolisch als auch Englisch und können immer lesen und schreiben. Man kann sagen, daß dieMitglieder der „La-Marguerite"- Gesellschaften der Mittelklasse von St. Lucia angehören.

„La-Rose"- und „La-Marguerite"- Organisationen polarisieren ihre Gesellschaft in zwei repräsentativeHälften . Egal, ob man Mitglied der einen oder der anderen Vereinigung ist, wird man in St. Lucia auf Grundvon Verhalten, Glauben und Sittenkodex entweder als „La Rose" oder als „La Marguerite" identifiziert. DieserGegensatz läßt sich auf die Formel „Oralkultur versus Schriftkultur" reduzieren — sowohl im Hinblick aufderen jeweils spezifischen Modus kultureller Produktion als auch bezüglich ihrer sozialen Konnotationen .

Historisch gesehen waren diejenigen, die nach dem schriftkulturlichen Modus funktionieren, die weißenHerren, also die dominante Klasse in St. Lucia. Folglich wird dieser Modus immer mit dem Begriff der Machtund des hohen Ansehens assoziiert.

Der orale Modus hingegen, wie auch die Einstellungen und Konventionen, die er verkörpert, wurde abgewertetund mit der Unterschicht assoziiert. Aus diesen Gründen ist es nicht überraschend, daß diese beidenOrganisationen in der Geschichte immer antagonistisch waren.

Während die „Marguerites" den Primat ihres Kodex durchsetzten, war die Reaktion der „Roses" daraufbedacht, den Wert ihrer eigenen Tradition mit Nachdruck zu behaupten.

1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz

Die andere religiöse Tradition, die in St. Lucia durch mehrere Jahrhunderte hindurch Seite an Seite mit demChristentum existiert, ist weit schwieriger zu definieren. Dennoch ist in vielerlei Hinsicht ihr Einfluß genausomächtig als der des Christentums. Diese Tradition kann weder mit einem einzigen Namen bezeichnet werden,noch weist sie eine repräsentative Organisation oder ähnliches auf. Sie wurzelt in den verschiedenenethnischen Religionen Afrikas, welche die afrikanischen Vorfahren der heutigen afroamerikanischenInselbevölkerung während der Zeit der Sklaverei mitbrachten und in unterschiedlicher Art und Weise weitertradierten. In der Kolonialzeit wurde diese Tradition für illegal und subversiv gehalten. Deshalb war sie vonAnbeginn an eine Untergrundtradition in St. Lucia. Es ist teilweise diesem Umstand zuzuschreiben, daß diesereligiöse Tradition vielmehr in Fragmenten denn als integriertes System überlebt hat.

Wir wollen nun einige dieser Fragmente betrachten, und zwar diejenigen, die halbwegs intakt überlebt haben.Der die meisten Lebensbereiche durchdringendste Korpus von Glaubensvorstellungen und Praktiken beziehtsich auf die spirituelle Welt. Die meisten St. Lucianer glauben auf irgend eine Weise, daß es — zusätzlich zurmateriellen Welt des Menschen und der Natur — eine unsichtbare Welt gibt, die von unterschiedlichen

Foto: Ehrentanz des Präsidenten beim La Rose Festival in Babonneau

(Manfred Kremser © 1982)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

8 von 85 04.06.2010 17:09

Page 9: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Wesenheiten mit übernatürlichen Mächten bewohnt wird.

Diese Mächte können sowohl zum Guten als auch zum Bösen hin verwendet werden, und die Wesenheitenmanifestieren sich unter bestimmten Bedingungen in ganz bestimmten Formen. Sie alle haben ihrespezifischen Funktionen und Namen: bolòm, soukouyan, djab lamè, usw. Wie auch im Christentum ist diespirituelle Welt das Schlachtfeld eines andauernden Krieges zwischen Gut und Böse. Es wirdangenommen, daß sich eine Person durch bestimmte Praktiken mit den Kräften des Bösen verbinden kann.Dies kann dem Zweck dienen, um entweder selbst Wohlstand zu erlangen, oder auch um Anderen zuschaden, über sie Macht zu gewinnen, und vieles andere mehr.

Solch eine Person wird jan gajé genannt (aus dem Französischen "gens engagé", d.h. jemand, der „mit demTeufel verlobt“ ist oder mit ihm im Bunde steht). Ein jan gagé wird überaus gefürchtet. Er/Sie kann nicht alleinebekämpft werden. Man ist auf Hilfe angewiesen: entweder durch die Kraft christlicher Gebete, oder durcheinen gadè, oder auch durch beides.

Ein gadè ist eine Person — ähnlich wie ein Wahrsager — die bestimmte Kräfte hat. So z.B. kann er/sie in dieZukunft sehen, Heilmittel gegen diabolische Krankheiten zusammenbrauen, Erfolg bei Prüfungen oder beimJobsuchen sicherzustellen, usw. Vom gadè wird angenommen, daß er seine Kraft für gute Zwecke benützt.Doch kann natürlich auch er bestochen werden und sich zum Bösen verwenden.

Im allgemeinen werden diese spirituellen Kräfte und ihre menschlichen Agenten mit der Nacht in Verbindunggebracht. Ihre Manifestationen und ihre Stärke sind dann am heftigsten, wenn die Dunkelheit hereinbricht.Angeblich verlieren einige ihre Macht, sobald die Sonne wieder aufgeht. Tatsächlich hängt dies nicht nur mit derNatur solcher rund um die Welt verbreiteten Glaubensvorstellungen zusammen, sondern vor allem auch mit der„Untergrund“-Natur dieser Tradition, welche nur geheim weitergegeben werden konnte. „Obeah“ gilt inden Landesgesetzen St. Lucias und der meisten karibischen Territorien nach wie vor als Verbrechen .

Die Geheimhaltung und offizielle Feindseligkeit, die viele der Ideen und Praktiken dieser Fragmente derReligion umgibt, machen es äußerst schwierig, das Gute vom Schlechten oder Wertlosen zu trennen. So z.B.ist ein gadè oft eine wertvolle Quelle, was das Wissen über medizinische Heilpflanzen betrifft — denn intraditionellen Wissensystemen wird Heilung im allgemeinen als Teil der Religion betrachtet. Aber offizielleEinstellungen über den gadè machen es in der Regel eher schwierig, dieses Wissen zu erlangen und zuprüfen.

Im allgemeinen kann behauptet werden, daß die weitaus überwiegende Mehrheit der St. Lucianer —wissentlich oder unwissentlich — ein bestimmtes Maß an Glauben an die spirituelle Welt afrikanischerReligionen in sich tragen, während sie gleichzeitig auch dem christlichen Glaubenssystem anhängen. DieserGlaube kann sich zum Beispiel in Fällen von Krankheit manifestieren, bei denen westliche medizinischePraktiken nicht effektiv waren, so daß man sich dann an den gadè wendet. In anderen Fällen wird der Patientvon allem Anfang an die Heilmittel vermischen. Oder in wieder einem andern Fall wird jemand, der in einerdunklen Nacht allein nach Hause geht, ein christliches Gebet sprechen. Gleichzeitig wird er aber auch seinHemd umgekrempelt tragen , und — sobald er zu Hause ankommt — rückwärts eintreten.

Bei genauerer Betrachtung kann man bei den meisten St. Lucianern die eine oder andere Vorstellung oderPraxis vorfinden, die sie aus der fragmentierten afrikanischen religiösen Tradition beziehen — ganz gleich,ob es der betreffenden Person bewußt ist oder nicht.

1.4 Kélé

Die lokale Shangó-Tradition namens „Kélé“

Kélé ist ein afrikanisches Ritual zur Anrufung afrikanischer Ahnen und Gottheiten, dessen Höhepunkt dieOpferung eines unbefleckten Schafes bildet.

Dieses Ritual wird von Zeit zu Zeit in der nordöstlichen Region der Insel durchgeführt, vor allem in den OrtenBabonneau, Fond Assau und Umgebung. Es ist genau diese Region St. Lucias, in welche die letzten noch inAfrika geborenen und aufgewachsenen Einwanderer als Kontraktarbeiter ("Indentured Labourers")geschickt wurden. In diesem Gebiet haben sich bis heute ganz bestimmte afrikanische Traditionen unter densogenannten „Djiné“, also den Leuten von „Guinea“ (= Afrika) fast ungebrochen erhalten.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

9 von 85 04.06.2010 17:09

Page 10: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die Kélé- Zeremonie beinhaltet die Verehrung der Gottheiten Shangó, Ogun und Eshu. Diese religiösenKonzepte gehen auf die Yoruba-„Orisa“ zurück und haben durch ihren Transfer nach St. Lucia vielerleiReinterpretationen erfahren:

• Shangó zählt unbestritten zu den populärsten afrikanischen Orisas in der Neuen Welt. In St. Lucia tritt unsder Name Shangó nicht nur in Form so genannter Donnersteine entgegen, die auch das Zentrum des Kélé-Altars bilden, sondern Kélé selbst wird oft als Shangó- bzw. Chango bezeichnet. Für die Djiné stellen dieShangó -Steine die physische Repräsentation des Donnergottes dar. Durch sie wird in der rituellenHandlung die Verbindung zwischen Mensch und Gott hergestellt. Daher werden in allen Häusern von Djiné-Familien mit Kraft geladene Shangó -Steine aufbewahrt. Ihnen werden sowohl beschützende als auchheilende Eigenschaften zugeschrieben.

• Ogun wird als göttlicher Repräsentant des Eisens wahrgenommen, weswegen von den Djiné alle Arten voneisernen Geräten an den Altar bei der Kélé -Zeremonie gelegt werden. In der Moderne gilt Ogun vor allem alsBeschützer der Autofahrer und anderer Berufe, deren Arbeit an das Eisen bzw. Eisengeräte gebunden ist.Viele Indizien aus neuesten ethnographischen uns ethnohistorischen Untersuchungen lassen vermuten, daßder Ursprung des Kélé in St. Lucia auf das Ogun -Festival in Ado-Ekiti/Nigeria zurückreicht.

In St. Lucia kam es dann zu einer Synkretisierung der beiden religiösen Yoruba-Traditionen für Shangó undOgun, aus deren Verschmelzung sich der Kélé -Kult in der Diaspora entwickelte, dies vor allem auf den kleinenkaribischen Inseln, wo zu wenige Repräsentanten einer spezifischen afrikanischen Religion lebten, um dieTradition unbeeinflußt von den benachbarten Traditionen aufrecht zu erhalten.

• Neben Shangó und Ogun finden wir in der auf diese Weise neu entstandenen Kélé-Tradition noch eine drittepersonifizierte Gestalt vor, die von den Djiné mit dem Namen Eshu bzw. Akeshew bezeichnet wird und alsWidersacher der beiden Ersteren auftritt.

Die Assoziation von Eshu mit dem gefährlichen Inhalt der Kalebasse, die am Ende jeder Kélé -Zeremonieorakelhaft zerschmettert wird, führte in den Augen christlich-klerikaler Kritiker oft irrtümlicherweise zurGleichsetztung von Akeshew mit dem Teufel, sowie der Hohepriester des Kélé mit Schwarzmagiern.

Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1988 geleitet von Hohepriester Etienne WellsJoseph

(Manfred Kremser © 1988)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

10 von 85 04.06.2010 17:09

Page 11: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die Riten der Kélé-Zeremonie wurden von Familien weitergegeben, die sich selbst als „Nèg Djiné“identifizierten. Es gibt einen Hohepriester, der seine Rolle an einen anderen weitergibt, bevor er stirbt. AlleTeilnehmer, inklusive des Hohepriesters, sind auch praktizierende Christen, die keine Schwierigkeit damithaben, die beiden Traditionen in ihrem persönlichen Leben miteinander zu verschmelzen.

Im südlichen Teil von St. Lucia, in einem Dorf namens Piaye, wird von einer weiteren „Djiné“-Gruppe dieAbhaltung eines Koutoumba — und anderswo in St. Lucia eines Kont — anläßlich des Todes einer Personvon den Praktiken der afrikanischen Religionen und nicht vom traditionellen europäischen Christentumhergeleitet.

1.4.1 "ngai bai an kélé" — einen Kélé "geben"

Im Rahmen der afroamerikanischen Religionen der Gegenwart nimmt der Kélé in St. Lucia in vielerlei Hinsichteine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kulten Afro-Amerikas, wie z.B. Voodoo,Candomblé, Umbanda, Macumba und Santería ist dieser fast rein afrikanisch erhaltene Minderheitskult derDjiné keinerlei Synkretisierung mit christlichen Religionen eingegangen. Im Zentrum der kultischenHandlungen eines Kélé -Rituals steht das blutige Opfer eines Schafbockes, welches in Verbindung mitGaben von Speise und Trank für die afrikanischen Götter Shangó, Ógùn und Eshu dargebracht wird. Vor allemwegen der Praxis dieses „heidnischen“ Blutopfers zählt der Kélé zu den umstrittensten kulturellenTraditionen der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisseszwischen afrikanischem Erbe und westlich orientierter religiöser wie kultureller Wertungen konzentriertsich die folgende Dokumentation auf die Beschreibung der Opferhandlungen und Opfergaben diesesafrikanischen Ritual in der Diaspora, sowie der sie beeinflussenden neuen gesellschaftlichen und ökologischenBedingungen.

Foto: Das Kélé-Opferritual im April 1983 geleitet von Hohepriester Noah Delaire

(Manfred Kremser © 1983)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

11 von 85 04.06.2010 17:09

Page 12: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Ein Djiné , der sich an seinen Hohepriester wendet, um ihn mit der Abhaltung einer Kélé -Zeremonie für einaktuelles Anliegen zu betrauen, sagt, daß er einen Kélé „geben“ möchte („ngay bay an Kélé“) . DieseFormulierung, wie auch die bei einem Kélé tatsächlich in großen Mengen veräußerten Opfergaben,Nahrungsmittel und Getränke, erinnern an den Charakter von Verdienstfesten, der den Kélé -Zeremonien inder Vergangenheit tatsächlich zukam.

Traditionellerweise wurden Kélé -Zeremonien von den Hohepriestern oder anderer führender Oberhäupter derDjiné-Familien mehrmals jährlich „gegeben“, wobei sämtliche Djiné dazu geladen wurden. In diesen Fällengalten sie entweder der Danksagung, oder auch um „die afrikanischen Ahnen der gegenwärtigenRitualgemeinschaft um Schutz in allen wichtigen Angelegenheiten zu bitten — gute Ernte, Gesundheitund Erfolg im Leben.“ Es sind auch Fälle bekannt, in denen ein Kélé „gegeben“ wurde, um die Ahnen umBeistand für eine bevorstehende Gerichtsverhandlung zu bitten.

In anderen Fällen wurde in Erinnerung an einen kürzlich verstorbenen Vorfahren zum Jahrestag seinesAblebens von dessen Familie ein Kélé „gegeben“; ebenso nachdem der Verstorbene einem hinterbliebenenFamilienmitglied im Traum erschienen war und um Nahrung gebeten hatte. Die Verweigerung von Nahrungfür das verstorbene Familienmitglied konnte eine Krankheit oder ein anderes Unglück mit sich bringen. Ausdiesem Grunde wurden von den Djiné früher zu den verschiedensten Zeiten des Jahres — mit Ausnahme derFastenzeit — Kélé-Zeremonien abgehalten.

In den letzten Jahrzehnten jedoch kam es — bedingt durch die rasch voranschreitende Verwestlichungzahlreicher Lebensformen, sowie durch das Aussterben der alten traditionsbewussten Djiné — zu einemRückgang dieser Tradition, so daß gegenwärtig nur ein- bis zweimal im Jahr eine Kélé -Zeremonie stattfindet.Diese wird in der Regel vom Hohepriester alljährlich am Sonntag nach Ostern und zum Jahreswechsel„gegeben“ .

1.4.2 Die Vorbereitungen einer Kélé-Zeremonie

Wenn ein Djiné aus einem der oben erwähnten Motive einen Kélé „geben“ möchte, wendet er sich zunächst anden Hohepriester, dem er sein Anliegen persönlich vorbringt. Traditionellerweise war es üblich, alle übrigenMitglieder der erweiterten Großfamilie, sowie insbesondere die mit speziellen Funktionen an der Kélé -Zeremonie ausgestatteten Djiné persönlich einzuladen, sobald der Termin und die Lokalität für die Abhaltungdes Opfer-Rituals fixiert war. Dies galt vor allem für die Assistenten des Hohepriesters, die Trommler undTänzer, die Köchinnen für die Verarbeitung des geopferten Schafbocks, sowie für diejenige Person, der dieKöpfung des Opfertieres anvertraut wurde — zumeist ein Fleischhauer.

Handelte es sich beim bevorstehenden Kélé um ein wichtiges Anliegen der gesamten erweiterten Großfamilie,so wurden alle Familienmitglieder gebeten, einen bestimmten Anteil an den erforderlichen Nahrungsmittelnund Getränken bereitzustellen. Es ist unbestritten, daß in der Vergangenheit diese reziproken

Foto: Msgr. Patrick A.B. Anthony im Interview mit den Hohepriestern

des Kélé

(Manfred Kremser © 1983)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

12 von 85 04.06.2010 17:09

Page 13: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Hilfeleistungen wie vor allem die sie begleitenden kommunikatorischen Prozesse zur Stärkung der Solidaritätinnerhalb der Djiné-Familien beitrugen.

In jüngster Zeit wird die Ankündigung jedoch über dieMedien vorgenommen, vor allem via Radio im„community diary“, wie auch über die lokale Presse.Aus diesem Grunde finden sich neben den geladenenDjiné auch zahlreiche Interessenten ein, die nie zuvoreiner Kélé -Zeremonie beigewohnt hatten. Alsunvermeidliche Folge dieses „clash of culture“betrachten einige von ihnen das Ritual als ein Stückafrikanischer Exotik in der eigenen Heimat; anderetreten dem Blutopfer mit gemischten Gefühlenentgegen; und auch solche Stimmen, die mitVerachtung auf dieses „heidnische“ Blutopferherabblicken, halten nicht mit ihren abwertendenKommentaren zurück.

Die Tage vor der Zeremonie werden von derjenigenFamilie, welche den Kélé „gibt“, zur Bereitstellung derNahrungsmittel und Getränke verwendet. Zunächstwird ein geeigneter Schafbock entweder unter deneigenen Beständen ausgesucht, oder auch käuflicherworben. Sodann werden größere Mengen von Yams,Cassava, Plantanen und Blattsalat aus den eigenenGärten herbeigeschafft; die übrigen Nahrungsmittel,sowie auch die alkoholischen und nichtalkoholischen Getränke, werden am Markt in derHauptstadt Castries eingekauft. Die Gesamtausgabenfür das Opfertier, Nahrungsmittel und Getränke beliefensich im Jahre 1983 auf zirka EC$ 800,00 (= € 300,—).

Die für den Altar bestimmten Ritualobjekte undOpfergaben müssen vom Hohepriester persönlichbeschafft werden, da es sich — wie im Falle des Inhaltsder Kalebasse — um geheimzuhaltende Substanzen handelt.

1.4.3 Der Ort der Opferhandlungen

Die Abhaltung einer Kélé -Zeremonie mit den damit verbundenen Opferhandlungen ist nicht an einenbestimmten Ort gebunden. Es gibt — im Gegensatz zu den anderen afro-amerikanischen Kulten wie z.B.Voodoo — keine Kulthäuser oder feststehenden Opferplätze. Vielmehr hängt die Wahl des Ortes derDurchführung der Kélé-Zeremonie jeweils von der Person ab, die einen Kélé „gibt“. In den meisten Fällen istdies ein genügend großer Platz im Gehöft dieser Person, der zirka 80 Personen rund um den zu errichtendenAltar fassen kann. Andernfalls wird die Opferzeremonie im Gehöft des Hohepriesters abgehalten, welches vorallem aufgrund seiner vielfältigen juridischen wie auch medizinischen Funktionen innerhalb der Djiné-Gemeinschaft zu einem vielfrequentierten Treffpunkt wurde.

Foto: Die Zubereitung des Yams in Breiform(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

13 von 85 04.06.2010 17:09

Page 14: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

In jüngster Zeit ist man dazu übergegangen, die Kélé -Zeremonie bei solchen Djiné abzuhalten, deren Gehöftein Rum-Shop miteinschließt, um auch die Versorgung derjenigen Gäste, die sich als Ergebnis derAnkündigungen in den Medien als Zuschauer einfinden, vor allem mit alkoholischen Getränken undzunehmend auch mit Fleischspeisen zu gewährleisten. Damit wird die ursprüngliche Idee einer Kommunionaller Anwesenden — unter Einbeziehung der Ahnen sowie der afrikanischen Gottheiten — über Bord geworfenund einer Kommerzialisierung der Weg geebnet. Ursprünglich wurde nämlich das Fleisch des Opfertieresunter allen Mitgliedern der Kultgemeinde sowie unter allen anderen Personen, die sich zum Kélé eingefundenhatten, verteilt. Dieses mußte zur Gänze am gleichen Tag konsumiert werden.

1.4.4 Die Opfergaben und Ritualobjekte

Am Morgen desjenigen Tages, an dem die Kélé-Zeremonie stattfindet, errichtet der Hohepriester gemeinsammit seinen Assistenten den Altar, der oft auch Ógùn bezeichnet wird. Dabei wird vor allem darauf geachtet, daßer so ausgerichtet wird, daß die Teilnehmer während ihrer Opferhandlungen nach Osten blicken — denn „esist immer weise, zur aufgehenden Sonne zu blicken“. Dementsprechend werden auch die Ritualobjekte undOpfergaben , die in den vorangegangenen Tagen vorbereitet wurden, in folgender Reihenfolge angeordnet:

• Zunächst wird eine Anzahl von Shangó -Steinen halbkreisförmig aneinander gereiht. Dabei handelt es sichteilweise um amerindische Stein-Äxte, teilweise um nicht eindeutig identifizierbare „Donnersteine“ bis zueiner Größe von ca. 45 cm Länge. Von einigen dieser Shangó -Steine wird behauptet, daß sie von den erstenDjiné aus Afrika mitgebracht worden wären; andere wiederum wurden oft Jahre nach einem Blitzschlag beihohen Bäumen gefunden.

Foto: Der Hohepriester Noah Delaire bei der Opferhandlung am Altar

(Manfred Kremser © 1983)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

14 von 85 04.06.2010 17:09

Page 15: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

• Daneben wird ein balanmin, eine dünne Eisenstange, die bei der Feldarbeit als Grabstock verwendet wird,fest in den Boden gerammt. Diese Eisenstange repräsentiert Ógùn , den Gott des Eisens .

• An diesen wird ein Schößling einer Kokosnußpalme angebunden. Die Kokosnuß zählt angeblich zu denLieblingsgerichten von Ógùn, das Palmblatt wird von den Yoruba als „Kleidung Ógùn s“ bezeichnet.

• Ein „medizinischer Farn“ namens pat makak wird an der Basis der Eisenstange und rund um die Shangó-Steine herum ausgebreitet.

• Von den einzelnen Teilnehmern an der Kélé -Zeremonie werden Ackerbaugeräte und Werkzeuge aus Eisenzu beiden Seiten der Shangó -Steine aufgelegt, wie z.B. Spaten, Gabeln, Buschmesser, Sägen und Äxte —sie gelten als die Insignien von Ógùn .

• Ein Gewehr, welches als einziges der Eisengegenstände bereits während der Zeremonie zweimalaufgenommen wird, um genau zu den beiden Höhepunkten der Kélé-Zeremonie abgefeuert zu werden —einmal im Moment der Köpfung der Opfertieres, das zweite Mal im Moment des Zerschlagens der Kalebasse

Foto: Shangó-Steine bilden das Zentrum des Kélé-Altars(Manfred Kremser © 1988)

Foto: Von allen Opfergaben wird Eshu, repräsentiert durch die Kalebasse, als

Erstem gegeben

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

15 von 85 04.06.2010 17:09

Page 16: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

am Ende der Opferhandlungen.

• Eine Kalebasse mit geheimgehaltenem Inhalt, den magischen Substanzen der Djiné, oft auch alsdjinéfication bezeichnet — angeblich ein Gemisch aus den zu Asche verbrannten verdorbenen Kräutern mawiund mannmetamann — wird neben dem Schößling der Kokosnußpalme plaziert. Mit dieser Kalebasse wirdEshu assoziiert, der Widersacher von Shangó und Ógùn. Um zu verhindern, daß er seinenschadenbringenden Einfluß auf die Kultgemeinde überträgt, muß er von allen Opfergaben ebenfalls etwasabbekommen — und zwar als Erster.

• Mehrere Knollen rohen Yams der Sorte der Sorte yam potijé. Yams, in Breiform zubereitet, gilt neben demFleisch des Schafbocks als eine der Lieblingsspeisen von Shangó.

• Zirka sieben Kerzen, die am äußeren Rand der halbkreisförmig angeordneten Shangó -Steine leicht in denBoden verankert aufgestellt werden.

• Je eine Flasche mit weißem Rum und mit Olivenöl. Es wird gesagt, daß Ógùn weiße Getränke bevorzugt —in Nigeria wird ihm daher auch weißer Palmwein geopfert; für Shangó hingegen, dessen Farbe rot ist,verwendet man in Nigeria das rötliche Palmöl.

• Ein Krug gefüllt mit reinem Trinkwasser.

Foto: Kélé-Altar mit Kalebasse (=Eshu), Donnersteinen (=Shangó) und Eisengabel

(=Ogun)

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

16 von 85 04.06.2010 17:09

Page 17: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

• Ein Glas, ein Teller und ein Messer, welches zum Zerschneiden des rohen Yams verwendet wird.

• Das Opfertier, ein weißer Schafbock, wird mit einem Strick an den Grabstock gebunden.

1.4.5 Das Opfertier und seine Reinigung

Während in den meisten afro-amerikanischen Religionen Kleintiere wie Hühner als Opfertiere Verwendungfinden, ist es im Kélé ausschließlich ein weißer Schafbock, der gleichermaßen am Höhepunkt der Zeremoniegeopfert wird.

Bei der Auswahl dieses männlichen Opfertieres wird größte Sorgfalt darauf verwendet, daß der Schafbock, derälter als ein Jahr sein muß, in freier Natur aufgewachsen ist — denn Shangó liebt weder geknechteteMenschen, noch unfreie Tiere. Deshalb wurden in der Vergangenheit von den Hohepriestern des Kélé sowievon solchen Djiné-Familien, die regelmäßig Kélé-Zeremonien abhielten, an den Hängen des La Sorcière-Bergmassivs makellose weiße Schafböcke gezogen, um sie nach vollendeter Reife als Opfertiere zuverwenden.

Die Wahl eines Opfertieres der Farbe weiß, derLieblingsfarbe von Ógùn, der wir auch bei anderenOpfergaben im Kélé begegnen, ist ein symbolischerAusdruck für die durch das Ritual herbeizuführendeReinigung. Im therapeutischen Kontext traditionellerafrikanischer Medizin gilt dementsprechend die Farbeweiß — im Zyklus der Triade schwarz-rot-weiß, analogdem kosmischen Kreislauf von der Nacht (= Dunkelheit,Krankheit) über die Morgenröte (= Übergang, Gefahr)zum Tag (= Helligkeit, Gesundheit) — als letzter Schrittder Gesundung im Sinne der Reintegration desPatienten in die göttliche Ordnung. Ebensobegegnen wir in den afro-amerikanischen Kulten derFarbe weiß als religiöser Erfahrungsqualität im Sinneder Gottesnähe des Heilsuchenden (es sei in diesemZusammenhang auf die etymologische Verwandtschaftder Worte „Heil“ und „heilen“ bzw. „heil werden“ selbstin der deutschen Sprache verwiesen).

Erst in jüngster Zeit wird das Opfertier auch vonanderen Kleinbauern angekauft, wobei der Preis einesmittelgroßen Schafbockes 1985 zirka EC$ 240,— (= €

Foto: Die Getränke Rum und Wasser inmitten von Yams und Shangó-Steinen

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

17 von 85 04.06.2010 17:09

Page 18: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

100,—) betrug. Die Kosten werden von derjenigenPerson getragen, welche den Kélé „gibt“. Bei derAuswahl spielt auch die Größe des Opfertieres eine

wichtige Rolle. Laut den Regeln der Tradition soll es nämlich alle Personen ernähren, die an der Zeremonieteilnehmen: Djiné, die aktiv partizipieren, geladene Gäste und sonstige Anwesende — im Durchschnitt sind dieszwischen 50 und 100 Personen .

Bevor das Opfertier an den Altar geführt wird, muß es einer Reinigung unterzogen werden. Als Auftakt derZeremonie erscheint der Hohepriester, gekleidet in einem langen weißen Mantel aus dünner Baumwolle undeiner schwarzen Fell-Mütze, und bindet das Opfertier vom Grabstock los. Sodann schneidet er mit einemMesser einige Haare von den Enden des Schweifes und der Ohren des Schafbockes ab und wirft sie in dieKalebasse . Anschließend marschiert die gesamte Kultgemeinde unter Trommelbegleitung zu einemnahegelegenen Fluß oder Bach. Dort wird das Opfertier vom Hohepriester oder seinem Stellvertreter einerReinigung unterzogen, wobei zunächst jedes der vier Beine einzeln gewaschen wird. Anschließend erfolgt dieWaschung des gesamten Körpers, beginnend vom Kopf, über den Rücken hinweg, bis einschließlich desSchweifes — denn es wird gesagt, daß den afrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn nur reine Gabendargebracht werden dürfen .

1.4.6 "Feeding Shangó" — Die Opferhandlungen

Nachdem die Ritualgemeinschaft an den Altar zurückgekehrt ist, wird das nunmehr gereinigte Opfertier wiederam Grabstock festgebunden. Es werden die Kerzen angezündet. Sodann teilt der Hohepriester allenanwesenden Personen in kreolischer Sprache mit großer Ernsthaftigkeit den Anlaß der bevorstehendenOpferhandlungen mit. Ebenso ladet er alle Djiné sowie auch die übrigen Personen, die daran teilnehmenwollen, ein, irgendeinen persönlichen Gegenstand auf den Boden zwischen die Ritualobjekte zu legen, fallsGlück oder besonderer Erfolg erwünscht sind. Sodann wird ein Kreis rund um den Altar gezogen, in denaußer den aktiven Ritualteilnehmern niemand eintreten darf. Frauen sind zur Gänze von der Teilnahme amOpferritual ausgeschlossen.

Die "FeedingShangó"-Opferhandlungen imKélé-Ritual inkludieren:

• Danksagungen und Bitten,Gebete und Lieder inafrikanischer Sprache,

• Libationen mit Rum undWasser,

• Opfergaben von rohenSpeisen,

• das Köpfen des Schafes unddas Trinken seines Blutes,

• Opfergaben von gekochtenSpeisen.

1.4.6.1 Die Lieder undGebete

Das Opferritual beginnt damit, daß sich der Hohepriester vor dem Altar niederkniet und einen Gesang inafrikanischer Sprache anstimmt. Die Lieder werden zu verschiedenen spezifischen Kélé -Trommelrhythmengesungen, namentlich Adan, Kere, Gbudu, Kugbu und Ere. Zu den am häufigsten gesungenen Liederngehören:

Foto: Die Reinigung des Opfertiers im Bach.

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Der Hohepriester Etienne Wells Joseph vorm Kélé-Altar mit den Opfergaben

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

18 von 85 04.06.2010 17:09

Page 19: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Bei jeder Strophe, der ein Trommelwirbel folgt, beugt sich der Hohepriester so weit nach vorne, bis er mitseiner Stirne den Boden berührt. Dem schließen sich Gebete an, die ebenfalls in afrikanischer Sprachegesprochen werden:

Dieses Idiom konnte im Verlaufe unserer Forschungen teilweise als Ekiti-Dialekt des Yoruba aus demsüd-westlichen Teil Nigerias identifiziert werden. Mit Ausnahme einiger weniger älterer Djiné wird es vonkeinem der Anwesenden mehr verstanden.

Die Gebete beginnen immer mit den Anrufungen von Ógùn. Daran schließen sich die vorgetragenen Anliegenan, weswegen der Kélé gegeben wird. Es sind dies oft der Wunsch nach Gesundheit und Reichtum, sowiedie Bitte um Schutz der Kinder vor Krieg und anderem Unheil.

1.4.6.2 Libationen mit Rum und Wasser

Abbildung: Liedtext

Abbildung: Gebet

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

19 von 85 04.06.2010 17:09

Page 20: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Noch während der Hohepriester vor dem Altar kniet und Ógùn anruft, nimmt er die Flasche mit weißemRum, gießt etwas davon in das Glas und besprengt damit dreimal die Gegenstände, die rund um den Altarliegen. Anschließend gießt er einen Schluck weißen Rums in die Kalebasse. Schließlich trinkt er selbst denRest aus dem Glas. Dann gießt er etwas Wasser aus dem Krug in das Glas und wiederholt die gleicheProzedur des Besprengens und Trinkens, wobei jedesmal, wenn das Glas geleert wird, die Trommeln wirbeln.Diese Libationen mit weißem Rum und Wasser werden sodann von seinem Stellvertreter, und schließlich vonallen anderen Mitgliedern der Ritualgemeinschaft, die um Glück und Erfolg bitten wollen, in der gleichenArt durchgeführt.

