Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll...

5
Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 5 » urbs, urbis – die Stadt. Die Stadt wächst. Schon immer. Immer schneller, höher, weiter. Seit der Antike bekannt, in der Bibel behandelt und trotzdem heute ein Megatrend. Auf diesen Zug ist nun auch das Bundesbauministe- rium aufgesprungen und hat einen Gesetzesentwurf zur Einführung des „Urbanen Gebiets“, planungsrechtlich abgekürzt MU, vorgelegt – das erste neue Baugebiet in der Baunutzungs- verordnung seit ihrem Inkrafttreten vor über 50 Jahren. Inhalt, Erwartun- gen, Kritik und ein Ausblick zu diesem Gesetzesvorhaben sind Gegenstand dieses Beitrags. Einleitung Der Megatrend der Urbanisierung speist sich aus einer Vielzahl von Faktoren: Bevölkerungswachstum, Landflucht, aber vor allem die Attrak- tivität des städtischen Wohnens. So prognostiziert das Institut der deutschen Wirtschaft aktuell für die kommenden 20 Jahre ein weiteres Wachstum der deutschen Städte: bis 2035 sollen deutsche Großstädte wie Berlin, Frankfurt und München zwi- schen 11 % und 15 % wachsen [1]. Angemessenen Wohnraum für die breiten Schichten der Bevölkerung zu schaffen, ist daher das Gebot der Stunde. Gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse dabei nicht zu vergessen, mahnt uns § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB. Wohnraum schaffen lässt sich in erster Linie durch Neubau. Für die soziale Komponente oder bezahlbares Wohnen sorgen dabei Modelle der „Sozialgerechten Bodennutzung“ oder der „Kooperativen Baulandent- wicklung“, wie sie in allen deutschen (Groß-)Städten zu finden sind. Wachstum stößt jedoch immer auch an Grenzen. Früher an die Stadtmauer, heute an und um den Autobahnring als moderne Stadtmauer. Neben den Trend der Urbanisierung treten daher die Nachverdichtung und Innenent- wicklung sowie Flächenkonversions- projekte, also die Umwandlung von ehemals industriell, militärisch oder zu Verkehrszwecken genutzten Flächen – teilweise riesige Areale – zu Büro- standorten oder Wohnungen. Städte wachsen dabei auch und vor allem dort, wo die Planer bislang Flächen freigehalten hatten, als Pufferzone im Sinne des Trennungsgebots des § 50 BImSchG, wonach emittierende und sensible Nutzungen möglichst nicht nebeneinander, sondern getrennt voneinander angesiedelt werden sol- len. Wenn die Stadt also näher an ihre (früheren oder verkleinert noch weiter bestehenden) Industrieareale oder Verkehrstrassen heranrückt, kommt es zu Immissionskonflikten. Gesucht wird das maritime Flair in Hafennähe, also Wasser und industrieller Chic, nicht aber der damit verbundene Lärm. Jeder freut sich über eine gute Verkehrsanbindung und die Stadt der kurzen Wege, doch niemand will nachts von Lärm geweckt werden. Diese Konflikte zu lösen und zugleich Spielräume für den städtischen Wohnungsbau zu geben, ist Ziel des am 30. November 2016 durch das Bundeskabinett beschlossenen Regie- rungsentwurfs. Dessen Kerninhalt ist ein neuer Baugebietstypus in der Bau- nutzungsverordnung (BauNVO): das Urbane Gebiet. Da es sich um eine gemischte Baufläche handelt (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 2 BauNVO), soll es die Ab- kürzung MU erhalten. Anlass für diese Änderung im Städtebaurecht ist die Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht – Dr. Mathias Hellriegel –

Transcript of Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll...

