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Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Verbraucherbürgschaften als außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge Von Ref. jur. Sina Carolin Brennecke, Bielefeld 236 Öffentliches Recht Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht – Teil 3/6 Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf 241 Normenkontrollen – Teil 2 Fragen der Zulässigkeit: Abstrakte Normenkontrolle Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf 254 Ausgewählte verfassungsrechtliche Fragen am Beispiel der Ersten Juristischen Prüfung Von Akad. Rätin Dr. Silvia Pernice-Warnke, LL.M., Köln 263 Strafrecht Zu den Möglichkeiten echter Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung Von Wiss. Mitarbeiter Manuel Köchel, Rechtsreferendar Christopher Wilhelm, Frankfurt a.M. 269 DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Konkurrenzprobleme im Kaufgewährleistungsrecht Von stud. iur. Stelios Tonikidis, Mannheim 273

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Inhalt AUFSÄTZE Zivilrecht Verbraucherbürgschaften als außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge Von Ref. jur. Sina Carolin Brennecke, Bielefeld 236 Öffentliches Recht

Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Parteienrecht – Teil 3/6

Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf 241 Normenkontrollen – Teil 2 Fragen der Zulässigkeit: Abstrakte Normenkontrolle Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf 254 Ausgewählte verfassungsrechtliche Fragen am Beispiel der Ersten Juristischen Prüfung Von Akad. Rätin Dr. Silvia Pernice-Warnke, LL.M., Köln 263 Strafrecht Zu den Möglichkeiten echter Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung

Von Wiss. Mitarbeiter Manuel Köchel, Rechtsreferendar Christopher Wilhelm, Frankfurt a.M. 269

DIDAKTISCHE BEITRÄGE Zivilrecht Konkurrenzprobleme im Kaufgewährleistungsrecht Von stud. iur. Stelios Tonikidis, Mannheim 273

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Inhalt (Forts.) 3/2014 ÜBUNGSFÄLLE Zivilrecht Übungsklausur: Ausgebootet Von Prof. Dr. Beate Gsell, Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München 282 Übungsklausur im Zivilrecht: Sicherungsgeschäfte Von Wiss. Mitarbeiter Tilman Schultheiß, Leipzig 287 Öffentliches Recht Übungsfall: „Landeskinderklausel“ – Studiengebühren vor dem Bundesverfassungsgericht Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Pfahl, Augsburg 294 Strafrecht Zwischenprüfungsklausur im Strafprozessrecht: Private Investigations Von Dipl.-Jur. Christopher Schöpe, Göttingen 304 ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12 („Ausbootende“ Sanierung – Treuepflichtverletzung einzelner Gesellschafter eines GbR-Fonds infolge Gründung einer Neu-GbR unter Ausschluss einzelner Gesellschafter der Alt-GbR) (Prof. Dr. Stefan J. Geibel, Heidelberg) 312 Öffentliches Recht BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, 2 BvE 9/13, 2 BvE 10/13, 2 BvE 12/13, 2 BvR 2220/13, 2 BvR 2221/13, 2 BvR 2238/13 (Drei-Prozent-Klausel im Europawahlgesetz) (Wiss. Mitarbeiterin Dr. Jennifer Prommer, Augsburg) 317 Strafrecht BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13 (Computerbetrug im automatisierten Mahnverfahren) (Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster) 323 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Zivilrecht BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/12 (Beschreibungen von Kunstgegenständen in Auktionskatalogen in der Systematik des Sachmängelgewährleistungsrechts) (Wiss. Mitarbeiter Marc Hartmann, Bielefeld) 330 Öffentliches Recht BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08 (Rückwirkungsverbot und Handlungsspielraum des Gesetzgebers) (Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster) 333

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Verbraucherbürgschaften als außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge* Von Ref. jur. Sina Carolin Brennecke, Bielefeld Bereits nach geltendem Recht besteht Uneinigkeit über die mögliche Behandlung von Verbraucherbürgschaften als Haus-türgeschäft und die Notwendigkeit einer sogenannten „dop-pelten Haustürsituation“. Doch wird diese Unklarheit durch die neugeschaffenen Vorschriften der §§ 312 ff. BGB zur Um-setzung der Verbraucherrechterichtlinie beseitigt? I. Einleitung Das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungs-vermittlung tritt am 13.6.2014 in Kraft.1 Primäres Ziel der da-durch umgesetzten, als „Verbraucherrechterichtlinie“ bekann-ten Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 ist es, Unstimmigkeiten im zivil-rechtlichen Verbraucherschutz zu eliminieren und Regelungs-lücken zu schließen.2 So soll ein möglichst hohes, einheitli-ches Verbraucherschutzniveau geschaffen und der gemeinsame europäische Binnenmarkt gestärkt werden.3 Es stellt sich die Frage, ob die aufgrund der Umsetzung dieser Richtlinie neu-geschaffenen nationalen Regelungen der §§ 312 ff. BGB Auswirkung auf die rechtliche Beurteilung von Verbraucher-bürgschaften, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Behandlung als Haustürgeschäft, haben. § 312b n.F. BGB definiert den Begriff der außerhalb von Geschäftsräumen ge-schlossenen Verträge. Diese entsprechen in etwa den im gel-tenden § 312 BGB geregelten Haustürgeschäften. Jedoch schafft das neue Recht entgegen der jetzigen Haustürsituation im engeren Sinne eine erhebliche Ausweitung des Anwen-dungsbereichs von außerhalb von Geschäftsräumen geschlos-senen Verträgen. Liegt ein solcher vor, steht dem Verbrau-cher ein Widerrufsrecht nach § 312g n.F. BGB zu. Es stellt sich die Frage, ob eine Verbraucherbürgschaft einen solchen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag dar-stellen kann und für den Bürgen somit künftig unter den jeweiligen Voraussetzungen die Möglichkeit eines Widerrufs der Bürgschaftserklärung besteht.

Schon nach geltendem Recht ist es umstritten, ob und unter welchen Voraussetzungen einem Verbraucher, der mit einem Unternehmer einen Bürgschaftsvertrag in einer Haustürsitua-tion nach § 312 BGB schließt, ein Widerrufsrecht nach § 312 Abs. 1 S. 1 BGB zusteht. Es gilt herauszufinden, ob sich diese Unklarheiten auch nach neuem Recht ergeben oder ob diese vielmehr durch die Regelungen der §§ 312 ff. n.F. BGB be-seitigt werden.

* Der Aufsatz ist anlässlich einer Schwerpunktbereichshaus-arbeit zu dem Thema „Verbraucherbürgschaften nach neuem Recht (BR-Drucks. 498/13)“ entstanden. 1 BGBl. I 2013/58, S. 3662. 2 Erwägungsgrund (2) Verbraucherrechte-RL. 3 Erwägungsgrund (4) Verbraucherrechte-RL.

II. Verbraucherbürgschaften als Haustürgeschäfte nach geltendem Recht Nach geltendem Recht ist die rechtliche Beurteilung eines Bürgschaftsvertrages als Haustürgeschäft im Sinne des § 312 BGB stark umstritten. Streit herrscht dabei sowohl über die Entgeltlichkeit eines Bürgschaftsvertrages als auch über die Notwendigkeit des Vorliegens einer sogenannten „doppelten Haustürsituation“. 1. Das Problem der Entgeltlichkeit Nach § 312 a.F. BGB kann ein Haustürgeschäft nur bei einen Vertrag zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher vorliegen, welcher eine entgeltliche Leistung zum Gegen-stand hat. Eine solche entgeltliche Leistung ist unumstritten bei zweiseitigen Verträgen im Sinne des § 320 a.F. BGB ge-geben.4 Uneinigkeit besteht jedoch darüber, ob dieses Krite-rium auch auf einseitig verpflichtende Verträge, wie eine Bürgschaft, zutreffen kann.

Einer Ansicht zufolge stellt ein Bürgschaftsvertrag keinen Vertrag über eine entgeltliche Leistung im Sinne des § 312 a.F. BGB dar.5 So entschied zunächst auch der IX. Zivilsenat des BGH.6 Nach dem Wortlaut der Vorschrift sei der Begriff der Entgeltlichkeit eng, als Vertrag über Leistung und Gegen-leistung, aufzufassen.7 Es entspreche zudem nicht der Ratio der Vorschrift, diese auf Bürgschaften anzuwenden. So seien die mit unseriösen Vertriebsmethoden einhergehenden Gefah-ren für einen Verbraucher bei einer Bürgschaft nicht zu be-fürchten und der bezweckte Marktvergleich für den Bürgen unnütz.8 Zudem sei der Bürge vom Gesetzgeber bereits be-wusst durch das Schriftformerfordernis des § 766 a.F. BGB9 und § 138 Abs. 1 a.F. BGB geschützt.10

Nach anderer Ansicht ist eine Bürgschaft als entgeltlich im Sinne des § 312 a.F. BGB anzusehen.11 Das Entgelt bestehe in der Gewährung eines Kredits oder der Stundung der Rück-zahlung eines fälligen Darlehens durch den Gläubiger gegen-über dem Hauptschuldner.12 Diese Ansicht versteht den Be-griff der Entgeltlichkeit weit, sodass im Gegensatz zu dem in § 320 a.F. BGB geforderten „gegenseitigen Vertrag“ ledig-

4 Masuch, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, § 312 Rn. 28. 5 Wenzel, NJW 1993, 2781; Gottwald, BB 1992, 1296. 6 BGHZ 113, 287 = NJW 1991, 975; BGH NJW 1991, 2905. 7 BGH NJW 1996, 930 (931). 8 Wenzel, NJW 1993, 2781 (2783); Gottwald, BB 1992, 1296 (1298). 9 Thomas, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 72. Aufl. 2013, § 766 Rn. 1. 10 Wenzel, NJW 1993, 2781 (2783). 11 Looscherlders, Schuldrecht AT, 10. Aufl. 2012, § 9 I. 2. Rn. 161; BGH NJW 1993, 1594; BGHZ 139, 21 = NJW 1998, 2356; Pfeiffer, ZBB 1992, 1 (9); Bydlinsky, WM 1992, 1301 (1302); Klingsporn, WM 1993, 829 (831). 12 Saenger, in: Erman, Kommentar zum BGB, Bd. 1, 13. Aufl. 2011,§ 312 Rn. 27.

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Verbraucherbürgschaften als außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge ZIVILRECHT

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lich ein Bezug zwischen den Leistungen notwendig sei.13 Auch der Sinn und Zweck der Vorschrift stehe diesem nicht entgegen. Zwar seinen unseriöse Vertriebsmethoden bei dem Abschluss eines Bürgschaftsvertrages eher selten, eine ge-wöhnliche Gefährdungssituation setze das Gesetz jedoch nicht voraus. Die Gefährlichkeit des ohnehin risikobehafteten Bürg-schaftsvertrages werde hierdurch vielmehr noch gesteigert.14 Darüber hinaus sei der Schutz des Bürgen über eine eventuelle Widerrufsmöglichkeit seiner Bürgschaftserklärung nicht des-halb als entbehrlich anzusehen, weil dieser bereits über § 138 Abs. 1 a.F. BGB geschützt würde.15

Nähert man sich der Frage über die Entgeltlichkeit einer Bürgschaft nach geltendem Recht jedoch über eine richtlinien-konforme Auslegung, kommt man zu einer klaren Antwort: § 1 HWiG, ebenso wie seine sachlich unveränderte Nachfolge-regelung § 312 a.F. BGB, entstammt der Umsetzung der Haustürgeschäfterichtlinie. Der EuGH entschied in der soge-nannten „Dietzinger-Entscheidung“, dass Bürgschaften grund-sätzlich in den Anwendungsbereich der Haustürgeschäfte-richtlinie fallen können.16 Die Haustürgeschäfterichtlinie weise keinerlei Anhaltspunkte dafür auf, dass es darauf an-komme, dass derjenige, der den Vertrag über die Lieferung einer Ware oder die Erbringung einer Dienstleistung geschlos-sen habe, auch Empfänger dieser Waren oder Dienstleistun-gen sein müsse.17 Die Richtlinie solle vielmehr den Verbrau-cher durch die Möglichkeit eines Widerrufs vor möglicher-weise übereilten, auf Initiative des Verkäufers geschlossenen Verträgen schützen. Dieser Schutz könne dem Verbraucher nicht nur deswegen entzogen werden, weil es sich bei dem geschlossenen Vertrag um einen solchen zugunsten eines Dritten handle.18 Durch diese Entscheidung legte der EuGH den Anwendungsbereich der Haustürgeschäfterichtlinie für die Mitgliedstaaten verbindlich aus, so dass Bürgschaften als von diesem erfasst anzusehen sind.19

Eine Bürgschaft ist mithin nach geltendem Recht zumin-dest im Wege richtlinienkonformer Auslegung als entgeltlich im Sinne des § 312 BGB anzusehen. 2. Die Notwendigkeit einer doppelten Haustürsituation Darüber hinaus gibt es nach geltendem Recht unterschiedliche Auffassungen darüber, ob für die Annahme des Bürgschafts-vertrages als Haustürgeschäft eine sogenannte „doppelte Haus-türsituation“ notwendig ist. Eine solche liegt vor, wenn so-wohl der Bürgschaftsvertrag als auch die abgesicherte Schuld einen in einer Haustürsituation abgeschlossenen Verbraucher-vertrag darstellen.

In der Rechtssache Dietzinger entschied der EuGH, dass die Haustürgeschäfterichtlinie lediglich auf solche Verbrau-cherbürgschaften anwendbar sei, bei denen sowohl der Bürge als auch der Hauptschuldner Verbraucher seien. Es sei mithin 13 Grimm/Rehahn, ZJS 2012, 80 (83). 14 Fuchs-Wissemann, WiB 1994, 147 (150). 15 Fuchs-Wissemann, WiB 1994, 147 (149). 16 EuGH Slg. 1998, I-1199 = NJW 1998, 1295. 17 EuGH Slg. 1998, I-1199 (1221) = NJW 1998, 1295. 18 EuGH Slg. 1998, I-1199 (1221) = NJW 1998, 1295. 19 Zahn, ZIP 2006, 1069 (1070).

eine doppelte Verbrauchereigenschaft nötig.20 In den Ent-scheidungsgründen äußerte der EuGH ferner, dass nur eine solche Bürgschaft von dem Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst sein könne, die eine Hauptschuld absichere, welche ein Verbraucher im Rahmen eines Haustürgeschäftes gegen-über einem Unternehmer eingegangen sei.21 Dieses Erforder-nis einer doppelten Haustürsituation nahm der EuGH in seinem Urteilsspruch jedoch nicht auf.

Nach der Entscheidung des EuGH erklärte auch der IX. Zivilsenat des BGH, in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung,22 § 1 HWiG für generell auf Bürgschaften anwendbar.23 Er legte die Entscheidung des EuGH jedoch dahingehend aus, dass zur Anwendbarkeit der Haustürge-schäfterichtlinie das Vorliegen einer doppelten Haustürsitua-tion als zwingend notwendig anzusehen sei.24 Auch im deut-schen Recht sei eine solche doppelte Haustürsituation im Rah-men des § 1 HWiG zu fordern, da der Gesetzgeber von der sich aufgrund der Mindestharmonisierung der Richtlinie er-gebenden Möglichkeit, einen höheren Verbraucherschutz als den der Richtlinie zu schaffen, keinen Gebrauch gemacht habe.25 Folglich sei eine Gesamtbetrachtung des Bürgschafts-vertrages und abgesicherten Grundgeschäftes anzustellen.

Bereits vor der „Dietzinger-Entscheidung“ des EuGH hatte der XI. Zivilsenat des BGH die Auffassung vertreten, dass auch Bürgschaften und andere Sicherungsverträge vom An-wendungsbereich der Haustürgeschäfterichtlinie erfasst sind.26 Nachdem der EuGH dieser Ansicht prinzipiell zugestimmt und der IX. Zivilsenat diese Entscheidung auch für den Schutz-bereich des § 1 HWiG für bindend erachtet hatte, kam es im Jahr 2000 zu einem Zuständigkeitswechsel innerhalb der Senate des BGH. Für Bürgschaftssachen ist seitdem allein der XI. Senat zuständig.27 Dieser entschied daraufhin, dass es nach deutschem Recht ausreicht, wenn die persönlichen und situativen Voraussetzungen des § 312 a.F. BGB hinsichtlich des Bürgschaftsvertrages erfüllt sind.28 Das zusätzliche Vorlie-gen dieser Voraussetzungen beim Hauptschuldner, und somit eine doppelte Haustürsituation, sei hingegen nicht nötig. Es sei mithin eine Einzelbetrachtung des Bürgschaftsvertrages und des der Hauptschuld zugrundeliegenden Rechtsgeschäftes anzustellen. III. Verbraucherbürgschaft als außerhalb von Geschäfts-räumen geschlossener Vertrag nach künftigem Recht Es stellt sich die Frage, ob die nach geltendem Recht beste-henden Differenzen durch das neue Recht hinfällig werden. 20 EuGH Slg. 1998, I-1199 = NJW 1998, 1295. 21 EuGH Slg. 1998, I-1199 (1222) = NJW 1998, 1295. 22 BGHZ 113, 287 = NJW 1991, 975; BGH NJW 1991, 2905. 23 BGHZ 139, 21 = NJW 1998, 2356. 24 BGHZ 139, 21 (23 f.) = NJW 1998, 2356. 25 BGHZ 139, 21 (26) = NJW 1998, 2356. 26 BGH NJW 1993, 1594; BGHZ 131, 1 = NJW 1996, 55. 27 Bülow, LMK 2006, 171869. 28 BGHZ 165, 363 = NJW 2006, 845.

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AUFSÄTZE Sina Carolin Brennecke

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1. Genereller Anwendungsbereich der §§ 312 ff. n.F. BGB Damit eine Verbraucherbürgschaft einen außerhalb von Ge-schäftsräumen geschlossenen Vertrag nach künftigem Recht darstellen kann, muss diese zunächst dem generellen Anwen-dungsbereich der §§ 312 ff. BGB unterfallen. Diesen defi-niert § 312 n.F. BGB. Demnach sind die sich anschließenden Regelungen nur auf Verbraucherverträge im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB, mithin auf Verträge zwischen einem Unterneh-mer und einem Verbraucher, anzuwenden, die eine entgeltli-che Leistung des Unternehmers zum Gegenstand haben. a) Das Problem der Entgeltlichkeit Auch nach künftigem Recht stellt sich somit die Frage nach der Entgeltlichkeit eines Bürgschaftsvertrages. § 312 n.F. BGB ist jedoch anders als der jetzige § 312 BGB nicht auf die Haustürwiderrufsrichtlinie zurückzuführen, sondern dient der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie. Somit ist zu klä-ren, ob das zu dem Erfordernis der Entgeltlichkeit nach dem geltenden § 312 BGB Dargestellte auch im Rahmen des § 312 n.F. BGB gelten kann.

§ 312 n.F. BGB fordert seinem Wortlaut nach ebenfalls einen Vertrag, der eine entgeltliche Leistung zum Gegenstand hat. Auch hier deutet der reine Wortlaut auf ein enges Ver-ständnis der Entgeltlichkeit als gegenseitigen Vertrag hin, welcher eine Leistung und eine Gegenleistung umfasst.

Vergleicht man jedoch auch hier den in § 312 n.F. BGB geforderten Vertrag über eine „entgeltliche Leistung“ mit dem „gegenseitigen Vertrag“ nach § 320 Abs. 1 S. 1 BGB, könnte man wiederum annehmen, dass § 312 n.F. BGB eben keinen gegenseitigen Vertrag voraussetzt, sondern schon der enge Bezug des Bürgschaftsvertrages zu der gesicherten Hauptfor-derung ausreicht, um eine Entgeltlichkeit anzunehmen. Damit deutet auch eine systematische Auslegung des § 312 n.F. BGB darauf hin, Bürgschaften als Verträge über eine entgeltliche Leistung in diesem Sinne anzusehen.

Sinn und Zweck der §§ 312 ff. n.F. BGB ist es zudem ausweislich diverser Stellungnahmen im Rahmen der Fassung des Gesetzesbeschlusses, einen möglichst umfassenden Ver-braucherschutz zu gewährleisten.29 Der Bürge erhält im Ge-gensatz zum Hauptschuldner bei voller Verpflichtung zur Ab-sicherung der Hauptschuld keinen eigenen Anspruch gegen-über dem Gläubiger. Ein Verbraucher, der sich für die Schuld eines Dritten verbürgt, ist sogar noch schutzwürdiger als ein solcher, der beispielsweise einen Kredit von einem Unter-nehmer aufnimmt. Auch nach dem Telos des § 312 n.F. BGB wäre es somit zu befürworten, die Verbraucherbürgschaft als von seinem Anwendungsbereich erfasst anzusehen.

In der Beschlussempfehlung des Deutschen Bundesstages zu den §§ 312 ff. n.F. BGB heißt es ferner, das Merkmal der entgeltlichen Leistung schränke den Anwendungsbereich der neuen Vorschriften nicht zu weit ein.30 Vielmehr sei der Be-griff der Entgeltlichkeit weit zu verstehen. Zwar heißt es zu-dem, es müsse ein gegenseitiger Vertrag vorliegen, jedoch wird anschließend erwähnt, es seien lediglich Verträge, bei

29 BT-Drs. 17/13951, S. 92. 30 BT-Drs. 17/13951, S. 109.

denen überhaupt keine Gegenleistung geschuldet sei, wie Schenkungsverträge, vom Anwendungsbereich ausgeschlos-sen.31 So kann auch diese Äußerung im Lichte der geforder-ten weiten Auslegung des Begriffes der Entgeltlichkeit dahin-gehend interpretiert werden, dass der enge Bezug der gesi-cherten Hauptforderung zum Bürgschaftsvertrag ausreicht, um eine Entgeltlichkeit zu bejahen. Auch eine historische Ausle-gung spricht mithin für ein weites Verständnis der Entgelt-lichkeit im Sinne des § 312 n.F. BGB.

§ 312 n.F. BGB dient der Umsetzung der Verbraucher-rechterichtlinie. Diese gibt im Gegensatz zu ihren Vorgänger-richtlinien, der Fernabsatz- und der Haustürgeschäfterichtlinie, das Prinzip der Mindestharmonisierung auf und folgt dem Prinzip der Vollharmonisierung.32 Nach diesem dürfen die Mitgliedsstaaten weder Normen, die einen strengeren Verbrau-cherschutz als die Richtlinie vorsehen, noch weniger strenge Verbraucherschutzvorschriften einführen oder beibehalten. Lediglich in manchen Artikeln eröffnet die Richtlinie den Mitgliedstaaten in Rahmen sogenannter Öffnungsklauseln die Möglichkeit, von dem in ihr vorgesehenen Verbraucherschutz-niveau abzuweichen.33 Das Kriterium der Entgeltlichkeit fin-det sich weder in Art. 1 Verbraucherrechte-RL, welcher den Gegenstand der Richtlinie normiert, noch in Art. 3 Verbrau-cherrechte-RL wieder.34 Vielmehr ist nach Art. 3 Verbraucher-rechte-RL, der den Geltungsbereich der Richtlinie festlegt, diese auf jegliche Verträge, die zwischen einem Verbraucher und einem Unternehmer geschlossen werden, anwendbar. Mit-hin ist auch im Wege der richtlinienkonformen Auslegung des § 312 n.F. BGB der Begriff der Entgeltlichkeit weit zu verstehen.

Die überzeugenderen Argumente sprechen folglich dafür, die Bürgschaft wie nach geltendem Recht als entgeltliches Rechtsgeschäft zu verstehen. Eine Verbraucherbürgschaft kann mithin einen entgeltlichen Vertrag im Sinne des § 312 n.F. BGB darstellen. b) Einschränkung auf eine entgeltliche Leistung des Unter-nehmers Es gilt ferner zu klären, wie es zu verstehen ist, dass nach dem Wortlaut § 312 n.F. BGB explizit nur noch Verträge, bei denen der Unternehmer die entgeltliche Leistung erbringt, vom Anwendungsbereich der §§ 312 ff. n.F. BGB erfasst sein sollen. Wie bereits dargestellt, könnte bei einem Bürgschafts-vertrag eher die Bürgschaftserklärung als Leistung und die Gewährung der Hauptschuld als Entgelt verstanden werden.

Dies hieße jedoch dem reinen Wortlaut der Vorschrift zu-folge, dass ein Verbraucherbürgschaftsvertrag nicht mehr vom Anwendungsbereich der §§ 312 ff. n.F. BGB erfasst werden könnte.

31 BT-Drs. 17/13951, S. 110. 32 BT-Drs. 17/12637, S. 1. 33 BT-Drs. 17/12637, S. 1. 34 Schmidt-Kessel, Stellungnahme zum Entwurf eines Geset-zes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermitt-lung, S. 28.

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Jedoch steht der Telos der neuen Vorschriften der Annah-me eines Ausschlusses der Bürgschaft vom Anwendungsbe-reich der §§ 312 ff. n.F. BGB entgegen. So würde der Sinn und Zweck der neuen Vorschriften, einen möglichst hohen und umfangreichen Verbraucherschutz zu gewähren, durch einen Ausschluss der Verbraucherbürgschaft von ihrem An-wendungsbereich vereitelt. Gerade der sich verbürgende Ver-braucher ist aufgrund der Tatsache, dass er bei voller Ver-pflichtung entgegen dem Hauptschuldner selbst keinen An-spruch auf Auszahlung, beispielsweise der Darlehensvaluta, hat, besonders schutzwürdig. So kann es nicht dem Sinn und Zweck der §§ 312 ff. n.F. BGB entsprechen, eine Verbraucher-bürgschaft von deren Schutzwirkung auszunehmen.

Nach der Begründung der Bundesregierung zum Gesetzes-entwurf heißt es zudem, Verträge, in denen sich der Verbrau-cher gegenüber dem Unternehmer zur Lieferung einer Ware verpflichtet, seien entsprechend der Schutzwirkung der Richt-linie vom Anwendungsbereich ausgenommen.35 So seien ins-besondere die Informationspflichten des Unternehmers über die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung etc. nur sinnvoll, wenn der Unternehmer diese Angaben kenne. Bei einem Bürgschaftsvertrag macht es jedoch Sinn, wenn der Unternehmer dazu verpflichtet wird, einen sich verbürgenden Verbraucher über die wesentlichen Merkmale des beispiels-weise zugrundeliegenden Kreditvertrages aufzuklären. Auch die Entstehungsgeschichte der §§ 312 ff. n.F. BGB deutet folglich nicht zwingend darauf hin, dass der Eingrenzung auf eine entgeltliche Leistung des Unternehmers ein Ausschluss von Verbraucherbürgschaften impliziert ist.

Die Begriffsbestimmungen des Kaufvertrages und des Dienstleistungsvertrages in Art. 2 Nrn. 5 und 6 Verbraucher-rechte-RL stellen auf die Lieferung einer Ware und die Er-bringung einer Dienstleistung des Unternehmers an den Ver-braucher ab. Daraus könnte geschlossen werden, dass eine Bürgschaft nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie er-fasst würde. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass Art. 3 Ver-braucherrechte-RL, der laut seines Titels den Geltungsbereich der Richtlinie festlegt, eine solche Einschränkung nicht vor-sieht. Auch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 312 n.F. BGB spricht somit dafür, dass eine Verbraucherbürgschaft, trotz der Beschränkung auf eine entgeltliche Leistung des Unternehmers, vom Anwendungsbereich der §§ 312 ff. n.F. BGB erfasst ist.

Folglich ist es nach einer Auslegung des § 312 n.F. BGB schlüssiger, einen Verbraucherdarlehensvertrag als nicht durch die Einschränkung auf eine entgeltliche Leistung des Unter-nehmers von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen an-zusehen. c) Fazit Zwar sind Anhaltspunkte aufzuweisen, die gegen die Anwend-barkeit der §§ 312 ff. n.F. BGB auf eine Verbraucherbürg-schaft sprechen, jedoch überwiegen die Argumente für eine solche. Die Verbraucherbürgschaft ist mithin als vom Anwen-dungsbereich nach § 312 n.F. BGB erfasst anzusehen. 35 BT-Drs. 17/12637, S. 45.

2. Das Erfordernis einer doppelten Haustürsituation Offen ist jedoch darüber hinaus, ob nach neuem Recht für ein Widerrufsrecht des Bürgen nach § 312g n.F. BGB eine dop-pelte Haustürsituation zu fordern ist.

Durch den Wortlaut des § 312b n.F. BGB wird der An-wendungsbereich einer Haustürsituation nach geltendem Recht erheblich ausgeweitet. Rückschlüsse auf die Notwendigkeit des Vorliegens einer doppelten Haustürsituation lassen jedoch weder der Wortlaut des § 312b n.F. BGB noch der Wortlaut des § 312g n.F. BGB zu.

Sinn und Zweck der neu geschaffenen Vorschriften ist es, einen möglichst umfangreichen und einheitlichen Verbraucher-schutz zu gewährleisten.36 Es erscheint somit nicht sinnvoll, einem Verbraucher, der in einer Haustürsituation eine Ver-pflichtung eingeht und dafür eine Gegenleistung vom Unter-nehmer erhält, stärker zu schützen als denjenigen, der sich in einer Haustürsituation gegenüber einem Unternehmer für die Verbindlichkeit eines Dritten verbürgt, ohne dabei selbst eine Gegenleistung zu erhalten. Es entspricht somit der Ratio der §§ 312b, 312g n.F. BGB, lediglich das Vorliegen einer einfa-chen Haustürsituation hinsichtlich des Bürgschaftsvertrages für ein Widerrufsrecht des Bürgen zu fordern.

Hinsichtlich des Anwendungsbereiches der Haustürge-schäfterichtlinie hat sich der EuGH in seinem Urteilsspruch für die Notwendigkeit einer doppelten Verbrauchereigenschaft bei Bürge und Hauptschuldner ausgesprochen.37 In der Urteils-begründung betonte er zudem, dass zur Anwendbarkeit der Richtlinie auf eine Bürgschaft eine doppelte Haustürsituation notwendig sei.38 Lediglich aufgrund der Mindestharmonisie-rung der Haustürgeschäfterichtlinie war es den Mitgliedsstaa-ten der EU möglich, für den Verbraucher günstigere Vor-schriften zu erlassen. Mithin war es im Rahmen des § 312 a.F. BGB möglich, allein das Vorliegen einer einfachen Haustür-situation hinsichtlich des Bürgschaftsvertrages als Vorausset-zung für ein Widerrufsrecht des Bürgens anzusehen.

Es ist abzuwarten, ob der EuGH diese Ansicht auch hin-sichtlich der Verbraucherrechterichtlinie weiterhin vertreten und mithin auch für die Anwendung dieser auf Bürgschaften eine Gesamtbetrachtung, somit eine doppelte Haustürsituation, fordern wird.

Aufgrund des weiteren Wortlautes der Verbraucherrechte-richtlinie kann dies nicht mit Sicherheit angenommen wer-den.39 Sollte sich der EuGH jedoch für die Notwendigkeit des Vorliegens einer doppelten Haustürsituation aussprechen, so müsste eine solche aufgrund der Vollharmonisierung der Ver-braucherrechterichtlinie auch im Rahmen des § 312b n.F. BGB als unabdingbar vorausgesetzt werden. Nur wenn der EuGH entgegen der hier vertretenden Auffassung entscheiden sollte, dass Bürgschaftsverträge nicht unter den Anwendungsbereich der Verbraucherrechterichtlinie fallen, wären diese nicht von der Bindungswirkung der Vollharmonisierung der Richtlinie erfasst. Dann wäre es dem deutschen Gesetzgeber möglich,

36 BT-Drs. 17/13951, S. 92. 37 EuGH Slg. 1998, I-1199 = NJW 1998, 1295. 38 EuGH Slg. 1998, I-1199 (1222) = NJW 1998, 1295. 39 Grimm/Rehahn, ZJS 2012, 80 (85).

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AUFSÄTZE Sina Carolin Brennecke

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den Bürgen eigenständig zu schützen.40 So könnte im natio-nalen Recht eine Einzelbetrachtung bei der Beurteilung eines möglichen Widerrufsrechts eines Bürgen vorgesehen und das Vorliegen einer Haustürsituation im Bezug auf den Bürg-schaftsvertrag als ausreichend erachtet werden.

Es ist davon auszugehen, dass sich künftig Streitigkeiten hinsichtlich der Notwendigkeit einer doppelten Haustürsitua-tion nach der Verbraucherrechterichtlinie ergeben werden, welche ausschließlich durch eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV beseitigt werden können. IV. Ergebnisse und Ausblick Eine Verbraucherbürgschaft ist nach der hier vertretenen An-sicht als von dem Anwendungsbereich der neuen Vorschrif-ten der §§ 312 ff. BGB zur Umsetzung der Verbraucherrech-terichtlinie erfasst anzusehen. Unter den jeweiligen Voraus-setzungen kann eine solche einen außerhalb von Geschäfts-räumen geschlossenen Vertrag darstellen und somit ein Wider-rufsrecht des Bürgen auslösen.

Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die in § 312 n.F. BGB geforderten Voraussetzungen der Entgeltlichkeit und der Leistung eines Unternehmers in Bezug auf eine Ver-braucherbürgschaft zu kontroversen Diskussionen und Unei-nigkeit führen wird. Gegebenenfalls wäre eine Vorlage an den EuGH denkbar, um zu klären, ob eine Verbraucherbürgschaft tatsächlich dem Anwendungsbereich der Richtlinie unterfällt und um sich der Richtlinienkonformität des generellen Anwen-dungsbereiches nach § 312 n.F. BGB zu versichern.

Hinsichtlich der rechtlichen Einordnung der Verbraucher-bürgschaft als außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag und einer damit verbundenen Widerrufsmöglichkeit des Verbrauchers bringt das Gesetz zur Umsetzung der Ver-braucherrechterichtlinie mithin keine abschließende Klarheit mit sich. Das Ziel der Richtlinie, Unstimmigkeiten im zivil-rechtlichen Verbraucherschutz zu eliminieren und Regelungs-lücken zu schließen, um so ein verbraucher- und rechtsanwen-derfreundliches Reglement zu schaffen, könnte deshalb ver-fehlt werden.

40 Grimm/Rehahn, ZJS 2012, 80 (85).

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Der Lebenszyklus politischer Parteien – Eine „evolutionäre“ Einführung in das Par-teienrecht – Teil 3/6 Von Prof. Dr. Julian Krüper, Bochum, Dr. Hana Kühr, Düsseldorf* I. Rückblick auf die vorangegangenen Beiträge Im ersten Beitrag dieser Reihe1 stand im Mittelpunkt, die Parteien als von Bürgern gegründete – grundrechtsverankerte – Akteure des politischen Systems zu verstehen, das das Grundgesetz errichtet. Der unmittelbar vorangegangene zweite Beitrag2 konzentrierte sich auf Fragen rund um die Gründung politischer Parteien. Zentraler Ausgangspunkt war die verfas-sungsrechtliche Rechts- und Pflichtenstellung der Parteien, wie sie sich aus Art. 21 GG ergibt. Die Bedeutung des einfachge-setzlichen Parteienbegriffs wurde erörtert und die Bedeutung von Parteisatzungen als Rechtstexten und von Parteiprogram-men als politischen Dokumenten wurde erwogen. Schließlich wurden die Grundstrukturen des für Bürger und Parteien glei-chermaßen wesentlichen Mitgliedschaftsverhältnisses vorge-stellt. II. Einführung: Entwicklung von Parteistrukturen Haben sich Bürger zur Gründung einer politischen Partei ent-schlossen und die vergleichsweise geringen Gründungsforma-litäten erfolgreich bewältigt,3 stellen sich ihnen regelmäßig erheblich schwierigere organisatorische Herausforderungen. Die Partei muss sich am Markt des politischen Wettbewerbs profilieren und bewähren, um von den Bürgerinnen und Bür-gern überhaupt wahrgenommen und im Idealfall auch gewählt zu werden. Dies setzt die Entwicklung organisatorischer, mit-gliedschaftlicher und wesentlich natürlich auch finanzieller Ressourcen voraus. Die Entwicklung dieser Ressourcen wird dabei vom Verfassungsrecht wie vom einfachgesetzlichen Parteien- und Vereinsrecht begleitet und geprägt. Die Bereit-stellung eines Rahmens und vorgeprägter Organisationsstruk-turen durch das Recht hat dabei eine doppelte Funktion, näm-lich der Ermöglichung und der Begrenzung gleichermaßen. Diese Doppelfunktion des Rechts ist in einem grundlegenden Sinne kennzeichnend für das rechtsstaatliche System des Grundgesetzes.4 Innerhalb dieses Systems ordnet das einfache Recht die Rechtsbeziehungen zwischen Personen, Personen und Sachen und Personen und Institutionen nicht nur in be-grenzender Weise, sondern auch durch die Bereitstellung von Handlungsformen (z.B. Verträgen), vermögensrechtlichen In-strumenten (z.B. Hypotheken) und organisationsrechtlichen * Julian Krüper ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsfor-schung an der Ruhr-Universität Bochum; Hana Kühr ist Rechtsreferendarin am Landgericht Düsseldorf und war bis 2012 Mitarbeiterin am Institut für deutsches und internationa-les Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) an der HHU Düsseldorf. Stud. iur David A. Hug hat bei der Manuskript-redaktion wertvolle Hilfe geleistet. 1 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 16. 2 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143. 3 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143 (152). 4 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 1, 4.

Strukturen (z.B. Vereinen, Aktiengesellschaften, Stiftungen), mittels derer Bürger praktisch Gebrauch von ihren Grund-rechten machen können. Aus der Bereitstellung einer rechtli-chen Form folgt aber gleichzeitig stets auch der Ausschluss anderer Formen und Optionen: Wer einen Verein gründet, gründet keine Aktiengesellschaft, wer eine Partei gründet, kann nicht die Organisationsform einer politischen Stiftung anneh-men. Der Dualismus von Ermöglichung und Begrenzung kenn-zeichnet daher auch die Strukturen des Parteienrechts, und das sogar in besonderer Weise. Die ambivalente Stellung der Parteien zwischen Staat und Gesellschaft, ihre intermediäre Position5 als grundrechtsbasierte Organisation der Bürger einerseits und als Einrichtungen des Verfassungslebens ande-rerseits prägt eine Vielzahl konkreter, zum Teil schwieriger Rechtsfragen. III. Organisatorisches Wachstum politischer Parteien 1. Gebietsverbandliches Wachstum a) Landes-, Bezirks-, Kreis-, Ortsverbände Zur Steigerung der Erfolgschancen einer Partei bei Wahlen ist es unerlässlich, dass sie möglichst „nah am Menschen“ arbeitet, durch ihre Vertreter ansprechbar ist und damit Im-pulse und Anregungen vor Ort aufnehmen und in den politi-schen Willensbildungsprozess einspeisen kann. Mindestens aber bedarf sie im Wahlkampf lokaler Unterstützung, um etwa Werbematerial verteilen, Plakate kleben und Informations-stände bestücken zu können. Ausdehnung in der Fläche muss deshalb wichtige Priorität einer neu gegründeten Partei sein. Dass dabei wesentliche organisatorische Impulse auch „von oben“ ausgehen können, zeigt das Beispiel der AfD, die nach der Gründung ihres Bundesverbandes im Februar 2013 zwi-schen März und April 2013 in sämtlichen Bundesländern Landesverbände gründete.

Die Vorgaben für die organisatorische Verbandsstruktur, die das Parteiengesetz macht, sind eher schmal. Zentral ist § 7 Abs. 1 S. 1 PartG, wonach sich die Parteien in Gebiets-verbände gliedern. Welche Verbände dies genau sind, gibt § 7 PartG nicht vor. Entscheidend ist aber, dass die gebietli-che Organisation der Parteien hinreichend ist, um den Mit-gliedern eine angemessene Beteiligung an der innerparteili-chen Willensbildung zu ermöglichen, § 7 Abs. 1 S. 3 PartG.

Mit der Entscheidung für eine gebietliche Gliederung der Parteien sind andere Formen der Binnenorganisation also ausgeschlossen. Die Parteien könnten sich nicht etwa alterna-tiv in Interessengruppen gliedern, also an Stelle von Landes-, Bezirks- oder Ortsverbänden eine Vielzahl von Arbeitskrei-sen und Interessenvertretungen bilden, die jeweils Delegierte zu Parteitagen entsenden. Zwar ist die Einrichtung solcher Interessengruppen den Parteien möglich. So gibt es etwa be-sondere Vereinigungen von Juristen in einigen Parteien, ge-läufiger sind etwa gesonderte Vereinigungen von Frauen oder

5 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143 (144) m.w.N.

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AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr

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Senioren. Diese Vereinigungen sind jedoch nicht Teil der Parteiorganisation des Parteiengesetzes.6

Wie sich die verschiedenen Ebenen der Partei zueinander verhalten, ist eine nach wie vor nicht restlos geklärte Frage. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Mitgliedschaft in der höchsten Verbandsebene, also zumeist der Bundesebene, die Mitgliedschaft in den nachgelagerten Ebenen zur Folge hat, man spricht von einer „gestuften Mehrfachmitglied-schaft“.7 b) Bundesverband Mustert man das PartG auf Hinweise zu den Bundesverbän-den, ist man überrascht. Das Gesetz verhält sich praktisch nicht zu dieser Organisationsebene. Zwar knüpft es bei den Vorschriften über die Parteienfinanzierung an diese Ebene an, erkennbar denkt das Gesetz aber die politischen Parteien nicht „von oben“. Das steht in Widerspruch zur medialen Wahrnehmung der politischen Parteien. In der Regel spielen Landesverbände der einzelnen Parteien nur insoweit eine wichtige Rolle, wie sie programmatisch abweichend von der Bundesebene in Erscheinung treten wollen. Rechtlich betrach-tet sind die Parteien daher „Föderationen ihrer Landespartei-en“ 8.

Die Gründung eines Bundesverbandes ist also für den Be-stand von Parteien keine notwendige Bedingung, allerdings organisatorisch überaus zweckmäßig. Sie entspricht auch dem allgemein zu verzeichnenden Trend zu einer hochgradi-gen Professionalisierung politischer Parteien: Die Ausbildung einzelner Ebenen führt nämlich auch zur Ausbildung korres-pondierender Parteiapparate als dem jeweiligen „Maschinen-raum der Parteiorganisation“9. Über einen professionalisierten Parteiapparat können erhebliche Steuerungsgewinne innerhalb der politischen Partei erzielt werden, die wesentlich zu einer Handlungs- und Wahrnehmungsfähigkeit am politischen Markt beitragen können. Parteiapparate sind – übrigens durchaus vergleichbar den Mitarbeitern in den Parlamentsfraktionen – weder politikwissenschaftlich und erst recht nicht juristisch eingehend erforscht. Ihr erheblicher Einfluss liegt „im Schat-ten der Macht“ und wird von der Rechtswissenschaft schon deswegen kaum eingehend gewürdigt, weil sich die Rekrutie-rung und die Organisation nicht in den Strukturen des Parteien-rechts abbilden lassen. Sie sind deswegen natürlich nicht illegal, aber extralegal. c) Die „AfD“ als Beispiel Gegenwärtig lässt sich an der noch neuen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) deutlich der idealtypische Organisa-tionsprozess politischer Parteien beobachten. Die Partei muss, um mit einigermaßen wahrscheinlichem Erfolg an bundes-

6 Ipsen, in: Ipsen (Hrsg.), Parteiengesetz, Kommentar, 2008, § 7 Rn. 3 f. 7 Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidatenaufstellung, Handkommentar, 2011, § 7 Rn. 15. 8 Poguntke/Bukow, in: Niedermayer (Hrsg.), Handbuch Par-teienforschung, 2013, S. 179 (181). 9 Poguntke/Bukow (Fn. 8), S. 192.

weiten Wahlen wie der Bundestags- und der Europawahl teil-nehmen zu können, gleichermaßen in „die Breite“ wie in „die Höhe“ wachsen. Sie muss sich in der „Ebene“ der Bundes-länder also ebenso ansiedeln wie sie einen Bundesverband braucht, um bundesweit mit „einer Stimme“ sprechen zu kön-nen.

Eine rechtliche Vorgabe, in welcher Reihenfolge Landes-verbände und Bundesverband, Kreis- oder Ortsverbände ge-gründet werden müssen, gibt es dabei nicht. Typischerweise laufen solche Prozesse nicht vollständig geordnet, sondern spontan und sich zeitlich wechselseitig überlappend ab. Die Entstehung von Parteiorganisationsstrukturen lässt sich be-schreiben als eine quasi-organische, nicht aber zwingend als systematische Entwicklung. Darin kommt zum Ausdruck, dass ein freier Bürgerwille zu einem politischen Zusammenschluss eine Parteigründung auslöst. Ein solcher freier Bürgerwille kann zwar angeregt und gefördert, kaum aber zwingend pro-grammiert werden. Dabei kommt es zu Kontroversen und Konflikten, zu Meinungsverschiedenheiten und Machtkämp-fen der beteiligten Personen und Verbände. Für die politische Durchsetzungsfähigkeit, also die Erfolgsaussichten einer Par-tei mag dabei indiziell sein, wie gut es einer Partei gelingt, solche Konflikte auszutragen, ohne dabei in der öffentlichen Wahrnehmung als zerstritten und chaotisch wahrgenommen zu werden. 2. Parteifusion als Sonderfall der Gründung einer neuen Partei a) Beispiele Parteien können natürlich nicht nur aus sich heraus wachsen, sondern sich auch strategisch mit anderen Parteien zu einer neuen Partei zusammenschließen. Beispiele dafür gibt es durchaus zahlreiche.10 So schlossen sich nach der Wiederver-einigung die etablierten „Westparteien“ mit ihnen program-matisch nahestehenden ostdeutschen Parteien zu gesamt-deutsch agierenden Parteien zusammen.11

Aber auch von dieser historisch und politisch wohl ein-maligen Situation abgesehen kommt es, wenn auch nur sehr selten, zu Parteifusionen. Die wohl prominenteste ist der Zu-sammenschluss der Partei „Die Linke“, vormals als PDS die bundesdeutsche Nachfolgepartei der SED, mit der „Wahlal-ternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (WASG), einem 2004 gegründeten Zusammenschluss ehemaliger SPD-Mitglie-der und Gewerkschafter, die sich gegen die „Agenda-Politik“ der von Gerhard Schröder geführten rot-grünen Bundesregie-rung wandten. PDS und WASG schlossen sich 2007 zu einer gemeinsamen Partei zusammen. Dies war rechtlich und rechts-politisch betrachtet insoweit eine Besonderheit, als die Partei-fusionen 1990 im zeitlichen Umfeld der Wiedervereinigung einer gesonderten rechtlichen Regelung durch § 13a PartG-DDR unterlagen. Die rechtliche Wirksamkeit der Fusion von Bündnis’90/Die Grünen durch Urabstimmung 1993 wurde

10 Überblick bei Neuhaus, Parteifusionen und -abspaltungen, 2010, S. 21 ff. 11 Kunig, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 21 Rn. 8.

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Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 3/6 ÖFFENTLICHES RECHT

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nur deswegen nicht nachhaltig in Frage gestellt, weil sie noch den wiedervereinigungsbedingten Sonderlagen zugerechnet wurde.12 b) Rechtsfragen Das Parteiengesetz regelt den Zusammenschluss von Parteien nicht, setzt ihn aber als möglich voraus, §§ 6 Abs. 1 Nr. 11, 9 Abs. 3 PartG. Dass Verschmelzungsregeln in der Parteisat-zung vorgesehen sein müssen, vgl. § 6 Abs. 2 Nr. 11 PartG, und dass der Parteitag als höchstes Gremium über die Ver-schmelzung entscheidet, vgl. § 9 Abs. 3 PartG, zeigt bereits, dass die Verschmelzung von Rechts wegen eine Sondersitua-tion ist, die keinesfalls en passant und etwa nur durch einen Vorstandsbeschluss erledigt werden kann. Aus der Vielzahl der mit einer Verschmelzung verbundenen Rechtsfragen seien hier beispielhaft zwei besonders hervorgehoben. aa) Rechtliche Form der Verschmelzung Fraglich ist bereits, wie eine Verschmelzung zweier Parteien rechtlich vollzogen werden kann. Im Grundsatz kommt den Parteien von Verfassungs wegen Organisationsfreiheit zu,13 das einfache Recht könnte sich also um diese Frage einfach „nicht kümmern“. Gleichzeitig muss die Rechtsordnung auch zum Schutze des Rechtsverkehrs sicherstellen, dass Klarheit über Verbandsstrukturen, -zugehörigkeiten und -befugnisse herrscht, was gerade bei den politischen Parteien wichtig ist, die als „Spezialorganisationen“14 über besondere politische Einflussmöglichkeiten verfügen. Theoretisch hält die allge-meine Rechtsordnung eine Reihe von Verfahren zur Ver-schmelzung von Organisationen bereit,15 von denen für poli-tische Parteien rechtlich und praktisch indes nur wenige in Betracht kommen.

So scheitert etwa die Gründung einer Dachpartei, in der nur die zwei neuen Parteien Mitglieder wären, die ihrerseits alle bislang bestehenden Strukturen erhielten, an § 2 Abs. 1 S. 2 PartG. Nach dieser Vorschrift sind als Mitglieder von Parteien nur natürliche Personen zugelassen, weil Parteien Organisationen der Grundrechtsbetätigung natürlicher Perso-nen, nicht juristischer Personen sein sollen. Erklärlich wird dies durch den Gedanken strikter Gleichheit der politischen Beteiligungsrechte des Individuums in der Demokratie: Wer Mitglied einer Partei ist, soll nicht allein dadurch stärkeren Einfluss gewinnen, dass diese die Möglichkeit hat, sich wie-

12 Morlok, Gutachten zu Fragen einer Fusion zwischen WASG und Linkspartei, 2006 (unveröff.), S. 28. 13 Kersten, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht, 2009, § 1 Rn. 37 m.w.N.; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 21 Rn. 42; Krüper/Kühr, ZJS 2014, 143 (150 ff.). 14 Morlok, in: Niedermayer (Fn. 8), S. 241 (254); ausführlich ders., in: Bäuerle/Dann/Wallrabenstein (Hrsg.), Demokratie-Perspektive, Festschrift für Brun-Otto Bryde, 2012, S. 231 (244 ff.). 15 Gesamtüberblick erstmals wohl bei Morlok, (Fn. 12), S. 13 ff., Zusammenstellung auch bei Neuhaus (Fn. 10), S. 38 ff.

derum zu größeren und schlagkräftigeren Organisationsein-heiten zusammenzuschließen und dadurch mehr Einfluss-chancen zu bekommen, als anderen Parteien zukommen.

Da die meisten politischen Parteien als nicht rechtsfähige Vereine i.S.d. § 54 BGB organisiert sind, können sie sich nicht nach den Sondervorschriften des Umwandlungsgesetzes (UmwG) zusammenschließen. Dieses Gesetz regelt die Viel-zahl komplexer Rechtsfragen, die sich beim Zusammenschluss juristischer Personen ergeben. Es findet indes keine Anwen-dung auf nicht rechtsfähige Vereine. Den Parteien bliebe da-her nur der Zusammenschluss nach zivilrechtlichen Grund-sätzen, also entweder durch Aufnahme einer Partei in die an-dere oder durch Gründung einer neuen gemeinsamen Partei. So oder so müssten aber alle Rechte der aufgelösten Partei(en) an die neue Nachfolgeorganisation mittels eines Fusions-vertrages übertragen werden (Zusammenschluss durch Einzel-rechtsübertragung). Das beträfe also Übertragungen des Grund- und Mobiliarvermögens, von Forderungsbeständen (gegen private Gläubiger und – besonders schwierig – gegen den Staat als Träger der Parteienfinanzierung16) und Gesell-schaftsanteilen ebenso wie die Übertragung der Mitglied-schaftsverhältnisse. Praktisch wird damit ein Zusammen-schluss von Parteien kraft Einzelrechtsübertragung so gut wie unmöglich gemacht.17

Da den Parteien verfassungsrechtlich das Recht zum Zu-sammenschluss zusteht, ist das einfache Recht allerdings in der Pflicht, praktikable rechtliche Optionen des Zusammen-schlusses bereitzustellen. Daher wird eine analoge Anwen-dung der Vorschriften des UmwG auf den Zusammenschluss von Parteien als nicht rechtsfähige Vereine gefordert, weil die verfassungsrechtlich gewährleistete Gründungsfreiheit der Par-teien dies gebiete.18 Dagegen wenden sich Stimmen der ver-eins- und gesellschaftsrechtlichen Literatur, die weder eine verfassungsrechtliche Korrektur des UmwG durch Verweis auf die Gründungsfreiheit der Parteien noch durch Verweis auf die Chancengleichheit der politischen Parteien zulassen wollen.19 Danach bleibt den Parteien im Interesse einer rei-bungslosen Fusion nur ein Rechtsformwechsel hin zu einem rechtsfähigen Verein, dem die Fusion nach dem UmwG so-dann offenstünde.20 Zwar ist der Wechsel vom nicht rechtsfä-higen zum rechtsfähigen Verein, der durch eine Eintragung ins Vereinsregister erfolgt, nicht ohne Aufwand, namentlich ist eine Satzungsänderung durch den jeweiligen Bundes-parteitag notwendig, § 9 Abs. 3 PartG. Im Vergleich zu einer Fusion durch Einzelrechtsnachfolge ist dies aber noch immer der einfachere Weg. bb) Mitgliedschaftsverhältnis Unabhängig davon, ob sich Parteien, die als nicht rechtsfähige Vereine organisiert sind, nach zivilrechtlichen Vorschriften oder nach Maßgabe des UmwG zusammenschließen wollen, kommt mitgliedschaftsrechtlichen Fragen eine besondere Be- 16 Neuhaus (Fn. 10), S. 136 ff. 17 Neuhaus (Fn. 10), S. 78. 18 Morlok (Fn. 12), S. 38 ff. 19 Insgesamt m.w.N. Neuhaus (Fn. 10), S. 99 ff., 102, 106. 20 Neuhaus (Fn. 10), S. 106 ff.