1.4.6.3 Das Speiseopfer

Diesem Libationsopfer folgt die „erste Fütterung von Shangó “ mit rohen Nahrungsmitteln: Unter Begleitungvon heftiger Trommelmusik und Gesang gießt der Hohepriester etwas Olivenöl in den Teller. Dann nimmt ermehrere Knollen des rohen Yams der Sorte yam potijé (portugiesischer Yams), macht mit dem Messer mehrereKreuzzeichen hinein und schneidet sie in kleine Würfel, die er in das Olivenöl eintaucht. Anschließend wirft ereinige dieser eingeweichten Yams-Stücke auf den Altar mit den Ritual-Objekten, andere wirft er in dieKalebasse. Nach wie vor kniend wirft er weitere Yams-Würfel nach allen vier Himmelsrichtungen, bevor erschließlich nochmals den Altar dreimal mit etwas weißem Rum besprengt. Sodann verstummen die Trommelnund der Gesang. Der Höhepunkt steht bevor.

Foto: Francois, der Sohn des verstorbenen Hohepriesters Noah Delaire, bei der

Libation(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

20 von 85 04.06.2010 17:09

Page 21: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

1.4.6.4 Das Blutopfer

Die Etablierung des Kontaktes mit der Welt der göttlichen Wesen, Ógùn und Shangó, sowie mit der Weltder afrikanischen Ahnen, welche als Bindeglieder zwischen den Menschen und diesen göttlichen Wesenfungieren, wird im Ritual des Kélé nach der Darbringung von Libations- und Speiseopfern endgültig durch dasBlutopfer vollzogen.

Der Übergang von der menschlichen Ordnung zur göttlichen Ordnung wird durch die Farbe rot, der Farbedes Blutes des Opfertieres, markiert.

Foto: Die Fütterung von Shangó mit rohem Yams der Sorte "Yam Potigé"

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Auf die Schärfung der Machete wird peinlichst geachtet

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

21 von 85 04.06.2010 17:09

Page 22: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die Anerkennung des Blutes als die heilige Lebenskraft, sowohl im Menschen als auch im Tier, bildet auchim Kélé die Basis des Blutopfers. Durch dieses Opfer — also durch das Zurückgeben des heiligen Lebens,welches im Opfertier zum Vorschein kommt — leben die göttlichen Wesen und die Ahnen; folglich lebenauch die Menschen und die Natur. Durch das Blutopfer wird die mächtige Potenz des Blutes in vielerleiHinsicht nutzbar gemacht, vor allem zum Zwecke der Fruchtbarkeit und der Heilung.

Das Vergießen des Blutes ist also nicht Endzweck, sondern Voraussetzung für die Nutzbarmachung dergöttlichen Kraft im menschlichen Leben.

1.4.6.4.1 Die Köpfung des Opfertieres

Der Hohepriester führt die Köpfung des Opfertieres nicht selbst durch. Er gibt lediglich die Anweisungen anseine Assistenten, die den Schafbock zunächst vom Grabstock losbinden und an die westliche Seite desAltares bringen. Laut Aussage einiger Informanten führte der Hohepriester in der Vergangenheit das Opfertierdreimal bzw. siebenmal entgegengesetzt zum Uhrzeigersinn rund um den Altar herum, ehe die Köpfungvollzogen wurde. Heute entfällt diese Praxis. Geblieben ist jedoch die ungeheure Spannung in derAtmosphäre, die sich unmittelbar vor der Köpfung aufbaut. Während einer der Assistenten des Hohepriestersein Gewehr von den um den Alter herum angeordneten Ritualobjekten aufhebt, dieses lädt und sich für denSalut-Schuß bereitmacht, den er genau im Augenblick der Köpfung abzufeuern hat, plazieren sich die beidenTrommler an der Seite des Hohepriesters, um sich für den Trommelwirbel vorzubereiten, der der Köpfungunmittelbar zu folgen hat.

Foto: Der Kopf des Schafbocks nach der Köpfung

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

22 von 85 04.06.2010 17:09

Page 23: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Wenn alle bereitstehen, wird der Schafbock von drei Assistenten vom Boden gehoben. Einer zieht an dem Seil,welches um den Hals des Opfertieres herumgebunden ist, die beiden anderen Assistenten halten je einHinterbein des Schafbockes, wobei sie heftig in die entgegengesetzte Richtung ziehen, so daß der Hals desTieres straff gespannt wird. Ein weiterer Assistent — zumeist ein Fleischhauer — steht mit einer neuen zuvorbestens geschärften Machete bereit, um auf Kommando des Hohepriesters mit einem einzigenwohlgezielten Hieb die Köpfung zu vollziehen. Im selben Moment, indem die Machette den Hals desOpfertieres durchtrennt, wird der Salut-Schuß abgefeuert und die triumphierenden Zurufe der umstehendenMenschenmenge mischen sich mit dem Trommelwirbel, dem sogleich auch Gesang in afrikanischer Sprachehinzugefügt wird. Der Kopf des Schafbockes rollt zu Boden und wird im nächsten Moment vom Hohepriesterergriffen, der das herausspritzende Blut in seiner anderen Hand auffängt und zum Mund führt, um esschlürfend zu trinken. Während die übrigen aktiven Teilnehmer an der Kélé-Zeremonie das von einemAssistenten aus der Halsschlagader aufgefangene Blut des Opfertieres aus einem Glas oder einer Kalebassetrinken, besprengt der Hohepriester mit dem restlichen Blut des Tierkopfes die Shangó - Steine sowiesämtliche an den Altar gelegten Ritualobjekte und Opfergaben. Anschließend tanzt der Hohepriester barfußauf dem zu Boden geronnenen Blut des Schafbockes.

1.4.6.4.2 Die Annahme des Opfers

Für die Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn ist entscheidend, daß die Köpfung des weißenSchafbockes mit einem einzigen Hieb gelingt. Ist dies nicht der Fall, so wird gesagt, daß das Opfer wegenirgendwelcher Unregelmäßigkeiten während der Kélé-Zeremonie von den Göttern bzw. den Ahnen nichtakzeptiert wurde. In diesem Fall muß von der für das Mißlingen des Opfers verantwortlichen Person in nächsterZeit ein weiterer Kélé „gegeben“ werden, ansonsten wird ihr irgendein Unheil zustoßen. Aus diesen Gründenwird allergrößte Sorgfalt bei der Köpfung des Schafbockes angewandt.

Foto: Hochspannung unmittelbar vor der Köpfung des Opfertiers

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

23 von 85 04.06.2010 17:09

Page 24: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Im Falle der Annahme des Opfers durch Shangó und Ógùn — wenn also die Köpfung mit einem Hieb gelingt— gelten die mit dem Blut des Opfertieres besprengten Gegenstände als gesegnet . Die positiven Folgenkönnen zum Beispiel sein, daß der Arbeit mit den gesegneten, meist eisernen Geräten und Werkzeugen mehrErfolg beschieden sein wird; oder auch, daß ihre Besitzer bei deren Gebrauch nicht in Arbeitsunfälle verstricktwerden. Aus demselben Grunde legt der gegenwärtige Hohepriester des Kélé, der hauptberuflich ein Chauffeurbei einer Möbelfirma ist, immer seinen Autoschlüssel an den Altar. Nach dessen Segnung durch das Blut desvon Ógùn angenommenen Opfertieres wird er nach eigenen Aussagen davor geschützt, in Verkehrsunfälleverwickelt zu werden. In anderen Fällen wird berichtet, daß die am Altar zu kleinen Würfeln zerschnittenen undanschließend zum Zwecke des Aussetzens verteilten Yams-Knollen später ertragreicher sein sollen, alsgewöhnliche Yams-Pflanzen.

Der Zeitpunkt der Schlachtung des Opfertieres am Ende des ersten Teils der Kélé-Zeremonie, der „erstenFütterung von Shangó“ mit rohen Speisen, symbolisiert den durch das Blutopfer vollzogenen Übergang imSinne einer Wandlung zum nunmehr sakralisierten zweiten Teil der Kélé-Zeremonie, der „zweiten Fütterungvon Shangó“ mit gekochten Speisen.

Foto: Der Augenblick der Köpfung mit einem einzigen Machetenhieb

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Die Ritualobjekte und Opfergaben besprengt (=gesegnet) mit Blut

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

24 von 85 04.06.2010 17:09

Page 25: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

1.4.6.5 Die „zweite Fütterung von Shangó“

Der Köpfung des Opfertieres folgt eine längere Pause inder Kélé-Zeremonie, während der verschiedeneVolkstänze wie zum Beispiel Solo, Kont, Bélé undDebotte aufgeführt werden. In der Zwischenzeit wirdder Körper des Schafbocks entfellt und tranchiert.

Das Fleisch wird zum Kochen in die Küche gebracht, inder mehrere Djiné-Frauen beschäftigt sind, die Speisenzuzubereiten. Das Herz, die Leber und die Genitalien(inklusive Hoden) des Opfertieres werden separatgekocht und sind als Opfergaben für Shangó undÓgùn bestimmt. Der Rest des Schafbockes wird für dieMitglieder der Kultgemeinde sowie für die übrigenAnwesenden nach kreolischer Küche zubereitet,ebenso die Beilagen. Für Shangó und Ógùn jedochwerden die Beilagen nicht nach kreolischen Rezeptengekocht, sondern im Mörser nach afrikanischer Art zuBrei zerstampft — denn die afrikanischen Gottheitenund Ahnen ziehen das Essen in Breiform derkreolischen Küche vor.

Nachdem die Speisen fertig zubereitet sind, werden jeein Teller mit separat gekochtem Fleisch, Yams undReis an den Altar gebracht. Dort werden sie inähnlicher Form wie bei der „ersten Fütterung vonShangó “ geopfert — mit dem wesentlichenUnterschied, daß es sich nun um gekochte Speisenhandelt. Bevor der Hohepriester und anschließend dieübrigen Kultteilnehmer von den Speisen essen, werfensie mehrere Bissen auf die Ritualobjekte am Altarund nach den vier Himmelsrichtungen; denn auchEshu, der im Westen sitzt, muß gestillt werden, damit er

nicht übelbringend interveniert.

Weitere Libationsopfer schließen sich dem an. Zusätzlich werfen der Hohepriester und sein Stellvertreter dienicht aufgebrauchten Speisen des Altars in die umstehende Menschenmenge und rufen mit ihrem Lied die

Foto: Das Zerlegen des Opfertiers

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Die Fütterung Shangos mit gekochten Speisen(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

25 von 85 04.06.2010 17:09

Page 26: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

jungen Knaben auf, mitzumachen und all das zu tun, was die Djiné schon immer gemacht hätten. Aufdiese Weise soll die Tradition auch in Zukunft fortgesetzt werden.

1.4.7 Der Spruch des Kalebassen-Orakels

Das formale Ende des Kélé-Rituals wird von einem der Assistenten des Hohepriesters mit einem Tanzeingeleitet, den er mit zuerst langsamen und majestätisch anmutenden Schritten beginnt. In der rechtenHand führt er eine Machete akrobatisch durch die Luft; in seiner Linken hält er die mit „schwarzer Magie“gefüllte Kalebasse.

Foto: Der Tanz mit Kalebasse (Eshu) und Machete

(Ogun)

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

26 von 85 04.06.2010 17:09

Page 27: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Während sich die Trommeln wie auch der Tanz zu fast ekstatischer Leidenschaft steigern, zerschmettert derTänzer mit einer abrupten Bewegung die Kalebasse am Boden, indem er sich nach Westen wirft, dorthin, woder Tod angesiedelt ist. Im Augenblick des Aufberstens der Kalebasse auf dem Boden wird ein weitererSalut-Schuß abgefeuert, der das formale Ende der Zeremonie markiert.

Keiner der Anwesenden darf auch nur einen Tropfen des gefährlichen Inhalts der Kalebasse abbekommen,da ihm ansonsten Krankheit oder ein noch schwerwiegenderes Übel droht. Geschieht dies trotzdem, so hat erin nächster Zeit einen Kélé zu „geben“, um sich von diesen schädigenden Einflüssen zu reinigen.

Foto: Kurz vor der Entscheidung des

Kalebassenorakels

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Diese Lage der Kalebassenteile verkündet die Annahme des Opfers

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

27 von 85 04.06.2010 17:09

Page 28: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Außerdem läßt sich an der Art und Weise, wie die zerbrochenen Kalebassenteile am Boden liegenbleiben,ablesen, ob das Opfer angenommen wurde oder nicht: Kommen die Teile so zu liegen, daß die Außenseiteder Kalebasse am Boden aufliegt und die Innenseite frei nach oben schaut, ist dies ein gutes Zeichen; imanderen Falle, wenn ein oder mehrere Kalebassenscherben mit ihrer gekrümmten Seite nach obenliegenbleiben, so bedeutet dies, daß das Opfer wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten von denafrikanischen Gottheiten Shangó und Ógùn zurückgewiesen wurde. Als Konsequenz droht bevorstehendesUnglück. Um dieses abzuwenden, müssen die dafür Verantworlichen in naher Zukunft einen Kélé „geben“.

1.4.8 Die kreative Kommunion mit den Ahnen

Wird eine Kélé -Zeremonie anläßlich des Gedenkens an einen jüngst verstorbenen Hohepriester oder einführendes Mitglied der Djiné-Familien abgehalten, so begibt sich die Kultgemeinde im Anschluß an das Ritual,welches vom späten Morgen bis knapp vor Sonnenuntergang dauert, ans Grab des Verstorbenen, um ihmdort — in ähnlicher Weise wie es zuvor am Altar des Kélé -Ritualplatzes für die afrikanischen Götter Shangóund Ógùn geschah — die Opfergaben darzubringen.

In diesem Falle nimmt der Hohepriester die bei der „zweiten Fütterung von Shangó “ für den Ahnenreservierten Speisen und Getränke vom Altar auf und gibt sie in einen speziell dafür bereitgehaltenenHolzteller. Anschließend begeben sich die Familienmitglieder sowie die gesamte Kultgemeinde im Rahmeneiner feierlichen Prozession unter Begleitung von Kélé-Trommeln und -Gesängen an das zuvor gereinigteGrab des Ahnen, welches sich in den meisten Fällen im katholischen Ortsfriedhof befindet. Dieses wirdzunächst am Kopfende mit einigen Büscheln des „medizinischen Farnes“ pat makak vom Altar dekoriert.Darin werden mehrere Kerzen aufgestellt und angezündet. Am Fußende des Grabes werden die Opfergabenabgestellt.

Sodann tritt unter den Anwesenden andächtige Stilleein. Der Hohepriester, die Trommler und die männlichenFamilienmitglieder treten hintereinander an das Grabheran, adressieren stille Gebete an den Ahnen,nehmen von den gekochten Opferspeisen, werfeneinige Bissen auf das Grab und essen dann selbstdavon, greifen anschließend zum Rum, geben demAhnen durch Sprühen zu trinken und trinken dannselbst davon. Ein leiser Trommelwirbel beendet dieKommunion jedes einzelnen Nachkommen mit demAhnen.

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: „Feeding the ancestors“ am Familiengrab des Hohepriesters Noah Delaire

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

28 von 85 04.06.2010 17:09

Page 29: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die Wirksamkeit des Ahnenkults als eines spirituellenPrinzips der Einheit manifestiert sich hier in derKontinuität der lebenden und toten Generationen.Das Verhältnis zu den Ahnen beruht auf einem Prinzipdes Austausches und der wechselseitigen Anteilnahme. Durch das Opfer für die Ahnen werden ihre Kräfteerneuert, und so können sich die Lebenden wieder unter ihren Schutz stellen.

Sobald diese Opferhandlungen abgeschlossen sind, stimmen die Trommeln wieder die afrikanischenKélé-Gesänge an. In kollektiver Erinnerung an die verstorbenen Djiné und ihre afrikanischen Ahnen tanzt dazudie gesamte Kultgemeinde, die sich rund um das Grab versammelt hat.

1.4.9 Das Festmahl der Ritualgemeinschaft

Noch vor Sonnenuntergang kehrt die Kultgemeinde wieder an den Ort der Kélé-Zeremonie zurück. Inzwischenwurden von einigen weiblichen Djiné, die sich als Köchinnen zur Verfügung gestellt hatten und daher nicht andas Grab mitgekommen waren, die Speisen für die gesamte Kultgemeinde nach kreolischer Küche zubereitet.In der Reihenfolge der Rangordnung der Mitglieder der Kélé-Ritualgemeinschaft erhalten sie alle je einen Tellermit mehreren Fleischstücken des geopferten Schafbockes garniert mit verschiedenen Vegetabilien wie Yams,Plantanen, Brotfrucht, Reis und Salat. Dazu gibt es alkoholische wie auch nicht alkoholische Getränke.

Traditionellerweise wurde von demjenigen Djiné, der den Kélé „gab“, streng darauf geachtet, daß alleAnwesenden vom Fleisch des Opfertieres zu essen bekamen. Der Schafbock mußte zur Gänze noch amselben Tag verspeiset werden. Nichts von den zubereiteten Speisen durfte übrigbleiben. Ebenfalls mußtesichergestellt werden, daß alle, die sich zur Kélé -Zeremonie eingefunden hatten, ausreichend mit Nahrungund Getränken versorgt wurden. Da die Kélé -Zeremonien abwechselnd jeweils bei einem anderen Djinéstattfanden, wurde langfristig das Prinzip der Gruppenreziprozität eingehalten.

Im Anschluß an das Festessen rufen die Trommeln wieder zum Tanz zu den afrikanischen Kélé-Rhythmenauf. Nur mehr von wenigen Tänzerinnen und Tänzern können die dazugehörigen Tanzbewegungen richtigausgeführt werden. Unter dem Applaus der Umstehenden geben die Alten ihr Repertoire wieder. DieKélé-Trommeln suggerieren mit dem Gesang jeje modi moli moje, mode aiyos („kommt Ihr jungenMenschen und tut, was wir schon immer getan haben“) die Aufforderung an die Jugend, mitzumachen.Spontan treten jüngere Tänzer hervor und versuchen — zuweilen unter dem Gelächter der Zuschauer — dieTanzbewegungen der Alten zu imitieren. Und alsbald formieren sie sich in rivalisierenden Gruppen zumTanz-Wettbewerb.

Bis in die Nachtstunden hinein währt das Fest, welches nunmehrnach der Erfüllung der religiösen Verpflichtungen gegenüber

Foto: Gebete und Libationen für den verstorbenen

Hohepriester

(Manfred Kremser © 1985)

Foto: Kreolische Speisen für die alle Teilnehmer am Kélé-Ritual

(Manfred Kremser © 1983)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

29 von 85 04.06.2010 17:09

Page 30: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

den afrikanischen Göttern und Ahnen in erster Linie einemsozialen, kommunikativen und künstlerisch-expressivenZweck innerhalb der anwesenden Djiné-Familien dient. Bevorsich die Mitglieder der Kultgemeinde nach Hause begeben,

nimmt jeder seinen am Beginn der Kélé-Zeremonie an den Altar gelegten und nunmehr durch das Blut desOpfertieres gesegneten (Eisen)-Gegenstand wieder zu sich.

Lediglich die Shangó-Steine müssen noch eine ganze Woche lang unberührt am selben Ort liegen bleiben,ehe sie am darauffolgenden Sonntag nur vom Hohepriester selbst im Rahmen einer kleinen Zeremonieentfernt werden dürfen. Denn im Augenblick der Darbringung des Blutopfers wurden sie angeblich von Shangómit solch geballter Energie geladen, daß eine vorzeitige Berührung verhängnisvolle Folgen haben könnte.Erst wenn sie wieder etwas „abgekühlt“ sind, werden sie vom Hohepriester ihren Besitzern zurückgegeben.Dann allerdings besitzen sie heilkräftige Wirkungen — sie sind nun frisch aufgeladen — und werden inweiterer Folge auch für therapeutische Zwecke eingesetzt.

In regelmäßigen Intervallen bedürfen sie aber der neuerlichen „Aufladung“ — und dies geschieht erstwieder beim nächsten Kélé.

1.5 Rastafari

Der jüngste weit verbreitete religiöse Einfluß in St. Luciaist die Rastafari Philosophie und Religion. Während es— wie bei allen Glaubenssystemen — dogmatische undandere Unterschiede unter ihren Anhängern gibt, könnendie Grundsätze von Rastafari wie folgtzusammengefasst werden:

• Haile Selassie von Äthiopien — aus der Linie vonKönig Salomon — ist die höchste menschlicheManifestation von Gott auf Erden.

• Die Afrikaner sind das auserwählte Volk, auf welchesin der Bibel Bezug genommen wird; sie wurden inGefangenschaft genommen und überallhin verstreut.

• Der Westen ist Babylon und ist zur Zerstörungverdammt, soferne er nicht seinen Kurs ändert.

• Afrika ist das spirituelle und natürliche Heimatland derSchwarzen. Deshalb ist die „Repatriation“, also dieRückkehr in die Heimat — spirituell und schließlich auchphysisch — eine Notwendigkeit.

• Marihuana ist ein heiliges Kraut, gegeben zumZwecke der Heilung der Nation ("for the healing of theNation"); es wird in der Meditation wie in dergemeinschaftlichen Verehrung verwendet.

Neben diesen Grundsätzen gibt es noch eine Reiheanderer Glaubenssätze, wie z.B. die Bedeutung vonMarcus Garvey — ähnlich in der Position wie Johannesder Täufer — im Sinne eines Vorläufers von HaileSelassie. Aber der Interpretationsrahmen ist in vielenFällen sehr breit. So werden viele Anhänger als Rastafaribetrachtet, ohne notwendigerweise zu glauben, daß z.B. die Königin von England „die Hure von Babylon“ ist,von der im Buch der Offenbarung die Rede ist. Selbst die „Dreadlocks“-Haartracht (Löwen-Mähne, Königvon Juda), das am deutlichsten zur Schau getragene Symbol, welches mit Rastafari assoziiert wird, wird nichtnotwendigerweise als eine absolute Notwendigkeit für jemand betrachtet, der ein überzeugter Rastafari ist.

Die Präsenz von Rastafari geht in St. Lucia auf die frühen 1970er Jahre zurück. Die Bewegung hat sich sowohlim urbanen als auch im ländlichen Bereich der Insel sehr rasch ausgebreitet. Ihre Anhänger waren vor allemjunge Leute, besonders junge Männer, welche die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der St.

Foto: Trommel, Tanz und Gesang zum

fröhlichen Ausklang

(Manfred Kremser © 1983)

Foto: Chikalot, ein Roots Rasta beim Trocknen von

Erdnüssen

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

30 von 85 04.06.2010 17:09

Page 31: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Lucianischen Gesellschaft in allen Bereichen — Wirtschaft, Politik, Erziehung, Rechtssystem — in Fragestellten und dagegen protestierten. Sie wiesen auf die Klassen- und Rassenvorurteile in der St. LucianischenGesellschaft hin und forderten diese in der Tat heraus, ihren erklärten christlichen Prinzipien gerecht zuwerden.

Aus diesen Gründen, wie auch wegen ihrer kompromißlosen Einstellung was den Gebrauch von Marihuanabetrifft (der nach der Rechtslage St. Lucias illegal ist), kamen Rastafari permanent in Konflikt mit dem Gesetz.Zusätzlich gab es die unvermeidlichen Probleme aufgrund unseriöser Personen, die die Bewegung für ihreeigenen Zwecke mißbrauchten und damit Rastafari als Ganzes in Verruf brachten. Selbst der Ausdruck„Dread“, dem im Bewusstsein der Rastafari philosophische und moralische Bedeutung zukommt, wurde aufdiese Weise mit kriminellem Verhalten assoziiert.

Die Bewegung erhielt die größte Aufmerksamheit in der Mitte der 1970er Jahre, als von vielen Leutengrundlegende Fragen über die Natur und die weitere Entwicklung von Gesellschaften weltweit gestelltwurden. Die zunächst kompromisslose Moral der Rastas trug dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die Heucheleienund die Ungerechtigkeiten der St. Lucianischen Gesellschaft zu richten.

Der Rastafari-Einfluß machte sich auch in einem breiter angelegten Bewusstsein eines natürlichenLebensstils bemerkbar, der mehr im Einklang mit der Umwelt steht; ebenso in einer Betonung, die eigenenResourcen zu nutzen; wie auch darin, daß ein besonderer Wert auf Kreativität gelegt wurde, besonders wasdas Handwerk betrifft. Ihr Einfluß trug dazu bei, eine allgemeine Neubewertung der Traditionen desländlichen St. Lucia zu stimulieren und zu unterstützen. So wurde z.B. die Tradition der kooperativen Arbeit(„koudmen“) vor allem unter der Jugend wieder sehr verbreitet, die sie ansonsten vielleicht nichtkennengelernt hätte.

In den 1980er Jahren verlor die Bewegung wieder einige ihrer Anhänger und auch etwas von ihrer starkenöffentlichen Präsenz. Das war teilweise auf eine größere Akzeptanz der Tatsache zurückzuführen, daß wederRastafari noch die Gesellschaft über Nacht verschwinden werden; teilweise aber auch auf die Tatsache, daßsich einige Rastas in Bereiche der Gesellschaft integriert hatten, ohne ihre Glaubensüberzeugungenaufzugeben. Auf diese Weise demonstrierten sie, daß eine friedliche Koexistenz möglich ist.

Heute liegt die Betonung weniger auf offener Konfrontation, sondern vielmehr auf internenOrganisationsformen, die sicherstellen sollen, daß ihren Kindern eine Zukunft ermöglicht wird, in der sie anihren Glaubenshaltungen festhalten und dennoch innnerhalb der Gesellschaft leben können.

Es bleibt abzuwarten, wie sich auf lange Sicht gesehen die breitere Gesellschaft St. Lucia’s und Rastafarieinander anpassen werden; aber in den 40 Jahren ihrer Präsenz in St. Lucia hatte die Rastafari-Bewegungeinen ungeheuren Einfluß auf die Meinung aller Menschen, die mit ihr in Berührung gekommen sind — seies Freund oder Feind.

Foto: Mitglieder der Zimbabwe Roots Farm bei der kooperativen Arbeit "koudmen"(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

31 von 85 04.06.2010 17:09

Page 32: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

1.6 Traditionelle Medizin

In den Kommunitäten überall in St. Lucia gibt es zahlreiche traditionelle Heiler, auf die mit verschiedenenNamen Bezug genommen wird:

• "bushdoctor" bzw. "African bushdoctor",

• "doktè wazyé",

• "obeahman" oder

• "gadè".

Diese Männer oder Frauen betätigen sich imWahrsagen, Heilen, Beraten und in der Behandlungvieler Krankheiten, die das menschliche Gemüt, denKörper und den Geist beeinflussen. Sie erhalten ihreAusbildung nicht von irgendeiner formalenErziehungsinstitution. Vielmehr repräsentieren sie dieFortsetzung eines alten Erbes von Wissen, Weisheitund Fertigkeiten über das menschliche Leben und dieUmwelt, welches mündlich von Generation zuGeneration weitergegeben wurde.

Innerhalb dieses allgemeinen Bereiches dertraditionellen Medizin können wir die Arbeit dertraditionellen Hebamme nicht hoch genug einschätzen.Sie wird in den Kommunitäten als „fanm chay“ oder„chas fanm“ bezeichnet. Diese lokalen Hebammenhaben seit Generationen Babies zur Welt gebracht undpostnatale Behandlung für Mütter und ihre Babiesbereitgestellt. Bedingt durch die Ausdehnung derschulmedizinischen Versorgung auf entlegene Gebieteund den leichteren Zugang zu den Spitälern werdenheute die Dienste der traditionellen Hebamme oder „chasfanm“ nicht mehr so viel beansprucht wie früher.Dennoch sind noch viele von ihnen in den Dörfern tätigund stellen vor allem in Notfällen ihre wertvollen Dienstezur Verfügung.

Der gute Buschdoktor besitzt in der Regel ein breitesWissens über pflanzliche Heilmittel, Basisversorgungund pharmazeutische Medizinen. Er oder sie könnenkonsultiert werden, um Buschmedizin "wimèd wazyé"für verschiedene gesundheitliche Beschwerden zuverabreichen, wie zum Beispiel Erkältungen,Gelenksschmerzen, Magenverstimmungen, etc., oderauch einen Trank zu mischen, der das System von Unreinheiten reinigt und abführend bzw. ausscheidendwirkt. Klienten, die mit der Wirksamkeit von Medikamenten, die von einem konzessionierten Arzt verschriebenwurden, nicht zufrieden sind, mögen zuweilen auch den Buschdoktor für zusätzliche medizinischeBehandlungen aufsuchen.

Es gibt eine sehr weit verbreitete Meinung in St. Lucia, dass westlich ausgebildete Ärtze nicht alles wissen,was mit Krankheiten zusammenhängt, und dass einige Krankheiten tatsächlich jenseits ihresVerstehensbereiches liegen. Daher bleibt die Popularität des Buschdoktors bei Leuten aus allengesellschaftlichen Schichten erhalten, trotzdem sich die schulmedizinische Versorgung bis in entlegene Teileder Insel ausbreitet. Die Heilmittel des Buschdoktors werden auch in Bereichen jenseits des reinMedizinischen für wirkungsvoll gehalten. So zum Beispiel mag er/sie in der Lage sein, Schutz gegen dasBöse zur Verfügung zu stellen, menschliche Angelegenheiten zu beeinflussen wie z.B. den Erfolg in derLiebe sicherzustellen oder auf den Geliebten einzuwirken. Auch vermag er/sie, eine Unglückssträhneumzukehren, oder einfach in verschiedenen Schwierigkeiten Rat anzubieten.

Foto: Der "African bushdoctor" Norris Lionell mit

Buschmedizin

(Manfred Kremser © 1982)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

32 von 85 04.06.2010 17:09

Page 33: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Buschdoktoren hatten sehr viel unter sozialen wie anderen Vorurteilen der Gesellschaft zu leiden und wurdenin ihrer Aktivität eingeschränkt. Die seit der Sklaverei und dem Kolonialismus vererbten Vorurteile gegen dieindigene Kultur afrikanischer Menschen wurde in vielen negativen offiziellen Einstellungen der Kirche unddes Staates gegenüber der Arbeit des Buschdoktors zum Ausdruck gebracht. Sie wurde geächtet und alsanti-religiös gebrandmarkt, als das Werk des Bösen, als Hexerei und Zauberei. Selbst die etablierten Ärzteversuchten tatkräftig die Buschdoktoren zu diskreditieren, wahrscheinlich weil sie in ihnen eine unwillkommeneKonkurrenz erblickten. Dennoch haben Untersuchungen gezeigt, dass der Einfluss des Buschdoktors sehrtief in der Gesellschaft verankert ist, dass sogar diejenigen Leute, deren Stimmen in der Öffentlichkeit sonegativ sind, unter privaten Umständen den Buschdoktor selbst konsultieren.

Die Buschdoktoren in St. Lucia sind alles andere als anti-religiös. Tatsächlich sind sie gewöhnlich sehr eifrigpraktizierende Christen, für die Gott und ihr christlicher Glaube eine zentrale Rolle in ihrer Arbeit spielt. Vieleunter ihnen akzeptieren keinerlei Bezahlung für ihre Arbeit von ihren Klienten, da sie ihre Arbeit nicht wirklichals die ihrige, sondern als die von Gott oder einer Gottheit selbst betrachten. Ihre Talente und Fertigkeitenwurden ihnen von Gott verliehen, um seine Arbeit fortzusetzen. Folglich sind Gebete und Rituale gewöhnlichsehr zentrale Aspekte ihrer Arbeit. Ein anderes wichtiges Element ist ihr Glaube. Diejenige Person, dieBehandlung oder Beistand sucht, muss an den Heiler und seine Arbeit glauben, andernfalls würde alles vielschwieriger sein, und eine erfolgreiche Behandlung seitens dieses Heilers wäre beinahe unmöglich.Traditionelle Medizin und die Heiler, die damit arbeiten, sind ein sehr wichtiges Betätigungsfeld in denKommunitäten St. Lucias. Fast jeder einzelne St. Lucianer hat daraus bereits Nutzen gezogen.

1.7 Landwirtschaftliche Arbeit und Mondmythen

Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten des ländlichen Volkes sind heute noch von vielen Mythen undpopulären Glaubenskonzepten gekennzeichnet, die diese Praktiken beeinflussen. Dabei könne dreiHauptkategorien solcher Glaubensvorstellungen identifiziert werden:

Foto: Medizinische Farne am Kélé-Altar zwischen den Shangó-Steinen

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

33 von 85 04.06.2010 17:09

Page 34: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

• Diejenigen, bei denen der Mond eine Rolle spielt. Dabei scheinen die Mondphasen sehr wichtig zu sein, umEntscheidungen bezüglich des Auspflanzens und der allgemeinen Handhabung von Pflanzen und Tieren zumachen. Die Größe des Mondes, seine Position, und selbst seine Bewegung können entscheidende Faktorenin der landwirtschaftlichen Arbeit sein. Der Umstand, daß die Dinge während der richtigen Mondphasegemacht werden, mag die Größe des Ernteertrages des Farmers bestimmen, das Ausmaß des Erfolges beider Unkrautbekämpfung, die Größe der Bäume und selbst das Geschlecht eines Baumes oder eines Tieres.