Page 1: Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll demnach den Kommunen ein Instrument zur Verfügung stellen, künftig in den stark

Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 5

»

urbs, urbis – die Stadt. Die Stadt

wächst. Schon immer. Immer schneller,

höher, weiter. Seit der Antike bekannt,

in der Bibel behandelt und trotzdem

heute ein Megatrend. Auf diesen Zug

ist nun auch das Bundesbauministe­

rium aufgesprungen und hat einen

Gesetzesentwurf zur Einführung des

„Urbanen Gebiets“, planungsrechtlich

abgekürzt MU, vorgelegt – das erste

neue Baugebiet in der Baunutzungs­

verordnung seit ihrem Inkrafttreten

vor über 50 Jahren. Inhalt, Erwartun­

gen, Kritik und ein Ausblick zu diesem

Gesetzesvorhaben sind Gegenstand

dieses Beitrags.

Einleitung

Der Megatrend der Urbanisierung

speist sich aus einer Vielzahl von

Faktoren: Bevölkerungswachstum,

Landflucht, aber vor allem die Attrak­

tivität des städtischen Wohnens.

So prognostiziert das Institut der

deutschen Wirtschaft aktuell für die

kommenden 20 Jahre ein weiteres

Wachstum der deutschen Städte: bis

2035 sollen deutsche Großstädte wie

Berlin, Frankfurt und München zwi­

schen 11 % und 15 % wachsen [1].

Angemessenen Wohnraum für die

breiten Schichten der Bevölkerung

zu schaffen, ist daher das Gebot

der Stunde. Gesunde Wohn­ und

Arbeitsverhältnisse dabei nicht zu

vergessen, mahnt uns § 1 Abs. 6 Nr. 1

BauGB. Wohnraum schaffen lässt sich

in erster Linie durch Neubau. Für die

soziale Komponente oder bezahlbares

Wohnen sorgen dabei Modelle der

„Sozialgerechten Bodennutzung“

oder der „Kooperativen Baulandent­

wicklung“, wie sie in allen deutschen

(Groß­)Städten zu finden sind.

Wachstum stößt jedoch immer auch

an Grenzen. Früher an die Stadtmauer,

heute an und um den Autobahnring

als moderne Stadtmauer. Neben den

Trend der Urbanisierung treten daher

die Nachverdichtung und Innenent­

wicklung sowie Flächenkonversions­

projekte, also die Umwandlung von

ehemals industriell, militärisch oder zu

Verkehrszwecken genutzten Flächen –

teilweise riesige Areale – zu Büro­

standorten oder Wohnungen. Städte

wachsen dabei auch und vor allem

dort, wo die Planer bislang Flächen

freigehalten hatten, als Pufferzone im

Sinne des Trennungsgebots des § 50

BImSchG, wonach emittierende und

sensible Nutzungen möglichst nicht

nebeneinander, sondern getrennt

voneinander angesiedelt werden sol­

len. Wenn die Stadt also näher an ihre

(früheren oder verkleinert noch weiter

bestehenden) Industrieareale oder

Verkehrstrassen heranrückt, kommt

es zu Immissionskonflikten. Gesucht

wird das maritime Flair in Hafennähe,

also Wasser und industrieller Chic,

nicht aber der damit verbundene

Lärm. Jeder freut sich über eine gute

Verkehrsanbindung und die Stadt

der kurzen Wege, doch niemand will

nachts von Lärm geweckt werden.

Diese Konflikte zu lösen und zugleich

Spielräume für den städtischen

Wohnungsbau zu geben, ist Ziel des

am 30. November 2016 durch das

Bundeskabinett beschlossenen Regie­

rungsentwurfs. Dessen Kerninhalt ist

ein neuer Baugebietstypus in der Bau­

nutzungsverordnung (BauNVO): das

Urbane Gebiet. Da es sich um eine

gemischte Baufläche handelt (vgl. § 1

Abs. 1 Nr. 2 BauNVO), soll es die Ab­

kürzung MU erhalten. Anlass für diese

Änderung im Städtebaurecht ist die

Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht

– Dr. Mathias Hellriegel –

Page 2: Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll demnach den Kommunen ein Instrument zur Verfügung stellen, künftig in den stark