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AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr

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deutung zu. Parteien sind keine Unternehmen, die ihre Mit-glieder vertraglich an sich gebunden haben. Parteien sind grundrechtlich motivierte, freiwillige Zusammenschlüsse von Bürgern zur Verfolgung gemeinsamer politischer Zwecke. Das bedeutet, dass den Mitgliedern wesentliche Änderungen in der Parteistruktur nicht oktroyiert werden können, sondern nur mit ihrer Zustimmung erfolgen dürfen. Namentlich kann ein Mitgliedschaftsverhältnis zu einer Partei nicht ohne wei-teres auf eine andere Partei übertragen werden. Im Falle einer Fusion durch Einzelrechtsübertragung ist daher die ausdrück-liche Zustimmung jedes Parteimitglieds erforderlich, soll die Fusion auch im Hinblick auf die Mitgliedschaftsverhältnisse wirksam sein. Weil dies nicht nur bei Parteien, sondern auch bei der Fusion anderer Vereine kaum praktikabel ist (und mit einem hohen Risiko des Ausscheidens vieler Mitglieder ver-bunden), soll auch eine Übertragung der Mitgliedschaft durch Berufung, d.h. ausdrückliche Mitteilung, in den neuen Verein möglich sein, der man dann auch stillschweigend soll zustim-men können.21

Für den Fall, dass sich Parteien zu einer Rechtsformum-wandlung zu einem rechtsfähigen Verein entschließen, trifft das UmwG selbst in den §§ 99 ff. eine Reihe von Regelun-gen, mit denen die Zustimmung der Mitglieder garantiert wird. Zunächst verlangt § 99 Abs. 1 UmwG, dass die Satzung des Vereins nicht entgegenstehen darf. Als „Verfassung“ der Partei ist die Satzung den Mitgliedern jedenfalls theoretisch bekannt. Sofern sie Fusionen regelt (was nach §§ 6 Abs. 1 Nr. 11, 9 Abs. 3 PartG vorausgesetzt wird), ist den Mitglie-dern dies also bekannt, so dass sie sich nicht schon gegen die Fusionspläne an sich wenden können, sondern diese nur im Einzelfall ablehnen können. Basis eines Zusammenschlusses nach UmwG ist ein Verschmelzungsvertrag, der zuvor den Mitgliedern zugänglich gemacht werden muss, §§ 101, 102 UmwG, und dem die Mitgliederversammlung mit einer Mehr-heit von drei Vierteln der Delegierten zustimmen muss, § 103 S. 1 UmwG. Die Satzung der Vereine kann abweichend da-von sogar ein noch höheres Quorum festsetzen, § 103 S. 2 UmwG. 3. Europäische politische Parteien Politische Parteien sind nicht nur ein nationales politisches Phänomen, sie sind auch auf europäischer Ebene tätig. Der eher zu- als abnehmende Einfluss der europäischen Institutio-nen macht es für Parteien besonders interessant, auf europäi-scher Ebene an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Durch den Vertrag von Lissabon ist die Rolle des Europäi-schen Parlaments deutlich gestärkt worden, was einen Zu-gewinn an politischem Einfluss der Europaparlamentarier mit sich brachte.

Allerdings ist der Organisationsrahmen der politischen Parteien auf europäischer Ebene ein deutlich anderer als auf nationaler Ebene, der rechtliche Status politischer Parteien dort zwar in Grundzügen geregelt, aber nicht annähernd in vergleichbarer Weise ausgeformt wie im nationalen Recht.

Das Grundproblem der „europäischen politischen Partei-en“, wie sie auch im Kommissionsentwurf für ein neues euro- 21 Stöber, Handbuch zum Vereinsrecht, 8. Aufl. 2000, Rn. 819.

päisches Parteienstatut bezeichnet sind,22 besteht aus der Per-spektive des deutschen Verfassungsrechts darin, dass es kein eigentliches europäisches Volk gibt, als dessen Repräsentan-ten die Parteien agieren könnten. Das hängt wesentlich mit dem nicht abgeschlossenen politischen Entwicklungsprozess der Europäischen Union zusammen. Diese hat nach wie vor eben keine echte Staatsqualität, sondern ist ein Zusammen-schluss ihrer Mitglieder, der jeweiligen Nationalstaaten. Da-raus ergeben sich weitreichende Implikationen für das politi-sche System der EU, dessen Teil die Parteien sind. Dass das europäische politische System als solches zumeist nur aus der Nationalstaatsperspektive wahrgenommen wird, hat auch et-was damit zu tun, dass europäische Parteien noch nicht hin-reichend rechtlich ausgeformt sind; auf die damit angespro-chene Ermöglichungsfunktion von (Organisations-)Recht wur-de hier schon hingewiesen. Hier hat das europäische Recht noch Nachholbedarf. a) Primärrechtliche Grundlagen Nach Art. 10 Abs. 4 EU-Vertrag gilt: „Politische Parteien auf europäischer Ebene tragen zur Herausbildung eines europäi-schen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Wil-lens der Bürgerinnen und Bürger der Union bei“. Die Vor-schrift korrespondiert in der Sache also erkennbar mit Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG und umschreibt die Transmissions- und Wil-lensbildungsfunktion der politischen Parteien. Ähnlich wie im nationalen Recht sind die Parteien damit aber noch nicht handlungsfähig. Dies stellt Art. 224 AEUV in Rechnung, demzufolge das Europäische Parlament und der Rat gemein-sam eine Verordnung über die politischen Parteien auf euro-päischer Ebene erlassen. Gewissermaßen ist Art. 224 AEUV also eine Parallelregelung zu Art. 21 Abs. 3 GG. c) Sekundärrechtliche Quellen des europäischen Parteien-rechts Die im Prinzip einzig substantielle Quelle des – spärlichen – europäischen Parteienrechts ist die Verordnung des europäi-schen Parlamentes und des Rates über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finan-zierung.23 Klar ist, dass das Statut in seiner jedenfalls (noch) geltenden Fassung – die Kommission hat 2012 einen Reform-vorschlag unterbreitet, der gegenwärtig noch in der Beratung ist – keinen geschlossenen europäischen Rechtsstatus für die Parteien schafft.24

Das Statut arbeitet mit verschiedenen Begrifflichkeiten, denn es spricht von „politischen Parteien“, dem „Bündnis

22 Kommission, Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über das Statut und die Fi-nanzierung europäischer politischer Parteien und politischer Stiftungen, KOM (2012), 499 final, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2012/DE/1-2012-499-DE-F1-1.Pdf. 23 ABl. EU Nr. L 297 v. 15.11.2003, S. 1 ff. 24 Kersten (Fn. 13), Art. 191 EGV, Rn. 85; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 52. EL (Januar 2014), Art. 224 AEUV Rn. 51.

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Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 3/6 ÖFFENTLICHES RECHT

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politischer Parteien“ und den „politischen Parteien auf euro-päischer Ebene“, wobei letztere den besonderen Vorausset-zungen des Art. 3 des Statuts genügen müssen. Dessen Vo-raussetzungen, die sich im Wesentlichen auch im Reformvor-schlag der Kommission finden, sind denkbar hoch und zielen darauf, den status quo des europäischen Parteiensystems zu stabilisieren. Als europäische politische Partei anerkannt wer-den können nur solche Organisationen, die im Sitzstaat Rechts-persönlichkeit haben sowie in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten durch Europaabgeordnete oder durch Abge-ordnete in den nationalen oder regionalen Parlamenten oder Regionalversammlungen vertreten sind; alternativ müssen sie in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten bei der letz-ten Wahl zum Europäischen Parlament mindestens 3 % der Stimmen in jedem dieser Mitgliedstaaten erzielt haben. Sach-lich müssen sie in Programm und Tätigkeit die Grundsätze, auf denen die EU beruht, beachten. Sie müssen ferner an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilgenommen haben oder die Absicht bekunden, dies zu tun.

Der Versuch, eine geschlossene Rechtspersönlichkeit euro-päischer politischer Parteien zu schaffen, hat wesentlich da-mit zu, dass sich dadurch europäische Finanzmittel generie-ren lassen, aus denen die Parteien Teile ihrer Kosten decken können. Vor diesem Hintergrund wird auch die Funktion der vergleichsweise hohen Hürden deutlich, von denen die Aner-kennung als europäische, politische Partei abhängt: Der Markt der Mitbewerber wird auf diese Weise klein gehalten und die Zugangsmöglichkeiten zu den Finanzmitteln werden dadurch beschränkt. Während das aktuell noch gültige Parteienstatut sich im Wesentlichen auf finanzierungsrechtliche Fragen kon-zentriert, unternimmt der Reformvorschlag der Kommission nun den Versuch einer weitergehenden rechtlichen Konstitu-ierung der „Euro-Parteien“.25 IV. Parteienfinanzierung 1. Motor der Parteitätigkeit a) Parteitätigkeiten und Finanzbedarf Professionell organisierte Parteien haben einen erheblichen Finanzbedarf. Sie haben hauptberufliche Mitarbeiter, kaufen, bauen oder mieten Immobilien, Kampagnen- und Parteibüros, sie bestreiten Wahlkämpfe, veranstalten Parteitage, Kongresse und sonstige Veranstaltungen, sie drucken Programme, Pla-kate und Flugblätter, kaufen Kugelschreiber, Luftballons und andere Werbematerialien. Den Parteien entstehen diese Aus-gaben in Wahrnehmung ihrer Grundaufgabe, der Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Für die Entwicklung einer neu gegründeten Partei ist es daher entscheidend, dass im gel-tenden Finanzierungssystem für politische Parteien Einnah-men in möglichst großem Umfang generiert werden. b) Probleme der Parteienfinanzierung in der Demokratie Wenn Parteien als solche Gegenstand von Berichterstattung werden, so geht es dabei sehr regelmäßig um Fragen der Parteienfinanzierung. Diese Fragen haben häufig großes 25 Überblick über die Regelungsvorschläge bei Merten, MIP 2013, 30.

Skandalpotential, was sie nicht nur für Medienschaffende, sondern auch für die Bürger interessant werden lässt. Das hat seinen wesentlichen Grund darin, dass Fragen der Parteien-finanzierung, die zu allermeist Rechtsfragen der Parteien-finanzierung sind, in einen Bereich fallen, in dem es um die Möglichkeiten und die Reichweite politischer Einflussnahme geht. Das Gleichheitsversprechen der grundgesetzlichen De-mokratie unterscheidet nicht zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Bürgern, sondern garantiert glei-che politische Teilhabe unabhängig von der jeweiligen wirt-schaftlichen Stellung des Individuums. Das bedeutet auch, was oft vergessen wird, dass die Interessen wohlhabender Bür-ger oder „der Wirtschaft“ nicht weniger „wert“ oder wichtig sind als diejenigen der weniger wohlhabenden Bürger. Des-wegen dürfen Wohlhabende ihr Kapital also auch einsetzen, um Parteien oder andere politische Verbände etwa durch Spenden oder, sofern sie Mitglied sind, durch hohe Mitglieds-beiträge zu unterstützen. Das wirft erst dann ein Problem auf, wenn sich daraus eine Gesamtsituation entwickelt, in der Geld einen privilegierten Zugang zur Macht schafft, in der also politischer Einfluss „gekauft“ werden kann und das Gleich-heitsversprechen der Demokratie plötzlich ökonomisiert wird. Darin liegt im Übrigen auch ein zentrales Problem des Lobbyismus.26

Dass es sich dabei insgesamt nicht allein um ein deut-sches, sondern um ein Problem von (westlichen) Demokratien schlechthin handelt, zeigt ein vielbeachtetes Urteil, das jüngst der amerikanische Supreme Court gefällt hat.27 In der Art, wie dort die Grundfragen des Parteienfinanzierungsrechts dargelegt werden, ist es auch für die deutsche Debatte ein-schlägig. Gleichzeitig wird daran offenbar, dass Verfassungs-vergleichung und Rechtsprechungsvergleichung fruchtbar für das Verstehen von Rechtsproblemen des eigenen Rechtssys-tems sein können. In der Entscheidung heißt es:

„There is no right more basic in our democracy than the right to participate in electing our political leaders. Citizens can exercise that right in a variety of ways: They can run for office themselves, vote, urge others to vote for a particular candidate, volunteer to work on a campaign, and contribute to a candidate’s campaign. […] The right to participate in de-mocracy through political contributions is protected by the First Amendment, but that right is not absolute“28.

Das Gericht statuiert mit Recht ein umfassendes, verfas-sungsrechtlich verbürgtes Recht der demokratischen Partizi-pation, zu dem es auch die finanzielle Unterstützung von Kandidaten und Parteien zählt. Die Grenzziehung, vor die sich das Gericht gestellt sieht, liegt zwischen der verfassungs-rechtlich zulässigen Unterbindung von „political corruption“ einerseits und einer unzulässigen Einschränkung der demo-

26 Cancik, VVDStRL 72 (2013), 268 ff. 27 U.S. Supreme Court, Urt. v. 2.4.2014 – 572 U. S. ____ (2014), MacCutcheon vs. Federal Election Committee, abruf-bar unter: http://www.supremecourt.gov/opinions/13pdf/12-536_e1pf.pdf. 28 U.S. Supreme Court, Urt. v. 2.4.2014 – 572 U. S. ____ (2014), MacCutcheon vs. Federal Election Committee, S. 1.

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kratischen Partizipationsrechte andererseits.29 Vor diese Her-ausforderung sieht sich auch das deutsche Parteienrecht ge-stellt: Es muss eine Balance finden zwischen Zurückdrängung eines unstatthaften ökonomischen Einflusses auf die Politik bei gleichzeitiger weitgehender Offenhaltung30 des politischen Prozesses gegenüber externen Einflüssen. Richtig stellt der Supreme Court fest, dass sich also Politiker ihren Unterstüt-zern verbunden fühlen dürfen sollen,31 Unterstützung von Politikern und Parteien also auch ihre sachliche Zugänglich- und Ansprechbarkeit voraussetzt. Das ist eine grundlegende Qualität der Demokratie, nicht ein Mangel. Griffig formu-liert: „Demokratie heißt Beeinflussbarkeit“32.

Im deutschen System der Parteienfinanzierung kommt aber noch ein weiterer Punkt hinzu: Zwar entspringen Parteien einerseits der Gesellschaft, weil sie Ausdruck der grundrecht-lichen Betätigung der Bürger sind,33 sie sind andererseits aber für die Funktionsfähigkeit des Staates essentiell. Daher hat sich der deutsche Gesetzgeber entschlossen, ein System staat-licher Parteienfinanzierung einzuführen, um das Funktionie-ren der Parteien zu gewährleisten. Damit aber der Staat nicht durch Steuermittel die Parteien letztlich finanziell übernimmt, muss das Parteienrecht ein bestimmtes Maß an Staatsfreiheit gewährleisten, damit diese noch immer als bürgerschaftlich getragene Vereinigungen und nicht als „finanzielle“ Organe des Staates gewertet werden können.

Der Gesetzgeber ist also im Recht der Parteienfinanzie-rung vor eine komplexe Aufgabe gestellt. Wie er diese gelöst hat, soll nun eingehender betrachtet werden. 2. Die Struktur der Parteienfinanzierung Die Parteienfinanzierung ist in ihren Grundzügen im PartG geregelt. Das gesetzlich vorgesehene Finanzierungssystem ist und war auch in früheren Fassungen Resonanz auf Vorgaben der Verfassungsrechtsprechung zur Finanzierung politischer Parteien. Über die einfachgesetzliche Struktur hinaus sind für die Parteienfinanzierung die vom BVerfG entwickelten ver-fassungsrechtlichen Maßstäbe entscheidend (siehe hierzu 2. b).

Grundlegend für das deutsche System der Parteienfinan-zierung ist die Unterscheidung zwischen Mitteln, die die Par-teien selbst einnehmen und solchen Mitteln, die sie aus der staatlichen Parteienfinanzierung erhalten. Zwischen beiden besteht ein noch zu erörternder Zusammenhang, weil die Höhe der staatlichen Zuwendungen von der Höhe der Eigen-einnahmen abhängt (dazu sogleich). 29 U.S. Supreme Court, Urt. v. 2.4.2014 – 572 U. S. ____ (2014), MacCutcheon vs. Federal Election Committee, S. 2: „In a series of cases over the past 40 years, we have spelled out how to draw the constitutional line between the permis-sible goal of avoiding corruption in the political process and the impermissible desire simply to limit political speech“. 30 Siehe dazu etwa Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2012, Rn. 270 ff. 31 U.S. Supreme Court, Urt. v. 21.1.2010 – 558 U. S. 310, 360 (2010), Citizens United v. Federal Election Comm’n. 32 Morlok, in: Jahrbuch der HHU Düsseldorf 2002, S. 427 (428). 33 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 16 (18).

a) Selbstgenerierte Einnahmen der Parteien In erster Linie sind die Parteien für ihre Finanzierung selbst verantwortlich.34 Aus Art. 21 Abs. 1 GG kommt ihnen eine Finanzierungsfreiheit35 zu, der zufolge sie grundsätzlich frei entscheiden können, wie sie ihre finanziellen Mittel beschaf-fen (und auch verwenden). Im Zuge der Entwicklung der Par-teien hat sich eine Reihe von selbstgenerierten Einnahme-arten etabliert, die der Gesetzgeber als regelmäßige Einkünfte von Parteien in das PartG aufgenommen hat. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Parteien die im Parteiengesetz ge-nannten Einnahmen auch tatsächlich erzielen müssen. Sie sind nach § 24 Abs. 4 PartG lediglich verpflichtet, über sie Re-chenschaft abzulegen, falls sie diese zu verbuchen haben.

Es lassen sich drei Grundkategorien der Eigeneinnahmen von Parteien bilden: einfache und besondere Beiträge von ihren Mitgliedern, Spenden und Einnahmen aus wirtschaftli-cher Betätigung der Parteien im weiten Sinne. Diese drei Kategorien unterscheiden sich sowohl in ihrem Stellenwert, den sie jeweils in den Gesamteinnahmen der Parteien ausma-chen als auch darin, wie attraktiv und planungssicher sie für die Parteien sind.

Parteien als mitgliedschaftlich strukturierte Organisatio-nen beziehen den größten Teil ihrer selbstveranlassten Ein-nahmen durch Mitgliedsbeiträge (für Beispiele siehe bei 3.). Einen weiteren großen Posten der Eigeneinnahmen bilden die sogenannten Mandatsträgerbeiträge (und ähnliche regelmä-ßige Beiträge). Diese besonderen Beiträge stellen eine Art „Dankbarkeitsentschädigung“ derjenigen Parteimitglieder dar, die durch die Unterstützung ihrer Parteien ein öffentliches Wahlamt errungen haben und damit eben auch in Lohn und Brot gekommen sind. Weil diese Mittel an eine Stellung als öffentlicher Mandatsträger anknüpfen, ist ihre verfassungs-rechtliche Zulässigkeit seit jeher umstritten.36

Sowohl die Mitglieds- als auch die Mandatsträgerbeiträge sind für die Parteien deshalb besonders wichtig, weil sie eine im Vergleich zu Spenden und Einnahmen aus wirtschaftlicher Betätigung verlässlichere Quelle der Finanzen darstellen.

Eine wesentliche Einnahmequelle sind außerdem Spenden, die zum Teil von Mitgliedern zusätzlich zum bereits geleiste-ten Beitrag, aber auch von Sympathisanten und Unternehmen geleistet werden und die besonders für die kleinen Parteien von großer finanzieller Bedeutung sind.

Schließlich können die Parteien durch unternehmerische Betätigung, die Durchführung von Veranstaltungen, den Ver-trieb von Druckschriften und Veröffentlichungen, aus dem Parteivermögen Einnahmen erzielen, vgl. den Katalog in § 24 Abs. 4 PartG. 34 BVerfGE 20, 56 (102 f.). 35 Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 21 Rn. 32; Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, S. 337. 36 Umfassend jetzt Kühr, Legalität und Legitimität von Man-datsträgerbeiträgen, 2014; siehe weiter auch Lontzek, Die Sonderbeiträge von Abgeordneten an Partei und Fraktion, 2012.

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b) Staatliche Parteienfinanzierung aa) Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Parteienfinanzierung Das System staatlicher Parteienfinanzierung lässt sich nicht richtig verstehen, wenn die verfassungsrechtlichen Bindun-gen, wie sie vor allem durch das Bundesverfassungsgericht formuliert wurden, nicht stets mitbedacht werden.

Hervorzuheben sind drei von der Verfassungsrechtspre-chung erarbeitete Maßstäbe, die das Grundgesetz an die Par-teienfinanzierung anlegt. Aus der Parteienfreiheit des Art. 21 Abs. 1 GG leitet sich erstens das Gebot der Staatsfreiheit der Parteien ab. Für die staatlichen Zuwendungen bedeutet dies, dass sie den Finanzbedarf der Parteien weder vollständig noch überwiegend abdecken dürfen.37 Zweitens fordert das allge-meine Gebot einer chancengleichen Behandlung der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG, dem Demokratieprinzip und Art. 3 Abs. 1 GG, dass der Staat finanzielle Mittel neutral und nach objektiven Kriterien verteilt. Drittens korrespondiert mit der Chancengleichheit der Parteien das Recht der gleichen Teil-habe an der politischen Willensbildung, wonach alle Bürger die gleiche Chance haben müssen, Parteien finanziell zu unterstützen. Dieses Recht wirkt sich im Rahmen der mittel-baren staatlichen Parteienfinanzierung dahingehend aus, dass allen Bürgern die steuerlichen Vorteile für Zuwendungen an Parteien im gleichen Maße offenstehen müssen.38 Diese drei Verfassungsgebote für die Parteienfinanzierung sind Grund-lage und Auslegungshilfe für das gesetzlich angeordnete Sys-tem staatlicher Parteienfinanzierung. bb) Das Grundkonzept der staatlichen Parteienfinanzierung (1) Direkte staatliche Finanzierung Die Förderung von Parteien durch Zuwendungen des Staates gab es nicht schon immer, insbesondere nicht basierend auf einer gesetzlichen Grundlage.39 Zur Frage der verfassungs-rechtlichen Zulässigkeit hat das BVerfG mehrfach die Rich-tung gewechselt.40 Das heutige System der staatlichen finan-ziellen Förderung der Parteien besteht in seinen wesentlichen Grundzügen seit 1994. Das wesentliche Argument für die Zulässigkeit der Unterstützung durch den Staat beruht auf der wichtigen Aufgabe der Parteien für das Funktionieren des demokratischen Willensbildungsprozesses. Daraus wird teil-weise sogar die Pflicht des Staates abgeleitet, die Funktions-fähigkeit des Parteiwesens durch eine staatliche Parteienfi-nanzierung zu garantieren.41

Insbesondere der vom BVerfG aus der Verfassung destil-lierte Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien hat die Vertei-lungsstruktur der staatlichen Mittel wesentlich geprägt. Um

37 BVerfGE 20, 56 (102 f.). 38 BVerfGE 8, 51 (68 f.). 39 Historischer Überblick über die staatliche Parteienfinanzie-rung seit 1945 bei Muthers, Rechtsgrundlagen und Verfahren zur Festsetzung staatlicher Mittel zur Parteienfinanzierung, 2004, S. 35 ff. 40 Vgl. BVerfGE 8, 51 (63 ff.); 20, 56 (97 ff.); 85, 264. 41 Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 69. EL. (Mai 2013), Art. 21 Rn. 434; Morlok (Fn. 13), Art. 21 Rn. 44.

zu gewährleisten, dass die Parteien selbstständig und vom Staat unabhängig bleiben, hat das Bundesverfassungsgericht 1992 mit dem Institut der absoluten und relativen Obergren-ze staatlicher Parteienfinanzierung eine parteienverfassungs-rechtliche Erfindung gemacht.42 Der Gesetzgeber hat diese vom Gericht aufgestellten Anforderungen im PartG umge-setzt und in § 18 Abs. 2, Abs. 5 S. 2 PartG die gegenwärtig gültige absolute Höchstgrenze von 150,8 Millionen Euro und in §§ 18 Abs. 5 S. 1 PartG die relative Obergrenze festgelegt. Diese beiden rechnerischen Grenzen sollen in doppelter Wei-se absichern, dass die Parteien „staatsfrei“ bleiben: Die rela-tive Obergrenze fordert, dass die Summe der staatlichen Zu-wendungen an eine Partei nicht deren tatsächliche Eigenein-nahmen überschreitet. Politische Parteien müssen sich also mindestens zur Hälfte selbst finanzieren. Durch die Festle-gung der absoluten Obergrenze wird zudem der Möglichkeit ein Riegel vorgeschoben, dass durch eine prinzipiell unbe-grenzte Hochsetzung des zur Verfügung stehenden Gesamt-betrages eine Ausnutzung des „parteienrechtlichen Halbtei-lungsgrundsatzes“ (Matthias Jestaedt) für jede Partei möglich wird. (2) Vertiefung: Dynamik im Parteienfinanzierungsregime Dass die im Bundestag vertretenen politischen Parteien gleich-wohl versuchen, sich im engen Korsett des Obergrenzensys-tems durch rechtliche Regelungen im Detail Vorteile zu ver-schaffen, hat sich u.a. 2011 gezeigt. § 19a Abs. 5 PartG ver-teilte bis dahin die Mittel der staatlichen Parteienfinanzierung so, dass zunächst alle (!) Ansprüche der Parteien aus § 18 Abs. 3 PartG errechnet und addiert wurden und dann im Ver-hältnis gekürzt wurden, um die absolute Obergrenze einzu-halten. In die Rechnung einbezogen wurden damit auch die Ansprüche, die die Parteien aus der Wählerstimmenvergütung erhielten. Der so errechnete Betrag wurde, sofern er den zu-lässigen individuellen Höchstsatz der relativen Obergrenze überschritt, auf diesen Höchstsatz zurückgekürzt.

Diese Regelung änderte der Deutsche Bundestag dahin-gehend, dass aktuell nunmehr zunächst die relative Obergren-ze angewendet (also der Höchstsatz ermittelt) wird. Die Er-gebnisse werden dann addiert und erst im zweiten Schritt den Kürzungen der absoluten Obergrenze unterworfen.

Die Begründung des Gesetzentwurfes rekurriert darauf, dass durch die Regelung dem Gebot der Eigenfinanzierung der Parteien – als Kehrseite der Staatsfreiheit – stärker Rech-nung getragen werde. Das ist richtig, weil die Wählerstimmen-vergütung in der Gewichtung außen vor bleibt. Näher ausge-führt wird dieser Gedanke in der Gesetzesbegründung indes nicht.43 Der Verzicht auf eine eingehendere Begründung ist dabei möglicherweise nicht zufällig. Denn die Umkehrung der Berechnungsreihenfolge wirkt sich durchaus unterschied-lich für die Parteien aus: Erster Anknüpfungspunkt wird die relative Obergrenze, also der Betrag, der auf Seiten der Partei durch eigene Einnahmen gedeckt ist und in den die Wähler-stimmenvergütung eben nicht mit einbezogen ist. Das ist für Newcomer-Parteien deswegen bedeutsam, weil diese in der 42 BVerfGE 85, 264. 43 BT-Drs. 17/6291, S. 7.

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Regel über substantiell weniger Eigenmittel verfügen und wesentlich von der Wählerstimmenvergütung profitieren. Die Regelung begünstigt also rechnerisch die Parteien, deren Mittel sich zu einem höheren Anteil vor allem durch einge-worbene Mitgliedsbeiträge, Mandatsträgerbeiträge und Spen-den und weniger durch Mittel, die an den Wahlerfolg an-knüpfen, zusammensetzen. Das sind allerdings regelmäßig die bereits etablierten Parteien, also sind diejenigen, die im Parlament vertreten sind und das PartG in diesem Sinne ge-ändert haben. Neue und erst im Aufbau begriffene Parteien, für die die Prämie auf Wählerstimmen fördernd wirkt, wer-den durch die Neuregelung in Zukunft weniger Geld erhalten.

Ob der Gesetzgeber mit dieser Regelung in verfassungs-gemäßer Weise von seinem Gesetzgebungsauftrag in Art. 21 Abs. 3 GG Gebrauch gemacht und dabei möglicherweise sogar dem Geiste der Verfassungsgerichtsentscheidung aus 199244 besonders gut entsprochen hat, oder ob darin eine ver-fassungswidrige Benachteiligung neuer Parteien zu sehen ist, war Gegenstand eines von der Piratenpartei angestrengten Organstreitverfahrens. Hierüber entschied das BVerfG aller-dings nicht in der Sache, weil der Antrag auf Eröffnung des Organstreitverfahrens nicht wirksam anhängig gemacht wor-den war.45 (2) Indirekte staatliche Finanzierung Direkte staatliche Parteienfinanzierung macht allerdings nur einen Teil der staatlichen Leistungen an Parteien aus. Auch mittelbar leistet der Staat einen Beitrag zur Finanzierung der Parteien. Dies geschieht insbesondere durch die Steuerermä-ßigungen im Zusammenhang mit Spenden und Mitgliedsbei-trägen an die Parteien (§§ 10b, 34g EStG). Hierdurch schafft der Staat einen Anreiz für Bürger, den Parteien finanzielle Zuwendungen zu machen.

Eine politische Definition der staatlichen Zuwendungen an Parteien fasst den Begriff der indirekten Finanzierung durch den Staat erheblich weiter. Versteht man die staatlichen mittelbaren Beiträge als eine Politikfinanzierung, fördert der Staat die Parteien indirekt nicht nur durch Steuerermäßigun-gen, sondern auch durch Leistungen an die Parlamentsfrakti-onen und parteinahe Stiftungen.46 Auch Mandatsträgerbeiträge werden teilweise wegen ihrer Nähe zu staatlichen Diäten als mittelbare Parteienfinanzierung qualifiziert.47 Insbesondere in der Politikwissenschaft wird diese weite Definition der mittel-baren Parteifinanzierung durch den Staat vertreten.48 Wie die mittelbaren Leistungen des Staates an die Parteien zu qualifi-zieren sind, ist keine Frage von bloß wissenschaftlichem In-teresse. Die Bemessung staatlicher Leistungen ist entschei-dend für die Einhaltung der soeben beschriebenen relativen Obergrenze des § 18 Abs. 5 S. 1 PartG: Die Einrechnung 44 BVerfGE 85, 264. 45 BVerfG, Beschl. v. 20.6.2012 – 2 BvE 1/12. 46 Überblick bei Merten, in: Decker/Neu (Hrsg.), Rechtliche Grundlagen der Parteiendemokratie, 2013, S. 77 (92 f.). 47 Etwa v. Arnim, DVBl. 2002, 1065 (1072). 48 Vgl. v. Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 2010, S. 111; Adams, Parteienfinanzie-rung in Deutschland, 2005, S. 266.

aller finanziellen durch den Staat veranlassten Vorteile für politische Parteien führten zu einer Summe staatlicher Zu-wendungen, die die Grenze von 50 % der Gesamteinnahmen der Parteien wesentlich überschritte. Statistische Angaben aus den 1990er Jahren sehen den staatlichen Gesamtanteil an der Finanzierung der Parteien bei weit über 60 bis hin zu 75 %.49 Ginge man von einem solchen Finanzierungsanteil durch den Staat aus, kann man durchaus infrage stellen, ob das Gebot der Staatsferne der Parteien und der Vorrang ihrer Selbst-finanzierung rein faktisch noch eingehalten werden.50 cc) Überblick über das Verfahren zur Verteilung staatlicher Mittel Die Verteilung der staatlichen Mittel ist selbstverständlich gesetzlich geregelt, nämlich in §§ 18 ff. PartG. Für ein Grund-verständnis der rechtlichen Besonderheiten des Systems ist dabei zunächst vor allem § 18 PartG selbst in den Blick zu nehmen, der die staatliche Parteienfinanzierung regelt. Die Folgevorschriften betreffen das Verfahren der Zuteilung des staatlichen Finanzierungsanteils, um das es hier allerdings nicht vorrangig gehen soll. (1) Anspruch auf staatliche Zuwendungen Einen Anspruch auf einen Anteil an der staatlichen Parteien-finanzierung hat nicht jede politische Partei. Gem. § 18 Abs. 4 PartG ist vielmehr erforderlich, dass die Partei ein „politisches Minimalgewicht“ auf die Waage bringt, das es rechtfertigt, sie an der steuerfinanzierten staatlichen Parteien-finanzierung teilhaben zu lassen. Um politischen Lenkungs- und Manipulationsversuchen nicht Tür und Tor zu öffnen, knüpft § 18 Abs. 4 PartG den Anspruch auf staatliche Ali-mentierung an ein staatsfernes, objektives Kriterium, nämlich den Wahlerfolg.

Die Partei muss bei der letzten zurückliegenden Bundes-tags- oder Europawahl mindestens 0,5 % aller für die Listen abgegebenen Stimmen erhalten haben (Zweitstimmen) bzw. bei Landtagswahlen mindestens 1,0 % der Stimmen. Hinter dieser Mindestschwelle steht die Überlegung, dass nicht jede politische Strömung staatlich alimentiert werden kann, son-dern nur solche, die auch tatsächlich bürgerschaftliche Unter-stützung erlangen. Gleichzeitig muss die Schwelle vergleichs-weise niedrig angesetzt werden, damit durch einen Ausschluss von der Parteienfinanzierung keine Wettbewerbsverzerrung zugunsten der bereits etablierten Parteien stattfindet. Diese sind, das hat sich in der Vergangenheit gezeigt, bemüht, ihren Einfluss im Bundestag dazu zu nutzen, die Voraussetzungen für die Teilhabe an der Finanzierung zu verschärfen, um sich unliebsame Konkurrenz „vom Hals zu halten“. Dem ist das Bundesverfassungsgericht allerdings mit deutlichen Worten entgegengetreten.51

49 Andersen/Woyke (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 2003, Stichwort: Parteienfinanzierung. 50 Vgl. Shirvani, Das Parteienrecht und der Strukturwandel im Parteiensystem, 2010, S. 372. 51 BVerfGE 111, 382 ff.

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Der Lebenszyklus politischer Parteien – Teil 3/6 ÖFFENTLICHES RECHT

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Was den konkreten Anspruchsinhalt betrifft, tritt neben das Kriterium des Wahlerfolges noch die Höhe der selbst eingeworbenen Mittel. Nach § 18 Abs. 3 S. 1 PartG erhalten die Parteien 0,70 € für jede für sie abgegebene Listenstimme (§ 18 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 PartG mit Sonderregelung in Nr. 2). Nach § 18 Abs. 3 S. 2 PartG wird dieser Satz für die „ersten“ vier Millionen Stimmen auf 0,85 € aufgestockt. Davon sollen vor allem kleine Parteien profitieren. Da die erhöhte Vergü-tung aber auch den großen Parteien zukommt, die weit mehr als vier Millionen Stimmen erhalten, verschleift sich der eigentlich in den Blick genommene Effekt.52

Außerdem erhalten die Parteien pro eingenommenem Euro aus Mitglieder- oder Mandatsträgerbeiträgen oder Spenden 0,38 €. Damit der Einfluss besonders potenter Spender oder Mitglieder nicht noch verstärkt wird, werden nur Beträge bis 3.300 € pro Person erfasst. Spenden Personen mehr als diese Summe, bleiben die weitergehenden Beträge bei der Berech-nung des staatlichen Finanzierungsanteils unberücksichtigt. (2) Die Rolle des Rechenschaftsberichts im Festsetzungs-verfahren Das PartG erlegt den Parteien eine Mitwirkungspflicht im Verfahren der staatlichen Parteienfinanzierung auf, indem es die Festsetzung des jeweiligen Anteils an der Parteienfinan-zierung an die Vorlage eines Rechenschaftsberichtes knüpft, § 19 Abs. 1 S. 2 PartG. Das PartG konkretisiert damit gleich-zeitig eine unmittelbar durch das Grundgesetz statuierte Pflicht der politischen Parteien, über ihre finanziellen Umstände öffentlich Rechenschaft abzulegen, Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG. Die Pflicht zur Rechenschaftslegung verfolgt dabei in aller-erster Linie grundlegende demokratische Ziele: Von wessen finanziellem „Fleische“ die Parteien sind, soll offenbar und Gegenstand der politischen Diskussion werden können. Be-ziehen sie ihr Geld von einer Vielzahl kleiner Spender, von wenigen Großspendern oder von Unternehmen? Wie ist das Verhältnis von Mitgliedsbeiträgen und Mandatsträgerbeiträ-gen, wie wiederum deren Verhältnis zu Spenden usw. Trans-parenz soll in diesem Sinne Kontrolle gewährleisten, um „Käuflichkeit“ von Parteien zu verhindern und Abhängigkei-ten offenzulegen. So wurde etwa der FDP nach der Bundes-tagswahl 2009 ihr Einsatz für eine Steuerminderung auf Hotel-übernachtungen politisch zum „Verhängnis“, als bekannt wurde, dass sie im gleichen Jahr eine Millionenspende von einem großen Hotelunternehmer erhalten hatte.

Sofern die staatliche Parteienfinanzierung an die Vorlage eines Rechenschaftsberichts geknüpft ist, ist natürlich ein korrekter Rechenschaftsbericht gemeint, der vor allem über alle Einnahmen penibel und ggf. nach einzelnen Spendern aufgeschlüsselt, Auskunft geben muss. Dies ist immer wieder Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen und komple-xer juristischer Streitfragen. Diese werden im fünften Beitrag dieser Reihe zur Sprache kommen. 52 Morlok (Fn. 14), S. 255, dort in Fn. 19.

3. Beispiel: Einnahmen und Ausgaben politischer Parteien Um einen Eindruck vom Kostenaufwand des Betriebs einer politischen Partei zu vermitteln, finden sich nachstehend Angaben aus den Rechenschaftsberichten derjenigen politi-schen Parteien für das Kalenderjahr 2012, die zu diesem Zeitpunkt im Bundestag vertreten waren.53 a) CDU (ohne CSU)

Mitgliedsbeiträge 39.255.631,47 € Mandatsträgerbeiträge und ähnliche regelmäßige Beiträge

17.230.379,49 €

Gesamteinnahmen durch Spenden 18.199.824,31 € ! Spenden von natürlichen Personen 12.149.630,71 € ! Spenden von juristischen Personen 6.050.193,60 € Staatliche Mittel 46.435.135,82 € Veranstaltungen, Veröffentlichungen u.ä.

11.703.787,04 €

Gesamteinnahmen der Partei 137.039.858,65 € Personalausgaben 42.066.816,99 € Sachausgaben ! Laufender Geschäftsbetrieb 27.105.106,08 € ! Allgemeine politische Arbeit 30.480.879,36 € ! Wahlkämpfe 15.287.441,08 € Gesamtausgaben der Partei 122.203.829,02 €

b) SPD

Mitgliedsbeiträge 49.080.121,73 € Mandatsträgerbeiträge und ähnliche regelmäßige Beiträge

23.044.646,72 €

Gesamteinnahmen durch Spenden 10.507.649,13 € ! Spenden von natürlichen Personen 8.556.162,86 € ! Spenden von juristischen Personen 1.951.486,27 € Staatliche Mittel 45.585.641,47 € Veranstaltungen, Veröffentlichungen u.ä.

12.609.913,83 €

Gesamteinnahmen der Partei 151.421.826,77 € Personalausgaben 45.550.247,65 € ! Sachausgaben 74.524.147,02 € ! Laufender Geschäftsbetrieb 27.412.743,35 € ! Allgemeine politische Arbeit 31.952.015,37 € ! Wahlkämpfe 15.159.388,30 € Gesamtausgaben der Partei 133.344.693,22 €

53 BT-Drs. 18/400 und 18/401 (FDP).

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AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr

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ZJS 3/2014 250

c) FDP Mitgliedsbeiträge 6.783.897,99 € Mandatsträgerbeiträge und ähnliche regelmäßige Beiträge

3.049.093,27 €

Gesamteinnahmen durch Spenden 5.864.210,69 € ! Spenden von natürlichen Personen 4.228.142,07 € ! Spenden von juristischen Personen 1.636.068,62 € Staatliche Mittel 14.072.257,67 € Veranstaltungen, Veröffentlichungen u.ä.

1.834.573,29 €

Gesamteinnahmen der Partei 34.092.303,45 € Personalausgaben 5.275.486,31 € Sachausgaben 21.649.712,92 € ! Laufender Geschäftsbetrieb 10.125.454,49 € ! Allgemeine politische Arbeit 7.292.704,63 € ! Wahlkämpfe 4.231.553,80 € Gesamtausgaben der Partei 28.756.785,24 €

d) Bündnis‘90/Die Grünen

Mitgliedsbeiträge 8.360.299,90 € Mandatsträgerbeiträge und ähnliche regelmäßige Beiträge

8.665.153,12 €

Gesamteinnahmen durch Spenden 3.928.913,39 € ! Spenden von natürlichen Personen 3.408.544,37 € ! Spenden von juristischen Personen 520.369,02 € Staatliche Mittel 15.154.545,27 € Veranstaltungen, Veröffentlichungen u.ä.

837.355,10 €

Gesamteinnahmen der Partei 38.401.035,42 € Personalausgaben 12.212.623,56 € Sachausgaben 17.991.030,66 € ! Laufender Geschäftsbetrieb 5.939.210,59 € ! Allgemeine politische Arbeit 7.964.900,91 € ! Wahlkämpfe 4.086.919,16 € Gesamtausgaben der Partei 30.719.615,37 €

e) Die Linke

Mitgliedsbeiträge 9.358.144,68 € Mandatsträgerbeiträge und ähnliche regelmäßige Beiträge

3.716.847,50 €

Gesamteinnahmen durch Spenden 1.923.845,77 € ! Spenden von natürlichen Personen 1.889.532,12 € ! Spenden von juristischen Personen 34.313,65 € Staatliche Mittel 12.252.446,85 € Veranstaltungen, Veröffentlichungen u.ä.

249.654,81 €

Gesamteinnahmen der Partei 29.765.242,79 € Personalausgaben 10.623.307,85 € Sachausgaben 15.057.086,09 € ! Laufender Geschäftsbetrieb 5.098.320,36 € ! Allgemeine politische Arbeit 7.019.705,75 € ! Wahlkämpfe 2.939.059,98 € Gesamtausgaben der Partei 25.755.377,14 €

V. Wirtschaftliche Betätigung von Parteien Nicht nur im klassischen Aktionsfeld der Parteien – der un-mittelbaren Mitwirkung an der politischen Willensbildung –, sondern auch in anderen Bereichen, die nicht als originär als politisch wahrgenommen werden, können sich Parteien betä-tigen. Da die staatlichen Leistungen von den Eigeneinnahmen der Parteien abhängen und die Parteien, wie die Auszüge aus den Rechenschaftsberichten verdeutlichen, hohe Ausgaben für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben tätigen, müssen sie auf allen Kanälen finanzielle Mittel beschaffen. Eine Quelle der Einnahmen politischer Parteien können dabei die aus Unter-nehmensbeteiligungen gezogenen Gewinne sein. Als Vereine sind Parteien selbstverständlich in der Lage, Anteile an ande-ren juristischen Personen zu halten, Gesellschafter dieser juristischen Personen zu sein und etwa auch Geschäftsführer zu bestellen, sofern das jeweils einschlägige Recht dies erlaubt. Parteien können daher „Unternehmer“ sein.54 Ob sie dies – als politische Organisationen – auch dürfen sollen, gehört zu den umstritteneren Fragen, die in den letzten Jahren in der Parteienrechtswissenschaft diskutiert worden sind.55 Dabei ist die Grundsatzfrage der unternehmerischen Tätigkeit politischer Parteien von einem ihrer wesentlichen Anwendungsfälle, näm-lich den umfangreichen Beteiligungen der SPD an Medien-unternehmungen über die Medienbeteiligungsgesellschaft „ddvg“, kaum zu trennen gewesen. Rechtlich indes müssen beide Bereiche aber voneinander geschieden werden, weil sich im Bereich der Medienbeteiligung spezifische Rechts-fragen stellen. 1. Grundfragen wirtschaftlicher Betätigung von Parteien a) Wirtschaftliche Betätigung und politische Willensbildung Auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, ob sich politi-sche Parteien unternehmerisch betätigen dürfen, mag Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG einen ersten Anhaltspunkt geben: „Die Par-teien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ – diese Formulierung legt nicht unbedingt nahe, dass damit umfängliche Beteiligungen an Verlagshäusern, Radio-stationen, Public Relations-Beratungen, Druckhäusern oder anderen Unternehmen gemeint sein sollen. Denn die „politi-sche Willensbildung“ des Volkes, von der Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG spricht, scheint sich doch auf Fragen des öffentlichen Interesses und der allgemeinen Wohlfahrt zu beziehen, nicht aber auf partikulare Gewinnerzielungsabsichten der am Wirt-schaftsleben beteiligten Firmen. Die Parteien werden durch Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG zudem nicht in die Rolle aktiver „Player“, sondern in eine Mitwirkungsfunktion gewiesen, sie stehen dem Volk also bei seiner Willensbildung bei. Es will nicht recht einleuchten, dass hiervon eine eigenständige un-ternehmerische Tätigkeit der Parteien umfasst sein soll. Indes zeigt sich, dass auch hier das Argument aus dem Wortlaut

54 Umfassend dazu Schindler, Die Partei als Unternehmer, 2006; zur Sache auch Angelov, Vermögensbildung und unter-nehmerische Tätigkeit politischer Parteien, 2006. 55 Lenski (Fn. 7), § 24 Rn. 35 ff.; Kersten (Fn. 13), § 24 Rn. 45 ff.; Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 21 Rn. 107.

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zwar Hinweise, aber keine klare Lösung zu geben vermag. Denn Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG ist wie jede andere Vorschrift in einem größeren systematischen Zusammenhang zu sehen, der wesentlich durch die Grundrechte gestiftet wird. Wie im ersten Beitrag dieser Reihe gezeigt,56 sind Parteien Ausdruck einer kollektiven Grundrechtsbetätigung der sie bildenden Bürger: Sie bieten einen organisatorisch-institutionellen Rah-men, in dem Bürger von den ihnen verfassungsrechtlich ein-geräumten Freiheiten effektiv Gebrauch machen können. Die enge Verbindung zwischen Parteien als Organisationsformen und den Grundrechten der Bürger wirft daher die Frage auf, wie es um die Grundrechtsträgerschaft der Parteien selbst bestimmt ist. b) Parteien als Grundrechtsträger Parteien sind zunächst einmal Träger der verfassungsrechtli-chen Garantien des Art. 21 GG, die ihnen einen Status der Freiheit, der Gleichheit und demokratischen Öffentlichkeit verleihen bzw. abverlangen.57 Aus diesen Status erwachsen ihnen bei Wahrnehmung der politischen Mitwirkungsfunkti-on des Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG zahlreiche, verschiedengestal-tige Rechte und Pflichten. Art. 21 GG ist darüber hinaus aber auch Quelle von Rechten der Bürger. Die aus Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG folgende Gründungsfreiheit kommt natürlich nicht der Partei selbst, sondern nur den sie tragenden natürlichen Personen zu.58

Über Art. 21 GG hinaus sind die Parteien mittlerweile soweit als Träger von Grundrechten anerkannt, wie diese gem. Art. 19 Abs. 3 GG wesensmäßig auf sie anwendbar sind. Erklärlich wird dies dadurch, dass die Gründungsfreiheit der Parteien als spezielle Ausformung der Vereinigungsfreiheit ein Individualrecht natürlicher Personen ist, die ihrerseits völlig eindeutig Träger von Grundrechten sind; dieses perso-nale Substrat setzt sich bis in die Organisationsstruktur der Parteien fort und macht diese ihrerseits zu Grundrechtsträ-gern.59 Hans Hugo Klein formuliert eindeutig: „Über die Grundrechtsträgerschaft der Parteien ist durch Art. 19 Abs. 3 GG entschieden, die Reichweite des Grundrechtsschutzes wird durch Art. 21 Abs. 1 maßgeblich beeinflusst“.60

Der Verweis auf die Gestaltungswirkung des Art. 21 Abs. 1 GG für die Reichweite des Grundrechtsschutzes ist für die Frage nach den Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Be-tätigung von Parteien bedeutsam. Das Besondere an der wirt-schaftlichen Betätigung ist ihre mangelnde parteipolitische Spezifität – plastisch ausgedrückt: Gesellschaftsanteile an einer Wurstwarenfabrik tragen zur politischen Willensbildung nichts bei. Dies mag bei Beteiligungen an Medienunterneh-men anders sein, was dann eigene Probleme aufwirft (dazu sogleich). Bestimmt man den Anwendungsbereich der Betä-tigungsfreiheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG weit und rechnet wirtschaftliche Betätigung hinzu, könnte man einen Schutz aus Art. 12 GG entfallen lassen, wie es einige Stim- 56 Krüper/Kühr, ZJS 2014, 16. 57 Statuslehre entfaltet bei Hesse, VVDStRL 17 (1959), 11. 58 Ipsen (Fn. 35), Art. 21 Rn. 29. 59 Klein (Fn. 41), Art. 21 Rn. 258 f. 60 Klein (Fn. 41) Art. 21 Rn. 262.

men in der Literatur tun. Soweit Parteien erwerbswirtschaft-lich tätig seien, könne eine Verbindung mit ihrer verfassungs-rechtlichen Funktion angenommen werden, woraus der Schutz des Art. 21 Abs. 1 GG resultiere.61 Andere wollen neben dem Schutz aus Art. 21 Abs. 1 GG den Parteien auch den Schutz aus Art. 12 GG zusprechen, sofern die wirtschaftliche Betäti-gung gerade nicht unspezifisch ist, sondern einen Bezug zur Willensbildungsfunktion aufweist.62 Diese Auffassung hat den Vorzug, Art. 12 GG und Art. 21 Abs. 1 GG miteinander zu kompatibilisieren und prozessual die Verfassungsbeschwerde zu eröffnen, bringt aber das Folgeproblem mit sich, funktions-spezifische und funktionsunspezifische erwerbswirtschaftliche Tätigkeit voneinander abgrenzen zu müssen. Weiter geht in-soweit eine Auffassung, die zwischen funktionsbezogenen und funktionsunspezifischen wirtschaftlichen Tätigkeiten dif-ferenziert. Letztere werden dem Schutz des Art. 12 GG unter-stellt, funktionsbezogene Tätigkeiten aber dem des Art. 21 Abs. 1 GG. Zwar entfällt auch bei dieser Auffassung nicht die im Tatsächlichen liegende Herausforderung, funktions-spezifische von funktionsunspezifischer wirtschaftlicher Tätig-keit abzugrenzen. Allerdings ist der effektive Betätigungs-schutz durch Art. 21 GG einerseits und Art. 12 GG anderer-seits nicht substantiell verschieden, weil sich erstens auch durch Art. 21 GG geschützte Tätigkeit den für wirtschaftliche Unternehmungen allgemein geltenden Vorschriften unterwer-fen muss und zweitens die spezifischen Schranken, die sich aus besonderen Publizitäts- und Rechenschaftspflichten der Parteien ergeben,63 hier wie dort gelten.

Zusammenzufassen ist: Parteien können nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG Träger von Grundrechten sein. Soweit es um die Begründung des Schutzes wirtschaftlicher Betäti-gung geht, ist die Rechtsposition der Parteien umstritten: Sie können sich entweder grundsätzlich auf Art. 21 Abs. 1 GG berufen, nach anderer Auffassung daneben dann auf Art. 12 GG, sofern es sich um funktionsbezogene wirtschaftliche Tätigkeiten handelt oder schließlich auf Art. 21 Abs. 1 GG für funktionsspezifische und auf Art. 12 GG für unspezifische Tätigkeiten. Die beiden letztgenannten Auffassungen haben dabei den Vorzug eines differenzierten Umgangs mit der sys-tematischen Spannungslage von Art. 21 Abs. 1 GG und Art. 12 GG, sehen sich allerdings vor das Problem einer sinnvollen Abgrenzung der verschiedenen Betätigungsarten gestellt. 2. Medienbeteiligung als Sonderfall a) Medien im politischen Meinungskampf Einen Sonderfall erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit von Par-teien bilden Fälle der Medienbeteiligung, in denen politische Parteien (maßgeblichen) ökonomischen Einfluss etwa auf Verlagshäuser, Radio- und Fernsehanstalten haben. In der Frage nach der Zulässigkeit von Medienbeteiligungen fließt das Problem der Grundrechtsträgerschaft politischer Parteien aus Art. 12 GG mit dem weitergehenden Problem zusammen, ob der privilegierte Zugang zu Medien der Massenkommuni-

61 Etwa Ipsen (Fn. 35), Art. 21 Rn. 46. 62 Etwa Morlok (Fn. 13), Art. 21 Rn. 55. 63 Kersten (Fn. 13), § 1 Rn. 147.

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AUFSÄTZE Julian Krüper/Hana Kühr

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kation politischen Parteien in einer egalitär angelegten Demo-kratie überhaupt offenstehen sollte. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass in sogenannten Mediengesellschaften64 der rechtliche oder rein tatsächliche Zugriff auf Massenkom-munikationsmedien im politischen Wettbewerb von wettbe-werbsrelevanter Bedeutung sein kann. Als Beispiel für die Probleme einer zu engen Verknüpfung des politischen Sys-tems mit den Medien gilt seit geraumer Zeit das „System Berlusconi“, des ehemaligen italienischen Ministerpräsiden-ten, der über erhebliche Beteiligungen an italienischen Fern-sehsendern und Verlagshäusern verfügt und diese auch ge-zielt für seine politischen Zwecke instrumentalisiert. Recht-lich ist das beachtlich, weil es unserem Verständnis nach eine wesentliche Funktion nicht allein der Medien- und Kommu-nikationsgrundrechte ist, zwischen dem Staat und der Gesell-schaft Distanz zu schaffen, damit sich der Staat in Gestalt der Politik, aber auch der Behörden, nicht der freien gesellschaft-lichen Willensbildung bemächtigen kann. Dieses Konzept, das auf den Begriff der Unterscheidung von Staat und Gesell-schaft gebracht wird, ist ein generelles Kennzeichen einer rechtsstaatlichen Ordnung65, die darin auch Voraussetzung für ein funktionierendes demokratisches System ist, das auf Kon-trolle und Öffentlichkeit der Politik angewiesen ist. b) Medienbeteiligungen in der Verfassungsrechtsprechung Ob Parteien Anteile an Medienunternehmungen sollen halten dürfen, war 2007 Gegenstand einer weitbeachteten Entschei-dung des Bundesverfassungsgerichts, das in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle über die Verfassungsmäßig-keit des Hessischen Privatrundfunkgesetzes (HPRG) zu urtei-len hatte.66 Das HPRG sah vor, dass die Veranstaltung von Rundfunk einer Zulassung bedurfte, die unter bestimmten Voraussetzungen, die § 6 HPRG definierte, erteilt werden konnte. Während § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG in der Fassung von 1995 politischen Parteien generell die Möglichkeit versagte, eine solche Zulassung zu bekommen, wurde in § 6 Abs. 2 Nr. 4 HPRG 2000 nicht nur politischen Parteien, sondern auch Unternehmen, an denen diese wirtschaftlich beteiligt sind, eine Zulassung versagt. Zudem wurden Unternehmen ver-pflichtet, Beteiligungsverhältnisse offenzulegen, um die Ein-haltung des Gesetzes zu ermöglichen. Das Gesetz, das von der damaligen CDU/FDP-Koalition im Hessischen Landtag beschlossen wurde, zielte dabei auf die zahlreichen Medien-beteiligungen der SPD, die diese über die Medienbeteiligungs-gesellschaft „ddvg“ hielt. Es war insofern auch nicht erstaun-lich, dass Abgeordnete der SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle an das Bundesverfas-sungsgericht richteten und vortrugen, dass das HPRG formell und materiell nicht mit der Verfassung in Einklang stehe. Materiell rügten die Antragsteller eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 21 GG sowie die Verletzung weiterer Grundrechte der Parteien und beteiligten 64 Zu Strukturmerkmalen der Mediengesellschaft siehe Schade, in: Imhof u.a. (Hrsg.), Mediengesellschaft, 2004, S. 114 (120) et passim. 65 Schmidt-Aßmann (Fn. 4), § 26 Rn. 25. 66 BVerfGE 121, 30.