• Glaubensvorstellungen, die mit bösen Geistern assoziiert werden. In den ländlichen Bereichen St. Luciasexistieren noch viele abergläubische Vorstellungen, die landwirtschaftlichen Praktiken beeinflussen können. DieLeute glauben an die Existenz des Bösen und an die Fähigkeit bestimmter Menschen, es zu bändigen undfür destruktive Zwecke gegen Andere einzusetzen. Daher enthält die Arbeit der Farmer Maßnahmen, die aufden Schutz vor dem Bösen abzielen, oder auch darauf, die Wirkungen des wahrgenommenen Bösen zu heilen.Viele von ihnen mögen unter den Instruktionen eines "gadè" oder Buschdoktors handeln und bestimmteGegenstände an spezifischen Stellen im Garten anbringen, oder ein bestimmtes Ritual als Teil der Arbeitdurchführen. Es gibt sogar verschiedenartige Pflanzen, die — wenn man sie entsprechend dem Volksglaubenan strategischen Stellen im Garten pflanzt — böse Geister fernhalten können. Tatsächlich glauben dieMenschen auch an die Existenz von guten Geistern, die zum Schutz und für Glück nutzbar gemacht werdenkönnen.

• Es gibt auch allgemeine Mythen, die in keine der obigen Kategorien fallen. So glauben Farmer, daßbestimmte seltsame Verhaltensweisen die Produktion beeinflussen können. So z.B. kann ein bestimmtesZurückschneiden eines männlichen Obstbaums ihn zum Tragen veranlassen, das Fingerzeigen auf eineKürbisblüte kann diese abfallen lassen, und das Anbrennen von Baumstämmen kann die Produktion erneuern.Es gibt Dutzende solcher bislang wissenschaftlich unbestätigter Theorien in ganz St. Lucia, an die die Farmerglauben und die sie bei ihren täglichen landwirtschaftlichen Arbeiten befolgen, trotz der häufig vorgebrachtenSkepsis junger Landwirte, die vom formalen Erziehungssystem her kommen.

Foto: Organischer Landbau als Projekt der Zimbabwe Roots Farm

(Manfred Kremser © 1985)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

34 von 85 04.06.2010 17:09

Page 35: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die moderne Erforschung traditioneller Mythen, die in der landwirtschaftlichen Arbeit im Überfluß vorhandensind, wächst ständig. Tatsächlich wird durch diese Forschungen mehr und mehr die wissenschaftliche Basisfür viele dieser Glaubensvorstellungen enthüllt. Trotz der Tatsache, daß viele von ihnen unbewiesen und durchkeinerlei Indizien erhärtet sind, herrscht heute dennoch die öffentliche Meinung vor, daß die modernelandwirtschaftliche Planung diese tief verwurzelten kulturellen Überzeugungen von St. LucianischenFarmern nicht ignorieren darf, da in ihnen Generationen von wissenschaftlich fundiertem Wissen über dieUmwelt begründet liegen mögen.

2 Ethnische Religionen

2.1 Bön in Tibet

Im Folgenden soll die prä-buddhistische[1] Religion des Bön in Tibet in seinen unterschiedlichen Aspektenbeleuchtet werden.

Bön war die vorherrschende Religion Tibets als im 8. Jahrhundert der Buddhismus ins Land gelangte. Bönwar und ist geprägt von starken schamanischen und animistischen Elementen, hat jedoch im Laufe derJahrhunderte eine Vermischung mit buddhistischen Glaubensinhalten erfahren.

Seit 1977 ist die Bön-Religion als fünfte Weisheitsschule, neben den vier Schulen des tibetischenBuddhismus[2], offiziell vom Dalai Lama anerkannt.

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 3.2[2] Siehe Kapitel 3.2.3

2.1.1 Das Studium des Bön in der KSA

Foto: Organischer Landbau wird von Rastafari

bevorzugt

(Manfred Kremser © 1986)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

35 von 85 04.06.2010 17:09

Page 36: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Der Artikel “The Study of Bon in the West: Past, Present and Future” des norwegsichen Anthropologen PerKvaerne, die Einleitung zu dem Buch “New Horizons in Bon Studies“ (2000: S. 7ff), befaßt sich mit denverschiedenen Forschern und Wissenschaftern sowie deren Arbeit und Erkenntnissen, die maßgeblich an derErforschung des Bön in Tibet beteiligt waren und sind.

Die Hauptfragen, die man sich hier stellte, lauten:

Was ist die Verbindung zwischen dem frühen, prä-buddhistischen Bön und den gegenwärtigen,organisierten religiösen Schulen des Bön?

Was ist die Beziehung zwischen Bön und Buddhismus?

Des Weiteren muß David L. Snellgrove erwähnt werden, der als einer der ersten westlichen Wissenschafterausgedehnte Forschungsreisen in die Himalayaregionen unternommen hat und immer wieder mitBön-Gemeinschaften zusammentraf. Er entdeckte, daß die Bönpos eine umfangreiche und unerforschteLiteratur besaßen. 1960 traf Snellgrove einige gelehrte Bönpo- Mönche aus Tibet und er begann mit ihnenzusammen zu arbeiten. Das erste und sichtbarste Resultat dieser Zusammenarbeit war die Publikation „TheNine Ways of Bon“ (1967), welche zum ersten Mal eine systematische Präsentation der Lehren des Bön für denWesten zur Verfügung stellte. Es war dies die Zusammenarbeit mit dem Bön-Gelehrten und Abt des KlostersMenri in Dolanji, Nordindien, Löpon Tenzin Namdak. Die Hauptaussage deren gemeinsamer Theorien war dieFeststellung, daß der post- 11. Jhd.- Bön keine unheimliche Perversion des Buddhismus darstellt, sonderneher eine eklektische Tradition ist, die gerade ihre buddhistischen Elemente betont statt sie zu negieren.Nichtsdestotrotz betonte Snellgrove immer wieder, daß der wirkliche Hintergrund des Bön in der buddhistischenMahayana Tradition Nordindiens vermutet werden muß. Grundsätzlich hat Snellgrove den Bön als eine Formdes Mahayana Buddhismus betrachtet.

Geoffrey Samuel ist Professor für Anthropologie der Universität Newcastle, Australien, und seineHauptforschungsgebiete sind die Religionen Tibets. Er hat ein Modell für die frühe historische Entwicklung derTibetischen Religion vorgeschlagen. Die erste Etappe (vor dem 7.Jhd.) ist gekennzeichnet von derursprünglichen schamanischen Religion der Tibeter, zuerst in ihrer lockeren, staatenlosen Form und später ineiner Proto-Staaten Prägung. Diese wird gefolgt von einer Periode der „Hofreligion“; Bönpo-Priester waren hiersowohl von der schamanischen Religion wie auch der frühen Religion Zhang Zhungs beeinflusst.

2.1.1.1 Entwicklung des Bön nach Hoffmann

Helmut Hoffmann, deutscher Indologe und Tibetologe, war der erste, der sich selbst die Aufgabe setzte, dieThematik des Bön in einem umfassenden Werk zu bearbeiten: „Quellen zu Geschichte der tibetischenBön-Religion, 1950“.

Seine Arbeit ist eindrucksvoll und fundamental. Hoffmann behauptete, daß die ursprüngliche Bön-Religioncharakterisiert war von einer totalen Abhängigkeit der Tibeter von ihrem natürlichen Umfeld. Um mit dieserAngst und Ehrfurcht, die die Natur und ihre Erscheinungen in ihrem Bewußtsein hervorgerufen hatte, umgehenzu können, verehrten die Tibeter Naturgeister und bedienten sich der Magie und Divination. Ihre komplett Natur-verwurzelten und Natur-dominierten religiösen Ideen drehten sich um die Mächte und Kräfte des unwirtlichenHochlandes und begründeten so den Glauben an zahllose Götter, Geister und Dämonen. Hoffmann bedientesich in diesem Zusammenhang zweier Termini: Animismus und Schamanismus. Er ging davon aus, daß dieursprüngliche Bön-Religion die nationale tibetische Ausformung einer alten animistisch-schamanischen Religionwar, die anfänglich nicht nur in Sibirien, sondern auch in Innerasien, Ost- und Westturkistan, der Mongolei,Mandschurei und in China vorherrschend war.

Der zweite wichtige Punkt in Hoffmanns Theorie war eine konkrete chronologische Abfolge der Entwicklung desBön: Gemäß Hoffmann kann die Geschichte des Bön in drei Perioden gegliedert werden:

1.) Die prä-buddhistische Periode, die von einer animistisch-schamanischen Kultur und Auffassungsweisegeprägt war.

2.) Diese Zeit war gekennzeichnet von dem Entstehen einer organisierten Priesterschaft und einer konkretenDoktrin, unter dem Einfluss von West-Tibet. So spielten die Einflüsse von Shivaismus, Gnostizismus undbuddhistischem Tantra hier eine Rolle.

3.) Diese Etappe ereignete sich nach dem Triumph des Buddhismus. Anhänger des Bön waren nungezwungen sich in entlegenere Gebiete Tibets zurückzuziehen und haben, um das Überleben ihrer Religion zusichern, essentielle Elemente des Buddhismus kopiert.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

36 von 85 04.06.2010 17:09

Page 37: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

2.1.1.2 Einteilung nach Kvaerne

Per Kvaerne schlägt in diesem Zusammenhang eine leicht unterschiedliche Einteilung vor:

1.) Die autochthone, prä-buddhistische Religion, die mit Samuels ursprünglich schamanischer Religionkorrespondiert.

2.) Ein organisierter Kult, der möglicherweise die Person des Königs im Fokus hatte, beeinflusst vonbenachbarten Religionen wie Indien oder Iran und der sich sowohl in Tibet wie auch im Reich Zhang Zhungetablierte.

3.) Eine gegenwärtige Volksreligion oder „Religion ohne Namen“, die oftmals in der westlichen Literatur alsBön bezeichnet wurde.

4.) Die post-11. Jhd. organisierte, monastische Bön-Religion, die sich Yungdrung-Bön, unveränderlicher Bön,nennt. Diese Strömung stellte den Hauptforschungsschwerpunkt der letzten 50 Jahre dar.

Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür, den Bön, trotz all seiner Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, alseine eigenständige, separate Religion zu betrachten. Die gegenwärtige Mystifizierung des Bön betrachtetKvaerne sehr kritisch und erwähnt hier die westlichen Projektionen in Bezug auf Tibet und seine Religionen.Nachdem sich die Begegnungen zwischen dem Westen und Tibet vervielfachen, wächst auch die Gefahr derMissinterpretationen. Bön ist ein Gebrauchsartikel im globalen Supermarkt der Religionen geworden, ein Objektder New Age ökonomischen und ideologischen Ausbeutung. Es bleibt, diese kritischen Gedanken während desStudiums des Bön zu reflektieren.

Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür drei Bedeutungen des Begriffs „Bön“ abzustecken und zudefinieren um ein Studium und ein vergleichendes Arbeiten zu ermöglichen. Als Professor für Geschichte undTibetologie der Universität Oslo gilt er als herausragend auf dem Gebiet der systematischen, wissenschaftlichenErforschung Tibets und seiner religiösen und kulturellen Vielfalt. Seine Publikationen umfassen: An Anthologyof Buddhist Tantric Songs: A Study of the Caryāgīti. Tibet: Bon Religion. A Death Ritual of the Tibetan Bonpos.The Bon Religion of Tibet: Iconography of a Living Faith.

2.1.1.3 Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön

Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön nach Per Kvaerne sind:

1.)

Bön bezeichnet die prä-buddhistische Religion Tibets, die schrittweise vom Buddhismus im 8. und 9.Jahrhundert verdrängt wurde. Diese Religion, die nur unperfekt auf der Basis alter Dokumente rekonstruiertwerden konnte, scheint die Person des Königs, der als heiliges Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten erachtetwurde, ins Zentrum zu rücken. Ausführliche Rituale wurden von professionellen Priestern, genannt Bönpos,ausgeführt. Es ist möglich, daß hier die religiöse Doktrin und Praxis Bön genannt wurde. In jedem Fall wardieses religiöse System essentiell verschieden vom Buddhismus.

Die Rituale, die die Bönpo-Priester ausführten, waren vor allem darauf ausgerichtet, die Seele einer totenPerson sicher in ein glückseliges Land zu befördern. Hier wurden Tieropfer angewandt, ein Yak, Pferd oderSchaf wurde stellvertretend geopfert. Diese Zeremonien hatten zweierlei Sinn: einerseits sollten sie das Glückder Verstorbenen im Land der Toten garantieren, andererseits sollte ihr nützlicher und wohlwollender Einflußund das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit der Lebenden gesichert werden.

2.)

Bön kann sich darüber hinaus auch auf eine Religion Tibets beziehen, die im 10. und 11. Jahrhundert inTibet in Erscheinung trat, zur selben Zeit als sich gerade der aus Indien kommende Buddhismus im Erstarkenbefand. Diese Religion, die in einer ungebrochenen Tradition bis zum heutigen Tag fortbesteht, hat vieleoffensichtliche Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, im Besonderen was Doktrin und Praxis betrifft, undzwar soviel, daß ihr Status als unabhängige, individuelle Religion zu bezweifeln wäre. Manche Forscherbehaupten, Bön könnte als eine unorthodoxe Form des Buddhismus bezeichnet werden. Tibetische Buddhistenbetrachten den Bön in jedem Fall als eine eingeständige Religion. Oftmals wurde die Tatsache, daß dieAnhänger dieser Religion, die Bönpos, davon überzeugt sind, daß ihr Glauben älter als der Buddhismus ist,von westlichen Wissenschaftlern ignoriert oder geleugnet.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

37 von 85 04.06.2010 17:09

Page 38: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

3.)

Der Begriff Bön wird weiters dazu verwendet, ein weites und umfangreiches Feld des „Volksglaubens“ zubezeichnen, das von Divination (Prophezeiung) über den Kult der Lokal-Gottheiten bis hin zu Konzeptionenüber die Seele reicht. Die tibetische Verwendung bezieht sich bei solchen Praktiken im Allgemeinen nicht aufden Begriff Bön, und nachdem sie weder einen essentiellen Teil des Buddhismus noch des Bön (wie in 2.))darstellen, wäre der Begriff „nameless religion“ von V.R. Stein hier angebracht.

2.1.2 Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer

- Urtümlicher oder Ursprünglicher Bön (Dö-Bön)

Dieser so benannte Bön dauerte hinein bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. und bezeichnet eine namenloseVolksreligion, die sich mittels Zaubersprüchen und Opferritualen um die Besänftigung meist feindseligerGeister und Dämonen bemüht. Da die archaischen Gottheiten und Rituale lokaler Art waren, gab es keineeinheitliche Lehre. Diese Epoche läßt sich deshalb auch als Lha-Bön, Bön der Gottheiten, bezeichnen.

- Irrender Bön (Kyar-Bön)

Die zweite Phase dauert bis zum 9. Jahrhundert n. Chr. Vermutlich wurden zu dieser Zeit die erstenAnstrengungen unternommen, die vielen verschiedenen lokalen Zeremonien zu vereinheitlichen und eineentsprechende Religionslehre zu entwickeln. Da es noch keine angemessenen Bestattungsrituale für dieKönige gab, wurden Bönpo aus westlichen Nachbarländern eingeladen um neue Totenrituale einzuführen.Diese Epoche wird auch Dur- Bön, Bön der Gräber, genannt.

- Angepaßter oder Systematischer Bön (Gyur-Bön)

Diese Epoche beginnt im 11. Jahrhundert und ist durch vollständige Systematisierung des Bön zu einereinheitlichen Heilslehre geprägt. Obwohl diese letzte Entwicklung zur Assimilierung vieler buddhistischerGlaubensvorstellungen geführt hat, hat der Bön auf seinen Anspruch, die erste Religion Tibets zu sein, nieverzichtet.

Literatur:

Baumer, Christoph: Bön-Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz 1999.

2.1.3 Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak

Tenzin Nadmak, der als der führende Theologe der Bönpo gilt, teilt die Geschichte des Bön folgendermaßenein:

- Primitiver Bön

Er wies als Naturreligion viele Ähnlichkeiten mit dem Schamanismus der zentralasiatischen Völker auf. (Sieheursprünglicher Bön)

- Alter oder Ewiger Bön (Yungdrung Bön)

Vom erleuchteten Meister Tönpa Shenrab gegründet, hat der ewige Bön gewisse schamanische Vorstellungenaus dem primitiven Bön übernommen. Nach einer Phase des Niedergangs im 8. Jhd. erfährt er eineWiederbelebung im 9.Jhd. und gelangte so in Zentral-und Osttibet im 11.Jhd. zu neuer Blüte.

- Neuer Bön

Verbreitete sich im 19. Jahrhundert von den östlichen Provinzen Kham und Amdo ausgehend und übernahmviele Elemente der buddhistischen Schule der Nyingmapa[1].

Obwohl sich die Bönpo bis heute in Anhänger des Alten oder Neuen Bön aufteilen, bleiben die beiden Gruppeneng miteinander verbunden.

Verweise in diesem Kapitel:

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

38 von 85 04.06.2010 17:09

Page 39: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

[1] Siehe Kapitel 3.2.3.1

2.1.4 Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten"

Basis der Vorstellungen des Kosmos bildet die Annahme,

daß Götter und Geister die bedrohlichen Naturkräfte lenken, und sich durch Opfer besänftigen undgünstig stimmen lassen

.

Es gibt keine einzelne, übermächtige Gottheit, die den Kosmos lenkt, vielmehr besteht dieser aus einemdynamischen Gleichgewicht göttlicher und dämonischer Kräfte, die sich gegenseitig beeinflussen. Zu diesenEinflußfaktoren gehört auch der Mensch, der die Welt zeitlich gesehen nach den Geistern und Göttern betretenhat und sich ihnen deshalb anpassen muß. Hat er einmal eine solche übersinnliche Kraft aktiviert –beispielsweise durch das Übertreten eines Tabus – gerät die bisherige Harmonie aus dem Gleichgewicht. Derbetreffende Mensch wird krank. Erst die Besänftigung der erzürnten Macht kann den vorangegangenenZustand wieder herstellen bzw. den Kranken genesen lassen.

Gemäß dieser holistischen Weltanschauung ist der Mensch stets auf das engste mit der ihn umgebendenUmwelt verbunden. Deshalb besteht die Aufgabe des Bönpo- Priesters darin, zwischen den unsichtbarenMächten und den Menschen zu vermitteln, damit das ursprüngliche Gleichgewicht wieder hergestellt wird.

So entstand eine unübersehbare Anzahl an lokalen Göttern und Geistern, denen allen ihr menschlicherCharakter gemeinsam ist: sie können wohlwollend oder bösartig sein, sind häufig launisch und leicht beleidigt,worauf sie die Menschen rasch mit einem Unglück oder einer Krankheit bestrafen.

Das Universum der Götter und Geister des Bön läßt sich in drei Sphären gliedern:

Lhayül, Miyül, Ogyül, entsprechend der himmlischen, der mittleren und der unteren Welt.

Das Zentrum bildet der heilige Berg Kailash, die Spitze des Kailash ragt wie eine kosmische Zeltstange durchein Loch in die neun himmlischen Zonen hinauf und verbindet so Himmel und Erde. Durch die Öffnung dringtdas ewige Licht, das Sonne, Mond und Sterne sowie die Erde erleuchtet. Zwischen dem Himmelszelt und derlotusförmigen Erde befindet sich die Mittelwelt, zu der auch unser Luftraum gehört. Die Bönpo nennen denKailash Yungdrung Gutse, was soviel wie „neun übereinandergestapelte Swastiken“ bedeutet. Unter der Erdebreitet sich die ebenfalls neun-stufige Unterwelt aus.

2.1.4.1 Die obere Welt Lhayül

Die himmlische Welt Lhayül

Lhayül ist die Heimat der weißen, friedfertigen Lha-Gottheiten. Grundsätzlich den Menschen gegenüberpositiv eingestellt, können sie, bei Mißachtung von Geboten oder einem fehlerhaft ausgeführten Ritual,dennoch bestrafen. (Der Name Lhasa (Götter-Ort) leitet sich von hier ab.)

Neben den Lha werden aber auch die Gestirne, Sonne, Mond und Sterne, verehrt. Sonne und Mond geltennoch heute als Glückszeichen und werden in den Dörfern sowohl von Bönpo als auch von Buddhisten oft aufdie Haustüre gemalt.

Grundsätzlich wird zwischen friedfertigen und zornvollen Gottheiten unterschieden. Darüber hinaus wird imBön die weitere Unterteilung getroffen zwischen erleuchteten Gottheiten, die den karmischen Kreislauf undGeburt und Tod verlassen haben und Gottheiten, die von dieser Welt sind, den Gesetzen von Karmaunterliegen und noch keine vollständige Erleuchtung erlangt haben.

2.1.4.1.1 Die friedfertigen Gottheiten

Die Gruppe der „Vier Grossen Seligen“, „the Four Transcendent Lords“, (P. Kvaerne) umfaßt die wichtigstenund beliebtesten friedfertigen Götter und besteht aus einer weiblichen und drei männlichen Gottheiten. Diesegöttliche Tetrade ist ewig, manifestiert sich aber in jedem kosmischen Weltzyklus unter einem anderen Namen.Es sind dies die Mutter aller Wesen Satrig Ersang, der Gott der Weisheit Shenlha Wökar, der Weltgott SangpoBumtri sowie der Lehrmeister Tönpa Shenrab.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

39 von 85 04.06.2010 17:09

Page 40: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Satrig Ersang steht an der Spitze, ihr Name bedeutet etwa „erleuchtete Weisheit“, ihre beliebtesteErscheinungsform ist die der Chamma, der „liebenden Mutter“. Sartig Ersang wird gerne mit dembuddhistischen Bodhisattva Prajnaparamita verglichen, eine weibliche Gottheit der Weisheit und desMitgefühls, doch haben wir es hier mit einem eigenständigen Konzept des Bön zu tun. Ihr essentiellerCharakter ist die Weisheit, ihre Farbe ist Gelb, ihr Thron von Löwen umgeben, sie ist dem Osten zugeordnet.

Shenlha Wökar ist der erste Gott der männlichen Triade; er herrscht über den Norden. Sein Name läßt sich als„Priester-Gott des weißen Lichts“ übersetzen. Er gilt als Gott der Weisheit, als das ruhende göttliche Prinzip.Per Kvarene bezeichnet ihn als „unconditional being“ oder „supreme being“, als „body of Bon“ und zieht eineVerbindung zu Buddha Amithaba. Seine Farbe ist weiß, sein Thron wird von zwei Elephanten getragen.

Sangpo Bumtri ist der zweite Gott der Triade, ihm wird große Verehrung zuteil, er gilt als der Lenker desaktuellen Weltzeitalters. Per Kvaerne zieht hier eine Verbindung zum Hindu-Gott Brahma, doch besteht keinZweifel, daß Sangpo Bumtri eine authentische tibetische Gottheit ist. Er tritt als Schöpfer des Universums, alsWeltgott, auf. Sein Name reflektiert seine Bedeutung: sangs meint soviel wie „erleuchtet“, bum hunderttausend.Er ist also der erleuchtete Herr der unzähligen Lebewesen. Zwei kleine Khyung- Vögel stützen seinen Thron, erist dem Westen zugeordnet.

Tönpa Shenrab wird als die dritte männliche Gottheit verehrt. Er ist der vergöttlichte Lehrer in unseremZeitalter, wird oftmals mit Buddha Shakyamuni verglichen, doch die linksdrehende Swastika auf seiner Brustmacht eine Verwechslung unmöglich. Geboren wurde Shenrab im Jahre 16016 v. Chr. im unvergänglichenReich Olmolungring, welches als Zentrum der Zivilisation gilt und vom Berg Yungdrung Gutse beherrscht wird.Dieses Land soll ein Teil von Tazig (Persien) gewesen sein (vgl. M.A. Nicolazzi: Mönche, Geister undSchamanen, 1995). Die Beschreibung dieses Landes paßt aber auch um das Gebiet um den heiligen Berg Tise(Kailash), das einst den zentralen Teil des Landes Zhang Zhung bildete. Tönpa Shenrab ist dieHimmelsrichtung des Südens zugeordnet. Die heiligen Lehren empfing er vom Weisheitsgott Shenlha Wökar.Shenrab war in seinem ersten Lebensabschnitt ein weltlicher Fürst, der frommen Königen half und feindlicheDämonen bekämpfte. Zeit seines Lebens war Shenrab ein Prediger des Bön, er hielt nicht nur den Menschen,sondern auch den Geistwesen Vorträge und erörterte mit ihnen eine Vielzahl an philosophischen und religiösenFragen.

Zu den Gottheiten des Himmels zählt auch der Khyung -Vogel, der häufig als schützender Begleiter desLehrers Shenrab Miwoche auftritt. Laut Per Kvaerne stellt dieser mythische Vogel ein altes tibetisches Konzeptdar, ursprünglich unabhängig vom indischen Garuda, mit dem es erst später identifiziert wurde.

Dem Khyung – einem Wesen, halb Mensch, halb Vogel – kommt in der Bon-Religion eine große Bedeutung zu.Er diente bereits dem Bon-Stifter Tenpa Sherab, der ihn gegen das Schloß seiner Feinde anfliegen ließ, und erwar Schützer der Shang-Shung-Dynastie. Westlich des Kailash soll ihm ein ganzes Tal gewidmet sein, so gehtaus der Bon-Überlieferung hervor, in dem sich Khyunglung Ngulkar Karpo, das sagenhafte Silberschloßbefand. In allen Bon-Litaneien wird dieser Ort als das heilige Land des Bon beschworen und alle Spurendeuten darauf hin, daß es im Sutley-Tal liegt. (Vgl. Bruno Baumann: Auf der Suche nach Shangri-La)

Khyung ist der unerbittliche Feind der Schlangen, sein Sieg über sie symbolisiert den Triumph der himmlischenMächte über die bedrohlichen Kräfte der Dunkelheit. Laut Christoph Baumer ist der Raubvogel Khyung einealttibetische Gottheit und weist keine Parallelen mit dem indischen Garuda auf.

2.1.4.1.2 Die zornvollen Gottheiten

Dazu gehören die Dü und die Mu. Es soll 360 Dü geben, dessen König in einem neunstöckigen schwarzenPalast wohnt. Sie sind Dämonen himmlischer Sphären und stehen auf der Erde mit Krähen und schwarzenSchweinen in Verbindung. Die Macht dieser Dämonen wirkt auf die Menschen sehr beängstigend, weil sie aufOrte, Körper und Taten schädigend einwirken können. Die Mu hingegen haben die Gewohnheit die Menschenzu erschrecken und sie mit Durst oder Wassersucht zu plagen. Auch werden die Mu mit den Geistern vonVerstorbenen in Verbindung gebracht. Dort, wo sie leben gibt es einen See aus geschmolzenem Metall, der alsder Aufenthaltsort der Verstorbenen gilt.

Zu den zornvollen Gottheiten werden auch die Tutelargötter (Schutzgottheiten) oder Meditationsgottheiten(Yidam) gezählt. In der Auffassung des Bön werden innerhalb der erleuchteten Gottheiten jene, die infriedvoller Manifestation, von jenen, die in zornvoller Verkörperung erscheinen, unterschieden. TantrischePraktiken, Rituale und Meditation entfalten sich rund um diese Gottheiten. (P. Kvaerne) Wie im tantrischenBuddhismus wird auch im Bön unter Tantra ein Lehrsystem verstanden, das dem Lernenden aufzeigt mitwelchen Meditationspraktiken und Ritualen er sich der Erleuchtung annähern kann. Die Tutelargottheitenlassen sich auch als persönliche Schutzgottheiten verstehen, die sich in einem bestimmten Lehrzyklus dem

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

40 von 85 04.06.2010 17:09

Page 41: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Meditierenden offenbaren. Auf der höchsten Stufe erkennt der Meditierende, daß die Götter letztendlich überkeine eigene Existenz verfügen, sondern Schöpfungen der karmischen Kräfte sind, die sich in seiner Personbündeln. Diese Erfahrung entspricht derjenigen des Verstorbenen im Zustand des Bardos, wenn er diewohlwollenden und furchterregenden Gottheiten als Projektionen karmischer Energien erkennt. Mit ihren vielenArmen schwingen die Yidam schreckliche Waffen, ihre Gesichter drücken Zorn und Kampfeslust aus. Umgebenvon einem Feuerkranz, treten sie mit den Füssen die Feinde des Bön nieder. Sie werden nicht in sitzenderHaltung dargestellt, sondern in einem dynamischen Tanzschritt. Dieser Tanz, der das Gleichgewicht der Kräfteim Kosmos aufrecht erhält, wird in jedem Kulttanz von den Trägern der furchterregenden Masken symbolischwiederholt.

Auch wenn diese Yidam des Bön auf den ersten Blick ähnlich aussehen wie die buddhistischenTutelargottheiten, besitzen sie ihre eigene Charakteristik und eine unverwechselbare Ikonographie.

2.1.4.2 Die mittlere Welt Miyül

Der Name zeigt an, daß diese Welt die unsere ist, Mi bedeutet Mensch und Yül Welt. Die in dervorbuddhistischen Zeit mächtigen Tsen-Geister halten sich vor allem in dieser mittlern Welt auf, sie hausen amliebsten in Felsen, Schluchten, Gletschern und Bäumen. Sie sind ortsgebunden und werden als Herrscherüber einen bestimmten Bezirk und dessen Einwohner verehrt. Sie sind kriegerische Gottheiten, treten meistgepanzert und beritten auf und haben eine rote Körperfarbe. Sie gelten als überaus mächtig und leben in derbuddhistischen Tradition als Beschützer der Lehre weiter. Sie sind die Beherrscher der unzähligen Nyen.Gerade die Tsen waren es, die sich häufig eines Menschen bedienten, um zukünftige Ereignisse kundzutun.Ein Gutteil der im alten Tibet so zahlreichen Besessenheitsmedien, deren Rat und Weissagung in allenAngelegenheiten so gerne in Anspruch genommen wurde, waren Sprachrohr der Tsen. Wurden die Tsenmißachtet oder beleidigt, so rächten sie sich durch das Abschießen unsichtbarer Pfeile, die Krankheit undVerderben brachten. Die Verehrung der Tsen ist in der tibetischen Volksreligion bis heute lebendig geblieben.

Neben den Tsen gehören auch die untergeordneten Astralgeister der Nyen zur Miyül-Mittelwelt. Sie wohnen inder Sonne, im Mond und in den Sternen und können Pest, Pocken und Lähmungen verursachen. Sie geltenals überaus bösartig. Manchmal steigen sie sogar ins Wasser, was darauf schließen läßt, das siemöglicherweise mit den Klu verwandt sind.

Mit den Tsen und Nyen eng verwandt sind die lokalen Berggottheiten, die oftmals keine eigene Bezeichnunghaben, sondern bloß Yül-Lha „Lokalgottheit“ genannt werden. Sie vermitteln zwischen Himmel und Erde undtragen so zur universellen Harmonie bei. Die Berggeister sind launenhaft und unberechenbar, genauso wie dasWetter, das sie kontrollieren. Sie herrschen über das umliegende Gebiet, sind sehr sensibel und reagierenempfindlich auf Fehlleistungen des Menschen, indem sie Hagel- oder Schneestürme auslösen, Dürre bewirkenoder Erdbeben veranlassen können. Deshalb genießen sie bei allen Tibetern - Bönpo wie Buddhisten -besondere Verehrung. (Auf jedem Paß und manchem Gipfel findet sich ein „Lhatse“, ein der Gottheit geweihterSteinhaufen, den jeder Reisende mit einem kleinen Stein erhöht.) Jeder Berg hat seinen eigenen Charakter,seine spezifische energetische Ausstrahlung und beeinflußte wesentlich nicht nur das Klima und dieWetterverhältnisse seiner Umgebung, sondern auch die Lebensweise der in seinem Umfeld lebendenMenschen. Der Berg wachte auch als Schutzgottheit über die Einhaltung der gesellschaftlichen Normenzwischen all jenen Menschen, die in seinem Einflußbereich lebten. Verstieß auch nur ein Einzelner gegen diereligiöse oder soziale Ordnung der Gemeinschaft, so konnte der Berg bzw. seine Gottheit dem Dorf seinenSchutz entziehen.

Einige besonders auffällige Berge wurden als Sitz bedeutender Berggottheiten verehrt. Der heiligste BergTibets ist der Yungdrung Gutse (Kailash, 6714m), er ist die Residenz des wichtigen Bön-Schutzgottes Ku-LhaGekhö. Der Berg ist Ursprung vier großer Flüsse (Sutlej, Indus, Brahmaputra, Karnali), bildet zusammen mitdiesen vier Quellen ein riesiges Mandala, der Berg repräsentiert den zentralen Weltenbaum, die vier Quellendie vier äußeren Tore. Der Kailash wird sowohl von Buddhisten, Bönpo, Hindus und Jainas verehrt.

Die ursprünglich animistische Verehrung der tibetischen Berg-Gottheiten fand, ihrer großen Bedeutung wegen,auch in den Buddhismus Eingang. Als Schutzgottheiten der buddhistischen Lehre wurden sie in dieKosmologie und das Pantheon der tibetischen Buddhismus integriert, und die Rituale wurden zu einemwichtigen Aufgabenbereich der buddhistischen Mönche und Lamas.

2.1.4.3 Die Unterwelt Ogyül

Die wichtigsten Bewohner der Unterwelt („Og“ bedeutet unten) sind die Klu-Wassergeister und die Sadag-Erdgeister.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

41 von 85 04.06.2010 17:09

Page 42: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Die Klu, die als Schlangengeister später den indischen Nagas zugeordnet wurden, herrschen über dieverschiedenen Gewässer. Viele Klu sind weiblichen Geschlechts und heißen dann Lumo. Diese Geister lebensowohl in der Unterwelt als auch in der mittleren Welt der Menschen und symbolisieren so die Verbindungzwischen den beiden Daseinsbereichen. (So wie der Khyung-Vogel die mittlere und die obere Welt verknüpft.)

