Dauer und Wandel einer - arnoldsche.com · 69 020 SÜNDEN, TOD UND HÖLLE 019 RAMESH CHITRAKAR,...

23
Bildrollen Dauer und Wandel einer indischen Volkskunst Thomas Kaiser ARNOLDSCHE Art Publishers Völkerkundemuseum der Universität Zürich

Transcript of Dauer und Wandel einer - arnoldsche.com · 69 020 SÜNDEN, TOD UND HÖLLE 019 RAMESH CHITRAKAR,...

Götter und Dämonen, Leben und Tod, Liebe und Freundschaft sind Th emen, die sich in der bildge wal-tigen und farbenfrohen Volkskunst indischer Maler-sänger mit ihren Bildrollen wiederfi nden. Ihre Geschichten verbreiten sie bereits seit 2.000 Jahren singend und sprechend unter der heimischen Land-bevölkerung. Von dort ausgehend, wanderte ihre Kunst durch China bis nach Japan und in westlicher Richtung bis in den Mittelmeerraum.

Die technischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts leiteten einen tiefgreifenden Wandel in der indischen Volkskunst ein. Zwei bengalische Bild rollen tradi-tionen trotzen den widrigen Bedingungen bis heute. Doch während die patua ihre überlieferte Erzähl kunst in eine zeitgenössische Form überführen, scheitern die jadopatia an der Herausforderung – ihre Kunst steht vor dem Aus.

Profunder Fachtext und 160 leuchtende Beispiele einer einzigartigen, bisher nicht zugänglichen Samm-lung veranschaulichen erstmals Ursprung und Ent-wicklung der faszinierenden bengalischen Bildrollen-kunst bis in unsere Zeit.

ARNOLDSCHE Art Publishers

ISBN 978-3-89790-365-4

AR

NO

LDS

CHE

Thomas K

aiserB

ildrollenD

auer und Wandel einer indischen Volkskunst

BildrollenDauer und Wandel einer indischen Volkskunst

Thomas Kaiser

ARNOLDSCHE Art Publishers

Völkerkundemuseum der Universität Zürich

bildrollen_cover_D+E_080812.indd 1bildrollen_cover_D+E_080812.indd 1 08.08.12 16:4208.08.12 16:42

34

Die jadopatia sind ethnische Bengalen, die in einer beruf-lichen Symbiose mit den Santal, der größten homoge-nen, als Stamm (tribe) anerkannten Volksgruppe Indiens, leben. Das Kerngebiet der Santal liegt in den östlichen und südlichen Distrikten Jharkhands, im Norden Orissas und in den südwestlichen Distrikten Westbengalens.108 Sie sind in ihrer großen Mehrheit Bauern, die in der Ver-gangenheit Angehörigen bestimmter Berufsgruppen, deren Tätigkeit sie selbst nicht ausübten, in ihren Dör-fern ein Bleiberecht ohne eigenen Landbesitz einräum-ten: den Schmieden der Loha-Kaste, Angehörigen der Dom-Kaste, deren Männer bei Santal-Hochzeiten als Trommler aufspielen und deren Frauen als Hebammen tätig sind, und den jadopatia – den Bildrollenkünstlern. Fragt man die Santal nach deren Nutzen für die Dorfge-meinschaft, verweisen sie auf die Tradition: Es war schon immer so, die jadopatia lebten hier seit Menschengeden-ken – eine Auff assung durchaus im Sinne der Künstler.

Über Geschichte und Herkunft der jadopatia existie-ren keine gesicherten Erkenntnisse. Für die Autoren des 20. Jahrhunderts waren sie als ein Seitenzweig der gro-ßen patua-Tradition Westbengalens, von der im anschlie-ßenden Kapitel die Rede sein wird, von nur peripherem Interesse.

Zwei Dinge waren es vor allem, die Außenstehenden an den jadopatia auffi elen und die sie in ihren Beschrei-bungen hervorhoben: der individuelle Charakter ihrer Malerei 109 und ihre Funktion im Totenritual der Santal.