Unternehmen. Damit lag die Frage nach der Medienbeteili-gung politischer Parteien auf dem verfassungsgerichtlichen Richtertisch – in einer durchaus typischen prozessualen Kon-stellation einer abstrakten Normenkontrolle, mit der sich hier, gewissermaßen über die Bande der Bundestagsfraktion ge-spielt, die SPD-Opposition im hessischen Landtag gegen das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zur Wehr setzte. Da die Frage der Verfassungsmäßigkeit des HPRG aber auch für die Gesamtpartei der SPD von höchster Wichtigkeit war, fiel es sicher nicht schwer, die Mitglieder der Bundestags-fraktion zur Antragstellung zu bewegen. Aufgrund der Be-deutung für die Gesamtpartei war daher auch das Interesse an einer Klärung gerade durch das Bundesverfassungsgericht er-klärlich. Eine Klärung durch den Hessischen Staatsgerichts-hof, die im Grundsatz auch in Betracht gekommen wäre, hätte die Rechtsfrage nur für Hessen geklärt, damit aber das Risiko nicht beseitigt, dass ähnliche oder vergleichbare Rege-lungen in anderen Bundesländern auch versucht würden.

Aufgerufen, die Rechtsfrage nach Medienbeteiligungs-fähigkeit der politischen Parteien zu beantworten, entschied sich das Bundesverfassungsgericht für das verfassungsrechts-typische „Sowohl-als-auch“, das um verhältnismäßigen Aus-gleich bemühte Entscheidungen kennzeichnet. Zwar verwarf das Gericht die Bedenken gegen die formelle Verfassungs-widrigkeit der Norm, urteilte aber dann: „Jedenfalls der voll-ständige Ausschluss der Zulassung von Unternehmen, an de-nen politische Parteien oder Wählergruppen beteiligt sind, zur Veranstaltung von Rundfunk ist nicht mit der Verfassung vereinbar“.67 Im Kern der Argumentation des Gerichts steht ein „soweit“-Argument, mit dem es die Reichweite der ge-setzgeberischen Gestaltungsbefugnis beschreibt. Zwar könne der Gesetzgeber den Parteien sowohl mittelbare wie unmit-telbare Beteiligungen an Rundfunkunternehmen untersagen, aber nur soweit sie „dadurch bestimmenden Einfluss auf die Programmgestaltung oder die Programminhalte nehmen kön-nen“.68

Im Grundsatz sei die Organisation des öffentlich-recht-lichen Rundfunks vom Grundsatz der Staatsfreiheit beherrscht, was auch im Verhältnis zwischen Rundfunk und politischen Parteien zu gelten habe, wiewohl diese nicht selber Staat seien, aber eben doch in „Staatsnähe“69 angesiedelt. Anderer-seits seien die Parteien auch Träger von Grundrechten, insbe-sondere auch des Rechts der Meinungs- und Rundfunkfreiheit, das ihrem Wesen als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft und ihrer Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willens-bildung gerade entspreche: „Die Kommunikationsfreiheiten aus Art. 5 Abs. 1 GG ergänzen die besondere, durch den Mit-wirkungsauftrag des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG geprägte Funktion der Parteien“.70 Welcher Mittel und Medien sich die Parteien bei der Wahrnehmung dieser Funktion bedienten, stehe ihnen grundsätzlich frei.71 Ein vollständiges Verbot von Parteibeteiligungen am Rundfunk sei daher verfassungswid-

67 BVerfGE 121, 30 (46). 68 BVerfGE 121, 30 (50). 69 BVerfGE 121, 30 (53). 70 BVerfGE 121, 30 (57). 71 BVerfGE 121, 30 (57).

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rig. Indes, so das Gericht, müsse der Gesetzgeber aber durch-aus dafür Sorge tragen, dass ein bestimmender Einfluss von Parteien auf Rundfunkunternehmen nicht entstehe, denn die Rundfunkfreiheit wolle sowohl die Fremdbeherrschung einer Rundfunkanstalt als auch schon eine niedrigschwelligere poli-tische Instrumentalisierung ausschließen. Das Verbot bestim-menden Einflusses der politischen Parteien diene insofern auch der Abwehr einer staatsnahen Einflussnahme auf den Rundfunk.72 Dem Missbrauch auch geringer Beteiligungs-verhältnisse könne im Übrigen durch weitreichende Offenle-gungspflichten der Beteiligungsverhältnisse entgegengewirkt werden.73

Die Entscheidung ist ein Beispiel dafür, wie die interme-diäre Stellung politischer Parteien zwischen Staat und Gesell-schaft, ihre Rolle als Verfassungsorgan einerseits und privat-rechtsförmige Organisation andererseits die Entscheidung konkreter Rechtsfragen prägt. Die Zwischenstellung der Par-teien macht rechtliche „entweder/oder“-Lösungen unwahr-scheinlich, sie verlangt nach differenzierten Argumentationen und einem verhältnismäßigen Ausgleich betroffener Rechts-positionen. Weder sind in der parteienrechtlichen Fall-Lösung also übermäßige Permissivität gegenüber dem Handeln poli-tischer Parteien, noch besondere Restriktivität angezeigt. VI. Ausblick Parteien begegnen uns vor allem als diejenigen Organisations-einheiten, die für den Ablauf von Wahlen von zentraler Be-deutung sind. Wahlen ohne Parteikandidaten und Listen-bewerber von Parteien sind in unserem politischen System kaum vorstellbar. Parteien haben also eine ganz zentrale Wahl-ermöglichungsfunktion, Erfolg bei Wahlen ist ihre Motivation und ihr Ziel. Daher wird im folgenden vierten Beitrag dieser Reihe die besondere Rolle von Parteien bei Wahlen im Mittel-punkt stehen.

72 BVerfGE 121, 30 (61). 73 BVerfGE 121, 30 (67 f.).

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Normenkontrollen – Teil 2 Fragen der Zulässigkeit: Abstrakte Normenkontrolle Von Prof. Dr. Lothar Michael, Düsseldorf* IV. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der wichtigsten Normenkontrollverfahren 1. Vorbemerkungen zu den Eigenheiten der Auslegung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und zu dessen Bedeutung für die Juristenausbildung Verfassungsprozessrecht ist für viele Studierende ein Buch mit sieben Siegeln. Sieben Vorbemerkungen sollen deren Ent-schlüsselung erleichtern:

Erstens: Verfassungsprozessrecht ist nicht wie jedes Pro-zessrecht und es ist insbesondere keine bloße Abwandlung des Verwaltungsprozessrechts.1 Das Verfassungsprozessrecht ist fragmentarisch und zeichnet sich durch gewisse Ecken und Kanten aus, die durch Auslegung nicht umfänglich zu glätten sind, mögen die Mosaiksteine auch ein insgesamt fast geschlossenes Bild2 ergeben und die Verfassungsentscheidung zugunsten einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit3 belegen. Es gibt – anders als im Verwaltungsprozessrecht nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO – keine Generalklausel des Verfassungs-prozessrechts,4 sondern in § 13 BVerfGG enumerativ aufge-zählte Verfahrensarten. Etwaige Lücken sind auch nicht etwa wegen Art. 19 Abs. 4 GG zu schließen, der einerseits nur subjektiven Rechtsschutz gebietet und andererseits nicht auch verfassungsgerichtliche Kontrolle. Das BVerfG neigt aller-dings dazu, Zulässigkeitsvoraussetzungen dann sehr großzügig auszulegen, wenn es als „Hüter der Verfassung“5 in der Sa-che entscheiden will (z.B. Zulässigkeit einer konkreten Nor-menkontrolle über Europäisches Sekundärrecht in der So- * Der Verf. ist Inhaber einer Professur für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Der Beitrag ist die Fortsetzung des Beitrags „Normenkontrollen – Teil 1 – Funktionen und Systematisierung“, ZJS 2012, 756. Dem vor-liegenden Teil 2 zu den Fragen der Zulässigkeit der abstrak-ten Normenkontrolle werden weitere Teile folgen: Die Teile 3 bis 5 sind den Fragen der Zulässigkeit der übrigen Normen-kontrollverfahren gewidmet, nämlich der konkreten Normen-kontrolle (Teil 3), der Rechtssatzverfassungsbeschwerde und Kommunalverfassungsbeschwerde (Teil 4) und der Normen-kontrolle zum Oberverwaltungsgericht (Teil 5). In Teil 6 werden schließlich die Begründetheit und Rechtsfolgen von Normenkontrollen behandelt. Der Verf. dankt Herrn Dr. Franz Unkel und Herrn Daniel Dunz für ihre Unterstützung. 1 Grundlegend Häberle, JZ 1973, 451: „Die Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts“. 2 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 409: Die Summe „kommt einer umfassenden Zuständigkeit recht nahe“. 3 Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 2. 4 BVerfGE 1, 396 (408). 5 Der für das BVerfG häufig verwendete Begriff (BVerfGE 89, 155 [168]) geht zurück auf H. Kelsen, Die Justiz, Bd. 6 (1930/31), 576 („Wer soll der Hüter der Verfassung sein?“), in Reaktion auf C. Schmitt, AöR 55 (1929), 161 („Der Hüter der Verfassung“).

lange I-Entscheidung6, Zulässigkeit von Verfassungsbeschwer-den in Ultra vires-Konstellationen und bei Integritätsrügen wegen eines „Anspruchs auf Demokratie“ aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG,7 Entscheidung über Verfassungsbeschwerde eines verstorbenen Beschwerdeführers8).

Zweitens: Bei der Auslegung des Bundesverfassungsge-richtsgesetzes richtet das BVerfG insofern in eigener Sache, als Zulässigkeitsfragen auch potentielle Korrektive gegen die Überlastung des Gerichts darstellen (ein Argument, das bei der Interpretation nicht nur von Subsidiaritätskriterien gele-gentlich den Ausschlag gibt). Nur zum Teil verweisen die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dabei auf die Zustän-digkeit anderer Gerichte, insbesondere der Fachgerichte, der Landesverfassungsgerichte, des EuGH und des EGMR. Be-sonderes Augenmerk verdienen die Konstellationen, in denen eine Verfassungskontrolle insoweit gegebenenfalls gar nicht stattfindet, wobei das BVerfG dann schon einmal von sonst restriktiven Auslegungen eine Ausnahme macht (siehe ers-tens).

Drittens: Anders als bei anderen Prozessordnungen ist das BVerfG beinahe9 das einziges Gericht, das mit der Auslegung und Anwendung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes be-fasst ist. Zudem handelt es sich um das höchste Gericht mit seiner überragenden Autorität. Es bezeichnet sich gar selbst als „Herr des Verfahrens“10. Der sonst so lebhafte Diskurs zwischen Gerichten über die Interpretation von Gesetzen fin-det hier also nicht statt.

Viertens: Bei all dem hat das BVerfG auch kaum den Ge-setzgeber als „Pendant“. Es gibt wenig politische Anreize, sich als Gesetzgeber mit Änderungen des Bundesverfassungs-gerichtsgesetzes zu profilieren: Zuständigkeiten zu erweitern, würde das Überlastungsproblem des Gerichts verschärfen. Sie zu beschränken11 wäre angesichts der einzigartigen Akzep-tanz gerade dieser Verfassungsinstitution unpopulär. Zudem stünde jede Beschränkung der Macht des BVerfG durch den Gesetzgeber in dem Verdacht, der Gesetzgeber wolle sich

6 BVerfGE 37, 271 – Solange I. 7 BVerfG, Urt. v. 18.3.2014 – 2 BvE 6/12 u.a., Rn. 125 = EuGRZ 2014, 193 (211), mit Verweis auf BVerfG, Vorlage-beschl. v. 14.1.2014 – BvR 2728/13 u.a., Rn. 53, einerseits und auf BVerfGE 123, 267 (340); 129, 124 (177); 132, 195 (238 Rn. 104), andererseits. 8 BVerfGE 124, 300 – Wunsiedel. 9 Freilich sind die Vorschriften über die konkrete Normen-kontrolle auch von den Fachgerichten auszulegen. Aber auch insoweit wirkt hier die Rechtsprechung des BVerfG unita-risch. 10 BVerfGE 13, 54 (94); kritisch: Schlaich/Korioth, Das Bun-desverfassungsgericht, 9. Aufl. 2012, Rn. 56; letztlich zustim-mend: Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 23. 11 Zu solchen Phänomenen in Österreich und in den USA in den 1930er Jahren Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 19.

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Normenkontrollen – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT

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verfassungsrechtlicher Bindungen durch die Beschränkung von deren Durchsetzbarkeit entledigen.12 So lässt sich für extensive Auslegungen der Zuständigkeitsvorschriften gerade von Normenkontrollen das Argument bringen, dass vom Ge-setzgeber wenig zu erwarten ist, die Kontrolle seiner eigenen Tätigkeit zu verschärfen und es deshalb legitim ist, wenn das BVerfG solche Rechtsfortbildung selbst in die Hand nimmt, statt auf einen Vorbehalt des Gesetzes, d.h. die Notwendig-keit einer ausdrücklichen Änderung des Bundesverfassungs-gerichtsgesetzes, zu verweisen.13 Das Enumerationsprinzip der Verfahrensarten widerspricht nicht der Rechtsfortbildung hinsichtlich der Verfahrensvoraussetzungen. Letztere muss freilich das Wesen der Verfahrensarten berücksichtigen, das wiederum durch Interpretation zu ermitteln ist.

Fünftens: Im Vergleich zu der sehr lebhaften und vom BVerfG intensiv aufgegriffenen Literatur zu Fragen des Ver-fassungsrechts bleibt das Verfassungsprozessrecht relativ unterbelichtet. Rüdiger Zuck schreibt im Vorwort zur vierten Auflage seines Buches zur Verfassungsbeschwerde: „Solange wir auf eine echte verfassungsprozessuale Dogmatik verzich-ten müssen, bleiben alle Detailuntersuchungen defizitär.“ Die weniger diskursive Durchdringung des Verfassungsprozess-rechts zeigt sich auch darin, dass die verfassungsgerichtlichen Ausführungen hierzu vergleichsweise kurz und apodiktisch ausfallen. Wird der deutschen Staatsrechtslehre nachgesagt, sie vollziehe nur nach, was das BVerfG entschieden habe („Verfassungsgerichtspositivismus“14), dann wäre ihr insofern vorzuhalten, sie interessiere sich nicht einmal dafür.15

Sechstens: Die eben zitierte „Solange-Formel“ von Zuck spiegelt sich bemerkenswerterweise nicht in Ausbildungs- und Prüfungsordnungen. Wie nahe läge es, das Verfassungs-prozessrecht „solange“ nicht zu lehren und zu prüfen, wie solche dogmatischen Defizite bestehen. Das Gegenteil ist der Fall: Verfassungsrechtliche Klausuren mit prozessualem Auf-hänger gehören zum Standard. Die Studierenden könnten sich fragen, welche Fähigkeiten sie bei solchen Aufgabenstellun-gen eigentlich unter Beweis stellen sollen, wenn es eine Dog-matik gar nicht gibt. Dass es Sinn der Ausbildung wäre, mög-lichst viele Details aus der Rechtsprechung zu kennen, darf und sollte vehement bestritten werden. Das gilt umso mehr für ein Rechtsgebiet, mit dem nur ein minimaler Teil der Studierenden in der Praxis je konfrontiert sein wird.

Siebtens: Einziger Sinn der Beschäftigung mit dem Bun-desverfassungsgerichtsgesetz in der Ausbildung und in einer Ausbildungszeitschrift kann es sein, methodische und grund-

12 In der Literatur wird hiergegen sogar Art. 79 Abs. 3 GG in Stellung gebracht: Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 18. 13 Anders Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 1 Rn. 3, der fordert, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz „besonders ‚strikt‘“ anzuwenden, und den Gesetzgeber auf-fordert, dieses nachzubessern. 14 Jestaedt, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt (Hrsg.), Nomos und Ethos – Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern, 2002, S. 183. 15 Hillgruber/Goos (Fn. 10), Rn. 24, bezeichnen die Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsfortbildung in Bezug auf das Bundesverfassungsgerichtsgesetz als „müßig“.

sätzliche Fragestellungen des Prozessrechts einerseits und des Verfassungsrechts andererseits an deren Schnittstelle zu the-matisieren. Der Stoff eignet sich für Prüfungen gerade des-halb, weil es viel mehr um „Verständnis“ als um „Wissen“ geht. Allein im Umgang damit, dass Vorschriften zum Ver-fassungsprozessrecht sowohl im Grundgesetz als auch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu beachten sind, lässt sich Sensibilität für den Stufenbau der Rechtsordnung beweisen. Und die – wie in jedem Rechtsgebiet existierenden – Inter-pretationsspielräume gilt es mit allgemein prozessrechtlichen16 und staatsorganisationsrechtlichen Argumenten zu füllen. Um Verfassungsprozessrecht als „konkretisiertes Verfassungs-recht“17 zu begreifen, ist es hilfreich, sich das jeweilige Telos der einzelnen Verfahrensarten im Gewaltengefüge zu verge-genwärtigen, bevor wir einzelne Zulässigkeitsvoraussetzun-gen in den Blick nehmen. 2. Abstrakte Normenkontrollen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Telos der abstrakten Normenkontrolle ist das objektiv rechts-staatliche Interesse daran, die Gültigkeit zweifelhafter Nor-men allgemein verbindlich klären zu können und die Normen-hierarchie i.S.e. Herrschaft des Rechts durchzusetzen. Das zeigt sich daran, dass keine subjektive Antragsbefugnis er-forderlich und keine Frist zu beachten ist, dass die abstrakte Normenkontrolle anderen Verfahren gegenüber nicht als sub-sidiär gilt und daran, dass der Antragsgegenstand weit ver-standen wird (nicht nur Parlamentsgesetze). Das bedeutet aber keineswegs, dass abstrakte Normenkontrollen lückenlos möglich und voraussetzungslos zulässig sind. Auch eine groß-zügige teleologische Auslegung der einschlägigen Vorschrif-ten darf nicht darüber hinweggehen, dass die Verfassungsge-richtsbarkeit die Verfassungskonformität allen staatlichen Handelns nicht umfassend garantiert. Außerdem ist zu be-denken, dass es daneben andere Normenkontrollverfahren gibt und die jeweils einschlägigen Vorschriften auch darauf zu hinterfragen sind, wie sie sich unterscheiden, wie sie sys-tematisch ineinandergreifen und sich wechselseitig ergänzen. a) Zuständigkeit Das BVerfG ist für abstrakte Normenkontrollen nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG zuständig. Beachte, dass es derartige Verfahren auch vor den Landesverfassungs-gerichten gibt (z.B. nach Art. 75 Nr. 3 VerfNRW vor dem nordrhein-westfälischen Verfassungsgerichtshof). Wenn ein

16 BVerfGE 1, 108 (110 f.) spricht von der Notwendigkeit und dem Auftrag an das BVerfG, manche Lücken des Bundes-verfassungsgerichtsgesetzes „im Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht“ nach Grundsätzen der Zweckmäßigkeit zu schließen. Das gilt aber nicht für Verfah-rensarten als solche, sondern für Detailfragen, z.B. der im Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht geregelten Prozess-fähigkeit. 17 Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 23, in Anknüpfung an das berühmte Diktum zum Verwaltungsrecht von F. Werner, DVBl. 1959, 527 („Ver-waltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“).

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AUFSÄTZE Lothar Michael

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Landesgesetz sowohl gegen Landesverfassungsrecht als auch gegen das Grundgesetz verstößt, sind beide Verfahren neben-einander denkbar. Die abstrakte Normenkontrolle zum BVerfG ist anderen Verfahren gegenüber nicht subsidiär.18 Die Verfahren vor den Landesverfassungsgerichten eröffnen v.a. auch den Landtagen die Möglichkeit der Antragsberech-tigung – dies aber nur zur Überprüfung von Landesrecht. b) Antragsberechtigung Der Kreis der Antragsberechtigten ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG geregelt: Danach können die Bundes-regierung, eine Landesregierung sowie ein Viertel der Mit-glieder des Bundestages die abstrakte Normenkontrolle beim BVerfG beantragen. Die Regelung ist abschließend. Der be-schränkte Kreis der Antragsberechtigten zeigt, dass das Ver-fassungsprozessrecht nicht auf Lückenlosigkeit angelegt ist.

Zur Vertiefung: Sowohl bundesstaatliche als auch partei-politische Motivationen19 können politischer Auslöser sein. Die Politik neigt immer mehr dazu, gerade hochpolitische Fragen „nach Karlsruhe“ zu bringen. Normenkontrollen ha-ben aber nicht den Zweck, dort ein besonders qualifiziertes Forum für schwierige Abwägungsentscheidungen hinzuzu-gewinnen.

Weder sollen umstrittene Normen durch eine verfassungs-gerichtliche Überprüfung und Bestätigung zusätzliche Legi-timation erfahren, noch soll das BVerfG dem Gesetzgeber bei heiklen Wertungsfragen die Entscheidung abnehmen oder vor-prägen, für die den Politikern Mut, Kraft oder Ideen fehlen. Aus der Konzeption des Grundgesetzes ist zu schließen, dass die abstrakte Normenkontrolle dem Vorrang höherrangigen Rechts und nicht dem Schutz der Opposition dienen soll – sonst müsste es der Opposition stets zur Verfügung stehen, die aber im Grundgesetz als solche keinen Verfassungsstatus hat.20 Weder hat der Gesetzgeber auch dem Bundesrat föderal motivierte Anträge ermöglicht noch einzelnen Fraktionen im Bundestag das Antragsrecht zuerkannt. Auch wenn ein Be-dürfnis bestünde, dass z.B. auch die Landtage gegen eine bundesgesetzliche Beschränkung21 ihrer Befugnisse vorgehen, ist ein solches Verfahren unzulässig. Nur in dem speziellen Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG sind abweichend von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG neben den Landesregierungen auch der Bundesrat und die Landtage antragsberechtigt. Nur faktisch, nicht aber normativ ist somit die abstrakte Normen-kontrolle als ein verfassungsrechtliches Instrument der Oppo-sition zu qualifizieren. So ist auch die Hürde von einem Vier- 18 BVerfGE 8, 104 (110); W. Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 93 Rn. 32. 19 Der Aufzählung bei Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 1 Fn. 2, wäre hinzuzufügen, dass sich bundesstaatliche und parteipoli-tische Fragen häufig überlagern. 20 Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 125. 21 Ein Beispiel hierzu wäre der Fall, dass der Bundesgesetz-geber im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebungskom-petenz ein grundrechtswidriges Gesetz erließe, das nach Art. 72 Abs. 1 GG die Ausübung der Gesetzgebungskompe-tenz des Landes verdrängte.

tel der Mitglieder des Bundestages immer noch hoch, wenn man bedenkt, dass im Organstreitverfahren schon eine Frak-tion bzw. 5 % der Abgeordneten antragsberechtigt sind. Die Herabsetzung des Quorums von einem „Drittel“ auf ein „Viertel“ durch Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 8.10.200822 hatte den Hintergrund, dass sonst in Zeiten der „großen“ Koalitionen mit mehr als zwei Drittel der Stimmen des Bundestages die Opposition faktisch keine Chance hätte, verfassungsrechtliche Bedenken gegen Gesetze vor das BVerfG zu bringen. Dass die Herabsetzung des Quorums dazu gegebenenfalls nicht ausreichen kann, zeigte sich schon fünf Jahre später in der 18. Legislaturperiode. Nur größere Oppositionsparteien können sowohl über das Bundestagsquorum als auch über eine Landesregierung die abstrakte Normenkontrolle bzw. deren Androhung auch poli-tisch zu instrumentalisieren versuchen. Da verfassungsrecht-liche Fragen auch politische Fragen sind, ist wegen des rein rechtsstaatlichen Charakters der abstrakten Normenkontrolle umso mehr darauf zu achten, dass die Entscheidungsmaß-stäbe und auch der Stil der mündlichen Verhandlungen vor den Verfassungsgerichten den verfassungsrechtlichen Rahmen nicht verlassen.23

Beachte, dass der Bundespräsident Normen nicht zur Überprüfung vor das BVerfG bringen kann. Deshalb stellt sich für ihn bei der Ausübung seines umstrittenen materiellen Prüfungsrechts24 nur die Entscheidungsalternative, das Gesetz eigenverantwortlich auszufertigen oder nicht auszufertigen. Im letzteren Fall kann dann eine Organstreitigkeit gegen den Bundespräsidenten stattfinden, bei der die Verfassungswid-rigkeit des auszufertigenden Gesetzes jedenfalls mittelbar eine Rolle spielt. Ob der Maßstab dabei auf die Offensicht-lichkeit beschränkt ist und insofern von dem einer Normen-kontrolle abweichen könnte, ist fraglich. Nach hier vertrete-ner Auffassung ist dies abzulehnen. Es wäre kaum vermittel-bar, dass das BVerfG im Organstreitverfahren feststellen würde, der Bundespräsident müsse ein Gesetz ausfertigen, das das BVerfG selbst für verfassungswidrig – aber nicht für offensichtlich verfassungswidrig – hält. Es wäre dann ein Gesetz auszufertigen, das im nächsten Augenblick durch eine Normenkontrolle zu verwerfen wäre. Dass der Bundespräsi-dent die Ausfertigung nur in evidenten Fällen soll verweigern dürfen, ist zwar ein seiner Stellung entsprechendes Postulat des Organrespekts gegenüber dem Parlament einerseits und dem Normenkontrollapparat des BVerfG andererseits. Eine justitiable Beschränkung seines Prüfungsrechts folgt daraus aber nicht.25

22 BGBl. I 2008, S. 1926; dazu Schmidt-Jortzig, in: Butzer/ Kaltenborn/Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat – Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 271. 23 Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 668. 24 Dazu Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, Rn. 869 ff.; kritisch zu Überlegungen de constitutione ferenda Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 672. 25 Morlok/Michael (Fn. 24), Rn. 878.

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Normenkontrollen – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT

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c) Antragsgegenstand Gegenstand der Überprüfung kann bei der abstrakten Nor-menkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 „Bundesrecht oder Landesrecht“ sein. Mit „Recht“ sind – im Gegensatz zum „Gesetz“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG bei der konkreten Normenkontrolle – nicht nur Gesetze im formellen Sinne26, sondern auch Verordnungen oder Satzungen, also Gesetze im materiellen Sinne gemeint sowie vorkonstitutionelles Recht. In Betracht kommen auch verfassungsändernde Gesetze i.S.d. Art. 79 Abs. 1 GG, um ihre formelle Verfassungswidrigkeit oder einen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG überprüfen zu können. Landesverfassungsrecht kann materiell am Maßstab des Homogenitätsprinzips (Art. 28 Abs. 1, Art. 142 GG) ge-messen werden.27 Unproblematisch erfasst sind damit jeden-falls geschriebene Normen des nationalen Rechts, deren Recht-setzungsverfahren mit der Verkündung abgeschlossen ist (un-abhängig davon, auf welchen Zeitpunkt das Inkrafttreten bestimmt ist).

Auch die Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Ver-trägen nach Art. 59 Abs. 2 GG und vor allem die Integrations-gesetze nach Art. 23 Abs. 1 GG können Gegenstand der abs-trakten Normenkontrolle sein – und zwar schon ab dem Zeit-punkt der Zustimmung des Bundestages und Bundesrates, also schon vor Ausfertigung durch den Bundespräsidenten und vor der Verkündung. Dadurch kann das Unions-Primär-recht mittelbar – als Frage der Unterwerfung unter dieses – auf den Prüfstand der Integrationsschranken des Grundgesetzes kommen, bevor es in Kraft tritt. Das ist deshalb als Gegen-stand der abstrakten Normenkontrolle unproblematisch mög-lich, weil die Zustimmung in der Form eines deutschen Ge-setzes erfolgt.28 Nach der herrschenden, insoweit formalen (!) Betrachtung ist es aber (grundsätzlich) ausgeschlossen,29 das Unions-Sekundärrecht zum Gegenstand zu machen, denn dabei handelt es sich nicht um nationales Recht.

Zur Vertiefung: Die Interpretation von „Bundesrecht“ i.S.d. abstrakten Normenkontrolle changiert zwischen einer materiellen und formalen Betrachtungsweise. Das ist eine Frage der Interpretation, für deren Differenziertheit es gute Gründe gibt:

In einem materiellen Sinne erstreckt sich die abstrakte Normenkontrolle auf alle Rechtsnormen, die von der ersten und der zweiten Gewalt geschaffen wurden. Weil der Gegen- 26 Aber auch Gesetze im rein formellen Sinne, also das Haus-haltsgesetz: BVerfGE 20, 56 (89 ff.). 27 Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 127. 28 Soweit die Zustimmung zu Staatsverträgen nach dem Lan-desverfassungsrecht (z.B. Art. 66 VerfNRW, Art. 72 Abs. 2 BayVerf) nicht durch Gesetz, sondern durch schlichten Par-lamentsbeschluss erfolgt, wird auch jener für einen geeigne-ten Antragsgegenstand gehalten: H. Butzer, AöR 119 (1994), 61 (101, Fn. 159); zustimmend Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 2008, Art. 93 Rn. 58; Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 127, unter Berufung auf BVerfGE 90, 60, wo es (sogar) um eine konkrete Normen-kontrolle ging. 29 Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 680; Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 127.

stand hier weiter gefasst ist, kann die abstrakte Normenkon-trolle in umfassenderer Weise dem objektivrechtlichen Inte-resse der Rechtssicherheit dienen. Auch ungeschriebene Nor-men des Gewohnheitsrechts30 sowie Richterrecht31 können zum Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle gemacht werden, zumal hier das objektive Klarstellungsinteresse hin-sichtlich der Maßstäbe des Rechts sogar besonders groß ist.

Schon der Wortlaut des Grundgesetzes legt folgende sys-tematische Unterscheidung nahe: Der Antragsgegenstand der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) ist auf ge-schriebene „Gesetze“ beschränkt, weil die vorlageberechtig-ten Richter selbst das Richterrecht prägen können und an dieses nicht in einem streng normativen Sinne gebunden sind. Demgegenüber eröffnet die abstrakte Normenkontrolle den Antragstellern aus dem Bereich der Exekutive und Legislative die Möglichkeit, nicht nur Bundes- und Landesgesetze, son-dern Bundes- und Landesrecht auf den Prüfstand zu stellen. Es liegt nahe, den Unterschied zwischen Gesetz und Recht in geschriebenen bzw. ungeschriebenen Normen zu sehen (zu einem noch engeren Verständnis von Gesetz i.S.v. Parla-mentsgesetz Teil 3 unter 3. c).

Dafür spricht zudem, dass gerade die antragsberechtigten Organe der Gesetzgebung die Möglichkeit haben sollen, sich gegen „konkurrierende“ Rechtsmaßstabsetzung durch die dritte Gewalt zu wehren. Die Frage der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung ist von zentraler und zunehmender Bedeu-tung – sowohl als Frage der formellen (kompetenziellen) als auch der materiellen Vereinbarkeit mit der Verfassung. Hier-her gehört letztlich auch die Kontrolle über die Grenzen einer lediglich vermeintlich „verfassungskonformen“ Extension und Reduktion von Normen als möglicher Gegenstand. Entschei-dend für die Normenkontrollfunktion der Herstellung von Rechtssicherheit ist die reale Bedeutung, die auch dem so genannten Richterrecht nicht abgesprochen werden kann. Für Rechtsnormen ist deren Geltung erforderlich. Hypothetische Normen können deswegen nicht überprüft werden. Das BVerfG hat keinerlei Gutachtenkompetenz (mehr).32 Das Rechtsetzungsverfahren muss vielmehr mit der Verkündung abgeschlossen sein. Bis dahin liegt die Frage, ob die Norm überhaupt gelten soll, in den Händen der gesetzgebenden Organe (und des Bundespräsidenten, der von seinem Prüfungs-recht gegebenenfalls negativ Gebrauch machen und die Aus-fertigung verweigern könnte). Wenn ein Gesetz nicht mit Verkündung, sondern erst zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt in Kraft treten soll, kann die abstrakte Normenkon-trolle auch schon in dem Übergangszeitraum beantragt wer-den. Denn das Rechtsetzungsverfahren ist abgeschlossen und eine sodann möglichst frühzeitige Überprüfung dient dem objektiven Klärungsinteresse sogar in besonderer Weise. Im

30 Ebenso Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 677; M. Graßhof, in: Um-bach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichts-gesetz, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2004, § 76 Rn. 15. 31 Wie hier Hillgruber/Goos (Fn. 10), Rn. 502; anders ohne Begründung für die Differenzierung Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 677; zu formal scheint die Begründung bei M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 15: „keine Normqualität“. 32 Dazu Pestalozza (Fn. 13), § 17 Rn. 4 ff.

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AUFSÄTZE Lothar Michael

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Gegensatz zu anderen Normenkontrollen kommt es bei der abstrakten Normenkontrolle gerade nicht auf die bereits ent-standenen subjektiven Rechtswirkungen für einen einzelnen Betroffenen an.

Eine andererseits formale Betrachtungsweise legt nahe, „Bundesrecht“ und „Landesrecht“ in einem Gegensatz zum „Unionsrecht“ zu sehen. Dass auf diese Weise das Primär-recht und nur dieses indirekt über das deutsche Integrations-gesetz auf den Prüfstand kommen kann, ist auch teleologisch plausibel zu machen: Wenn überhaupt, dann ist der Integrati-onsakt die Gelegenheit, nationales Verfassungsrecht vor dem BVerfG in Stellung zu bringen. Es ist aber zu bedenken, dass es eine Frage der Interpretation ist, ob wir „Bundesrecht“ formal als nationales Recht verstehen wollen oder aber mate-riell als in Deutschland verbindlich geltendes Recht, wozu auch das Sekundärrecht gehören würde. Als das BVerfG in der Verlegenheit war, das Verhältnis zwischen Sekundärrecht und nationalem Verfassungsrecht klären zu wollen, hat es in der Solange I-Entscheidung die Zulässigkeit einer (seinerzeit konkreten) Normenkontrolle nicht an einer solchen formalen Sichtweise scheitern lassen.33 Das gibt umso mehr zu denken, als das BVerfG im Übrigen „Gesetze“ i.S.d. Art. 100 Abs. 1 GG noch formaler interpretiert als Bundesrecht i.S.d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Indes gäbe es durchaus Gründe, umgekehrt gerade bei der abstrakten Normenkontrolle insoweit strenger zu sein. „Bundesrecht“ und „Landesrecht“ benennt die Ebene der gegenständlichen Normen explizit. Und Antragsteller der abstrakten Normenkontrolle sind politische Institutionen, die das Verfahren und die das BVerfG instrumentalisieren könnten für eine „Opposition“ gegen die „Brüsseler Gesetzgebung“. Andererseits ist diese Gefahr schon deshalb nicht real, weil es das BVerfG in der Hand hat, in solchen Fällen ein objektives Klarstellungsinteresse abzulehnen. Sollte es je auf die poten-tiell denkbare Reaktivierung der Grundrechts-Kontrolle i.S.d. Solange II-Formel ankommen oder soll Sekundärrecht als ausbrechender Hoheitsakt der Ultra vires-Kontrolle des BVerfG oder der Identitätskontrolle34 unterworfen werden, stehen hierfür freilich regelmäßig auch die Verfahren der konkreten Normenkontrolle und v.a. der Verfassungsbe-schwerde offen.35 Das gilt aber nur dann, wenn Rechtswege eröffnet bzw. Grundrechte betroffen sind. Auf die abstrakte

33 BVerfGE 37, 271 (283): „[…] ist jede Form einer Verord-nung der Gemeinschaft i.S.d. Verfahrensvorschriften für das BVerfG [!] eine gesetzliche Vorschrift“. 34 Zu der Unterscheidung zwischen der Identitätskontrolle am Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG und der Ultra vires-Kontrolle am Maßstab des Primärrechts Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 88. 35 Im Ergebnis ebenso Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 680, wo einer-seits Sekundärrecht als Prüfungsgegenstand ausgeschlossen, andererseits aber auch auf die Ultra vires-Kontrolle durch das BVerfG hingewiesen wird und diese auch im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle für möglich gehalten wird (Rn. 90); ohne weitere Problematisierung nimmt auch Rozek, in: Maunz u.a. (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kommentar, 42. EL (Oktober 2013), § 76 Rn. 37, eine Öffnung der abstrakten Normenkontrolle für Grundrechts-Kontrolle, Ultra vires-Kon-trolle und Identitätskontrolle gegenüber dem Sekundärrecht an.

Normenkontrolle als einzige Möglichkeit könnte es aber z.B. ankommen, wenn eine Landesregierung die Beschränkung der Landeskompetenzen durch einen Ultra vires-Akt der Union geltend macht, durch den individuelle Rechte nicht berührt werden. Ein Bedürfnis (auch) abstrakter Normenkon-trollen gegenüber Sekundärrecht und damit deren potentielle Zulässigkeit kann jedenfalls nicht in toto ausgeschlossen werden.

Eine weitere formale Besonderheit gilt für Normen, die der Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages, insbeson-dere eines Integrationsschritts der Europäischen Einigung die-nen und damit ohne Zweifel Gegenstände einer abstrakten Normenkontrolle sein können (s.o.). Würde man auch hier den vollständigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens verlangen, könnte die Bundesrepublik völkerrechtlich bzw. unionsrechtlich gebunden werden, bevor das BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit dieser Bindung entscheiden kann. Derartige außenpolitische Zerreißproben heraufzubeschwören verbietet die europa- und völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes. Deshalb ist nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Antrag gegen ein solches Gesetz bereits zulässig, wenn die gesetzgebenden Körperschaften ihm zugestimmt haben,36 und der Bundespräsident ist sogar gehalten, in einem solchen Falle die Ratifikationsurkunde solange nicht zu hinter-legen, bis das BVerfG entschieden hat. Das BVerfG behan-delt derartige Verfahren deshalb vorrangig. Dies alles sind Aspekte des so genannten Interorganrespekts. d) Antragsgrund Der Antragsgrund der abstrakten Normenkontrolle besteht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG in „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“ über die Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit dem Grundgesetz oder mit dem (nach Art. 31 GG vorrangigen) sonstigen Bun-desrecht. Daraus ergeben sich drei (akademische) Probleme:

Erstens: Denkbar, aber hier nicht geregelt, wäre auch noch eine weitere Konstellation der Unvereinbarkeit einer an-tragsgegenständlichen Norm mit höherrangigem Recht, näm-lich der Verstoß einer untergesetzlichen Norm des Bundes-rechts mit einem förmlichen Bundesgesetz, also insbesondere der Verstoß einer Rechtsverordnung gegen seine Ermächti-gungsgrundlage. Nimmt man das Grundgesetz beim Wort, so könnte eine solche Rechtsverordnung zwar von den Fachge-richten inzident verworfen werden (das Verwerfungsmonopol des BVerfG greift nicht und eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG wäre unzulässig) – die entstehende Rechtsunsicherheit über die allgemein verbindliche Verwerfung könnte aber nur durch die Exekutive selbst (durch Aufhebung der Norm), nicht aber durch das BVerfG behoben werden. Für diese rechtsstaatlich unbefriedigende Zulässigkeitslücke gibt es – abgesehen davon, dass die Antragsteller in der Praxis regel-mäßig einen Verfassungsverstoß behaupten37 – einen Ausweg, den das Bundesverfassungsgerichtsgesetz weist. § 76 Abs. 1 BVerfGG kommt dem Antragsteller insoweit entgegen und 36 Das gilt auch für die Verfassungsbeschwerde: BVerfGE 112, 363 (367). 37 So auch bei BVerfGE 101, 1 (30).

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Normenkontrollen – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT

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lässt die Frage der Vereinbarkeit mit dem sonstigen Bundes-recht für alle antragsgegenständlichen Normen zu. Sieht man darin – trotz der an den engeren Wortlaut des Grundgesetzes anknüpfenden § 13 Nr. 6 und § 78 BVerfGG38 – eine Erwei-terung39 der Zulässigkeit der Verfahren vor dem BVerfG über das Grundgesetz hinaus, ist das insofern unproblematisch, als Art. 93 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber sogar die Möglichkeit einräumt, ganz neue Zuständigkeiten des BVerfG einzufüh-ren.

Zur Vertiefung: Die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG klaffende Lücke ist unbefriedigend.40 In der Literatur wird dies dadurch abzumildern versucht, dass jedenfalls eine Rechtsverordnung, die nicht von ihrer Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei, auch gegen das Grundgesetz – nämlich gegen Art. 80 GG – ver-stoße.41 Damit werden allerdings nur ein Teil der untergesetz-lichen Normen und nur ein Teil der gegebenenfalls kollidie-renden Bundesgesetze erfasst. Außerdem sprengt der Verweis auf Art. 80 GG, der seinerseits auf Gesetze verweist, die Grenze zwischen Verfassungsrecht und sonstigem Bundes-recht. Dieser Ansatz zu Ende gedacht könnte auch behaupten, jeder Verstoß einer untergesetzlichen Norm gegen ein Gesetz sei ein Verfassungsverstoß, weil die Exekutive nach Art. 20 Abs. 3 GG gesetzesgebunden sei.42 So würde allerdings im Rechtsstaat jede Unterscheidung zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht hinfällig43 und die explizite Unterschei-dung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zwischen dem Grundgesetz und „sonstigem Bundesrecht“ sinnlos. Gesucht ist deshalb eine Begründung, die eine Gesetzeskollision ausreichen lässt, ohne daraus eine Verfassungskollision zu machen. Das

38 Deswegen nimmt Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 11, ein re-daktionelles Versehen an. 39 M.E. handelt es sich weder um eine „missverständlich[e]“ (so aber H. Söhn, in: Starck [Hrsg.], Bundesverfassungsge-richt und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976, S. 292 [317]; Wieland [Fn. 28], Art. 93 Rn. 60 m.w.N.), noch um eine lediglich „verdeutlichend[e]“ (so aber K. Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Zweitbearbeitung 1982, Art. 93 Rn. 264) Regelung, sondern um eine echte Erweiterung. 40 Wie hier Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 11; anders M. Graß-hof (Fn. 30), § 76 Rn. 36 m.w.N., die allerdings im Rahmen der Begründetheit den Maßstab großzügiger fasst; ohne wei-tere Problematisierung Wieland (Fn. 28), Art. 93 Rn. 60; funktionsadäquat nennt E. Klein die nicht umfassende Durch-setzung der Normenhierarchie durch das BVerfG: Benda/ Klein (Fn. 2), Rn. 691. 41 Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 131; dagegen Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 691. 42 So im Ansatz K. Stern (Fn. 39), Art. 93 Rn. 264: „[…] da jedes Nichtbeachten höherrangigen Rechts die Normenhierar-chie als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips verletzt.“ Da-nach wäre jegliche Differenzierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG überflüssig und irritierend und insofern § 76 BVerf GG ebenfalls überflüssig, aber in der Tat „verdeutlichend“. 43 Wichtig, aber freilich auch nicht zwingend ist der Verweis darauf, dass diese Grenze auch Grenze der Verfassungsbe-schwerde ist: Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 11.

BVerfG44 hat im Rahmen der Begründetheit einer Normen-kontrolle gegen eine Verordnung deren Vereinbarkeit mit der Ermächtigungsgrundlage als Vorfrage erörtert, da anderen-falls kein gültiger Antragsgegenstand vorliege. Das zeigt, dass das BVerfG jedenfalls nicht – und sei es aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit – davor zurück-schreckt, auch einfachrechtliche Fragen der Rechtskollision zu stellen und zu beantworten. Der Ansatz ist indes keine Lösung des Zulässigkeitsproblems, sondern setzt einen zuläs-sigen Normenkontrollantrag voraus,45 um im Rahmen von dessen Begründetheit außerdem gegebenenfalls einfachrecht-liche Fragen – und zwar als Vorfrage – zu erörtern. Es sprä-chen sowohl institutionelle Gründe dafür, dass das BVerfG nur ausnahmsweise einfachrechtliche Fragen soll lösen müs-sen,46 als auch materielle Gründe dafür, dass das BVerfG jedenfalls im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle dem Rechtsstaat umfassend dadurch Rechnung tragen soll, dass es die Normenhierarchie in jedem Falle durchsetzt. Indes sind beide Konzeptionen nun einmal nicht „rein verwirklicht“ in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Die Verfassung verhält sich hierzu nicht eindeutig. Der an sich klare Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sagt nichts darüber, ob diese Frage verfassungs-rechtlich abschließend geregelt oder aber insoweit nur ein Mindeststandard garantiert ist. Das Enumerationsprinzip des Verfassungsprozessrechts ist nicht so zu verstehen, dass Kompetenzen und Verfahren des BVerfG unter einem Ver-fassungsvorbehalt stehen. Es gibt also keine zwingenden Argumente, dass die Frage dem nach Art. 94 Abs. 2 GG gesetzlich ausgestaltbaren Verfahrensrecht bzw. dem Rahmen der gegebenenfalls „sonst durch Bundesgesetz [dem BVerfG] zugewiesenen Fälle“ nach Art. 93 Abs. 3 GG entzogen ist. Überzeugend und mit hinreichender Deutlichkeit füllt das Gesetz den also insoweit bestehenden Spielraum, die Frage in § 76 Abs. 1 BVerfGG zu klären. Freilich ist dies eine objek-tive Auslegung, die einer ohne entsprechende Intention ent-standenen Formulierung einen Sinn erst zuweist. Wer solche Verfassungsausgestaltung von einem klar hervortretenden Ausgestaltungswillen abhängig machen möchte, kann plausi-bel auch von einem Redaktionsversehen ausgehen.47 Vorzugs-würdig ist es, die Herrschaft des Rechts als den Sinn der abs-trakten Normenkontrolle zu begreifen und deren Zulässigkeit großzügig auszulegen.

Zweitens: § 76 Abs. 1 BVerfGG weicht noch in einer wei-teren Hinsicht vom Text des Grundgesetzes ab. Das Bundes-verfassungsgerichtsgesetz konkretisiert bzw. übersetzt auch die verfassungsrechtliche Voraussetzung „Meinungsverschie-denheiten oder Zweifel“ durch zwei alternative Vorausset-zungen: Entweder hält der Antragsteller die Norm selbst „für nichtig“ (Nr. 1) oder aber „für gültig“ (Nr. 2). Damit hat der Gesetzgeber zwar die beiden in der Praxis typischen Konstel-lationen geregelt. Für den Fall, dass ein Antragsteller sich

44 BVerfGE 101, 1 (30). 45 Deutlich M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 37. 46 Dazu tendieren A. Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 126, und Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 691. 47 Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 11.

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AUFSÄTZE Lothar Michael

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zwischen diesen Alternativen nicht entscheiden kann, son-dern gleichsam „schwankende Zweifel“ vorträgt, wäre dies wegen der im Zweifel vorrangigen und insoweit großzügige-ren Regelung im Grundgesetz aber zulässig. Ziel einer abs-trakten Normenkontrolle kann es insbesondere auch sein, eine verfassungskonforme, restriktive Auslegung einer Vor-schrift verfassungsgerichtlich verbindlich klären zu lassen.48 Die Differenziertheit der möglichen Rechtsfolgen einer Nor-menkontrolle (dazu Teil 6), die gleichsam „zwischen“ der Nichtigerklärung und deren Gegenteil der Normbestätigung nicht nur die bloße Unvereinbarkeit, sondern auch eine ver-fassungskonforme Auslegung kennt, sollte sich auch in der Interpretation der Zulässigkeitsvoraussetzungen widerspiegeln.

Zur Vertiefung: Die soeben angesprochene Frage ist zwar praktisch kaum relevant, aber wie manche beliebte akademi-sche Streitigkeiten lehrreich, um Grundsatzfragen aufzuwer-fen und das Verständnis – hier des Verfassungsprozessrechts – zu vertiefen. Es lohnt sich also das Gedankenspiel, ob ein solcher, „zweifelnder“ Antrag zulässig wäre. Dagegen spricht der Wortlaut des § 76 Abs. 1 BVerfGG, wonach der Antrag „nur zulässig“ sein soll, wenn eine der beiden Alternativen vorliegt, der Antragsteller also selbst eindeutig Position be-zieht. Auch lässt sich argumentieren, dass Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG den Gesetzgeber ermächtigt, die Verfahren vor dem BVerfG näher auszugestalten.49 Die Regelungen zur abstrak-ten Normenkontrolle stellen das in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG garantierte Verfahren nicht in Frage und erschweren den Zugang nur geringfügig. In der Praxis haben soweit ersicht-lich alle Antragsteller, die den Aufwand eines solchen Ver-fahrens nicht gescheut haben, dessen Risiko seines Scheiterns nicht noch dadurch erhöht, dass sie ihre Überzeugung nicht klar gebildet und dargelegt hätten. Wenn die Literatur treff-lich die Notwendigkeit einer „prozessualen Notlüge“50 kon-statiert, dann sollte das im Rechtsstaat allerdings nachdenk-lich stimmen.

So überwiegen die Argumente, die Zulässigkeit auch ei-nes im Ergebnis lediglich „zweifelnden“ Antrags großzügig anzunehmen. Dafür spricht nicht nur der Wortlaut der vor-rangigen Regelung im Grundgesetz („Zweifel“ reichen). Der Sinn der grundgesetzlichen Formulierung erschließt sich systematisch aus dem Gegensatz zu Art. 100 Abs. 1 GG, wonach eine konkrete Normenkontrolle nur zulässig ist, „hält“ ein Gericht die vorgelegte Norm selbst „für verfas-sungswidrig“. Das Grundgesetz verlangt von einem vorle-genden Gericht mit gutem Grund, sich dezidiert zu äußern. Zum Wesen gerichtlicher Verfahren gehört es, dass sich das zuständige Gericht nicht einfach „enthalten“ darf. Außerdem entlastet eine juristisch professionelle Begründung für die Verfassungswidrigkeit einer Norm die Arbeit des BVerfG.

48 M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 26; für den Fall der Rüge einer fehlerhaften verfassungskonformen Auslegung: A. Voß-kuhle (Fn. 46), Art. 93 Rn. 123; W. Meyer (Fn. 18), Art. 93 Rn. 33; BVerfGE 119, 247 (258 f.). 49 So BVerfGE 96, 133 (137 f.) für das Verhältnis zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG; dagegen Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 688. 50 Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 130.

Schließlich ist es ein Gebot zügigen Entscheidens des kon-kreten Rechtsstreits, das Verfahren nicht unnötig auszuset-zen, sondern die Möglichkeiten einer Entscheidung ohne Vorlage auszuschöpfen. Ganz anders liegen die Dinge bei der abstrakten Normenkontrolle. Die Antragsteller könnten sich gegebenenfalls sogar einmal aus unterschiedlichen politischen Lagern zusammenfinden (etwa zwei Fraktionen des Bundes-tages, die zusammen ein Viertel der Mitglieder des Bundes-tages ausmachen). Warum sollen sich Abgeordnete, die keine Juristen sein müssen, nicht mit bloßen Zweifeln an das BVerfG wenden können? Zu Recht hat das BVerfG auch eine Zustimmung zu einem Gesetz im Bundesrat nicht als Hinde-rungsgrund angesehen, die Verfassungsmäßigkeit des Geset-zes vor dem BVerfG zu bezweifeln.51 Es erscheint legitim, politisch für etwas zu stimmen, z.B. um die Zusammenarbeit in einer Koalition nicht zu blockieren, die Frage der verfas-sungsrechtlichen Grenzen des politischen Spielraums aber in die Hände des BVerfG zu legen. Der Verfassungsbindung aller Staatsgewalt kann auch durch eine Antragstellung im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle Rechnung getra-gen werden. Schließlich ist auch der Fall denkbar, dass es einem Antragsteller schlicht um die Herstellung von Rechts-sicherheit geht, wenn eine Norm in der Praxis uneinheitlich mal angewendet, mal nicht angewendet wird. Das gilt insbe-sondere für eine Landesregierung, die in letzter Konsequenz für den Vollzug des Landesrechts und regelmäßig auch des Bundesrechts durch die Landesverwaltung verantwortlich ist. Warum soll eine Landesregierung, in der unterschiedliche Auffassungen über die Verfassungsmäßigkeit herrschen, diese internen „Meinungsverschiedenheiten“ nicht dem BVerfG vorlegen können, statt die Regierung und gegebenenfalls eine Koalition vor eine politische Zerreißprobe zu stellen?

Zusammenfassend lässt sich deshalb sagen, dass das Grundgesetz die Frage des Antragsgrundes aus guten Grün-den selbst großzügig regelt und insofern der Gestaltungsspiel-raum des Gesetzgebers im Bundesverfassungsgerichtsgesetz begrenzt ist. Anders als bezüglich der Verfassungsbeschwer-de enthält Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG auch keine spezifische Ermächtigung des Gesetzgebers, die Zulässigkeit der abstrak-ten Normenkontrolle insoweit zu beschränken.52 § 76 Abs. 1 BVerfGG verstößt deshalb insoweit gegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG,53 als er die Zulässigkeitshürden verschärft („ist nur zulässig“). Eine verfassungskonforme Auslegung scheidet wegen des insoweit klaren Wortlautes aus.54 Das BVerfG55

51 BVerfGE 122, 1 (17). 52 So die wohl herrschende Lehre: Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 688 m.w.N.; Pestalozza (Fn. 13), § 8 Rn. 12 f. 53 Schlaich/Korioth (Fn. 10), Rn. 130, in der Diktion der herr-schenden Nichtigkeitsdoktrin (dazu in Teil 6): „Teilnichtig-keit“; ebenso A. Voßkuhle (Fn. 46), Art. 93 Rn. 123. 54 Der Wortlaut sperrt sich gegen Versuche einer einschrän-kenden Auslegung des § 76 BVerfGG, wie etwa bei Benda/ Klein (Fn. 2), Rn. 688: „schließt aber andere Konstellationen nicht aus“. 55 BVerfGE 96, 133 (137 f.).