Die Klu werden sehr geschätzt und gefürchtet, einerseits können sie Regen bringen, andererseits gelten sie alsVerursacher von Lepra und Geschwüren. Der natürliche Feind der Klu-Schlangen ist der Khyung-Vogel, der inseinem Schnabel eine Schlange hält und so als Besieger der unberechenbaren Lu-Geister verehrt wird.

Die Sadag-Erdgeister konfrontieren in erster Linie den seßhaften Ackerbauern mit ihrer Macht. Da sie dieErdoberfläche bewohnen, kann kein Feld gepflügt, keine Ernte eingebracht oder kein Haus gebaut werden,ohne daß sie vorher durch Gebet und Opfer beschwichtigt werden, das sie sonst mit Krankheiten bestrafenwürden.

(Kloster Samye, das erste buddhistische Kloster in Tibet: Dessen Mauern wurden von Sadags und andernBön-Gottheiten immer wieder zum Einsturz gebracht. Erst Padmasambhava war in der Lage; die Macht derErdherren zu brechen und den Klosterbau zu Ende zu bringen.)

In gewissem Sinne haben die Sadag und die Klu eine ökologische Funktion, da sie mit Argusaugen darüberwachen, daß das natürliche Gleichgewicht des Lebensraumes durch die Eingriffe der Menschen nichtunüberlegt gestört wird. Diese bewahrende Rolle zeigt sich besonders bei Tabus wie denjenigen desübermäßigen Jagens oder Rodens, der Ausbeutung von Erzen oder der Verunreinigung von Quellen undGewässern.

Die Bönpo-Priester gelten als die Vermittler zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister.

(Luftbestattung der Tibeter: Angst; die Geister könnten durch das Ausheben eines Grabes gestört werden.)

Diese Traditionen gründen auf einem ganzheitlichen Weltbild, wonach die Mißachtung eines Tabus in der Weltder Menschen automatisch eine entsprechende Auswirkung in der Welt der Geister nach sich zieht. Daseintretende Unheil, wie z.B. eine Krankheit, wird als Symptom für eine gestörte moralische Ordnung gedeutet.Genesung wird als Ausdruck einer wiederhergestellten kosmischen Ordnung betrachtet.

Sowohl Bön wie auch buddhistischer Lamaismus binden durch ihr pantheistisches Weltbild den Menschen inein engmaschiges aber weitverzweigtes horizontales Netz von Glaubenssätzen und Ritualen ein, das auch dieNatur und deren Mächte und die Tiere umfaßt.

Nur ein beständiger Austausch - die Aufrechterhaltung einer sensiblen Balance zwischen Geben und Nehmen -konnte die Lebensgrundlage der Menschen sichern und ein glückliches Leben gewährleisten. Achtsamer undrespektvoller Umgang mit der Natur und Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse ihrer Wesenheiten bildeten fürdie Tibeter die Basis für ein harmonisches Zusammenleben zwischen Götter, Naturgeistern und Menschen.

(Das war ein kurzer Ausschnitt des Pantheons der Götter und Geister des Bön.)

2.1.5 Literatur

Hoffmann, Helmut. 1950. Quellen zur Geschichte der tibetischen Bön-Religion. Wiesbaden

Kvaerne, Per. 1995. The Bon Religion of Tibet. London: Serindia Publ.

Baumer, Christoph. 1999. Bön: Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz: Akad.Dr.-u.Verl.-Anst.

Karmay Samten Gyaltsen. 2000. New Horizons in Bon Studies. Osaka: National Museum of Ethnology

Samuel, Geoffrey. 2005. Tantric Revisionings: New understandings of Tibetan Buddhism and Indian religion.Aldershot: Ashgate

Tenzin Wangyal Rinpoche. 2004. Wonders of the natural Mind: The essence of Dzogchen in the native Bontradition of Tibet. Delhi: New Age Books

Schuster, Gerhard. 2000. Das Alte Tibet: Geheimnisse und Mysterien. Wien: NP-Buchverl.

Nicolazzi, Michael Albrecht. 1995. Mönche, Geister und Schamanen: Die Bön- Religion Tibets. Solothurn:Walter

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

42 von 85 04.06.2010 17:09

Page 43: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

http://www.bonfoundation.org/[1]

http://www.yungdrung-bon.net/[2]

http://www.ligmincha.org/[3]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.bonfoundation.org/[2] http://www.yungdrung-bon.net/[3] http://www.ligmincha.org/

3 Weltreligionen

In den folgenden Kapiteln wird ein Überblick über die grossen Weltreligionen gegeben, sowie ihre Philosophienund ihre praktischen Zugänge zu religiöser Praxis vergleichend besprochen.

Im speziellen wird hier auf den Buddhismus und den Sikhismus eingegangen, die beide in meinen eigenenFeldforschungen in Süd- und Südostasien eine Rolle gespielt haben und spielen.

3.1 Sikhismus

In den folgenden Kapiteln wird die Religion der Sikhs, Sikhismus, die sich vor etwa 500 Jahren in Nordindienentwickelt hat, besprochen.

3.1.1 Gründung und wesentliche Glaubensinhalte

Mit einem Alter von etwa 500 Jahren ist die Religion der Sikhs eine der jüngsten Religion weltweit.Geographisch hat sie ihre Wurzeln im Bundesstaat Punjab im westlichen Nordindien und kann als eineStifter- wie Erlösungsreligion betrachtet werden. Ihr Begründer ist Guru Nanak, der 1469 in einem Dorf in derNähe von Lahore im heutigen Pakistan in eine streng vom hinduistischen Glauben geprägte Familiehineingeboren wird.

Foto: Gläubige Sikhs beim heiligen Bad nahe des GoldenenTempels in Amritsar, Nordindien

(http://news.bbc.co.uk/1/hi/in_pictures/4470894.stm )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

43 von 85 04.06.2010 17:09

Page 44: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Am Beginn des Sikhismus steht ein mystischesOffenbarungserlebnis, in dem Nanak eine göttliche Stimmevernimmt, die ihn anweist, an einen einzigen Gott zu glauben,der in vollständiger Formlosigkeit nur im Inneren, nur im Herzeneines jeden Menschen wahrnehmbar und erfahrbar sei. DieInhalte dieses Erlebnisses stehen in starkem Kontrast zu derReligion seines Elternhauses. Dennoch wendet sich Nanak vomHinduismus ab und setzt sich intensiv für die Ideen undGlaubensinhalte des Sikhismus sowie deren Verbreitung ein.

Als Essenz der Botschaft Guru Nanks kann die schlichteGlaubensformel „Nam, Dan, Isnan“ angesehen werden, was einMeditieren über den Namen Gottes, ein Verteilen von Almosen,sowie eine reine Lebensweise impliziert.

Bis heute existiert im Sikhismus keine genaueGottesvorstellung, verehrt werden insgesamt zehn Gurus,sowie das Heilige Buch „Granth Sahib“.

3.1.2 Verhältnis zu Hinduismus und Islam

Im Unterschied zum Hinduismus, wo ja die Verehrung von einerVielzahl (auch bildlich dargestellter) Götter ein wesentlichesElement der Religion ausmacht, soll sich ein Sikh keinbestimmtes Bild von Gott machen, da ein allzu genaues Bild die persönliche, subjektive, innere Erfahrungvon Gott trübt und unscharf werden lässt. Auch wendet sich Guru Nanak gegen äußerliche religiöse Ritualeund Zeremonien, in dem Glauben, sie könnten dem wahren religiösen Erleben im Weg stehen und von einerwahren Konzentration auf Gott ablenken. Stattdessen soll man äußere Rituale in eine innere Sphäre derAndacht übertragen. Weiters spricht er sich gegen alle Praktiken, die auf Trennung, Unterscheidung undDualität beruhen aus, da sie dem Konzept von Gott als dem Einen, dem Zeit- und Formlosen widersprechen.

Die Religion der Sikhs lehnt das indische Kastensystem zwar prinzipiell ab, trotzdem wird es als Regelsystem inbestimmten Fragen des sozialen Lebens immer wieder anerkannt. Demzufolge steht auch das Frauenbild derSikhs in großem Widerspruch zu jenem der Hindus und Muslime: man verurteilt die in Indien verbreiteteWitwenverbrennung (sati) scharf, doch ist im Alltag der Sikhs bedauerlicherweise dennoch keine Verwirklichungvon Gleichberechtigung erkennbar, das hinduistische Modell der ergebenen Ehefrau scheint weithin sehrverbreitet zu sein.

Seit Jahrhunderten stehen sich Muslime und Hindus im Punjab feindlich gegenüber, es war der Sikhismus, derdie Befriedung und Versöhnung zwischen diesen beiden Religionsgemeinschaften propagiert. Guru Nanak giltbis heute als ein Symbol der Versöhnung zwischen Hinduismus und Islam.

Nicht nur hat er hinduistische und muslimische Glaubenselemente in der Religion der Sikhs vereint, auch ist erdafür eingetreten, dass Gott abwechselnd mit muslimischen oder hinduistischen Namen benannt wird.

Aus diesem Gedanken entwickelt er auch die Idee so genannten Langars, der Freiküchen, in denen Mensche,egal welcher Religion- und Glaubenszugehörigkeit, gemeinsam, in einem neutralen Umfeld, eine Mahlzeit zusich nehmen können. Diese Langars sind von Anfang an von der Absicht getragen,Verständnis und Toleranzzwischen den Religionen zu schaffen und zu unterstützen.

3.1.3 Äussere Merkmale seiner Anhänger

Unter dem vierten Guru Ram Das fällt dieGründung von Amritsar alsHauptpilgerzentrum der Sikhs. Die StadtAmritsar liegt ideal an der Route zwischen Kabulund Delhi, ihr Goldener Tempel gilt als dasHauptheiligtum der Sikhs, der von Guru ArjunDev erbaut worden ist.

Foto: Guru Nanak, der Begründer des

Sikhsimus

(http://www.singhsabha.com/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

44 von 85 04.06.2010 17:09

Page 45: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Im Laufe der Zeit gewinnt der Sikhismus immermehr an Popularität. Einen großen Zulauf erfährtdie Glaubensgemeinschaft vor allem aus denReihen der Muslime. Der Mogul-Kaiser Jehangirlässt als Reaktion auf diese Bewegung Guru

Arjun Dev zu Tode foltern. Der sechste Guru, der Sohn von Arjun Dev, hat daraufhin die Bewaffnung der Sikhsangeordnet, und dieser Religion, als Antwort auf die Anfeindungen, die sie während ihrer gesamten Geschichteerfahren haben, die militärische Komponente verliehen.

Der neunte Guru Tegh Bahadur wird von Muslimen zu Tode verurteilt, als er sich weigert, zum Islamüberzutreten. Vor seiner Hinrichtung beschwört er seinen Sohn, den zehnten und letzten Guru Gobindh Singh,seinen Tod zu rächen. Nun vollendet sich die Umwandlung der Sikhs in eine Kriegergemeinschaft mitfestgelegten Riten und Eiden.

Gobindh Singh erlässt eine Kleiderordnung, weiters die Verordnung, sich im Laufe seines Lebens

-- niemals die Haare zu schneiden,

-- das Haar mit einem Eisenkamm zu befestigen und unter einem Turban zu tragen,

-- einen Eisenarmreif am Handgelenk,

-- einen Säbel,

-- sowie knielange Hosen zu tragen.

Diese Vorschriften basieren auf der religiösen Überzeugung, wonach der Mensch in perfekter Form von Gottgeschaffen ist, und es deshalb keine Legitimation für den Menschen gibt, sein Äußeres, wie auch immergeartet, zu verändern.

Nachdem der zehnte Guru Gobindh Singh ohne Kinder geblieben ist und sich auch sonst kein geeigneterNachfolger gefunden hat, wird bis heute das Heilige Buch „Granth Sahib“, die vollständige Sammlung derGlaubens-, Lebens- und Wertvorstellungen der Sikhs, als göttlich anerkannt, und als lebender Guru verehrt.

3.1.4 Körperliche und geistige Ideale

Das Leben im Diesseits

Innerhalb des Sikhismus kann eine starke Betonung des Diesseits und der Gegenwart festgestellt werden.Ziel des Lebens ist nicht das Streben nach Erlösung oder das Eingehen in ein Paradies, sondern das Idealeiner physischen und spirituellen Ganzheit in der Gegenwart. Es gilt das Ideal der physischenUnversehrtheit, um im Hier und Jetzt in bester Voraussetzung seinen Körper wie auch seinen Geist einsetzen,die Aufgaben und Herausforderungen des Alltags bestmöglich meistern zu können. Gesundheit undkörperliche Fitness sind die Grundlage, sein Leben im Diesseits bestmöglich zu gestalten, wie auch dieGarantie für die ständige Verteidigungsbereitschaft seiner Religion. Bedeutend ist, dass Angehörige desSikhismus in keiner Weise dazu neigen, Verantwortung über ihr Leben auf Gott abzuwälzen, sondern jedereinzelne sich als Schmied seines eigenes Glückes erkennt, und so für sich, sein Leben und seine Taten vollsteVerantwortung übernimmt.

Militanz und Kampf

Militanz und militärische Verteidigungsideen sind, wie unschwer zu erkennen ist, aus derEntstehungsgeschichte des Sikhismus gewachsen, und bis heute untrennbar mit politischen wie religiösenIdealen und Vorstellungen vereint. Militante Politik und Religion sind in einen Synkretismus zur Erhaltungund Verteidigung des Sikhismus getreten, einer Religion, die seit ihres Entstehens außerordentlicherFeindschaft ausgesetzt gewesen ist. Bis in die Gegenwart ist die Doktrin der Untrennbarkeit von religiöser undpolitischer, von geistiger und von weltlicher Macht wesentliches Element im Glaubens der Sikhs.

3.1.5 Literatur

Stukenberg, Marla. 1995. Der Sikh-Konflikt: Eine Fallstudie zur Politisierung ethnischer Identität. Stuttgart:Steiner

Foto: Gläubige Sikhs bei einer religiösen Prozession, Punjab,

Nordindinen

(http://news.bbc.co.uk/2/hi/in_pictures/5298402.stm )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

45 von 85 04.06.2010 17:09

Page 46: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Stukenberg, Marla. 1995. Die Sikhs: Religion, Geschichte, Politik. München: Beck

Delhi Sikh Gurdwara Management Committee. 1999. What is Sikhism. New Delhi: Gurupdesh Printers

Delhi Sikh Gurdwara Management Committee. 1997. The Sikh Religion: An Outline of its Doctrines. New Delhi:Gurupdesh Printers

http://religion.orf.at/projekt02/tvradio/orientierung/or_011111.htm[1]

http://www.wien-vienna.at/buntezeitung/alltag3.htm[2]

http://www.amnesty.at/cont/presse/2001/usa9-11_5.html[3]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://religion.orf.at/projekt02/tvradio/orientierung/or_011111.htm[2] http://www.wien-vienna.at/buntezeitung/alltag3.htm[3] http://www.amnesty.at/cont/presse/2001/usa9-11_5.html

3.2 Buddhismus

"Die noch immer revolutionäre Einsicht des Buddhismus lautet: Leben und Tod sind im Geist, und nirgendwosonst. Der Geist ist die universelle Basis jeder Erfahrung - der Schöpfer von Glück und Unglück, der Schöpferauch dessen, was wir Leben und Tod nennen."

(Rinpoche, 2004: 66)

In den folgenden Kapitel wird ein Überblick über die Schulen des Buddhismus und den ihnen zu Grundeliegenden Philosophien gegeben.

3.2.1 Die Fahrzeuge des Buddhismus

Alle Fahrzeuge oder Schulen des Buddhismus gehenauf den historischen Buddha Shakyamuni, denPrinzen Gautama Siddharta aus dem Geschlecht derShakya zurück, der etwa zwischen 623 v. Chr. und.450 v. Chr. in der Stadt Lumbini im heutigen Nepalgeboren wurde. Sein Vater war Suddhodana, derHerrscher des Königreiches Shakya im heutigenNepal. Die Bezeichnung Buddha Shakyamuni leitetsich von hier ab und bedeutet soviel wie „Der Weiseaus dem Geschlecht der Shakya“. Die GeburtBuddhas wurde genauso phantasiereich ausgemalt,wie viele weitere Stationen seines Lebens, so daß eshäufig schwierig ist zwischen Historie und Legendezu unterscheiden. Der vietnamesische Zen-MeisterThich Nhat Hanh hat in seinem Buch „Wie Siddhartazum Buddha wurde“ das Leben und Wirken desBuddha in lebendiger, poetischer und doch historischsehr fundiert belegter Art und Weise nachgezeigt undgibt so nicht nur einen Überblick über Buddhas

Leben, sondern gleichzeitig eine hervorragende Einführung in die geistige Welt des Buddhismus.

Im Allgemeinen unterscheidet man Drei Grundlegende Fahrzeuge im Buddhismus: Hinayana oderTheravada, Mahayana und Vajrayana. Das Hinayana (sanskrit: >kleines Fahrzeug<) geht zeitlich demMahayana (sanskrit: >großes Fahrzeug<) voraus, und bildet in gewisser Weise die Grundlage oder denAusgangspunkt für den Weg und hat die individuelle Befreiung zum Ziel.

3.2.1.1 Hinayana oder Theravada

Die essentielle Praxis im Theravada besteht in der Erkenntnis und Verwirklichung der Vier Edlen Wahrheiten:Der Wahrheit des Leidens, der Ursache des Leidens, der Beendigung des Leidens und der Weg, mit Hilfe

Foto: Betender Mönch, Ladakh, Nordindien

(Veronica Futterknecht © 2005)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

46 von 85 04.06.2010 17:09

Page 47: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

dessen das Leid beendet werden kann. Wer diese Motivation für sich entwickelt, auch als "Entsagung"bezeichnet, wird zum Theravada gezählt. Dies deshalb, da der Wunsch sich nur auf ein Lebewesen beziehtund somit im Vergleich zum Leid der vielen Lebewesen auf der Welt eine kleinere Motivation ist. Drei Übungen,die das Ziel haben Glück zu schaffen und Leid zu beenden, haben einen besonderen Stellenwert im Hinayana:Disziplin (Pali: shila), meditative Konzentration (Pali: samadhi) und unterscheidendes Gewahrsein (Pali:panna). Ein Praktizierender legt die Gelübde zur persönlichen Befreiung ab (Sanskrit: pratimoksha) und begibtsich so auf den Weg, konzentriert und gezielt den Geist vor Umständen, die zu emotionaler Zerstreuung undNegativität führen, zu schützen. Dazu gibt es innerhalb der buddhistischen Meditation sowohl analytische wieauch konzentrative Techniken, mit deren Hilfe ein eingerichteter Geist, der aus der Meditation des Shamathaerwächst und durch die klare Einsicht der Vipashayana-Meditation vertieft, das unterscheidende Gewahrseinder Selbstlosigkeit oder Ego-losigkeit verwirklicht werden kann.

Die Unwissenheit, die der eigentliche Ursprung aller Leidenschaften und Anhaftungen ist, kann nur durch dieWeisheit, die aus der Vereinigung von Geistiger Ruhe (Shamatha) und Klarer Einsicht (Vipashyana) entsteht,überwunden werden. Durch eine konzentrierte und disziplinierte Anwendung dieser Übungen, sowohl währendder Meditations-Sitzungen wie auch im Alltag, kann man geistige Negativität, die die Basis allerleidverursachenden Handlungen ist, Stück für Stück erkennen und auflösen.

3.2.1.2 Mahayana

Das Grosse Fahrzeug oder Mahayana strebt nicht nur die eigene, individuelle, sondern die Befreiung allerWesen aus dem leidvollen Daseinskreislauf an. Heute sind Richtungen des Mahayana besonders in Japan,Tibet, Bhutan, der Volksrepublik China und Korea, teilweise auch in Vietnam, der Mongolei und dem asiatischenOsten Rußlands verbreitet.

Die Essenz des Mahayana-Buddhismus ist die grundlegende Motivation Befreiung zum Wohle aller Wesen zuerlangen, nachdem erkannt wurde, daß es auf einer absoluten Ebene schlußendlich keine Trennung zwischendem eigenem Geist und der Welt der Phänomene gibt. Der zentrale Gedanke ist hier das Streben nachBuddhaschaft als dem einzig wirksamen Mittel, um allen Wesen helfen zu können, sich von den Ursachen desLeidens zu befreien. Dies wird Bodhicitta oder das Herz des erleuchtenden Geistes genannt, und wird sowohlauf relativer wie auf absoluter Ebene verwirklicht. Etymologisch setzt sich das Wort Bodhicitta aus den WörternBodhi (Erleuchtung) und Citta (Geist, Emotion, Gedanke) zusammen, und kann daher als Erleuchtungsgeistübersetzt werden. Absolutes Bodhicitta ist die Erkenntnis und Erfahrung der Leerheit (Sanskrit: Shunyata), dieRealisation der Tatsache, daß schlußendlich alle Phänomene in Abhängigkeit entstehen und keineeigenständigen, unveränderlichen, unabhängigen Charakteristika besitzen und nicht aus eigener Kraftentspringen können. Auf die Philosophie und Praxis von Bodhicitta wird in einem späteren Kapitel noch genauund detailliert eingegangen.

3.2.1.3 Vajrayana

Das Vajrayana (sanskrit: vajrayāna, »Diamantfahrzeug«, tibetisch: Dorje Tegpa), auch geheimes Mantrayanagenannt, ist an sich kein eigenständiges Fahrzeug, sondern ein spezielles Gefährt der geschickten Mittelinnerhalb des Mahayana, doch wird es als dritte große Hauptrichtung des Buddhismus verstanden. SeineVerbreitung findet der Vajrayana vor allem im ehemaligen Tibet, in Bhutan, in Teilen Nordindiens (Ladakh) sowieder Mongolei.

Zentral für das Vajrayana ist die Lehre und Philosophie des Madhyamaka (Sanskrit m., mādhyamaka, »dermittlere Weg« zwischen Bejahung und Verneinung). Die Lehren, die hier dazu gehören, werden mittels derAspekte Grund, Pfad und Frucht erklärt. Für die Madhyamaka-Lehren ist der - Grund die Untrennbarkeit derbeiden Wahrheiten, der relativen und der absoluten Wahrheit. Der - Pfad bezeichnet die stufenweise,essentielle Ansammlung von Verdienst und Weisheit und die - Frucht ist die Untrennbarkeit der beiden Aspektedes Buddhas, der Verwirklichung von Dharamakaya, der Ansammlung von Weisheit und Rupakaya, derAnsammlung von Verdienst.

3.2.2 Grundlagen der buddhistischen Lehre

Grundlagen der buddhistischen Lehre sind die Vier Edlen Wahrheiten und die Drei Gifte des Geistes.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

47 von 85 04.06.2010 17:09

Page 48: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Vor rund 2500 Jahren entdeckte der Buddha, Siddharta Gautama, gequält und zutiefst berührt von Krankheit,Alter und Tod, einen Weg auf dem das Leiden, welches des menschliche Dasein unausweichlich begleitet,aufgehoben wird und seine Hauptursache, das Verhaftet- Sein mit einem Ich-Gefühl, in Gleichmut undMitgefühl verwandelt werden kann.

3.2.2.1 Die Vier Edlen Wahrheiten

Buddhas gesamte Lehre dreht sich um die zentrale Frage, wie das Leiden, das untrennbar mit demmenschlichen Leben verbunden ist, erkannt und nachhaltig gelöst und transformiert werden kann. Das ist dieerste Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Leiden, die Wahrheit, daß jedes menschliche Leben grundsätzlich mitLeid verbunden ist. Geburt, Alter, Krankheit und Tod sind Leiden, Trauer, Zorn, Eifersucht, Sorge, Unruhe,Angst und Verzweiflung sind Leiden. Nach den Worten Buddhas leiden wir primär an der natürlichenUnzulänglichkeit unserer bedingten Existenz. Die Hauptursache für alles menschliche Leiden bildet dieAnnahme einer Beständigkeit allen Seins und unser irrtümlicher Glaube an ein selbstständiges, solides,unabhängig existierendes Ich, der die Grundlage für all unser selbstsüchtiges Streben bildet. Das ist die zweiteEdle Wahrheit, die Wahrheit von der Ursache allen Leidens, die unsere geistige Verblendung bildet, die unsdazu führt, alle Erscheinungen, insbesondere unseren eigenen Geist, als dauerhaft, beständig und aus sichselbst heraus eigenständig existierend anzunehmen. Die dritte Edle Wahrheit ist die Wahrheit von derAufhebung des Leids, das bedeutet zu erkennen, daß das Leiden in unserem Leben grundsätzlich als solcheswahrgenommen und transzendiert werden kann. Die vierte Edle Wahrheit ist die Wahrheit vom Pfad, der zurAufhebung des Leidens führt. Es ist dies der Edle Achtfache Pfad, der durch ein Leben in Achtsamkeit, das dieBasis für Konzentration und Verstehen bildet, unterstützt wird, und schließlich zu Friede, Freude undVerwirklichung führt. Die Medizin, die der Buddha demnach verordnete, ist das Dharma, seine Lehre, die zumZiel hat, den Geist oder das Bewußtsein als Basis aller Phänomene zu erkennen. Geist erschafft die Materie,und Geist ist der Schöpfer von Gesundheit und Krankheit. Deshalb betont die Lehre des Buddha dieNotwendigkeit den Geist zu zähmen und negative, emotionale Energien umzuwandeln: dies ist dieGrundannahme jeglicher buddhistischen Medizin.

3.2.2.2 Die Drei Gifte des Geistes

Die drei Gifte des Geistes bilden in diesem Zusammenhang das Fundament, das dafür verantwortlich ist, daßMenschen wieder und wieder im Kreislauf von Geburt und Tod wandern. Unsere gesamte bedingte Existenz,unser bedingtes Sein wird von diesen drei Geistesgiften gesteuert. Diese drei Gifte sind zum einen die Gier, imbuddhistischen Lebensrad symbolisch als roter Hahn dargestellt, Hass, der seinen Ausdruck als grüneSchlange im Lebensrad nimmt, und Unwissenheit oder Verblendung, die Wurzel der beiden erstenGeistesgifte, wie auch der Ursprung alles Leiden, die als schwarzes Schwein repräsentiert wird. Der Hahn stehtalso für Gier, neurotische Begierde, für das Verlangen, Dinge zu besitzen, von denen man sich Glück undSicherheit erhofft, für das Anhaften und die Abhängigkeit von geliebten Menschen, positiven, emotionalenGeisteszuständen, für das Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung. Die Schlange symbolisiert ingewisser Weise das Gegenteil davon, die Ablehnung, Aversion gegenüber ungeliebten, unerwünschtenMenschen, Dingen oder Geisteszuständen, der Hass gegenüber allem, was wir als Bedrohung unserer

Foto: Ladakh, Nordindien

(Veronica Futterknecht © 2005)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

48 von 85 04.06.2010 17:09

Page 49: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Ich-Gefühle wahrnehmen. Und schließlich repräsentiert das Schwein die fundamentale Unwissenheit, dieUnfähigkeit, die wahre Natur der Dinge zu erkennen, die Schwierigkeit, das universale Grundgesetz derVergänglichkeit zu akzeptieren und zu integrieren. Unsere Unwissenheit, unsere geistige Verblendung läßt unsfälschlicherweise an die Beständigkeit eines scheinbar unabhängigen Ich glauben, läßt uns die Welt als realexistierende und letztlich nicht weiter auflösbare Wahrheit erscheinen und hindert uns daran, die wahre Naturunseres Geistes, die in gleicher Weise die wahre Natur aller Dinge ist, zu realisieren. Auf diese Weise wird dieUnwissenheit als Wurzel allen Leidens akzeptiert.

Die tibetische Medizin ordnet schließlich diese Drei Gifte den Säften Wind, Galle und Schleim zu, welche diephysiologische Grundlage des menschlichen Körpers bilden. Das harmonische Gleichgewicht dieser Säftewiederum ist für Gesundheit oder Krankheit verantwortlich. In diesem Zusammenhang wird das Wort Saft nichtals etwas konkret Fließendes betrachtet, vielmehr sind darunter sehr subtile, komplexe, geistige Prozesse zuverstehen, die nur durch ihre Dynamik erfahrbar werden. Die Drei Gifte sind demnach die wichtigstenKrankheitsursachen, obgleich sie im Grunde metaphysische Gründe sind.

3.2.3 Tibetischer Buddhismus

Ab dem 9. Jahrhundert wurde mit der Übertragungdes Mahayana und Vajrayana nach Tibet dieMadhyamaka-Lehre philosophische Grundlage destibetischen Buddhismus. Die Unterschiede zwischendem allgemeinen Mahayana und dem Vajrayanabeziehen sich nicht auf das zu erreichende Ziel, dieBuddhaschaft, die Verwirklichung der allen Weseninhärent innewohnenden Buddhanatur, sondern aufdie Art und Weise wie dieses Ziel erlangt wird.Deshalb wird das Vajrayana auch Pfad desResultats genannt, während das Sutra-System desMahayana als Pfad der Ansammlung bezeichnetwird und Theravada als Pfad der Entsagung. Dertibetische Vajrayana-Buddhismus gliedert sich inunterschiedliche Schulen, Traditionen undÜbertragungslinien, von denen die vier Schulen derNyingma-, Kagyü-, Sakya- und Gelug-Schule diewichtigsten sind.

Der natürliche Ausdruck von Buddhas[1]umfassendem, großem Mitgefühl äußerte sich dahingehend ganz unmittelbar den unterschiedlichenVoraussetzungen und Fähigkeiten der Individuen gerecht zu werden und gemäß dessen zu lehren. Auf dieseWeise entstand eine große Zahl an verschiedenen Unterweisungen für Menschen mit einem unterschiedlichenErfahrungshintergrund und unterschiedlichen Fähigkeiten für eine spirituelle Entwicklung. Da es Praktizierendeauf sehr verschiedenen Ebenen geistiger Entwicklung gibt, lehrte der Buddha verschiedene Pfade undHerangehensweisen, in denen jeweils bestimmte, auf der entsprechenden Stufe wichtige Übungen betontwerden. Alle diese Wege sind jedoch gleich wertvoll und wichtig und verfolgen schlußendlich alle dasselbeZiel, nämlich Erleuchtung zu erlangen und den erwachten Geist eines Buddhas, der das fundamentalePotential eines jeden Menschen darstellt, zu verwirklichen.

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 3.2.1

3.2.3.1 Nyingma-Tradition

Die älteste Schule des tibetischen Buddhismus bildetdie Nyingma-Tradition, die auf den tantrischenMeister Padmasambhava, auch bekannt als GuruRinpoche, zurückgeht, der im 8.- 9. Jahrhunderterstmals den Buddhismus in Tibet einführte.

Abb. 1.: Tibetisch-buddhistisches Kloster Thikse, Ladakh,Nordindien

(Veronica Futterknecht © 2005)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

49 von 85 04.06.2010 17:09

Page 50: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Innerhalb der Nyingma-Tradition wird die Fülle derspirituellen Wege in weitere neun yanas oderFahrzeuge gegliedert, einem einheitlichen Lehr- undPraxisgebäude, das sämtliche Lehransätze des Buddhas zu einem einzigen, umfassenden Pfad zurErleuchtung vereint. Die drei Fahrzeuge des Hinayana, Mahayana und Vajrayana werden demnach noch weiterunterteilt in die drei Ursachenfahrzeuge des Sutra: Shravaka- und Pratyekabuddhayana, die zusammen dasHinayana bilden, sowie Bodhisattva- oder Mahayana und die sechs erfüllenden Fahrzeuge des Tantra, welchesich in die drei Äußeren Tantras Kriyayoga, Charyayoga und Yogatantra, sowie in den drei Inneren TantrasMahayoga, Anuyoga und Atiyoga oder Dzogchen aufgliedern.

3.2.3.2 Dzogchen

Die Lehren des Dzogchen (tibetisch: "rDzogs paChen po" oder kurz "rDzogs Chen") "Die GroßeVollkommenheit", auch Atiyoga oder Mahasandhigenannt, gelten als die höchsten Lehren dertibetischen Tradition. Dzogchen gilt als die Essenzaller buddhistischen Lehre und beschreibt den Wegder Selbstbefreiung, der zum Ziel hat das wahreWesen jenseits aller illusions-gleichen Dualität zuerkennen. Im Dzogchen geht es folglich nicht darum,dass eine erleuchtete, wahre Natur des Geistesexistiert, die zu erreichen man sich bemühen oderanstrengen müßte, sondern es ist das Erkennen undStabilisieren der ursprünglich reinen, klaren,vollkommenen Natur des Menschen, die aufgrundtemporärer, mentaler Verschleierung bislang nicht alssolche erkannt werden konnte.