Bereits Gurusaday Dutt, dessen Artikel „Gott der Tiger in der Kunst Bengalens“ von 1932 die jadopatia erst-mals ausführlich erwähnte, bemerkte (ganz im Stil dama-liger Denk- und Ausdrucksweise):

Vom Standpunkt einer bildenden Kunst aus betrach-tet nehmen die Jadu Patuas einen ganz einzigartigen Platz ein, welcher in einiger Hinsicht mit jenem der Negerkunst im Bereich der Skulptur zu vergleichen ist. Mit dem Unterschied, dass die skulpturale Kunst der Neger nicht mehr existiert und einer toten Ver-gangenheit angehört, während die primitive Bild-kunst der Jadu Patuas noch immer eine lebendige

Kunst und im Vollbesitz ihrer urtümlichen Lebens-kraft ist.110

Von Dutt auf die Existenz der jadopatia aufmerksam gemacht, legten der britische Kolonialbeamte William und seine Frau Mildred Archer in den 1940er-Jahren eine kleine Sammlung von jadopatia-Bildrollen an, welche Mildred später aufarbeitete und publizierte. Sie erwähnte dort, wie sie sich von der frisch und „modern“ wirkenden Malerei der jadopatia – von deren Stilmitteln und unge-wöhnlichen Techniken des Farbauftrags – an Jackson Pollocks action paintings erinnert fühlte.111

Veröff entlichungen über die jadopatia lassen sich an den Fingern abzählen: Der Ethnologe Verrier Elwin wid-mete ihnen 1952 eine Serie von drei kürzeren Artikeln in einer indischen Wochenzeitung, W. G. Archer erwähnte sie in Th e Hill of Flutes (1974), seinem Werk über die Lied-dichtung der Santal, und Mildred Archer widmete ihnen ein Kapitel ihres Werks über Indian Popular Painting. Während eines Feldaufenthaltes im Winter 1978/79 sam-melte der früh verstorbene französische Künstler Jean-Baptiste Faivre Bildrollen der jadopatia und verfasste darüber 1980, zusammen mit Utpal Chakraborty, einen ausführlichen, illustrierten Artikel,112 und die ebenfalls aus Frankreich stammende Rosita de Selva publizierte 1994 einen Artikel zur Rolle der jadopatia im Totenritual der Santal.113 Die erste und bislang einzige ausführliche wissenschaftliche Arbeit über die jadopatia ist Hans Had-ders 2001 veröff entlichte Untersuchung ebenfalls über die Funktion der jadopatia als Totenpriester der Santal.114

Selbstdarstellung der jadopatia

Nach dem Ursprung seiner Kaste befragt, erzählte Kin-kar Chitrakar, ein betagter Bildrollenkünstler aus Jhar-khand, die folgende Geschichte aus dem indischen Epos Mahabharata:

Als Abhimanyu 115 auf dem Streitwagen starb, war Arjun untröstlich. Was geschah dann? Gott erschuf

Die Jadopatia

bildrollen_de_060812.indd 34bildrollen_de_060812.indd 34 08.08.12 13:0508.08.12 13:05

35

einen chitragupta ... Dieser chitragupta ging nun mit einem Bild Abhimanyus. So geschah es. Damals wurde der chitragupta erschaff en; Vishvakarma war es, der uns erschuf. Und was tat er nun? Damals gab es nicht so viele Menschen; damals machte der chitra-

gupta eine Zeichnung von Abhimanyu. Er ging und zeigte Arjun die Zeichnung: ‚Schau. Dies ist das Foto [Engl.]; ich habe es gemacht!‘ Und als er Arjun das Bild seines Sohnes zeigte, fand der seinen Frieden. Auf diese Art wird ein Bild gezeichnet, wann immer jemand stirbt. Als Pilchu Haram [der Ahnvater der Santal] starb – zu jener Zeit gab es kein Papier. Auf sal-Blättern wurde es [d. h. das Totenbild] zu seinem Haus getragen.116 Dafür gab uns sein Sohn Spenden,117 und das war unser Ursprung. So ging es weiter. [...] Zeitalter um Zeitalter ging es so weiter. Die Wurzeln dieser Geschichte liegen im Satya Yug.118

Kinkars Aussage ist bemerkenswert, denn sie illustriert in gleich mehrerlei Hinsicht jene Strategie ostindischer Bildrollenkünstler, allseits bekannte Erzählungen aus den klassischen Sammlungen – in diesem Fall eine Ge -schichte aus dem Mahabharata und eine Episode aus karam binti, dem Schöpfungsmythos der Santal – frei auszulegen bzw. umzudeuten, und sich auf diese Weise

108 Große Santal-Gruppen leben außerdem in Assam, Bangladesch und Nepal.

109 Der individualistische, spontane Ausdruck ist die Ausnahme in den traditionellen Künsten Indiens, wo sich das Künstlerindividuum eher in den Details eines nach handwerklichen und ikonografi schen Regeln und Vorbildern hergestellten Werkes verbirgt.