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Normenkontrollen – Teil 2 ÖFFENTLICHES RECHT

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kommt zu einem ähnlichen Ergebnis,56 indem es im Rahmen des § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG ausreichen lässt, dass die Geltung einer Norm „in einer ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigenden Weise in Frage gestellt“ wurde.

Bemerkenswert ist weiter, dass in dem speziellen Verfah-ren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG die Formulierung nur teil-weise übernommen wird: Als Antragsgrund sind dort „Mei-nungsverschiedenheiten“, nicht aber „Zweifel“ geregelt. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz unterscheidet zwischen den beiden Verfahren insofern nicht, sondern bleibt auch insofern bei der rigiden Regelung des § 76 BVerfGG. Ein praktisch relevanter Unterschied ist darin aber kaum zu erkennen:57 Regelmäßig werden Zweifel auch mit Meinungsverschieden-heiten einhergehen. Das gilt vor allem innerhalb des Bundes-rates bzw. der einzelnen Landtage als in diesem Verfahren mögliche Antragsteller. Schließlich besteht für eine Landes-regierung in den Fällen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG auch die Option, die Norm nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG auf den Prüfstand zu stellen. Abgesehen davon ist es bei Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG noch unwahrscheinlicher, dass der Antragsteller nicht auch die Ungültigkeit der Norm geltend macht.

Drittens: Wie bei jedem Normenkontrollverfahren kann sich auch bei der abstrakten Normenkontrolle die Frage stel-len, ob eine Norm nicht nur mit höherrangigem Bundesrecht bzw. mit Verfassungsrecht kollidiert, sondern auch mit dem Unionsrecht als Maßstab. Zweifellos erfüllen etwaige Zweifel an der Vereinbarkeit mit Unionsrecht als solche nicht die Voraussetzungen des Antragsgrundes für eine abstrakte Nor-menkontrolle.58 Andererseits hindern solche gegebenenfalls außerdem bestehenden Zweifel nicht die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle, soweit der Antragsteller (auch) die Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigem nationalem Recht in der oben dargestellten Weise aufwirft.

Zur Vertiefung: Für die unionsrechtsmaßstäblichen Fra-gen ist der EuGH und nicht das BVerfG zuständig. Das BVerfG müsste im Rahmen einer zulässigen abstrakten Nor-menkontrolle also gegebenenfalls den EuGH nach Art. 267 AEUV anrufen, wenn sich die Frage stellt, ob eine gegebe-nenfalls verfassungswidrige Norm unionsrechtlich geboten ist.59 Ein solches Erfordernis der Vorlage an den EuGH hin-dert aber nicht die Zulässigkeit der abstrakten Normenkon-trolle, auch nicht das objektive Klarstellungsinteresse (dazu sogleich). Anders stellt sich diese Frage bei der konkreten Normenkontrolle schon im Rahmen der Zulässigkeit, weil dort das Fachgericht gegebenenfalls sowohl vorlageberechtigt zum EuGH als auch zum BVerfG ist (dazu Teil 3 unter 3.e).

56 M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 23, weist darauf hin, dass sich das BVerfG „Raum für eine Auslegung […] über den engen Wortlaut hinaus gelassen“ hat, indem es das „nur“ ig-noriert. 57 Für weitere Differenzierungen A. Voßkuhle (Fn. 46), Art. 93 Rn. 123 und 130. 58 Benda/Klein (Fn. 2), Rn. 692; M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 39. 59 M. Graßhof (Fn. 30), § 76 Rn. 40.

e) Objektives Klarstellungsinteresse Als letzte – ungeschriebene – Zulässigkeitsvoraussetzung ist ein objektives Klarstellungsinteresse zu prüfen. Ein solches Interesse fehlt dann, wenn die Norm zwar formal in Kraft getreten ist, aber unter keinen Umständen zur Anwendung kommen kann. Das ist z.B. der Fall, wenn es sich um eine Verfahrensregelung handelt, für deren Anwendung es keine materielle Rechtsgrundlage (mehr) gibt.60 Auch bei den Normbestätigungsklagen nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG kann das objektive Klarstellungsinteresse dann fehlen, wenn die Norm auch aus anderen als den vom BVerfG zu prüfen-den Maßstäben unangewendet geblieben ist – z.B. wenn eine untergesetzliche Norm des Landesrechts wegen Verstoßes gegen höherrangiges Landesrecht ohnehin nicht angewendet wird.61

Zur Vertiefung: Denkbar wäre auch eine Entbehrlichkeit des Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle wegen eines insoweit greifenden Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Letzterer ist etwa anzunehmen, wenn ein deutsches Gesetz eine Europäische Richtlinie umsetzt und die Richtlinie inso-weit gar keinen Spielraum lässt. Wenn das Unionsrecht von den Mitgliedstaaten einen normativen Grundrechtseingriff verlangt, übt das BVerfG seine Rechtsprechung insoweit nicht aus. Das hat das BVerfG62 in Fortführung seiner Solange II-Rechtsprechung explizit auch für die Umsetzung von Richtli-nien durch deutsches Recht festgestellt. Das BVerfG hat die Frage der Ausübung seiner Rechtsprechung seinerzeit aber nicht in der Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle, sondern in deren Begründetheit aufgeworfen. Das ist in der Literatur kritisiert worden.63 Genau betrachtet sind hier vier Konstellationen zu unterscheiden, wobei das BVerfG nur über die erste entschieden hat:

Erstens: Im Falle der damaligen Entscheidung ging das BVerfG davon aus, dass dem nationalen Gesetzgeber ein Spielraum zur Verfügung stand, in dessen Rahmen er an die deutschen Grundrechte gebunden und der Kontrolle durch das BVerfG unterworfen sei. Das BVerfG verweist dabei auf die Möglichkeit der Vorlage der Fachgerichte an den EuGH – sieht aber darin keine Einschränkung für die Option der abs-trakten Normenkontrolle.64 Darin unterscheidet sich die abs-trakte Normenkontrolle von der konkreten Normenkontrolle, bei der die Fachgerichte selbst vorlageberechtigt an beide Gerichte sind und gegebenenfalls die Frage des Spielraums auch vorrangig vor dem EuGH zu klären haben (dazu Teil 3 unter 3. e). Es sei darauf hingewiesen, dass auch das BVerfG

60 So hat sich das BVerfG bei den Klagen gegen das Abtrei-bungsrecht auf die Verwerfung der materiellen Grundlagen beschränkt: BVerfGE 88, 202 (334). 61 BVerfGE 96, 133 (137 f.). 62 BVerfGE 118, 79 (95 ff.) – Treibhausgas-Emissionsbe-rechtigungen. 63 Cornils, ZJS 2008, 69 (70 Fn. 4), zu BVerfG, Beschl. v. 13.3.2007 – 1 BvF 1/05. 64 BVerfGE 118, 79 (97) – Treibhausgas-Emissionsberech-tigungen.

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gegenüber dem EuGH vorlageberechtigt ist und inzwischen hiervon auch in einem Falle Gebrauch gemacht hat.65

Zweitens: Einer abstrakten Normenkontrolle stünde erst recht nicht im Wege, wenn der EuGH die einem deutschen Gesetz zu Grunde liegende Richtlinie für unionsrechtswidrig erklärte. Denn dann unterliegt das Umsetzungsgesetz, das vom EuGH nicht verworfen werden könnte, der uneingeschränk-ten Kontrolle durch das BVerfG. Dieses66 verweist selbst darauf, dass gerade dann eine konkrete Normenkontrolle in Betracht käme; das würde erst recht für eine abstrakte Nor-menkontrolle gelten.

Drittens: Der umgekehrte Fall läge darin, dass die Richt-linie mit dem Unionsrecht vereinbar ist und das deutsche Umsetzungsgesetz einem von der Richtlinie ohne Umsetzungs-spielraum gebotenen Grundrechtseingriff entspricht. Es wäre voreilig, die Zulässigkeit der abstrakten Normenkontrolle von einem inhaltlichen Spielraum des Gesetzgebers abhängig zu machen.67 Matthias Cornils68 hat zutreffend darauf hingewie-sen, dass auch in diesem Falle eine abstrakte Normenkontrol-le gegen das deutsche Gesetz dann zulässig (und gegebenen-falls begründet) sein könne, wenn nicht ein Verstoß allein gegen die deutschen Grundrechte, sondern gegen anderweiti-ges, insbesondere formelles Verfassungsrecht geltend gemacht wird. Denn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts greift nur hinsichtlich der materiellen, v.a. grundrechtlichen Maß-stäbe, kann aber nicht gebieten, vor der Kompetenzwidrigkeit eines nationalen Rechtsaktes die Augen zu verschließen. Selbst wenn die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sein sollte, zur Umsetzung einer Richtlinie in Grundrechte einzugreifen, kann das Umsetzungsgesetz wegen Verletzung der Kompetenzordnung verfassungswidrig sein (auf die Frage der Rechtsfolgen ist im 6. Teil einzugehen).

Viertens: Das hier zu erörternde Problem einer Entbehr-lichkeit der abstrakten Normenkontrolle stellt sich auch, wenn nicht nur die Richtlinie, sondern auch der Umsetzungsakt (z.B. wegen eines Verstoßes gegen die Binnenmarktfreiheiten) unionsrechtswidrig ist und wegen Vorrangs des Unionsrechts gar keine Anwendung finden könnte. Allerdings ist zu beach-ten, dass das Unionsrecht keinen Geltungsvorrang, sondern allenfalls Anwendungsvorrang genießt. Nationale Normen bleiben gültig und könnten auch jenseits des Anwendungs-bereichs des Unionsrechts angewendet werden. Die abstrakte Normenkontrolle würde sich nur dann erübrigen, wenn es keinen solchen verbleibenden Anwendungsbereich des natio-nalen Rechtsaktes gibt.

Insgesamt: Einer abstrakten Normenkontrolle fehlt allen-falls dann ein objektives Klarstellungsinteresse, wenn erstens ausschließlich die Grundrechtskonformität in Frage steht und wenn zweitens das BVerfG seine Gerichtsbarkeit insoweit nicht ausübt, weil das Unionsrecht den entsprechenden Grund-rechtseingriff ohne Spielräume gebietet, und wenn drittens

65 BVerfG, Vorlagebeschl. v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13 u.a. = NJW 2014, 907. 66 BVerfGE 118, 79 (97 f.) – Treibhausgas-Emissionsbe-rechtigungen. 67 So aber W. Meyer (Fn. 18), Art. 93 Rn. 35. 68 Cornils, ZJS 2008, 69 (70 Fn. 4).

auch eine Anwendung der Norm außerhalb des Geltungs-bereichs des Unionsrechts nicht in Betracht kommt. f) Zum Verständnis: Besonderheiten im Vergleich Im Vergleich zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen anderer Verfahren vor dem BVerfG, insbesondere zur Verfassungs-beschwerde, fallen Unterschiede auf: Zwei Voraussetzungen, die im Zentrum der Zulässigkeitshürden der meisten verfas-sungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren stehen, sind gar nicht zu prüfen: Es existiert für die abstrakte Normenkon-trolle weder eine Klage- bzw. Antragsbefugnis69 (auch wenn der Antragsgrund voraussetzungsvoll ist), noch eine Frist. Das ist die Konsequenz der objektiv-rechtsstaatlichen Klärungs-funktion, die so lange besteht, wie eine Norm angewendet werden kann. Freilich werden in der Praxis vor allem gegen neue Normen Anträge erhoben – nicht selten geradezu als Antwort der politischen Opposition, wenn diese ihre Beden-ken nicht im Gesetzgebungsverfahren hat durchsetzen kön-nen.

Eine andere Zulässigkeitsvoraussetzung, die wir aus ver-fassungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren aller Art kennen, ist das so genannte „allgemeine Rechtsschutzbedürf-nis“. Diese ungeschriebene Voraussetzung hat eine Auffang-funktion. Die Gerichte sollen nicht mit Verfahren ohne jegli-che praktische Relevanz belastet werden. Das gilt auch für die abstrakte Normenkontrolle, deren „Abstraktheit“ nicht auf eine Gutachtenfunktion hinauslaufen soll. Da es bei der abs-trakten Normenkontrolle nicht um (subjektiven) Rechtsschutz der Antragsteller geht, sprechen wir nicht vom Rechtsschutz-bedürfnis, sondern vom „objektiven Klarstellungsinteresse“.

69 Ohne die Terminologie zu problematisieren bezeichnet allerdings H. Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfas-sungsmäßigkeitsprüfung, 3. Aufl. 2010, Rn. 154, den Antrags-grund als „Antragsbefugnis“.

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Ausgewählte verfassungsrechtliche Fragen am Beispiel der Ersten Juristischen Prüfung Von Akad. Rätin Dr. Silvia Pernice-Warnke, LL.M., Köln* Wieder einmal hatten sich das Bundesverwaltungsgericht sowie auch das Sächsische OVG mit grundlegenden Fragen der Ersten Juristischen Prüfung zu befassen. Dies gibt auch Studierenden die Gelegenheit, sich anhand sie praktisch besonders betreffender Fragen mit verschiedenen, auch für Klausur und Examensvorbereitung relevanten, verfassungs-rechtlichen Fragen, insbesondere mit verschiedenen Arten von Rechtsnormen, mit der Wesentlichkeitstheorie sowie mit Grundrechten, insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG, und der gerichtlichen Kontrolldichte, zu beschäftigen. I. Überblick 1. Betroffene Grundrechte, gerichtliche Kontrolldichte Bestehen oder Nichtbestehen, letztlich aber auch die konkret erzielte Note im Zweiten Juristischen Staatsexamen, aber auch bereits in der Ersten Prüfung und hierbei insbesondere im staatlichen Pflichtfachteil, entscheiden über den Zugang zu bestimmten juristischen Berufen und betreffen somit Stu-dierende/Referendare in besonderem Maße in ihrem Grund-recht aus Art. 12 Abs. 1 GG. Bereits in einer bundesverfas-sungsgerichtlichen Entscheidung aus dem Jahr 1974 zum nordrhein-westfälischen Juristenausbildungsgesetz1 wurde auf den Zusammenhang zwischen Ausbildung und Berufstä-tigkeit, die Relevanz für Art. 12 Abs. 1 GG sowie auf die Bedeutung der Abschlussnote zumindest bezüglich des Zwei-ten Staatsexamens hingewiesen. In einer bundesverfassungs-gerichtlichen Entscheidung zu den Juristischen Prüfungen aus dem Jahr 19912 wurde in diesem Zusammenhang dann auch die Erste Juristische Staatsprüfung genannt: „Vorschriften, die für die Aufnahme eines Berufs eine bestimmte Vor- und Ausbildung sowie den Nachweis erworbener Fähigkeiten in Form einer Prüfung verlangen, greifen in die Freiheit der Berufswahl ein und müssen deshalb den Anforderungen des Art. 12. Abs. 1 GG genügen. Das gilt auch für die Erste und Zweite Juristische Staatsprüfung […].“3 In einem kürzlich ergangenen BVerwG-Urteil wurde nochmals bestätigt, dass auch die universitäre Schwerpunktbereichsprüfung als Teil der Ersten Prüfung insofern in die Freiheit der Berufswahl und Art. 12 Abs. 1 GG eingreife, als sie „zwar selbst noch nicht unmittelbar den Zugang zu einem reglementierten Beruf eröffnet, ihr Bestehen aber Voraussetzung für den Eintritt in weitere Ausbildungs- und Prüfungsetappen auf dem Weg dorthin bildet.“4 Geht man nun von einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG aus, ist im Folgenden auch die im „Apo-

* Dr. Silvia Pernice-Warnke, LL.M. ist Akad. Rätin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. 1 BVerfG, Beschl. v. 25.6.1974 – 1 BvL 11/73 = BVerfGE 37, 342 (353). 2 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34. 3 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (45). 4 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 18.

thekenurteil“5 entwickelte, so genannte Stufenlehre zu beach-ten, die zwischen Berufsausübungsbeschränkungen, subjekti-ven Berufswahlbeschränkungen und objektiven Berufswahl-beschränkungen unterscheidet, wobei mit zunehmender Ein-griffsintensität die Rechtfertigungsanforderungen steigen.6 Hinsichtlich des Bestehenserfordernisses bzw. bestimmter Notengrenzen in den juristischen Abschlussprüfungen ist wohl von einer subjektiven Zugangsbeschränkung auszuge-hen, weil beim Zugang zu bestimmten Berufen eine subjekti-ve, d.h. an eine konkrete persönliche Voraussetzung des Bewerbers anknüpfende, Hürde aufgestellt wird.7

Neben Art. 12 Abs. 1 GG ist natürlich auch Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf die Chancengleichheit der Prüflinge, auf gleiche Berufschancen etc. von großer Bedeutung, wie bereits in der schon erwähnten bundesverfassungsgerichtlichen Ent-scheidung aus dem Jahr 1974 zum nordrhein-westfälischen Juristenausbildungsgesetz8 ausgeführt und beispielsweise in der ebenfalls bereits erwähnten bundesverfassungsgerichtli-chen Entscheidung zu den Juristischen Prüfungen aus dem Jahr 19919 bestätigt wurde. Prüfungsverfahren und Prü-fungsmaßstäbe müssen, da es sich um Berufszugangsprüfun-gen handelt, vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG gleich sein.10 Dazu gehört auch eine „organisatorische Siche-rung der Gleichheit“ z.B. durch Anonymisierung oder Bewer-tung durch zwei unabhängige Prüfer.11

Art. 3 Abs. 1 GG wirkt sich dabei natürlich besonders auf das Prüfungsverfahren aus. Insgesamt wurde auch in zwei bundesverfassungsgerichtlichen Urteilen aus dem Jahr 1991 zu medizinischen12 und juristischen Prüfungen13 der Grund-rechtsschutz durch Verfahrensgestaltung betont: „Darüber hinaus beansprucht das Grundrecht der Berufsfreiheit auch

5 BVerfG, Urt. v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56 = BVerfGE 7, 377. 6 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 27. Aufl. 2011, Rn. 916. 7 Vgl. dazu auch Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundge-setz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 12 Rn. 35; BVerfG, Beschl. v. 17.7.1961 – 1 BvL 44/55 = BVerfGE 13, 97 (106, Befähigungsnachweis als subjektive Zulassungsvoraussetzung); BVerfGE 34, 71 (77, Erfordernis der Sachkunde als subjektive Zulassungsvoraussetzung). 8 BVerfG, Beschl. v. 25.6.1974 – 1 BvL 11/73 = BVerfGE 37, 342. 9 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (51). 10 Starck, in Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 1 Rn. 37. 11 Starck (Fn. 10), Art. 3 Abs. 1 Rn. 38. Vgl. auch Kempen, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, 2. Aufl. 2011, S. 38. 12 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34. 13 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59.

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Geltung für das Prüfungsverfahren. Grundrechtsschutz ist auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken.“14

Dieser Grundrechtsschutz durch Verfahren erlangt ange-sichts der eingeschränkten Kontrolldichte im Prüfungsrecht besondere Bedeutung. Dies nun leitet unmittelbar zu weiteren grundlegenden, im Zusammenhang mit der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie sowie der gerichtlichen Kontrolldichte aufgeworfenen Fragen über.15

Auch dazu wurde in den bereits erwähnten bundesverfas-sungsgerichtlichen Urteilen aus dem Jahr 1991 zu den medi-zinischen16 und juristischen17 Prüfungen ausführlich Stellung genommen. So wird in beiden Urteilen detailliert das proble-matische Spannungsverhältnis zwischen möglichst weitge-hender gerichtlicher Kontrolle zur Verwirklichung des Rechts aus Art. 19 Abs. 4 GG und der Bedeutung der Bewertung von Leistungen im Gesamtzusammenhang des Prüfungsverfah-rens aus Rücksicht auf die sich aus Art. 3 Abs. 1 GG erge-bende Chancengleichheit der Prüflinge erläutert. Prüfer müss-ten ihre Erfahrungen und Einschätzungen nutzen, Prüfungs-noten könnten nicht isoliert, sondern nur bezogen auf Mit-prüflinge und Vorerfahrungen der Prüfer vergeben werden.18 Es sei mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, „wenn einzelne Kandidaten, indem sie einen Verwaltungsprozess anstrengen, die Chance einer vom Vergleichsrahmen unabhängigen Be-wertung erhielten.“19 Der Anspruch des Bürgers auf tatsäch-liche wirksame gerichtliche Kontrolle könne im Prüfungs-recht somit nicht uneingeschränkt gelten, da die gerichtliche Kontrolle insoweit eingeschränkt sein müsse, als es ansonsten „zu einer Verzerrung der Bewertungsmaßstäbe und zu einer Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit führen könnte.“20

In den beiden genannten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu den juristischen21 und medizinischen22 Prüfungen wurde dann aber v.a. der grundsätzlich anerkannte prüfungsrechtliche Bewertungsspielraum stärker einge-schränkt, da er nicht vollständig mit Art. 19 Abs. 4 GG ver-einbar sei. Zwar erforderten „Staatsprüfungen, die den Zu-gang zu akademischen Berufen beschränken, […] schwierige

14 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (45); BVerfG, Beschl. v. 17.4. 1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59 (72). 15 Vgl. dazu auch Kempen (Fn. 11), S. 39. 16 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34. 17 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59. 18 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (52 f.). 19 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (52). 20 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59 (77). 21 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34. 22 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59.

Bewertungen, die mit Rücksicht auf die Chancengleichheit aller Berufsbewerber (Art. 3 Abs. 1 GG) im Gesamtzusam-menhang des Prüfungsverfahrens getroffen werden müssen und sich nicht ohne weiteres in nachfolgenden Verwaltungs-streitverfahren einzelner Kandidaten isoliert nachvollziehen lassen.“ Daraus ergebe sich „ein prüfungsrechtlicher Bewer-tungsspielraum, der […] jedoch auf prüfungsspezifische Wertungen beschränkt [sei] und sich […] nicht auf alle fach-lichen Fragen, die den Gegenstand der Prüfung bilden [bezie-he].“23 Auch fachliche Fragen könnten nicht jeder gerichtli-chen Kontrolle entzogen sein, da dies mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar sei;24 vielmehr dürfe eine mit „guten Gründen vertretene Stellungnahme in einer umstrittenen Fachfrage“ nicht zu beruflichen Nachteilen führen“25/„eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung […] nicht als falsch gewertet werden.“26 2. Gesetzesvorbehalt a) Allgemeines Was nun Art. 12 GG und den Gesetzesvorbehalt anbelangt, so kann gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG die Berufsausübung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Auch wenn sich dies nicht unmittelbar aus dem Wortlaut ergibt, erstreckt sich dieser Gesetzesvorbehalt nicht nur auf die Berufsausübung, sondern auf die gesamte Berufsfrei-heit.27

Jeder Eingriff in die Berufsfreiheit bedarf somit einer ge-setzlichen Grundlage, wobei der Eingriff aber durch ein oder auch nur aufgrund eines Gesetzes erfolgen kann, so dass also grundsätzlich auch eine Einschränkung durch untergesetzli-che Normen (z.B. durch Rechtsverordnungen oder Satzun-gen, mangels unmittelbarer Außenwirkung und damit man-gels Rechtsnormqualität jedoch nicht durch Verwaltungsvor-schriften28) möglich ist,29 sofern u.a. eine ausreichende for-mell-gesetzliche Ermächtigung (die im Fall von Rechtsver-ordnungen den Anforderungen des Art. 80 GG genügen muss) vorliegt und bestimmte weitere Voraussetzungen er-füllt sind.30

Was die Juristenausbildung anbelangt, so ist Nordrhein-Westfalen das einzige deutsche Bundesland, das seine Juris-tenausbildung nur durch Gesetz und nicht mittels einer Rechtsverordnung regelt. Im Großteil der Bundesländer exis-tieren dagegen sowohl ein Juristenausbildungsgesetz als auch

23 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (50). 24 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59 (78). 25 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 1529/84 und 1 BvR 138/87 = BVerfGE 84, 59 (79). 26 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (55). 27 Jarass (Fn. 7), Art. 12 Rn. 27. 28 Vgl. dazu Pieroth/Schlink (Fn. 6), Rn. 914, unter Verweis auf BVerfGE 80, 257 (265). 29 Jarass (Fn. 7), Art. 12 Rn. 28. 30 Dazu siehe sogleich unten, I. 2. c) und d).

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eine entsprechende Rechtsverordnung, in Bayern sogar aus-schließlich eine Juristenausbildungsordnung. b) Wesentlichkeitstheorie Zu beachten ist jedoch, dass der parlamentarische Gesetzge-ber die für die Grundrechtsausübung wesentlichen Fragen selbst regeln muss.31

Nach dieser so genannten Wesentlichkeitsrechtsprechung, -lehre oder -theorie des BVerfG ist der Gesetzgeber ver-pflichtet, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“32 Wesentlichkeit in diesem Sinne ist also in erster Linie Grundrechtswesentlichkeit.33

Bezüglich der Ersten und Zweiten Juristischen Staatsprü-fung führte dies das BVerfG in dem bereits erwähnten Urteil aus dem Jahr 199134 aus:

Die Leistungsanforderungen in einer solchen Prüfung und die Maßstäbe, nach denen die erbrachten Leistungen zu bewerten sind, bedürfen einer gesetzlichen Grundlage; die Prüfungsschranke darf nach Art und Höhe nicht ungeeignet, unnötig oder unzumutbar sein […].35 […] Staatsprüfungen, die den Zugang zu akademischen Berufen beschränken, er-fordern schwierige Bewertungen […]. […] Die Bewertung der Leistungen in einer Berufszugangsprüfung ist eine recht-lich gebundene Entscheidung der Prüfer. Diese ist als Ein-griff in die Freiheit der Berufswahl nach Art. 12 Abs. 1 GG nur aufgrund eines Gesetzes und im Rahmen der Verhältnis-mäßigkeit zulässig. Das gilt nicht allein für die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Prüfung. Sieht das Gesetz darüber hinaus vor, dass erfolgreiche Prüfungen durch abgestufte Noten zu bewerten sind, so werden auch auf diese Weise berufliche Chancen stark beeinflusst; die Mög-lichkeit, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden und den gewählten Beruf tatsächlich auszuüben, hängt vielfach von der erreichten Note ab. […] Trotz dieser großen praktischen Bedeutung und grundrechtlichen Relevanz der Prüfungsbe-scheide sind die Bewertungskriterien im Gesetz nur ungenau bestimmt. Schon die Art der Aufgabenstellung wird in allen Justizausbildungsordnungen lediglich in groben Zügen the-matisch eingegrenzt. Die vorgesehenen Notenstufen […] werden nicht im eigentlichen Sinne definiert, sondern nur sehr allgemein umschrieben […].Die Steuerungskraft dieser rechtlichen Vorgaben ist begrenzt […].“36

31 Jarass (Fn. 7), Art. 12 Rn. 30. 32 Vgl. dazu z.B. BVerfGE 49, 89 (126) sowie Jarass (Fn. 7), Art. 20 Rn. 47. 33 Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 29. Aufl. 2013, S. 125. 34 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34. 35 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (45). 36 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (50 f., Hervorhebungen von der Verf.).

Im kürzlich ergangenen Urteil des BVerwG,37 dem die Frage der Rechtmäßigkeit einer universitären Bestehensregelung im Schwerpunktbereich in Baden-Württemberg zugrunde lag, wurde ausgeführt, dass Rechtsstaats- und Demokratieprinzip des Grundgesetzes den Gesetzgeber zwar verpflichteten, „in dem durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Grundrechtsbe-reich die wesentlichen Entscheidungen über die Ausbildung und Prüfung selbst zu treffen [...]“. Durch die Rechtspre-chung des Bundesverwaltungsgerichts sei jedoch geklärt, „dass neben Vorschriften über den Prüfungsstoff, das Prü-fungssystem und die Einzelheiten des Prüfungsverfahrens auch die Festlegung der Bestehensvoraussetzungen in aller Regel nicht zu diesen dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehaltenen Leitentscheidungen gehören.“ Hier werde „den Anforderungen von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip bereits dadurch hinreichend Genüge getan, dass der parla-mentarische Gesetzgeber durch die Vorgabe von Ziel und Inhalt der Ausbildung – wie hier insbesondere in §§ 5 Abs. 1 Hs. 2, 5a Abs. 2 S. 4 DRiG geschehen – die Regelungen auf untergesetzlicher Ebene nach Tendenz und Programm be-grenzt und berechenbar macht […], zumal die prüfungsrecht-liche Rechtsetzung auch auf untergesetzlicher Ebene in weit-reichendem Maße bereits durch Grundsätze gesteuert wird, die sich unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben.“38 Der Verweis auf das Landesrecht in § 5d Abs. 6 DRiG enthalte kein Verbot der Weiterdelegation und § 26 Abs. 2 JAPrO überlasse die Regelung der Universität.39 Die JAPrO umreiße auch die universitäre Regelungsbefugnis hinreichend bestimmt.40 Dennoch komme es dem Landesgesetzgeber zu, dem univer-sitären Normgeber „wesentliche prüfungsrechtliche Eckdaten verbindlich vorzugeben.“41

Sollte man in einem konkreten Fall zu dem Ergebnis kommen, dass es sich bei einer in einer Rechtsverordnung oder Satzung geregelten Frage, die in Art. 12 Abs. 1 GG eingreift, nicht um eine wesentliche und damit nicht um eine vom parlamentarischen Gesetzgeber selbst zu regelnde Frage handelt, wäre im Folgenden der Frage nachzugehen, ob eine verfassungsmäßige Rechtsverordnung oder Satzung vorliegt. c) Rechtsverordnungen Der Gesetzgeber kann die Exekutive unter bestimmten Vo-raussetzungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermäch-tigen.42 Rechtsverordnungen werden dann als untergesetzli-che Normen von der Exekutive erlassen, wobei Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes zu beachten sind. Rechtsverordnun-gen sollen den Gesetzgeber vor allem auf technischen und schnell veränderlichen Gebieten entlasten,43 denn Rechtsver-ordnungen stellen ein flexibleres Instrument dar und ermögli-chen häufig ein sachnäheres, detaillierteres und individuelle- 37 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12. 38 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 20. 39 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 23. 40 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 24. 41 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 32. 42 Vgl. zu alledem Degenhart (Fn. 33), Rn. 346. 43 Badura, Staatsrecht, 5. Aufl. 2012, Kap. F Rn. 15.

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res Regeln gegenüber der typischerweise stärker generalisie-renden und typisierenden gesetzlichen Regelung.44 Die Zahl der Rechtsverordnungen ist daher auch um ein Vielfaches höher als die der Gesetze.45

Diese so genannte abgeleitete Rechtssetzung durch die Exekutive birgt aber zwei Gefahren: zum einen, dass der parlamentarische Gesetzgeber die eigentlichen Entscheidun-gen auf die Exekutive überträgt und zum anderen, dass das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren mit seinen Diskus-sions- und Öffentlichkeitsgarantien umgangen wird.46

Insoweit stellt Art. 80 Abs. 1 GG einen Ausfluss des Ge-waltenteilungsgrundsatzes dar47 und soll die mit exekutivi-scher Rechtsetzung verbundenen Gefahren minimieren.48

In einer Fallbearbeitung wäre zunächst konkret die Er-mächtigungsnorm auf die Kompetenz des Gesetzgebers, auf das formell ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes, auf die Bestimmtheit der Ermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG), die Adressatenbe-stimmung sowie auf die materielle Verfassungsmäßigkeit hin zu prüfen.

Sodann wäre die Rechtsverordnung selbst hinsichtlich der Zuständigkeit des Verordnungsgebers, des Verfahrens, der Bekanntmachung sowie hinsichtlich der Vereinbarkeit der Rechtsverordnung mit der Ermächtigungsnorm sowie mit höherrangigem Recht zu untersuchen.49 d) Satzungen (am Beispiel universitärer Studien- und Prü-fungsordnungen) Im Gegensatz zu Rechtsverordnungen handelt es sich bei von Universitäten bzw. Fakultäten erlassenen Studien- und Prü-fungsordnungen um Satzungen, d.h. um Regelungen einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, hier einer Kör-perschaft, im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Auto-nomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörigen und unter-worfenen Personen50 zur Regelung ihrer eigenen (akademi-schen) Angelegenheiten.

Die Satzungsautonomie muss einerseits dem Satzungsge-ber hinreichenden Spielraum überlassen, andererseits darf der Gesetzgeber seine Rechtssetzungsbefugnis nicht vollständig delegieren und seinen Einfluss auf den Inhalt der Satzungen nicht völlig verlieren.51 Der Satzungsgeber ist auf den Aufga-benbereich der Selbstverwaltungskörperschaft beschränkt, an Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes sowie bei grundrechts-wesentlichen Fragen an den Parlamentsvorbehalt gebunden.52 So wurde beispielsweise im bundesverfassungsgerichtlichen

44 Vgl. Degenhart, Staatsrecht I Staatsorganisationsrecht, 15. Aufl. 1999, Rn. 246; Ipsen, Staatsrecht I Staatsorganisations-recht, 24. Aufl. 2012, Rn. 788. 45 Badura (Fn. 43), Kap. F Rn. 15. 46 Ipsen (Fn. 44), Rn. 789. 47 Degenhart (Fn. 33), Rn. 346. 48 Ipsen (Fn. 44), Rn. 789. 49 Vgl. dazu z.B. Degenhart (Fn. 33), Rn. 344 f. 50 Badura (Fn. 43), Kap. D Rn. 51. 51 Badura (Fn. 43), Kap. D Rn. 51. 52 Degenhart (Fn. 33), Rn. 361 f.

Facharzt-Urteil53 entschieden, dass die Voraussetzungen für den Erwerb der Facharztqualifikation wegen der Relevanz für Art. 12 Abs. 1 GG nicht ausschließlich durch berufsständi-sche Selbstverwaltungskörperschaften, sondern vom parla-mentarischen Gesetzgeber selbst festgelegt werden müssen.

Mit der Frage, welche Punkte nun speziell hinsichtlich der universitären Schwerpunktbereichsprüfung durch universitäre Satzungen geregelt werden können, befasste sich, wie bereits gezeigt, auch das kürzlich ergangene BVerwG-Urteil.54

In der Falllösung ist bei Satzungen konkret zu prüfen, ob die Satzungsautonomie durch Gesetz verliehen ist, ob eine Ermächtigung für etwaige Eingriffe durch die Satzung be-steht und ob die wesentlichen Fragen durch den Gesetzgeber geregelt wurden. Hinsichtlich der Satzung selbst ist zu unter-suchen, ob das Verfahren, d.h. der Satzungserlass, ordnungs-gemäß abgelaufen ist, ob sich die Satzung im Rahmen der Satzungsautonomie hält und ob gegen höherrangiges Recht verstoßen wird.55 II. Wiederholungsversuch zur Notenverbesserung im staatlichen Pflichtfachteil der Ersten Prüfung 1. Ausgangsfrage und Urteil des Sächsischen OVG Vor dem Hintergrund all dessen ließen sich verschiedene Aspekte der Staatsprüfungen untersuchen. Exemplarisch soll dies jedoch am Beispiel des Verbesserungsversuchs erfolgen. Zu dieser Frage der Einräumung eines Wiederholungsver-suchs zur Notenverbesserung musste im vergangenen Jahr auch das Sächsische OVG Stellung nehmen.56 Der Kläger begehrte hier die Wiederholung der Ersten Juristischen Prü-fung zur Notenverbesserung. Im Bundesland Sachsen ist jedoch eine Wiederholung der Ersten Prüfung nur im Fall des Nichtbestehens bzw. für den Fall des Freiversuchs vorgese-hen. Hinsichtlich eines möglichen Verstoßes der entspre-chenden Vorschriften des sächsischen Landesrechts gegen Art. 12 Abs. 1 oder Art. 3 Abs. 1 GG führt das OVG aus:

„Anders als im Fall des Nichtbestehens der Prüfung wird bei einem Bestehen der Prüfung ein unmittelbarer rechtlicher Bezug zur Wahl eines bestimmten juristischen Berufes gera-de nicht hergestellt. Denn es wird – wie das Verwaltungsge-richt ausgeführt hat – mit dem Bestehen der Prüfung die Möglichkeit geschaffen, in den Vorbereitungsdienst einzutre-ten. Die vom Kläger geschilderten Auswirkungen der Note in der Ersten Juristischen Staatsprüfung auf die beruflichen Chancen führen nicht dazu, dass ein Eingriff in die Berufs-wahlfreiheit vorliegen würde. Denn der Benotung kommt im Fall des Bestehens einer Prüfung in rechtlicher Hinsicht keine objektiv berufsregelnde Tendenz zu, wenn dies auch in tat-sächlicher Hinsicht anders zu beurteilen sein mag. […] Der Beklagte war nicht verpflichtet, die Voraussetzungen einer

53 BVerfG, Beschl. v. 9.5.1972 – 1 BvR 518/62 und 1 BvR 308/64, = BVerfGE 33, 125 (157 f.). 54 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12. Vgl. dazu oben I. 2. b), sowie die Urteilsanmerkung von Gärditz, DVBl. 2013, 1384. 55 Vgl. z.B. Degenhart (Fn. 33), Rn. 363. 56 Sächsisches OVG, Beschl. v. 29.1.2013 – 2 A 58/12.

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Notenverbesserung in Anlehnung an in anderen Bundeslän-dern geltende Vorschriften zu regeln. Der Gleichheitsgrund-satz verpflichtet den Normgeber ausschließlich dazu, in sei-nem Regelungsbereich den Gleichheitssatz zu wahren […]. Nach § 5d Abs. 5 S. 4 DRiG wird die Entscheidung über die Einräumung einer Wiederholungsprüfung zur Notenverbesse-rung ausdrücklich dem Landesgesetzgeber überlassen. […] In Ausübung dieser Befugnis ist der Landesgesetzgeber dann nicht an die Rechtslage anderer Bundesländer gebunden, weil es ansonsten keiner Übertragung der Regelungsbefugnis auf ihn bedürfte.“57 2. Art. 3 Abs. 1 GG Völlig zutreffend sind natürlich zunächst die Ausführungen des OVG zu Art. 3 Abs. 1 GG, wonach § 5d Abs. 5 S. 4 DRiG die Frage der Wiederholbarkeit der Prüfung zur No-tenverbesserung dem Landesrecht überlasse und der Sächsi-sche Gesetzgeber nicht gehalten sei, einen solchen Notenver-besserungsversuch einzuführen, weil er in anderen Bundes-ländern vorgesehen ist.58 Art. 3 Abs. 1 GG kann in der Tat nur gegenüber demselben Hoheitsträger, in diesem Fall dem-selben Gesetzgeber, zur Anwendung kommen.59 3. Art. 12 Abs. 1 GG a) Schutzbereich/Eingriff Näher betrachtet werden müssen jedoch die Ausführungen zu Art. 12 Abs. 1 GG. Das OVG verneint hier eine objektiv berufsregelnde Tendenz und damit einen Eingriff in die Be-rufsfreiheit. Dies jedoch ist äußerst zweifelhaft.

Dass die Note für die Aufnahme des Vorbereitungsdiens-tes keine Rolle spiele, stimmt nur bezüglich des „ob“, nicht aber bezüglich des „wann“ und „wo“, denn beispielsweise in Hamburg oder Berlin werden Bewerber(innen) mit besseren Noten bei der Platzvergabe bevorzugt behandelt.

Vor allem aber spielt die Note in der Ersten Prüfung ja durchaus nicht nur für den Eintritt ins Referendariat, sondern – gemeinsam mit der Note im 2. Staatsexamen – auch für die beruflichen Aussichten, d.h. konkret für die Möglichkeit, bestimmte juristische Berufe zu ergreifen, eine Rolle, vgl. dazu die oben zitierten BVerfG- und BVerwG-Urteile.60

Durch die Nichteinräumung eines Verbesserungsversuchs wird beispielsweise den sächsischen Kandidaten im Fall eines Bestehens außerhalb des Freiversuchs die Chance genom-men, ihre Note in berufsrelevanter Art und Weise zu verbes-

57 Sächsisches OVG, Beschl. v. 29.1.2013 – 2 A 58/12, Rn. 11. 58 Derzeit sehen acht Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen-Anhalt [§ 23 JAPrO BW, § 15 JAPO BY, § 27 BremJAPG, § 21 Abs. 5 JAG HE, § 19 NJAG, § 5 JAG RP, § 20 JAG SL, § 27 JAPrVO LSA]) einen Wiederho-lungsversuch zur Notenverbesserung unabhängig vom Frei-versuch im staatlichen Pflichtfachteil der ersten Prüfung vor. 59 Jarass (Fn. 7), Art. 3 Rn. 9. 60 BVerfG, Beschl. v. 17.4.1991 – 1 BvR 419/81 und 1 BvR 213/83 = BVerfGE 84, 34 (45); BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12, Rn. 18.

sern, während diese Möglichkeit in mittlerweile acht anderen Bundesländern vorgesehen ist.61

Letztlich hätte man also wohl im Gegensatz zum Sächsi-schen OVG durchaus eine berufsregelnde Tendenz erkennen und damit einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG, konkret auf der Ebene einer subjektiven Zugangsbeschränkung,62 anneh-men können. b) Parlamentsvorbehalt/Wesentlichkeitstheorie Nimmt man einen solchen Grundrechtseingriff an, dann aber ist zumindest fraglich, ob diese Frage nicht auch gesetzlich geregelt werden müsste.

Auch unter Berücksichtigung der diesbezüglichen Aus-führungen im kürzlich ergangenen BVerwG-Urteil63 wird man bei der Frage des Verbesserungsversuchs aber wohl nicht nur von Einzelheiten, sondern von wesentlichen Fragen des Prüfungsverfahrens sprechen müssen.

Während § 5d Abs. 5 S. 1 und 2 DRiG zwingend nur die Wiederholbarkeit der Pflichtfachprüfung bei Nichtbestehen sowie den Freiversuch vorgeben, überlässt – wie bereits ge-zeigt – § 5d Abs. 5 S. 4 DRiG die Frage der Wiederholbarkeit der Prüfung zur Notenverbesserung dem Landesrecht.

Das DRiG spricht nur vom Landesrecht, nicht vom Lan-desgesetz, während im Urteil des Sächsischen OVG – mög-licherweise auch nur ungenau – davon die Rede ist, dass die Entscheidung über die Einführung eines Versuchs zur Noten-verbesserung dem Landesgesetzgeber obliege.

Nach der Begründung zum Gesetzesentwurf des Bundes-rates sollten den Ländern und Universitäten durch das Juris-tenausbildungsreformgesetz mehr Freiheiten und Entfal-tungsmöglichkeiten eingeräumt, gleichzeitig aber über ein-heitliche Rahmenvorschriften zu den Pflichtfachprüfungen einheitliche Anforderungen für die reglementierten Berufe beibehalten werden.64

Wie bereits oben gezeigt,65 existiert nicht in allen Bundes-ländern ein Juristenausbildungsgesetz. Doch auch die Bun-desländer, die über ein Juristenausbildungsgesetz verfügen, regeln nicht alle die Frage des Versuchs zur Notenverbesse-rung gesetzlich.66 Der Verbesserungsversuch in Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen-Anhalt ist nur in einer Rechtsverordnung zur Juristenausbildung, in den anderen fünf Bundesländern in einem Gesetz zur Juristenausbildung geregelt. Nun stellt jedoch nicht die Einräumung, sondern nur dessen Nichteinräumung einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG dar. In den übrigen acht Bundesländern, in denen kein Wie-derholungsversuch zur Notenverbesserung unabhängig vom Freiversuch vorgesehen ist, fehlt es an einer expliziten ge-setzlichen Regelung der Nichteinräumung eines solchen Versuchs, die aber nach dem bisher Gesagten erforderlich 61 Vgl. dazu bereits Fn. 58. 62 Vgl. dazu I. 1. 63 S.o. I. 2. a), Fn. 39 f. 64 BT Drs. 14/7463, S. 8. 65 I. 2. a). 66 Auch sonst unterscheidet sich die gesetzliche Regelungs-dichte zu den prozeduralen Fragen in den 16 Bundesländern stark voneinander.

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wäre.67 Das genaue „wie“ könnte dabei sicherlich dem Ver-ordnungsgeber überlassen werden, nicht aber das „ob“. Nun ließe sich die Auffassung vertreten, dass in den Bundeslän-dern, in denen ein Juristenausbildungsgesetz und eine Juris-tenausbildungsordnung existieren, und in denen das Juristen-ausbildungsgesetz keine Aussage zum Notenverbesserungs-versuch trifft, eben daraus die gesetzgeberische Entscheidung gegen einen solchen abzuleiten ist. Untersucht man jedoch die entsprechenden Verordnungsermächtigungen näher, so wird klar, dass eigentlich nur in Berlin und in Brandenburg eine (gewisse) Entscheidung des Gesetzgebers herauszulesen sein könnte. So lautet § 24 Abs. 1 Nr. 3 lit. f des BerlJAG: „(1) Die Senatsverwaltung für Justiz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung Vorschriften zu erlassen über […] f) den Rücktritt von den Prüfungen, die Wiederholung nicht bestan-dener oder nicht vollständig abgelegter Prüfungen“ […] g) den Freiversuch in der staatlichen Pflichtfachprüfung und die Wiederholung der Prüfung zur Notenverbesserung.“ Dieselbe Formulierung ist in § 24 I Nr. 3 lit. f und g des BbgJAG zu finden. Die Tatsache, dass jeweils lit. f die Wiederholung nicht bestandener bzw. nicht vollständig abgelegter Prüfun-gen und lit. g thematisch primär den Freiversuch regelt, mag man so interpretieren, dass ein Notenverbesserungsversuch unabhängig von Freiversuch und Nichtbestehen offensicht-lich nicht eingeräumt werden soll. Umgekehrt ließe sich lit. g aber auch gerade so interpretieren, dass er zum einen den Freiversuch und zum anderen die Wiederholung zur Noten-verbesserung unabhängig vom Freiversuch regelt. In den anderen Bundesländern, in denen Wiederholungsmöglichkei-ten/Freiversuch/Verbesserungsversuch nicht ohnehin direkt gesetzlich geregelt werden, sind die Verordnungsermächti-gungen schließlich so allgemein gehalten, dass sich daraus keinerlei Tendenz oder Entscheidung herauslesen lässt.68

Zu der daraus zu ziehenden Schlussfolgerung, dass zahl-reiche Bundesländer damit in dieser Frage nicht dem Parla-mentsvorbehalt genügen würden, ist jedoch einschränkend zu sagen, dass bislang auch die Verfassungsmäßigkeit der „bay-erischen Variante“, d.h. des völligen Fehlens einer gesetzli-chen Regelung der Juristenausbildung, nie in Frage gestellt wurde. So hat der BayVGH in seinem Urteil vom 19. März

67 Dabei ist ausgerechnet Sachsen selbst unter denjenigen Bundesländern, die die Frage nicht gesetzlich regeln, obwohl hier das Sächsische OVG ja von einer Regelung durch den Landesgesetzgeber sprach. 68 § 9 Abs. 1 Nr. 6 JAG BW und § 8 Abs. 1 Nr. 4 Thür-JAG sprechen nur von „Wiederholung der Prüfungen“ bzw. § 14 Nr. 6 JAG SH von „Wiederholung der staatlichen Pflicht-fachprüfung“ ohne nähere Spezifikation. § 28 Abs. 1 Nr. 5 JAG MV, § 8 S. 2 Nr. 7 Sächs-JAG und § 9 Abs. 1 Nr. 4 JAG LSA sprechen dagegen zwar auch speziell von der „Wiederholung der Prüfung zum Zwecke der/zur Notenver-besserung“, § 31 SächsJAPO und § 27 JAPO M-V fassen unter diesen Begriff dann aber eine Wiederholung zur Noten-verbesserung nur dann, wenn die Prüfung im Freiversuch be-standen wurde, während § 27 JAPrVO LSA den Wiederho-lungsversuch zur Notenverbesserung auch bei Bestehen außer-halb des Freiversuchs vorsieht.

2004 entschieden,69 dass die JAPO BY mit § 115 Abs. 2 BayBG a.F.70 auf einer ausreichenden Ermächtigungsgrund-lage beruhe und nicht gegen den Gesetzesvorbehalt versto-ße.71 Der BayVGH beruft sich dabei auch auf einen Nichtan-nahmebeschluss des BVerfG,72 in dem § 31 JAPO BY für hinreichend bestimmt gehalten und die Frage der Rechtmä-ßigkeit der JAPO/der hinreichenden Ermächtigungsgrundlage gar nicht thematisiert worden war. c) Rechtsverordnungen – Art. 80 GG Sollte man vor dem Hintergrund dessen dennoch zu dem Ergebnis kommen, dass eine Regelung auf Verordnungsebe-ne grundsätzlich zulässig ist, wären sodann die jeweiligen Ermächtigungsnormen an Art. 80 GG zu messen und nach den eingangs73 dargestellten Kriterien zu untersuchen. III. Fazit Insgesamt bieten somit auch die die Studierenden in besonde-rer Weise betreffenden Regelungen zum staatlichen Pflicht-fachteil bzw. zur Schwerpunktbereichsprüfung in der Ersten Prüfung Gelegenheit, sich mit verschiedenen, auch für Klau-sur und Examensvorbereitung relevanten verfassungsrechtli-chen Fragen zu beschäftigen und hierzu noch einmal vertieft nachzulesen. Besondere Aktualität erlangt der gesamte Kom-plex dabei durch die dargestellten jüngst ergangenen Urteile.

Schließlich lässt sich anhand des mehrfach zitierten BVerwG-Urteils auch der hier nicht näher untersuchten Frage nachgehen, inwieweit im Schwerpunktbereich das Nichtbe-stehen einer Teilprüfung zum Nichtbestehen der Gesamtprü-fung führen darf.74

69 BayVGH, Urt. v. 19.3.2004 – 7 BV 03.1953. 70 § 115 Abs. 2 BayBG a.F. (in der Fassung der Bekanntma-chung vom 27.8.1998; in Kraft bis 2003): „1Die Prüfungen haben Wettbewerbscharakter und müssen so angelegt sein, dass sie die Eignung des Prüfungsteilnehmers für die ange-strebte Laufbahn oder das angestrebte Amt ermitteln. 2Die Grundsätze des Prüfungsverfahrens regelt eine von der Staats-regierung im Benehmen mit dem Landespersonalausschuss zu erlassende allgemeine Prüfungsordnung.“ 71 BayVGH, Urt. v. 19.3.2004 – 7 BV 03.1953, Rn. 28 ff. 72 BVerfG, Beschl. v. 25.2.1977 – 2 BvR 144/77. 73 I. 2. c). 74 BVerwG, Urt. v. 29.5.2013 – 6 C 18.12. Vgl. dazu auch die Urteilsanmerkung von Gärditz, DVBl. 2013, 1384.

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Zu den Möglichkeiten echter Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung Von Wiss. Mitarbeiter Manuel Köchel, Rechtsreferendar Christopher Wilhelm, Frankfurt a.M.* Es geschieht in der strafrechtlichen Praxis nicht selten, dass Strafanzeigen gestellt und anschließend aus welchen Grün-den auch immer zurückgenommen werden. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft kann dies nicht nur unbefriedigend sein, sondern auch ein erhebliches Problem darstellen, wenn sich auf Grundlage der Aussage des geschädigten Anzeigenerstat-ters ein Anfangsverdacht für eine gegebenenfalls sogar er-hebliche Straftat ergibt und somit das Legalitätsprinzip eine strafrechtliche Verfolgung gebietet, schlussendlich jedoch die Rücknahme der Strafanzeige verbunden mit einer inhaltlichen Abänderung der ursprünglichen Aussage dazu führt, dass eine Verurteilung mangels hinreichender Beweislage nicht mehr möglich ist. Unter diesen Vorzeichen kann es geboten sein, das Verhalten des nach § 57 StPO ordnungsgemäß belehrten Strafanzeige erstattenden Zeugen selbst zu sanktio-nieren, was auf den ersten Blick nach Maßgabe der §§ 258 und 164 StGB auch möglich erscheint. Eine strafrechtliche Verfolgung wegen Strafvereitelung und falscher Verdächti-gung wird aber durch die nur unzureichende Beweislage er-schwert, nach der nämlich mit der erforderlichen Sicherheit weder der eine noch der andere Aussageinhalt erwiesen ist, aber stattdessen Tatbestandsalternativität besteht. In Betracht käme somit allenfalls eine wahldeutige Verurteilung auf wahl-deutiger Tatsachengrundlage, jedoch nur unter der Voraus-setzung, dass zwischen dem Tatbestand der Strafvereitelung einerseits und der falschen Verdächtigung andererseits eine echte Wahlfeststellung überhaupt möglich ist. I. Der verfahrensrechtliche Schutz des Beschuldigten im Strafprozess über den Gedanken des „in dubio pro reo“ Ausgangsgrundlage der Entscheidung eines jeden Gerichts ist im deutschen Strafprozessrecht nach den Fortschritten hin-sichtlich des Inquisitionsprozesses die freie Beweiswürdigung nach § 261 StPO. Auch wenn dieser Grundsatz in der Recht-sprechung des Reichsgerichts1 eine bedenkliche und missver-ständliche Prägung angenommen hatte, geht die heutige Straf-rechtslehre davon aus, dass eine Verurteilung nur dann vor-genommen werden kann, wenn der Richter aufgrund der Wür-digung der Beweise subjektiv Gewissheit2 von der Tatbege-hung hat und objektiv eine an Sicherheit grenzende Wahr-

* Manuel Köchel ist externer Doktorand bei Prof. Dr. Niko-laus Bosch an der Universität Bayreuth und Wiss. Mitarbeiter in einer internationalen Anwaltssozietät in Frankfurt a.M. Christopher Wilhelm ist Rechtsreferendar in Frankfurt a.M. und ehemaliger Wiss. Mitarbeiter des Lehrstuhls für deutsches und europäisches Privatrecht sowie Internationales Privat-recht der Universität Würzburg. 1 So insbesondere RGSt 61, 202 (206), wo davon ausge-gangen wird, dass an die Überzeugung des Richters zu einer Verurteilung „nicht zu hohe Anforderungen“ zu stellen seien (Hervorhebung nur hier). 2 Ausführlicher zum Grad der Gewissheit auch BGHSt 10, 208 = NJW 1957, 1039.

scheinlichkeit besteht, dass sich der Sachverhalt genau so abgespielt hat.3 Während die übrigen Prozessrechtsordnungen auch andere Beweislastregeln kennen, so dominiert im Straf-verfahren allein der Grundsatz „im Zweifel für den Ange-klagten“.4 Diese „Günstigerprüfung“ beruht auf verfassungs-rechtlicher Grundlage und ist strafprozessual schon durch den Schuldgrundsatz geboten; sie steht jedoch gleichsam im Span-nungsfeld zwischen einer ungerechtfertigten Freistellung von Strafe einerseits und der Gefahr eines Fehlurteils andererseits. Um dieses insbesondere im Umgang mit unsichereren Sach-verhaltsgrundlagen bestmöglich aufzulösen, haben Recht-sprechung und Literatur verschiedene Instrumente herausge-arbeitet, insbesondere das der Wahlfeststellung, deren Zuläs-sigkeit, Inhalt und Grenzen jedoch bis heute umstritten sind.5 II. Voraussetzungen der sog. echten Wahlfeststellung Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung erlaubt eine Verurtei-lung auf mehrdeutiger Tatsachengrundlage, wenn nämlich eine Straflosigkeit des Täters mit Sicherheit ausscheidet, jedoch nach Ausschöpfung aller denkbaren Beweismöglichkeiten keine eindeutigen Feststellungen bezüglich des tatsächlich verwirklichten Sachverhaltes getroffen werden können.6 Sie kann in Form der sog. unechten oder gleichartigen Wahlfest-stellung zu einer eindeutigen Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachengrundlage führen, sofern in allen Sachverhaltsalter-nativen derselbe Straftatbestand verwirklicht worden ist, oder aber als hier interessierende sog. echte bzw. ungleichartige Wahlfeststellung eine alternative Verurteilung aufgrund un-terschiedlicher Straftatbestände, die in den verschiedenen Sachverhaltsalternativen begangen worden sind, ermöglichen. Eine solche wahldeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tat-

3 Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 9 Rn. 106. 4 Ausführlicher in geschichtlicher Hinsicht des in dubio pro reo-Grundsatzes Holtappels, Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, 1965, sowie im Hinblick auf dessen Rechtsnatur als Beweislastregel Weber, in: Brieskorn (Hrsg.), Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft, Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte, 1994, S. 591 (595 f.). 5 Jüngst hat der 2. Strafsenat des BGH die Verfassungsmä-ßigkeit der ungleichartigen Wahlfeststellung wegen eines mög-lichen Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 2 GG in Zweifel gezo-gen. Die Revision eines Angeklagten, der vorinstanzlich wahldeutig wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei verurteilt worden war, wurde unterbrochen und gem. § 132 Abs. 3 GVG den übrigen Strafsenaten vorgelegt (anhängig unter BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – 2 StR 495/12). 6 Dannecker, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, Anh. § 1 Rn. 1 f.