6 // gif im Fokus 1/2017 – Spezialthema Urbanes Gebiet

Ergänzung der BauNVO um

den neuen Baugebiets typus

des MU

§ 6a BauNVO enthält ein ausdiffe­

renziertes Regelungssystem zur Art

der baulichen Nutzung in Urbanen

Gebieten. Zulässig soll ein bunter

Nutzungsmix aus Wohnen, Geschäfts­

und Bürogebäude, Einzelhandel,

Schank­ und Speisewirtschaften,

Beherbergung, Gewerbe, Verwaltung

sowie Anlagen für kirchliche, kultu­

relle, soziale, gesundheitliche und

sportliche Zwecke sein (§ 6a Abs. 2

BauNVO), ausnahmsweise sogar

Tankstellen sowie kerngebietstypische

Vergnügungsstätten (§ 6a Abs. 3

BauNVO).

Anders als der Referentenentwurf

vom Juni 2016 erklärt der Kabinetts­

entwurf Wohngebäude für allgemein

zulässig. Einer planungsrechtlichen

Ausnahme wie zunächst vorgesehen

bedarf es daher nicht. Bauvorhaben

mit Wohnnutzung im innerstädti­

schen Bereich werden somit nach

dem neuen Entwurf weiter erleichtert.

Die vielfältige Nutzung soll einen

lebendigen öffentlichen Raum und die

eingangs genannte nutzungsgemisch­

te Stadt der kurzen Wege fördern [4].

Dieser Grad der Nutzungsmischung

kann aktuell keinem der bestehenden

Baugebietstypen der BauNVO zuge­

ordnet werden – Grund genug, erst­

mals seit Inkrafttreten der BauNVO

1962 eine neue Gebietskategorie für

die veränderten Bedürfnisse zu schaf­

fen. Ein solches Nebeneinander von

Wohnen und Gewerbe ist momentan

lediglich im Mischgebiet (MI) zulässig,

dort aber mit der Einschränkung, dass

keine der beiden Nutzungen dominie­

ren darf [5]. Das nötige ausgewogene

Mischungsverhältnis fällt für die

Urbanen Gebiete weg, hält § 6a Abs.

1 Satz 2 BauNVO doch gerade eine

gleichgewichtige Nutzungsmischung

nicht (mehr) für notwendig (anders

als noch der ursprüngliche Referen­

tenentwurf, dem diese Klarstellung

fehlte).

Umsetzung einer europäischen Richt­

linie sowie des Programms „Bündnis

für bezahlbares Wohnen und Bauen

und zur Wohnungsbau­Offensive“ [2]

als Großprojekt der Bundesbauminis­

terin Barbara Hendricks.

Was bietet der neue Baugebietstypus

der Urbanen Gebiete? Dem Leitbild

zufolge soll diese Kategorie eine

„nutzungsgemischte Stadt der kurzen

Wege“ [3] verwirklichen. Dabei sind

die Ziele dieser Novelle reichlich hoch

gesteckt: Räumliche Nähe von wich­

tigen Funktionen wie Wohnen, Arbei­

ten, Versorgung, Bildung, Kultur und

Erholung bei gleichzeitiger Beibehal­

tung des hohen Lärmschutzniveaus

und mehr städtebauliche Flexibilität

trotz hohen Klimaschutzansprüchen.

Alle Nutzungsformen sollen sich auf

engstem Raum vereinen, ohne dass

der Lärmschutzpegel steigt und damit

die gesunden Wohn­ und Arbeitsver­

hältnisse leiden. Insbesondere soll die

neue Baugebietskategorie den städte­

baulichen Handlungsspielraum der

Kommunen erweitern, um städtisches

Bauen zu erleichtern.

Übersicht zu den

Änderungen für

das MU

Der Kabinettsentwurf vom 30.