110 Dutt 1932b: 527.111 Archer 1977: 7.112 Faivre/Chakraborty 1980: 111 ff .113 De Selva 1994: 43 ff .114 Hadders 2001. Bereits der bengalische Volkskundler Gurusaday

Dutt (1932b: 526) beschreibt diese „aufgrund persönlicher Untersu-chung als ihre interessanteste Funktion.“

115 Abhimanyu war der Sohn Arjunas, der zentralen Heldenfi gur des Mahabharata.

116 Siehe Abb. 092 und 094. 117 Der Erzähler benutzte das Wort dan – die einem Priester zustehende

Spende, nicht bhiksha, das Wort für das einem Bettler gegebene Almosen. Siehe S. 49.

118 Tonarchiv VMZ: <20000128_jadopatia_jamshedpur_01>; Auf-nahme vom 28. Januar 2000. Satya Yug ist nach hinduistischer Zeit-rechnung das „goldene Zeitalter der Wahrheit“.

DIE JADOPATIA

Der jadopatia Bhodro Chitrakar bei einer Bildrollenvorfüh rung. Gordih. Westbengalen, 2000

eine gesellschaftliche Position selbst zuzuschreiben, die ihnen von ihrem Umfeld nicht zugestanden wird. Es ist dies das Privileg der „Sänger und Spielleute“, die, wie Win ternitz bemerkte, „die epischen Gesänge als ihr Eigentum [betrachteten], mit dem sie sich jede Art von

bildrollen_de_060812.indd 35bildrollen_de_060812.indd 35 08.08.12 13:0508.08.12 13:05

56

002

001

DIE BILDROLLE ALS OBJEKT

Vorherige Seite:RAJKUMAR CHITRAKAR, Potka, Objektlänge: 32 cm

Geschlossene Bildrolle (vgl. 068).

001 BHODRO CHITRAKAR, Gordih, Objektlänge: 33,5 cm

Geschlossene Bildrolle.

002 BABULAL CHITRAKAR, Kalipahari, Objektlänge: 35,5 cm

Geöff nete Bildrolle.

003 SAMESHWAR CHITRAKAR, Kherwa, ca. 31 × 21 cm

Die Tasche des Künstlers mit Bildrollen, so wie er sie eben noch bei einem Besuch umliegender Dörfer mit sich getragen hatte.

bildrollen_de_060812.indd 56bildrollen_de_060812.indd 56 08.08.12 13:0608.08.12 13:06

57

003

DIE BILDROLLE ALS OBJEKT

bildrollen_de_060812.indd 57bildrollen_de_060812.indd 57 08.08.12 13:0608.08.12 13:06

68

018

019

SÜNDEN, TOD UND HÖLLE

018 BIJOY CHITRAKAR, Ort unbekannt, 118 × 19 cm

Zwei Darstellungen der Göttin Kali, auf dem Körper Shivas stehend. Einer Legende zufolge geriet die Göttin einst bei ihrem Kampf gegen die bösen Mächte in solche Raserei, dass sie alles Leben im Universum zu vernichten drohte. Um ihre blinde Wut zu stoppen, warf sich Shiva vor ihr zu Boden, und erst als sie den Gott mit Füßen trat, kam sie wieder zur Besinnung und streckte in jener in Indien typischen Geste weiblicher Verlegenheit die Zunge aus dem Mund.

bildrollen_de_060812.indd 68bildrollen_de_060812.indd 68 08.08.12 13:0908.08.12 13:09

69

020

SÜNDEN, TOD UND HÖLLE

019 RAMESH CHITRAKAR, Dumka, 240 × 18,5 cm

Kali-Rolle; der Künstler schmückte den Anfang seines Werks mit einem Farbdruck der Göttin. Das Alter von Bildrollen ins-besondere der jadopatia ist nur in Ausnahmefällen zu bestim-men, nämlich in den seltenen Fällen, wo der Künstler selbst seinen Namen und eine Jahreszahl auf der Rolle vermerkt. Schätzungen sind deshalb müßig, weil das Altern einer Rolle ganz davon abhängt, wie sie von ihrem Besitzer gebraucht und aufbewahrt wird.