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sachengrundlage ist jedoch nur unter bestimmten, nachfol-gend dargestellten Voraussetzungen möglich:7 1. Unsicherheit im Deliktsverlauf Bevor ein Gericht auf Grundlage echter Wahlfeststellung ver-urteilen kann, muss es nach § 244 Abs. 2 StPO zunächst alle prozessualen Möglichkeiten zur Erforschung der Wahrheit hinreichend ausgeschöpft haben. Nur wenn danach nicht alle Unsicherheiten im Deliktsverlauf ausgeräumt sind, ist Raum für eine alternative Sachverhaltsbeurteilung. 2. Gewissheit der Begehung eines von mehreren Delikten Das Gericht muss weiterhin davon überzeugt sein, dass jede verbleibende Sachverhaltsalternative unter Ausschluss jeder weiteren Möglichkeit für sich genommen ausreicht, um eine Strafbarkeit des Beschuldigten zu begründen.8 In allen denk-baren Konstellation muss sein Verhalten daher sowohl die materiellen als auch prozessualen Strafbarkeitsvoraussetzun-gen einer Tat erfüllen.9 3. Kein Stufenverhältnis der in Frage stehenden Sachver-haltsalternativen Drittens darf zwischen beiden Alternativen auch kein Über- und Unterordnungsverhältnis im Sinne eines sog. Stufenver-hältnisses bestehen. Ein solches „Mehr oder Weniger“ liegt insbesondere dann vor, wenn die Verurteilung aus dem mil-deren Delikt zweifelsfrei festgestellt werden kann und ledig-lich die strafschärfende Wirkung eines weiteren Tatumstandes nicht hinreichend zu ermitteln ist. Eine konsequente Fortfüh-rung des in dubio pro reo-Grundsatzes schließt in diesen Konstellationen eine Wahlfeststellung aus, da er als Zweifels-regel verlangt, nur wegen des milderen Tatbestandes zu be-strafen.10 4. Vergleichbarkeit der jeweils verwirklichten Delikte Eine echte Wahlfeststellung kann schließlich aber auch nur dann zulässig sein, wenn die in den jeweiligen Sachverhalts-alternativen verwirklichten Delikte materiell vergleichbar sind.11 Wann dies der Fall ist, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beurteilt.

7 Dazu auch Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 43 ff. und Wes-sels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 43. Aufl. 2013, Rn. 806. 8 Hinsichtlich des Verdachtsgrades gelten dabei in der Regel die gleichen Anforderungen wie bei eindeutigen Sachverhal-ten, vgl. Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 1 Rn. 79. 9 Vgl. BGH NStZ 1981, 33. 10 Weber (Fn. 3), § 10 Rn. 4. 11 Prozessual ist noch umstritten, ob und inwieweit von einer Tatidentität i.S.d. §§ 155, 264 StPO für Wahlfeststellung aus-gegangen werden muss. Diese Frage wird vornehmlich bei zeitlich weit auseinander liegenden Vorgängen relevant, wie etwa bei sich widersprechenden Aussagen eines Zeugen in verschiedenen Gerichtsinstanzen, vgl. Eser/Hecker (Fn. 8), § 1 Rn. 94 ff.

a) Rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit Der BGH, aber auch Teile der Literatur, verlangen eine rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit der Tat-vorwürfe.12 Für erstere wird vorausgesetzt, dass die Schuld-vorwürfe annähernd gleich schwer sind und die alternativ festgestellten Straftaten nach dem allgemeinen Rechtsemp-finden die gleiche oder ähnliche sittliche Missbilligung ver-dienen, was sich anhand eines abstrakten Vergleiches auf Grundlage der gesetzlichen Straftatbestände, nicht aber der Besonderheiten des jeweiligen Falles bemessen soll.13 Als „Mindestvoraussetzung“ wird insoweit nach übereinstimmen-der Auffassung die Verletzung ähnlicher Rechtsgüter gesehen, sodass eine echte Wahlfeststellung insbesondere dann aus-scheidet, wenn die alternativ in Betracht kommenden Tatbe-stände unterschiedliche Schutzinteressen verfolgen.14 Eine wahldeutige Verurteilung ist dann nicht möglich, aber statt-dessen gegenüber den alternativ in Betracht kommenden Möglichkeiten vom Günstigkeitsgrundsatz Gebrauch zu ma-chen und freizusprechen.15 Der im Weiteren ebenfalls gefor-derten psychologischen Vergleichbarkeit kommt darüber hinausgehend eigenständige Bedeutung nur ganz beschränkt zu.16 Sie ist im Zusammenhang mit der rechts-ethischen Ver-gleichbarkeit zu sehen und verlangt, dass sowohl die äußeren Modalitäten des Verhaltens, namentlich also die Art und Wei-se der Beeinträchtigung, als auch die in der Person des Täters liegenden Umstände, d.h. der täterbezogene Unwert bzw. die subjektiven Unrechtselemente, vergleichbar sind.17 b) Identität des Unrechtkerns Die Kriterien der rechtsethischen und psychologischen Ver-gleichbarkeit sind nicht ohne Kritik geblieben.18 Um den An-forderungen des Gesetzlichkeitsprinzips des Art. 103 Abs. 2 GG gerecht zu werden, stellt das überwiegende Schrifttum stattdessen darauf ab, ob die in Betracht kommenden Delikte in ihrem Unrechtskern identisch sind. Dabei hält man es – insoweit ähnlich wie die Rechtsprechung – teilweise für aus-reichend, dass die in den Straftatbeständen vorausgesetzten Rechtsgutsverletzungen identisch mindestens aber gleichwer-tig sind.19 Teilweise finden jedoch auch der konkrete Hand-

12 BGHSt 1, 275 (276) = NJW 1952, 193; BGHSt 22, 154 (156) = NJW 1968, 1888; BGHSt 23, 360 f. = NJW 1971, 62; BGH NStZ 2000, 473 (474); BGH NStZ 2008, 646; Eser/ Hecker (Fn. 8), § 1 Rn. 100; Eschenbach, Jura 1994, 302 (307 f.). 13 BGHSt 1, 390 (392 ff.); 20, 100 (101 f.). 14 BGHSt 30, 77 (78); Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 136 f.; Ott, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafpro-zessordnung, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 70. 15 BGHSt 22, 154 (156) = NJW 1968, 1888. 16 Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 145. 17 Eser/ Hecker (Fn. 8), § 1 Rn. 103. 18 Vgl. den Überblick bei Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 148 f. 19 Deubner, JuS 1962, 21 (23); Otto, in: Baumann/Tiedemann (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts, Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, 1974, S. 373 (390 f.).

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Zu den Möglichkeiten echter Wahlfeststellung … STRAFRECHT

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lungsunwert sowie die Motivation des Täters besondere Be-rücksichtigung und es wird darauf abgestellt, ob die fragli-chen Straftatbestände in ihrem tatbestandstypischen Unrechts-gehalt nach Art und Umfang wesentlich gleich sind.20 Insge-samt sind die verschiedenen Ansätze in der Literatur von dem Bemühen gekennzeichnet, nicht nur eine sittliche Bewertung der festgestellten Taten anhand des allgemeinen Rechtsemp-findens vorzunehmen, sondern zu überprüfen, ob ihnen ein vergleichbarer Unrechts- und Schuldgehalt innewohnt, um somit auch den besonderen Handlungsunwert berücksichtigen zu können.21 III. Vergleichbarkeit von Strafvereitelung und falscher Verdächtigung Zu einer Beantwortung der aufgeworfenen Frage, ob zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung eine echte Wahl-feststellung möglich sein kann, ist somit ganz entscheidend, inwieweit beide Delikte nach Maßgabe der dargestellten Kriterien vergleichbar sind oder nicht. 1. Rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit a) Keine höchstrichterliche Entscheidung Zu den Fällen echter Wahlfeststellung hat sich in der Recht-sprechung eine reichhaltige Kasuistik herausgebildet: So wur-de eine wahldeutige Verurteilung auf wahldeutiger Tatsachen-grundlage für zulässig gehalten etwa bei Diebstahl und Heh-lerei22, schwerem Diebstahl und Unterschlagung23 oder auch zwischen Betrug und Untreue24. Abgelehnt hat sie der BGH dagegen im Falle von Bedrohung und Beleidigung25, Diebstahl und Erpressung26 sowie Diebstahl und Betrug27.28 Inwieweit aber eine echte Wahlfeststellung zwischen falscher Verdäch-tigung einerseits und Strafvereitelung andererseits möglich sein kann, ist trotz der Vielzahl ergangener Entscheidungen bislang höchstrichterlich ungeklärt. b) § 164 StGB und § 258 StGB als Rechtspflegedelikte Einen gewissen Hinweis gibt die Rechtsprechung dennoch in-soweit, als sie in der Vergangenheit bereits eine rechtsethi-sche und psychologische Vergleichbarkeit von § 164 StGB und Meineid angenommen hat.29 Dies war im Wesentlichen möglich, weil es sich bei beiden Straftatbeständen um sog. Rechtspflegedelikte handelt und somit – wie auch im Falle 20 Vgl. Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 151, 153 m.w.N. 21 Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 149 f. 22 BGHSt 1, 302 (304); BGH NStZ 2008, 646. 23 BGHSt 16, 184 (187); 25, 182 (184). 24 BGH GA 1970, 24 f.; OLG Hamburg JR 1956, 28 m. Anm. Nüse. 25 BGH NJW 1990, 130 (131). 26 BGH DRiZ 1972, 30 (31). 27 BGH NStZ 1985, 123. 28 Vgl. nur den Überblick bei Ott (Fn. 14), § 261 Rn. 72 f. 29 So BayObLG MDR 1970, 860; BayObLG JZ 1977, 570. Krit. Vormbaum, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 164 Rn. 87.

von Eigentum und Vermögen – eine Verletzung ähnlicher Rechtsgüter als die genannte „Mindestvoraussetzung“ für eine rechtsethische Vergleichbarkeit gegeben war.30 Vor die-sem Hintergrund dürfte daher eine Verklammerung im Sinne unechter Wahlfeststellung auch der §§ 164 und 258 StGB ge-rechtfertigt sein: Denn ebenso wie der Tatbestand der Straf-vereitelung, der eine wirksame Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu gewährleisten sucht,31 dient auch § 164 der Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Strafrechtspflege, die nämlich vor überflüssigen Ermittlungstätigkeiten bewahrt wer-den soll.32 Dabei ist es unschädlich, dass der Straftatbestand der falschen Verdächtigung nach der herrschenden Alternati-vitätstheorie neben dem Schutz der Rechtspflege auch den Schutz des Einzelnen vor ungerechtfertigter Strafverfolgung bezweckt.33 Diese doppelte Schutzrichtung hat nur Bedeutung für eine mögliche Einwilligung des unschuldig Verdächtigten oder aber in den seltenen Fällen, in denen die Tat gegenüber einer ausländischen Stelle angezeigt wird.34 Jedenfalls soweit die falsche Verdächtigung bei einer deutschen Behörde erfolgt, muss daher auf Grundlage der insoweit identischen Schutz-zwecke zwischen Strafvereitelung und falscher Verdächtigung eine rechtsethische Vergleichbarkeit bestehen:35 Die negative Einstellung des Täters gegenüber der Rechtspflege ist in bei-den Fällen die gleiche; auch in ihrer Strafandrohung unter-scheiden sich die beiden Tatbestände nicht. Der Makel, einer-seits jemanden wider besseres Wissen bei einer Behörde einer strafbaren Handlung verdächtigt zu haben, andererseits vorsätzlich ganz oder zum Teil vereitelt zu haben, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft wird, ist somit annähernd gleich zu bewerten. Eher noch könnten sich beide Straftatbestände im Hinblick auf den täterbezogenen Handlungsunwert unterscheiden, so-dass es an einer psychologischen Vergleichbarkeit fehlt. Denn im Grundsatz ist die falsche Anschuldigung dem Täterverhal-ten nach immer ein Täuschungsverbrechen, während für § 258 StGB eine Vielzahl tatbestandlicher Begehungsweisen mög-lich ist, die – etwa wie im Falle eines Verbergens des verfolg-ten Vortäters – eine Täuschung gerade nicht voraussetzen. Jedenfalls aber soweit der Vereitelungserfolg im Einzelfall durch eine Täuschungshandlung herbeigeführt wird und somit im Täterverhalten so wie in dem hier zu untersuchenden Fall gleichzeitig auch eine Missachtung der Wahrheit zum Aus-druck kommt, dürfte diese Schwierigkeit überwindbar sein. Es wäre jedoch auch darüber nachzudenken, ob aufgrund der Gleichartigkeit der Rechtsgutsverletzungen die psychologische

30 Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 145. 31 Cramer/Pascal, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 258 Rn. 2, 3. 32 Lenckner/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 164 Rn. 1a. 33 Vgl. Zopfs, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kom-mentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 164 Rn. 2 m.w.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 34 Kritisch hierzu Langer, GA 1987, 289 (293). 35 In diesem Sinne auch für die Möglichkeit einer Wahlfest-stellung zwischen Strafvereitelung und Begünstigung Stree/ Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 258 Rn. 45.

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Vergleichbarkeit im Verhältnis zur rechtsethischen Vergleich-barkeit nicht schon ohnehin zurücktritt,36 weil es schließlich nicht darauf ankommen kann, auf welche Weise der Täter seine negative Einstellung zur Rechtsordnung offenbart. 2. Identität der Unrechtskerns Ob auch die h.L. zu diesem Ergebnis gelangen würde ist demgegenüber nicht eindeutig. Denn bei der Frage nach einer Identität des Unrechtskerns steht der besondere Handlungs-unwert in Form des Unrechts- und Schuldgehalts ungleich mehr im Vordergrund, der insbesondere nach der Motivation des Täters fragen lässt. Es wäre also gegebenenfalls in beson-derer Weise zu würdigen, dass es dem Täter bei einer Straf-vereitelung darauf ankommt, die Verwirklichung eines staat-lichen Strafanspruches zu verhindern, während er anlässlich einer falschen Verdächtigung eine (ungerechtfertigte) straf-rechtliche Verfolgung gerade provoziert. Dieser Einwand un-terschiedlicher Beweggründe könnte aber auch davon abhän-gen, inwiefern für die Bestimmung des Handlungsunwerts von einer abstrakten oder konkreten Betrachtung des deliktischen Geschehens ausgegangen wird. Im letzteren Falle soll näm-lich über gewisse Unterschiede im tatbestandstypischen Un-rechtsgehalt hinweggesehen werden können, solange es sich um bloße Nuancen handelt, die ohne einen Verstoß gegen das Analogieverbot überbrückbar sind.37 Es würde dann womög-lich keinen Unterschied machen, dass die Rechtspflege einer-seits durch die Verhinderung eines staatlichen Strafanspru-ches sowie andererseits den Versuch, eine ungerechtfertigte Strafverfolgung zu bewirken, beeinträchtigt wird, da die tat-bestandlichen Ausführungshandlungen im vorliegenden Bei-spielsfall – das Erstatten einer Anzeige bzw. deren anschlie-ßende Zurücknahme verbunden mit einer bestimmten zeugen-schaftlichen Aussage – jeweils ähnlich sind. IV. Ergebnis Es ist somit abschließend festzustellen, dass auf Grundlage der durch die Rechtsprechung angewendeten Kriterien unter den genannten Voraussetzungen eine echte Wahlfeststellung zwischen Strafvereitelung einerseits und falscher Verdächti-gung andererseits gelingen könnte. Sie scheint möglich ins-besondere vor dem Hintergrund der im Wesentlichen gleich-artigen Schutzrichtung beider Straftatbestände mit der Folge rechtsethischer Vergleichbarkeit. Die Schwierigkeiten bei der Feststellung auch einer psychologischen Vergleichbarkeit wären bei einer Beschränkung des § 258 StGB im Hinblick auf die Art und Weise der Tatbegehung und damit durch eine Art „Tatbestandsreduktion“ zu überwinden, falls sie nicht schon aufgrund der besonderen Rechtsgutsverwandtschaft in den Hintergrund treten. Etwas anderes dürfte wohl bei Befol-gung der im Schrifttum vertretenen Lösung gelten, jedenfalls

36 So wohl für Strafvereitelung und Begünstigung Stree/Hecker (Fn. 35), § 258 Rn. 45, die nicht nach der Art und Weise der Rechtsgutsbeeinträchtigung unterscheiden. 37 Wolter, Alternative und eindeutige Verurteilung auf mehr-deutiger Tatsachengrundlage im Strafrecht, 1972, S. 107 ff. Vgl. auch Dannecker (Fn. 6), Anh. § 1 Rn. 154 m.w.N.

soweit anlässlich einer abstrakten Betrachtung der beiden Straftatbestände die in den Fällen der § 164 StGB und § 258 StGB fast schon gegensätzliche Motivation des Täters zu einer Verschiedenartigkeit des jeweiligen Unrechtskerns führt. Für die staatsanwaltschaftliche Praxis, für die es ja letztlich alleine auf die rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit ankommt, bedeutet dieses Ergebnis ganz konkret, dass eine strafrechtliche Verfolgung des Anzeigeerstellers grundsätzlich erfolgsversprechend sein kann. Ob sie im konkreten Einzel-fall aber tatsächlich betrieben werden sollte, hängt wohl in besonderer Weise auch von den Beweggründen des Betroffen ab, ob nämlich die Rücknahme der ursprünglichen Aussage willkürlich oder sogar rechtsmissbräuchlich mit dem Ziel einer Berufung auf das Aussageverweigerungsrecht des § 55 Abs. 1 StPO erfolgt ist, oder auf Druck von Außen hin, sodass mög-licherweise ein Nötigungsnotstand in Betracht käme.

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Konkurrenzprobleme im Kaufgewährleistungsrecht Von stud. iur. Stelios Tonikidis, Mannheim* Die §§ 437 ff. BGB bestimmen, welche Rechte dem Käufer wegen eines Sach- oder Rechtsmangels (§§ 434, 435 BGB) zustehen. Nicht geregelt ist jedoch, ob und inwieweit der Käufer1 im Falle eines Mangels Rechtsbehelfe außerhalb des Gewährleistungsrechts geltend machen kann. Dieser Themen-komplex zählt zu den wohl umstrittensten Problemen im Kauf-recht. Der folgende Beitrag will die diesbezügliche Diskussion strukturieren und näher durchleuchten. I. Konkurrenzen auf Seiten des Käufers Ob die Rechtsbehelfe außerhalb des Kaufgewährleistungs-rechts neben Letzteres treten oder durch dieses verdrängt werden, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Vielmehr muss nach den einzelnen Rechtsbehelfen des Käufers diffe-renziert werden. 1. Einrede des nicht erfüllten Vertrages (§ 320 BGB) Uneinigkeit herrscht dabei zunächst in der Frage, ob ein Käu-fer auch noch nach dem für das Eingreifen des Kaufgewähr-leistungsrechts maßgeblichen Zeitpunkt2 die Einrede des nicht erfüllten Vertrages (§ 320 BGB) erheben kann.3 Hierzu der

1. Fall: K kauft bei V einen Toaster. Dabei vereinbaren die Parteien, dass der Kaufpreis erst am nächsten Tag be-zahlt werden soll. Zu Hause stellt K fest, dass der Toaster nicht funktioniert und verweigert daraufhin unter Beru-fung auf § 320 BGB die Kaufpreiszahlung. Zu Recht?

Die wohl h.M.4 geht davon aus, dass der Käufer auch noch nach dem für das Eingreifen des Kaufgewährleistungsrechts

* Der Autor ist Student der Rechtswissenschaft an der Uni-versität Mannheim sowie studentische Hilfskraft im Mannhei-mer Büro der Ernestus Rechtsanwaltschaftsgesellschaft mbH. 1 Siehe zu den Rechtsbehelfen des Verkäufers Faust, in: Beck‘ scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 28, Stand: 1.3.2011, § 437 Rn. 200 ff. 2 Die h.M. stellt auf den Zeitpunkt des (fiktiven) Gefahrüber-gangs (§§ 446, 447 BGB) ab. Richtigerweise greift das Kauf-gewährleistungsrecht nach dem Rechtsgedanken des § 363 BGB aber erst dann ein, wenn der Käufer die Sache als (teil-weise) Erfüllung angenommen hat; siehe zu dieser Streitfrage Bachmann, AcP 211 (2011), 395, der dafür plädiert, das Ge-währleistungsrecht bereits ab Kaufvertragsschluss eingreifen zu lassen. 3 Siehe zu dieser Streitfrage Grunewald, in: Festschrift für Harm Peter Westermann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 245. 4 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 164; Berger, in: Jauernig, Kom-mentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 437 Rn. 29; Pammler, in: juris Praxiskommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 437 Rn. 54; Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 437 Rn. 20; Matusche-Beckmann, in: Stau-dinger, Kommentar zum BGB, 2014, § 437 Rn. 22.

maßgeblichen Zeitpunkt die Einrede des nicht erfüllten Ver-trages nach § 320 BGB erheben könne und führt als Begrün-dung vor allem die Rechtsnatur des Nacherfüllungsanspruchs ins Feld: Wenn nämlich § 320 BGB schon auf den ursprüng-lichen Erfüllungsanspruch anwendbar sei, dann müsse dies erst Recht auch für den Nacherfüllungsanspruch gelten, da es sich bei diesem lediglich um den modifizierten Erfüllungs-anspruch5 handele.6 Sollte dem Käufer ausnahmsweise kein Nacherfüllungsanspruch zustehen oder der Verkäufer die Nacherfüllung nach § 439 Abs. 3 BGB verweigern, so könne sich der Käufer unter Zugrundelegung der genannten h.M. ebenfalls auf § 320 BGB berufen, sofern ihm ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung oder ein Surrogat nach § 285 BGB zustehe.7 Da K im vorliegenden Fall der Nach-erfüllungsanspruch unzweifelhaft zusteht, kann er sich nach der genannten Ansicht auf § 320 BGB berufen und die Kauf-preiszahlung verweigern. Zustimmung verdient jedoch die Auffassung, welche § 320 BGB nach dem für das Eingreifen des Gewährleistungsrechts maßgeblichen Zeitpunkt für un-anwendbar hält.8 Zwar kann der Gegenansicht darin zuge-stimmt werden, dass es sich beim Nacherfüllungsanspruch um einen modifizierten Erfüllungsanspruch handelt, jedoch kann dieser Gesichtspunkt allein eine Anwendung des § 320 BGB nicht begründen, da es bei der aufgeworfenen Streit-frage gerade darum geht, wie weit die Modifikation des ur-sprünglichen Erfüllungsanspruchs aus § 433 Abs. 1 BGB reicht.9 In systematischer Hinsicht streitet für die hier befür-wortete Ansicht, dass § 437 BGB die Rechte des Käufers ab-schließend erwähnt und ein Verweis auf § 320 BGB gerade fehlt.10 Die hier vertretene Ansicht führt auch nicht dazu, dass der Käufer schutzlos gestellt ist, da diesem richtigerweise zumindest die Möglichkeit offensteht, die allgemeine Mängel-einrede zu erheben, mit der er die Kaufpreiszahlung bis zum Ablauf einer angemessenen Überlegungsfrist, innerhalb der er sich für die Wahl eines der in § 437 BGB genannten Rechte entscheidet, verweigern kann.11 Demnach kann sich K zwar nicht auf die Einrede des nichterfüllten Vertrages (§ 320 BGB) berufen, jedoch kann er im vorliegenden Fall die Kaufpreis-zahlung bis zum Ablauf einer angemessenen Überlegungs- 5 BGHZ 177, 224 (230); OLG München NJW 2006, 449 (450); OLG Düsseldorf NJW-RR 2008, 1282; Faust (Fn. 1), § 439 Rn. 6. 6 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 164; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 54; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 20. 7 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 165 f.; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 22; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 20. 8 Grunewald, in: Erman, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2011, § 437 Rn. 6; Saenger, in: Handkommentar BGB, 7. Aufl. 2012, § 437 Rn. 23; Grunewald (Fn. 3), S. 245 (247 ff.). 9 Grunewald (Fn. 3), S. 245 (247). 10 Saenger (Fn. 8), § 437 Rn. 23; Grunewald (Fn. 3), S. 245 (248). 11 Grunewald (Fn. 3), S. 245 (251).

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frist, innerhalb derer er sich für einen der kaufrechtlichen Rechtsbehelfe entscheiden muss, verweigern. 2. Irrtumsanfechtung (§§ 119 ff. BGB) Ob die Vorschriften zur Irrtumsanfechtung (§§ 119 ff. BGB) neben den §§ 437 ff. BGB anwendbar sind, lässt sich nicht einheitlich beurteilen. Vielmehr muss zwischen den einzelnen Anfechtungsgründen unterschieden werden. In jedem Fall kön-nen jedoch nach wirksamer Anfechtung des Kaufvertrags12 keine Gewährleistungsrechte mehr geltend gemacht werden, da die Anfechtung den Kaufvertrag nach § 142 Abs. 1 BGB ex tunc beseitigt.13 Dem Käufer steht dann lediglich ein An-spruch auf Herausgabe des gezahlten Kaufpreises nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB zu. a) Erklärungs-, Inhalts- und Übermittlungsirrtum (§§ 119 Abs. 1, 120 BGB) Nach nahezu einhelliger Auffassung schließt das Kaufgewähr-leistungsrecht das Anfechtungsrecht des Käufers wegen eines Inhalts- und Erklärungsirrtums nach § 119 Abs. 1 BGB nicht aus.14 Da sich das Anfechtungsrecht nach § 119 Abs. 1 BGB lediglich auf Fehler bei der Willensäußerung bezieht, welche aber von den §§ 437 ff. BGB nicht umfasst sind, können sich § 119 Abs. 1 BGB und §§ 437 ff. BGB richtigerweise gegen-seitig nicht ausschließen.15 Letztgenannte Begründung lässt sich auch auf das Anfechtungsrecht nach § 120 BGB übertra-gen, da es dabei lediglich um Fehler bei der Willensübermitt-lung geht.16 b) Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft (§ 119 Abs. 2 BGB) Besonders umstritten ist hingegen die Rechtslage im Falle eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft nach § 119 Abs. 2 BGB.

12 Ob bei einem mehrseitigen Rechtsgeschäft wie dem Vertrag der Bezugspunkt der Anfechtung die abgegebene Willenser-klärung (dafür Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 142 Rn. 9) oder nicht eher das geschlossene Rechtsgeschäft ist (dafür: Leenen, Jura 1991, 393 [398]; ders., Jura 2007, 721 [728]), ist umstritten. 13 Siehe aber zur (umstrittenen) Ausnahme nach einer wirk-samen Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB die Ausführungen unten I. 2. c). 14 Saenger (Fn. 8), § 437 Rn. 27; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 31; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 66; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 55; Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 72. Aufl. 2013, § 437 Rn. 53; Schmidt, in: Prütting/Wegen/Wein-reich, Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2012, § 437 Rn. 69; Grunewald, Handbuch des Schuldrechts, Bd. 6: Kaufrecht, 2006, § 9 Rn. 12; Reinicke/Tiedtke, Kaufrecht, 8. Aufl. 2009, Rn. 791; Köster, Jura 2005, 145 (147); a.A. LG Magdeburg, Urt. v. 21.12.2010 – 10 O 2045/08. 15 Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 31; Oetker/Maultzsch, Vertragli-che Schuldverhältnisse, 4. Aufl. 2013, § 2 Rn. 321; Köster, Jura 2005, 145 (147). 16 Köster, Jura 2005, 145 (147).

aa) Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft bezieht sich auf Merkmale der Kaufsache, die einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB begründen Denkbar ist dabei zunächst die Konstellation, dass sich ein solcher Irrtum auf Merkmale der Kaufsache bezieht, die einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB begründen. (1) Ausschluss der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB Ob in diesem Fall eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB zulässig ist, wird unterschiedlich beantwortet. Hierzu der

2. Fall: Kunstliebhaber K erwirbt in der Galerie des V eines der Seerosenbilder des Malers Monet für 30 Millio-nen EUR. Nachdem er das Bild entgegengenommen und in seiner Villa aufgehängt hat stellt sich heraus, dass es sich bei dem Bild um eine Fälschung handelt. K erklärt daraufhin unverzüglich die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB. Zu Recht?

Zwar stellt die Urheberschaft eines Kunstwerks eine verkehrs-wesentliche Eigenschaft i.S.v. § 119 Abs. 2 BGB dar,17 je-doch ist strittig, ob eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB neben den kaufrechtlichen Vorschriften zulässig ist oder von Letzteren verdrängt wird. Teile der Literatur bejahen eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB und begründen dies damit, dass die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB zur Schadensersatzpflicht nach § 122 BGB führe und dem Käufer damit nicht die gleiche Rechtsstellung wie die kaufrechtlichen Vorschriften sichere.18 Demnach könnte K die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB erklären. Beizupflichten ist aber der h.M., nach der eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB aus-geschlossen ist.19 Für sie streitet nicht nur, dass die kaufrecht-liche Verjährungsfrist grundsätzlich zwei Jahre beträgt (§ 438 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BGB), wohingegen eine Anfechtung we-gen eines Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB nach § 121 BGB unter Um-ständen auch noch innerhalb von zehn Jahren ab Abgabe der Willenserklärung erklärt werden könnte,20 sondern auch, dass eine Anfechtungsmöglichkeit nach § 119 Abs. 2 BGB den Ausschluss der Haftung nach § 442 Abs. 1 S. 2 BGB leerlau-fen lassen würde.21 Folglich kann K nicht nach § 119 Abs. 2

17 BGHZ 63, 369 (371); BGH NJW 1988, 2597 (2599); Arm-brüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 119 Rn. 135. 18 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 182; Maifeld, in: Eckert/Maifeld/ Matthiessen, Handbuch des Kaufrechts, 2007, Rn. 846. 19 OLG Brandenburg, Urt. v. 7.8.2008 – 5 U 63/07; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 67; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 53; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 70; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 792 f.; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 317 f.; Köster, Jura 2005, 145 (146 f.); ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGHZ 34, 32 (34); 78, 216 (218); OLG Düsseldorf NJW 1971, 436 (438). 20 Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 793. 21 Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 793; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 317; Köster, Jura 2005, 145 (146).

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BGB anfechten, sondern lediglich die ihm nach § 437 BGB zustehenden Gewährleistungsrechte geltend machen. (2) Zeitpunkt des Ausschlusses Innerhalb der h.M., die in der vorgenannten Konstellation eine Anfechtungsmöglichkeit des Käufers nach § 119 Abs. 2 BGB verneint, ist jedoch umstritten, ab welchem Moment der Anfechtungsausschluss gilt. Hierzu der

3. Fall: K kauft bei V eines der „Seerosenbilder“ des Künstlers Monet. Dabei vereinbaren die Parteien, dass V das Gemälde erst eine Woche nach Kaufvertragsabschluss an K zuschicken soll. Einen Tag bevor das Gemälde ver-schickt werden soll erfährt K, dass es sich bei dem ge-nannten Gemälde um eine Fälschung handelt. K ficht un-verzüglich den Vertrag nach § 119 Abs. 2 BGB an. Zu Recht?

Zwar steht K nach der oben dargestellten h.M. die Anfech-tungsmöglichkeit nach § 119 Abs. 2 BGB nicht zu, jedoch herrscht innerhalb dieser Ansicht Uneinigkeit darüber, ab wann dieser Anfechtungsausschluss gilt. Teilweise wird dieser erst ab dem für das Eingreifen der §§ 437 ff. BGB maßgeblichen Zeitpunkt angenommen, da die Gewährleistungsrechte erst ab diesem Moment entstehen und daher auch erst von diesem Moment an eine Ausschlusswirkung entfalten können.22 Je nach dem, auf welchen Zeitpunkt man für das Eingreifen des Kaufgewährleistungsrechts abstellt, muss man den Anfech-tungsausschluss im vorliegenden Fall verneinen oder bejahen. Zustimmung verdient jedoch die wohl h.M., welche den An-fechtungsausschluss stets schon ab Kaufvertragsabschluss an-nimmt.23 Dafür spricht insbesondere, dass der Käufer ansons-ten mittels der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB die Rege-lung des § 442 BGB umgehen könnte.24 (3) Vertraglicher Gewährleistungsausschluss Ferner besteht innerhalb der anfangs genannten h.M. Uneinig-keit darüber, ob ein vertraglicher Gewährleistungsausschluss auch das Anfechtungsrecht aus § 119 Abs. 2 BGB erfasst oder durch diesen wieder auflebt. Hierzu der

4. Fall: K kauft bei V unter Ausschluss der Gewährleistung einen gebrauchten Pkw für 5.000 EUR. Nach Entgegen-nahme des Pkw stellt ein Gutachter fest, dass es sich bei diesem um einen Unfallwagen handelt und die Bremsen nicht richtig funktionieren. Beides war dem V im Moment

22 Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 29; im Ergebnis ebenso Grunewald (Fn. 8), Vor § 437 Rn. 25; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 16. 23 Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 32; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 67; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 70; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 18; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 318; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 799; Köster, Jura 2005, 145 (147). 24 Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 318; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 799; Köster, Jura 2005, 145 (147).

des Verkaufs nicht bekannt. K erklärt unverzüglich die Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB. Zu Recht?

Spätestens ab dem Moment der Annahme des Wagens als Erfüllung (§ 363 BGB) hätten K die Gewährleistungsrechte aus § 437 BGB zugestanden. Da jedoch zwischen V und K ein Gewährleistungsausschlusses (§ 444 BGB) besteht, stellt sich die umstrittene Frage, ob der vertragliche Gewährleis-tungsausschluss auch das Anfechtungsrechts aus § 119 Abs. 2 BGB mitumfasst. Da der Ausschluss der Irrtumsanfechtung nicht auf dem Gewährleistungsausschluss selbst beruht, son-dern das Anfechtungsrecht kraft Gesetzes aufgrund der in §§ 437 ff. BGB getroffenen Sonderregelungen ausgeschlossen ist,25 kann die Irrtumsanfechtung nach h.M. richtigerweise nicht dadurch wiederaufleben, dass die Kaufvertragsparteien die Gewährleistung in zulässiger Weise vertraglich abbedun-gen haben.26 Demnach kann K nicht nach § 119 Abs. 2 BGB anfechten. bb) Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft bezieht sich auf Merkmale der Kaufsache, die keinen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB begründen Die bisherigen Ausführungen bezogen sich darauf, dass sich der Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft auf Merkmale der Kaufsache bezog, die einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB darstellten. (1) Ausschluss der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB Unklar ist, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn sich der Irrtum auf Merkmale bezieht, die keinen Mangel im vorge-nannten Sinn begründen. Hierzu der

5. Fall:27 V verkauft K am 01.05.2012 einen gebrauchten, aber sehr gut erhaltenen Pkw VW Scirocco GTI. Als Tag der Erstzulassung ist im schwer lesbaren Fahrzeug-Brief (seit 1.10.2005: Zulassungsbescheinigung Teil II; § 12 Fahrzeug-Zulassungsverordnung) der 4.10.1976 eingetra-gen. K entziffert jedoch den 4.10.1978 als Erstzulassungs-datum und geht davon aus, dass es sich bei dem Pkw um ein von Liebhabern besonders geschätztes, ab 1978 herge-stelltes Modell des VW Scirocco GTI handelt. Dabei unter-lässt es K, eine entsprechende Beschaffenheitsvereinbarung mit V abzuschließen. Das tatsächliche Alter des Fahrzeugs schmälert aber nicht die Fahrtauglichkeit des Fahrzeugs. K zahlt den Kaufpreis und V übereignet ihm den Pkw.

25 BGHZ 63, 369 (376); Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 796. 26 BGHZ 63, 369 (376); OLG Brandenburg, Urt. v. 7.8.2008 – 5 U 63/07; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 802; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 14; ebenso (im Falle des gesetzlichen Ge-währleistungsausschlusses nach § 56 S. 3 ZVG) BGH NJW-RR 2008, 222 (223) sowie (für den Fall des gesetzlichen Ge-währleistungsausschlusses nach § 283 AO) OLG Branden-burg NJW-RR 2010, 1723 (1724); a.A. OLG Stuttgart NJW 1989, 2547. 27 Der Fall ist – in leicht abgewandelter Form – der Entschei-dung OLG Stuttgart NJW 1989, 2547 f. nachgebildet.

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Nachdem ein Gutachter dem K das tatsächliche Erstzulas-sungsdatum mitteilt, ficht K am 15.5.2012 den Kaufver-trag nach § 119 Abs. 2 BGB an. Zu Recht?

Das falsche Datum der Erstzulassung kann hier nichts als Sachmangel angesehen werden,28 da weder eine Beschaffen-heitsvereinbarung29 abgeschlossen wurde (§ 434 Abs. 1 S. 1 BGB) noch hat das falsche Datum Auswirkungen auf die Fahr-tüchtigkeit des Wagens (§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB). Es stellt sich daher die Frage, ob dem K in dieser Situation die Möglichkeit der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB offen-steht. Während die wohl h.M. hier eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB zulässt,30 lehnen Teile der Literatur diese zu Recht ab.31 Für letztere Ansicht spricht vor allem, dass es widersprüchlich erscheint, einem Käufer, der zusammen mit dem Verkäufer die betreffende Eigenschaft zum Inhalt einer Beschaffenheitsvereinbarung im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 1 BGB gemacht hat, das Anfechtungsrecht nach § 119 Abs. 2 BGB abzusprechen (siehe oben I. 2. b) aa) (1), während man einem Käufer, der eine entsprechende Absicherung versäumt oder unterlassen hat, das Anfechtungsrecht einräumt.32 Um eine Gleichbehandlung zwischen den Käufern zu gewährleis-ten, muss daher eine Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB auch hier stets ausscheiden. Folglich kann K nicht nach § 119 Abs. 2 BGB anfechten. (2) Zeitpunkt des Ausschlusses Die genannte Gleichbehandlung zwischen den Käufern er-streckt sich richtigerweise auch auf den Zeitpunkt des Anfech-tungsausschlusses, so dass dieser auch hier schon ab Kaufver-tragsabschluss anzunehmen ist (siehe die Ausführungen oben I. 2. b) aa) (2), welche hier entsprechend gelten). (3) Vertraglicher Gewährleistungsausschluss Ferner scheidet auch hier die Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB im Falle eines wirksamen vertraglichen Gewähr-leistungsausschlusses (§ 444 BGB) aus (siehe die Ausführun-gen oben I. 2. b) aa) (3), welche hier entsprechend gelten).

28 Ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechts-reform) OLG Stuttgart NJW 1989, 2547. 29 Hätten die Parteien hingegen das Datum der Erstzulassung des Pkw in den Kaufvertrag mitaufgenommen, so wäre eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung anzunehmen ge-wesen (OLG Karlsruhe NJW 2004, 2456). 30 Grunewald (Fn. 8), Vor § 437 Rn. 24; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 39; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 14; Oetker/ Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 319; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGHZ 72, 252 (253 f.). 31 Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 53; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn.70; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 801 f. 32 Vgl. Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 802.

c) Arglistige Täuschung und widerrechtliche Drohung (§ 123 Abs. 1 BGB) Es besteht weitestgehend Einigkeit darin, dass eine Anfech-tung nach § 123 Abs. 1 BGB wegen arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung durch die §§ 437 ff. BGB nicht ausgeschlossen wird.33 Zwar steht dies in Widerspruch zu der von der Rechtsprechung und dem Schrifttum oft verwendeten Aussage, dass das Gewährleistungsrecht eine abschließende Regelung darstellt,34 jedoch kann man diesen Einwand da-durch entkräften, indem man auf die mangelnde Schutzbedürf-tigkeit des Verkäufers in dieser Situation hinweist.35 Ob dem arglistig getäuschten Käufer nach der Anfechtung weiterhin vertragliche Schadensersatzansprüche zustehen, wird zwar unterschiedlich beantwortet,36 jedoch ist diese Frage mit der h.M. richtigerweise zu verneinen,37 da durch die Anfechtung der abgeschlossene Kaufvertrag (und damit der Anknüpfungs-punkt für alle vertraglichen Ansprüche) nach § 142 Abs. 1 BGB ex tunc wegfällt.38 3. Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) Nach ganz h.M. ist § 313 BGB nicht anwendbar, wenn sich die Störung der Geschäftsgrundlage auf Umstände bezieht, die einen Mangel nach §§ 434, 435 BGB begründen.39 Dies lässt sich damit begründen, dass die kaufrechtlichen Regelun-

33 OLG Rostock, Urt. v. 31.7.2006 – 3 U 160/05; Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 184; Saenger (Fn. 8), § 437 Rn. 26; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 31; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 71; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 18; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 322; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 803; ebenso (bezogen auf eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung): Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 69; OLG Saarbrücken NJW-RR 2010, 125 (126); LG Magdeburg, Urt. v. 21.12.2010 – 10 O 2045/08; a.A. Roth, JZ 2006, 1026 (1027 f.). 34 Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 45; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) Köhler, JA 1982, 157. 35 Saenger (Fn. 8), § 437 Rn. 26; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 31; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 69; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 322; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 803; Köster, Jura 2005, 145 (147). 36 Dafür Derleder, NJW 2004, 969; dagegen Höpfner, NJW 2004, 2865. 37 OLG Saarbrücken NJW-RR 2010, 125 (126); Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 46; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) OLG Karlsruhe NJW-RR 1986, 542. 38 OLG Saarbrücken NJW-RR 2010, 125 (126); Höpfner, NJW 2004, 2865. 39 OLG Brandenburg, Urt. v. 7.8.2008 – 5 U 63/07; OLG Hamm, Urt. v. 13.12.2010 – 22 U 120/10, I-22 U 120/10; Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 185; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 76; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 55; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 43; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 323; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechts-reform) BGHZ 98, 100 (103); OLG Düsseldorf NJW 1971, 436 (438).

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gen dem Käufer ein ausdifferenziertes System bereitstellen, welches dazu führt, dass die von § 313 BGB geforderte Un-zumutbarkeit des Festhaltens am geschlossenen Vertrag für den Käufer verneint werden muss.40 Entsprechend der Rechts-lage bei der Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB gilt dieser Ausschluss richtigerweise bereits vor dem für das Eingreifen der §§ 437 ff. BGB maßgeblichen Zeitpunkt41 sowie im Falle eines Gewährleistungsausschlusses.42 Bezieht sich hingegen die Störung der Geschäftsgrundlage nicht auf Umstände, die einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB begründen, ist § 313 BGB nach einhelliger Auffassung neben den kaufrecht-lichen Regelungen anwendbar.43 4. Haftung aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB) Macht der Verkäufer vor Vertragsschluss Falsch- oder Nicht-angaben zum Kaufgegenstand, so kann er aufgrund einer vor-vertraglichen Pflichtverletzung nach §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB (culpa in contrahendo) haften. Ob eine solche Haftung neben den kaufrechtlichen Vorschriften zuzulassen ist, ist jedoch (teilweise) umstritten. a) Falsch- oder Nichtangabe bezieht sich nicht auf einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB Bezieht sich die Falsch- oder Nichtangabe von Umständen nicht auf einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB, so besteht Einigkeit darin, dass eine Haftung aus culpa in con-trahendo (§§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB) uneinge-schränkt zuzulassen ist.44 Dies gilt auch für den Fall selbstän-diger (auf einem Beratungsvertrag beruhender) Beratungs-pflichten45 und sonstiger – meist aus der Verkehrssitte herge-leiteter46 – Beratungspflichten,47 deren Verletzung nicht zu einem Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB führt.

40 Dahingehend Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 185. 41 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 185; Grunewald (Fn. 8), Vor § 437 Rn. 21; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 76; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 27; a.A. BGH JZ 1977, 177. 42 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 185; Grunewald (Fn. 8), Vor § 437 Rn. 19; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 43; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 27; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGHZ 117, 159 (163 f.). 43 Saenger (Fn. 8), § 437 Rn. 28; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 325. 44 OLG Hamm NJW-RR 2003, 1360 (1361); Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 190; Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 311 Rn. 96 f.; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 86; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 21; Reini-cke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 843; Häublein, NJW 2003, 388 (392). 45 Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 311 Rn. 38; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 327 f.; eben-so (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGH NJW 1997, 3227 (3228); BGH NJW 1999, 3192 (3193 f.). 46 Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 79.

b) Falsch- oder Nichtangabe bezieht sich auf einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB Uneinheitlich wird jedoch die Rechtslage beurteilt, wenn sich die vorvertragliche Pflichtverletzung des Verkäufers auf einen Mangel im Sinne der §§ 434, 435 BGB bezieht. aa) Ausschluss der culpa in contrahendo Streit herrscht dabei zunächst in der Frage, ob eine Haftung aus culpa in contrahendo ausgeschlossen oder neben dem Kaufgewährleistungsrecht zuzulassen ist. Hierzu der

6. Fall:48 V inseriert auf einer Internetanzeigeplattform eine Anzeige für seinen gebrauchten Pkw. Im Anzeigen-text gibt er die Laufleistung mit 200.000 km und den Kaufpreis mit 2.000 EUR an. K meldet sich bei V und möchte den Pkw kaufen. Im Kaufvertrag ist unter dem Punkt „Gesamtfahrleistung nach Angaben des Vorbesit-zers“ handschriftlich „200.000 km“ vermerkt, was auch dem vom Tacho zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses aus-gewiesenen Kilometerstand entspricht. Als Vorbesitzer waren aus dem Kfz-Brief insgesamt fünf Vorbesitzer er-sichtlich. V erwarb den Wagen jedoch von einem nicht im Kfz-Brief eingetragenen Vorbesitzer, worüber V den K bei Abschluss des Kaufvertrags nicht informiert hat, ob-wohl sich K intensiv nach den wertbildenden Eigenschaf-ten des Fahrzeugs erkundigt hat. Die tatsächliche Lauf-leistung betrug zum Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlus-ses 300.000 km. Nach fünf Monaten wird K von Dritten über diesen Umständen informiert. Steht K in dieser Situ-ation ein Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB zu?

Der falsche Kilometerstand stellt einen bei Gefahrübergang vorhandenen Sachmangel nach § 434 Abs. 1 S. 1 BGB dar,49 so dass K spätestens nach Annahme des Fahrzeugs die Ge-währleistungsrechte nach § 437 BGB zustanden. Darüber hi-naus war V im vorliegenden Fall verpflichtet, den K über den nicht im Kfz-Brief eingetragenen Vorbesitzer aufzuklären, da K ohne einen entsprechenden Hinweis davon ausging, dass V das Fahrzeug von demjenigen übernommen hat, der als letz-ter Halter in dem Kraftfahrzeugbrief eingetragen war. Hat ein Verkäufer das Fahrzeug kurze Zeit vor dem Weiterverkauf selbst von einer Person unbekannter Identität erworben, liegt der Verdacht nahe, dass es während der Besitzzeit des unbe-kannten Voreigentümers – wie im vorliegenden Fall – zu Ma-nipulationen am Kilometerzähler oder einer sonstigen unsach-gemäßen Behandlung des Fahrzeugs gekommen ist.50 Die Verlässlichkeit der Angaben des Verkäufers zum Fahrzeug wird dadurch grundlegend entwertet. Insbesondere kommt der

47 Stadler (Fn. 45), § 311 Rn. 38; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGHZ 88, 130 (135); BGH NJW 1984, 2938. 48 Der Fall ist – in leicht abgewandelter Form – der Entschei-dung BGH NJW 2010, 858 f. nachgebildet. 49 LG Karlsruhe, Urt. v. 15.2.2010 – 1 S59/09. 50 BGH NJW 2010, 858.

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Kilometerstandanzeige und den Aussagen zur „Gesamtfahr-leistung nach Angabe des Vorbesitzers“ hinsichtlich der tat-sächlichen Fahrleistung in einem solchen Fall keine nennens-werte Bedeutung zu.51 Da V diese Aufklärungspflichtverlet-zung auch vorsätzlich begangen hat, stünde K auch ein An-spruch aus §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB zu. Strittig ist jedoch, ob ein solcher Anspruch neben dem Kaufgewähr-leistungsrecht zuzulassen ist. Teile der Literatur wollen An-sprüche aus culpa in contrahendo neben solchen aus dem Ge-währleistungsrecht nach §§ 437 ff. BGB treten lassen.52 Es wird dabei das Argument ins Feld geführt, dass die Haftung aus culpa in contrahendo und das Gewährleistungsrecht jeweils unterschiedliche Zwecke verfolgen und jeweils eigenständi-gen Voraussetzungen unterliegen, so dass sich die Haftungs-systeme gegenseitig nicht ausschließen können: Während näm-lich die Haftung aus culpa in contrahendo das informationelle Defizit der falsch aufgeklärten Partei ausgleichen solle, gehe es demgegenüber im Gewährleistungsrecht darum, dass die Istbeschaffenheit des Kaufgegenstandes nicht mit seiner Soll-beschaffenheit übereinstimme.53 Demnach stünde K ein An-spruch aus §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB zu. Zustim-mung verdient jedoch die h.M., welche davon ausgeht, dass die Haftung aus culpa in contrahendo neben den §§ 437 ff. BGB grundsätzlich nicht anwendbar ist.54 Dies wird damit begründet, dass der Vorrang des Gewährleistungsrechts in Form der Nacherfüllung nicht dadurch umgangen werden darf, dass die falsch aufgeklärte Vertragspartei im Rahmen der Haftung des Verkäufers aus culpa in contrahendo Natural-restitution in Form der Vertragsaufhebung verlangen darf.55 Zudem dürfen die Unterschiede bei der Verjährung nicht vernachlässigt werden.56 Während Gewährleistungsansprüche in der Regel nach zwei Jahren verjähren (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB), unterliegen Ansprüche aus §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB grundsätzlich einer dreijährigen Verjährungsfrist nach §§ 195, 199 BGB.57 Innerhalb der genannten h.M. herrscht jedoch Streit darüber, ob der Vorrang des Gewähr-leistungsrechts auch im Falle vorsätzlicher Pflichtverletzung gilt. Zwar wird dies von Teilen der Literatur bejaht,58 jedoch wird überwiegend zu Recht dafür plädiert, im Falle einer

51 BGH NJW 2010, 858; OLG Bremen NJW 2003, 3713 f. 52 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 190; Emmerich (Fn. 44), § 311 Rn. 143 f.; Häublein, NJW 2003, 388 (392). 53 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 190. 54 BGHZ 180, 205 (212); BGH NJW 2010, 858 (859); OLG Stuttgart, Urt. v. 7.7.2010 – 3 U 82/09; Grunewald (Fn. 8), Vor § 437 Rn. 15; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 71; Weiden-kaff (Fn. 14), § 437 Rn. 51a; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 74; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 73 ff.; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 21; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 860; Kös-ter, Jura 2005, 145 (147 f.). 55 BGHZ 180, 205 (213); Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 34; Rei-nicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 860. 56 Zweifelnd an diesem Begründungsansatz BGHZ 180, 205 (213). 57 Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 860; Weiler, ZGS 2002, 249 (253). 58 Köster, Jura 2005, 145 (148); Weiler, ZGS 2002, 249 (254).

vorsätzlichen Pflichtverletzung die Haftung aus culpa in con-trahendo neben das Gewährleistungsrecht treten zu lassen.59 Dafür spricht, dass der Verkäufer im Falle vorsätzlichen Ver-haltens nicht schutzwürdig ist.60 Mithin könnte K, da V ihn vorsätzlich nicht über die Vorbesitzer informiert hat, im vor-liegenden Fall einen Schadensersatzanspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311, 241 Abs. 2 BGB geltend machen. bb) Zeitpunkt Ferner ist umstritten, ab welchem Zeitpunkt der Ausschluss der Haftung aus culpa in contrahendo eintritt. Die wohl h.M. nimmt den Ausschluss erst ab dem für das Eingreifen des Ge-währleistungsrechts maßgeblichen Zeitpunkt an.61 Als Begrün-dung wird angeführt, dass es dem Käufer nicht zugemutet werden könne, eine mangelbehaftete Sache anzunehmen, um überhaupt in den Genuss der kaufrechtlichen Gewährleistungs-rechte zu kommen.62 Richtigerweise ist jedoch der Ausschluss bereits ab Vertragsschluss zu bejahen, da man ansonsten dem Verkäufer die Möglichkeit der Nacherfüllung nehmen wür-de.63 5. Haftung wegen der Verletzung (nach-)vertraglicher Neben-pflichten (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB) Nach allgemeiner Auffassung richtet sich die Haftung des Verkäufers wegen der Verletzung (nach-)vertraglicher Neben-pflichten nach den §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.64 Unklar ist jedoch, ob diese Haftung durch das kaufrechtliche Gewähr-leistungsrecht ausgeschlossen ist oder über § 437 BGB herzu-leiten ist (was zur Folge hätte, dass sie den kaufgewährleis-tungsrechtlichen Beschränkungen unterliegen würde). Dies-bezüglich gilt es richtigerweise wie folgt zu unterscheiden:65 a) Nicht mangelbezogene Nebenpflichten Hat der der Verkäufer eine nachvertragliche Nebenpflichtver-letzung, die mit der Sach- oder Rechtsmangelfreiheit der Sache nichts zu tun hat, begangen, so entfalten die §§ 437 ff. BGB in dieser Situation keine Ausschlusswirkung und der

59 BGHZ 180, 205 (212); BGH NJW 2010, 858 (859); OLG Köln NJW 2005, 1666; OLG Stuttgart, Urt. v. 7.7.2010 – 3 U 82/09; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 34; Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 74; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 51b; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 74; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 74; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 21; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 861; St. Lorenz, NJW 2006, 1925 (1927); ders., NJW 2007, 1 (4); offenlassend OLG Saarbrücken NJW-RR 2010, 125 (127). 60 BGHZ 180, 205 (214); Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 74; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 861. 61 Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 21. 62 Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 21. 63 Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 72 i.V.m. Rn. 67. 64 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 191; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 52; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 53 ff. 65 So bereits Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 191 ff.