3.2.4 Literatur

Assauer, Egbert, 2005. Tantrisches Heilen undtibetische Medizin. Grafing: Aquamarin Verlag

Assauer, Egbert, 1997. Tibets sanfte Medizin. Freiburg: Verlag Herder

Baker, Ian A, 1999. Das große Buch der tibetischen Heilkunst. Bergisch Gladbach: Lübbe

Bechert, Heinz, 2000 Buddhismus, Staat und Gesellschaft, Band 2. Göttingen: Kinzel

Clifford, Terry, 1989. Tibetische Heilkunst. Bern, Wien: Barth

Dalai Lama, 2001. Ohne Anfang- Ohne Ende. Bern; München; Wien: O.W. Barth

Kenpo, Nyoshul, 1995. Der Buddha im Inneren. Freiamt: Arbor Verlag

Thich Nhat Hanh, 1999. Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg im Breisgau ; Wien [u.a.] Herder

Thich Nhat Hanh, 1998. Wie Siddhartha zum Buddha wurde: Eine Einführung in den Buddhismus. Berlin:Verlag Theseus

4 Neue religöse Bewegungen

In den folgenden Kapiteln werden "Neue religiöse Bewegungen" besprochen.

"Neureligion", "Neue Religion" oder "Neue religiöse Bewegung" sind Begriffe, die erst in den letztenJahrzehnten in Gebrauch gekommen sind, und zwar für Phänomene, die scheinbar neueren Ursprungs sind.Bei genauerem Hinschauen stellt man jedoch fest, dass es sich um Phänomene des religiösen Wandelshandelt, wie es sie schon immer in allen Teilen der Welt gegeben hat.

Literatur:

Foto: Buddha Maitreya, der Buddha der Zukunft

(Veronica Futterknecht © 2005)

Foto: Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama, Ladakh,

Nordindien(Veronica Futterknecht © 2005)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

50 von 85 04.06.2010 17:09

Page 51: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Baer, Harald. Gasper, Hannes. Müller, Joachim. Sinabell, Johannes (Hg.). 2005. Lexikon neureligiöserGruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus. Freiburg: Herder

4.1 Hinduistischer Hintergrund

In den folgenden Kapitel werden exemplarisch einige "Neue religiöse Bewegungen" besprochen, die ihrePhilosphie und Praxis aus dem Hinduismus ableiten.

4.1.1 Sri Ramana Maharishi

"As all living beings desire to be happy always, without misery, asin the case of everyone there is observed supreme love for one’sself, and as happiness alone is the cause for love, in order to gainthat happiness which is one’s nature and which is experienced inthe state of deep sleep where there is no mind, one should knowone’s self. For that, the path of knowledge, the inquiry of the form“Who am I?”, is the principal means." (Mahadevan, 1982: 3)

Leben und Lehre

Sri Ramana Maharshi (1879-1950) war ein südindischerAdvaita-Meister, der unter anderem Satsang-Lehrer wieSamarpan, Gangaji, OM C.Parkin, Karl Renz oder Eckhart Tollemit seinem Sein und seinen Belehrungen inspirierte. Er lehrtedie Selbsterforschung durch die Frage "Wer bin Ich?" und giltals einer der bekanntesten Weisen und Vertreter des Advaita-Vedanta im 20. Jahrhunderts. In ständigem Gewahrsein seinerIdentität mit dem Absoluten (Atman) lebte der Maharshi inselbstauferlegter Abgeschiedenheit und Armut am Fusse desBerges Arunachala in Tamil Nadu, Südindien. TausendeMenschen pilgern bis heute nach Tiruvanamallai,gleichermassen westliche Besucher wie Inder. Schon allein inder Gegenwart des Maharshi verweilen zu dürfen, galt denMenschen als spirituelle Gipfelerfahrung.

Ramana lehrte, dass das reine, ursprungsloseGewahrsein der eigentliche Wachzustand sei. Geht mandagegen seinen Gedanken nach, dann wird man vonihnen davongetragen und befindet sich in einem Labyrinthohne Ausgang. Essentiell ist in der Meditation, die Spurder Gedanken zurückzuverfolgen bis zu deren Usrsprung.Auf diese Weise verschwinden die Gedanken und alleindas Selbst bleibt übrig, ein Selbst für das es weder Innennoch Außen gibt, ein Selbst das rein und absolut ist.(Maharshi, 2006: 14)

"Happiness is the very nature of the Self; happiness andthe Self are not different. There is no happiness in anyobject of the world. We imagine through our ignorance thatwe derive happiness from objects. When the mind goesout, it experiences misery. In truth, when its desires arefulfilled, it returns to its own place and enjoys thehappiness that is the Self." (Mahadevan, 1982: 8)

Literatur:

http://www.sriramanamaharshi.org/[1]

http://www.arunachala-ramana.org/[2]

http://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi[3]

Foto: Sri Ramana Maharshi

(http://www.meditationsworkshop.org )

Foto: Tiruvannamalai in Südindien, die Heimat Sri

Ramana Maharshis

(Veronica Futterknecht © 2008)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

51 von 85 04.06.2010 17:09

Page 52: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

http://www.paranormal.de/yoga/weg/ramana.htm[4]

Ebert, Gabriele. 2003. Ramana Maharshi: Sein Leben. Lüchow: Kreuz Verlag

Mahadevan, T.M.P. 1982. Who am I ? The Teachings of Ramana Maharshi. India: Ramanan, Tiruvannamalai

Maharshi, Ramana. 2003. "Nan Yar? Wer bin Ich?" India: Sri Ramana Ashram

Maharshi, Ramana. 2006. Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala. München: Ludwig

Maharshi, Ramana. 2003. Die Botschaft des Ramana Maharshi. Antworten von Sri Ramana Maharshi an seineSchüler. Lüchow: Kreuz Verlag

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.sriramanamaharshi.org/[2] http://www.arunachala-ramana.org/[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi/[4] http://www.paranormal.de/yoga/weg/ramana.htm/

4.1.2 Mata Amritanandamayi/Amma

Leben und Lehre

Amma ist ein Guru aus Kerala, Südindien, mit einer weltweiten großenAnhängerschaft. Sie wurde am 27. September 1953 in Kerala als Kindeiner armen Fischerfamilie geboren. Sie besuchte nur drei Jahre dieSchule und absolvierte eine Ausbildung zur Näherin. Im Alter von 22Jahren hatte sie ihre erste Verschmelzungs-Erfahrung mit der GottheitKrishna, den sie seitdem sehr verehrt. Amma war bewußt, daß es hinterder offensichtlichen, physischen Welt der Namen und Formen einehöhere Realität gibt, was sie dazu veranlaßte, stets allen Menschen inLiebe und Mitgefühl zu begegnen. Von frühester Kindheit an fragte siesich, warum die Menschen in dieser Welt leiden müssen, warum sie armsind und hungern müssen. Seit frühester Kindheit wußte sie, daß nurGott - das Selbst, die Höchste Energie - die Wahrheit ist und daß derWelt keine eigenständige, absolute Realität zukommt. Die grundlegendeErfahrung, die sie schon in sehr jungen Jahren machte, mit der Welt einszu sein, mit der gesamten Schöpfung zu verschmelzen, machte ihreLebensaufgabe klar: Sie wollte der leidenden Menschheit helfen. Dieswar der Beginn ihrer spirituellen Bestimmung.

Heute verbringt Amma den größten Teil des Jahres auf Reisen, um mitihren Worten und der tröstenden Umarmung, die sie jedem, der es wünscht, zukommen läßt, zu helfen.

In ihrem Ashram in Amritapuri, Kerala, Südindien,leben konstant etwa 3000 Menschen und täglichkommen viele mehr um mehrere Wochen oder Tagehier zu verbringen. Im Rahmen von Ammas weitemNetzwerk karitativer Projekte bauen ihre SchülerHäuser für Obdachlose, zahlen Renten an Bedürftigeund ermöglichen Kranken medizinische Versorgung.Zahllose Menschen auf der ganzen Welt wirken andiesen liebevollen Bemühungen mit.

„Schlußendlich“, sagt Amma, „ist Liebe die einzigeMedizin, welche die Wunden der Welt heilen kann. Esist die Liebe, die in diesem Universum alleszusammenhält. Wenn dieses Bewußtsein in unserwacht, verschwindet alle Disharmonie, und es wirdnur noch Frieden herrschen." (Amma 2005: 11)

Literatur:

Foto: Sri Mata Amritanandamayi

(http://www.holisticnetwork.com )

Foto: Amritapuri Ashram, Kerala, Südindien

(http://www.amma-europe.org/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

52 von 85 04.06.2010 17:09

Page 53: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Amma. 2005. Die Kraft der Liebe. Berlin: Theseus

Mata Amritanandamayi. 2001. Der Weg der Weisheit und Liebe. Berlin: Theseus

Cornell, Judith. 2002. Amma- das Leben umarmen. Berlin: Theseus

Darshan, die göttliche Umarmung. Frankreich 2005. Dokumentarfilm. Regie: Jan Kounen

www.amritapuri.org[1]

www.amma.de[2]

www.amma.org[3]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.amritapuri.org[2] http://www.amma.de[3] http://www.amma.org

4.1.3 Bhagvan/Osho

Leben und Lehre

Bhagwan Shree Rajneesh war ein indischer Philosophieprofessorund spiritueller Lehrer, er wurde 1931 in Madhya Pradesh, Indiengeboren und starb 1991 in Puna, Maharashtra. Seine Familie gehörtezur Religionsgemeinschaft der Jainas. Er wurde bereits sehr früh mitdem Tod konfrontiert, sein geliebter Großvater, bei dem er auchaufwuchs, starb als er sieben Jahre alt war, seine Freundin undCousine als er fünfzehn Jahre alt war. Beide Verluste trafen ihn tiefund bereits seine Jugend war von Depression, Melancholie undchronischen Kopfschmerzen geprägt. Im Alter von neunzehn Jahrenbegann Rajneesh sein Studium der Philosophie in Jabalbur. Nochwährend des Studiums hatte er in einem Park in Jabalpur währendeiner Vollmondnacht in Meditation versunken eine außergewöhnlicheErfahrung, in der er sich von Glückseligkeit überwältigt fühlte – eineErfahrung, die er später als seine spirituelle Erleuchtung beschrieb.Ab 1958 war Rajneesh zuerst als Lektor und später als Professor fürPhilosophie an der Universität Jabalpur tätig. Ab den 1960er Jahrenunternahm Rajneesh, neben seiner Lehrtätigkeit, erste ausgedehnteVortragsreisen durch Indien.

Bei einer öffentlichen Meditationsveranstaltung in Bombay in Frühling1970 präsentierte Rajneesh erstmals die von ihm entwickelte„Dynamische Meditation“, die wie die Kundalini-Meditation zu denaktiven Meditationstechniken zählt, bei der körperliche Arbeit eine zentrale Rolle spielt. Durch Bewegung undschnelles vertieftes Atmen soll diese Technik zu einer intensiven Katharsis führen. Schreien, Weinen, Lachenund Wutausbrüche sind Erscheinungsformen dieser Katharsis, die eine Befreiung darstellt und das Ziel hat, zuinnerer Stille und Ruhe zu finden.

Im März 1974 zogen Rajneesh, der sich mittlerweile Bhagwan (Sanskrit „der Gesegnete“) nannte, mit seinenAnhängern in den neuen Ashram in Puna, Maharashtra, um. Die nächsten Jahre waren geprägt von einerständigen Expansion und einer starke Zunahme der Anhängerschaft, besonders aus Ländern aus dem Westen.Eine wesentliche Rolle spielte die eklektische Kombination von östlichen Meditations- und westlichenTherapietechniken. Bhagwan vertrat ein Konzept der holistischen Psychologie und Therapiegruppenwurden bald ein wesentlicher Bestandteil des Ashram-Angebots.

Im Grunde war Bhagwan gegen jedes Glaubenssystem und betonte den Wert der authentischen religiösenErfahrung gegenüber der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Der Weg zur authentischen religiösenErfahrung liegt in seiner Lehre darin, das Leben als Ganzes anzunehmen, es in allen Aspekten zu lieben undzu verehren und täglich zu feiern. Der Meditation kommt dabei eine wichtige und zentrale Rolle zu:

„Normalerweise ist unser Bewußtsein von einem Schutthaufen zugedeckt. Und im Kopf geht es zu wie zur

Foto: Bhagwan Shree Rajneesh(http://www.yoga-vidya.de/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

53 von 85 04.06.2010 17:09

Page 54: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Hauptverkehrszeit: Da verkehren Gedanken, Sehnsüchte, Erinnerungen, ehrgeizige Vorstellungen, da herrschtständiger Verkehr! … Dies ist der Zustand ohne Meditation. Meditation ist genau das Gegenteil. Wenn Funkstilleim Kopf ist, wenn alles Denken aufhört, kein Gedanke sich regt, kein Verlangen auftaucht, wenn du absolut stillbist, diese Stille ist Meditation. In dieser Stille erkennt man die Wahrheit, und nur in dieser Stille.„ (Osho, 1999:382)

Obwohl Osho zu seinen Lebzeiten als eine hochumstrittene Persönlichkeit galt, hat er bis zum heutigen TagHunderttausende AnhängerInnen auf der ganzen Welt. Seine Bücher wurden in zahllose Sprachen übersetztund die von ihm gegründete Bewegung hat heute etwa 300 Meditationszentren in 45 Ländern. Oshos Werkeerfreuen sich internationaler Popularität, seine aktiven Meditationstechniken sind weit über seine Bewegunghinaus bekannt geworden.

Oshos Ashram in Poona hat sich zum Osho International Meditation Resort, einem der beliebtesten ReisezieleIndiens, entwickelt.

Literatur:

www.osho.com[1]

www.oshotimes.de[2]

http://www.youtube.com/user/OSHOInternational[3]

www.sannyas.net[4]

http://de.wikipedia.org/wiki/Osho[5]

http://en.wikipedia.org/wiki/Osho[6]

http://www.relinfo.ch/osho/ashram.html[7]

http://www.swami.de/archivmain.htm[8]

Auswahl:

Rajneesh, Bhagwan.1979. Sprengt den Fels der Unbewußtheit. Ein Darshan-Tagebuch. Osho-Verlag.

Rajneesh, Bhagwan.2001. Tod: Höhepunkt des Lebens. Osho-Verlag.

Rajneesh, Bhagwan.2003. Heilung: Von der Medizin zur Meditation. Heyne.

Osho. 1998. The Book of secrets. The Key to Love and Meditation. St. Martin’s. Griffin.

Osho. 2004. Das Buch vom Ego. Von der Illusion des Ichs zur Freiheit des Seins. Heyne.

Osho. 2004. Mut. Lebe wild und gefährlich. Ullstein Tb.

Osho. 2004. Meditation: The first and last freedom. St. Martin’s. Griffin.

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.osho.com[2] http://www.oshotimes.de[3] http://www.youtube.com/user/OSHOInternational[4] http://www.sannyas.net[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Osho[6] http://en.wikipedia.org/wiki/Osho[7] http://www.relinfo.ch/osho/ashram.html[8] http://www.swami.de/archivmain.htm

4.2 Weitere

Im folgenden werden "Neue religiöse Bewegungen" besprochen, die sich während der letzten beidenJahrzehnte im Westen entwickelt haben und deren Philosphie und Praxis nicht eindeutig einer der grossenWeltreligionen zugeordnet werden kann.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

54 von 85 04.06.2010 17:09

Page 55: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

A Course in Miracles könnte jedoch am ehesten als eine neue religiöse Bewegung mit christlichemHintergrund beschrieben werden. Der Kurs bedient sich christlicher Termini und schlägt einen mytischen Heils-und Erlösungsweg vor, der auf die unio mystica, die Verschmelzung mit Gott und dem Erkennen der NaturGottes im eigenen Geist abzielt.

Das Avatar-Training nach Harry Palmer findet seinen Ursprung in den Lehren und der Philosophie vonScientology, der Palmer viele Jahre angehörte. Die Idee von Gott oder von einem höheres Bewusstsein findetin diesem Kontext keine Verwendung. Jedem einzelnen Individuum wird uneingeschränktes Schöpferpotentialzugedacht, nichts Göttliches oder Vollkommenes kann außerhalb des Menschen selbst gefunden werden.

Der amerikanische Meister Samarpan schließlich vertritt eine Lehre, die sich am ehesten mit dem indischenAdvaita vergleichen lässt und im Kernpunkt die These vertritt, dass es einzig und allein darum geht, durch denDschungel des diskursiven, rationalen Verstands den Weg zurück in die Gegenwart zu finden um dort in Stille,Freude und Einsicht das Leben da wahrzunehmen, wo es nun mal passiert - in der Gegenwart.

4.2.1 A Course in Miracles

4.2.1.1 Entstehungsgeschichte

Entstehung

Helen Schucman (1909-1981) war eine US-amerikanische Psychologin, die das spirituelle Werk Ein Kurs inWundern ihren eigenen Angaben zufolge nach de Durchsage einer inneren Stimme niederschrieb. Helen, dasKind halbjüdischer Eltern, begann bereits in früher Jugend sich intensiv mit der christlichen Mystik und derSuche nach Gott als dem transzendenten Absoluten, auseinanderzusetzen. Der Niederschrift des Ein Kurs inWundern gingen demzufolge zahlreiche mystische Erlebnisse und Licht-Einheits-Erfahrungen voraus. Helenarbeitete an der medizinischen Fakultät der Columbia University in New York, doch war das Arbeitsklima,speziell das Verhältnis mit ihrem nächsten Vorgesetzten stets geprägt von Ärger und beiderseitigen aggressivenGefühlen.

Eines Tages kam es zu einem Eklat, Helens Chef, William Thetford, verkündete unmissverständlich, dass ernicht mehr gewillt war in einer Atmosphäre der Ungeduld und Aggression weiterzuarbeiten. Dieses Stichwortinitiierte die inspirative Schöpferkraft Helens und markierte den Beginn der Niederschrift des Buches.

Schucman begann nach ihren Angaben eine innere Stimme zu hören, die ihr in den folgenden sieben Jahreninsgesamt drei Bände des Ein Kurs in Wundern diktierte. Schucman bezeichnete sich selbst stets als"Schreiberin" und postuliert damit, dass sie während des Schreib-Prozesses stets gewahr und niemals in einenTrancezustand oder veränderten Bewusstseinszustand fiel.

Organisation

Eine der Hauptdachorganisationen des Ein Kurs in Wundern ist die Foundation for Inner Peace, die 1983gegründet, ihr Hauptquartier seit 2001 in Temecula, Kalifornien hat. Der Hauptzweck der Foundation bestehtdarin, SchülerInnen von Ein Kurs in Wundern zu helfen, das Verständnis des Denksystems sowohl theoretischals auch praktisch zu vertiefen, damit sie wirkungsvollere Instrumente der Lehren Jesu in ihrem eigenen Lebenwerden können.

Literatur:

A Course in Miracles. 2007. Foundation for Inner Peace.

Ein Kurs in Wundern. 7.Auflage 2006. Gutach i. Br.: Verlag Greuthof.

Dawson, Michael.1997. Im Ursprung liegt die Heilung: Der KURS, die Vergebung und die Praxis. 1.Auflage.Verlag Greuthof.

Wapnick, Kenneth. 2006. Wunder als Weg: Die 50 Grundsätze der Wunder in EIN KURS IN WUNDERN.4.Auflage. Verlag Greuthof.

http://www.relinfo.ch/acim/info.html[1]

http://en.wikipedia.org/wiki/Helen_Schucman[2]

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

55 von 85 04.06.2010 17:09

Page 56: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

http://www.acim.org[3]

http://www.facim.org[4]

http://de.spiritualwiki.org/Wiki/EinKursInWundern[5]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.relinfo.ch/acim/info.html[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Helen_Schucman[3] http://www.acim.org[4] http://www.facim.org[5] http://de.spiritualwiki.org/Wiki/EinKursInWundern

4.2.1.2 Philosophie und Praxis

Philosophie

"Nichts Wirkliches kann bedroht werden.

Nichts Unwirkliches existiert.

Hierin liegt der Friede Gottes."

Der Kurs trifft eine grundlegende Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischenErkenntnis und Wahrnehmung. Erkenntnis ist Wahrheit - unter einem einzigen Gesetz, dem Gesetz der Liebeoder Gottes. Die Wahrheit ist unveränderlich, ewig und unzweideutig. Sie kann unerkannt sein, aber sie kannnicht verändert werden. Sie gilt für alles, was Gott erschaffen hat, und nur das, was er erschaffen hat, ist wirklich.Sie liegt jenseits des Lernens, weil sie jenseits von Zeit und Prozess liegt. Sie hat kein Gegenteil, keinen Anfangund kein Ende. Sie ist einfach. Die Welt der Wahrnehmung andererseits ist die Welt der Zeit, der Veränderung,der Anfänge und der Enden. Sie beruht auf Deutung, nicht auf Tatsachen. Sie ist die Welt der Geburt und desTodes, gegründet auf dem Glauben an Mangel, Verlust, Trennung und Tod. Sie wird gelernt statt gegeben, istselektiv in ihren Wahrnehmungsschwerpunkten, instabil in ihrer Funktionsweise und falsch in ihren Deutungen.(aus: Ein Kurs in Wundern, S.XVIII)

Gottes-Definition des Ein Kurs in Wundern

Gott ist das ewig wahre, unveränderbare, schöpferische Prinzip. Gott ist nicht getrennt von seiner Schöpfung undwir nicht von ihm. Sich selbst zu erkennen bedeutet Gott zu erkennen, Gott zu erkennen bedeutet sich selbst zuerkennen.

Praxis

Die Praxis des Kurs in Wundern ist ein konsequentes Geistestraining mit 365 Lektionen, für jeden Tag desJahres. Im Laufe dieses Prozesses verwandelt sich die gespaltene und mit Urteilen behaftetete Wahrnehmungin eine reine und liebevolle Gegenwärtigkeit. Man wird gebeten die vorgegebenen Lektionen kontinuierlich undspezifisch auf alles anzuwenden, was sich in seinem Leben konkret ereignet.

Beispiel:

Lektion 99

"Erlösung ist die einzige Funktion, die ich hier habe."

Erläuterung: Erlösung und Vergebung sind dasselbe. Beide setzen voraus, dass etwas falsch gelaufen ist;etwas, von dem man erlöst oder das vergeben werden muss; etwas verkehrtes, etwas, das losgelöst oderverschieden ist vom Willen Gottes. So setzen beide Begriffe etwas voraus, das unmöglich und doch geschehenist, was einen Zustand des Konflikts zur Folge hat, der zwischen dem gesehen wird, was ist, und dem, was niesein konnte.

4.2.2 Avatar/Harry Palmer

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

56 von 85 04.06.2010 17:09

Page 57: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

4.2.2.1 Entstehungsgeschichte

Entstehung

Die Gründung des Avatar-Netzwerkes geht auf den amerikanischen Autor und Gründer sowie Inhaber der FirmaStar’s Edge International, Harry Palmer, zurück und wurde im Jahr 1986 in Orlando, USA ins Leben gerufen.Harry Palmer war zuvor seit 1972 für die Scientology-Kirche tätig und betrieb eine unabhängige Mission inElmira, New York. Palmer trennte sich im Jahr 1985 von Scientology und gründetet sein eigenes, unabhängigesgeistiges Trainingsprogramm und Netzwerk.

Organisation

Palmers Bücher und Kursunterlagen wurden in 20 Sprachen übersetzt und seit 1986 haben etwa 65.000Menschen weltweit einen Avatar-Kurs absolviert.

Literatur:

Palmer, Harry.7.Auflage 2005. Avatar: Die Kunst befreit zu leben. Bielefeld: Verlag Kamphausen.

Palmer, Harry.1994. Living Deliberately: The Discovery and Development of Avatar. Star’s Edge International.

Palmer, Harry. 1995. Resurfacing: Wiederauftauchen. Techniken zur Erforschung des Bewusstseins. Bielefeld:Verlag Kamphausen.

Palmer, Harry.1997. Resurfacing: Techniques for Exploring Consciousness. Star’s Edge Creations.

Palmer, Harry.2000. Das Thoughtstorm Handbuch. Eine Evolution des menschlichen Denkens. Bielefeld: VerlagKamphausen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Palmer[1]

http://www.avatarepc.de[2]

http://www.avatarepc.com[3]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Palmer[2] http://www.avatarepc.de[3] http://www.avatarepc.com

4.2.2.2 Philosophie und Praxis

Foto: Avatar-Begründer Harry

Palmer(http://www.avatar-london.co.uk )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

57 von 85 04.06.2010 17:09

Page 58: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Philosophie

Um es auf den Punkt zu bringen, kann die Grund-Idee von Avatar folgendermassen ausgedrückt werden:

Jedes Wesen ist Ursprung seiner eigenen Realität, welche durch Überzeugungen erschaffen wird.

"Überzeugung definiert Realitäten, Erfahrung löst sie auf. Dies ist der Kreislauf der Schöpfung. Die Realität istdas Jetzt, und sie beginnt und endet bei einem selbst! Eine Schöpfung beginnt mit einer Aussage (ursprünglicheÜberzeugung), die eine Realität definiert. Anschließend (oder später) wird sie von dem Schöpfer erfahren. Zeit istdefiniert durch das Intervall zwischen der Äußerung der ursprünglichen Überzeugung und der Schlussfolgerungaus der Erfahrung.(...) Im Zuge der Auflösung unserer Urteile und Widerstände und der Vertiefung unserergeistigen Ruhe gewinnen wir die Fähigkeit zurück die grundlegenden Überzeugungen zu erfahren welche diegesamte Wirklichkeit erschaffen. Wenn wir jeden Zustand, in dem wir uns wieder finden, erfahren, zeigt sich unsdie nächste Ebene der Überzeugungen. Haben wir dann diese Ebene erfahren, erscheint die nächste, und soweiter. Überzeugungen tauchen in dieser Reihenfolge auf:

Überzeugungen, welche die Umstände unseres Lebens erschaffenÜberzeugungen, von Bedürfnissen und VerpflichtungenÜberzeugungen, von Verantwortung und InbesitznahmeÜberzeugungen, die Identitäten schaffenÜberzeugungen, die Zeit entstehen lassenÜberzeugungen, welche die Natur der Materie definierenÜberzeugungen, welche die Verhaltensweise von Energie definierenÜberzeugungen, die Raum entstehen lassen" (aus: Die Kunst befreit zu leben, S. 107-110. 2005).

"Angst ist die Überzeugung von unserer Unzulänglichkeit mit etwas klar zu kommen." (aus: Die Kunst befreit zuleben, S.92. 2005)

Was ist Avatar?

Avatar befasst sich mit geistigen Schöpfungen, die ihre Grundlage in Überzeugungen haben (Kreationen).Hierzu zu zählen wären: alles, was Begrenzungen oder Grenzen in Raum, Zeit oder Bewusstsein hat.

Das Avatar-Training befasst sich im Konkreten mit dem Erkennen, Identifizieren und optionalem Auflösen vonGlaubenssystemen und geistigen Begrenzungen. Das Ziel ist eine größere Verbindung und differenziertereWahrnehmung der persönlichen Realität. Durch Entwickeln von Fähigkeiten, die die verborgenenÜberzeugungen erkennen lassen, soll eine Wahrnehmung, unverzerrt und frei von Werturteilen, etabliertwerden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, die persönliche Realität dauerhaft zu verändern und gleichzeitig imFrieden mit sich selbst und anderen zu weilen.

Avatar ist demnach ein geistiges Trainingsprogramm, dessen Grundkonzept in einem 9-Tage-Basis Kursvermittelt werden kann.

"Die Mission von Avatar in der Welt ist es, die Integration von Glaubenssystemen zu beschleunigen. Wenn wirwahrnehmen, dass wir uns allein durch unsere Überzeugungen voneinander unterscheiden und dass diese mitLeichtigkeit erschaffen und ent-schaffen werden können, dann kommt das Spiel von Richtig und Falsch zumEnde, und der Weltfrieden wird daraus folgen." (Zitat: Harry Palmer: http://www.avatarepc.de[1])

Praxis

Die Praxis des Avatar-Trainings wird in Form von drei aufeinanderfolgenden Kursen vermittelt. Der erste Kursbesteht aus drei Teilen, dem Resurfacing-Workshop, den Übungen und den Techniken. Der Workshop bietetallgemeine Vor-Informationen und philosophische Hintergründe von Avatar. In den Übungen bekommt manEinblicke in die Schöpfungsprozesse und die Fähigkeit, selbst Realitäten zu erschaffen. In den Technikensollen die Prinzipien hinter der Auflösung von geistigen Vorstellungen und Glaubensmustern demonstriert undgeübt werden.

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.avatarepc.de

4.2.3 Samarpan

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

58 von 85 04.06.2010 17:09

Page 59: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

"Was auch immer für ein Gefühl der Verstand einsetzt, um dich unter Kontrolle zu halten – solange du bereit bist,das Gefühl zu fühlen, hat der Verstand keine Chance."

"Wenn du weißt, dass du nicht weißt, ist das Leben ein Abenteuer."

(http://www.samarpan.de/zitate_d.htm[1])

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.samarpan.de/zitate_d.htm

4.2.3.1 Philosophie und Praxis

Samarpan wurde 1941 in San Francisco geboren und lehrt vorwiegend in Deutschland, Österrreich und derSchweiz als Advaita-Meister. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, besuchte ein Priesterseminar undstudierte anschliessend Psychologie. 1981 fand er zum indischen Mytiker Osho[1] und lebte fortan in seinemZentrum in Oregon. Von Osho erhielt er auch den Namen Samarpan, was soviel wie Hingabe bedeutet.

Während eines Retreats mit Gangaji realisierte Samarpan mit absoluter Klarheit, dass da niemand ist, keinePerson, kein Ich, niemand, der erleuchtet oder nicht erleuchtet sein könnte, und dass seine individuellePersönlichkeit nur aus Konzepten, Meinungen und Vorstellungen besteht, aber in Wirklichkeit nie existiert hat.Er erkannte, dass diese Abwesenheit einer Person der Frieden ist, nachdem er so lange gesucht hatte. (Vgl.:http://www.samarpan.de/samarpan_d.htm[2])

Samarpans Belehrungen sind von Klarheit und Humor geprägt. Mit Sensibilität begleitet er die Menschendurch ihre persönlichen, manchmal leidvollen, Prozesse und erinnert daran, dass es vorwiegend darum geht,dem rationalen Verstand die Aufmerksamkeit zu entziehen, damit sich die dahinterliegende Wahrheit offenbarenkann. Hinter der Fassade des dualen, intellektuellen Geistes liegt ein natürlicher, grosser Friede, der in derStille und Gegenwart der Meditation erfahren werden kann.

Literatur:

Foto: Samarpan

(http://www.wikipedia.org )

Foto: Satsang mit Samarpan

(http://www.samarpan.de/satsang_d.htm )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

59 von 85 04.06.2010 17:09

Page 60: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

http://www.samarpan.de/satsang_d.htm[3]

http://de.wikipedia.org/wiki/Samarpan[4]

Samarpan. 2003. Glücklichsein in jedem Moment. Bielefeld: Verlag Kamphausen

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 4.1.3[2] http://www.samarpan.de/samarpan_d.htm[3] http://www.samarpan.de/satsang_d.htm[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Samarpan

4.3 Buddhistischer Hintergrund

In den folgenden Kapiteln werden "Neue religiöse Bewegungen"[1] besprochen, die ihre philosophischenund praktischen Zugänge aus den buddhistischen Lehren beziehen.

Die folgenden buddhistischen neuen religiöse Bewegungen sind überwiegend in Europa entstanden, wasdarauf zurückzuführen ist, dass der jeweilige Begründer und Meister aus Asien, im speziellen aus Tibet, fliehenmusste und in einem europäischen Land eine neue Heimat und die Mehrheit seiner SchülerInnen fand. Vonden hier aufgeführten Bewegungen lebt einzig S.N. Goenka, der Begründer und Erneuerer der Vipassana-Meditation nach wie vor in Indien. Die Gründer der anderen hier erwähnten religiösen Bewegungen haben ihreZentren in Europa und vermitteln die buddhistischen Lehren fast ausschliesslich an eine westliche Zuhörer-und SchülerInnenschaft.

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 4

4.3.1 Thich Nhat Hanh

Thich Nhat Hanh gehört zu den bekanntesten und einflußreichsten spirituellenLehrern der Gegenwart. Er wurde 1926 in Süd-Vietnam geboren und trat im Altervon 16 als Novize in den Tu-Hieu Tempel in Hue ein.

Während des Vietnam-Krieges (1964-1975) engagierte er sich für dessen Opfer,trat gegen die Verletzung der Menschenrechte in aller Welt auf und verurteilte dasatomare Wettrüsten. Thich Nhat Hanh zählt zu den profiliertesten Vertretern derbuddhistischen Friedensbewegung. Seinen Wohnsitz hat er im westlichen Exil, inFrankreich, wo er das Zentrum "Plum Village" gründete, und in den USA. Von dortausgehend ist er besonders in der westlichen Welt bekannt.

4.3.1.1 Tiep

Ein wichtiger Schritt im Leben Thich Nhat Hanhs war 1966 die Gründung des„Orden des Interseins“. Im Vietnamesischen lautet der Name des Ordens TiepHien. Das Wort Tiep bedeutet „in Berührung sein mit“ und „fortsetzen,weiterführen“. Hien bedeutet „verwirklichen“ und “etwas hier und jetzt tun“. Um den Geist des Ordens wie auchThich Nhat Hanhs besser verstehen zu können, ist es sehr hilfreich, sich näher mit diesen beiden Begriffenauseinanderzusetzen.

Tiep bedeutet also in Berührung sein, in Berührung sein mit der Wirklichkeit der Welt und der Wirklichkeitunseres Geistes.