020 Künstler und Ort unbekannt, 35,5 × 10/13 cm

Bildthema: Pishacha. „Im Osten Indiens existiert [...] der Glaube, dass ein pishacha tatsächlich den Tod von Santals verursachen kann. Weiterhin heißt es, der Jadupatua zeige auf Verlangen der Angehörigen eines Verstorbenen das Bild des todbringenden Dämons: der Jadupatua erzählt, wie der pishacha heimlich in das Haus eindrang, indem er von einem Huhn oder einem anderen Tier der Familie Besitz ergriff , welches dann ein Wassergefäß mit seinem Urin besudelte; er erzählt weiterhin, wie der Verwandte unwissentlich von dem verunreinigten Wasser trank und starb“ (Rossi 1998: 126).

Du willst mir nichts geben? 1ERZÄHLER: Subhas Chandra Chitrakar

Du willst mir nichts geben? Also muss ich es aus dir he -rausholen. Und das geht nur, wenn ich dir Angst mache. Also: „Glaubst du eigentlich, ich sitze hier zum Spaß? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie dein Vater ums Leben kam? Schau her!“ Ich zeige ihm die Zeichnung von einem Geist. „Schau her – weißt du, was das ist? Die-ser Geist hat deinen Vater umgebracht!“ Und ich sage: „Wie viele Leute soll er noch töten, dieser Geist? Denke du darüber nach. Ich steh jetzt auf, ich gehe jetzt. Und du – kommst du klar? Es werden weitere Leute sterben in deinem Haus! Du wirst weitere Verluste erleiden!“ [...] – „In Ordnung ... was war es nochmal, was er dir ver- sprach?“ 2 Wenn ich ein Ding verlange, bringst du mir drei, weil du das Geisterbild gesehen hast.

1 Tonarchiv VMZ: <19980617_jadopatia_amadubi>; Aufnahme vom 17. Juni 1998. Antwort des jadopatia S.C. Chitrakar auf die Frage nach dem Vorgehen, wenn ihm in einem Haus das von ihm für cokhodan verlangte Honorar verweigert wird.

2 Der jadopatia hatte dem Sohn des Verstorbenen zuvor gesagt, der Tote habe ihm im Traum für die Durchführung von cokhodan bestimmte Dinge des Haushalts versprochen.

bildrollen_de_060812.indd 69bildrollen_de_060812.indd 69 08.08.12 13:0908.08.12 13:09

058 d

058 e

92 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

bildrollen_de_060812.indd 92bildrollen_de_060812.indd 92 08.08.12 13:1708.08.12 13:17

058 f

93 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

058 d Jahre später – die Kinder sind inzwischen erwachsen geworden – treff en die Jungen bei der Verfolgung eines Hirsches auf die Gruppe der Mädchen, die sich an den Luftwurzeln eines Banyan-Baumes vergnügen. Die Geschwister erkennen sich gegenseitig nicht als solche und beschließen, zu heiraten; die Hochzeit ist hier angedeutet in der festlichen Szene im unteren Bildausschnitt. Die beiden Musiker links neben der Reihe tan-zender Mädchen schlagen die traditionellen Trommeln der Santal: die zweifellige Zylindertrommel tumdak und die Kessel-trommel tamak. Im unteren Bildausschnitt tragen zwei Musiker der Dom-Kaste, die von den Santal als Hochzeitstrommler ange-stellt werden, ihr großes, dhol genanntes Instrument an einer Tragestange.

058 e Dieser Ausschnitt zeigt den im nachfolgenden Liedtext beschriebenen Konfl ikt zwischen den beiden Santal-Clans der Kisku und der Mardi; ganz unten Goda Mardi, der seiner soeben geheirateten Frau, einer Angehörigen des Kisku-Clans, den Kopf abschlägt.