November 2016 sieht vor, mit dem

Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie

2014/52/EU im Städtebaurecht und

zur Stärkung des neuen Zusammen­

lebens in der Stadt die Kategorie

Urbane Gebiete (MU) in § 6a BauNVO

einzuführen (hierzu sogleich 1.) und

für das MU ein neues Nutzungsmaß

durch Anpassung von § 17 BauNVO

vorzugeben (unten 2.). Parallel dazu

soll nach einem weiteren Kabinetts­

entwurf die TA Lärm geändert und

an die neue Baugebietskategorie

angepasst werden (vgl. 3.). Diese

zwei Regelungswerke mit ihren drei

Kerninhalten sind demnach elementar

für die Schaffung der neuen Urbanen

Gebiete:

Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 7

Page 3: Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll demnach den Kommunen ein Instrument zur Verfügung stellen, künftig in den stark

»

Insgesamt verspricht § 6a BauNVO

demnach mehr Flexibilität für Kom­

munen und damit mehr Gestaltungs­

möglichkeiten für Bauherren, Planer

und andere Akteure für die Schaffung

des dringend benötigten, aber auch

mit anderen Nutzungen durchmisch­

ten Wohnraums in der wachsenden

Stadt.

Maß der baulichen Nut­

zung: Hohe Bebauungs­

dichte nach § 17 BauNVO

§ 17 BauNVO soll künftig die Möglich­

keit bieten, im Urbanen Gebiet höher

und dichter in Innenstadtlagen zu

bauen. Dies erlauben eine Grundflä­

chenzahl (GRZ) von 0,8 und eine Ge­

schossflächenzahl (GFZ) von 3,0. Da­

mit dürfen in Urbanen Gebieten bis zu

80 % der Grundstücksfläche bebaut

werden, diese Obergrenze liegt genau

zwischen Dorf­ und Mischgebieten

(0,6) und Kerngebieten (1,0). Daneben

darf die Fläche aller Geschosse drei­

mal so groß sein wie das Grundstück

– genau wie im Kerngebiet –, was zu

einer deutlich höheren baulichen

Dichte führen kann und wird. Diese

soll den eingangs genannten Zielen

des Urbanen Gebiets, insbesondere

der Schaffung von Wohnraum ohne

Versiegelung neuer Flächen, dienen

und wiederum Flexibilität für Kom­

Auch ein Kerngebiet (MK) soll für die

Entwicklung der nutzungsgemischten

Stadt der kurzen Wege nicht ausrei­

chen, da dieses eine Wohnnutzung

im Gegensatz zum Urbanen Gebiet

grundsätzlich nur ausnahmsweise

vorsieht. Zwar kann Wohnen nach

§ 1 Abs. 6 Nr. 2 BauNVO auch im

Kerngebiet für allgemein zulässig

erklärt werden; die Gebietstypologie

muss aber gewahrt bleiben, was in

Kerngebieten zu einem Wohnanteil

von maximal 50 % führt (teilweise

wird im Kerngebiet sogar ein Maxi­

malanteil von 20 bis 30 % gesehen).

Im Gegensatz dazu ist das Urbane

Gebiet nicht an bestimmte Anteile

verschiedener Nutzungsarten zur

Wahrung der Gebietstypologie

gebunden. Damit ist auch ein Anteil

von 80 % Wohnnutzung im Urbanen

Gebiet unproblematisch, im Kernge­

biet dagegen undenkbar und selbst

im Mischgebiet häufig Gegenstand

heftiger Diskussionen. Das Urbane

Gebiet soll demnach den Kommunen

ein Instrument zur Verfügung stellen,

künftig in den stark verdichteten städ­

tischen Gebieten leichter Wohnraum

schaffen zu können und gleichzeitig

für gemischte Nutzungsstrukturen

zu sorgen. In diesem Sinne stellt sich

das Urbane Gebiet als Schnittmenge

des Kern­, Misch­ und Allgemeinen

Wohngebiets dar (s. Abbildung).