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Konkurrenzprobleme im Kaufgewährleistungsrecht ZIVILRECHT

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Verkäufer haftet nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.66 Hierunter fallen z.B. die Fälle, in denen der Verkäufer oder seine Erfüllungsgehilfen im Rahmen der Lieferung der Kauf-sache oder im Rahmen der Nacherfüllung Eigentum des Käu-fers beschädigen.67 b) Mangelbezogene Nebenpflicht Verletzt hingegen der Verkäufer eine mangelbezogene Neben-pflicht, ist danach zu differenzieren, ob die nachvertragliche Pflichtverletzung vor oder nach Gefahrübergang zur Mangel-haftigkeit der Kaufsache führt. aa) Nachvertragliche Nebenpflichtverletzung führt vor Gefahr-übergang zur Mangelhaftigkeit der Kaufsache Führt die Nebenpflichtverletzung dazu, dass die Sache vor Gefahrübergang mangelhaft wird, so entfaltet das Sachge-währleistungsrecht eine Sperrwirkung gegenüber der Haftung aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.68 Dafür spricht, dass die eigentliche Pflichtverletzung hier darin besteht, dass der Kauf-gegenstand bei Gefahrübergang nicht mangelfrei ist.69 Hier-unter fällt z.B. der Fall der fehlenden Typ-Prüfung eines Krans,70 die dazu führt, dass der Kran als mangelbehaftet i.S.v. § 434 Abs. 1 BGB angesehen werden muss. bb) Nebenpflichtverletzung führt nach Gefahrübergang zur Mangelhaftigkeit der Kaufsache Das Gewährleistungsrecht entfaltet aber auch dann eine Sperr-wirkung gegenüber der Haftung nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, wenn die Nebenpflichtverletzung dazu führt, dass die Sache nach Gefahrübergang, aber noch vor der An-nahme der Kaufsache durch den Käufer mangelhaft wird.71 Hierunter fällt z.B. der Fall, dass die Kaufsache auf dem Transportweg wegen einer mangelhaften Verpackung beschä-digt wird.72 Hingegen ist die Rechtslage richtigerweise anders zu beurteilen, wenn die Kaufsache infolge einer Nebenpflicht-verletzung beschädigt wird, nachdem sie der Käufer ange-nommen hat. Hierzu der

7. Fall: Verkäufer V verkauft dem Käufer K einen ge-brauchten Flachbildfernseher für 1.000 EUR. Dabei ver-einbaren K und V, dass V den Fernseher zu ihm nach Hause liefern und anschließen soll. Nachdem der Fernse-

66 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 196; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 35; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 55. 67 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 196; weitere Beispiele bei Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 35. 68 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 192; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 834. 69 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 192; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 834. 70 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 192; ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform) BGHZ 90, 198 (203). 71 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 194; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 53. 72 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 194; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 53.

her erfolgreich angeschlossen wurde, will V die Verpa-ckung entsorgen. Dabei beschädigt er fahrlässig den Flach-bildfernseher. K verlangt von V Schadensersatz nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB. Zu Recht?

Richtigerweise entfaltet das Gewährleistungsrecht gegenüber §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB keine Sperrwirkung, wenn der Verkäufer die Kaufsache beschädigt, nachdem der Käufer diese angenommen hat.73 Denn hier steht der Verkäufer der Kaufsache wie ein Dritter gegenüber,74 so dass eine Beschrän-kung der Rechtsbehelfe des Käufers nicht sachgerecht er-scheint.75 6. Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff. BGB) sind nach h.M. ausgeschlossen, soweit die §§ 437 ff. BGB anwendbar sind.76 Dies lässt sich damit begründen, dass man andernfalls die detaillierte und ausdifferenzierte Vertei-lung von Rechten und Pflichten zwischen Käufer und Ver-käufer nach Lieferung einer mangelhaften Kaufsache unter-laufen würde.77 7. Bereicherungsrecht (§§ 812 ff. BGB) Hinsichtlich der Anwendbarkeit der §§ 812 ff. BGB gilt es zu beachten, dass die bloße Mangelhaftigkeit der Kaufsache keine Rechtsgrundlosigkeit des gezahlten Kaufpreises begrün-det.78 Folglich können das Bereicherungsrecht und das Kauf-gewährleistungsrecht in dieser Hinsicht nicht miteinander konkurrieren.79 Erklärt jedoch der Käufer die Anfechtung, richtet sich die Rückabwicklung nach § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 i.V.m. § 818 BGB. Die Erklärung des Rücktritts statt der Anfechtung und die damit einhergehende Rückabwicklung über das kaufrechtliche Rücktrittsrecht nach § 437 Nr. 2 Alt. 1 i.V.m. §§ 323, 346 ff. BGB dürfte für den Käufer aber in den meisten Fällen günstiger sein. 8. Deliktsrecht (§§ 823 ff. BGB) Hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses zwischen Gewähr-leistungsrecht und Deliktsrechts besteht allgemein Einigkeit

73 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 194; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 53. 74 Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 837. 75 Dies gilt jedoch nicht für Beschädigungen durch den Ver-käufer an Sachen des Käufers im Zuge der Nacherfüllung. Ein-schränkend (lediglich auf die Nachbesserung bezogen) Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 195; Reinicke/Tiedtke (Fn. 14), Rn. 839. 76 Pammler (Fn. 4), § 437 Rn. 75; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 57; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 78; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 50; ebenso (bezogen auf den Ersatz für die Kosten einer eigenmächtige Mängelbeseitigung durch den Käufer) BGH NJW 2005, 3211 (3212); a.A. LG Bielefeld ZGS 2005, 79 f.; Oechsler, LMK 2005, 81. 77 Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 63. 78 Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 63. 79 Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 63; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 58.

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darin, dass sich beide Institute nicht verdrängen, sondern ne-beneinander Anwendung finden,80 was nach ganz h.M. auch die verschiedenen Verjährungsregeln betrifft.81 Denn das De-liktsrecht begründet einen jedermann gebührenden Mindest-schutz, der unabhängig vom Bestehen einer Sonderverbin-dung ist.82 Dabei setzt § 823 Abs. 1 BGB die Verletzung eines der dort genannten absoluten Rechte bzw. Rechtsgüter voraus. Ob diese Verletzung auf der Mangelhaftigkeit der Kaufsache beruht (z.B. Verletzung des Käufers oder Beschä-digung ihm gehörender Sachen durch die mangelbehaftete Sache)83 oder nicht (z.B. wenn der Verkäufer mit der bereits übereigneten Kaufsache stürzt)84, ist unerheblich. Im Falle eines reinen Vermögensschadens kommt ein Ersatzanspruch nur unter den Voraussetzungen des § 823 Abs. 2 i.V.m. einem Schutzgesetz (z.B. § 263 StGB) oder § 826 BGB in Betracht.85 a) „Weiterfresserschaden“ Höchst umstritten ist aber, ob eine Haftung nach § 823 Abs. 1 BGB auch dann anzunehmen ist, wenn der Mangel der Kauf-sache dazu führt, dass die Kaufsache selbst (noch weiter) beschädigt wird (sog. Weiterfresserschaden). In dogmatischer Hinsicht geht es dabei jedoch nicht um eine Verdrängung der deliktischen Haftung durch das Gewährleistungsrecht, sondern um die Reichweite des Begriffs der Eigentumsverletzung in § 823 Abs. 1 BGB.86 Hierzu der

8. Fall:87 Der Käufer K erwirbt am 01.03.2011 beim Auto-haus des V ein fabrikneues Auto. Am 15.5.2013 stößt K beim Rückwärtsfahren gegen eine Mauer, weil der Wagen trotz Wegnahme des Fußes vom Gaspedal weiter beschleu-nigte. Ursache dafür war, dass die Tastrolle, die die Kur-venscheibe abtaste, abgeflacht war, die Scheibe sich darauf festsetze und dann nicht mehr durch die Rückholfeder zu-rückgeholt werden konnte. Außerdem hatte die Kurven-scheibe, die auf die Drosselklappenwelle am Ende aufge-nietet war, zu viel Spiel und rief dadurch eine Verkantung hervor – mit der Folge, dass sich der Gaszug in der Gas-zughülle verklemmte. Dieser Mangel wäre mit geringem Aufwand zu beheben gewesen. K blieb beim Unfall zwar unverletzt, jedoch entstand am Wagen ein Schaden in Höhe von 3.000 EUR. K verlangt von Schadensersatz nach § 823 Abs. 1 BGB. Zu Recht?

80 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 197; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 36; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 61; Schmidt (Fn. 14), § 437 Rn. 79. 81 BT-Drs. 14/6040, S. 229 li. Sp.; Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 197; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 61; Weidenkaff (Fn. 14), § 437 Rn. 56; a.A. Mansel/Budzikiewicz, Das neue Verjährungsrecht, 2002, § 5 Rn. 143 ff.; Mansel, NJW 2002, 89 (95). 82 Vgl. Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 197. 83 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 197. 84 Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 30. 85 So bereits (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechts-reform) Köhler, JA 1982, 157 (164). 86 Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 344. 87 Der Fall ist – in leicht abgewandelter Form – der Entschei-dung BGHZ 86, 256 nachgebildet.

Der Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB setzt die Verletzung eines der darin genannten Rechte bzw. Rechtsgüter voraus, wobei im vorliegenden Fall lediglich eine Eigentumsverlet-zung in Betracht kommt. Dabei besteht allgemein Einigkeit darin, dass der ursprüngliche Mangel als solcher an der Kauf-sache keine Eigentumsverletzung darstellt.88 Dies lässt sich damit begründen, dass sich das Eigentumsrecht an existieren-den Sachen nur auf die tatsächliche Sachbeschaffenheit er-streckt und nicht einen fiktiven Sollzustand schützt, so dass der Käufer niemals mangelfreies Eigentum an der Kaufsache erworben, sondern von vornherein nur das Eigentum an einer mangelhaften Sache erlangt hat.89 Schon vor der Schuldrechts-reform hat aber der Bundesgerichtshof unter bestimmten Um-ständen eine Eigentumsverletzung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB angenommen. In diesem Zusammenhang wurde dabei zwi-schen Schäden, die lediglich den Mangelunwert der Sache und damit das Nutzungs- bzw. Äquivalenzinteresse des Käu-fers betrafen, und zwischen Schäden, die das Integritätsinte-resse des Käufers berührten, differenziert.90 Während Erstere ausschließlich nach Gewährleistungsrecht beurteilt und eine Eigentumsverletzung verneint wurde, bejahte man bei Letzte-ren eine Eigentumsverletzung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB. An-fangs nahm der Bundesgerichtshof die Abgrenzung zwischen Integritäts- und Äquivalenzinteresse noch danach vor, ob ein funktionell abgrenzbares Teil fehlerhaft war und die Kaufsache nach Übereignung weitere, über den ursprünglichen Mangel hinausgehende Schäden auslöste.91 Später stellte er für die Abgrenzung auf das Kriterium der Stoffgleichheit92 ab: Deckte sich der bei Übereignung der Sache bereits vorhandene Man-gelunwert mit dem eingetretenen Schaden, war ausschließlich das Äquivalenzinteresse betroffen, so dass deliktische Ansprü-che ausschieden. Waren dagegen der ursprünglicher Mangel-unwert und der eingetretene Schaden nicht stoffgleich, wurde auch das Integritätsinteresse verletzt, so dass eine Eigentums-verletzung nach § 823 Abs. 1 BGB vorlag.93 Die Bewertung des Mangelunwerts richtete sich dabei nach den gleichen Grundsätzen, die für die Berechnung im Rahmen der Kauf-preisminderung (heute: § 441 Abs. 3 BGB) entscheidend wa-ren.94 Eine Stoffgleichheit wurde insbesondere angenommen, wenn es technisch nicht möglich oder wirtschaftlich unver-tretbar war, den ursprünglichen Mangel zu beheben.95 Im

88 BGHZ 86, 256 (259); 105, 346 (355); Staudinger, in: Nomos Handkommentar zum BGB, 7. Aufl. 2012, § 823 Rn. 18; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 345; Köster, Jura 2005, 145 (150). 89 Gsell, NJW 2004, 1913 (1914). 90 BGHZ 67, 359 (364 f.). 91 BGHZ 67, 359 (364 f.); BGH NJW 1978, 2241 (2242); OLG Oldenburg NJW-RR 2001, 459 f. 92 BGHZ 86, 256 (259 f.); 117, 183 (187 f.); 162, 86 (94). 93 BGHZ 162, 86 (94). 94 Ebenso (bezogen auf die Rechtslage vor der Schuldrechts-reform) BGH NJW 1985, 2420. 95 BGHZ 86, 256 (262); BGH NJW 1992, 1678 f.; weitere Beispielen bezüglich der Stoffgleichheit/Stoffungleichheit bei Spindler, in: Beck‘scher Onlinekommentar zum BGB, Ed. 28, Stand: 1.5.2013, § 823 Rn. 62 f.

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Konkurrenzprobleme im Kaufgewährleistungsrecht ZIVILRECHT

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vorliegenden Fall ist unter Zugrundelegung der genannten Kriterien eine Stoffungleichheit (und damit Eigentumsverlet-zung i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB) zu bejahen, da lediglich ein funktionell abgrenzbares Einzelteil der Kaufsache, nämlich die Kurvenscheibe, mangelhaft war, der ursprüngliche Man-gel mit vertretbarem Aufwand hätte behoben werden können und der ursprüngliche Mangelunwert der Kaufsache mit der späteren Schadenshöhe als geringfügig angesehen werden kann. b) Aufgabe der Rechtsprechung der Bundesgerichtshofs zum „Weiterfresserschaden“ Strittig ist, ob an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum „Weiterfresserschaden“ seit der Schuldrechtsreform wei-ter festgehalten werden kann oder ob diese nicht eher obsolet geworden ist.96 Die heute wohl h.M. spricht sich dafür aus, diese Rechtsprechung aufzugeben und auf Weiterfresserschä-den allein das Kaufgewährleistungsrecht (§ 437 BGB) anzu-wenden,97 da die entscheidenden Gründe für die Entwicklung der Weiterfresserschaden-Rechtsprechung im Zuge der Schuld-rechtsreform weggefallen seien: Zum einen wurde im neuen Kaufrecht eine Verschuldenshaftung eingeführt und zum an-deren wurden die Fristen zur Geltendmachung der Gewähr-leistungsrechte – im Gegensatz zur kurzen Verjährung im alten Kaufrecht (§ 477 BGB a.F.: 6 Monate) – in § 438 BGB erheblich verlängert, so dass es nicht mehr erforderlich sei, diese Härten über den Umweg des Deliktsrechts zu umge-hen.98 Zustimmung verdient jedoch die Auffassung, nach der auch im neuen Kaufrecht der Weiterfresserschaden nach den Regeln des Deliktsrechts zu beurteilen ist.99 Zwar kann der Gegenansicht darin zugestimmt werden, dass durch die Ver-längerung der kaufrechtlichen Verjährungsfrist (§ 438 BGB) das Bedürfnis nach der Weiterfresserschaden-Rechtsprechung schwächer geworden ist, jedoch ist dieses nicht vollständig entfallen. Letztes folgt nicht nur daraus, dass deliktische Ansprüche nach § 195 BGB grundsätzlich erst nach drei Jahren – und damit im Regelfall ein Jahr später als kaufrecht-liche Ansprüche (§ 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB) – verjähren, son-dern auch und vor allem aufgrund des unterschiedlichen Ver-jährungsbeginns (§ 199 Abs. 1, Abs. 3 BGB bzw. § 438 Abs. 2 BGB).100 Sofern gegen die hier befürwortete Ansicht vorge-tragen wird, sie schneide dem Verkäufer die Möglichkeit der Nacherfüllung ab,101 kann dies dadurch entkräftet werden, 96 Offenlassend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 22.2.2009 – I 22 U 157/08, 22 U 157/08. 97 OLG Schleswig-Holstein, Urt. v. 24.4.2012 – 11 U 123/11; Berger (Fn. 4), § 437 Rn. 36; Westermann (Fn. 4), § 437 Rn. 62; Grunewald (Fn. 14), § 9 Rn. 30; Oetker/Maultzsch (Fn. 15), § 2 Rn. 346; Köster, Jura 2005, 145 (150). 98 Brors, WM 2002, 1780 (1783 f.); Grigoleit ZGS 2002, 78 (79). 99 Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 280 Rn. 78; Matusche-Beckmann (Fn. 4), § 437 Rn. 69; Gsell, NJW 2004, 1913 (1915). 100 Tiedkte/Schmitt, 40 Probleme aus dem Kaufrecht, 2005, S. 202. 101 Köster, Jura 2005, 145 (150).

indem man im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB eine angemes-sene Fristsetzung für erforderlich hält bzw. den Weiterfresser-schaden erst nach Ablauf der gesetzten Frist für ersatzfähig hält.102 II. Ausblick Das Verhältnis der Kaufgewährleistungsansprüche zu anderen Rechtsbehelfen des Käufers ist nach über zwölf Jahren seit In-Kraft-Treten der Schuldrechtsreform in Teilen immer noch nicht (höchst-)richterlich geklärt. Es bleibt abzuwarten, welche Antworten die Rechtsprechung auf die Fülle der in diesem Beitrag dargestellten Probleme liefern wird.

102 Faust (Fn. 1), § 437 Rn. 199; Tettinger, JZ 2006, 641 (645 f.).

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Übungsklausur: Ausgebootet* Von Prof. Dr. Beate Gsell, Wiss. Mitarbeiter Dr. Matthias Fervers, München** Sachverhalt Die Münchener Studentin K kauft ihrer Kommilitonin V ein kleines gebrauchtes grellgrün lackiertes Faltboot zum Preis von 300,- € (Wert: 500,- €) ab, wobei K den Kaufpreis sofort bezahlt. Da K erst noch klären muss, wo sie das Boot unter-bringen kann, wird vereinbart, dass K das Boot nicht sofort mitnimmt, sondern irgendwann „in der nächsten Zeit“ abholt. V und K sind allerdings beide viel beschäftigt und so macht sich K erst eine gute Woche später an einem Sonntag und zwar unmittelbar vor ihrem morgendlichen Aufbruch in einen kurzfristig anberaumten Urlaub daran, V anzurufen. Jedoch ist V dem Alltagsstress für einen Tag in die Berge entflohen und deshalb nicht per Handy erreichbar. K fährt bei V vorbei, macht sich dann aber, nachdem sie V nicht zu Hause antrifft, enttäuscht ohne das Boot nach Mecklenburg auf, wo sie sich für eine Woche zum Preis von 7 x 15,- € ein Faltboot mietet.

Als K nach gut einer Woche zurückkehrt, muss sie zu ih-rem Schrecken hören, dass das Boot am Nachmittag dessel-ben Tages aus dem Keller des Mehrfamilienhauses, in dem V wohnt, gestohlen wurde. K erfährt weiter, dass das mit einer Nummer versehene Boot zwar mittlerweile von der kroati-schen Polizei gefunden worden ist, ein Rücktransport nach München jedoch mindestens 300,- € kosten würde: K meint, V solle sich um den Rücktransport bemühen. V entgegnet, sie sei hierzu wegen des Mehraufwands unter gar keinen Um-ständen bereit. K erklärt daraufhin der V, dass es ihr „nun reicht“, dass sie „von dem Geschäft nichts mehr wissen will“ und dass sie außerdem „Schadensersatz verlangt“. Einen Tag später konkretisiert K dies noch: Sie verlangt von V die Rück-erstattung des Kaufpreises. Mit Blick auf die soeben vorge-nommene Ersatzbeschaffung eines gleichwertigen Faltbootes von dritter Seite verlangt sie Ersatz der dafür angefallenen Kosten in Höhe von 500,- €. Darüber hinaus möchte sie die Mietkosten erstattet haben. Schließlich verlangt K auch noch Ersatz von 80,- €, die sie extra für ein farblich genau passen-des grellgrünes Trikot ausgegeben hat, welches nun ohne das Boot „zu nichts mehr zu gebrauchen sei“.

Zu Recht?

* Bei der Klausur handelt es sich um eine Anfängerklausur. Die Lösung orientiert sich daher auch an dem, was von einem Studenten in der Zwischenprüfung erwartet werden kann. Die Klausur weist einen überdurchschnittlichen Schwierigkeits-grad auf. Das liegt zum einen daran, dass ein guter Überblick über die verschiedenen Anspruchsgrundlagen Voraussetzung für eine erfolgreiche Bearbeitung ist. Zum anderen ist die Klausur nicht so konzipiert, dass die Anspruchsgrundlagen letztlich „aufgehen“. Vielmehr ist eine saubere Arbeit am Gesetz gefragt. ** Die Autorin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Europäisches Privat- und Ver-fahrensrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-chen und Richterin am OLG München, der Autor ist Wiss. Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl.

Lösungsvorschlag I. Anspruch von K gegen V auf Rückzahlung des Kauf-preises in Höhe von 300 € 1. § 346 Abs. 1 BGB K könnte gegen V einen Anspruch auf die Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 300 € gemäß § 346 Abs. 1 BGB haben. Dafür müssten eine Rücktritterklärung und ein gesetz-liches Rücktrittsrecht vorliegen. a) Rücktrittserklärung Gemäß § 349 BGB erfolgt der Rücktritt durch Erklärung gegenüber dem anderen Teil. K hat gegenüber V zwar nicht explizit den „Rücktritt“ erklärt, aber geäußert, dass es ihr „nun reicht“ und sie „von dem Boot nichts mehr wissen“ will. Und es reicht aus, wenn der Erklärung des Rücktritts-berechtigten gemäß §§ 133, 157 BGB entnommen werden kann, dass er die beiderseitigen Leistungspflichten aus dem Vertrag beenden und bereits ausgetauschte Leistungen wieder rückgängig machen will.1 Die Äußerung der K stellt somit eine wirksame Rücktrittserklärung dar. b) Rücktrittsrecht Ein Rücktrittsrecht für K könnte sich aus § 323 Abs. 1 BGB ergeben. Das wäre der Fall, wenn ein gegenseitiger Vertrag vorläge, V die fällige Leistung nicht erbracht und K eine an-gemessene Frist gesetzt oder die Fristsetzung entbehrlich war. aa) Gegenseitiger Vertrag In dem zwischen K und V geschlossenen Kaufvertrag liegt ein gegenseitiger Vertrag. bb) Nichterbringung der fälligen Leistung V müsste eine fällige Leistung nicht erbracht haben. (1) Fälligkeit An dieser Stelle kann offen bleiben, ob die Leistung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht fällig war, weil K und V eine Abholung „in der nächsten Zeit“ vereinbart hatten. Denn spätestens als K nach ihrem Urlaub erneut Übergabe und Übereignung des Bootes gefordert hat, war die vereinbarte „nächste Zeit“ und damit der vertragliche bestimmte Leis-tungszeitpunkt eingetreten. Auch ist Fälligkeit in casu nicht etwa wegen eines Ausschlusses der Leistungspflicht nach § 275 BGB zu verneinen: (2) Kein Untergang der Leistungspflicht gemäß § 275 Abs. 1 Alt. 1 BGB Die Leistung ist für V nicht im Sinne des § 275 Abs. 1 Alt. 1 BGB unmöglich geworden, denn auch wenn sie das Faltboot nur mit einem höheren Aufwand heranschaffen kann, so ist

1 BGH WM 1982, 1384 (1386); Kaiser, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 349 Rn. 25.

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Übungsklausur: Ausgebootet ZIVILRECHT

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sie gleichwohl nicht zur Übergabe und Übereignung endgül-tig außerstande. (3) Keine fehlende Durchsetzbarkeit gemäß § 275 Abs. 2 S. 1 BGB Dem Anspruch steht auch nicht deshalb die Einrede nach § 275 Abs. 2 S. 1 BGB2 entgegen, weil sich V auf einen un-zumutbaren Mehraufwand berufen hat. Zwar entsteht für V für die Beschaffung des Faltboots ein Mehraufwand in Höhe von 300 €, der verglichen mit Kaufpreis in Höhe von 300 € stark ins Gewicht fällt. Gemäß § 275 Abs. 2 S. 1 BGB ist aber ein grobes Missverhältnis zum Leistungsinteresse des Gläubigers erforderlich. Und K hatte ihrerseits – das Boot hatte bei einem Kaufpreis von 300 € einen objektiven Wert von 500 € – ein Leistungsinteresse an einem Boot mit einem Wert von 500 €, mit dem sie auch noch 200 € Gewinn erwirt-schaftet hätte. Ein grobes Missverhältnis im Sinne des § 275 Abs. 2 S. 1 BGB liegt deshalb nicht vor.3

V hat eine fällige Leistung nicht erbracht. cc) Fristsetzung K hat V keine Frist gesetzt. Die Fristsetzung könnte aber nach § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB entbehrlich sein. An die ernst-hafte und endgültige Leistungsverweigerung sind zwar grund-sätzlich strenge Anforderungen zu stellen; aus der Weigerung des Schuldners muss hervorgehen, dass sie als sein letztes Wort aufzufassen sein soll.4 V hat unmissverständlich zu ver-stehen gegeben, zur Leistung „unter gar keinen Umständen“ bereit zu sein. Es wäre deshalb eine sinnlose Formalität,

2 Die Regelung des § 275 Abs. 2 S. 1 BGB wird in der Litera-tur kontrovers diskutiert. Kritisiert wird insbesondere, dass der Schuldner nach dem typischen Parteiwillen entgegen dem Regelungsgehalt der Vorschrift nur denjenigen Leistungs-aufwand zu erbringen habe, der mit der Leistungserbringung regelmäßig einhergehe (vgl. Ackermann, JZ 2002, 378 [382 ff.]; Picker, JZ 2003, ders., in: Festschrift für Harm Peter Westermann zum 70. Geburtstag, 2008. S. 583; ders., in: Artz/Gsell/Lorenz [Hrsg.], Zehn Jahre Schuldrechtsmoderni-sierung, S. 1 [4 ff.]). Die gesetzgeberische Entscheidung ist jedoch im Hinblick darauf, dass Gläubiger und Schuldner einerseits die Möglichkeit haben, den geschuldeten Leistungs-aufwand abweichend von § 275 Abs. 2 BGB vertraglich zu begrenzen, andererseits aber bei Fehlen einer solchen vertrag-lichen Regelung Schuldner und Gläubiger im Falle der Leis-tungserschwerung gegenläufige Interessen verfolgen, jeden-falls nicht als unvertretbar anzusehen. Näher Gsell, in: Fest-schrift für Eduard Picker zum 70. Geburtstag, 2010, S. 297 (303 f.). 3 Da der Leistungsaufwand des Schuldners offensichtlich nicht in grobem Missverhältnis zum Leistungsinteresse des Gläubigers steht, ist an dieser Stelle eine Prüfung, ob V das Leistungshindernis nach § 275 Abs. 2 S. 2 BGB zu vertreten hat, nicht erforderlich. 4 BGH NJW 2011, 2872; BGH NJW 2013, 1074; Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 323 Rn. 18.

gleichwohl von K eine Fristsetzung zu verlangen.5 Die Frist-setzung war somit gemäß § 323 Abs. 2 Nr. 1 BGB entbehr-lich.

Ein Rücktrittrecht nach § 323 Abs. 1 BGB liegt vor. Die Voraussetzungen des § 346 Abs. 1 BGB sind gegeben.

2. Ergebnis K hat gegen V einen Anspruch auf die Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von 300 € gemäß § 346 Abs. 1 BGB. II. Anspruch von K gegen V auf Schadensersatz in Höhe von 500 € 1. §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 BGB Ein Anspruch auf Ersatz der Ersatzeindeckungskosten von K gegen V gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 BGB scheitert schon daran, dass keine Pflichtverletzung in Form endgülti-ger Nichtleistung aufgrund nachträglicher Unmöglichkeit ge-geben ist; die Voraussetzungen von § 275 BGB liegen näm-lich gerade nicht vor. 2. §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB Ein Anspruch von K gegen V auf Zahlung der Ersatzeinde-ckungskosten könnte sich aber aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB ergeben. a) Schuldverhältnis Ein Schuldverhältnis liegt in dem geschlossenen Kaufvertrag. b) Pflichtverletzung in Form der Nichtleistung K hat eine fällige Leistung nicht erbracht (s.o. unter I.). c) Fristsetzung Zwar hat K keine Frist gesetzt, die Fristsetzung war aber gemäß § 281 Abs.2 Alt. 1 BGB entbehrlich. d) Vertretenmüssen Fraglich ist, ob sich V gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entlas-ten kann, weil sie die Nichtleistung nicht nach § 276 Abs. 1 BGB zu vertreten hat. Zu vertreten hat der Schuldner gemäß § 276 Abs. 1 BGB grundsätzlich Vorsatz und Fahrlässigkeit. Vorliegend hat V vorsätzlich die mangels Befreiung nach § 275 BGB (s.o.) weiterhin geschuldete Erfüllung verweigert und die endgültige Nichtleistung damit auch zu vertreten. V kann sich auch nicht dadurch entlasten, dass sie möglicher-weise glaubte, rechtlich zur Leistung nicht verpflichtet zu sein. Denn auch wenn der Schuldner für einen unverschuldeten Rechtsirrtum nicht einstehen muss,6 so sind an die Annahme eines solchen strenge Anforderungen zu stellen.7 Der Schuld-ner muss entsprechende Erkundigungen einholen8 und sogar stets eine abweichende Beurteilung durch die Gerichte in 5 Vgl. Ernst, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 323 Rn. 99. 6 RGZ 146, 133 (144 f.); BGH NJW 1974, 1903 (1904). 7 Huber, Leistungsstörungen, Bd. 1, 1999, S. 694 ff. 8 BGH NJW 1994, 2754 (2755).

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ÜBUNGSFÄLLE Beate Gsell/Matthias Fervers

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Rechnung stellen.9 Da V zum einen derartige Erkundigungen nicht eingeholt hat und zum anderen die Voraussetzungen von § 275 Abs. 2 S. 1 BGB offensichtlich nicht vorlagen, hat V zumindest im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB die verkehrsüb-liche Sorgfalt nicht beachtet und fahrlässig gehandelt. Hat V damit das endgültige Ausbleiben der Leistung zu vertreten und werden mit den Mehrkosten auch allein Schäden ersetzt verlangt, die erst aus dem endgültigen Ausbleiben der Leis-tung resultieren, so ist vorliegend unerheblich und kann folg-lich dahinstehen, ob V schon die ursprüngliche Nichtleistung zu vertreten hatte oder nicht.

V hat die Pflichtverletzung zu vertreten.10 e) Schaden11 Gemäß § 249 Abs. 1 BGB ist K so zu stellen, wie sie stünde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand – die Nichtleis-tung durch V – nicht eingetreten wäre. In diesem Fall hätte sich K nicht für 500 € ein anderes Boot kaufen müssen. Da das ersatzweise angeschaffte Boot einen Verkehrswert von 500 € hat, kann auch nicht angenommen werden, dass K gegen ihre Obliegenheit zur Schadensminderung nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB verstoßen hat. Entgegen der Ansicht von K besteht allerdings kein Schaden in Höhe von 500 €. Denn durch ihre (berechtigte) Rücktrittserklärung hat sie einen Rück-zahlungsanspruch nach § 346 Abs. 1 BGB in Höhe von 300 € erworben, der bei der Schadensberechnung im Wege der Vor-teilsausgleichung berücksichtigt werden muss. Der Schaden kann daher auch nur in der Differenz zwischen den Erwerbs-kosten des Deckungsgeschäfts und dem geleisteten Kaufpreis bestehen.12 9 BGH NJW 1951, 398; OLG Hamm NJOZ 2006, 1301 (1302). Die Entscheidungen betreffen zwar den Schuldner-verzug, die Wertungen können jedoch auf § 281 BGB über-tragen werden. 10 Da V die Pflichtverletzung zu vertreten hat, kommt es auch auf § 287 S. 2 BGB nicht an. Mangels Verzug (siehe unter III.) wäre § 287 S. 2 BGB ohnehin nicht erfüllt. 11 Nicht erwartet wurde mit Blick auf den Ausbildungsstand der Bearbeiter eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob mit den Kosten eines Deckungsgeschäftes stets Schadensersatz statt der Leistung geltend gemacht wird, so jüngst BGH NJW 2013, 2959, zustimmend Gsell, LMK 2013, 353035, oder aber dann, wenn das Deckungsgeschäft im Zeitpunkt des Schadensersatzverlangens bereits getätigt und die Ersatzein-deckungskosten damit nicht mehr abwendbar waren, ein Verzögerungsschaden gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB vorliegt, so vor allem Lorenz, in: Liber Amicorum für Detlef Leenen zum 70. Geburtstag am 4. August 2012, 2012, S. 147 (154 ff.). Der Streit kann vorliegend dahinstehen, da K nach ihrer Rückkehr V zum Rücktransport des Bootes aufgefordert hatte. Darin liegt zugleich eine Aufforderung zur Leistung des Bootes und mithin eine Mahnung im Sinne des § 286 Abs. 1 BGB, so dass im Zeitpunkt der Ersatzeindeckung die Voraussetzungen des §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB eben-falls vorlagen. 12 Zur Einwirkung der Rücktrittsfolgen auf die Schadens-berechnung vgl. Gsell, in: Soergel, Kommentar zum BGB,

3. Ergebnis K hat gegen V einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 200 € gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 3 281 Abs. 1 S. 1 BGB. III. Anspruch von K gegen V auf Ersatz der Mietkosten in Höhe von 105 € 1. §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB K könnte gegen V einen Anspruch auf den Ersatz der Miet-kosten in Höhe von 105 € gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB haben. a) Schuldverhältnis Ein Schuldverhältnis liegt mit dem geschlossenen Kaufver-trag vor. b) Pflichtverletzung in Form der Leistungsverzögerung V müsste eine fällige Leistung nicht rechtzeitig erbracht ha-ben. Gemäß § 271 Abs. 1 HS 1 BGB sind für den Zeitpunkt der Fälligkeit in erster Linie die Parteiabreden maßgeblich. K und V hatten vereinbart, dass K das Boot erst „in der nächs-ten Zeit“ abholen sollte. Zwar hat der BGH entschieden, dass Fälligkeit nicht vorliegt, wenn der Schuldner den Zeitpunkt, in dem die Leistung zu erbringen ist, nach billigem Ermessen bestimmen darf und diese Bestimmung anschließend nicht trifft.13 In dem zugrundeliegenden Fall hatte der Schuldner allerdings zum einen im Gegenzug für das Bestimmungsrecht eine niedrigere Vergütung in Kauf genommen. Zum anderen liegt das Bestimmungsrecht vorliegend gar nicht beim Schuld-ner, sondern bei der Gläubigerin K. Und da sie die Leistung

13. Aufl. 2005, § 325 Rn. 4 ff. Vertretbar wäre es auch, eine isoliert schadensrechtliche Betrachtung ohne Rücksicht auf die Rücktrittsfolgen anzustellen und dementsprechend einen Schaden in Höhe von 500 € anzunehmen. Unter dem alten Schuldrecht wurde die erbrachte Gegenleistung als sog. „Mindestschaden“ in die Schadensberechnung einbezogen (BGHZ 62, 119 [120]; BGH NJW 1998, 2360 [2364]). Da jedoch § 325 BGB im Gegensatz zur Rechtslage vor der Schuldrechtsmodernisierung die Kumulation von Rücktritt und Schadensersatz statt der Leistung erlaubt, gibt es keine sachliche Rechtfertigung mehr dafür, die Gegenleistungs-pflicht auf isoliert schadensrechtlichem Weg entfallen zu lassen, siehe Gsell (Fn. 12), § 325 Rn. 6. Gleichwohl soll dem Gläubiger nach weit verbreiteter Ansicht bei schon er-brachter Leistung nach wie vor ein Wahlrecht zwischen Dif-ferenz- und Surrogationsmethode zustehen (Grüneberg [Fn. 4], § 281 Rn. 22). Folgt man dem, so muss man jedenfalls an-nehmen, dass zwischen Schadensersatzanspruch und rück-trittsfolgenrechtlichem Rückzahlungsanspruch Anspruchs-konkurrenz besteht, soweit sich beide Ansprüche decken, also i.H.v. 300 €. Denn K kann nicht 300 € nach § 346 Abs. 1 BGB und zusätzlich 500 € nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB verlangen (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall OLG Oldenburg NJW-RR 2011, 1498 [1499]). 13 BGH NJW 1983, 2934.

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gerade jederzeit verlangen konnte, war die Leistung auch bereits bei Vertragsschluss fällig.14 c) Mahnung K hat V jedoch nicht wirksam gemahnt. Bei der Mahnung handelt es sich um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung, bei der die Vorschriften über Willenserklärungen entsprechen-de Anwendung finden und die deshalb dem Schuldner auch gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 BGB zugehen muss.15 K hat V zwar angerufen, doch V war zu dem Zeitpunkt nicht auf dem Handy erreichbar, sodass niemals eine Mahnung in den Herrschafts-bereich der V gelangt ist. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus §§ 242, 162 Abs. 1 BGB in Verbindung mit den Grundsätzen der Zugangsvereitelung. Zwar muss derjenige, der im Rechtsverkehr mit dem Zugang rechtserheblicher Er-klärungen rechnet, die entsprechenden Vorkehrungen dafür treffen, dass diese ihn auch erreichen.16 Allerdings hatten K und V vereinbart, dass K das Boot „in der nächsten Zeit“ abholen sollte. Von V kann nicht ernsthaft erwartet werden, dass sie nach dem Vertragsschluss rund um die Uhr telefo-nisch erreichbar ist. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Auf-enthalt der V in den Bergen um einen Sonntagsausflug han-delte, bei dem eine dauernde telefonische Erreichbarkeit erst recht nicht zumutbar erscheint. 2. Ergebnis Mangels Vorliegen einer Mahnung besteht deshalb kein An-spruch von K gegen V gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB. IV. Anspruch auf Ersatz von 80 € für das grüne Trikot 1. §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB Ein Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB besteht mangels Vermögensschadens nicht. Denn K hätte die 80 € für das Trikot auch bei ordnungsgemäßer Er-füllung ausgegeben. Auch die von der Rechtsprechung ent-wickelte sog. Rentabilitätsvermutung17 ändert daran nichts,

14 Ebenfalls vertretbar wäre es, die Abrede zwischen K und V als Stundung oder als Recht der Gläubigerin K, den Zeitpunkt der Fälligkeit zu bestimmen, auszulegen. Konsequenterweise müsste dann aber eine Auseinandersetzung mit der Frage er-folgen, ob K dieses Recht wirksam ausgeübt und somit die Fälligkeit herbeigeführt hat. Das hinge davon ab, ob nach dem Parteiwillen Fälligkeit eintreten sollte bei einem Abholver-such der K oder aber erst bei tatsächlichem Antreffen der V. 15 BGH NJW 1987, 1547; Stadler, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 15. Aufl. 2014, § 286 Rn. 15. 16 BGH NJW 1998, 976 (977); Wendtland, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 30, Stand:1.2.2014, § 130 Rn. 22; Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 130 Rn. 17. 17 BGHZ 123, 96 (99) = NJW 1993, 2527; BGHZ 143, 41 (48) = NJW 2000, 506 (508); BGH NJW 1999, 3625 (3626); BGH NJW 2000, 2342 (2343); näher dazu und zum Verhält-nis zum Aufwendungsersatz Gsell, in: Dauner-Lieb/Konzen/

da es sich bei dem T-Shirt nur um eine ideelle Aufwendung handelt, die sich finanziell unter keinen Umständen hätte rentieren können (und sollen). 2. § 284 BGB Ein Anspruch könnte sich aber aus § 284 BGB ergeben. Da-nach kann der Gläubiger anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und bil-ligerweise machen durfte. a) Voraussetzungen des Schadensersatzes statt der Leistung Aus der Formulierung „anstelle des Schadensersatzes statt der Leistung“ ergibt sich, dass die Voraussetzungen eines solchen Schadensersatzanspruchs vorliegen müssen.18 Wie bereits ausgeführt (s.o. unter II.) ist das jedoch der Fall. b) Vorliegen von Aufwendungen Aufwendungen sind freiwillige Vermögensopfer, die der Gläubiger im Hinblick auf den Erhalt der Leistung erbracht hat.19 Da sich K das grellgrüne Trikot nur gekauft hat, weil es farblich genau zum Boot passte, handelt es sich um ein frei-williges Vermögensopfer, dass K im Hinblick auf den Erhalt der Leistung erbracht hat. c) „Billigerweise machen durfte“ Ersatzfähig sind nur Aufwendungen, die der Gläubiger billig-erweise machen durfte. Dabei ist der mit den Aufwendungen verfolgte Zweck grundsätzlich unerheblich;20 es ist daher nicht relevant, ob die Anschaffung des Trikots durch K wirt-schaftlich sinnvoll war oder nicht. Ebenso wenig müssen die Aufwendungen Niederschlag im Vertrag gefunden haben. Vielmehr sind Aufwendungen nur dann als nicht ersatzfähig anzusehen, wenn sie gemessen am Wert des Leistungsgegen-standes übertrieben luxuriös, überflüssig oder sonst atypisch erscheinen und der Gläubiger den Schuldner bei Abschluss des Vertrages auch nicht über entsprechende Pläne informiert hat, so dass der Schuldner mit einem entsprechenden Haftungs-risiko nicht zu rechnen brauchte.21 Das ist jedoch bei einem Trikot im Wert von 80 € im Vergleich zu einem Boot im Wert von 500 € nicht der Fall. K durfte die Aufwendungen daher auch billigerweise machen. K. Schmidt, Das neue Schuldrecht in der Praxis, 2002, S. 321 (322 ff.). 18 Gsell (Fn. 17), S. 321 (333 f.). 19 Unberath, in: Beck’scher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 30, Stand: 1.3.2011, § 284 Rn. 11. 20 Ernst (Fn. 5), § 284 Rn. 22. 21 Gsell (Fn. 17), S. 321 (334).

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ÜBUNGSFÄLLE Beate Gsell/Matthias Fervers

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d) Kumulative Geltendmachung von Schadensersatz statt der Leistung und Aufwendungsersatz22 Problematisch ist allerdings, dass nach dem Wortlaut der Norm ein Aufwendungsersatzanspruch an sich nur „anstelle“ eines Schadensersatzanspruchs statt der Leistung geltend ge-macht werden kann. Und da K vorliegend auch den Ersatz der Mehrkosten in Höhe von 200 € nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 Abs. 1 S. 1 BGB fordert, macht sie bereits einen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung geltend.

Mit dem in § 284 BGB angelegten Kumulationsverbot soll jedoch nur verhindert werden, dass ein und derselbe Schadensposten doppelt liquidiert werden kann.23 Der BGH hat daher entschieden, dass zumindest in den Fällen, in denen ein Aufwendungsersatzanspruch nach § 284 BGB neben einen Schadensersatzanspruch neben der Leistung tritt, der Wort-laut des § 284 BGB einer kumulativen Geltendmachung nicht entgegensteht.24 Zwar hat der BGH das in erster Linie mit der Erwägung begründet, dass ein Schadensersatzanspruch neben der Leistung schon seiner Art nach nicht in einem Alternativ-verhältnis zu § 284 BGB stehen könne.25 Mit der ratio der Norm lässt sich das aber auch auf Fälle übertragen, in denen eine Aufwendung neben einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung tritt, sofern nur nicht dieselbe Position doppelt liquidiert wird.26 Da die 80 € für das Trikot und die Mehrkos-ten für das Boot in Höhe von 200 € unterschiedliche Positio-nen darstellen, ist es deshalb unschädlich, dass K neben dem Aufwendungsersatzanspruch nach § 284 BGB auch einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung geltend macht.

Die Voraussetzungen von § 284 BGB liegen somit vor. 3. Ergebnis K hat gegen V einen Anspruch auf Zahlung von 80 € gemäß § 284 BGB.

22 Angesichts des Ausbildungsstandes der Bearbeiter wurde eine nähere Auseinandersetzung mit der ausnahmsweisen Zu-lässigkeit einer Kumulation nicht erwartet. 23 Ausf. Gsell (Fn. 17), S. 321 (333 ff., 337 ff.). 24 BGHZ 163, 381 = NJW 2005, 2848. 25 BGH, Urt. v. 20.7.2005 – VIII ZR 275/04 Rn. 17 (zit. nach juris). 26 Gsell, NJW 2005, 125 (126) m.w.N. auch zur Gegenan-sicht.

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 287

Übungsklausur im Zivilrecht: Sicherungsgeschäfte Von Wiss. Mitarbeiter Tilman Schultheiß, Leipzig* Sachverhalt G hat bei der Mammon-Bank (M) einen Kredit aufgenom-men, um eine Immobilie für die gewerbliche Nutzung zu finanzieren. Da die M entsprechende Sicherheiten verlangt, die Sicherheiten des G aber bereits an andere Gläubiger ver-geben sind, schlägt G vor, dass M sich selbständig an seinen Bekannten B sowie an seine wohlhabende Freundin F wen-den solle. Die M ist auch die Hausbank des B.

Zunächst ruft ein Mitarbeiter der M unvermittelt bei B an, um mit diesem ein Gespräch über „Finanzierungsoptionen Immobiliarkredit“ zu vereinbaren. Dabei beabsichtigte die M, den B im Rahmen dieses Gespräches zur Übernahme einer Sicherungsgrundschuld zur Absicherung ihrer Kreditforderung gegenüber G zu überreden, was der Mitarbeiter dem B jedoch am Telefon nicht mitteilt. B erklärt sich zu einem Gespräch mit einem Mitarbeiter der M bereit und schlägt vor, dass dieses in seiner Wohnung stattfindet. Als ein Mitarbeiter der M sodann bei B erscheint, um mit diesem die Möglichkeit einer Grundschuldbestellung zur Sicherung des Darlehensrück-zahlungsanspruchs gegenüber G zu eruieren, ist B zwar über-rascht, lässt sich aber dennoch auf eine entsprechende Ver-einbarung ein. Aus freundschaftlicher Verbundenheit zu G erklärt sich B mit der Bestellung der Grundschuld an seinem Grundstück einverstanden und unterschreibt eine mit „Siche-rungsabrede“ überschriebene Erklärung, in der er sich unter anderem zur Bestellung einer Sicherungsgrundschuld an sei-nem Grundstück verpflichtet. Eine etwaige Belehrung des B erfolgte dabei nicht. Die Grundschuld wird im Anschluss als Buchgrundschuld in das Grundbuch eingetragen.

F wird von einem Mitarbeiter der M ohne Vorankündigung an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht und mit dem Anliegen kon-frontiert, zugunsten des G eine Bürgschaft zu übernehmen. Da sie sich zunächst darüber ärgert, dass ihr G im Vorfeld nichts davon berichtet hatte, bedingt sie sich eine kurze Be-denkzeit aus, womit sich der Mitarbeiter einverstanden er-klärt. Drei Tage später sagt sie telefonisch die Übernahme einer Bürgschaft zu. Eine Belehrung der F erfolgte nicht.

Ein halbes Jahr später reut B das Geschäft, da ihn eine dunkle Vorahnung über die finanzielle Situation des G über-kommt. Er wendet sich daraufhin an seinen Rechtsanwalt R, der gegenüber der M einen „Widerruf sämtlicher Geschäfte“ per Einschreiben erklärt. Der Rechtsanwalt der M meint, das ändere nichts am Bestand der Grundschuld, da es sich be-kanntlich um ein abstraktes Sicherungsmittel handelt. Nach-dem G tatsächlich zahlungsunfähig wird, tritt M an B heran und macht ihre Rechte aus der Grundschuld nach deren wirk-samer Kündigung geltend.

F, die sich inzwischen von G getrennt hat, kommt nicht in den Genuss einer solchen Eingebung und verpasst den Zeit-punkt der Insolvenz des G. Nachdem M an sie herantritt, zahlt sie den geschuldeten Bürgschaftsbetrag vorbehaltlos, wendet sich aber sogleich an ihren Jura studierenden Sohn

* Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Reinhard Welter an der Universität Leipzig.

mit der Bitte um Hilfe. Auf dessen Anraten erklärt F gegen-über M den Widerruf und fordert den gezahlten Betrag zu-rück. Frage 1 Bestehen Ansprüche der M gegen B? Frage 2 Bestehen Ansprüche der F gegen M? Abwandlung B hat keinen Widerruf gegenüber der M erklärt. M hat gegen B ein rechtskräftiges Urteil erstritten und betreibt nun die Zwangsvollstreckung gegen ihn. Erst jetzt besinnt sich B auf sein Widerrufsrecht und erklärt den Widerruf gegenüber M. Nun fragt er sich, ob er dies im Rahmen einer Klage gegen die Zwangsvollstreckung erfolgreich vorbringen kann. Aufgabe Prüfen Sie die Begründetheit einer entsprechenden Klage des B. Lösungsvorschlag für den Ausgangsfall I. Anspruch der M gegen B 1. Anspruch entstanden1 Ein Anspruch der M könnte sich aus § 1147 i.V.m. § 1192 Abs. 1 BGB ergeben. Dieser Anspruch ist gerichtet auf die Duldung der Zwangsvollstreckung und nicht auf die Zahlung eines bestimmten Geldbetrages.2

Dies setzt voraus, dass wirksam eine Grundschuld zu-gunsten der M bestellt wurde. Erforderlich ist – da es sich um eine Belastung des Grundstücks durch ein dingliches Verwer-tungsrecht handelt3 – gemäß § 873 Abs. 1 BGB die Einigung zwischen dem Berechtigten B und dem anderen Teil (M) sowie die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch. Bei der Einigung handelt es sich um einen abstrakten Ver-trag, bestehend aus Angebot und Annahme gemäß §§ 145 ff. BGB. B hat sich neben4 dem Abschluss der Sicherungsabrede auch mit der Bestellung einer Grundschuld an seinem Grund-stück einverstanden erklärt und damit eine entsprechende Willenserklärung abgegeben, wobei dahinstehen kann, ob es sich um einen Antrag oder eine Annahme handelte. Auch von einer entsprechenden Erklärung der M, vertreten gemäß 1 Zum Anspruchsaufbau vgl. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 23. Aufl. 2010, Rn. 1 ff.; zur Frage, wann der hier ge-wählte Aufbau sinnvoll ist vgl. Jaensch, Klausurensammlung Bürgerliches Recht, 2012, S. 6 f. 2 Vgl. Braun/Schultheiß, JuS 2013, 871 (871) m.w.N. 3 Weller, JuS 2009, 969; Braun/Schultheiß, JuS 2013, 871 (871). 4 Diese Rechtsgeschäfte sind zu trennen, obwohl Kausalge-schäft und Verfügungsgeschäft in aller Regel uno actu erfol-gen, vgl. dazu Prütting, Sachenrecht, 34. Aufl. 2010, Rn. 372.

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ÜBUNGSFÄLLE Tilman Schultheiß

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ZJS 3/2014 288

§§ 164 ff. BGB von ihrem Mitarbeiter, kann ausgegangen werden.

Auch die Eintragung der Grundschuld im Grundbuch ist erfolgt. Damit ist der Anspruch aus § 1147 BGB entstanden. 2. Anspruch erloschen Möglicherweise ist der Anspruch infolge des Widerrufs durch R erloschen. Dies setzt das Bestehen eines Widerrufsgrundes und die Abgabe einer Widerrufserklärung voraus. Ein Wider-rufsrecht könnte sich aus § 312 BGB5 ergeben, wenn dessen Tatbestandsvoraussetzungen hier vorlagen.

Allerdings kann die Frage nach der Haustürsituation da-hinstehen, da ein Erlöschen des Anspruchs aus § 1147 BGB gemäß §§ 357 Abs. 1 S. 1,6 346 BGB nur dann in Betracht käme, wenn durch den Widerruf des R auch das dingliche Recht als solches betroffen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall: Der dingliche Bestellungsakt ist schon kein Vertrag, der eine entgeltliche Leistung zum Gegenstand hat (vgl. § 312 Abs. 1 S. 1 BGB7). Denn durch dieses Verfügungsgeschäft wird lediglich die Rechtslage geändert,8 ohne dass hierdurch ein Austauschverhältnis geschaffen würde. Daher ist § 312 BGB auf dieses Geschäft nicht anwendbar (dasselbe gilt für § 312b BGB9). 3. Anspruch durchsetzbar Fraglich ist die Durchsetzbarkeit des Anspruchs aus § 1147 BGB. a) Wirksame Kündigung Die Sicherungsgrundschuld bedarf zu ihrer Geltendmachung der vorherigen Kündigung, vgl. §§ 1193 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, 1192 Abs. 1a S. 1 BGB. Andernfalls ist der Sicherungs-geber berechtigt, die Einrede der mangelnden Fälligkeit zu erheben. Da die M die Grundschuld wirksam gekündigt hat, ist das Grundschuldkapital fällig geworden (vgl. § 271 Abs. 2 BGB). b) Allgemeine Bereicherungseinrede Möglicherweise steht der Durchsetzung die vom BGH10 in extensiver Auslegung des § 821 BGB entwickelte allgemeine Bereicherungseinrede entgegen. Dies könnte sich daraus er-geben, dass eine causa, d.h. ein rechtfertigender Grund für das Behaltendürfen des abstrakten Rechts infolge des Wider-rufs nicht mehr besteht. Rechtsgrund der Grundschuld ist der

5 Das Widerrufsrecht wird durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Geset-zes zur Regelung der Wohnungsvermittlung (BGBl. I 2013, S. 3642) mit Wirkung zum 13.06.2014 grundlegend reformiert. § 312 BGB wird dann durch § 312b BGB ersetzt. 6 Künftig sind in §§ 357 ff. BGB die Widerrufsfolgen detail-liert geregelt. 7 Vgl. künftig § 312 Abs. 1 BGB. 8 Prütting (Fn. 4), Rn. 767; a.A. schwer vertretbar. 9 Vgl. künftig § 312c BGB. 10 Vgl. BGH NJW 1995, 1484.