Mit der Wirklichkeit des Geistes in Berührung sein bedeutet, sich der Vorgänge in unserem Inneren bewußt zusein, unserer Gedanken, Emotionen, Wahrnehmungen und geistigen Formationen. Es bedeutet, auch diewahre Natur unseres Geistes, unseren wahren Geist, den Urquell unseres Verstehens und Mitgefühlwiederzuentdecken und zu realisieren, daß wir letztendlich niemals von ihm getrennt waren und es nie seinwerden. Sind wir mit unserem wahren Geist in Berührung, ruhen wir in der wahren Natur unseres Geistes, sowerden wir mit Verständnis und Lebenskraft, Weisheit und Mitgefühl erfüllt. Laut Thich Nhat Hanh sind wir dannin Verbindung mit allen Buddhas, Bodhisattvas und erleuchteten Wesen, die uns den Weg weisen zuVerstehen, Frieden und Glück.

Foto: Thich Nhat Hanh(http://www.plumvillage.org )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

60 von 85 04.06.2010 17:09

Page 61: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Mit der Wirklichkeit der Welt in Berührung sein bedeutet, in Berührung sein mit allen Erscheinungen, allenPhänomenen der Welt, den menschlichen, tierischen, pflanzlichen und mineralischen. Um wirklich inBerührung sein zu wollen, müssen wir unsere Überzeugungen, daß wir, unser Ego, das Zentrum sei,verlassen, um so in der Lage sein zu können allen Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralien, allem was lebt undexistiert, aus einem gesammelten, präsenten, gegenwärtigen und achtsamen Inneren heraus begegnen zukönnen.

Tiep, im Sinne Thich Nhat Hanhs, bedeutet also einerseits „in Berührung sein mit unserem Geist und der Welt“,andererseits auch „etwas fortsetzen oder weiterführen“. Damit meint Thich Nhat Hanh den Erleuchtungswegder Buddhas und aller Bodhisattvas, der erwachten und erleuchteten Wesen.

4.3.1.2 Hien

Schließlich bedeutet hien „etwas verwirklichen“, nicht in der Welt der starren Lehrmeinungen undVorstellungen zu verharren, sondern die erfahrenen Einsichten im realen, wirklichen Leben Tag für Tag zumEinsatz zu bringen. Verstehen und Mitgefühl werden so zu einer Wirklichkeit, einer Tatsache in unserem Leben,man kann sie sehen und fühlen. Doch ist mit Verwirklichung nicht allein unser Handeln gemeint. Zuallererstmuß jede/r Einzelne sich um persönliche und authentische Transformation bemühen, eine Transformation, dieuns schließlich erlaubt, mit der Natur und den Menschen in Harmonie zu sein. Sind wir erst einmal mit derQuelle des Verstehens und Mitgefühl verbunden, mit der wahren Natur des Geistes, werden sich aller unserTun und Handeln ganz selbstverständlich darauf ausrichten, Leben zu schützen, Gerechtigkeit zu leben unddie Lebensqualität zu erhöhen.

Wollen wir Freude und Glück mit anderen teilen, so müssen Freude und Glück zuallererst in uns selbstvorhanden sein. Wollen wir inneren Frieden, geistige Klarheit, Vertrauen und Hingabe mit anderen teilen,müssen wir sie zuerst in uns selbst verwirklichen.

Hien bedeutet auch noch „etwas hier und jetzt tun“ und erinnert uns daran, daß nur der gegenwärtigeAugenblick zur Gänze für uns verfügbar ist. Der Frieden und das Glück, nach denen wir alle streben, existiertnicht in ferner Zukunft irgendwann einmal, sondern wir haben jeden Augenblick ständig die Gelegenheit,Frieden und Zufriedenheit wirklich zu erfahren. Es ist also die Erkenntnis, daß der Weg das Ziel ist, eineErkenntnis, die uns erlaubt, alle Aktivitäten, alles Tun und Denken achtsam und friedlich anzugehen.

Das Verständnis des buddhistischen, spirituellen und geistigen Hintergrunds des von Thich Nhat Hanhsgegründeten Tiep Hien-Ordens, des Ordens des Interseins, ist maßgeblich und wichtig für ein Verstehenseiner Lehren und der besonderen Art und Weise, wie er die Lehren Buddhas der westlichen Welt vermitteltund zu Herzen bringt.

4.3.1.3 Die Rechte Achtsamkeit

In seinem Schaffen verknüpft er in origineller Weise Elemente des Zen-Buddhismus mit solchen desTheravada-Buddhismus (Vipassana). Der Begriff der Achtsamkeit nimmt in seinen Werken eine zentraleStellung ein und meint ein bewußtes Erleben jedes gegenwärtigen Augenblicks, ein Verweilen im Jetzt, eineklare Bewußtheit bei allen Handlungen. Achtsamkeit ist in diesem Sinne sowohl Mittel als auch Ziel,gleichzeitig Same und Frucht. Wenn wir Achtsamkeit üben, um zu besserer Konzentration zu gelangen, dannist Achtsamkeit der Same. Achtsamkeit ist jedoch das Leben selbst, wo Achtsamkeit herrscht, ist Leben, somitist Achtsamkeit auch die Frucht.

Um zu einem grundlegenderen Verständnis der Achtsamkeit im Sinne Thich Nhat Hanhs zu gelangen, wurdenin diesem Zusammenhang zwei seiner Texte genauer untersucht, Das Herz von Buddhas Lehre, Leidenverwandeln – die Praxis des glücklichen Lebens, sowie Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, VerbindendeElemente der christlichen und buddhistischen Lehren. Als Grundlage verwenden wir das Sattipatthana Sutraüber die vier grundlegenden Aspekte der Achtsamkeit.

Die im Sattipatthana Sutra vermittelte Meditationstechnik war ursprünglich eine spirituelle Technik, bei der dierein formale und inhaltsneutrale Fähigkeit zum bewußten Beobachten geschult werden sollte. Demnach war sieeine äußerst nüchterne, für den Geist des älteren Buddhismus sehr typische Übung, die jedoch auch aufnichtbuddhistische Kontexte leicht übertragbar ist.

Im Laufe der buddhistischen Geistesgeschichte hat die Praxis der vier Konzentrationen der Aufmerksamkeitjedoch erhebliche Umgestaltungen erfahren, spirituelle Techniken wie die Atembeobachtung oderLeichenbetrachtung sind miteinbezogen worden.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

61 von 85 04.06.2010 17:09

Page 62: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

In den Hinayana -Schulen beziehen sich die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit in erster Linie auf eineBetrachtung von Körper, Rede und Geist, alle Gegebenheiten werden als leidvoll, vergänglich und nicht-selbsthaft angesehen.

Im Mahayana werden die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit dann zu Betrachtungen der Leerheit undUnwirklichkeit der Betrachtungsgegenstände weiterentwickelt.

Die Lehre über die vier Konzentrationen der Aufmerksamkeit erweist sich also als ein Spiegel eines großenStückes buddhistischer Ideengeschichte, in welchem sich fast alle wichtigen Theorien der verschiedenenRichtungen des Buddhismus widerspiegeln.

4.3.1.4 Die Sieben Wunder der Achtsamkeit

In seinem Buch „Das Herz von Buddhas Lehre“ vermittelt Thich Nhat Hanh anhand der Sieben Wunder derAchtsamkeit eine eingehende und grundlegende Perspektive über eine praktische Anwendung der Inhalte desSattipatthana Sutras.

Das 1. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit uns zu wirklicher Präsenz verhilft. Auf diese Weise könnenwir den blauen Himmel, das Lachen eines Menschen wirklich wahrnehmen und davon berührt werden. Wennwir mit wachem, klaren Bewußtsein im Hier und Jetzt verweilen, ist es uns möglich, das jeweilige Phänomen inseiner Totalität zu erfassen und wirklich zu spüren.

Das 2. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit unser Gegenüber gleichsam präsent machen kann. Nurwenn wir in Achtsamkeit einem Menschen begegnen, sind wir in der Lage ihn wirklich wahrzunehmen und seinWesen zu erfassen. Wenn es uns also gelingt, mit freiem, offenem Geist und Herzen einem Menschen zubegegnen, so wird es uns auch gelingen, unterschiedliche Aspekte seiner Persönlichkeit wahrzunehmen.Gleichsam kann unsere uneingeschränkte Präsenz einem Menschen helfen das wache, klare Bewußtsein, dashinter allen Dingen ruht, auf diese Weise auch in sich selbst zu entdecken und zu empfinden.

Das 3. Wunder der Achtsamkeit ist, daß Achtsamkeit dem Objekt unserer Achtsamkeit Lebenskraft schenkt, einMensch kann Kraft erfahren durch unsere Achtsamkeit ihm gegenüber. Sind wir wirklich achtsam, so werdenwir viele neue und wunderbare Dinge an geliebten Menschen entdecken, seine verborgenen Talente oderWünsche.

Das 4. Wunder der Achtsamkeit ist, daß mit Hilfe unserer Achtsamkeit das Leiden in einem anderen Menschengelindert werden kann. Wenn ein Mensch leidet und wir mit unserer vollen Aufmerksamkeit für ihn da sind, sowird ihm das helfen und sein Leid lindern. Diese vier Wunder gehören zum ersten Aspekt der Meditation:shamatha

Samatha (Pâli, wörtlich "Sammlung") ist eine buddhistische Meditationstechnik, die mit "geistiger Sammlung"oder "Geistesruhe" übersetzt werden kann. Zuerst muß also der Geist ruhig werden und aus den alltäglichenZerstreuungen heraustreten.

Die nächsten drei Wunder der Achtsamkeit gehören zum 2. Aspekt der Meditation: vipassana

Vipassanā bezeichnet eine Meditationstechnik, die einen Geisteszustand kultiviert, der eine besondere Einsichtin innere mentale Phänomene erlaubt. Es handelt sich hierbei um eine der ältesten MeditationstechnikenIndiens. Das Wort Vipassana bedeutet soviel wie "die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind".

Das 5. Wunder der Achtsamkeit ist Tiefes Schauen. Weil unser Geist nun zur Ruhe gekommen ist, wird unsTiefes Schauen möglich, was bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Wir sind nun in der Lagesowohl Gedanken als auch Emotionen als vorübergehende, vergängliche Phänomene zu begreifen.

Das 6. Wunder der Achtsamkeit ist Verstehen. Indem wir zur Ruhe gekommen sind, und tief in die Natur derDinge schauen, können wir die Zusammenhänge verstehen. Wenn wir achtsam sind, den gegenwärtigenAugenblick wirklich berühren, werden wir nun klar wahrnehmen, was wir vorher nur undeutlich gesehen haben.Wir beginnen zu verstehen, daß wir uns unser ganzes Leben lang mit den Inhalten unseres Geistes, wieGedanken, Emotionen und Konzepte, identifiziert haben, und daß diese geistigen Inhalte von einer absolutenEbene aus betrachtet leer sind, leer von einem eigenständigen, unabhängigen, aus sich selbst herausexistierenden Selbst.

Das 7. Wunder der Achtsamkeit ist Transformation, Verwandlung. Wenn wir Rechte Achtsamkeit praktizieren,berühren wir die heilenden Kräfte des Lebens, und können so beginnen unser eigenes Leid und das unsererMitmenschen zu transformieren. Das bedeutet daß nur rechte Achtsamkeit und klares Erkennen der Tatsachen

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

62 von 85 04.06.2010 17:09

Page 63: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

die Basis für wirkliche Wandlung bilden.

4.3.1.5 Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeit

Im Sutra über die Vier Grundlagen der Achtsamkeit werden Vier Objekte zum Praktizieren von Achtsamkeitangeführt:

Körper

Empfindungen / Gefühle

Geist

Objekte des Geistes

4.3.1.5.1 Körper

Viele Menschen empfinden ihren Körper nicht als ihr Zuhause, sie vernachlässigen ihren Körper und behandelnihn schlecht. Zuallererst muß man deshalb seinen Körper mit Achtsamkeit als sein Heim begreifen, seinemKörper wirkliche Aufmerksamkeit schenken. Thich Nhat Hanh empfiehlt für unsere Meditation zu Beginnfolgenden Gedanken der unsere bewußte Atmung begleiten soll.

„Ich atme ein und weiß ich bin in meinem Körper. Ich atme aus und schenke meinem Körper ein Lächeln.“

Wenn wir so praktizieren erneuern wir die Bekanntschaft mit unserem Körper und schließen Frieden mit ihm.

Unser Beobachten muß non-dual sein, wir registrieren im Geist unsere Körperhaltung und jede Veränderung indieser Haltung, wir üben uns im Reinen Beobachten. Wenn wir gehen, sitzen, liegen oder stehen, wissen wirdaß wir gehen, sitzen, liegen oder stehen.

Weiters versuchen wir jeden Körperteil bewußt wahrzunehmen, vom Scheitel bis zu den Fußsohlen. Hier gehtes um ein bewußtes Registrieren, um ein in Kontakt treten mit allen Körperteilen, allen Organen.

4.3.1.5.2 Empfindungen/Gefühle

In jedem Moment sind wir von Gefühlen und Empfindungen unterschiedlicher Art erfüllt. Gefühle sindentweder angenehm, unangenehm oder neutral. Wir neigen dazu angenehme Gefühle zu bevorzugen undsie festhalten zu wollen, unangenehme geringer zuschätzen und sie abzulehnen. Hier geht es darum dasGefühl bewußt zu registrieren und zu beobachten, wobei es relevant ist, an Gefühlen weder zu haften noch sieabzulehnen.

„Rechte Achtsamkeit ist wie eine Mutter. Sie liebt ihr Kind immer, egal ob es fröhlich ist oder weint.“

Egal welches Gefühl aufsteigt, begrüßen wir es freundlich, wir bewerten es nicht, kategorisieren nicht in gutoder schlecht.

“Ich atme ein und weiß ein unangenehmes oder angenehmes Gefühl ist in mir. Ich atme aus und weiß einunangenehmes oder angenehmes Gefühl ist in mir.“

4.3.1.5.3 Geist

Inhalt des Geistes sind die psychologischen Phänomene, auch Geistformationen genannt. Das Sutra Überdie Vier Grundlagen der Achtsamkeit nennt 52 geistige Formationen, darunter Begehren, Wut, Nicht- Wissen,Erregung, Trägheit, Schläfrigkeit, Ruhelosigkeit, Zweifel etc. sowie die jeweiligen Entgegengesetzten Haltungenwie Freiheit von Begehren, Wut, Nicht-Wissen, Erregung, Trägheit, Schläfrigkeit, Ruhelosigkeit, Zweifel.

Die Übung der Achtsamkeit auf den Geist unterscheidet sich nicht von der Übung der Achtsamkeit auf denKörper. Man beobachtet achtsam, ohne sich einzumischen, zu bewerten oder zu urteilen, gleichmütig dasAufsteigen, Verweilen und Abklingen der geistigen Phänomene. Man erkennt sie, schaut tief in sie hinein, umihre Substanz, ihre Wurzeln in der Vergangenheit und ihre möglichen Früchte in der Zukunft zu sehen, und

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

63 von 85 04.06.2010 17:09

Page 64: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

praktiziert während dieser Betrachtung achtsames Atmen.

4.3.1.5.4 Objekte des Geistes

Gedanken, Konzepte, Bilder, Emotionen, Gefühle, Empfindungen, alles was wir verbal benennen könnenist ein Objekt unseres Geistes. Jede unserer Geistformationen muß ein Objekt haben, auf das sie hin gerichtetist. Sind wir wütend, beispielsweise, sind wir auf jemanden oder über etwas wütend.

Die Meditation über die Betrachtung der Wut nach Thich Nhat Hanh gestaltet sich in Ansätzenfolgendermaßen:

„Wenn Wut in mir ist, bin ich mir bewußt: In mir ist Wut. (nicht: ich bin wütend) Wenn keine Wut in mir ist, bin ichebenfalls bewußt: in mir ist keine Wut. Wenn Wut in mir aufzusteigen beginnt, bin ich mir dessen bewußt, binmir der damit verbundenen Gedanken und des Objektes meiner Wut bewußt. Indem wir unsere Wut achtsamidentifizieren verliert sie an Destruktivität“.

4.3.1.6 Literatur

Thich Nhat Hanh. 1995. Lebendiger Buddha, Lebendiger Christus. Augsburg: Goldmann Verlag Thich NhatHanh. 1988. Das Wunder der Achtsamkeit. Berlin: Theseus Verlag Thich Nhat Hanh. 1998. Vierzehn Tore desAchtsamkeit. Berlin: Theseus Verlag Thich Nhat Hanh. 1999. Das Herz von Buddhas Lehre. Freiburg BaselWien: Verlag Herder

www.plumvillage.org[1]

www.intersein.de[2]

www.rothenfels.de[3]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.plumvillage.org[2] http://www.intersein.de[3] http://www.rothenfels.de

4.3.2 Chögyam Trungpa (Shambhala)

Chögyam Trungpa Rinpoche wurde 1940 in der osttibetischen Provinz Kahm geboren und war einbuddhistischer Linienhalter der tibetischen Kagyü- und Nyingma-Tradition. Er war der Elfte in der Linie derTrungpa Tulkus.

Nach seiner Endeckung als Tulku wurde Chögyam Trungpa zum Mönch geweiht und erhielt umfassendeAusbildungen sowohl in der Tradition der Kagyu- wie auch der Nyingma Schule, die die älteste der vier Schulendes tibetischen Buddhismus ist. Im Jahre 1948 wurde er zum Mönchsnovizen ordiniert und im Alter von 18

Foto: Chögyam Trungpa

Rinpoche

(http://www.shambhala.org/... )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

64 von 85 04.06.2010 17:09

Page 65: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Jahren bekam er die volle Mönchsordination. 1959 hatte er seine grundlegende Ausbildung voll abgeschlossenund war gezwungen vor der chinesischen Besatzung aus Tibet zu fliehen. Zu Fuß überquerte er den Himalajanach Indien, wo er sich in der tibetischen Exilheimat Dharamsala in Nordindien niederließ. Von 1959 bis 1963war er der geistige Berater der Young Lamas Home School in Dalhousie in Südindien, ein Amt das ihm der 14.Dalai Lama schon bald nach seiner Ankunft in Indien übertrug.

1963 erhielt er ein Stipendium für ein Studium in England, er verließ Indien und studierte vergleichendeReligionswissenschaften, Philosophie und Bildende Kunst an der Universität von Oxford. Bereits in Englandbegann er als Lehrer tätig zu werden. Zusammen mit Akong Tulku gründete er das Samye-Ling-Meditationszentrum in Schottland, das erste tibetisch-buddhistische Meditationszentrum im Westen.

4.3.2.1 Das Leben Chögyam Trungpa Rinpoches

Eine Reihe verschiedener Erfahrungen, darunter ein schwerer Autounfall, der in teilweise gelähmt hatte,haben dazu geführt, daß Trungpa Rinpoche seine monastischen Gelübde aufgab und dazu überging alsweltlicher Lehrer zu wirken. 1969 schließlich gab Chögyam Trungpa seine Mönchsrobe zurück und heiratete dieEngländerin Diana J. Pybus. Mit ihr folgte er der Einladung vieler seiner Schüler und siedelte in die USA über.Die buddhistischen Lehren fanden in den USA großen Anklang. In den kommenden zehn Jahren reisteChögyam Trungpa nahezu durchgehend durch Nordamerika um zu unterrichten. In dieser Zeit hat er sechsBücher herausgebracht, drei große Praxis-Zentren etabliert, eine Reihe Stadt-Zentren ins Leben gerufen unddie Naropa Universität in Boulder, Colorado gegründet, die erste anerkannte buddhistische Universität inNordamerika.

In dieser Zeit hat Trungpa Rinpoche auch die Dachorganisation Vajradhatu gegründet, die ihren Sitz ebenfallsin Boulder, Colorado hat, und die die Koordinationszentrale für die vielen kleineren Zentren bildet, die weltweitin westlichen Ländern, unter Rinpoches Anleitung und Unterstützung, entstanden. Vajradhatu steht ebenfallsin der Linie der Kagyü- und Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus.

Essenz und Inhalt, sowie die wichtigsten Zielsetzungen der Vajradhatu-Organisation waren die Verbindungvon Meditations-Praxis und Unterricht der buddhistischen Lehren, die in den mehr als hundert Stadt-Zentren angeboten wurden, während die größeren ländlichen Zentren längere, intensivere buddhistischeRetreats und Studienaufenthalte organisierten. Die Studenten lernten, wie buddhistische Meditation insalltägliche Leben integriert werden kann.

Chögyam Trungpa Rinpoche war von Anfang an ein hingebungsvoller, einfühlsamer Lehrer, der seine Schülerdazu ermutigte eine kontemplative, reflektierte Herangehensweise in all ihrem täglichen Tun zu etablieren.

Um Kunst ins alltägliche Leben in einer meditativen Art und Weise zu integrieren, rief er 1974 die NalandaFoundation als Dachorganisation ins Leben. Nalanda umfaßt heute eine Vielzahl von traditionellen undmodernen Disziplinen, die Kunst, Körperarbeit und Wissenschaft mit Meditation zusammenbringen. JedeDisziplin bietet einen eigenen Weg, Wachheit für die Welt zu entwickeln und Bewußtsein für die Gegenwart zuschaffen.

4.3.2.2 Die Shambhala-Vision

Als Hintergrund für seine Darstellungen, als Basis die buddhistischen Lehren einer westlichen Welt verständlichzu machen, entwickelte Chögyam Trungpa Rinpoche ein säkulares Meditations-Programm, das erShambhala-Training nannte.

Er benutzt hier die Bilderwelt und Legende des Shambhala-Königreichs, machte aber immer sehr deutlich,daß er nicht die buddhistischeKalachakra-Lehre über Shambhala heranzog. Das Interesse Rinpoches an denShambhala-Lehren ging auf seine Zeit in Tibet zurück, während er der oberste Abt der Surmang-Klöster war.Schon als junger Mönch studierte er tantrische Texte über das legendäre Shambhala-Reich, über die Wegedorthin und über dessen innere, mentale Bedeutung.

4.3.2.3 Geschichte eines Mythos

Das Kalachakra-Tantra ist ein spezielles Praxis-System aus der Gruppe der nondualen Yogatantras destibetischen Buddhismus.

Kalachakra wurde nach der Überlieferung von Buddha Shakyamuni im Alter von 80 Jahren an der Stupa von

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

65 von 85 04.06.2010 17:09

Page 66: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Dhanyakataka in Südindien gelehrt. Das mit Kalachakra verbundene Praxissystem wurde aber in Indien erst imJahre 966 n. Chr. verbreitet und gelangte um das Jahr 1024 nach Tibet. Die Praxis des Gottheiten-Mandala imKalachakra-Tantra gilt als eine der höheren tantrischen Meditationpraktiken, die eine schnelle Entwicklungdes Praktizierenden bis zur Erleuchtung in einem Leben ermöglichen soll.

4.3.2.4 Die Lehre nach Chögyam Trungpa

Die Shambhala-Vision gemäß Chögyam Trungpa Rinpoche steht nur marginal mit dem historischen,legendären Königreich, wie es im Kalachakra-Tantra Erwähnung findet, in Zusammenhang. Zwar beruftRinpoche sich in gewisser Weise auf die im Kalachakra enthaltenen Lehren, doch finden sie in seinenUnterweisungen eine säkulare, non-theistische Auslegung.

Grundsätzlich geht es Rinpoche um die Idee und Realisierung einer erleuchteten Gesellschaft, die derWürde der menschlichen Erfahrung Ausdruck verleiht. Eine „erleuchtete Gesellschaft“, welche spirituelle Visionund meditative Übung mit den praktischen Anforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vereint,liefert die Grundlage für ein erfülltes persönliches Leben und eine blühende Kultur. Trungpa etablierte indiesem Zusammenhang eine praktische, weltliche Lehre, die jenseits religiöser Vorstellungen und Dogmen inerster Linie für Menschen aus dem Westen zugeschnitten ist. Auf diese Vision bezog sich Trungpa Rinpoche,wenn er von „Shambhala“ sprach.

„Die Shambhala-Lehre geht davon aus, daß es eine tiefe menschliche Weisheit, mit der die Probleme der Weltüberwunden werden können, tatsächlich gibt. Und diese Weisheit gehört weder einer bestimmten menschlichenKultur oder Religion, noch stammt sie nur aus dem Osten, oder nur aus dem Westen: Es ist die Traditionmenschlicher Kriegerschaft, für die es aus allen Zeiten und vielen Kulturen Zeugnisse gibt.“ (Aus: ChögyamTrungpa, Das Buch vom meditativen Leben, S.23)

4.3.2.4.1 Der ursprüngliche Punkt - Die fundamentale Gutheit

Der ursprüngliche Punkt ist die fundamentale Reinheit, das grundlegende klare Gutsein, das jedes Wesenbesitzt. Nachdem dieser Punkt keinen Bedingtheiten unterliegt, ist er weder von äußerlichen Einflüssen, nochvon psychischen oder physischen Veränderungen beeinflußbar. Er ist frei von den positiven oder negativenErfahrungen eines Menschen, und kann im Grunde weder von geistiger Verwirrung, negativenGeisteszuständen oder emotionalen Verfassungen, noch aber von positiven geistigen Zuständen in irgendeinerWeise getrübt, verdunkelt oder beeinflußt werden.

4.3.2.4.2 Die Praxis der Sitzmeditation

Die Basis für die erwähnte Einsicht in oder Erkenntnis des ursprünglichen Punktes oder der grundlegendenGutheit bildet eine gewisse Wertschätzung, Sanftheit und zartfühlende Nachsicht gegenüber uns selbst. Esgeht hier um die Entwicklung einer guten, sich selbst schätzenden, sich selbst liebenden Haltung, einergrundlegenden Wertschätzung gegenüber sich selbst, die das Fundament für die Wertschätzung und denRespekt gegenüber anderen bildet. Die Entwicklung jener Sanftheit kann in der Praxis der Sitzmeditationerfahren werden, die grundlegende Achtsamkeits-Meditation, die der Buddha vor über 2500 Jahren lehrte. DieÜbung der Meditation dient dazu, sich seines Geisteszustandes gewahr zu werden, geistige Muster direkt zuerfahren und bewußt zu machen.

Chögyam Trungpa Rinpoche empfiehlt in seinem Shambhala-Training diese einfache stille Achtsamkeits-Meditation, bei der der Atem das Objekt der Meditation bildet. Durch die Übung der Sitzmeditation werdenAchtsamkeit und Bewußtsein geschult, Konzentration, wie auch Disziplin werden gezielt geübt. Mit dieserMethode kann man sich selbst schulen ganz einfach und normal zu sein, um in Weite, Toleranz undUnvoreingenommenheit auftauchende Gedanken wahrzunehmen, ohne an angenehmen Gedanken undEmotionen zu haften oder unangenehme Gedanken und Emotionen abzulehnen oder zu verurteilen. Beimstillen Sitzen, indem man neutral dem Atem folgt, ist es möglich, eine Verbindung zu seinem Herzenherzustellen. Kriegerschaft gemäß Chögyam Tungpas bedeutet direkt mit unserer Situation zu arbeiten, so wiesie jetzt ist. Der erste Schritt zur Erfahrung des grundlegenden Gutseins besteht demnach in der Würdigungdessen, was wir haben. Rinpoche erwähnt in diesem Kontext den buddhistischen Terminus Bodhichitta, dasHerz des erwachten Geistes, eine grundlegende Wertschätzung des menschlichen Potentials, sowie dieBereitschaft und den Mut dieses Potential zu erkennen und zu verwirklichen. Essentiell ist eine authentische,ehrliche Begegnung mit sich selbst, die Bereitwilligkeit sowie der Entschluß sich seine eigene Traurigkeit undFrucht einzugestehen, um schlußendlich diese Trauer und Angst zu überwinden und zu transzendieren.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

66 von 85 04.06.2010 17:09

Page 67: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

4.3.2.5 Die Shambhala-Zentren

Basierend auf seiner Ausarbeitung und Adaptierung der Shambhala-Lehren hat Chögyam Trungpa und dann inweiterer Folge sein Sohn Sakyong Mipham Rinpoche der 1963 in Bodhgaya, Indien, geboren wurde, weltweitMeditationszentren gegründet, die das Ziel haben die buddhistischen Lehren in einen säkularen, weltlichenZusammenhang zu bringen, um sie Menschen ohne spezifisch buddhistisch-religiösem Hintergrund nahe zubringen. Die Shambhala-Zentren vereinen eine Gemeinschaft von Praktizierenden, die sich an dentraditionellen buddhistischen Belehrungen und den Shambhala-Lehren über eine erleuchtete Lebensführungorientiert. In diesen Weg werden weitere kontemplative Disziplinen integriert.

Das Herzstück des Shambhala-Trainings, wie es in den Zentren gelehrt wird, ist die Praxis der Sitzmeditation.Mit Hilfe der Achtsamkeits/Gewahrseinspraxis die in Shambhala-Trainingsprogrammen gelehrt wird, ist manin der Lage, seinen eigenen Geisteszustand genau zu betrachten, ohne den Versuch, ihn in irgendeiner Weisezu verändern. Diese Praxis unterstützt die Fähigkeit, sich in jedem einzelnen Moment für sich selbst und seineUmwelt zu öffnen. Wenn man sich dieser Offenheit verpflichtet, wird das Leben eine Reise, die Wachheit undWahrhaftigkeit offenbart. Die Shambhala-Lehren besagen, daß keine Religion oder Doktrin einen Anspruch aufdie Menschen innewohnende Weisheit und grundlegende Gutheit erheben kann. Jeder spirituelle Pfad kannwertgeschätzt und praktiziert werden.

4.3.2.6 Literatur

Chögyam Trungpa. 1999. Shambhala: The Sacred Path of the Warrior. Boston: Shambhala

Chögyam Trungpa. 1995. Das Buch vom meditativen Leben. Hamburg: Rowohlt

Chögyam Trungpa. 2004. Grosse Östliche Sonne: Die Weisheit von Shambhala. Freiamt: Arbor

Chögyam Trungpa. 1989. Spirituellen Materialismus durchschneiden. Berlin: Theseus

http://www.shambhala.org[1]

http://www.shambhala.com[2]

Verweise in diesem Kapitel:[1] http://www.shambhala.org[2] http://www.shambhala.com

4.3.3 Sogyal Rinpoche

Leben und Lehre

Sogyal Rinpoche wurde 1948 in Kham, Tibet, geboren und gilt als dieInkarnation Tertön Sogyal Lerab Lingpa, einem Lehrer des 13. Dalai Lama. Erist tibetischer Meditationsmeister und Dzogchen-Lehrer[1] der Nyingma-Tradition[2] des tibetischen Buddhismus. Sein Meister und Lehrer war derberühmte Jamyang Khyentse Chökyi Lödrö, der als einer der bedeutendstenMeister des tibetischen Buddhismus im 20. Jahrhundert gilt. Bereits im Altervon sechs Jahren kam Sogyal ins Kloster von Chökyi Lödrö in der ProvinzKham.

1971 ging Rinpoche nach England, studierte VergleichendeReligionswissenschaft und begann bereits die Lehren des tibetischenBuddhismus zu unterrichten. Mitte der siebziger Jahre wird das spirituelleNetzwerk rigpa gegründet, 1991 der Retreat-Zentrum Lerab Ling in derNähe von Montpellier in Südfrankreich. 1992 wurde Rinpoches "TibetischeBuch vom Leben und vom Sterben" veröffentlicht, das mittlerweile in mehrals 30 Sprachen übersetzt und in annähernd 60 Ländern 2 Millionen Malverkauft wurde. Es wird an Hochschulen sowie in medizinischen, sozialenBerufen und Institutionen eingesetzt und von Ärzten, Pflegepersonal undanderen Berufstätigen im Gesundheitswesen intensiv genutzt. Im Jahre 2000war Seine Heiligkeit der XIV. Dalai Lama zu Gast in Lerab Ling um zu

Foto: Sogyal Rinpoche

(http://www.rigpa.de )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

67 von 85 04.06.2010 17:09

Page 68: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

unterrichten und 2006 wurde der Tempel in Lerab Ling endgültig fertiggestellt und einer authentischentibetisch- buddhistischen Einweihung unterzogen.

Sogyal Rinpoche versteht es ineinleuchtender und herzlicher Klarheit dieLehren, im besonderen der Nyingma-Schule,[3] des tibetischen Buddhismus,einer, vor allem, westlichen HörerInnen-und SchülerInnenschaft zugänglich undverständlich zu machen. Im Mittelpunktseiner Belehrungen steht die Praxis desBuddhismus, praktisches Geistestrainingin Form von Meditation oder tantrischerPraktiken soll vermittelt werden und dieRelevanz dessen im Verständnis derPhilosophie des Buddhismus sollnachvollziehbar gemacht werden.

"Rigpa ist ein tibetisches Wort, das imAllgemeinen ‚Intelligenz‘ oder‚Gewahrsein‘ bedeutet. Im Dzogchenjedoch, den höchsten Lehren derbuddhistischen Tradition Tibets, hat Rigpaeine tiefer gehende Bedeutung: ‚die

innerste Natur des Geistes‘. Die gesamten Lehren des Buddha dienen dem Ziel, diese unsere letztliche Natur,den Zustand der Allwissenheit oder der Erleuchtung, zu erkennen und zu verwirklichen – eine Wahrheit, die sogrundlegend und universell ist, dass sie über alle Begrenzungen und sogar über Religion selbst hinausgeht."