Das Urbane Gebiet als Schnittmenge des Kern-, Misch- und

Allgemeinen Wohngebiets

munen bieten, den stark verdichteten

Stadtkern mit Mangel an Bauplätzen

zu bebauen.

Anpassung der TA Lärm

zur Regelung des Immis­

sionsschutzes im MU

Problematisch für die Nachverdich­

tung im städtischen Raum sind

vor allem Lärmimmissionen. Dies

gilt umso mehr wegen der nach

§ 6a BauNVO zulässigen und gar

erwünschten Nutzungsmischung und

der hohen Bebauungsdichte. Die vom

Kabinett ebenfalls am 30. November

2016 beschlossene Allgemeine

Verwaltungsvorschrift zur Änderung

der TA Lärm [6], welche nun nicht

wie der oben genannte Entwurf das

Gesetzgebungsverfahren durchlaufen

muss, sondern allein der Zustimmung

des Bundesrates bedarf, sieht dem­

entsprechend eine Ergänzung der

TA Lärm vor – dies war allein schon

aufgrund der Einführung der neuen

Baugebietskategorie des Urbanen Ge­

bietes erforderlich, geht aber darüber

hinaus:

Nach Nummer 6.1 Satz 1 der TA Lärm

sollen die Immissionsrichtwerte in

Urbanen Gebieten tags 63 dB(A) und

nachts 48 dB(A) betragen. Damit

liegen die Richtwerte deutlich über

denen in Dorf­, Misch­ und sogar

Kerngebieten (in Mischgebieten 60

dB(A) tags und 45 dB(A) nachts),

gleichzeitig aber unterhalb jenen in

Gewerbegebieten (65 dB(A) tags und

50 dB(A) nachts). 3 dB(A) sieht zwar

nicht nach viel aus, bedeutet tat­

sächlich aber eine Verdopplung des

Lärmpegels. Das bedeutet, dass sich

eine heranrückende Wohnbebauung

im Urbanen Gebiet einem doppelt so

hohen Lärm aussetzen darf, als dies

etwa in einem Mischgebiet der Fall ist.

Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 7

Page 4: Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll demnach den Kommunen ein Instrument zur Verfügung stellen, künftig in den stark

8 // gif im Fokus 1/2017 – Spezialthema Urbanes Gebiet

Damit wird eine wesentliche Hürde

für die wachsende Stadt beseitigt,

mussten doch Betreiber emittierender

Anlagen bei einer heranrückenden

(Wohn­)Bebauung fürchten, dass

ihnen – aufgrund ihrer dynamischen

Betreiberpflichten als Ausdruck des

Verursacher­ und in Überwindung des

Prioritätsprinzips – Einschränkungen

ihres Betriebs auferlegt werden. Da

der Gewerbelärm außen (d. h. 0,5 m

vor dem geöffneten Fenster) und

nicht innen gemessen wird, konnten

diese Lärmkonflikte bislang auch

nicht durch passive Schallschutz­

fenster gelöst werden; dies ändert

sich zwar nicht, doch entschärft die

Erhöhung der Immissionsrichtwerte –

also des Niveaus des von der her­

an rückenden Wohnbebauung zu

dul den den Lärms – etwaige zu er­

wartende Nutzungskonflikte zwischen

schutzbedürftiger Wohnnutzung und

emittierenden Anlagen bereits im

Vorfeld.

Rezeption des

Gesetzentwurfs

Die Reform des Städtebaurechts mit

der Einführung des neuen Bauge­

bietstypus Urbanes Gebiet und der

damit einhergehenden Anpassung

des Lärmschutzes durch Änderung

der TA Lärm wird durch Praktiker

weitgehend begrüßt und ist unum­

gänglich für bezahlbaren Wohnraum

und nachhaltige Stadtentwicklung in

Großstädten. Unumgänglich deshalb,

weil das eingangs beschriebene Phä­

nomen der Urbanisierung kein Ende

nimmt, weil Städte ständig wachsen,

Wohnraum knapp wird und Kommu­

nen derzeit mit der Schaffung von be­

zahlbarem Wohnraum in Innenstadt­

lagen in verlärmten Bereichen oftmals

an ihre Grenzen stoßen.