Sicherungsvertrag, so dass bei dessen Unwirksamkeit eine Einrede aus § 821 besteht.11

Allerdings führt der Widerruf gemäß § 357 Abs. 1 S. 1 BGB dazu, dass sich der Sicherungsvertrag (ursprünglicher Rechtsgrund), dessen Bestandteil die widerrufene Willenser-klärung ist, ex nunc in ein sog. Rückgewährschuldverhältnis umwandelt.12 Damit wird der Rechtsgrund durch die spiegel-bildliche Umkehrung der ursprünglichen Pflichten allenfalls modifiziert, fällt allerdings nicht weg. Vielmehr richtet sich die Rückgewähr ausschließlich nach §§ 346 ff. BGB, statt nach Bereicherungsrecht.13 Damit kann auch die Bereiche-rungseinrede auf den Fall wegen der fortbestehenden causa nicht angewendet werden.14 c) Dolo-agit-Einrede15 Eine Einrede könnte sich aber aus § 242 BGB ergeben, wenn in der Durchsetzung der Grundschuld trotz Umwandlung des Sicherungsvertrages gemäß §§ 357 Abs. 1 S. 1, 346 ff. BGB (dazu gleich) ein Fall unzulässiger Rechtsausübung läge.16 Dann müsste eine an sich („formal“) zulässige Rechtsaus-übung aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls gegen Treu und Glauben verstoßen.

Zunächst könnte es sich um eine unter den Tatbestand der unzulässigen Rechtsausübung fallende dolo agit-Situation han-deln. Demnach fehlt ein rechtlich schützenswertes Eigeninte-resse des Gläubigers an der erstrebten Rechtsausübung, wenn die Leistung, die gefordert wird, alsbald zurückgewährt wer-den müsste (dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est).17 Für den Fall einer nichtigen (etwa angefochtenen) Sicherungs-abrede ist dieses Ergebnis ohne Weiteres aus dem Gesetz be-gründbar: Leistet der Sicherungsgeber auf eine wegen des nichtigen Sicherungsvertrages nach § 821 einredebehaftete Grundschuld, kann er seine Leistung anschließend über §§ 813 Abs. 1 S. 1, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB kondizieren.

Fraglich ist aber, ob die Situation mit der des Widerrufs der Sicherungsabrede vergleichbar ist. Um dies beurteilen zu können, müssen die Auswirkungen des Widerrufs betrachtet 11 Braun/Schultheiß, JuS 2013, 871 m.w.N.; Brehm/Berger, Sachenrecht, 2. Aufl. 2006, § 18 Rn. 27. 12 Lorenz, JuS 2011, 871 f.; Grüneberg, in: Palandt, Kommen-tar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 357 Rn. 2; vgl. zu Einzelheiten Medicus/Lorenz, Schuldrecht I, 18. Aufl. 2008, Rn. 562 ff. 13 Dies gilt auch künftig, da die §§ 357 ff. BGB n.F. ebenfalls ein Rückgewährschuldverhältnis zur Folge haben. 14 A.A. aber offenbar OLG Naumburg BKR 2009, 124 (125): Anwendung des § 821; ebenso OLG Frankfurt BeckRS 2008, 25112: Anwendung des § 812. 15 Der dolo agit-Einwand kann auch als rechtsvernichtende Einwendung geprüft werden, da dieser ebenso wie Einwendun-gen von Amts wegen berücksichtigt wird, vgl. etwa BGHZ 37, 147. Im Ergebnis ebenso wie hier OLG Dresden BKR 2003, 114. 16 § 242 wirkt als Begrenzung der Ausübung formal bestehen-der Rechte (Theorie der immanenten Schranke, vgl. BGHZ 19, 75); in Anl. an das röm. Recht heißt diese Figur auch exceptio doli. 17 Vgl. schon BGHZ 10, 75.

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Übungsklausur im Zivilrecht: Sicherungsgeschäfte ZIVILRECHT

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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com 289

werden: Die Umwandlung in ein Rückgewährschuldverhältnis würde zunächst dazu führen, dass der Sicherungsnehmer die Rechtsinhaberschaft am Grundpfandrecht gemäß § 346 Abs. 1 BGB auf den Sicherungsgeber zurückübertragen (§ 873 BGB) bzw. darauf verzichten (§ 1168 BGB) muss.18 Leistet B trotz des Widerrufs an M, würde sich die Sicherungsgrundschuld in eine Eigentümergrundschuld umwandeln, da B im Zweifel auf die Grundschuld leistet (das Ergebnis folgt entweder aus §§ 1163 Abs. 1 S. 2, 1177 Abs. 1 S. 1 BGB, aus §§ 1142, 1143 BGB, aus §§ 1168, 1170 BGB oder schlichtweg „aus dem Wesen des Grundpfandrechts“19). M verlöre mithin die Inhaberschaft und könnte die Grundschuld nicht mehr nach § 346 Abs. 1 BGB zurückgewähren. Vielmehr müsste sie dann Wertersatz gemäß § 346 Abs. 2 Nr. 3 BGB leisten, der sinn-vollerweise der Höhe nach der Grundschuldvaluta entspre-chen würde. Damit liegt im Fall des wirksamen Widerrufs eine dolo agit-Situation vor. Überdies kann die Einrede auch auf die Fallgruppe der exceptio doli aufgrund der Ausnutzung einer formalen Rechtsstellung gestützt werden.20 Denn durch den Widerruf des Sicherungsvertrages entfällt auch der im Vertrag niedergelegte Sicherungszweck bzw. kann aufgrund des Fehlens einer entsprechenden Vereinbarung hierüber nicht mehr erreicht werden.21

Fraglich ist daher, ob B den Sicherungsvertrag wirksam widerrufen hat. Dies setzt eine fristgemäße Widerrufserklärung und das Bestehen eines Widerrufsgrundes voraus.

Eine Widerrufserklärung im Sinne des § 355 Abs. 1 S. 2 BGB liegt vor. Das Einschreiben entspricht der Schriftform gemäß § 126 BGB und damit erst recht der im Rahmen des § 355 Abs. 1 S. 2 BGB erforderlichen Textform (§ 126b BGB).22 Ferner ist bei lebensnaher Auslegung auch davon auszugehen, dass R ordnungsgemäß von B bevollmächtigt war (§§ 164 Abs. 1, 167 BGB). Es ist auch davon auszugehen, dass diese Erklärung fristgemäß erfolgte, da eine Belehrung nicht stattfand und die Widerrufsfrist des § 355 Abs. 1 S. 1 BGB damit nicht zu laufen begann, § 355 Abs. 4 S. 3 BGB.23 aa) Fernabsatzvertrag Ein Widerrufsrecht könnte sich aus §§ 312b, 312d Abs. 1 S. 1 BGB ergeben. Dann müsste es sich um einen Fernabsatzver-trag im Sinne des § 312b BGB handeln. Dabei ist schon zweifelhaft, ob eine Sicherungsabrede in den sachlichen An-wendungsbereich (Lieferung von Waren oder Erbringung von

18 Bülow, Recht der Kreditsicherheiten, 8. Aufl. 2012, Rn. 1154. 19 Vgl. zum Ganzen Braun/Schultheiß, JuS 2013, 973 (976). 20 Dazu Schulze, in: Nomos Handkommentar zum BGB, 7. Aufl. 2012, § 242 Rn. 34. 21 BGH NJW 1997, 1004. 22 Grüneberg (Fn. 8), § 355 Rn. 7. Künftig ist die Textform allerdings nicht mehr erforderlich, vgl. § 355 Abs. 1 S. 2 BGB n.F. („Erklärung gegenüber dem Unternehmer“). Auch § 126b BGB wird völlig neu gefasst. 23 Das Privileg der „unendlichen“ Widerrufsfrist entfällt künf-tig: Es gilt dann eine einheitliche Maximalfrist von zwölf Monaten (§ 355 Abs. 3 S. 2 BGB n. F.).

Dienstleistungen) des § 312b Abs. 1 BGB fallen kann.24 Je-denfalls für akzessorische Sicherungsmittel würde der EuGH dies bejahen.25 Allerdings kann diese Frage dahinstehen, da der Vertrag nicht unter ausschließlicher Verwendung von Fern-kommunikationsmitteln zustande kam. Nach dem Telefon-anruf bei B, der sich noch unter § 312b Abs. 2 BGB26 subsu-mieren ließe, kam es zu einer gleichzeitigen physischen An-wesenheit der beiden Vertragsparteien. In diesem Rahmen wurde zumindest der Antrag von Seiten der M (§ 164 Abs. 1 BGB) abgegeben, § 145 BGB. Damit kommt ein Widerrufs-recht nach § 312d Abs. 1 S. 1 BGB nicht in Betracht. bb) Haustürgeschäft Ein Widerrufsrecht könnte sich aber aus § 312 Abs. 1 BGB ergeben.27 Dies setzt voraus, dass es sich um einen Verbrau-chervertrag handelt (vgl. § 310 Abs. 3 BGB), der eine entgelt-liche Leistung zum Gegenstand hat und zu dessen Abschluss der Verbraucher durch eine der in § 312 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1-3 BGB genannten Haustürsituationen bestimmt worden ist;28 ferner darf das Widerrufsrecht auch nicht gemäß § 312 Abs. 3 BGB ausgeschlossen sein.29 (1) Verbrauchervertrag Ein Verbrauchervertrag gemäß § 310 Abs. 3 BGB liegt vor, wenn B als Verbraucher (§ 13 BGB) und M als Unternehmer (§ 14 BGB) handelte. B schloss den Vertrag zu einem Zwe-cke, der weder seiner gewerblichen noch seiner selbständigen beruflichen Tätigkeit zuzuordnen ist; denn er handelte in freundschaftlicher Verbundenheit, ohne in das von G avisierte gewerbliche Immobiliengeschäft involviert zu sein. Möglicher-weise ergibt sich jedoch etwas anderes aus dem Umstand, dass B einen gewerblichen Kredit des G absichern sollte; da G die Immobilie gewerblich zu nutzen beabsichtigte, ist jeden-falls der darauf bezogene Kredit auch als gewerblicher Kredit zu qualifizieren.30

Die ältere BGH-Rspr. ging teilweise von der Maßgeblich-keit des abgesicherten Kreditgeschäfts aus. Soweit ein gewerb-licher Kredit abgesichert wurde, war demnach eine Anwen-dung des § 312 BGB auch auf den Sicherungsgeber ausge-schlossen.31 Der EuGH stellte in Auslegung der Richtlinie 85/ 577/EWG32 anschließend den Grundsatz der Gesamtbetrach-

24 Diese sachliche Beschränkung des Anwendungsbereichs entfällt künftig (vgl. § 312c Abs. 1 BGB n.F.). 25 EuGH NJW 1998, 1295 (1295). 26 Künftig: § 312c Abs. 2 BGB. 27 § 312b BGB n.F. verwendet die Bezeichnung „außerhalb von Geschäftsräumen geschlossener Vertrag“. 28 Künftig: § 312b Abs. 1 BGB. 29 Die Ausschlusstatbestände finden sich künftig zentral in § 312 Abs. 2 BGB. 30 Vgl. zur Maßgeblichkeit des Verwendungszweckes Weiden-kaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 491 Rn. 5. 31 BGH NJW 1998, 2356; kritisch dazu Medicus, JuS 1999, 833 (836). 32 ABl. EWG 1985 Nr. L 372.

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ÜBUNGSFÄLLE Tilman Schultheiß

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tung auf: Sowohl Kreditnehmer als auch Sicherungsgeber mussten demnach als Verbraucher gehandelt haben, um die verbraucherschützenden Normen auf den Sicherungsgeber anwenden zu können.33

Allerdings standen diese Auffassungen schon seinerzeit im Widerspruch zum Telos der nationalen Regelung in § 312 BGB.34 Demnach soll der Verbraucher vor der Gefahr ge-schützt werden, bei der Anbahnung eines Vertrages in einer ungewöhnlichen räumlichen Situation überrumpelt und zu ei-nem unüberlegten Geschäftsabschluss veranlasst zu werden.35 Diese Gefahr besteht jedoch völlig unabhängig davon, ob die gesicherte Forderung aus einem Verbraucherdarlehen oder aus einem gewerblichen Kredit resultiert. Die Anwendung des § 312 BGB kann daher nicht davon abhängen, welcher Quali-tät die gesicherte Forderung ist. Seither nimmt der BGH eine Einzelbetrachtung vor: Entscheidend ist demnach allein, dass der Interzessionsvertrag (also etwa die Bürgschaft) selbst als Verbrauchervertrag qualifiziert werden kann.36 Auf Basis die-ser Rspr. liegt daher ein Verbrauchervertrag vor.

M handelte als Unternehmer, da ein Kreditinstitut gewerb-lich Kredite vergibt (vgl. auch § 1 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 2 KWG). Dass sie sich von einem – womöglich seinerseits als Ver-braucher agierenden – Mitarbeiter vertreten ließ, ist nicht aus-schlaggebend, da sie selbst durch die Vertretung berechtigt und verpflichtet wird (§ 164 Abs. 1 BGB).

Damit handelt es sich um einen Verbrauchervertrag. (2) Entgeltliche Leistung Fraglich ist, ob die getroffene Sicherungsabrede eine entgelt-liche Leistung im Sinne des § 312 Abs. 1 S. 1 BGB darstellt. Darunter fallen insbesondere gegenseitige Verträge, in denen sich der Unternehmer zur Erbringung einer Warenlieferung oder Dienstleistung gegen ein vom Verbraucher zu zahlendes Entgelt verpflichtet. Dies sieht auch Art. 1 Abs. 1 der Richtli-nie 85/577/EWG vor; demnach erfasst die Richtlinie Verträge, die zwischen einem Gewerbetreibenden, der Waren liefert oder Dienstleistungen erbringt, und einem Verbraucher ge-schlossen werden. Freilich ist der Sicherungsvertrag lediglich die obligatorische Basis für die Grundschuldbestellung und ein einseitig verpflichtender bzw. allenfalls unvollkommen zweiseitig verpflichtender37 (= kein Gegenseitigkeitsverhältnis) Vertrag; auf die Erbringung einer Warenlieferung oder Dienst-leistung ist der Sicherungsvertrag ebenfalls nicht gerichtet. In der älteren BGH-Rspr. wurde die Anwendbarkeit des § 312 BGB daher verneint,38 bis der EuGH diese Rechtsfrage ver-bindlich zugunsten der Anwendbarkeit des § 312 BGB ent-

33 EuGH NJW 1998, 1295 (1296). 34 Dieser wurde vom nationalen Gesetzgeber überschießend geregelt, was aber aufgrund der Mindestharmonisierungsvor-gabe möglich war. 35 BGH NJW 2004, 1376; BGH NJW 2006, 845 (846) m. Bespr. Bülow, LMK 2006, 171869. 36 BGH NJW 2006, 845 m. Bespr. Bülow, LMK 2006, 171869. 37 Dazu Plate, Das gesamte examensrelevante Zivilrecht, 2. Aufl. 2005, S. 183. 38 So BGH NJW 1991, 975; a.A. aber BGH NJW 1993, 1594.

schied.39 Seither ist der Begriff des Vertrages, der eine ent-geltliche Leistung zum Gegenstand hat, extensiv auszulegen.40 Denkbar sind zweierlei Ansatzpunkte, um die Anwendbarkeit des § 312 BGB dogmatisch zu begründen:

Als Leistung der M an den B kann hier die im Interesse des G liegende Darlehensgewährung angesehen werden, die B durch die Sicherungsübernahme letztlich auch erreichen will.41 Denn insoweit genügt es, dass der Sicherungsgeber die Verpflichtung zur Grundschuldbestellung in der dem Vertrags-partner erkennbaren Erwartung übernimmt, einem Dritten werde dadurch irgendein Vorteil erwachsen.42

Zum anderen kann auch eine schutzzweckorientierte Argu-mentation in Kombination mit einem argumentum a maiore ad minus verfolgt werden, die ebenfalls zur Anwendbarkeit des § 312 BGB gelangt. Demnach ist ein Verbraucher mit Blick auf das Telos des § 312 BGB erst recht schutzbedürftig, wenn er schon keine Gegenleistung für seine Verpflichtung erhält.43

Damit liegt auch eine entgeltliche Leistung im Sinne des § 312 Abs. 1 S. 1 BGB vor. (3) Haustürsituation, Kausalität Eine Haustürsituation könnte sich aus § 312 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 2 BGB ergeben.44 Dadurch, dass ein Mitarbeiter der M den B in dessen Privatwohnung mit dem Ziel eines Vertrags-schlusses („werbend“) ansprach, kam es zu mündlichen Ver-handlungen im Sinne der Nr. 1.

Des Weiteren muss diese Haustürsituation für die Abgabe der Willenserklärung kausal gewesen sein; dabei ist keine Monokausalität erforderlich, sondern es genügt auch eine Mit-ursächlichkeit.45 Das Erfordernis einer Kausalität ergibt sich aus der Formulierung des § 312 Abs. 1 S. 1 BGB, wonach der Verbraucher durch die jeweilige Situation zum Abschluss bestimmt worden sein muss. An der Kausalität fehlt es, wenn die durch die Tatbestände in Nrn. 1-3 typisierte Überrumpe-lungssituation aus besonderen Gründen nicht gegeben war.46

Gegen eine Überrumpelungssituation und damit auch ge-gen Kausalität könnte hier sprechen, dass B im Rahmen des vorangegangenen Telefonats bereits damit konfrontiert wurde, dass es um „Finanzierungsoptionen Immobiliarkredit“ gehe, die dann auch Inhalt des avisierten Gesprächs mit einem Mitarbeiter der M werden sollten. Immerhin musste dem B bewusst sein, dass es bei dem Gespräch darum gehen würde, 39 EuGH NJW 1998, 1295 – die sog. Dietzinger-Entschei-dung ist insoweit grundlegend für die Bürgschaft. 40 OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2008, 25112. 41 So etwa BGH NJW 1996, 55 (56); BGH NJW 2006, 845 m. Bespr. Bülow, LMK 2006, 171869. 42 OLG Naumburg BKR 2009, 124 (125); Brehm/Berger (Fn. 7), § 18 Rn. 26. 43 Ähnlich EuGH NJW 1998, 1295. 44 Künftig: § 312b Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 BGB. 45 BGH NJW 2007, 1947; BGH NJW 2010, 2868. 46 Der Tatbestand des § 312b BGB n.F. ist insofern wesent-lich offener formuliert und enthält keine dahingehende Ein-schränkung mehr. Allerdings ändert sich hieran nichts an den folgenden teleologischen Erwägungen.

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über entsprechende Vermögensdispositionen des B verhandeln, da eine andere Absicht der M in diesem Kontext kaum plau-sibel war; dass die Vermögensdispositionen hier nicht näher konkretisiert waren, spricht nicht a priori gegen eine entspre-chende Erwartungshaltung des B.47 Dies könnte dazu führen, dass er im Moment des eigentlichen Gesprächs nicht mehr überrumpelt wurde.

Andererseits wurde dem B gerade nicht mitgeteilt, dass es um die Sicherungsübernahme zugunsten des G und dessen Finanzierungsprobleme gehen sollte. Ferner hätte Inhalt des Gesprächs auch eine allein den B und dessen Rechtsbezie-hung zu M betreffende Frage sein können, da die M auch die Hausbank des B ist. Insofern hätte eine gewisse Konkretisie-rung der Informationen erfolgen müssen, um eine Überrum-pelung auszuschließen.48 Die Vagheit der Ankündigung, es werde ein Gespräch über „Finanzierungsoptionen Immobiliar-kredit“ stattfinden, war daher nicht geeignet, die Überrumpe-lung des B auszuschließen.49 (4) Kein Ausschluss Das Widerrufsrecht könnte gemäß § 312 Abs. 3 Nr. 1 BGB ausgeschlossen sein.50 Dann müsste die mündliche Verhand-lung im Sinne des § 312 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB auf vorher-gehende Bestellung des Verbrauchers geführt worden sein. Von einer Bestellung ist auszugehen, wenn der Verbraucher den Unternehmer zu Vertragsverhandlungen in seine Woh-nung einlädt.51 B hat den Mitarbeiter der M auf eigene Initia-tive in seine Privatwohnung eingeladen. Das spricht formal für eine Bestellung im Sinne des § 312 Abs. 3 Nr. 1 BGB.

Allerdings ist daneben erforderlich, dass die Anfrage des Verbrauchers einen hinreichend konkreten Inhalt aufweist, weil es nur in diesem Falle nicht zu einer Überrumpelung oder anderen unlauteren Beeinflussung seiner Willensbildung kommen kann.52 Insoweit kann auf die bereits oben angestell-ten Überlegungen zur fehlenden Konkretisierung zurückge-griffen und eine vorherige Bestellung verneint werden.

Überdies könnte die M die von B ausgesprochene Einla-dung provoziert haben, indem sie diesen unvermittelt anrief, um entsprechende Gespräche vorzuschlagen. Eine provozierte Bestellung ist nach dem Sinn und Zweck der Ausnahmerege-lung in § 312 Abs. 3 Nr. 1 BGB unbeachtlich und führt nicht zum Ausschluss des Widerrufsrechts.53 Der Ausschlusstatbe-stand legitimiert sich aus der Überlegung, dass ein Verbrau-cher, der das Gespräch in seiner Wohnung eigenständig initi- 47 In diesem Sinne OLG Frankfurt a.M. BeckRS 2008, 25112. 48 Vgl. auch OLG Hamm BeckRS 2013, 05225. 49 BGH NJW 1996, 55. 50 Die Ausschlusstatbestände finden sich künftig zentral in § 312 Abs. 2 BGB. Der Ausschlussgrund der vorhergehenden Bestellung beschränkt sich dann auf Reiseleistungen nach § 651a BGB (vgl. § 312 Abs. 2 Nr. 4 lit. b) BGB n. F.). 51 Grüneberg (Fn. 8), § 312 Rn. 24 m.w.N. 52 BGH NJW 2008, 3423 (3424); OLG Hamm BeckRS 2013, 05225. 53 OLG Hamm BeckRS 2013, 05225; vgl. auch Masuch, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 312 Rn. 114.

iert, nicht mehr vor der situativen Überrumpelungsgefahr ge-schützt werden muss. Von einer Provokation ist in der Regel auszugehen, wenn der Verbraucher durch einen nicht von ihm veranlassten Telefonanruf dazu bewegt wird, den Wunsch nach einem Hausbesuch auszusprechen.54 Lediglich ein auto-nomer Willensentschluss rechtfertigt es, dem Verbraucher sein Widerrufsrecht zu entziehen. Ein Mitarbeiter der M rief den B für diesen völlig unerwartet an. Er sah sich durch das am Telefon geführte Gespräch dazu veranlasst, eine Einladung an den Mitarbeiter auszusprechen. Damit liegt die Situation einer provozierten Bestellung vor.

Der Ausschlussgrund des § 312 Abs. 3 Nr. 1 BGB greift daher nicht. (5) Zwischenergebnis Die Sicherungsvereinbarung wurde damit wirksam widerru-fen. d) Ergebnis zu Frage 1 Der Anspruch aus § 1147 BGB ist damit wegen § 242 BGB nicht durchsetzbar.

M hat keinen Anspruch aus § 1147 i.V.m. § 1192 Abs. 1 BGB gegen B. II. Ansprüche der F gegen M 1. Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB (condictio inde-biti)55 Ein Anspruch der F gegen M auf Rückzahlung des auf die Bürgschaftsverpflichtung geleisteten Geldbetrages könnte sich aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB ergeben. M hat die Zahlung des Bürgschaftsbetrages durch Leistung der F erlangt. Frag-lich ist jedoch, ob diese Leistung rechtsgrundlos erfolgte. Rechtsgrund der Leistung des Bürgen ist der Bürgschaftsver-trag.

Der Rechtsgrund könnte bereits deshalb fehlen, weil die Eingehung der Bürgschaftsverpflichtung gemäß §§ 125 S. 1, 126 Abs. 1, 766 S. 1 BGB formnichtig war. Denn zweifellos liegt in der telefonischen Zusage keine schriftliche Erteilung der Bürgschaftserklärung im Sinne des § 766 S. 1 BGB. Aller-dings ist dieser Mangel durch die Zahlung der Bürgin gemäß § 766 S. 3 BGB geheilt worden. Dadurch besteht in Gestalt des wirksamen Bürgschaftsvertrages auch ein Rechtsgrund, da alles andere dem Sinn der Heilung zuwiderliefe.

Ein möglicher Widerruf hat indes nicht dazu geführt, dass der Rechtsgrund nunmehr fehlt, sondern auch dieses Schuld-verhältnis lediglich in ein Rückgewährschuldverhältnis um-gewandelt.56 54 BGHZ 109, 127 = NJW 1990, 181. 55 Dieser Anspruch kann zur Wahrung des bekannten An-spruchsaufbaus auch inzident unter dem nächsten Gliede-rungspunkt geprüft werden. 56 Anders aber, wenn der Widerruf bereits vor der Zahlung erklärt worden ist: Dann fehlt bereits im Moment der Zahlung der Rechtsgrund; eine Leistung fiele dann nicht in das Rück-gewährschuldverhältnis.

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ÜBUNGSFÄLLE Tilman Schultheiß

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2. Anspruch aus §§ 346 Abs. 1, 357 Abs. 1 S. 1 BGB Ein Anspruch könnte sich aus §§ 346 Abs. 1, 357 Abs. 1 S. 1 BGB ergeben. Im Unterschied zu oben ist bei der Bürgschaft diese selbst Gegenstand des Widerrufs. Denn nach der h.M. zerfällt die Bürgschaft – anders als Grundschuld oder Hypo-thek – nicht in ein obligatorisches Kausalgeschäft (Sicherungs-abrede) und einen dinglichen Rechtsakt (Bestellung der Sicher-heit). Vielmehr handelt es sich bei sämtlichen Personalsicher-heiten wie dem Bürgschaftsvertrag um kausale Verbindlich-keiten, die ihren Rechtsgrund in sich selbst tragen.57 Der Ab-schluss eines Sicherungsvertrages ist zwar zulässig, um eine Verpflichtung zur Stellung von Sicherheiten zu begründen; er bildet aber nach der Rspr. des BGH weder den Behaltens-grund im Sinne des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB noch beein-flusst sein Widerruf die Rechtsinhaberschaft des Sicherungs-gebers.

Ein wirksamer Widerruf setzt wiederum eine form- und fristgemäße Widerrufserklärung und einen Widerrufsgrund voraus. F hat den Widerruf erklärt. Es ist mangels entgegen-stehender Anhaltspunkte davon auszugehen, dass dies auch formgerecht geschah. Auch insoweit lief mangels Belehrung keine Frist (§ 355 Abs. 4 S. 3 BGB).

Ein Widerrufsrecht könnte aus § 312 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 BGB resultieren. Dann müsste es sich bei der Bürg-schaft um einen entgeltlichen Vertrag im Sinne des § 312 Abs. 1 BGB handelt. Auch dies ist mit einem a fortiori-Schluss zu bejahen (siehe I. 3. c) bb) (2).58 Daneben handelte es sich auch insoweit um ein Verbrauchergeschäft, da nicht ersichtlich ist, inwieweit F hier unter den Bedingungen des § 14 BGB gehandelt haben soll und der gewerbliche Kredit nicht maßgeblich ist. Fraglich ist allerdings, ob die Haustür-situation für den Vertragsschluss ursächlich gewesen ist (vgl. § 312 Abs. 1 S. 1 BGB a.E.: „bestimmt worden ist“). Dage-gen könnte sprechen, dass F drei Tage über das Geschäft nachgedacht hat. Andererseits ist jedoch anzunehmen, dass der Vertrag ohne die Ansprache am Arbeitsplatz der F nicht zustande gekommen wäre. Ein enger zeitlicher Zusammen-hang zwischen den Vertragsverhandlungen und der Abgabe der entsprechenden Vertragserklärungen ist nicht im Sinne eines Tatbestandsmerkmals erforderlich; aus seinem Vorlie-gen folgt lediglich eine Indizwirkung.59 Dabei wird bei einer Entscheidung binnen einer Frist von drei Tagen noch von einem solchen engen zeitlichen Zusammenhang die Rede sein können,60 so dass die Indizwirkung gegeben ist. Ein Rückge-währanspruch folgt damit aus §§ 346 Abs. 1, 357 Abs. 1 S. 1 BGB.

Auch die übrigen Voraussetzungen des § 312 Abs. 1 BGB sind erfüllt. Damit bestand auch ein Widerrufsrecht. 57 St. Rspr.: BGH NJW 2005, 1576; BGH NJW 2008, 3208; Habersack, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 765 Rn. 2 f. 58 EuGH NJW 1998, 1295. 59 BGH NJW 2009, 431 m. Bespr. K. Schmidt, JuS 2009, 383; Grüneberg (Fn. 8), § 312 Rn. 13 m.w.N. 60 A.A. vertretbar. Vgl. auch OLG Hamm BeckRS 2013, 05225: Ursächlichkeit wird hier auch nach fünf Verhandlungs-gesprächen bejaht.

3. Ergebnis zu Frage 2 Der Anspruch auf Rückzahlung besteht. Lösungsvorschlag für die Abwandlung Da eine Berufung infolge der Rechtskraft des Urteils nicht mehr möglich ist (§§ 517, 531 Abs. 2 ZPO), kommt nur eine Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 767 ZPO in Betracht61. Hierbei handelt es sich um eine prozessuale Gestaltungsklage, die die Vollstreckbarkeit des Titels beseitigt.62

Die Klage ist begründet, wenn dem B eine Einwendung im Sinne des § 767 Abs. 1 ZPO gegen den Anspruch der M aus § 1147 BGB zusteht.63 Dabei kommen entgegen der her-gebrachten Terminologie nicht nur materiell-rechtliche Ein-wendungen in Betracht, sondern auch rechtshemmende Ein-reden.64 Der Widerruf könnte eine Einwendung im Sinne des § 767 Abs. 1 ZPO darstellen. Allerdings kann hierbei nicht auf die altbekannte Wirkung des Widerrufs als materiell-recht-liche Einwendung gegenüber dem Anspruch abgestellt werden, da dieser selbst den Anspruch aus § 1147 BGB wie gezeigt (siehe oben I. 3.) gerade nicht zu Fall bringt. Vielmehr kann durch diesen nur die Einrede der unzulässigen Rechtsaus-übung begründet werden.

Fraglich ist damit, ob ein Widerrufsrecht bestand und B sich hierauf berufen kann. I. Widerrufsrecht Das Widerrufsrecht ergibt sich aus §§ 312 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Alt. 2, 355 Abs. 1 BGB (siehe dazu I. 3. c). bb). Dieses besteht mangels Belehrung zeitlich unbefristet (§ 355 Abs. 4 S. 2 BGB). Die Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils hin-dert B nicht daran, den Widerruf in einem anderen Prozess auszuüben, da gemäß § 322 Abs. 1 ZPO lediglich die ausge-sprochene Rechtsfolge, nicht aber die sie tragenden Gründe in Rechtskraft erwachsen.65 II. Präklusion Möglicherweise ist B jedoch mit seinem Vorbringen gemäß § 767 Abs. 2 ZPO materiell präkludiert. Dies ist der Fall, wenn die geltend gemachte Einrede bereits vor Schluss der-jenigen mündlichen Verhandlung entstanden ist, in welcher sie spätestens hätte geltend gemacht werden können.

61 Zum Verhältnis der Berufung zu § 767 ZPO vgl. Kruse/ Schäfers, JuS 2013, 896. 62 Kliebisch, JuS 2013, 316 (317). 63 Vgl. dazu ausführlich Kliebisch, JuS 2013, 316 (317 f.); ausführlich zu § 767 ZPO Heiderhoff/Skamel, Zwangsvoll-streckungsrecht, 2. Aufl. 2013, § 5. 64 Seiler, in: Thomas/Putzo, Kommentar zur ZPO, 3. Aufl. 2013, § 767 Rn. 20, der allerdings den ungebräuchlichen Begriff der rechtshemmenden Einwendung verwendet; zu den Unterschieden der prozessualen und materiell-rechtlichen Terminologie siehe Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 10. Aufl. 2010, Rn. 92 ff. 65 Vgl. BGH NJW 1996, 57 (58) m. Bespr. K. Schmidt, JuS 1996, 460.

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Die Einrede resultiert aus der Umwandlung der Siche-rungsabrede in ein Rückgewährschuldverhältnis. Das heißt, dass sie formaliter erst nach der mündlichen Verhandlung entstanden ist, da zuvor kein Rückgewährschuldverhältnis bestand. Möglicherweise ist jedoch darauf abzustellen, dass jedenfalls die der Einrede zugrunde liegende „Gestaltungslage“ bereits im nach § 767 Abs. 2 ZPO maßgeblichen Zeitpunkt gegeben war. Dann würde es auf die Streitfrage ankommen, wann Gestaltungsrechte im Sinne des § 767 Abs. 2 ZPO ent-standen sind. Entscheidend für den Ausschluss einer Einwen-dung nach § 767 Abs. 2 ZPO ist nach st. Rspr. des BGH, ob sie zum Schluss der mündlichen Verhandlung objektiv hätte erhoben werden können,66 bei Gestaltungsrechten ist die kennt-nisunabhängige Möglichkeit der Ausübung ausreichend. Daran fehlt es allerdings, wenn materiell-rechtliche Voraussetzungen der Einwendung zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegen haben. Zur Zeit der mündlichen Verhandlung ist noch kein Widerruf erfolgt, so dass diese Voraussetzungen noch nicht vorlagen.

Etwas anderes könnte sich jedoch aus dem Umstand er-geben, dass es dem B zu dieser Zeit jedenfalls möglich war, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen dieser Einwendung zu schaffen. Allerdings soll es für eine Präklusion nach § 767 Abs. 2 ZPO gerade nicht genügen, dass der Schuldner die Voraussetzungen für eine Einwendung bloß hätte schaffen können, und zwar ungeachtet der Frage, ob dies mit geringem Aufwand möglich gewesen wäre.67

Freilich führt dieses Verständnis gerade in der vorliegen-den Konstellation zu einem Wertungswiderspruch: Während bei der abstrakten Grundschuld der „Umweg“ über den dolo agit-Einwand gegangen werden muss, hätte ein Widerruf der Bürgschaft diese selbst zum Erlöschen gebracht (siehe II. 2.). Folglich wäre bei der Bürgschaft auch in bekannter Weise auf die objektiv bestehende Gestaltungslage abzustellen und eine denkbare Einwendung der F als präkludiert anzusehen. Ferner geht es auch mit Blick auf B materiell letztlich allein um die Wirkungen des Widerrufs, der ohne das Hinzutreten weiterer Umstände die Ausübung der Rechte aus der Grundschuld verhindert. Demnach ist grundsätzlich auf das Bestehen der Gestaltungslage bereits im nach § 767 Abs. 2 ZPO maßgebli-chen Zeitpunkt abzustellen.

Fraglich ist aber, ob deshalb etwas anderes gilt, weil das Widerrufsrecht auf der Umsetzung von Unionsecht basiert. Erforderlich ist eine richtlinienkonforme Auslegung des nati-onalen Rechts (§ 767 Abs. 2 ZPO) dahin, dass die zwingen-den Fristen des § 355 BGB dem Verbraucher erhalten bleiben. Bei einer restriktiven Handhabung des § 767 Abs. 2 ZPO wäre die volle Wirksamkeit des Unionsrechts (effet utile) hingegen nicht mehr gewährleistet. Denn der Verbraucher ist dann unter Umständen gezwungen, das Widerrufsrecht unge-achtet der zu seinen Gunsten bestehenden Fristen aus § 355

66 Zuletzt BGH NJW-RR 2010, 1598; BGH NJW 2005, 2926 m. Bespr. K. Schmidt, JuS 2005, 1129. 67 BGH NJW 2005, 2926 m. Bespr. K. Schmidt, JuS 2005, 1129; BGH NJW-RR 2010, 1598.

Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 3 BGB vorzeitig auszuüben.68 Dies würde dazu führen, dass der Unternehmer durch eine frühzei-tige Klageerhebung über die zwingenden Fristen disponiert. Legt man § 767 Abs. 2 ZPO richtlinienkonform aus, muss das Widerrufsrecht der §§ 312 ff. BGB von der Präklusion ausgenommen werden.69 III. Ergebnis B kann die Zwangsvollstreckung durch Ausübung des Wider-rufsrechts und die anschließende Erhebung der Einrede noch abwenden.

68 Ebenso Petersen, Examens-Repetitorium Allgemeines Schuldrecht, 4. Aufl. 2009, Rn. 199. 69 Vgl. dazu im Einzelnen Schultheiß, ZJS 2013, 67 (72 ff.) m.w.N.

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Übungsfall: „Landeskinderklausel“ – Studiengebühren vor dem Bundesverfassungs-gericht Von Wiss. Mitarbeiter Sebastian Pfahl, Augsburg* Der vorliegende Fall bietet die Möglichkeit, examensrelevante Bereiche des Verfassungsrechts anhand einer aktuellen und klausurrelevanten Entscheidung des Bundesverfassungsge-richts zu wiederholen. Die Thematik ist aber auch über den Klausurenbereich hinaus, insbesondere aus studentischer Sicht, beachtenswert. Sachverhalt1 Gem. § 6 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 Bremisches Studienkontengesetz (BremStKG) sind Studierende mit Wohn-sitz (bei mehreren Wohnungen mit Hauptwohnsitz) in Bremen 14 Semester lang von Studiengebühren2 befreit – ihr Studien-konto besitzt damit ein Studienguthaben von 14 Semestern. Anschließend fallen Gebühren in Höhe von 500 € pro Semes-ter an. Das Studienguthaben auf dem Studienkonto von aus-wärtigen Studierenden umfasst hingegen nur zwei Semester, d.h. bereits für das dritte Semester besteht die volle Zahlungs-pflicht. Ferner sieht das Gesetz Tatbestände zur Stundung, Ermäßigung und zum Erlass vor, die beispielsweise soziale, hochschulpolitische oder gesundheitliche Gründe betreffen (Härtefallregelungen).

Das Land Bremen bezweckt damit eine Verbesserung der Finanzlage der Hochschulen und somit auch bessere Studien-bedingungen. Denn entweder würden Auswärtige Studienge-bühren zahlen oder zur Vermeidung von Studiengebühren nach Bremen ziehen, was höhere Zuweisungen aus dem Länder-finanzausgleich zur Folge hätte. Im Übrigen würden Studie-rende durch die Zahlungspflicht so zu einem zügigeren Stu-dienabschluss angehalten werden. Insgesamt ist die Verwen-dung der Studiengebühren für die genannten Belange zweck-gebunden geregelt.

Mehrere auswärtige Kläger wehren sich gegen die für sie nach dem zweiten Semester nun im Wintersemester 2006/ 2007 anstehende Zahlungspflicht vor dem VG Bremen mittels Klage und vorläufigen Rechtsschutzes. Vorheriger Wider-spruch und Anträge bei der Universität auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung blieben erfolglos.

* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht sowie Gesetzgebungslehre von Prof. Dr. Matthias Rossi an der Universität Augsburg. 1 Der Sachverhalt beruht auf BVerfG NJW 2013, 2498, wur-de hier aber leicht modifiziert. Besprechung bei Muckel, JA 2013, 712. 2 Rechtlich handelt es sich freilich um Beiträge, nicht um Gebühren. Gebühren werden für eine tatsächlich in Anspruch genommene Leistung erhoben, Beiträge hingegen für die Mög-lichkeit, eine Leistung in Anspruch zu nehmen. Siehe hierzu etwa Kronthaler, WissR 39 (2006), 276 (292 ff.); Dillenbur-ger, in: Pautsch/Dillenburger, Kompendium zum Hochschul- und Wissenschaftsrecht, 2011, Kap. B. Rn. 117 f. Dennoch sollte die Terminologie „Studiengebühren“ aufgrund ihrer Verbreitung beibehalten werden – so auch in der zu Grunde liegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Das Gericht ist von der Verfassungswidrigkeit von Stu-diengebühren generell und von der Differenzierung zwischen Landeskindern und Auswärtigen im Besonderen überzeugt. Es ordnete deshalb die aufschiebende Wirkung von Wider-spruch und Klage an, setzte das Verfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die genannten Normen des BremStKG mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Infolge dieser Vorlage hob der Landesgesetzgeber die in Rede stehende Studienkontenregelung mit Wirkung zum Win-tersemester 2010/2011 auf, sodass die streitigen Vorschriften für Auswärtige nicht mehr gelten und somit jeder einge-schriebene Student ein Studienguthaben von 14 Semestern erhält. Bearbeitervermerk Hat die konkrete Normenkontrolle Aussicht auf Erfolg?

Auf unions- und völkerrechtliche3 sowie abgabenrechtli-che4 Aspekte ist nicht einzugehen.

Hinweis: Die Prüfung der konkreten Normenkontrolle sollte keine Schwierigkeiten bereiten. Wichtig ist es, die zwei Teilfragen, welche im Sachverhalt aufgeworfen wer-den, sauber zu trennen: Zulässigkeit von Studiengebühren und Zulässigkeit einer Landeskinderklausel. Der Schwer-punkt liegt jeweils auf Art. 12 Abs. 1 GG. Sollten die Probleme der Landeskinderklausel außerhalb der teilhabe-rechtlichen Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG bei Art. 3 Abs. 1 GG geprüft werden, hat angesichts der Länge und Schwierigkeit ein maßvoller Punktabzug zu erfolgen. Im Übrigen können eingehendere Kenntnisse der Rechtspre-chung und Literatur zu Studiengebühren, ebenso wie sol-che im Bereich des Art. 33 Abs. 1 GG, natürlich nicht er-wartet werden. Vielmehr steht die Anwendung soliden Grundwissens auf einen unbekannten Fall im Vordergrund.

3 Zu unionsrechtlichen Fragen Lindner, in: Hartmer/Detmer (Hrsg.), Hochschulrecht, Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl. 2011, Kap. XI Rn. 213 ff., dort auch m.w.N.; zur völkerrecht-lichen Seite kurz BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 f. Rn. 44) mit Verweis auf BVerwGE 134, 1 (19 ff. Rn. 45 ff.); dazu Anmerkung von Lorenzmeier, ZJS 2009, 438; vertiefend ders., NVwZ 2006, 759; zur Einkleidung unions- und völker-rechtlicher Aspekte in die konkrete Normenkontrolle aus dem Bereich der Lehrbücher Lindner, Öffentliches Recht, Syste-matisches Lehrbuch zur Examensvorbereitung im Freistaat Bayern, 2012, Rn. 583 f., 482 unter (3), 591, 600 ff., welches, insbesondere für den nicht landesrechtlichen Teil, in jedem Bundesland empfehlenswert ist. 4 Hierzu etwa BVerwGE 134, 1 (3 ff. Rn. 11 ff.); Kronthaler, WissR 39 (2006), 276 (290 ff.).

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Übungsfall: „Landeskinderklausel“ ÖFFENTLICHES RECHT

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Lösung Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist. A. Zulässigkeit der Normenkontrolle5 I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht ist für Normenkontrollen gem. Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG zuständig. II. Vorlageberechtigung Vorlageberechtigt ist jedes deutsche Gericht, Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 BVerfGG. Somit ist das VG Bremen vorla-geberechtigt. III. Vorlagegegenstand Fraglich ist, ob § 6 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 BremStKG einen zulässigen Vorlagegegenstand nach Art. 100 Abs. 1 GG darstellt. Gegenstand können nur nachkonstitutio-nelle (verkündete) formelle Bundes- und Landesgesetze sein, nicht aber materielle Bundes- und Landesgesetze (Rechtsver-ordnungen, Satzungen).6

Das BremStKG mit seinen streitigen Normen ist ein for-melles Landesgesetz und damit grundsätzlich tauglicher Vor-lagegegenstand, Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG. Problema-tisch ist allerdings, dass die strittigen Normen zwischenzeit-lich aufgehoben wurden und mithin keine Wirkung mehr ent-falten. Das Außerkrafttreten vermag aber nichts an der Zuläs-sigkeit des Vorlagegegenstands zu ändern, solange sich das Ausgangsverfahren noch nicht erledigt hat.7 Dies ist hier der Fall. Schließlich stützen sich die von den Klägern angegriffe-nen Verwaltungsakte in Form von Zahlungsbescheiden gerade auf diese Normen. IV. Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit Das VG Bremen ist laut Sachverhalt von der Verfassungs-widrigkeit der Normen überzeugt, so dass die Anforderungen des Art. 100 Abs. 1 GG erfüllt sind. (In anderen Fällen mag einmal von Bedeutung sein, dass bloße Zweifel des vorlegen-den Gerichts nicht genügen und dass auch eine verfassungs-konforme Auslegung gegenüber einer Vorlage vorrangig ist.8)

5 Schema nach Pieroth, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 100 Rn. 5 ff. 6 Dazu etwa BVerfGE 2, 124 (128 ff.); 17, 208 (210); 97, 117 (122 f.); Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfas-sungsgericht, Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 9. Aufl. 2012, Rn. 141; Pieroth (Fn. 5), Art. 100 Rn. 6. 7 BVerfGE 16, 6 (15); 29, 325 (326); 47, 46 (64); BVerfG NJW 2013, 2498 für die vorliegende Konstellation. 8 Zu Zweifeln bspw. BVerfGE 80, 54 (59); 86, 52 (57); zur Auslegung BVerfGE 70, 134 (137); 78, 20 (24); 87, 114 (133).

V. Entscheidungserheblichkeit Des Weiteren müssten die vorgelegten Normen entscheidungs-erheblich sein, Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 2 S. 1 BVerf-GG. Das sind sie, wenn das vorlegende Gericht bei Gültigkeit der Norm anders entscheiden würde als bei Ungültigkeit.9

Im konkreten Fall würde das VG Bremen den Anfech-tungsklagen bei Ungültigkeit stattgeben, wodurch die Kläger nicht mehr zur Zahlung verpflichtet wären. Bei Gültigkeit wären die Anfechtungsklagen hingegen unbegründet. Somit sind die Normen entscheidungserheblich. VI. Form (keine Frist) Die Vorlage hat schriftlich, mit einer ausführlichen Begrün-dung und unter Beifügen der Akten zu erfolgen, § 80 Abs. 2 BVerfGG. VII. Zwischenergebnis Die konkrete Normenkontrolle ist zulässig. B. Begründetheit Die konkrete Normenkontrolle ist begründet, wenn § 6 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 BremStKG mit höherrangi-gem Recht unvereinbar ist. I. Prüfungsmaßstab Prüfungsmaßstab bei formellem Landesrecht ist sämtliches höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz. Vorlie-gend geht es um die „Verfassungsmäßigkeit“ der vorgelegten Normen, also um die Vereinbarkeit mit dem GG. Dabei wer-den sämtliche verfassungsrechtliche Gesichtspunkte geprüft, nicht hingegen Landesverfassungsrecht, Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG. II. Formelle Verfassungsmäßigkeit Fraglich ist, ob die vorgelegten Normen des BremStKG for-mell verfassungsgemäß sind. Üblicherweise erfolgt die Prü-fung der formellen Verfassungsmäßigkeit nach Gesetzge-bungskompetenz, Gesetzgebungsverfahren und Form. Hier gilt es aber zu beachten, dass Verfahrens- und Formvorschriften für den Erlass eines Landesgesetzes in der jeweiligen Landes-verfassung geregelt werden. Das Landesverfassungsrecht ist aber nicht Prüfungsmaßstab für das Bundesverfassungsge-richt.10 Überprüfbar bleibt allein die Gesetzgebungskompetenz. Denn ob die Länder im Verhältnis zum Bund gesetzgeberisch tätig werden dürfen, bestimmt sich nach dem Grundgesetz. Danach haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz, so-weit sie dem Bund nicht zugewiesen ist, Art. 30, 70 GG.

Eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 73 GG ist nicht ersichtlich. Möglicherweise steht dem Bund aber die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Recht der Studiengebühren zu, wenn diese unter Art. 74

9 BVerfGE 7, 171 (173 f.); ferner BVerfGE 98, 169 (199); 105, 61 (67); 121, 233 (237 f.). 10 Siehe auch die Übersicht zur Normenkontrolle bei Lindner, (Fn. 3 – Öffentliches Recht), Rn. 582.

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Abs. 1 Nr. 33 Alt. 1 GG (Hochschulzulassung) fallen. Dies ist allerdings aus mehreren Gründen zu verneinen. Zunächst fallen Studiengebühren nicht unter den Wortlaut, weil es we-niger um die Zulassung selbst geht, sondern um die Kosten, die sich an die Zulassung anschließen. Darüber hinaus sollten laut Gesetzesbegründung Studiengebühren gerade nicht hier-unter fallen.11

Folglich bleibt es beim Grundsatz der Länderzuständig-keit gem. Art. 30, 70 GG. Das Land Bremen war also für die Erhebung von Studiengebühren zuständig. III. Materielle Verfassungsmäßigkeit Die vorgelegten Normen könnten wegen einer Verletzung von Grundrechten, bzw. grundrechtsgleichen Rechten, mate-riell verfassungswidrig sein.12 Wie in der Vorlage des VG Bremen erwähnt, stehen Studiengebühren generell (1.) sowie in einer Ausgestaltung mit einer Landeskinderklausel (2.) in Frage. 1. Grundrechtsverletzung durch allgemeine Studiengebühren13

Vorüberlegung: Hier stellen sich für die Klausur einige Probleme. Zunächst ist zu überlegen, welche Grundrechte betroffen sein könnten. Dies sind vorliegend Art. 12 Abs. 1 GG und eventuell Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG.14 In einem weiteren Schritt ergibt sich die Frage, welche Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG betroffen ist. Geht es um die Funktion als Abwehrrecht oder als Teil-haberecht? Je nach Blickwinkel könnten Studiengebühren in die freie Wahl der Ausbildungsstätte eingreifen, also Art. 12 Abs. 1 GG in seiner abwehrrechtlichen Funktion als Freiheitsrecht betreffen. Aus einem anderen Blickwin-kel heraus könnten Studiengebühren auch das Recht auf Teilhabe an staatlichen Leistungen beschränken, d.h. gleichheitsrechtlich15 problematisch sein. Für die Bearbei-

11 BT-Drs. 16/813, S. 14 re. Sp.; BVerfGE 112, 226 (243); Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 74 Rn. 129; Kronthaler, WissR 39 (2006), 276 (285 f.). 12 Wesentlichkeitstheorie, Zitiergebot, Gesetzesvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG und Wesensgehaltsgarantie werden nicht thematisiert, da sie sichtlich nicht betroffen sind. 13 Unter allgemeinen Studiengebühren werden solche verstan-den, die grundsätzlich ab dem ersten Semester anfallen und keine Langzeitstudiengebühren oder Verwaltungs-, Einschrei-bungs- und Rückmeldegebühren sind, Dillenburger (Fn. 2), Kap. B. Rn. 117 ff.; siehe auch das Verständnis bei BVerfG NJW 2013, 2498 (insbesondere Rn. 35). 14 Auf eine Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG durch die Bundesländer, welche teilweise keine, teilweise geringere Studiengebühren erheben, kann nicht abgestellt werden. Es handelt sich nicht um denselben Kompetenzträger, unten 2. c) aa); vgl. auch BVerfGE 112, 226 (244 f.). 15 „Teilhaberechte sind Gleichheitsrechte“, Pieroth/Schlink/ Kingreen/Poscher, Grundrechte, Staatsrecht II, 29. Aufl. 2013, Rn. 104, 933 f.; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck

tung ist je nach Entscheidung letztlich die Verletzung ei-nes Freiheitsrechts oder eines Teilhaberechts oder es sind beide Funktionen nebeneinander16 zu prüfen. Hier wird der zuletzt genannte Weg eingeschlagen und folgender Einleitungssatz empfohlen:

Studiengebühren können unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltungen einen Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Ausbildungsfreiheit (a) oder in das von Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG gewährte Teilhaberecht be-deuten (b). a) Art. 12 Abs. 1 GG (Abwehrrecht) Die in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Ausbildungsfreiheit als Abwehrrecht gegenüber staatlichen Beschränkungen wäre ver-letzt, wenn ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung in den Schutzbereich eingegriffen wird. aa) Schutzbereich (1) Sachlich Entgegen seines Wortlauts handelt es sich bei Art. 12 Abs. 1 GG um ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit, gleich-wohl wird aber im Schutzbereich auf die Bereiche Ausbil-dungsstätte, Beruf(sausübung) und Arbeitsplatz Bezug genom-men.17 Ausbildungsstätte ist dabei nicht eng im Sinne einer „Stätte“, sondern weit im Sinne einer freien Wahl und Durch-führung der Ausbildung zu verstehen, wodurch Art. 12 Abs. 1 GG „gegen Freiheitsbeschränkungen im Ausbildungswesen“ schützt.18 Abzugrenzen ist die „Ausbildung“ von der „Bil-dung“.19 Letztere dient gerade nicht einer Qualifikation, die berufsbezogen wäre. Universitäten bezwecken hingegen nicht die allgemeine Bildung, wie etwa Schulen, sondern zielen auf die Befähigung zu bestimmten Berufen ab. Daher gehört auch die freie Wahl der Universität zur freien Wahl der Ausbil-dungsstätte. Indem gleichfalls Studiengebühren mit dem Be-such einer Universität einhergehen und somit im Zusammen-

(Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 12 Rn. 277 f.; siehe auch die Prüfung bei BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 insbesondere Rn. 56, 58). 16 So auch BVerwGE 134, 1 (7 ff. Rn. 18 ff. und 14 ff. Rn. 32 ff.); Kugler, Allgemeine Studiengebühren und die Grundrechte der Studierenden, 2009, S. 14 ff., 52 ff.; Manssen (Fn. 15), Art. 12 Rn. 18; für Langzeitstudiengebühren BVerfGK 7, 465 (471); 477 (481); BVerwGE 115, 32 (36 ff. unter b); vgl. auch BVerfGE 33, 303 (330 f.); Lüthje, JZ 1977, 577 (578); BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 Rn. 38) nennt zwar Abwehr- und Teilhaberecht, prüft aber nur letzteres. 17 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 877 ff.; Manssen, Staatsrecht II, Grundrechte, 10. Aufl. 2013, Rn. 587. 18 BVerfGE 33, 303 (329); Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 888; Schneider, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hand-buch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. V, 2013, § 113 Rn. 76. 19 Dazu Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 889 f.; vgl. auch Schneider (Fn. 18), § 113 Rn. 77.