(vgl.: http://www.rigpa.de/index.php?id=3[4])

Literatur:

Rinpoche, Sogyal. 2004. Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben: Ein Schlüssel zum tieferenVerständnis von Leben und Tod. Frankfurt am Main: Fischer Tb.

Rinpoche, Sogyal. 2006. Funken der Erleuchtung: Buddhistische Weisheit für jeden Tag des Jahres. Frankfurtam Main: Fischer Tb.

http://www.rigpa.de/[5]

http://www.rigpa.org/Home.html[6]

http://www.lerabling.org/[7]

http://www.rigpa-zentrum-berlin.de/[8]

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 3.2.3.2[2] Siehe Kapitel 3.2.3.1[3] Siehe Kapitel 3.2.3.1[4] http://www.rigpa.de/index.php?id=3[5] http://www.rigpa.de/[6] http://www.rigpa.org/Home.html[7] http://www.lerabling.org/[8] http://www.rigpa-zentrum-berlin.de/

4.3.4 Dzogchen-Community

Leben und Lehre

Chögyal Namkahi Norbu, geboren 1938 im Dorg Derge, Kham, Tibet, gilt als einerder bekanntesten lebenden Dzogchen[1]-Meister und wurde bereits im Alter vondrei Jahren als Inkarnation mehrerer grosser Meister anerkannt. Nach seiner

Foto: Der tibetisch-buddhistische Tempel Lerab Ling in Südfrankreich(http://www.rigpawiki.org/index.php?title=Lerab_Ling )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

68 von 85 04.06.2010 17:09

Page 69: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

vollständigen Ausbildung in Tibet und dem Abschluss mehrerer akademischerStudien, wie Medizin und Astrologie, erhielt er umfassende Belehrungen aller viergrossen Schulen des tibetischen Buddhismus[2]. 1958 musste er aus Tibet nachSikkim fliehen, wo er bist 1960 lebte als er schliesslich, Dank seiner fundierten

Kenntnisse aller Aspekte der tibetischen Kultur, von Prof. Tucci nach Italien einladen wurde am ISMEO Institut(Instituto Italiano per il medio ed estremo Oriente) in Rom zu unterrichten.

1971 begann Norbu Rinpoche Yantra Yoga zu unterrichten, eine alte Form des tibetisch-buddhistischen Yogas,welche Bewegung, Visualisation und Atmung kombiniert. Einige Jahre später begann er bereits Dzogchen-Belehrungen an kleine Gruppen von SchülerInnen zu geben. Das Interesse an seinen Unterweisungen wuchszunehmend, Rinpoche widmete sich demnach verstärkt der Verbreitung der Dzogchen[1]-Lehren und begannsogenannteGars zu gründen, weltweit verteilten Sitzen der Dzogchen Community. Heute gibt es solche Garsin Italien, Rumänien, den Vereinigten Staaten, Venezuela, Argentinien und Australien. Zusätzlich gründete erdas internationale Shang- Shung Institut und ASIA. Ziel des Shang-Shung Instituts ist die Bewahrung deskulturellen Reichtums von Tibet. ASIA ist eine gemeinnützige Hilfsorganisation, deren Ziel es ist, medizinischeund schulische Versorgung vor allem für die Bevölkerung Tibets zu ermöglichen.

Dzogchen-Lehren nach NamkhaiNorbu Rinpoche

Die 6 Vajra-Verse

"Die vielfältigen Erscheinungen sindihrer Natur nach nicht-dual.

Dennoch, ist jede einzelne in ihremeigenen Zustand, jenseits jderBeschreibung.

Der Zustand < so wie es ist > kannmit Worten nicht erklärt werden,

dennoch, was auch immer erscheint,ist gut.

Da alles bereits vollendet ist, lassenwir Krankheit und Anstrengung hinteruns

und finden uns im spontanvollkommenen Zustand: Das istKontemplation."

(Norbu, 1999: 101)

Literatur:

Norbu, Namkhai. 1999. Spiegel des Bewusstseins. Die Essenz des tibetischen Buddhismus. München:Diederichs.

Norbu, Namkhai. 1998. Traum-Yoga. Der tibetische Weg zu Klarheit und Selbsterkenntnis. München:O.W.Barth

Norbu, Namkhai. 1999. The Supreme Source: The Fundamental Tantra of the Dzogchen Semde. Ithaca, NY:Snow Lion Publications

http://www.dzogchen.de/popup_biografie/[4]

http://www.ssi-austria.at/[5]

http://www.asia-ngo.org/[6]

http://www.dzogchen.it/[7]

http://www.dzogchen.at/[8]

Foto: Namkhai Norbu

Rinpoche

(http://www.dzogchencommunity.org )

Foto: Merigar Gompa, Italien

(http://www.lemacinaie.com/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

69 von 85 04.06.2010 17:09

Page 70: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

http://www.youtube.com/watch?v=UHmaBRlmYNw[9]

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 3.2.3.2[2] Siehe Kapitel 3.2.3[3] Siehe Kapitel 3.2.3.2[4] http://www.dzogchen.de/popup_biografie/[5] http://www.ssi-austria.at/[6] http://www.asia-ngo.org/[7] http://www.dzogchen.it/[8] http://www.dzogchen.at/[9] http://www.youtube.com/watch?v=UHmaBRlmYNw/

4.3.5 Vipassana / S.N. Goenka

Leben und Lehre

"The only way to experience truth directly is to look within, to look inwardly, to observeoneself. All of our lives we have been accustomed to look outside. We have alwaysbeen interested in what is happening outside, in what others are doing. ... Therefore weremain unknown to ourselves. This inner darkness must be dispelled to apprehend thetruth. We must gain insight into our own nature in order to understand the nature ofexistence. Therefore the path that the Buddha showed is a path of introspection, ofself-observation."

(Hart, 1987: 16)

Satya Narayan Goenka kam1924 in Mandalay, Nordburma,als Kind indischer Eltern zurWelt. Er ist ein führender Lehrerund Erneuerer des Vipassana-Meditation[1] , einer der wichtigsten und bekanntestenMeditationslehren des Buddha. Er wuchs als Hindu auf,wurde bereits sehr früh ein erfolgreicher Geschäftsmannund Vorsitzender der indischen Gemeinde Burmas.Goenka litt unter heftigen, immer wieder kehrendenMigräneanfällen und so suchte er nach einem Weg sichdavon zu befreien. Er kam in Kontakt mit Sayagyi U BaKhin, einem der obersten Staatsbeamten des Landes undBegründer eines Meditationszentrums in Rangun.Goenkastudierte viele Jahre unter U Ba Khin und wurde zu einemseiner prominentesten Schüler. 1969 zog Goenka

zusammen mit seiner Frau nach Indien und eröffnete in Mumbai das erste Vipassana-Meditationszentrum,Dhammagiri. Goenka leitete seitdem hunderte von Meditationskursen und gründete an die 130 Zentren, dieausschliesslich der Verbreitung der Vipassana-Meditationstechnik dienen.

Literatur:

Hart, William. 1987. The Art of Living. Vipassana-Meditation as taught by S.N.Goenka. San Francisco: HarperCollins

Hart, William. 2006. Die Kunst des Lebens. Vipassana-Meditation nach S.N.Goenka. Frankfurt: Dtv

Goldstein, Joseph. 1999. Vipassana Meditation. Die Praxis der Freiheit. Arbor-Verlag

http://www.german.dhamma.org/[2]

http://www.dhamma.org/[3]

http://www.vri.dhamma.org/general/dhammagiri.html[4]

http://www.vri.dhamma.org/general/goenka.html[5]

Foto: Satya Narayan

Goenka

(http://www.dhamma.org

Foto: Dhammagiri Vipassana Pagoda, Mumbai, Indien

(http://www.indianetzone.com/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

70 von 85 04.06.2010 17:09

Page 71: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Verweise in diesem Kapitel:[1] Siehe Kapitel 4.3.1.3[2] http://www.german.dhamma.org/[3] http://www.dhamma.org/[4] http://www.vri.dhamma.org/general/dhammagiri.html[5] http://www.vri.dhamma.org/general/goenka.html

5 Transformationen in afrikanischen Religionen

Am konkreten Beispiel des Òrìsà/Vodun-Komplexes sollen hier dievielschichtigen historischen Transformationen nachgezeichnet werden:

• von einer ursprünglich ethnischen Religion Westafrikas

• über verschiedenste Ausformungen Neuer Religionen in Afroamerika

• bis hin zur neuesten Entwicklung in Richtung einer Weltreligion

• und den Cyber-Transformationen des 21. Jahrhunderts.

Aufgrund ihrer weltweiten Verbreitung spricht man jüngst auch von einerYoruba- Weltreligion. Tatsächlich ist seit 2005 der von der österreichischenKünstlerin Susanne Wenger renovierte heilige Hain der Osun inOsogbo/Nigeria zum UNESCO-Welterbe und das Ifá-Orakel des ÒrìsàÒrúnmìlà zum UNESCO-Meisterwerk der Menschheit ernannt worden.

Auf diese Weise wird die dynamische Natur religiöser Kultur einerafrikanschen Religion sichtbar gemacht, die das Transformierte immer wieder erneut transformiert —entsprechend neuer gesellschaftlicher Kontexte und kultureller Prozesse von Globalisierung — Transformingthe Transformed!

5.1 Afrikanische Traditionelle Religionen (ATR)

Die ethnischen Religionen Afrikas werden vor allem in der englischsprachigen Welt mit dem Dachbegriff"African Traditional Religion" (ATR) bezeichnet. Sie umfassen eine Vielzahl von religiösen Traditionen, die esin den verschiedensten Ausprägungen im Sub-Saharischen Afrika gibt.

Unter ihnen sind wohl die westafrikanischen Religionen der Yorùbá und der Fõ am bekanntesten geworden,da sie viele neue Religionen in Afroamerika hervorbrachten, die heute auch „Orisha/Vodou -Komplex“genannt werden.

Dieser Ausdruck „Orisha/Vodou -Komplex“ wurde erst in jüngster Zeit als Überbegriff für die vielen regionalenAusformungen der afrikanischen und afroamerikanischen Religionen geprägt, deren Ursprung in den Yorùbá-Kulturen Südwest-Nigerias (òrìsà) und Fõ -Kulturen Dahomeys und Togos (vodu) in Westafrika liegt (vgl.Kubik 1996).

Bei den Orishas wie bei den Vodus bzw. Lwas handelt es sich um transzendent/immanente spirituelleWesenheiten, deren kulturspezifische Konzepte mangels adäquater Entsprechungen nur schwer in westlicheSprachen übersetzt werden können. So wurden sie bislang auf Deutsch meist als Götter bzw. Gottheitenübersetzt.

Über die universelle Dimension der Orisha sagt Ulli Beier (1991) in einem Interview: „Der Òrìsà ist nicht —wie der Heilige der Katholiken — ein Mittler zwischen Gott und den Menschen. Er ist Teil Gottes, ein AspektGottes ... Die Yorùbá beherzigen die Tatsache, dass die Menschen vom Wesen her individuell verschieden sindund folglich jeder wieder auf andere Aspekte des göttlichen Wesens anspricht. Jeder soll den Òrìsà verehren,der zu seiner eigenen Persönlichkeit passt. Der Òrìsà ist dem Jung’schen Archetyp vergleichbar; die Anbetungdes richtigen Òrìsà verhilft dem Gläubigen zur Definition und Stärkung der eigenen Identität. Sehr komplexePersönlichkeiten können mehr als einem Òrìsà verbunden sein. Diese Grundauffassung geht einher mit großerToleranz gegenüber dem Glauben anderer, auch außerhalb der Yorùbá -Religion. Sowohl der christliche alsauch der moslemische Gott waren beide ursprünglich als weitere Òrìsà willkommen, als neu entdeckte AspekteGottes.“

Abbildung: Logo der CulturalExpressions Homepage(http://www.cultural-expressions.com/ )

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

71 von 85 04.06.2010 17:09

Page 72: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Nach der Auslegung von Susanne Wenger (jener österreichischen Künstlerin, die in den 1950er Jahren dieInitiative zur Renovierung der Heiligen Haine von Oshogbo/Nigeria ergriff und selbst in die Òrìsà -Religion derYorùbá initiiert wurde) sind Òrìsà „exzessiv individualisierte sakral zielgerichtete Potentiale von elementarspirituell befruchtenden Kräften,,Götter‘, die wir aus innerer Schau der Sinne kennen und begegnen ... Die,Götter‘ leben. Auch sie sind den Dimensionen der Zeit unterworfen, dem,Formgefühl‘ der Ära desErkennenden entsprechend. Die spirituellen Räume des inspirierten Bewußtseins sind geprägt durch,Modernität‘ — heilige und profane. Da das Sein der,Götter‘ Elementar-Wahrheit- Form-Individuation und alssolche intensives Leben manifestiert, repräsentieren sie die Wirklichkeit an sich“ (Wenger, in Denk 1995: 18f).

5.2 Afrikanische Diaspora Religionen (ADR)

Es gibt eine Vielzahl gegenwärtig stark an Bedeutunggewinnender religiöser Traditionen in den Amerikas,deren unverwechselbare Spiritualität ihre Wurzeln inAfrika hat. Aufgrund komplexer Prozesse des Kontakteszwischen verschiedenen afrikanischen Religionen undkolonialem Katholizismus wurden sie in der älterenLiteratur oft als synkretistische Kulte bezeichnet.

Dieser Begriff wurde von Melville J. Herskovitsvorgeschlagen für die von ihm in afroamerikanischenKulturen beobachtete und beschriebene intensiveVermischung von afrikanischen religiösen Inhaltenmit christlichen Formen. Vor allem in katholischenLändern kam es dort häufig zu einer Identifizierung vonHeiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zurNeudeutung der beiden Quellen religiöserInspiration . Dadurch bildeten sich schließlich neueReligionsformen.

Heute werden diese meist unter dem DachbegriffAfrikanische Diaspora Religionen oder auf englischAfrican-Derived Religions (ADR) zusammengefasst.Sie standen in der Vergangenheit in erster Linie für dengemeinschaftlichen kulturellen Widerstand in einerSituation der Unterdrückung durch Machtapparateeuropäischer Kolonialmächte. Heute bieten sie ihrenAnhängern zusätzlich zur religiösen Inspiration undtherapeutischen Praxis auch ein afrikanisches Modellder Persönlichkeitsbildung und kosmischenEingliederung an.

Dem gegenwärtigen Trend zur Re-Afrikanisierungafroamerikanischer Religionen steht gleichzeitig einePopularisierung durch das globale Medium des Internetseitens führender Repräsentanten gegenüber.

Zu den bedeutendsten afroamerikanischen Religionen in Brasilien zählen heute Umbanda , Candomblé ,Macumba , Xangô und Batuque . Im karibischen Raum Vodun in Haiti; Regla Ocha (Santería) und PaloMonte sowie Abakuá in Kuba; Rastafari , Kumina und Revivalists in Jamaica; Shango und Spiritual Baptistsin Trinidad & Tobago; Kélé in St. Lucia; Maria Lionza in Venezuela, sowie die Maroon - Religionen in Surinam.In den USA dominieren, neben Hoodoo in Louisiana, vor allem die Schwarzen Kirchen.

Viele dieser religiösen Traditionen erlangten im 20. Jhdt. internationale Bedeutung. DurchMigrationsbewegungen entstehen laufend neue Zentren afrokaribischer Kultur in den Metropolen der USA(Brown 1991) und Kanadas, wie auch in Südamerika und Europa, die zunehmend mehr Anhänger aus derweißen Mittelschicht anziehen.

Im 21. Jahrhundert wird dieser Prozess durch den neuen virtuellen Raum des Cyberspace noch gefördert.Insbesondere die PriesterInnen des Vodou und der Santería nutzen diesen Raum für die Präsentation ihrerWebsites, die potentiell die gesamte Weltöffentlichkeit als Publikum haben. So transformieren sie erneut diebereits historisch transformierten afrikanischen Traditionen in eine neue Form globaler Ritualkultur. Diese

Abbildung.: Logo der Wiener Karibik-Tagung 1990 überafrikanisch-karibische Religionen sowie der Buch-TrilogieKulte/Cults, Voodoo, Rastafari

(designed by Wittigo Keller © 1990)

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

72 von 85 04.06.2010 17:09

Page 73: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Cybertransformationen legen den Grundstein für eine afrikanische digitale Diaspora Religion der Zukunft(Kremser 2001b; 2003).

Im Folgenden wird ein kompakter Überblick über die afroamerikanischen Religionen, insbesondere in derKaribik ermittelt. Dabei werden einerseits die großen Entwicklungslinien ihres historischenEntstehungsprozesses und ihre Beziehungen zu den afrikanischen Ursprungsreligionen skizziert.Andererseits wird die heute gelebte Praxis afrokaribischer religiöser Kultur anhand ausgewählter??????????????????

5.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten

Im Rahmen der afroamerikanischen Kulturforschung gibt es kaum Vorgänge, die schwerer zu fassen sind alsdie historischen Veränderungen in der Wahrnehmung und Interpretation verpflanzter afrikanischerReligionen — insbesondere im Hinblick auf die komplexen Prozesse von Kontinuität und Diskontinuität in derNeuen Welt (Mintz/Price 1976).

In der Diaspora war die Religion einer der wichtigsten Faktoren, der die institutionalisierte Neugruppierungvon afrikanischen Menschen erlaubte. Die so entstandenen Gemeinschaften wurden schließlich zu Zentrendes kulturellen Widerstandes gegen die politisch und wirtschaftlich dominanten Kolonialmächte und bildetenfortan den sichtbarsten Ausdruck kultureller Identität auf der Basis afrikanischer Spiritualität.

Die Frage nach den afrikanischen Wurzeln in der religiösen Kultur der afrikanischen Diaspora führt uns direktzum Problem der Suche nach Identität als eine der brennenden Fragen afroamerikanischer Psychologie undOntologie. Die Identität wiederum bezieht sich auf die Tradition(en), der sich Menschen zugehörig fühlen undauf die sie sich beim Versuch, sich in das kulturelle Mosaik der Welt einzuordnen, rückbinden.

Die afroamerikanischen Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer Identität sehr ambivalent. Als neueGesellschaften können sie sich folglich nur schwer direkt an irgendeine alte kontinuierliche Tradition anbinden.Verglichen mit der Entwicklung anderer Gesellschaften charakterisieren sie sich durch eine relativ starkeDiskontinuität — bedingt durch die historischen Prozesse des atlantischen Sklavenhandels und dessenAuswirkungen auf seine Opfer (Alleyne 1990:107).

Diejenige Tradition, der sich der überwiegende Teil der Bevölkerung Afroamerikas gerade in existentiellen undspirituellen Fragen am ehesten zugehörig fühlt, ist die „afrikanische“. So können z.B. viele spezifische Formender religiösen Kultur durch komplexe Prozesse von Kontinuität, Diskontinuität, Synkretismen,Reinterpretationen, etc. eindeutig mit Afrika in Verbindung gebracht werden — obwohl natürlich die ebensomassiv vorhandenen Einflüsse der abendländisch- christlichen Kulturen, bedingt durch ihre öffentlicheDominanz, oft die Sicht darauf verstellen mögen (Kremser 1992).

5.2.1.1 Die Metapher der Vase

Es ist sicherlich kein Zufall, dass gerade im viel beachteten Amerika-Gedenkjahr 1992 der Literaturnobelpreiseinem karibischen Schriftsteller zuerkannt wurde, dessen literarisches Werk das Ringen einer ganzen Regionverdichtet, sich nach Jahrhunderten gewaltsam herbeigeführter Entfremdung von der Urheimat Afrika neu zudefinieren. Dabei wird der Ruf nach Restaurierung dieser „geborstenen Geschichte“ afrikanischerMenschen in der Diaspora oft in einer Weise vorgetragen, welche die existentielle Tiefe des Anliegens deutlichvor Augen führt. In seiner Nobelpreis-Rede „Die Antillen: Fragmente epischen Erinnerns“ greift Derek Walcott(1993:10f) zu einer anthropologischen Metapher:

„Zerbrich eine Vase, und die Liebe, welche die Fragmente wieder zusammenfügt, ist stärker als jene Liebe, dieihre Symmetrie für selbstverständlich hielt, als sie noch heil war. Der Kleber, der die Stücke wieder einpasst,besiegelt ihre ursprüngliche Form. Solch eine Liebe ist es, die unsere afrikanischen und asiatischen Fragmentewieder zusammenfügt, die zerbrochenen Erbstücke, deren Restaurierung ihre weißen Narben zeigt. In diesemEinsammeln zerbrochener Stücke besteht die Sorge und der Schmerz der Antillen, und wenn die Stücke einanderunähnlich, nicht passend sind, dann enthalten sie mehr Schmerz als ihre ursprünglichen Skulpturen, jene Bilderund heiligen Gefäße, die an den Wohnorten ihrer Vorfahren als selbstverständlich gegolten hatten. Die Kunst derAntillen besteht in dieser Restaurierung unserer geborstenen Geschichte, der Scherben unseres Vokabulars, undunser Archipel wird zu einem Synonym für Stücke, die vom ursprünglichen Kontinent abgebrochen worden sind.“

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

73 von 85 04.06.2010 17:09

Page 74: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.2 Afrikanischer Ursprung — amerikanisches Amalgam

Die meisten afroamerikanischen Religionen sind ein Amalgam verschiedener religiöser Traditionen, die ausdrei Kontinenten stammen: Amerika, Afrika und Europa. Dieses Amalgam begann im Jahre 1492 mit derAnkunft von Kolumbus in der „Neuen Welt“ und der Gründung der ersten europäischen Siedlungen aufHispaniola. Dort stießen die Siedler auf amerindische Bevölkerungsgruppen, die ursprünglich von den TainoSüdamerikas abstammten. Obwohl diese indigenen Bevölkerungsgruppen durch importierte Krankheiten undZwangsarbeit binnen weniger Jahrzehnte dezimiert wurden, haben viele ihrer religiösen Traditionen bis zumheutigen Tag überlebt. So z.B. finden sich einige Mythen und Namen indianischer Schutzgeister („protectorspirits“) der Kariben, Ciboney und Arawaken in den Theologien der kubanischen Santería, der brasilianischenUmbanda, sowie auch des puertorikanischen Espiritismo.

Der drastische Rückgang der indianischen Bevölkerung veranlasste die Europäer, nach neuen ArbeitskräftenAusschau zu halten. Dies führte zur größten Massendeportation in der Geschichte der Menschheit, in derenZuge geschätzte 11,7 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikas als Sklaven verkauftwurden. Die Mehrheit der Sklaven, die in die Karibik verschleppt wurden, kam aus weitläufigen geographischenGebieten Westafrikas — von Benin und Nigeria bis hin zur Kongo/Angola Region Zentralafrikas. Das einzige,was sie in die Neue Welt mitbringen konnten, waren ihre kulturellen und religiösen Traditionen. Diese ließen siein das Gewebe des kulturellen und religiösen Lebens in ihrer neuen Heimat einfließen. So wurde jeneskulturelle Amalgam geformt, welches eine unauslöschliche Spur in den Religionen der Region hinterlassen hat.

Nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart wird in vielen afrokaribischen Gemeinschaftendie Rückbesinnung auf „Mutter Afrika“ wieder ins Zentrum gestellt. So kommt es zu einem erneutenAustausch und einer wechselseitigen Beeinflussung — ein Prozess in beide Richtungen, den es laut PierreVerger (1968) schon zur Zeit der Sklaverei gab und den er als Flux-Reflux Bewegung bezeichnete.

5.2.3 Die Vielfalt religiöser Kultur in Afroamerika

Von den heute insgesamt über 150 Millionen Menschen afrikanischer Provenienz in den Amerikasidentifiziert sich der überwiegend größte Teil mit zumindest einer der zahlreichen religiösen Traditionen in ihrenLändern — seien diese primär afrikanischer oder christlicher Prägung, oder auch eine spezifische Mischunginnerhalb dieses breiten Spektrums.

Wie angesichts der regionalen Verschiedenheiten und der unzähligen Variationen religiöser Kultur in derKaribik klar ersichtlich ist, sind allzu strukturierende wissenschaftliche Einteilungskonzepte nicht geeignet, diekomplexen gelebten Realitäten zu erfassen. Dennoch gab es in der Forschungsgeschichte immer wiederVersuche einer umfassenden Darstellung und Kategorisierung der religiösen Vielfalt der Karibik.

Aufgrund der äußerst komplexen Prozesse des Kontaktes zwischen verschiedenen afrikanischen Religionenund kolonialem Katholizismus wurden die meisten afrokaribischen Religionen in der älteren Literatur oft als„synkretistische Kulte“ bezeichnet (Herskovits 1941; Bastide 1971; Simpson 1980; Pollak-Eltz 1995).

Der Begriff „synkretistische Kulte“ wurde in der Anthropologie erstmals von Herskovits (1937) vorgeschlagen. Erumfasste die von ihm in afroamerikanischen Kulturen beobachtete und beschriebene intensive Vermischungvon afrikanischen religiösen Inhalten mit christlichen Formen. Vor allem in katholischen Ländern kam esdort häufig zu einer Identifizierung von Heiligen der Kirche mit afrikanischen Gottheiten und zurNeudeutung der beiden Quellen religiöser Inspiration. Dadurch bildeten sich schließlich neueReligionsformen heraus, deren bekannteste heute zum überwiegenden Teil dem Orisha/Vodou-Komplexzuzuordnen sind (Greenfield 2001).

Vor dem Hintergrund eines verstärkten Afrika-Bewusstseins in der gesamten Karibik seit den 1990er Jahren —in denen es auch zu einem intensiveren Austausch zwischen den afrikanischen und den Diaspora Religioneneinerseits, aber auch zwischen Christentum und ATR (=African Traditional Religion) gekommen ist — tendierenneuere Kategorisierungen dazu, die Art und Weise wie auch die Intensität anzusprechen, in der dieafrikanische Rationalität und Ästhetik die religiösen Rituale in der Karibik beeinflussen (Kremser 2004:22-26).

So werden auf der einen Seite jene rituellen Traditionen, die sich in ihrem Wesenskern auf afrikanischeRationalität und ATR gründen (Barnes 1997, Davis 1991, Murphy 2000, Olmos 1997), von anderen rituellenSystemen meist christlicher Provenienz aber dennoch starker afrikanischer Prägung unterschieden. Letzterestellen den Versuch dar, den christlichen Glauben zwar zu adaptieren, die religiöse, spirituelle und rituellePraxis jedoch dem afrikanischen Geschmack anzupassen. Dazu zählen vor allem die vielen afrikanischinspirierten christlichen Kirchen (Appiah 1999, Glazier 2001).

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

74 von 85 04.06.2010 17:09

Page 75: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.3.1 Die 5 Kategorien nach Sipmson

Nachdem die anthropologische Forschung bereits ein differenzierteres Bild erbrachte, teilte Simpson (1978:14)die afroamerikanischen Religionen in fünf Kategorien ein. Diese beruhen jedoch nicht auf emischenKonzepten und sind daher auch keineswegs als strikte Trennungen zu verstehen:

1) Die neo-afrikanischen Religionen (Neo-African Religions) haben sich im Kontext der Sklaverei entwickelt.In ihnen konnten viele der afrikanischen Traditionen bewahrt werden, welche auch mit römisch katholischemGlaubensgut und Praktiken vermischt wurden. Diese inkludieren Vodou in Haiti; Santería in Kuba, derDominikanischen Republik und Puerto Rico; sowie Shangó in Trinidad und Grenada.

2) Die Ahnen-Religionen (Ancestral Religions), die weniger afrikanische Traditionen erhalten konnten undvon den verschiedenen protestantischen Traditionen herrühren, die von Missionaren des 19. Jhdts. importiertwurden. Diese inkludieren Cumina und Convince in Jamaika; den Big Drum Dance in Grenada und Carriacou;sowie Kele in St. Lucia.

3) Die Revitalisierungs-Religionen (Revivalist Religions), die ein Phänomen des 20. Jhdts. sind und mit denPentecostal oder charismatischen protestantischen Bewegungen der USA in Verbindung stehen. Sie umfassenRevival Zion in Jamaika; die Shouters und Spiritual Baptists in Trinidad; die Cohortes in Haiti; sowie die Shakersund Streams of Power in St. Vincent.

4) Religionen, deren Hauptaugenmerk auf der Divination und der Heilung durch spirituelle Medien liegt. Sieinkludieren Espiritismo in Puerto Rico; Umbanda in Brasilien; sowie Maria Lionza in Venezuela.

5) Religiös-politische Bewegungen, die Anfang des 20. Jhdts. aus Protest gegen Neokolonialismus unddessen wirtschaftliche und soziale Ungerechtigkeit entstanden sind. Dazu gehören die Rastafari und DreadBewegungen, die zwar in Jamaika entstanden sind, aber heute in der gesamten Karibik und weit darüberhinaus verbreitet sind.

5.2.4 Die gemeinsamen Charakteristika

Ungeachtet der lokalen Unterschiede auf den einzelnen Inseln der Karibik lässt sich eine Anzahl gemeinsamerCharakteristika feststellen, die in fast allen Religionen der Orisha/Vodou-Traditionen anzutreffen sind.

Henry (1991) stellt einige Gemeinsamkeiten der verschiedenen afrikanischen Diaspora Religionen heraus,wobei er zwischen den afrikanischen und europäisch- christlichen Einflüssen unterscheidet:

Die afrikanischen Wurzeln erkennt er in den

• Synkretisierungen bzw. Identifizierungen afrikanischer Gottheiten mit katholischen Heiligen;

• die spirit possession, bei welcher der Körper des Gläubigen von einer Gottheit in Besitz genommen wird;

• das Abhalten von Tieropfern;

• der Gebrauch von afrikanischen Rhythmus-Mustern, Gesang und einer Ritualsprache;

• ‚African-type’ Tanzbewegungen;

• der Gebrauch von Öl, Mehl und Getreide-Produkten, welchen spirituelle Kräfte zugeschrieben werden;

• Divinationsformen, speziell für beratende und diagnostische Zwecke.

Christliche Elemente stellen für ihn die

• Rezitation von Gebeten,

• das Singen von christlichen Hymnen,

• der Gebrauch von Kerzen und

• die Identifizierung der Gottheiten innerhalb eines christlichen Rahmens dar.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

75 von 85 04.06.2010 17:09

Page 76: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.4.1 Himmel und Erde

Für Angehörige afrokaribischer Religionen findet das Leben gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen statt:

• in der Welt des physischen Universums, welches von menschlichen Wesen bewohnt wird, und

• in einer anderen Welt — abstrakt, unendlich und unbegrenzt — welche von spirituellen Wesen bewohntwird, wie z.B. göttliche Wesen, Ahnen, und spirituelle Doppelgänger von allem, was konkret unser Universumbewohnt.

Zwischen diesen beiden Welten gibt es eine andauernde Beziehung, einen unablässigen Strom desTransfers von spirituellen und materiellen Elementen. Dieser Strom wird durch den ständigen Transfer unddie Wiederverteilung von ashé symbolisiert und durch das Ritual reguliert.

Das Ethos der Orisha/Vodun-Kulturen basiert auf einer spirituellen Weltsicht, die sich auf die existentielleMultidimensionalität des menschlichen Wesens gründet und die Aufrechterhaltung einer interdependentenKomplementarität und Reziprozität der Welten zum obersten ethischen Handlungsprinzip erhebt. Demnachexistiert die spirituelle Welt nur so lange, wie die reale Welt existiert — et vice versa .

Charakteristisch für die Spiritualität afrokaribischer Religionen ist die Art und Weise, wie die Beziehungzwischen menschlichen und spirituellen Wesen in gemeinschaftlichen Ritualen erarbeitet wird.

Dieser Spirit kann dabei entweder

• als göttliche Persönlichkeit,

• als Kreuzung menschlich konstruierter kosmischer Koordinaten, oder auch

• als spezifischer Bewusstseinszustand konzipiert werden.

5.2.4.2 Spirituelle Arbeit und rituelle Inszenierung

Spirituelle Arbeit bezeichnet jede Art von Arbeit oder Dienst (griechisch „leitourgia“), die von Menschen inVerbindung mit dem Spirit für das Wohl der Gemeinschaft im weitesten Sinne geleistet wird.

So werden die religiösen Rituale in der afrikanischen Diaspora von den Praktizierenden in zweifacher Weisegesehen:

• als Arbeit für den Spirit, und

• als Arbeit des Spirits.

Dem entsprechend wird auch die Reziprozität zwischen Gemeinschaft und Spirit durch physische Arbeitausgedrückt:

• Die Gemeinschaft arbeitet durch Musik, Wort und Tanz, um dem Spirit die Präsenz zu ermöglichen.

• Der Spirit wiederum arbeitet durch die physische Arbeit der Kongregation, um die menschlichen Aktionenmit seiner Kraft aufzufüllen.

Afrokaribische Rituale sind daher:

• Dienst für den Spirit, um durch Opferhandlungen und Lobpreisungen dem Spirit zu gefallen. Und sie sind

• Dienst des Spirits, um durch Handlungen, die vom Spirit unternommen werden, die Kongregation zuinspirieren.

Auf diese Weise wird die Reziprozität der Spiritualität in den afrokaribischen Religionen bekräftigt (Murphy1994:7).

Das Dienen — in all seinen subtilen Bedeutungen — ist somit der zentrale Wert gemeinschaftlichen Lebens.Dieser Gemeinschaftsbegriff des Rituals umfasst in letzter Konsequenz neben den lebenden Menschen auch

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

76 von 85 04.06.2010 17:09

Page 77: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

noch alle anderen meist unsichtbaren spirituellen „Bewohner“ des Kosmos und ist zudem von einertiefenökologischen Erkenntnis geprägt, der zufolge letzten Endes alles in dieser Welt mit allem anderenverbunden ist.