058 f In diesem Bildbereich sind mehrere Episoden des rezi-tierten Textes neben- und durcheinander dargestellt; oben links spielt einer das banam genannte Streichinstrument der Santal, während ein anderer dazu die Flöte (tiriwaw) spielt. Oben rechts sieht man den Jungen, der eine Python häutet, und um ihn herum Kariya, Codra, Lita und die anderen in dem entsprechen-den Teil der Rezitation erwähnten, auf mancherlei Art beschäf-tigten Jungen. In der Bildmitte rechts erkennt man die Frau, die versucht, einen Ochsen zu opfern, ihn jedoch anstatt auf den Kopf auf seine Hinterbacken schlägt, worauf der Ochse in den Wald fl ieht. In der Bildmitte links fi ndet die Kremierung des verstorbenen Pilchu Haram statt, des Ahnvaters der Menschheit. Im unteren Bildbereich sieht man die Nachkommen Pilchu Harams bei den Todesfeierlichkeiten: An dieser Stelle zeigen Bildrollen, die diesen Mythos illustrieren, oft einen jadopatia, der – so wie es die nachfolgende Rezitation beschreibt – damals zum ersten Mal cokhodan für die Santal durchführte.

bildrollen_de_060812.indd 93bildrollen_de_060812.indd 93 08.08.12 13:1708.08.12 13:17

058058 g

94 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

058 g Ganz ungewöhnlich ist an dieser Stelle die Darstellung Yamas, des Herrschers des Jenseits, mit seinem Wasserbüff el. Rechts unter ihm sitzt Chitragupta, der göttliche Schreiber, vor ihm stehen zwei menschliche Gestalten mit fl ehend ausge-streckten Armen. Es folgt die Überquerung des Vaitarani-Flusses, der Grenze zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. Die Seelen der Sünder werden von einem Krokodil gepackt bzw. von einer Schlange gejagt; die Seele einer im Leben tugendhaften Frau wird umstandslos von einer Kuh über den Fluss gezogen. Den Abschluss der Bildrolle bilden vier Szenen mit Darstellungen höllischer Strafen.

bildrollen_de_060812.indd 94bildrollen_de_060812.indd 94 08.08.12 13:1708.08.12 13:17

95 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

Karam Binti 1REZITATOR: Sadhu Chitrakar

Vorbemerkung:Im Folgenden handelt es sich um eine vergleichs-weise kurze karam-Rezitation eines jadopatia. Der Erzähler spricht alle Szenen des Santal-Schöpfungs-mythos an, aus denen sich auch viel längere Versio-nen zusammensetzen, aber er verzichtet weitgehend auf die Herstellung von Sinnzusammenhängen. Er verlässt sich ganz darauf, dass seine Zuhörer mit der vollständigen Geschichte ebenso vertraut sind wie er selbst. Die eckigen Klammern im Text enthalten sinnstiften de Ergänzungen der in sehr knappem Stil gehaltenen Rezitation. Die eingerückten Abschnit te ergänzen den Gesamttext um Passagen, die für das Verständ-nis des Textes und der ihm beigestellten Bilder uner-lässlich sind.

[Hier sind] Sonne, Mond,[in der] Mitte Jaher era.2

[Mit einer] eisernen Ketten-Girlande, [einer] Messing-scheibe[und] Fußglöckchen machten sie Lärm.In dem Lärm kamen diese zwei – Aeini-Kuh[und] Baaeni-Kuh – sehr schöne kapil-Kühe3 – herab, um Wasser zu trinken.

Diese Kühe werden in karam-Rezitationen der jado-

patia stets erwähnt, gelegentlich auch der Schaum von ihren Mäulern, der sich über das Meer verbreitet, aber es fehlt immer der Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf der Geschichte.

Wasser überall; ein Fluss.4

Auf [diesem] Fluss [wurden] [ein] Gänserich [und eine] Gans erschaff en. Fliegend [legten] sie ein Ei;5

[aus] diesem Ei [wurden] diese zwei, Pilchu Haram [und] Pilchu Burhi6 geboren.

Hier7 – diese zwei, höchster Gott [und] höchste Göttin.8

Damals lebten diese beiden.9

[Im] Feuerregen verbrannten sie nicht;damals [überlebten] sie alle [in einer] Felshöhlen- Festung;sie überlebten wie [in einer] Murmu-Festung.10

Höchster Gott [und] höchste Göttin – zu ihrer Zeit lebten diese beiden.

Erdwurm-Königin, Steinkrebs, raghob-bowal-Fisch,Schildkröten-Königin, männliche [und] weibliche Kobra[wurden] gerufen [und] brachten Erde hoch.