Ob die Regelungen auch alle tatsäch­

lich Gesetz werden und sich in der

Praxis bewähren, wird sich zeigen.

Jedenfalls wird bereits jetzt schon

Kritik an der Unvollständigkeit des

Regierungsentwurfs zum Städte­

baurecht laut. Im Vordergrund steht

dabei die Gefahr eines abgeschwäch­

ten Lärmschutzes durch die hohen

Immissionsrichtwerte im Urbanen Ge­

biet. Denn auch im Urbanen Gebiet ist

das Bedürfnis nach einem gesunden

Nachtschlaf nicht anders. Ergänzun­

gen werden mithin vor allem zu Fest­

setzungen von passiven Schallschutz­

maßnahmen im Bebauungsplan auf

der Grundlage des BauGB gefordert

[7]. Gefordert wird eine (weitere) ge­

setzliche Regelung im BauGB, um es

den Kommunen zu ermöglichen, im

Bebauungsplan Festsetzungen zum

passiven Schallschutz zu treffen, die

trotz hoher Lärmrichtwerte aufgrund

der Nutzungsmischung gesunde

Wohn­ und Schlafverhältnisse sicher­

stellen. Angeregt wird daneben, den

Immissionsort von außen zumindest

teilweise nach innen zu verlagern

sowie zwischen Kern­ und Randzeiten

zu differenzieren [8]. Verkannt wird

dabei, dass die Immissionsrichtwerte

der TA Lärm nur mittelbar das zu

duldende Lärmniveau im Urbanen

Gebiet bestimmen; eigentlich defi­

nieren sie, wie laut die emittierenden

Anlagen betrieben werden dürfen.

Deren Betrieb und Betreiber können

jedoch nicht vom Schallschutz der

benachbarten (Wohn­)Bebauung

abhängig sein, denn darauf haben sie

keinen Einfluss.

Darüber hinaus wird etwa die

Erhöhung der zulässigen GRZ auf

1,0 befürwortet, um eine echte Nach­

verdichtung zu ermöglichen [9]. Dies

erscheint zwar auf den ersten Blick

sinnvoll, doch ist auch hier Vorsicht

geboten; schließlich gehört zu einem

gesunden Wohnen auch ein gewisses

Maß an Grün. Wo dies mit Blick auf

Sonderformen des Wohnens – bei­

spielsweise Studentenwohnen – nicht

zwingend erscheint, bietet § 17 Abs. 2

BauNVO heute und zukünftig Mög­

lichkeiten des Abweichens.

Schließlich stellt der neu geschaffene

§ 6a BauNVO Praktiker und Gerichte

vor die Herausforderung, neue Be­

griffe wie die Nutzungsmischung zu

konkretisieren und anzuwenden [10].

Hier ist aber zu begrüßen, dass der

Kabinettsentwurf dieser Unbestimmt­

heit im Vergleich zum Referentenent­

wurf (dort war die Rede von „kleinräu­

miger Nutzungsmischung“) vorbeugt.

Unklar bleibt aber, wo das Urbane

Gebiet zur Anwendung kommen kann

und wo nicht; denn der § 6a BauNVO

gilt zukünftig in ganz Deutschland

und nicht etwa nur für Städte. Eben­

falls nicht schlüssig scheint, dass es

in dem – auch dem Wohnen dienen­

den – Urbanen Gebiet lauter sein darf

als im Kerngebiet, dem Inbegriff der

Innenstadt. Folgeänderungen erschei­

nen hier unabdingbar, übrigens auch

in der Verkehrslärmschutzverordnung

(16. BIm­SchV), die Lärmschutzpegel

für den Bau und die wesentliche

Änderung von Straßen­ und Schienen­

wegen enthält.

Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 9

Page 5: Das Urbane Gebiet aus rechtlicher Sicht gif.pdf · heftiger Diskussionen. Das Urbane Gebiet soll demnach den Kommunen ein Instrument zur Verfügung stellen, künftig in den stark

Quellen:

[1] Vgl. Pressemitteilung des IW Köln vom 05.01.2017, online abrufbar unter

www.iwkoeln.de/presse/pressemitteilungen/beitrag/bevoelkerungsentwicklung-in-den-grossstaedten-wird-es-eng-320583

zuletzt abgerufen am 06.01.2017.

[2] Vgl. hierzu www.bmub.bund.de/presse/pressemitteilungen/pm/artikel/bundesregierung-beschliesst-wohnungsbau-offensive/

zuletzt abgerufen am 05.01.2017.

[3] Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und

zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt, S. 29, 53.

[4] Vgl. Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und

zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt, S. 53.

[5] Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: August 2016, § 6 BauNVO Rn. 1;

Roeser, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 3. Auflage 2014, § 6 Rn. 3.

[6] Allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Änderung der Sechsten Allgemeinen

Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm – TA Lärm),

abrufbar unter www.umwelt-online.de/PDFBR/2016/0708_2D16.pdf, zuletzt abgerufen am 05.01.2017.

[7] Vgl. hierzu u.a. Deutscher Städte- und Gemeindebund, Stellungnahme vom 30.11.2016 „Bundeskabinett beschließt Novelle des Städtebaurechts,

abrufbar unter www.dstgb.de/dstgb/Homepage/Aktuelles/2016/Bundeskabinett%20beschließt%20Novelle%20des%20Städtebaurechts/

zuletzt abgerufen am 05.01.2017.

[8] Vgl. Würfel/Seifert/Seeger, Das „Urbane Gebiet“ – Ein neuer Baugebietstyp erleichtert dichtes Bauen mit hohem Wohnanteil, Stand: 16. August 2016, S. 2.

[9] Ebd., S. 2.

[10] Bundesrechtsanwaltskammer, Stellungnahme Nr. 20/2016, Stand: 16. Juni 2016, S. 8.

hohe Ziele, die die Bundesbauminis­

terin Hendricks mit dem Urbanen

Gebiet anstrebt. Ob die Koalitionsfrak­

tionen und der Bundesrat zustimmen

und das Gesetzesvorhaben noch vor

der Bundestagswahl im Septem­

ber verabschieden und ihr damit

erlauben, bei einem den Wahlkampf

beherrschenden Thema einen we­

sentlichen Erfolg zu verbuchen, bleibt

abzuwarten.

Zu befürworten wäre es jedoch: denn

alles in allem verspricht das Urbane

Gebiet ein modernes städtisches

Leben mit begrüßenswerten Änderun­

gen im Städtebau­ und Immissions­

schutzrecht.

Ausblick

Insgesamt erscheint die Einführung

des Urbanen Gebiets als Fortschritt.

Die damit der Praxis eröffneten neuen

Möglichkeiten und Veränderungen

sind zu begrüßen.

Das Urbane Gebiet verbindet erstmals

die verschiedensten Nutzungen und

Funktionen wie Wohnen, Arbeiten,

Versorgung, Bildung, Kultur und Erho­

lung auf engstem Raum und ermög­

licht insofern einen neuen urbanen

Lebensstil, wie er dem Zeitgeist einer

vernetzten Welt entspricht. Ein leben­

diger öffentlicher Raum, die Stadt der

kurzen Wege, ein modernes Stadtbild,

am besten alles an einem Platz und

mittendrin im Geschehen – es sind

Dr. Mathias Hellriegel LL.M.

MALMENDIER PARTNERS

Kurfürstendamm 213

10719 Berlin Germany

[email protected]

Spezialthema Urbanes Gebiet – gif im Fokus 1/2017 // 9