5.2.4.3 Der initiatorische Prozess

Der wichtigste Aspekt afrokaribischer Religionen liegt darin begründet, dass sie initiatorische Systemedarstellen. Rituelles Wissen wird dabei in einer ganz spezifischen Weise erworben, übermittelt undweiterentwickelt. Die Initiierten nehmen an einer Erfahrung teil, während derer sie eine mystische Kraftempfangen und in sich aufnehmen. Diese erlaubt es ihnen in der Folge, in ein dynamisches System, welchessie selbst mobilisieren helfen, integriert zu werden und sich damit zu identifizieren.

Diesem Prozess der „Erfüllung“ kann die Entwicklung der wertvollsten Inhalte religiöser Gemeinschaftenzugeschrieben werden. Er ist für die ureigenste Existenz der Religionen durch die mystische Allianz zwischender Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verantwortlich (Dos Santos & Dos Santos 1984:75).

Diese Kraft, die als ashé (Yorùbá: asé; Fõ: sé) bekannt ist, ist der Urquell aller vitalen Prozesse. Sie wirdsowohl durch materielle wie auch durch symbolische Mittel weitergegeben und ist zudem kumulativ. Sie isteine Kraft, die nur durch „Hereinnahme“ in den Körper und in die Psyche — durch Verkörperung und dendamit einher gehenden Individuationsprozess — erworben werden kann. Sie taucht aber nicht spontan auf,sondern muss bewusst und gezielt übermittelt werden (Kremser 1993).

Ein gründliches Verständnis dieser Kraft ist die Voraussetzung für das Verstehen der tieferen Bedeutung desOpfers als eine besondere und symbolische Form, ashé zu vermitteln. Ashé wird nicht erlernt, sondern eswird aus den Händen und dem Geiste derer empfangen, die schon weiter fortgeschritten sind. Es wird vonPerson zu Person durch eine lebende und dynamische Beziehung vermittelt — durch symbolischeElemente, durch Blut, Früchte, rituelle Kräuter, Wörter, mystische Pakte und Beziehungen, die mit denAhnen, der Natur und mit der Gruppe als Ganzem hergestellt werden (Kremser 1987).

Je höher der hierarchische Status, desto fortgeschrittener ist die mystische Entwicklung, die eine größereAkkumulation von ashé und von initiatorischem Wissen erlaubt. Der Grad der Initiation wird durch die Jahrebestimmt, die seit der Initiation verstrichen sind, und nicht durch das chronologische Alter des Teilnehmers.

5.2.4.4 Possession — Die Dynamik der Verkörperung

Die Dynamik der Verkörperung hält die Welt übernatürlicher Entitäten am Leben. Die Wesenheitenmanifestieren sich durch den Körper der PriesterInnen oder der Initiierten indem sie sprechen, tanzen,segnen, Rat geben, Embleme und Paraphernalien benützen, ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihreBedeutung kommunizieren.

Während der Erfahrung der Verkörperung wird das gesamte religiöse System, seine Theogonie undMythologie, noch einmal durchlebt. Jeder Teilnehmer ist der Protagonist einer rituellen Aktivität, in welcherdas geschichtliche, psychologische, ethnische und kosmische Leben der Partizipierenden erneuert wird.Die Dynamik der Verkörperung erschafft psychologisch hier und jetzt die Existenz eines Wissenssystemswieder, welches durch die persönliche Erfahrung dramatisiert wird. Dieses System kann nur verstandenwerden, indem es die rituellen Erfahrungen, Analogien, Mythen und die nachgespielten Legenden durchlebt.Wissen wird nur dann von Bedeutung, wenn es aktiv inkorporiert wird!

Wir berühren hier einen der wichtigsten, wenn nicht überhaupt den allerwichtigsten Aspekt des rituellenSystems. Zumindest zwei Personen sind für die Übermittlung durch Initiation unerlässlich. Wissen gehtdirekt von einem Wesen auf das andere über. Weder Lesen, Erklärungen oder logisches Denken wird auf einerbewussten oder intellektuellen Ebene benötigt. Der Transfer des komplexen Codes von Symbolen wird durchdie reale Präsenz von Personen und ihrer dynamischen Beziehungen erreicht:

• Materielle Symbole und Gesten;

• Worte, die artikuliert, exklamiert und mit Leben erfüllt werden;

• Modulationen, Emotionen und die persönliche Geschichte dessen, der sie zum Ausdruck bringt.

All das ist Teil des Prozesses der Übertragung (Dos Santos & Dos Santos 1984:78).

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

77 von 85 04.06.2010 17:09

Page 78: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.5 Die unterschiedlichen lokalen Traditionen

Der Einfluss von ATR in der Karibik variiert an Intensität von Insel zu Insel. Er war abhängig von

• der Zusammensetzung der verschiedenen afrikanischen Ethnien ,

• der historischen Situation des Landes,

• der Dauer der Kolonialisierung und

• dem Ausmaß an kultureller Präsenz und Dominanz seitens der Europäer.

Eine lang andauernde europäische Beeinflussung bewirkte eine Schwächung in der Bewahrung von ATR. InHaiti, wo die französische Kolonialmacht und deren kultureller Einfluss schon 1804 — bedingt durch dieSklavenrevolten und die Unabhängigkeit — endete, konnten viel mehr afrikanische Traditionen bewahrt werden,als in den meisten anderen karibischen Nationen.

Ein aktueller tabellarischer Gesamtüberblick informiert über das breite Spektrum afrokaribischer Religionen,der alphabetisch die lokalen religiösen Traditionen auflistet und mit der jeweils wichtigsten ethnologischenund sozialwissenschaftlichen Standardliteratur versieht.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

78 von 85 04.06.2010 17:09

Page 79: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

5.2.5.1 Vodou in Haiti

Das Wort „Vodun “ — abgeleitet vom Fõ-Wort vo·dû (= „Hineinsehen in das Unbekannte“, Mysterium,Geistwesen) — bezeichnet die Konzepte und Verhaltensweisen, welche in die Beziehungen zwischen denMenschen und der nichtmateriellen Welt bestimmen.

Mit über 60 Millionen Praktizierenden ist Vodun (deutsch oft Wodu , englisch zumeist Voodoo, französischVaudou, haitianisches Kreol Vodou) heute eine der bedeutendsten afroamerikanischen Religionen undzugleich Volksreligion von Haiti (über 90%). Im Jahre 2003 kam es unter Prime Minister Jean Bertrand Aristidezur offiziellen staatlichen Anerkennung.

Wenn die Anhänger/innen des Vodou in Haiti von den Lwas sprechen, gruppieren sie diese in Familien oderNationen, die nanchon heißen. Jede dieser nanchons hat seine bestimmten Zeremonien und Rituale, eigeneGrußformen, Tänze und Musikinstrumente. Im Vodou in Haiti bezeichnen diese Namen keine geographischenRegionen mehr, sondern charakterisieren Kategorien der Lwas .

Nach Hurbon (1993) gibt es drei wichtige Rituale:

• Im Rada Ritual werden die Spirits von Dahomey verehrt, welche als prinzipiell gute Lwas angesehen werden.Sie werden von Guinea kommend als Lwa-Ginen bezeichnet.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

79 von 85 04.06.2010 17:09

Page 80: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

• Im Kongo -Ritual wird auf die Lwas der Bantu Region Bezug genommen.

• Die Lwas der Petro-Rituale stammen meistens von der Kolonie St. Domingo selbst ab (von dermythologischen Figur Dom Pedro, dem Anführer einer Maroon Rebellion im 18. Jhdt.) und werden Creole Lwagenannt.

Viele der Rada Lwas haben Petro, Ibo und Kongo Gegenstücke, deren Persönlichkeit zeichnet sich durchumgekehrte Charakterzüge aus. Die Lwas, welche sich als archetypische Figuren präsentieren, habenniemals nur positive oder ausschließlich negative Eigenschaften.

5.2.5.2 Santería in Kuba

Kuba ist heute höchstwahrscheinlich jener Ort in den Amerikas — vielleicht mit Ausnahme von Salvador deBahia — wo sich die Yorùbá -Religion in ihrer reinsten Form erhalten hat. Die Santería wird zunehmendpopulärer, auch außerhalb Kubas, vor allem in den USA, wobei nicht nur emigrierte Kubaner Gläubige oderPriester sind. Von Brasilien kommen Priester nach Kuba, um sich initiieren zu lassen.

In Kuba begann 1521 der Sklavenhandel. Unter den verschleppten Menschen waren Mitglieder der Bantu-Sprachfamilie, welche in der Literatur meist als Congos bezeichnet werden. Als sie nach Kuba kamen,brachten sie ihren Glauben an Familienahnen, große Chefs und Gottheiten mit. Die Schaffung eines neuenPantheon im kubanischen Palo Monte ermöglichte ihnen, diese weiter zu verehren. Die Ritualsprache istSpanisch, wobei Worte von der Kongo-Region mit einfließen.

In den Jahren 1820-1860 kamen die meisten Yorùbá nach Kuba. Sie brachten ihren Glauben an verschiedeneregionale Deities, Spirits, Eguns und Orishas mit und kreierten daraus in der Santería ein neues Pantheon. DieBata drums sind ihre heiligen Trommeln, die Ritualsprache entspricht der Yorùbá -Sprache des 19. Jhdts. DerSynkretismus regionaler Varianten einzelner Orisha hat wohl zu einer Verringerung ihrer Anzahl in der ReglaOcha geführt, keineswegs jedoch zu einer Vereinfachung der mit ihnen verbundenen Vorstellungen.

Aus den Regionen von Dahomey und Benin stammen die Vodun-Deities, die sich in der Regla de Arara weitertradierten. In dieser Tradition trommeln auch die Frauen. Die Deities wohnen in kleinen Häusern, außerhalb desHauses. Es kam zur Assimilation mit der Santería.

Weiters gibt es die Geheimgesellschaften der Abakuá Bruderschaft, die seit 1825 existiert. Die vonverschiedenen Ethnien gebildeten Cabildos (Bruderschaften) waren die Hauptträger der afrikanischenTraditionen. In ihnen und in den Familien wurde Wissen weiter tradiert. Auch für die Organisation des Karnevalsübernahmen sie eine wichtige Rolle.

5.2.5.3 Orisha (Shangó) in Trinidad und Tobago

Zur Zeit der Sklaverei wurden Menschen der Ethnien Congo, Yorùbá, Mandingo, Hausa, Rada und Ibo nachTrinidad verschleppt. Selbst nach der Abschaffung der Sklaverei 1838 wurden noch ca. 9000 Yorùbá alsKontraktarbeiter von den Briten nach Trinidad gebracht.

Auf Trinidad gibt es bis zu 40 Orishas, wenngleich nur die Hälfte von ihnen Bedeutung für die Gläubigenhaben. Houk (1995:145) listet 16 wichtige Orishas Trinidads auf mit ihrer zugehörigen Farbe, ihrem Tag undEssen. Es werden ihnen Tieropfer dargebracht sowie ‘dry food’ (Pflanzen und ihre Produkte) gegeben. Die denOrishas zugeordneten Farben variieren zwischen den einzelnen Lokalitäten, wie auch die Zuordnung zukatholischen Heiligen.

Henry (1991) stellte in Trinidad eine Öffnung der Shangó -Religion fest — die sowohl die Klassen- wie auchdie ethnische Zugehörigkeit betrifft. Während noch in den 1950ern Shangó eine Religion der grass-roots-people der afrikanisch- stämmigen Bevölkerung war und von der Ober- und Mittelschicht als wild undbarbarisch abgetan wurde, nehmen heute viele Mitglieder der Mittelschicht an den Zeremonien teil. ImGegensatz zu früher bildet sich Klassen-übergreifend ein neues Selbstbewusstsein heraus, welches —entgegen den neokolonialen und amerikanischen Einflüssen — das afrikanische Erbe ehrt und aufwertet.

Seit den 1970ern ist es bei vielen Intellektuellen und Jugendlichen Bestandteil ihrer Identität, Shangó-Zeremonien beizuwohnen, bzw. der Religion anzugehören. Auch die ethnische Grenzziehung löst sich einwenig auf. Menschen indischer Abstammung suchen Shangó -Priester auf, besonders in ihrer Funktion alsHeiler. Es kommt zu neuen Identifikationen zwischen afrikanischen und hinduistischen Gottheiten.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

80 von 85 04.06.2010 17:09

Page 81: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

In Trinidad kam es in den letzten Jahren zu einem bedeutsamen Aufschwung der Shangó-Tradition, welche imJahre 1993 auch staatlich offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt wurde. Heute spricht man vielmehrvon der Orisha-Religion (Kment 2005).

5.3 Afrikas Digitale Diaspora Religionen (ADDR)

Während der Begriff der afrikanischen Diaspora und die damit verbundenen historischen und sozio-kulturellenProzesse seit dem Beginn der Neuzeit vor allem in Afro-Amerika bereits auf eine jahrzehntelangeForschungsgeschichte zurückblicken können, befindet sich die ethnologische Erforschung von AfrikasDigitaler Diaspora (ADD) praktisch noch in den Geburtswehen.

Die Bezeichnung „Afrikas Digitale Diaspora“ verweist auf die afrikanische Besiedlung des Cyberspace und diedamit einher gehenden neuen Kulturentwicklungen. Durch die Entwicklung des Cyberspace hat auch dasStudium und die Beschäftigung mit traditionellen afrikanischen Religionen (ATR = African TraditionalReligion) und vor allem mit ihren Derivaten in der afrikanischen Diaspora (ADR = African Diaspora Religion)eine neue Dimension dazu gewonnen, für die ich die Bezeichnung Afrikas Digitale Diaspora Religionen(ADDR) geprägt habe.

In vielerlei Hinsicht können interessante Analogien zwischen diesen beiden unterschiedlichen Formen derafrikanischen Diaspora gemacht werden. Während bereits in den vergangenen Jahrhunderten die historischendiasporischen Umstände afrikanische Kultur und Religion bedeutend verändert haben, so erleben wirmomentan eine völlig neue Form kultureller und religiöser Transformationen: Afrikas Digitale Diasporatransformiert das Transformierte auf die den Gesetzen des digitalen Zeitalters eigene Weise.

Die sich im Augenblick vollziehenden Cyber-Transformationen von ATR und ADR bringen eine Anzahlgrundlegender Veränderungen mit sich: So z.B. verlassen viele ursprünglich „indigene“ bzw. „traditionelle“religiöse Konzepte und Praktiken ihr lokal begrenztes Setting und werden mittels digitalerKommunikationstechnologien potentiell der gesamten Weltöffentlichkeit zugänglich .

In diesem Prozeß der Öffnung, in dem sich afrikanische kosmologische Weltbilder und Ritualsystemesowohl hinsichtlich ihrer Reichweite als auch ihrer Anziehungskraft vermehrt internationalisieren undglobalisieren, werden sie zu neuen Formen von Weltkultur transformiert .

5.3.1 Die ontologische Ebene

Von spirituellen Wirklichkeiten zu physischen Computern

Als Zeitzeugen dieser afrikanischen CyberCosmoGenesis in ihrem status nascendi können wir einige äußerstinteressante Beobachtungen hinsichtlich der ontologischen Verwandtschaft bestimmter Aspekteafrikanischer Spiritualität mit den fundamentalen Prinzipien des Cyberspace anstellen:

Der Terminus „Cyberspace“ wurde vom amerikanischen Science-Fiction Autor William Gibson in seinerCyberspace -Trilogie popularisiert. Dabei kreierte er eine neue Mythologie virtueller Welten, indem erKonzepte, Metaphern und Personifikationen aus der haitianischen Vodou Religion benutzte und diese mit derCyberspace- Terminologie korrelierte.

Ebenfalls wichtig für das Verständnis der formal-konzeptionellen Nähe zwischen dem traditionellen Ifá-Divinationssystem der Yoruba bzw. afrikanischer Geomantie und der modernen Computer-Sprache ist derbinäre Code — als die formale Basis beider Kommunikationssysteme. Aus diesem Grunde behaupten heuteafrikanische Babaláwos und westliche Wissenschaftler gleichermaßen, daß das Konzept des Cyberspace durchdas numerische System des Ifá wie auch der afrikanischen Geomantie vorweggenommen wurde — wenngleichinnerhalb des Kontextes der „spirituellen Technologie“. Von dieser Perspektive aus gesehen kann dieKommunikation via Computer-Technologie lediglich als eine weitere Transformation derselben formalenPrinzipien betrachtet werden.

Ein weiteres Beispiel für die analoge Beziehung zwischen afrikanischen Religionen und dem im Entstehenbegriffenen Cyberspace kann in der Orisha-Religion geortet werden: Als vielleicht jüngstes undbemerkenswertestes Verwandlungs-Phänomen in einer langen Reihe von Transformationen und Cyber-Transformationen afrikanischer religiöser Konzepte tritt uns der Terminus „Shangócentricity“ entgegen.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

81 von 85 04.06.2010 17:09

Page 82: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Während Shangó in der antiken Yoruba-Mythologie und religiösen Praxis als göttliche Repräsentation desBlitzes und des Donners verehrt wurde, steht Shangó heute — in unserem postmodernen digitalen Zeitalter —auch für den elektrischen Strom in der Qualität des exponentiell wachsenden elektronischen Blitzgewittersinnerhalb unserer Computer. Als oberster Repräsentant dieser gegenwärtig bedeutendsten Metapher fürspontane digitale Erleuchtung verwandelt Shangó die gegenwärtige Zivilisation in eine radikal neue Sphäredes Wissens.

Aus all diesen Gründen ist es nicht verwunderlich, daß sich dutzende afroamerikanische, aber auchholländische und deutsche Computer- und Software- Firmen für Namen wie Shangó, Ifa, Orisa, Voodoo,etc. als ihre jeweiligen Warenzeichen entschieden haben.

5.3.2 Die sozio-kulturelle Ebene

Von der physischen zur virtuellen religiösen Praxis

Auf der sozio-kulturellen Ebene läßt sich beobachten, daß diese neuen Cyber-Welten von ATR & ADRkeineswegs die herkömmliche religiöse Praxis in afrikanischen und Diaspora-Kommunitäten ablösen oderersetzen werden. Vielmehr tendieren sie dazu, frühere und traditionelle Konzepte auch vor dem Hintergrundneuer Kontexte zu interpretieren und fügen dadurch zusätzlich neue Dimensionen zu den bestehendenFormen hinzu, durch welche Religion — auch im Sinne von Kommunikation und re-ligio = rückbinden —erfahren werden kann. Auf diese Weise werden laufend neue parallele Welten religiöser Praxis undVirtualität (= Spiritualität?!) geschaffen.

So sind zum Beispiel viele Babaláwos, Santeros, Houngans, Mambos, sowie religiöse Spezialisten in anderenADR im Augenblick gleichzeitig in drei verschiedenen sozialen Feldern in jeweils unterschiedlichen Rollentätig:

• In ihrer Rolle als Priester, Heiler oder Wahrsager innerhalb ihrer traditionellen lokalen full-time-face-to-face-communities, mit allen Aufgaben und Verpflichtungen ihrer Profession für Ihre Klienten.

• In ihrer Rolle als Lehrer, religiöse Spezialisten und spirituelle Führer innerhalb moderner internationalerpart-time-face-to-face-communities, sei es bei wissenschaftlichen Konferenzen, praktischen Workshops,Versammlungen von Diaspora-Kommunitäten, oder auch bei immer größer werdenden New-Age Zirkeln.

• In ihrer Rolle als spirituelle Webmasters, Computer Consultants, Digitale Divinatoren oder religiöseUnternehmer am Cyber-Markt innerhalb der postmodernen globalen no-more-face-to-face-communities.

Vor allem für Letztere ist die entstehende Digitale Diaspora bereits jetzt zum bevorzugten Feld ihres Wirkensgeworden. Sie präsentieren sich und repräsentieren sich selbst im WorldWideWeb, vernetzen sich mit ihrenprofessionellen Counterparts in Afrika wie vor allem in der afrikanischen Diaspora und darüber hinaus, undrekrutieren eine ständig wachsende internationale Klientel für Orakel- Konsultationen, Initiationen, undandere teils sehr einträgliche religiöse Praktiken ihrer jeweiligen Tradition.

Immer mehr Menschen als Angehörige von ATR oder ADR involvieren und engagieren sich zunehmend inmehr als nur einem dieser eben skizzierten sozio- kulturellen Felder. Ihre Aktivitäten sind es vor allem, welchedie Voraussetzung dafür bilden, daß sich ATR & ADR auch vis-à-vis einer größeren (auch nicht-afrikanischen) Öffentlichkeit öffnen. Dabei absorbieren oder „synkretisieren“ sie manchmal auch Elementeund Konzepte aus anderen religiösen Traditionen, um schließlich zu neuen Weltreligionen in unserempostmodernen Cyber-Age zu avancieren.

5.3.3 Information und Kommunikation

Fremd- und Selbstrepräsentation im WWW

Die Fülle an Information über ATR & ADR, die in den letzten 15 Jahren über das Internet verfügbar gemachtwurde, ist ziemlich eindrucksvoll — so ist auch die Unterschiedlichkeit ihrer Qualität. Im Jahre 2000 konntenbereits über 50.000 Web Pages über ATR & ADR im WWW besucht werden, wobei sich diese Zahl etwa alle

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

82 von 85 04.06.2010 17:09

Page 83: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

18 Monate verdoppelte. Einige der populärsten Seiten, wie z.B. das OrishaNet, erfreuten sich über 136.000Besuche im Monat.

Je nach den spezifischen Interessen der jeweiligen User dienen diese Web Pages unterschiedlichenZwecken und Anforderungen:

• Viele Menschen innerhalb wie außerhalb der jeweils repräsentierten religiösen Traditionen benutzen dieseSeiten, um rasch, leicht und billig allgemeine und spezifische Informationen zu erhalten. Universitäts-Studenten in aller Welt, insbesondere EthnologInnen und KulturanthropologInnen, machen inzwischen ihre„Feldforschungen“ über spezifische Aspekte von ATR & ADR u.a. auch im Internet — sei es entweder, umdort bereits existierende Information lediglich zu sammeln (visuelles bzw. beobachtungsorientiertes Paradigma),sei es vor allem aber auch, um manchmal durch direkte Kommunikation mit ihren virtuellen Gastgebern ineinen interaktiven Forschungsprozess einzutreten (diskursives bzw. befragungsorientiertes Paradigma).

• Vor allem Angehörige von ATR & ADR nutzen das Internet, um mit anderen Mitgliedern ihrer religiösenGemeinschaft zu kommunizieren. Dies trifft ganz besonders auf typische Diaspora Situationen zu, derenMitglieder manchmal durch enorme geographische Distanzen voneinander getrennt sind. Guest-Books, News-Groups, Discussion Boards und Chat-Rooms dienen hier in erster Linie dazu, um eine kontinuierliche undungebrochene Integration innerhalb ihrer eigenen Kommunitäten zu fördern.

• Hohepriester, Divinatoren, Leiter religiöser Zentren und Organisationen, sowie auch Kulturaktivistenrichten meist ihre eigenen Homepages ein, einerseits um sich selbst zu präsentieren, andererseits aber auch,um ihre eigene religiöse Tradition zu repräsentieren. Während in der Vergangenheit der Großteil der öffentlicherhältlichen Information über ATR & ADR von Ethnologen, akademischen Forschern anderer Disziplinen oderJournalisten recherchiert und kompiliert wurde — wobei diese in den wenigsten Fällen initiierte Mitgliederderjenigen religiösen Traditionen waren, die sie zu repräsentieren versuchten — so stammen heute die vielleichtbesten Informationen im WWW von den Praktizierenden selbst. Es existieren bereits unzählige Web-Sites, dievon Repräsentanten ihrer jeweiligen Religionen eingerichtet und betreut werden. Das Verhältnis zwischenFremd- und Selbst-Repräsentation im Netz verlagert sich immer rascher zugunsten der zunehmendenPromotion von Insider Perspektiven.

• Diverse Institutionen und deren Mitarbeiter nutzen das Internet vornehmlich zur Organisation vonKonferenzen, zum Koordinieren von Seminaren und Workshops, sowie zur Vernetzung von professionellenIndividuen und Gruppen quer durch Afrika und die Diaspora. Einige Babaláwos und Mambos bieten im Netzperiodisch Orakelbefragungen und religiöse Kurse an, führen Konsultationen mit ihren Klienten durch,kündigen regelmäßig Plantas (divinatorische Sitzungen) an, und bereiten auf vielfältige Weise das Terrain fürneue Initiationen vor.

• Schließlich dient das Internet den kommerziellen Interessen einer wachsenden Anzahl von Unternehmern,die mit religiösen Artikeln handeln, einschlägigen Mus

5.3.4 Das Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace

In ähnlicher Weise wie wir als Ethnologen und Kulturanthropologen beim Studium der Cyber-Transformationen von ATR & ADR vor gänzlich neue theoretische und kulturkritische Fragen gestelltwerden, stehen auch die betroffenen Exponenten dieser aktuellen kulturellen Transformationsprozesseeiner Anzahl widersprüchlicher und konfliktbeladener Probleme gegenüber, deren Bewältigung neueStrategien der Konsensfindung im Ringen um religiöse Kultur und Identität im Cyberspace erforderlichmacht.

Einige der virulentesten Fragen in diesem Zusammenhang, die inzwischen nicht nur vonCyberAnthropologen, sondern großteils auch von den Proponenten der CyberTransformationen von ATR &ADR wie auch von ihren Widersachern thematisiert werden, lassen sich folgendermaßen umschreiben:

• Wie werden Fragen der Autorität und Legitimität, bestimmte religiöse Traditionen im Cyberspacerepräsentieren zu dürfen, beantwortet?

• Welchen Veränderungen in Form und Gehalt sind ATR & ADR im digitalen Transformationsprozeßausgesetzt?

• Inwieweit wird der religiöse Korpus im Übergang vom oral-kulturellen zum schrift-kulturellen Modus inseiner Essenz beeinträchtigt?

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

83 von 85 04.06.2010 17:09

Page 84: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

• Wie wirkt sich der unmittelbare Transformationsprozeß zwischen primärer Oralität und sekundärer Oralitätauf Theorie und Praxis der Religionen aus?

• Wird reserviertes Wissen respektiert, werden ontologische Wahrheiten behütet? Kann die persönlicheInitiation durch cyber-mediale Initiationsformen ersetzt werden?

• Wie definiert sich die „religiöse Gemeinschaft“, sobald durch ihre Präsenz im Internet (potentiell) die ganzeWelt das Publikum darstellt?

• Welche Argumente sprechen für eine religiöse Besiedlung des Cyberspace, und welche Argumentesprechen dagegen?

Vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, daß viele afrikanische Religionen — insbesondere in derDiaspora — ursprünglich entweder als Familientraditionen mündlich von Generation zu Generation weitertradiert wurden oder nur in bestimmten verwandtschaftlichen Linien überlebten, die ihrerseits selbstwiederum signifikanten Veränderungen in den vergangenen Jahrhunderten ausgesetzt waren, gewinnenobige Fragen umso mehr an Brisanz.

Im Falle der mannigfaltigen Orisha Traditionen in den Amerikas, die bekanntlich durch die historischenProzesse des Sklavenhandels und die sich daran anschließenden Immigrationsbewegungen(Kontraktarbeiter) von Yoruba- Deszendenten eine ungeahnte Vielfalt an religiösen Ausformungen in allenTeilen der Neuen Welt entwickelten, läßt sich deutlich das Dilemma ablesen, in welches diejenigen ihrerRepräsentanten geraten, die mit dem Anspruch der Wiedervereinigung aller in der afrikanischen Diasporaverstreuten Orisha-Gläubigen antreten.

Einige ihrer eher kosmopolitisch orientierten Repräsentanten mögen zwar unter Rücksichtnahme auf diehistorischen Bedingungen der Diaspora für alle neuen Einflüsse offen sein, denen ihre Religion alsKonsequenz der Sklaverei, der anschließenden kolonialien Umarmung und der bis heute nachwirkendenwestlichen Dominanz ausgesetzt war. Andere hingegen, die oft in afrikanischen Bewußtseins- Bewegungenaktiv involviert sind, mögen mit der gleichen Selbstverständlichkeit jegliche Art fremder Einflüsse auf ihreReligion aufs Entschiedenste zurückweisen und für eine Re-Afrikanisierung ihres religiösen Erbes plädieren.

In den einschlägigen Diskussions-Foren des Internet werden eine große Anzahl manchmal höchstkontroversieller Diskurse zum Thema der ATR ausgefochten. Diese berühren meist so sensitive Fragen wieRass

5.4 Literatur

Alleyne, Mervyn (1990): African Roots of Caribbean Culture. In: The African- Caribbean Connection. Historicaland Cultural Perspectives, Hg. Alan G. Cobley/Alvin Thompson. Cave Hill/Bridgetown/Barbados: University ofthe West Indies.

Anthony, Patrick A. B. (1986): The Encounter Between Christianity and Culture. The Case of the „Kele“Ceremony of St. Lucia. In: Research in Ethnography and Ethnohistory of St. Lucia. A Preliminary Report(=Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie [WBEA], Bd.3), Hg. Manfred Kremser/Karl R. Wernhart.Horn/Wien: Berger: 103-120.

—. (1996): Changing Attitudes Towards African Traditional Religion and the Applications for Afro-CaribbeanTradition in St. Lucia. In: Ay BoBo — Afrokaribische Religionen / African-Caribbean Religions. Bd.1. Kulte/Cults(=Wiener Beiträge zur Ethnologie and Anthropologie [WBEA] Bd.8/1), Hg. Manfred Kremser. Wien: WUV-Universitätsverlag: 69-84.

Appiah, Kwame Anthony/Gates Jr., Henry Louis, Hg. (1999): Africana: The Encyclopedia of the African andAfrican American Experience . New York: Basic Civitas Books.

Barnes, Sandra, Hg. ( 2 1997): Africa’ Ogun: Old World and New. Indianapolis: Indiana University Press.

Barrett, Leonard (1988): The Rastafarians. Boston: Beacon Press.

Bastide, Roger (1971): African Civilisations in the New World. New York: Harper and Row.

Beier, Ulli (1991): Thirty Years of Oshogbo Art. Bayreuth: Iwalewa-Haus.

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

84 von 85 04.06.2010 17:09

Page 85: Das Spektrum der Religionen - univie.ac.at · 2010-06-04 · 1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite 1.3 Religiöse Konzepte afrikanischer Provenienz 1.4 Kélé 1.4.1

Wenn nicht anders angegeben, steht dieses Dokumentunter einer Creative Commons 2.0 Lizenz

http://www.univie.ac.at/ksa/elearning

Bourguignon, Erika (1976): Possession. Columbus: Ohio State University Press.

Brandon, George (1993): Santería from Africa to the New World: The Dead Sell Memories. Bloomington: IndianaUniversity Press.

Brown, Karen McCarthy (1991): Mama Lola. A Vodou Priestess in Brooklyn. Berkely: University of CaliforniaPress.

Canizares, Raul (1993): Cuban Santería: Walking with the Night . Rochester, NY: Destiny Books.

Chevannes, Barry (1994): Rastafari. Roots and Ideology. Syracuse, NY: Syracuse University Press.

Davis, Kortright/Farajaje-Jones, Elias, Hg. (1991): African Creative expressions of the Divine. Washington, DC:Howard University School of Divinity.

Deive, Carlos Esteban (1988): Vodu y Magie en Santo Domingo. Santo Domingo: Museo del HombreDomenicana.

Denk, Wolfgang (1995): Susanne Wenger — „Tief in Dir bist Du oh Mensch der Gott als Baum, als Stein, alsTier“ — Eine biographische Collage. Krems: Kunsthalle Krems.

Deren, Maya (1953): Divine Horsemen: The Living Gods of Haiti. New York: Thames and Hudson (dt. 1992: DerTanz des Himmels mit der Erde. Wien: ProMedia Verlag).

Desmangles, Leslie G. (1993): The Faces of the Gods: Vodou and Roman Catholicism in Haiti. Chapel Hill:University of North Carolina Press.

Dos Santos, Juana Elbein/Dos Santos, Deoscoredes M. (1984): Religion and Black Culture. In: Africa in LatinAmerica. Essays on History, Culture, and Socialization, Hg. Manuel Moreno Fraginals. New York: Holmes &Meier Publishers (Paris: UNESCO).

Dunham, Katherine (1969): Island Possessed. New York: Doubleday.

Fiedler, Axel (1997): Die Macht der Spirits auf Erden. Afro-karibische Religion und Politik in den Kleinen Antillenunter besonderer Berücksichtigung Trinidads. Diplomarbeit aus Völkerkunde an der Univ. Wien.

Gates, Brian (1980): Afro-Caribbean Religions. London: Ward Lock Educational.

Glazier, Stephen D. (1991): Marchin’ the Pilgrims Home. A Study of the Spiritual Baptists in Trinidad. New York:Sheffield Publishing Group.

Glazier, Stephen D., Hg. (2001): The Encyclopedia of African and African-American Religions. New York: R?????????????????????

rebespektrum - Einführung in die Religions- und Bewusstseinsforschung http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/rebespektrum/rebespektrum-fu...

85 von 85 04.06.2010 17:09