Der Erschaff ung der Erde werden hier nur drei Zei- len eingeräumt, zudem abweichend von der üblichen Reihenfolge der Geschehnisse: Marang Buru, der Schöpfer, war vom Himmel auf die unendliche Was-serfl äche herabgekommen. Auf einem schwimmen-den Lotosblatt sitzend rieb er sich den Schmutz vom Körper und formte daraus zwei Gänse. Diese kreis-ten am Himmel bis zur Erschöpfung, und da es nir-gendwo einen Platz gab, wo sie sich niederlassen konnten, setzten sie sich schließlich auf Marang Burus Kopf und blieben dort zwölf Jahre lang. Von den Vögeln besudelt sah Marang Buru schließlich keinen anderen Ausweg, als die Erde zu erschaff en. Mit Ketten band er eine Schildkröte auf der Wasser-fl äche fest, und nachdem mehrere Meerestiere vergeb-lich versucht hatten, Schlamm vom Grund des Mee-res zur Oberfl äche zu bringen, schaff te es schließlich der Wurm, der den Schlamm durch sein Maul auf-nahm und ihn durch sein hinteres Ende auf dem Rücken der Schildkröte ausschied. Die beiden Gänse hatten nun einen Platz zum Brüten, und aus ihren zwei Eiern schlüpfte das erste Menschenpaar: Pilchu Haram und Pilchu Burhi – Alter Mann und Alte Frau. Doch der Feuergott wollte nicht, dass Menschen auf der Erde leben; er ließ es Feuer regnen sieben Tage und Nächte lang. Marang Buru hatte jedoch das Menschenpaar sicher in einer Höhle versteckt. Nach-dem der Feuerregen endete, fragten Pilchu Haram und Pilchu Burhi, wie sie künftig auf der Erde zu leben hätten, und Marang Buru riet ihnen – fi rst things

fi rst und sozusagen als Grundlage für alles weitere –, Reisbier zu brauen:

Damals suchten diese hier [nach] ranu;11 sie brachten [ranu] und sie packten das Reisbier,12

sie wickelten [es in ein] lar-Blatt; sie bewahrten das Reisbier-Bündel [für den Gär-prozeß].Gierig warteten sie [und] schmatzten [mit ihren] Lippen.

Pilchu Haram und Pilchu Burhi tranken das Reis-bier und zeugten betrunken sieben – nach manchen Darstellungen acht – Töchter und sieben Söhne. Doch im Rausch fi ngen sie auch an, zu streiten und sich zu schlagen:

Marang Buru kam herab [während] sie [einander] beschimpften;er sagte: „Warum streitet ihr euch?“

[Wegen] dieses Streits trennten sie sich.„Alte Frau, nimm [du deine] sieben Töchter;Alter Mann, nimm [du deine] sieben Söhne!“

Hier gingen sie 13 [zur] Jagd [im] khandray-Wald.14

Hier suchten [und] pfl ückten sie15 kanthad-Spinat.[Dieser Teil ist] fertig.

bildrollen_de_060812.indd 95bildrollen_de_060812.indd 95 08.08.12 13:1708.08.12 13:17

068

069

104 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

068 RAJKUMAR CHITRAKAR, Potka, 237 × 17,5 cm

Auf Veranlassung Marang Burus machen sich Pilchu Haram und Pilchu Burhi auf den Weg, um im Wald die Zutaten für die Zubereitung von Reisbier zu sammeln.

069 KAMAL CHITRAKAR, Namasar, 491 × 20 cm

Bei einem Baum bricht Pilchu Haram plötzlich besinnungslos zusammen. So verstehen er und seine Frau, dass es dieser Baum ist, dessen Rinde und Blätter als Gärmittel für die Zu- bereitung von Reisbier dienen sollen. In den unteren beiden Bildern dieses Ausschnitts trinken Pilchu Haram und Pilchu Burhi von dem Reisbier, und anschließend schlagen sie sich.

070 GANESH CHITRAKAR, Ramrajpur, 333 × 13/17 cm

Zubereitung und Genuss von Reisbier.

bildrollen_de_060812.indd 104bildrollen_de_060812.indd 104 08.08.12 13:2308.08.12 13:23

070

105 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

bildrollen_de_060812.indd 105bildrollen_de_060812.indd 105 08.08.12 13:2308.08.12 13:23

091

120 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

091 Künstler und Ort unbekannt, 484 × 18,5 cm

Gegen Ende verliert der Schöpfungsmythos, so wie er von den jadopatia gemalt und rezitiert wird, etwas von seiner Stringenz. Es werden hier einige unzusammenhängende Anekdoten aus der frühen Geschichte der Santal kurz angespro-chen, etwa die Ursprungslegende der Cilbindha Gidi Hansdak, einer Untergruppe des Hansdak-Clans der Santal (cil: Adler; bindha: schießen). Der Vorfahre dieses Clans erlegte einen kinder-raubenden Adler, indem er, um präzise zielen zu können, den Pfeil durch das Loch in der Mitte einer Egge (argom) schoss.

092 Künstler unbekannt, Ramrajpur, 616 × 16/20 cm

Schlussszene des Schöpfungsmythos in der Auslegung der jadopatia: Pilchu Haram, der Alte Mann und Ahnvater der Menschen, starb und wird nun kremiert. Ein jadopatia zeigt den Hinterbliebenen die Seelenzeichnung des Ver-storbenen auf einem großen Baumblatt, da es damals noch kein Papier gab. Er vollzieht das Ritual des cokhodan, d. h. er fügt die Pupille in die leere Augenhöhle der gezeichneten Seelen-gestalt ein und macht so den Toten im Jen-seits sehend (siehe S. 71 ff .). Im Gegenzug brin-gen ihm die Angehörigen des Verstorbenen Geschenke; in diesem Fall ein Huhn, eine Mes-singschale und eine Ziege.

bildrollen_de_060812.indd 120bildrollen_de_060812.indd 120 08.08.12 13:2908.08.12 13:29

092

121 DER SCHÖPFUNGSMYTHOS DER SANTAL

bildrollen_de_060812.indd 121bildrollen_de_060812.indd 121 08.08.12 13:2908.08.12 13:29

108

109

132 GÖTTER UND LEGENDEN

108 Künstler und Ort unbekannt, 177 × 19 cm

Leopardengottheit und religiöser Schrein.

109 SANTHI CHITRAKAR, Sampahari, 305 × 18,5 cm

Leopardengottheit und zwei nicht identifi zierte Szenen.

110 LANKESHWAR CHITRAKAR, Kusuma, 216 × 16/20 cm

Mildred Archer beschreibt eine entsprechende Szene wie folgt: „Ein [...] Rollentyp personifi ziert die Clans der Santal, die traditionellerweise berufsbestimmt waren. Ein erstes Bild zeigt oftmals Hor Raja, den mythischen König des Santal-Stammes, wie er auf dem Rücken eines Pferdes reitet und mit seinen Hunden Rotwild und Hasen jagt. [...] Der Kämpfer-Clan (die Sorens) wird durch eine Reihe marschierender Sol-daten mit geschulterten Musketen repräsentiert“ (Archer 1977: 22).

bildrollen_de_060812.indd 132bildrollen_de_060812.indd 132 08.08.12 13:3508.08.12 13:35

110

133GÖTTER UND LEGENDEN

bildrollen_de_060812.indd 133bildrollen_de_060812.indd 133 08.08.12 13:3608.08.12 13:36

12323

142 GÖTTER UND LEGENDEN

bildrollen_de_060812.indd 142bildrollen_de_060812.indd 142 08.08.12 13:3808.08.12 13:38

124

125

143GÖTTER UND LEGENDEN

123 Künstler und Ort unbekannt, 491 × 18 cm

Krishnas rasa-Tanz mit den Hirtinnen.

124 MECHENDRA CHITRAKAR, Shyamsundarpur, 364 × 18/19,5 cm

Krishna tanzt auf dem Kopf der Riesenschlange Kaliya, deren Gift den Yamuna-Fluss verseuchte und das Leben der Hirtin-nen und Hirten und ihrer Herden gefährdete. Die Ehefrauen Kaliyas fl ehen um das Leben ihres Mannes, welches Krishna ihm schenkt, nachdem die Schlangenwesen versprochen haben, den Fluss zu verlassen und in ihre mythische Heimat Ramanaka Dwipa zurückzukehren.

125 VORFAHRE DES JIGAR PATUA, Alumpur, 429 × 54 cm

Ausschnitt aus einer alten patua-Rolle: Die Ehefrauen der Schlange Kaliya fl ehen das Kind Krishna um das Leben ihres Gatten an.

bildrollen_de_060812.indd 143bildrollen_de_060812.indd 143 08.08.12 13:3808.08.12 13:38

168 VERÄNDERUNGEN IN NEUERER ZEIT

Tram Yatra 1SÄNGERIN: Swarna Chitrakar

Die Straßenbahn ist unser geliebtes Transportmittel – oh mein feuriges Herz! Sorglos fahren wir in der Straßenbahn.

Von Naya nahm ich den Bus zum Bahnhof Howrah;dort fühlte ich mich krank und hatte Kopfschmerzen,und ich litt unter der Hitze.

Ich nahm einen Minibus nach Tollygungeund sah ein kleines Kind, gebissen von einer Schlange;seine Eltern hielten es auf dem Schoß und weinten.

Ein Taxi zu nehmen, war ihnen zu teuer – ihre Taschen, Bruder, waren ganz und gar leer.Oh Gott – wo bist du? Zeige nun dein Erbarmen!

Plötzlich kam eine Straßenbahn von Tollygunge,und Vater und Mutter lächelten – sie stiegen ein und fuhren zum P. G. Hospital.2

Es war die Rede von einer Straßenbahn-Ausstellung in Australien;und Michael Douglas und Rajen besuchten mich zu Hause.Aus Naya wieder zurück, begegneten sie Mahadev Da.

Mahadev Da lud mich ein nach Kalkuttaund ließ mich von einer Krankenschwester untersuchen.Im Aurobindo Seva Kendra wurde ich untersucht;im Bericht des Arztes stand „du kannst jetzt nicht verreisen“. 3

Sie fuhren weg nach Australien,und diese unglückliche Swarna und ihr Straßenbahn-Baby blieben zurück.Sie fuhren weg nach Melbourne,und diese unglückliche Swarna und ihr Straßenbahn-Baby blieben zu Hause.

Sie kamen glücklich wieder;ungeduldig hatte ich ihre Rückkehr erwartet.

1 Tonarchiv VMZ: <20051102_bengalpatua_calcutta_08>; Aufnahme vom 2. November 2005.2 Presidency General Hospital.

3 Swarna war zu der Zeit hochschwanger; die Geburt ihres Babys stand unmittelbar bevor.

bildrollen_de_060812.indd 168bildrollen_de_060812.indd 168 08.08.12 13:5308.08.12 13:53

169VERÄNDERUNGEN IN NEUERER ZEIT

153 SWARNA CHITRAKAR, Naya, 277 × 56 cm

Tram Yatra. Nebst Manimala war es vor allem Swarna Chitra-kar, die mit ihren Bildfi ndungen und der Behandlung neuer Th emen zu einer Erneuerung der patua-Tradition beitrug. Diese Rolle bebildert den nebenstehenden Text über ihre verpasste Reise nach Australien.

bildrollen_de_060812.indd 169bildrollen_de_060812.indd 169 08.08.12 13:5308.08.12 13:53

176 VERÄNDERUNGEN IN NEUERER ZEIT

162 SWARNA CHITRAKAR, Naya, 424 × 56 cm

Die Künstlerin kombiniert hier Elemente aus dem Schöpfungsmythos der Santal mit der neunköpfi gen Schlange Shesha Vishnus, die sich wie ein Fluss durch die obere Bildhälfte windet. Die Rolle enthält alle wesentlichen Elemente des Santal-Mythos, so wie er von den jadopatia und seit etwa zwei Jahrzehnten auch von den patua rezitiert wird (bis hin zur Darstellung des Künstlers in der rechten unteren Bildecke, der hier jedoch nicht cokhodan durchführt, sondern eine Bild-rolle vorzutragen scheint); trotzdem ist sie auf ihre visuelle Gesamtwirkung hin angelegt und verzichtet auf die szenische Abfolge einer für den Vortrag bestimmten Bildrolle. Obschon die patua heute in erster Linie vom Verkauf ihrer Bildrollen an städtische Sammler und Liebhaber bengalischer Volkskunst leben, orientieren sich ihre Bildgrößen noch immer stärker an der Tradition als an den Maßen mittelstän-disch-bengalischer Wohnzimmerwände.

bildrollen_de_060812.indd 176bildrollen_de_060812.indd 176 08.08.12 13:5508.08.12 13:55

177VERÄNDERUNGEN IN NEUERER ZEIT

bildrollen_de_060812.indd 177bildrollen_de_060812.indd 177 08.08.12 13:5608.08.12 13:56