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Übungsfall: „Landeskinderklausel“ ÖFFENTLICHES RECHT

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hang mit einem darauffolgenden Beruf stehen, schützt Art. 12 Abs. 1 GG auch vor Studiengebühren.20 (2) Persönlich Art. 12 Abs. 1 GG ist ein Deutschengrundrecht, vgl. Art. 116 Abs. 1 GG. Innerhalb der zulässigen Normenkontrolle spielen die konkreten Umstände des Ausgangsfalls keine Rolle, so dass es hier nicht auf die – vom Sachverhalt auch nicht ge-nannte – Staatsangehörigkeit der Kläger ankommt. bb) Eingriff (1) Eingriff, berufsregelnde Tendenz Nach dem allgemein anerkannten modernen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff in jedem staatlichen Handeln, das ein in den Schutzbereich eines Grundrechts fallendes Verhalten ganz oder teilweise unmöglich macht oder erheblich erschwert, gleichgültig, ob dies final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Zwang geschieht.21 Indem durch Studiengebühren Wahl und Abschluss eines Hochschulstudiums an regelmäßige Geld-zahlungen geknüpft werden, wird die freie Wahl der Ausbil-dungsstätte mit eben diesen belastet und damit erschwert.

Des Weiteren ist eine berufsregelnde Tendenz der Beein-trächtigung nötig, um eine Ausuferung des Art. 12 Abs. 1 GG zu vermeiden. Hierfür bedarf es entweder einer final und unmittelbar auf die Berufsfreiheit bezogenen Regelung (sub-jektiv berufsregelnde Tendenz) oder es muss durch die Rege-lung typischerweise eine berufliche Tätigkeit betroffen sein und mit dem Beruf in engem Zusammenhang stehen (objektiv berufsregelnde Tendenz).22 Dass durch allgemeine Studien-gebühren die freie Wahl der Ausbildung reglementiert wer-den soll, lässt sich kaum annehmen. Vielmehr sind sie nur Mittel für andere primär beabsichtigte Ziele, wie die Finan-zierung und den zügigen Abschluss des Studiums. Da die Regelungen aber typischerweise wegen ihrer belastenden Wirkungen die freie Wahl der Ausbildung und damit des Berufs beeinträchtigen bzw. steuern und folglich mit diesen Bereichen in engem Zusammenhang stehen, ist eine objektiv berufsregelnde/ausbildungsregelnde Tendenz erkennbar.23

20 BVerwGE 134, 1 (14 Rn. 32); vgl. auch BVerfGK 7, 465 (471); 477 (481) für Langzeitstudiengebühren; Kugler (Fn. 16), S. 52 ff., dort auch zur a.A. 21 Kloepfer, Verfassungsrecht II, Grundrechte, 2010, § 51 Rn. 31; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 253 ff.; Peine, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grund-rechte, in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 57 Rn. 31. 22 Zum Ganzen etwa BVerfGE 13, 181 (185 f.); 70, 191 (214); 97, 228 (253 f.); 98, 106 (117); 111, 191 (213); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 5), Art. 12 Rn. 14 ff.; Manssen (Fn. 17), Rn. 605 ff.; dies. (Fn. 15), Art. 12 Rn. 74 ff.; Kloepfer (Fn. 21), § 70 Rn. 54 ff. 23 BVerwGE 134, 1 (14 Rn. 32); BVerfGK 7, 465 (471 f.) für Langzeitstudierende; ferner BVerfGE 98, 106 (117); Kugler (Fn. 16), S. 58 ff. Verneinung einer berufsregelnden Tendenz hier faktisch kaum vertretbar.

(2) Drei-Stufen-Lehre Im Bereich der Berufsfreiheit erfolgt die Prüfung der Ange-messenheit anhand einer systematisierten Verhältnismäßig-keitsprüfung, der Drei-Stufen-Lehre.24 Je nach Eingriffsinten-sität (Stufe) ergeben sich gesteigerte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit.

Hinweis: Mit Blick auf den Aufbau lässt sich die Drei-Stufen-Lehre auch erst im Rahmen der Verhältnismäßig-keit prüfen.25 Spätestens muss sie dort aber bei der Erfor-derlichkeit thematisiert werden, da hier möglicherweise ein milderer Eingriff auf niederer Stufe in Frage kommt, der eventuell gleich wirksam ist. Die unterschiedlichen Abstufungen beim legitimen Ziel im Rahmen der Drei-Stufen-Lehre sind dann wenigstens bei der Angemessen-heit/Verhältnismäßigkeit i.e.S. zu prüfen.

Auf erster Stufe liegen Berufsausübungsregelungen, welche das „Wie“ der Berufsausübung betreffen. Sie können durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. Die zweite Stufe betrifft subjektive Zulassungsregelungen, d.h. solche, die die Wahl des Berufs von Kriterien abhängig machen, die in der Person des Betroffenen liegen. Sie können durch gewichtige Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden. Endlich befinden sich auf dritter Stufe die objektiven Zulassungsregelungen, die an objektive, dem Einfluss des Betroffenen entzogene, Kriterien anknüpfen. Eine Rechtferti-gung ist hier nur durch überragende Gemeinwohlbelange möglich.

Studierende könnten von allgemeinen Studiengebühren in Form einer subjektiven Berufswahlregelung (zweite Stufe) betroffen sein, da ohne Zahlung von Studiengebühren durch sie selbst kein bzw. kein weiteres Studium erfolgen kann, also eher die subjektive Zulassung angesprochen ist.26 Ande-rerseits setzen Studiengebühren bei der Berufsausübung an, genauer bei der Ausübung der Ausbildung, weil es um die Modalitäten der Ausübung, also um das „Wie“ auf erster Stufe und weniger um den Zugang zum Hochschulstudium geht.27 Dafür spricht auch, dass Abgaben regelmäßig als bloße Ausübungsregelungen angesehen werden, die aber unter Um- 24 Zur Drei-Stufen-Lehre und zum Folgenden BVerfGE 7, 377 (400 ff. und 405 ff.); 123, 186 (238 f.); Schneider (Fn. 18), § 113 Rn. 144 ff.; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 925 ff.; Manssen (Fn. 17), Rn. 618 ff. 25 Zum Aufbau Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 916 ff., 932. 26 Vgl. BayVGH, Urt. v. 28.3.2011 – 7 B 00.1551, Rn. 26 (juris), bzgl. Zweitstudiengebühren; VGH BW DVBl. 2000, 1782 (1787), bzgl. Langzeitstudiengebühren; Kugler (Fn. 16), S. 63 ff., dort auch m.w.N.; auch BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 Rn. 41 ff.) spricht, allerdings im Zusammenhang mit dem Teilhaberecht, von „Auswahl und Zugang“ zum Hoch-schulstudium, was weniger die Ausübung, sondern die Wahl betrifft. 27 BVerwGE 134, 1 (15 Rn. 33 f.), bezugnehmend auf Ent-scheidungen zu Langzeitstudiengebühren: BVerfGK 7, 465 (471 f.); 477 (481); BVerwGE 115, 32 (38 f.).

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ständen auch Rückwirkungen auf die Wahl haben können.28 Letzteres entspricht der vorliegenden Konstellation. Studien-gebühren alleine sind zwar als Abgaben nur Ausübungsrege-lungen. Wegen der stets hieran geknüpften Folge einer unter-bleibenden Immatrikulation, bzw. einer späteren Exmatriku-lation, hat die Regelung aber erhebliche Auswirkungen auf die Wahl. Folglich sind auch die Rechtfertigungsanforderun-gen an eine subjektive Berufswahlregelung auf zweiter Stufe zu berücksichtigen.29 cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Der Eingriff durch die streitigen Normen des BremStKG könnte allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn der Eingriff verhältnismäßig ist. Dazu müsste er einem legitimen Ziel dienen und zur Zielerreichung geeignet, erfor-derlich und angemessen sein. (1) Legitimes Ziel Legitim ist jedes Ziel, das nicht ausdrücklich von Verfassungs wegen missbilligt ist. Bremen verfolgte mit der Erhebung von Studiengebühren die Finanzierung der Studienangebote. Die Finanzierung von Studienangeboten ist ohne weiteres ein legitimes Ziel, ebenso das Anliegen, Studierende zu einem zügigeren Studienabschluss anzuhalten.30 (2) Geeignetheit Geeignet zur Zielerreichung sind alle Maßnahmen, die dafür zumindest förderlich sind. Hier kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu.31 Die Begründung neuer Geld-leistungspflichten für staatliche Leistungen ist zu deren Fi-nanzierung förderlich und damit eine geeignete Maßnahme, zumal die dadurch erzielten Einnahmen zweckgebunden für eine Verbesserung der Studienbedingungen zu verwenden sind. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese ebenfalls zu einem zügigeren Studienabschluss führen und hierfür geeignet sind.32 (3) Erforderlichkeit Eine Maßnahme ist dann erforderlich, wenn keine milderen, aber gleich wirksamen Mittel zur Zielerreichung zur Verfü-

28 Vgl. BVerfGE 13, 181 (184 ff.); 11, 30 (43 ff.); 98, 106 (117). 29 Hier sind beide Ansichten gut vertretbar. Zwingend hat aber eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen – auch wenn man der Drei-Stufen-Lehre zunehmend die Relevanz abspricht, wie statt einiger Schneider (Fn. 18), § 113 Rn. 131 f., 137. 30 Vgl. auch BVerwGE 134, 1 (15 f. Rn. 35); BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 46); für Langzeitstudiengebühren BVerfGK 7, 465 (472 f.); 477 (482 f.). 31 Dazu etwa BVerfGE 77, 84 (106); 121, 317 (356 f.); Jarass (Fn. 22), Art. 12 Rn. 50 f.; Merten, in: Merten/Papier (Fn. 21), § 68 Rn. 45; auch zur Verhältnismäßigkeit insgesamt Voß-kuhle, JuS 2007, 429. 32 Siehe auch BVerwGE 134, 1 (16 Rn. 36); BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 46); Kugler (Fn. 16), S. 70 ff.

gung stehen. An kreativen, weniger einschneidenden Alterna-tiven besteht gewiss kein Mangel, angefangen vom gänzli-chen Verzicht auf Studiengebühren über deren Reduzierung bis hin zu Darlehenskonstruktionen. Jedoch ist zu berücksich-tigen, dass diese Mittel gleich wirksam sein müssen, was im Hinblick auf eine Verbesserung der Finanzlage und einem gegebenenfalls beschleunigten Studium nur behauptet werden kann. Insbesondere ist bei der Entscheidung des Gesetzge-bers, Studiengebühren in dieser Art und Höhe einzuführen, dessen weite Einschätzungsprärogative zu berücksichtigen. Von einer erforderlichen Maßnahme ist daher auszugehen.33 (4) Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit i.e.S. Letztlich wäre der Eingriff auch angemessen, wenn das Mittel (Studiengebühren) nicht außer Verhältnis zum damit verfolg-ten Ziel stünde. Eingriffe in die Berufsausübung bedürfen ver-nünftiger Gründe des Allgemeinwohls. Da aber hier Studien-gebühren auch subjektiven Berufswahlregelungen ähneln, müssen auch gewichtige Gründe des Allgemeinwohls ersicht-lich sein.

Art. 12 Abs. 1 GG kommt mit seinen Ausprägungen, na-mentlich der Ausbildungsfreiheit, wegen seines Bezugs zum Wirtschaftsleben und der Persönlichkeit des Bürgers eine ganz erhebliche Bedeutung zu.34 Gleiches wird man auch für das Interesse eines Landes annehmen müssen, ausreichende finanzielle Mittel für die Hochschulen vorzuhalten, um so Bildung und damit auch Wohlstand zu mehren. Ein solches Ziel ist ein gewichtiger Allgemeinwohlbelang, da er wiede-rum im Zusammenhang mit der erwähnten Bedeutung von Beruf und Ausbildung steht. Auch eine Beschleunigung des Studiums fällt in der Konsequenz hierunter. Die Ausbildungs-freiheit andererseits ist aber auch nicht unerheblich beein-trächtigt, denn 500 € pro Semester sind für Studierende eine spürbare Größe35. Jedoch ist diese Größe noch nicht erkennbar unzumutbar oder gar abschreckend und kann durch Härtefall-regelungen, je nach Einzelfall, in sozialer Hinsicht abgemil-dert werden, was zur Angemessenheit beiträgt.36 Des Weiteren erhalten die Zahlenden durch die verbesserte Finanzlage vor-teilhaftere Studienbedingungen. Nach Abwägung der gegen-überstehenden Belange stehen Studiengebühren nicht außer Verhältnis zu den damit verfolgten Zielen, sie sind mithin angemessen.37 33 BVerwGE 134, 1 (16 Rn. 37); BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 46); siehe auch Kugler (Fn. 16), S. 72 ff., m.w.N. zu eventuell gleich wirksamen, aber milderen Mitteln; für Langzeitstudiengebühren BVerfGK 7, 465 (472 f.); 477 (482). 34 BVerfGE 7, 377 (404); 30, 292 (334); 71, 183 (201); Diet-lein, in: Stern (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. IV/1, 2006, S. 1765 f.; Schneider (Fn. 18), § 113 Rn. 1 ff. 35 BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 47 ff.); dort auch m.w.N. 36 Zur Angemessenheit auch BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 49 f., Rn. 51 ff.); BVerwGE 134, 1 (16 f. Rn. 38); Kugler (Fn. 16), S. 74 f. 37 A.A. schwer vertretbar, vor allem mit Blick auf die Härte-fallregelungen.

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dd) Zwischenergebnis Die Erhebung von allgemeinen Studiengebühren ist verhält-nismäßig und verletzt nicht Art. 12 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Abwehrrecht. b) Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG (Teilhaberecht) Darüber hinaus ist fraglich, ob Art. 12 Abs. 1 GG auch in seiner Funktion als Teilhaberecht an staatlichen Leistungen verletzt ist. Dazu ist zunächst der Gehalt dieses Teilhaberechts zu bestimmen, sodann dessen Beeinträchtigung zu prüfen und anschließend nach einer verfassungsrechtlichen Rechtferti-gung zu fragen.

Hinweis: Dieser Teil gestaltet sich aus aufbautechnischer Sicht als problematisch. Ein Prüfungsschema für Teilhabe-rechte gibt es nicht. Außerdem handelt es sich bei Teilha-berechten, auch im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG, um Gleichheitsrechte.38 Daher bietet es sich an, grob nach den eben beschriebenen Punkten zu gliedern.39

aa) Inhalt des Teilhaberechts Wenn der Staat Studienangebote schafft, folgt hieraus, dass jeder mit den entsprechenden Zulassungsvoraussetzungen ein Recht auf freien und gleichen Zugang zum Hochschulstudium hat, Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG).40 Hierbei handelt es sich nicht um ein originäres Teilhaberecht auf Schaffung solcher Einrichtungen oder Schaffung eines Platzes in dieser, sondern um ein derivatives Recht auf Teil-habe.41 Das bedeutet aber nicht, dass aus dem Teilhaberecht auch ein Anspruch auf Kostenfreiheit des Hochschulstudiums resultiert, vielmehr folgt aus Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozial-staatsprinzip, dass die Gebühren nicht abschreckend sein dür-fen und sozial verträglich (chancengleich) ausgestaltet sein müssen.42 Konkret darf der Hochschulzugang nicht von den Besitzverhältnissen der Eltern abhängen, was durch für alle tragbare Kosten oder mittels eines Förderungssystems zu er-

38 Siehe bereits Fn. 15. 39 Vgl. Haghgu, in: Pieroth (Hrsg.), Hausarbeit im Staatsrecht, Musterlösungen und Gestaltungsrichtlinien für das Grundstu-dium, 2. Aufl. 2011, Hausarbeit 7 Rn. 4 ff.; wohl vergleich-barer Aufbau bei BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 f. Rn. 36 ff. 45 ff.); weniger gelungen VGH BW DÖV 2000, 874 (875 ff. unter 3.), der ein Teilhaberecht nach Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung prüft; dazu kritisch Kugler (Fn. 16), S. 55. 40 BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 Rn. 37 ff.); BVerfGE 85, 36 (53 f.); 33, 303 (331 f.); BVerwGE 134, 1 (7 ff. Rn. 18 ff.). 41 Siehe Fn. 40; Mann/Worthmann, JuS 2013, 385 (388). 42 BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 Rn. 39 ff.); BVerfGE 112, 226 (245); BVerwGE 134, 1 (7 f. Rn. 19 f.); Manssen (Fn. 15), Art. 12 Rn. 18.

reichen ist – auch persönlich oder gesellschaftlich Benachtei-ligte müssen berücksichtigt werden.43 bb) Beeinträchtigung des Teilhaberechts Indem die Zahlung von Studiengebühren zur Voraussetzung für den Hochschulzugang gemacht wird, bzw. als begleitende Zahlungspflicht zu erfüllen ist, wird schließlich das Recht auf freie Teilhabe beeinträchtigt, da es nur nach vorheriger Zah-lung in Anspruch genommen werden kann. Der Teilhabe werden je nach betroffenem Studierenden unterschiedlich schwere Hindernisse bereitet, die nur im Grad, nicht aber in ihrer Existenz differieren. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Möglicherweise ist die Beeinträchtigung der freien (und glei-chen) Teilhabe verfassungsrechtlich gerechtfertigt, maßgeb-lich ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch hier muss die Beschränkung einem legitimen Ziel dienen, geeignet, erforderlich und angemessen sein.44 Hinsichtlich der ersten drei Prüfungspunkte der Verhältnismäßigkeit kann nach oben verwiesen werden.

Studiengebühren in Höhe von 500 € wirken trotz ihrer nicht unerheblichen Belastung nicht nachweislich prohibitiv oder abschreckend. Auch die soziale Verträglichkeit und da-mit die Chancengleichheit ist durch die flankierenden Härte-fallregelungen gewahrt.45 So kann Einzelfallgerechtigkeit er-reicht werden und dem Anspruch aller Studierenden auf eine chancengleiche Teilhabe am Hochschulwesen Genüge getan werden. Insofern sprechen die besseren Argumente für die Angemessenheit. Die Beeinträchtigung des Teilhabrechts ist somit gerechtfertigt. Eine Grundrechtsverletzung liegt nicht vor. c) Art. 3 Abs. 1 GG Sonstige gleichheitsrechtliche Probleme, z.B. bei einheitlichen Studiengebühren für unterschiedlich anspruchsvolle Studien-gänge, sind nicht ersichtlich.46 d) Zwischenergebnis Die Erhebung von allgemeinen Studiengebühren verstößt nicht gegen Grundrechte. 2. Grundrechtsverletzung durch Landeskinderklausel In einem zweiten Schritt bleibt zu prüfen, ob die Ausgestaltung der zulässigen allgemeinen Studiengebühren in Form einer Landeskinderklausel Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzt. 43 BVerfG NJW 2013, 2498 (2499 Rn. 43); BVerfGE 33, 303 (334 f.); 45, 376 (387); 112, 226 (245); BVerwGE 134, 1 (8 ff. Rn. 20 ff.). 44 Dazu und zum Folgenden BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 45 ff.). 45 BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 Rn. 51 ff.), dort auch m.w.N. und Daten. A.A. bzgl. der Angemessenheit auch hier schwer vertretbar. 46 Dazu z.B. Kugler (Fn. 16), S. 82 ff.

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a) Art. 11 Abs. 1 GG47 Durch die Gebührenpflicht von Auswärtigen könnte in das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG eingegriffen werden. Dieses erfasst und schützt die freie Wohnsitz- und Aufenthaltsnahme im gesamten Bundesgebiet.48 In negativer Hinsicht wird das Recht geschützt, an seinem Wohnsitz zu verweilen49 und nicht durch Zahlungspflichten zur Änderung des Wohnsitzes veranlasst zu werden. In persönlicher Hinsicht sind nur Deutsche erfasst, Art. 11 Abs. 1 GG, 116 Abs. 1 GG.

Somit knüpfen Studiengebühren an den Wohnsitz negative Folgen in Form von Geldleistungspflichten, welche die freie Wohnsitzwahl (den Verbleib) beeinträchtigen. Diese Beein-trächtigung muss in konsequenter Anwendung des modernen Eingriffsbegriffs auch als Eingriff gewertet werden. Schließ-lich knüpft die Studienkontenregelung gerade spezifisch an den Wohnsitz an.50

Dieser Eingriff ist nicht zu rechtfertigen, weil der qualifi-zierte Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG Anforderun-gen enthält, auf welche sich die Studienkontenregelung gerade nicht bezieht. Einnahmeerzielung und ggf. ein zügigeres Stu-dium sind dort nämlich nicht als tauglich benannt. Art. 11 Abs. 1 GG ist also verletzt. b) Art. 2 Abs. 1 GG Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt als allgemeines Frei-heitsrecht hinter das besondere Freiheitsrecht der Freizügig-keit zurück. c) Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG (Teilhaberecht) Durch die Landeskinderklausel könnte das Teilhaberecht auf freien und gleichen Hochschulzugang verletzt sein, Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.

Vorerst ist aber zu klären, ob nicht auch die abwehrrecht-liche Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG betroffen ist.51 Man könnte annehmen, dass Studierende ihren Ausbildungsplatz

47 Ausführlich zu Art. 11 Abs. 1 GG und zum Folgenden das vorlegende VG Bremen, Beschl. v. 17.9.2007 – 6 K 1577/06 u.a., Rn. 76 ff. (juris). Auch wenn der Schwerpunkt bei der Landeskinderklausel im gleichheitsrechtlichen Bereich liegt, sollte Art. 11 Abs. 1 GG zumindest kurz geprüft werden. Gleichwohl wird das Grundrecht insbesondere seitens der Rspr. häufig ausgeklammert. 48 BVerfGE 2, 266 (273); 80, 137 (150); Pieroth, JuS 1985, 81 (82 f.). 49 Deutlich jüngst BVerfG, Urt. v. 17.12.2013 – 1 BvR 3139/08, 1 BvR 3386/08, Rn. 254 (juris); Wollenschläger, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 11 Rn. 37; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 867. 50 Gegen einen Eingriff etwa BVerwG, Beschl. v. 9.4.2009 – 6 B 80/08, Rn. 5 (juris); Durner, in: Maunz/Dürig, Grundge-setz, Kommentar, 69. EL (Mai 2013), Art. 11 Rn. 119. 51 Allgemein zur Abgrenzung etwa Jarass (Fn. 22), Art. 3 Rn. 3; Manssen (Fn. 15), Art. 12 Rn. 90, 276 ff.; zu Studien-gebühren mit Landeskinderklausel Kugler (Fn. 16), S. 164 ff.; direkt wie hier im Folgenden BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 ff. Rn. 55 ff.).

nicht mehr frei wählen können, weil andere Studierende we-gen ihres Wohnsitzes keine Studiengebühren zu entrichten haben. Zwar können Gleichheitsrechte neben Freiheitsrechten Anwendung finden.52 Hier aber liegt die Beeinträchtigung, gewissermaßen auch der Schwerpunkt, darin, dass eine Grup-pe belastet wird, die andere aber nicht. Bei einer abwehr-rechtlichen Betrachtung würde sich die Beurteilung der Be-einträchtigung darin erschöpfen, dass Studiengebühren zu zahlen sind (oben bei Art. 12 Abs. 1 GG) oder dass in die Freizügigkeit eingegriffen wird (eben bei Art. 11 Abs. 1 GG). Dass eine andere Gruppe keine zu entrichten hat, kann ab-wehrrechtlich schwerlich berücksichtigt werden. Mithin geht es um eine Ungleichbehandlung und folglich um gleichheits-rechtliche Belange.

Somit ist zu prüfen, ob der allgemeine Gleichheitssatz anwendbar ist und ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird.53

Hinweis: Zwar wird hier, wie auch oben, die teilhabe-rechtliche Dimension des Art. 12 Abs. 1 GG geprüft. Dennoch bietet es sich nach dem eben Erwähnten an, den Prüfungsaufbau für Art. 3 Abs. 1 GG zu wählen.

aa) Anwendbarkeit Gleichheitssätze sind nur innerhalb desselben Kompetenzbe-reichs anwendbar. Es muss also derselbe Kompetenzträger diskriminieren, ein Vergleich der Handlungen verschiedener Kompetenzträger kann nicht erfolgen.54 Daraus folgt, dass ein Vergleich nur innerhalb der Rechtsetzungsgewalt Bremens erfolgen kann, nicht aber im Hinblick auf die Praxis zu Stu-diengebühren in anderen Bundesländern. bb) Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte (1) Bestimmung der Vergleichsgruppen Hier sind Landeskinder mit Auswärtigen im Hinblick auf die Heranziehung zu Studiengebühren zu vergleichen. (2) Bestimmung der Vergleichsmerkmale Die beiden Gruppen trennt zwar einerseits das Merkmal des Wohnorts. Andererseits sind ganz wesentliche Merkmale iden-tisch, nämlich geht es um denselben Studienort und dieselbe Inanspruchnahme des Studienangebots.

52 Siehe oben unter III. 1. 53 BVerfGE 98, 365 (385 f.); 79, 1 (17); 126, 400 (416); BVerfG NJW 2013, 2498 (2500 ff. Rn. 56 f.); Prüfungs-schema ferner angelehnt an Manssen (Fn. 17), Rn. 818 ff. und Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Kommentar zum GG, 2. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 9 ff. 54 BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 62); BVerfGE 93, 319 (351); 10, 354 (371); Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 463.

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Übungsfall: „Landeskinderklausel“ ÖFFENTLICHES RECHT

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(3) Bildung eines gemeinsamen Oberbegriffs Beide Gruppen befinden sich im Hinblick auf ihre Ausbil-dung in einer vergleichbaren Lage.55 Die eben beschriebenen wesentlichen und verbindenden Vergleichsmerkmale recht-fertigen es, beide Gruppen unter den gemeinsamen Oberbe-griff „in Bremen Studierende“ zu fassen. (4) Feststellung der Ungleichbehandlung trotz Gleichheit Die unter den gemeinsamen Oberbegriff „in Bremen Studie-rende“ zu fassenden Gruppen werden allerdings im Hinblick auf die Gebührenpflichtigkeit unterschiedlich behandelt, ob-wohl sie wesentlich gleich sind. Denn nur auswärtige Studie-rende sind vom dritten bis zum 14. Semester gebührenpflich-tig. Somit liegt eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vor, was einer verfassungsrechtlichen Rechtferti-gung bedarf.56 Diese ist im nächsten Schritt zu prüfen. cc) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Ursprünglich erfolgte hier lediglich eine Willkürkontrolle im Hinblick auf das Vorliegen eines sachlichen Grundes.57 Mit der „neuen Formel“ des Bundesverfassungsgerichts richten sich nunmehr die Rechtsfertigungsanforderungen nach der Intensität der Ungleichbehandlung.58

Bei geringerer Intensität der Ungleichbehandlung ist diese schlicht einer Evidenz- und Willkürkontrolle zu unterziehen und ein sachlicher Grund erforderlich. Liegt eine größere Intensität vor, bedarf es einer Verhältnismäßigkeitsprüfung und gewichtiger sachlicher Gründe.

Dabei wächst die Intensität der Ungleichbehandlung durch folgende Aspekte: personenbezogene statt sachbezogene Dif-ferenzierung; Kriterien nach Art. 3 Abs. 3 GG sind betroffen; der Betroffene kann die Kriterien nicht beeinflussen; die Un-gleichbehandlung erschwert den Freiheitsgebrauch.

Zwar können die Studierenden durch Umzug die Ungleich-behandlung beeinflussen, was für eine geringere Intensität spricht.59 Dennoch ist es überzeugender, eine intensivere Un-gleichbehandlung anzunehmen. Schließlich betreffen Studien-gebühren auch die Person in ihrer eigenen Ausbildung und erschweren mit dem Anknüpfen an den Wohnsitz den Frei-heitsgebrauch nach Art. 11 Abs. 1 GG. Ferner ist das Teilhabe-recht auf freien und gleichen Zugang zum Hochschulstudium betroffen. Hieraus folgt somit ein strengerer Rechtfertigungs-maßstab im Hinblick auf die anzustellende stufenlose Ver-hältnismäßigkeitsprüfung.60

55 Vgl. BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 59). 56 Vgl. BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 58 ff.). 57 Siehe nur BVerfGE 1, 14 (52); 50, 142 (162); zur Willkür- und neuen Formel Sodan (Fn. 53), Art. 3 Rn. 13 ff., dort auch zum Folgenden. 58 BVerfGE 55, 72 (88 ff.); 107, 27 (45 f.); 122, 39 (52 f.); Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 470 ff.; Mans-sen (Fn. 17), Rn. 844 ff.; dort auch jeweils zum Folgenden. 59 Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (244). 60 BVerfGE 33, 303 (329 ff., 352 f.); 88, 87 (96); BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 57).

Hinweis: Kommt es im Verhältnis zwischen abwehr- und teilhabe-/gleichheitsrechtlicher Dimension zu Überschnei-dungen, ist, wie oben geschehen, auf den Schwerpunkt der Betroffenheit abzustellen. Ist keiner auszumachen, stehen beide nebeneinander (Idealkonkurrenz). Falls doch, ist der besondere Inhalt des nicht anzuwenden Grundrechts aber zu berücksichtigen.61

(1) Legitimes Ziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit Bei den Fragen nach dem legitimen Ziel, der Geeignetheit und der Erforderlichkeit gilt das oben zu Art. 12 Abs. 1 GG Ausgeführte grundsätzlich entsprechend.

Jedoch ist abweichend zu oben im Hinblick auf die Ge-eignetheit zu beachten, dass die Erhebung von Studiengebüh-ren zwecks vermehrten Zuzugs nach Bremen, und somit er-höhten Finanzzuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich, nicht geeignet sind, zu einer verbesserten Hochschulfinanzie-rung beizutragen.62 Denn es besteht kein Zusammenhang zwischen zusätzlichen Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich und damit erhöhten Hochschulmitteln. Zunächst dienen die Zuweisungen dem allgemeinen Finanzbedarf, d.h. nicht der Hochschulfinanzierung. Außerdem fließen zuerst alle Zuwei-sungen in den Haushalt des Landes Bremen. Dort kann der Bremische Haushaltsgesetzgeber in eigener Verantwortung über die Verwendung dieser Finanzmittel disponieren. Er ist also dafür maßgeblich, wie viele Mittel für die Hochschulen zur Verfügung gestellt werden, nicht der Länderfinanzaus-gleich. Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass jeden-falls ein mittelbarer Zusammenhang besteht, welchem der Gesetzgeber im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative Rechnung tragen darf.63 Denn der Sachzusammenhang ist durch das Dazwischentreten des Haushaltsgesetzgebers unter-brochen. Folglich ist die von Bremen verwendete Regelung zu den Studiengebühren zwar eventuell geeignet, höhere Mittel aus dem Länderfinanzausgleich zu erhalten, mit ihr kann aber nicht automatisch das Ziel erreicht werden, die Finanzlage der Hochschulen zu verbessern.

Zu prüfen bleibt damit, ob die Erhebung von Studienge-bühren von Auswärtigen, im Gegensatz zu Landeskindern, im Hinblick auf die unmittelbare Finanzierung durch Studienge-bühren, d.h. nicht mittelbar durch den Zuzug nach Bremen, angemessen war. (2) Angemessenheit Grundsätzlich sind die Länder nicht daran gehindert, unter-schiedliche Regelungen im Hinblick auf ihre Hochschulen zu treffen, was aus dem Bundesstaatsprinzip folgt.64 Da dem Hochschulwesen aber auch eine gesamtstaatliche Dimension

61 Vgl. BVerfGE 65, 104 (113); BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 57); zu diesem Konkurrenzverhältnis statt vieler Jarass (Fn. 22), Art. 3 Rn. 3. 62 BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 f. Rn. 66 ff.); dort auch zum Folgenden. 63 So aber Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (245 ff.). 64 BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 63), zu diesem födera-len Aspekt.

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zukommt, verlangt dies, dass die Länder untereinander be-sonders Rücksicht nehmen.

Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, dass nicht alle Studiengänge in allen Ländern angeboten werden, es folglich unzulässig ist, pauschal nach Ländern zu differenzieren.65 Letztlich nehmen Auswärtige das Studienangebot wegen ihres Wohnsitzes genauso in Anspruch wie Landeskinder.66 Mithin entstehen durch unterschiedliche Wohnsitze keine erhöhten Kosten, welche mit besonderen Gebühren für Auswärtige kompensiert werden müssten. Im Ergebnis ist es nicht ange-messen, Auswärtige anders als Landeskinder zur Finanzie-rung des Hochschulangebots heranzuziehen.

Somit ist die Ungleichbehandlung unangemessen und da-mit verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.67 dd) Zwischenergebnis Die Landeskinderklausel verletzt Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.

Da Art. 12 Abs. 1 GG aber hier in der teilhaberechtlichen Dimension berührt ist und Art. 11 Abs. 1 GG als Abwehr-recht, können beide nebeneinander stehen (Idealkonkurrenz). d) Art. 33 Abs. 1 GG Indem Auswärtige, nicht aber Landeskinder, Studiengebühren zahlen müssen, könnte Art. 33 Abs. 1 GG verletzt sein, wo-nach jeder Deutsche in jedem Land die gleichen staatsbürger-lichen Rechte und Pflichten besitzt.

Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten meinen „das ge-samte Rechtsverhältnis des Staatsbürgers zum Staat“, auch das Ausbildungsverhältnis zur Hochschule eines Landes.68 Jedoch gibt es eine gesetzlich geregelte formelle Landesstaats-bürgerschaft nicht (mehr).69 Gleichwohl muss es eine der Landesstaatsbürgerschaft vergleichbare materielle Landeszu-gehörigkeit geben, um Art. 33 Abs. 1 GG nicht leerlaufen zu lassen und um an ein für die Staatsqualität der Länder nötiges Staatsvolk anzuknüpfen.70 Hierfür werden überwiegend Kri-terien wie die Abstammung von Landesangehörigen, der Ge-burtsort oder der Wohnsitz herangezogen. Freilich ist umstrit-ten, welche Anforderungen im Hinblick auf die Dauer des

65 BVerfGE 33, 303 (355 f.); 37, 104 (119 f.); BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 63). 66 BVerfG NJW 2013, 2498 (2501 Rn. 65); Kugler (Fn. 16), S. 194. 67 A.A. nur mit sehr guter Begründung vertretbar. Im Origi-nalfall erging die Entscheidung zu diesem Grundrecht mit 6:2 Stimmen, BVerfG NJW 2013, 2498 (2502 Rn. 69). 68 Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 53. EL (Oktober 2008), Art. 33 Rn. 6; Battis, in: Sachs (Fn. 11), Art. 33 Rn. 15 f.; siehe auch Jachmann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 15), Art. 33 Rn. 5. 69 Siehe nur Jachmann (Fn. 68), Art. 33 Rn. 6. 70 Jarass (Fn. 22), Art. 33 Rn. 3; Kloepfer (Fn. 21), § 59 Rn. 146 f.; Jachmann (Fn. 68), Art. 33 Rn. 6 f.; dort auch jeweils zum Folgenden; a.A. m.w.N. Kunig, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 33 Rn. 7.

Wohnsitzes zu stellen sind. Berücksichtigt man, dass von einer Landeszugehörigkeit nur sinnvoll bei einem hinreichend festen Bezug zum jeweiligen Land gesprochen werden kann, muss der Wohnsitz einen längeren Zeitraum umfassen.71

Daraus kann aber nicht automatisch gefolgert werden, dass die Wohnsitznahme für ein Studium nicht zur Landes-zugehörigkeit führt und somit Art. 33 Abs. 1 GG durch eine entsprechende Landeskinderklausel nicht tangiert wird.72 Da-von geht auch die überwiegende Meinung jedenfalls still-schweigend, wenn sie sich mit Fragen der Rechtfertigung befasst.

Entscheidend sind unterschiedliche Konstellationen anhand der Dauer des Wohnsitzes zu differenzieren. Sind Auswärtige aufgrund ihres längeren Wohnsitzes Zugehörige eines ande-ren Landes und Landeskinder aufgrund des ihrigen Zugehöri-ge Bremens, würde die Ungleichbehandlung im Bereich der Studiengebühren Art. 33 Abs. 1 GG beeinträchtigen. Wäre der jeweilige Wohnsitz aber nicht lange genug in demselben Bundesland, würde es an der Landeszugehörigkeit fehlen und eine nach Art. 33 Abs. 1 GG relevante Ungleichbehandlung ausscheiden.

Zur Verdeutlichung: Auswärtige haben ihren (Haupt-) Wohnsitz außerhalb Bremens. Landeskinder sind aber schon dann solche, wenn sie erstmalig, nicht unbedingt längerfristig, ihren (Haupt-)Wohnsitz in Bremen nehmen. Folglich wären sie Landeskinder, mangels entsprechender Dauer des Wohn-sitzes aber nicht Landeszugehörige i.S.v. Art. 33 Abs. 1 GG.73 Es bestünde also keine Ungleichbehandlung zwischen Landeszugehörigen, denn die jetzigen Landeskinder sind keine Landeszugehörigen nach Art. 33 Abs. 1 GG. Art. 33 Abs. 1 GG kann also im vorliegenden nur Fall greifen, wenn Landes-kinder einen derart langen Wohnsitz in Bremen besitzen, dass sie auch Landeszugehörige nach Art. 33 Abs. 1 GG sind. Nur dann bleibt eine Ungleichbehandlung mit Landeszugehörigen anderer Länder möglich. Ansonsten stehen sich nicht zwei Landeszugehörige unterschiedlicher Länder unter der Rege-lung des bremischen Studienkontengesetzes gegenüber.

Falls eine solche Konstellation gegeben ist, könnte jene Beeinträchtigung in Form einer Ungleichbehandlung grund-sätzlich durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden. Sollte in der verbesserten Finanzausstattung der Hochschulen ein solcher Belang gesehen werden, ist die Un-gleichbehandlung aber aus den oben dargelegten Gründen unverhältnismäßig.74

71 So die wohl h.M.; siehe zum Ganzen statt vieler nur Jarass (Fn. 22), Art. 33 Rn. 3. 72 Dahingehend anscheinend Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (241); ähnlich wie hier aber Kugler (Fn. 16), S. 180 f. A.A. mit entsprechender Begründung vertretbar. 73 Siehe auch Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (241); Kugler (Fn. 16), S. 180 f. 74 (Allgemein) zur Rechtfertigung Kloepfer (Fn. 21), § 59 Rn. 149 f.; Jachmann (Fn. 68), § 33 Rn. 10; Jarass (Fn. 22), Art. 33 Rn. 6 f.; siehe i.E. ebenso Badura, in: Maunz/Dürig (Fn. 50), Art. 33 Rn. 16.

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Art. 33 Abs. 1 GG kann durch die Studienkontenregelung verletzt werden. Das grundrechtsgleiche Recht sichert die Frei-zügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG ab und steht neben ihr.75 e) Art. 3 Abs. 3 S. 1GG Auch der besondere Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ist im Hinblick auf „Heimat“ und „Herkunft“ durch eine Differenzierung nach Landeskindern und Auswärtigen nicht berührt.

Heimat meint die örtliche Herkunft, verstanden als emoti-onale Beziehung zu einem bestimmten Ort,76 sodass der Wohnsitz und folglich auch Landeskinderklauseln eigentlich nicht erfasst werden.77 Anders liegt es aber, wenn der Wohn-sitz mit der Heimat zusammenfällt. Dann gilt das gerade zu Art. 33 Abs. 1 GG Gesagte. Eine Rechtfertigung würde aus-scheiden.

Die Frage nach dem Wohnsitz betrifft aber jedenfalls nicht die Herkunft, welche sich auf eine ständische Zugehö-rigkeit bezieht.78 Denn die Regelung steht nicht in einem Zusammenhang mit der sozialen Herkunft.

Insgesamt verdrängt Art. 33 Abs. 1 GG nicht Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG – beide ergänzen sich.79 f) Art. 3 Abs. 1 GG Der Gehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes wurde bereits oben bei Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG ge-prüft.80 Im Übrigen tritt er hinter speziellen Gleichheitssätzen zurück.

Hinweis: In der zu Grunde liegenden Originalentscheidung prüft und erwähnt das Bundesverfassungsgericht durch-weg nur Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG (i.V.m. Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 GG).

Gesamtergebnis Während allgemeine Studiengebühren mit Grundrechten ver-einbar sind, ist die in § 6 S. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 und § 2 Abs. 1 BremStKG normierte „Landeskinderklausel“ verfassungswid-rig. Das Bundesverfassungsgericht wird die Normen für mit dem GG unvereinbar und nichtig erklären, § 82 Abs. 1 BVerf-GG i.V.m. § 78 S. 1 BVerfGG.

75 Siehe nur Battis (Fn. 68), Art. 33 Rn. 9. 76 BVerfGE 5, 17 (22); 48, 281 (287); 102 , 41 (53 f.). 77 Vgl. BVerfGE 48, 281 (287); Osterloh, in: Sachs (Fn. 11), Art. 3 Rn. 296; Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (242). 78 BVerfGE 9, 124 (129); 48, 281 (287 f.); Heun, in: Dreier (Fn. 49), Art. 3 Rn. 132; Pieroth, WissR 40 (2007), 229 (242). 79 Battis (Fn. 68), Art. 33 Rn. 9; Jachmann (Fn. 68), Art. 33 Rn. 3; Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 461, 507. 80 Zur Konkurrenz Manssen (Fn. 15), Art. 12 Rn. 277 f.; allgemeiner Dreier, in: Dreier (Fn. 49), Vorb. Art. 1 Rn. 155 sowie Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher (Fn. 15), Rn. 346 ff.

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Zwischenprüfungsklausur im Strafprozessrecht: Private Investigations Von Dipl.-Jur. Christopher Schöpe, Göttingen* Diese Klausur wurde im Wintersemester 2013/2014 als Zwi-schenprüfungsklausur im Strafprozessrecht an der Georg-August-Universität Göttingen gestellt. Schwerpunkte sind die Verwertbarkeit privatdeliktisch erlangter Beweismittel und die Rechtweite der Opportunitätseinstellung nach § 153a Abs. 1 StPO. Hinzu treten Fragen zur Weisungsbefugnis des Oberstaatsanwaltes gegenüber den ihm nachgeordneten Staatsanwälten sowie zur Rolle des Verteidigers. Im Durch-schnitt wurden 6,25 Punkte erzielt; die Misserfolgsquote lag bei 27,41 %. Sachverhalt B ist Gesellschafter-Geschäftsführer eines Bauunternehmens, der B-GmbH. Um sein Gehalt aufzubessern, bezieht er minder-wertige Bauprodukte zu überhöhten Preisen von einem Unter-nehmen U in Osteuropa, welches an B eine hohe Bonuszah-lung zum Jahresende per Verrechnungscheck abführt. Die minderwertigen Bauprodukte lässt B später bei den Kunden der B-GmbH verbauen und stellt sie diesen als „hochwertige Qualitätsware“ in Rechnung. Den Scheck löst er hingegen zu Gunsten eines Privatkontos ein. Während die B-GmbH nur einen äußerst bescheidenen Jahresgewinn ausweisen kann, führt B ein Leben im Überfluss. Der Nachbar des B, Jura-student J, dem während seines Verwaltungspraktikums bei der Finanzdirektion die Steuerbilanz der B-GmbH in die Hände fällt, erkennt sofort eine erhebliche Diskrepanz zwi-schen dem Umsatz der B-GmbH und dem ausschweifenden Lebensstil des B. Er beschließt, den B zu überführen.

Am 1.3.2013 steigt J durch ein offenes Fenster in die Villa des B ein, um sich dort umzusehen. Bei seiner „Spurensuche“ findet er aber keine Geschäftsunterlagen, sondern lediglich einen Zettel mit den Zugangsdaten für ein E-Mail-Postfach, die er sich geistesgegenwärtig notiert. Im Schreibtisch des B entdeckt er zudem eine goldene Taschenuhr, die er spontan – quasi als Honorar für seine Ermittlungsarbeit – einsteckt. Über mehrere Wochen liest J die E-Mails im Postfach des B mit und leitet am 1.5. große Teile der Korrespondenz zwi-schen B und U unter der E-Mail-Adresse des B an Staatsan-walt S weiter. Die E-Mails belegen, dass B von der Minder-wertigkeit der Bauprodukte wusste und sich wegen Untreue (§ 266 Abs. 1 Var. 2 StGB) ggü. der B-GmbH strafbar ge-macht haben könnte. Zudem lassen sie vermuten, dass B die minderwertigen Bauprodukte seinen Kunden als teure Quali-tätsware berechnet hat. Die bei einer späteren Durchsuchung der Geschäftsräume der B-GmbH beschlagnahmten Rech-nungen geben Anlass zur Annahme, dass sich B auch wegen gewerbsmäßigen Betruges (§ 263 Abs. 1, 3 Nr. 1 Var. 1 StGB) strafbar gemacht haben könnte.

Auch der Besuch des J in der Villa bleibt nicht lange un-entdeckt, da er beim Einstieg durch das Fenster von einer

* Der Verf. ist Wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Strafrecht der Georg-August-Universität Universität Göttin-gen bei RiLG Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos.

Überwachungskamera des B gefilmt wurde. Das Fehlen der Taschenuhr bemerkt B zwar nicht, ist sich aber sicher, dass J hinter den mysteriösen E-Mails an S steckt. Mit Schreiben vom 1.6. erstattet V, der Wahlverteidiger des B, daher Straf-anzeige wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) und Ausspähens von Daten (§ 202a StGB) gegen J. Den Haus-friedensbruch räumt J ein, schweigt aber im Übrigen. Weitere Ermittlungen veranlasst S nicht, da er es für aussichtslos hält, J als den anonymen Verfasser der E-Mails zu überführen. Am 1.8.13 fordert ihn sein Vorgesetzter, der leitende Oberstaats-anwalt O, aber auf, unverzüglich gegen J zu ermitteln und diesen in jedem Fall wegen Hausfriedensbruchs und Ausspä-hens von Daten anzuklagen. S befürchtet, dass O seinem Schulfreund B damit einen Gefallen erweisen möchte und dabei übersieht, dass J der Zugriff auf das E-Mail-Postfach wahrscheinlich nicht nachgewiesen werden kann. Frage 1: Muss S die Weisung des O dennoch befolgen? S kann O schließlich davon überzeugen, das Verfahren wegen Ausspähens von Daten nach § 170 Abs. 2 StPO und das Ver-fahren wegen Hausfriedensbruchs nach § 153a Abs. 1 StPO gegen Zahlung einer Geldauflage einzustellen. B ist empört, als er hiervon erfährt. Frage 2: Wie kann B gegen die Einstellungsverfügungen vor-gehen? Die Bemühungen des B bleiben erfolglos. Kurze Zeit später wird auch B die Anklageschrift zugestellt, in der ihm gewerbs-mäßiger Betrug und Untreue vorgeworfen werden. V bean-tragt, die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 204 StPO abzulehnen, weil die Beweismittel der StA unverwertbar seien. Er trägt vor, die Strafverfolgungsbehörden wären auf legalem Wege nie in den Besitz der E-Mails gekommen, weil – was zutrifft – ein Zugriff auf den im Ausland befindlichen E-Mail-Server bzw. die verschlüsselte Kommunikation zwischen dem PC des B und dem Server den Strafverfolgungsbehörden aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich gewesen wäre. Eine Verwertung der E-Mails würde, so V, die Rechtsstaatlichkeit des gesamten Verfahrens in Frage stellen und Dritte dazu animieren, die Strafverfolgung in eigene Hände zu nehmen. Das Verwertungsverbot müsse sich daher auch auf die Rechnungen erstrecken, zu deren Beschlagnah-me es andernfalls nie gekommen wäre. Frage 3: Können die E-Mails und die Rechnungen gegen B verwertet werden? Die Wirtschaftsstrafkammer folgt der Argumentation des V nicht und eröffnet das Hauptverfahren. Jetzt wird es B lang-sam zu heiß und er beschließt, sich ins Ausland abzusetzen. Zur Sicherheit bittet er V, aus einer Liste potenzieller Reise-ziele diejenigen auszuwählen, bei denen das Risiko einer Auslieferung am geringsten ist. V fürchtet seine eigene Be-

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strafung wegen Strafvereitelung (§ 258 Abs. 1 StGB) und erwägt sogar, S zu informieren. Frage 4: Erläutern Sie kurz die Rolle des Verteidigers. Wie sollte V sich verhalten? Am 1.12. entdeckt B im Schaufenster des Pfandleihers P die goldene Taschenuhr, die J am 15.3. bei P versetzt hatte. J wird wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) vor dem Amts-gericht angeklagt. Zu Beginn der Hauptverhandlung bean-tragt er die Einstellung des Verfahrens gem. § 260 Abs. 3 StPO, weil er die Geldauflage bereits erfüllt habe. Frage 5: Wie wird das Amtsgericht über den Antrag des J entscheiden? Lösungsskizze Insgesamt können 54 Punkte erzielt werden. Diese verteilen sich wie folgt: ! Frage 1: 10 Punkte ! Frage 2: 8 Punkte ! Frage 3: 13 Punkte ! Frage 4: 11 Punkte ! Frage 5: 8 Punkte Die verbleibenden 4 Punkte entfallen auf den Gesamteindruck der Arbeit, insbesondere auf das Argumentationsvermögen. Die Gesamtpunktzahl geteilt durch drei ergibt die Gesamt-note.

Hinweise zur Bewertung: Die Klausur hat einen mittleren bis hohen Schwierigkeitsgrad. Eine eigenständige und problemorientierte Argumentation ist besonders zu hono-rieren, wobei es dem Bearbeiter unbenommen bleibt, sich mit Detailwissen zu profilieren. Dabei kommt der Präzision der Antwort gewiss eine höhere Bedeutung zu, als deren Umfang, allerdings werden auch im strafprozessualen Gut-achten – jedenfalls an den Problemschwerpunkten – tref-fende Obersätze, klare Definitionen, eine saubere Sub-sumtion und präzise Normenangaben verlangt.

Frage 1: Muss S die Weisung des O dennoch befolgen? Die Staatsanwaltschaft ist eine hierarchisch organisierte Justiz-behörde, in der die einzelnen Staatsanwälte gem. § 146 GVG den Weisungen ihres Vorgesetzten Folge zu leisten haben. Vorgesetzter ist dabei, wem das Aufsichts- und Leitungsrecht zusteht, § 147 GVG.1 O ist als leitender OStA beim Landge-richt der Vorgesetzte des S und diesem gegenüber mithin weisungsbefugt, § 147 Abs. 3 GVG (sog. internes Weisungs-recht).2 Das Weisungsrecht aus § 146 GVG ist allerdings

1 Beulke, Strafprozessrecht, 12. Aufl. 2012, Rn. 84; Englän-der, Examens-Repetitorium Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2013, § 5 Rn. 48; Volk/ders., Grundkurs StPO, 8. Aufl. 2013, § 6 Rn. 2. 2 Kindhäuser, Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2013, § 5 Rn. 13.

nicht grenzenlos, sondern wird durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) beschränkt.3 Rechtswidrige Weisungen dürfen nicht erteilt werden.4 Die Weisung des O könnte hier aber auf das Legalitätsprinzip gestützt werden (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO) und mithin rechtmäßig sein. Das Legali-tätsprinzip verpflichtet die Staatsanwaltschaft bei Bestehen eines Anfangsverdachts den Sachverhalt zu erforschen und bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts Klage zu er-heben.5 Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn tatsächliche An-haltspunkte die Annahme begründen, dass eine verfolgbare Straftat begangen wurde.6 Das Überwachungsvideo zeigt J beim Einstieg in die Villa und liefert mithin tatsächliche Anhaltspunkte für einen Hausfriedensbruch, den J auch ge-steht. Das einerseits nicht aufgeklärt werden kann, was J in der Villa gesucht hat, kurze Zeit später aber vertrauliche E-Mails aus dem Postfach des B an S übermittelt werden, macht ihn auch des Ausspähens von Daten verdächtigt. Beide Taten können aufgrund des Strafantrags vom 1.6. (vgl. §§ 158 Abs. 2 StPO, 123 Abs. 2, 205 Abs. 1 S. 2 StGB) verfolgt werden, weshalb S aufgrund des Legalitätsprinzips – und da-mit unabhängig von den Beweggründen des O – dazu ver-pflichtet ist, gegen J zu ermitteln.

Zweifelhaft erscheint hingegen, ob S auch wegen beider Tatvorwürfe Anklage erheben muss. Ein für die Erhebung der öffentlichen Klage erforderlicher hinreichender Tatverdacht setzt voraus, dass eine Verurteilung in der Hauptverhandlung bei vorläufiger Tatbewertung wahrscheinlich ist.7 Andernfalls ist das Verfahren nach § 170 Abs. 2 S. 1 StPO einzustellen, wobei der Staatsanwaltschaft kein Ermessensspielraum zu-steht.8 Der Hausfriedensbruch wurde gefilmt und von J später eingeräumt, weshalb eine Verurteilung wahrscheinlich ist. Der Vorwurf des Ausspähens von Daten kann J – den Aus-führungen des S zufolge – aber nicht nachgewiesen werden, sodass ein Freispruch in dubio pro reo wesentlich wahrschein-licher als eine Verurteilung ist. Eine Anklage wegen Ausspä-hens des E-Mail-Postfaches hat daher zu unterbleiben. Auch lässt sich O nach Auffassung des S von sachfremden Erwä-gungen – hier die Freundschaft zu B – leiten. Die Weisung des O, J auch bei Fehlen eines hinreichenden Tatverdachts anzuklagen, ist ermessensfehlerhaft und mithin rechtswidrig.

Ob S die Befolgung einer rechtswidrigen Weisung ver-weigern darf, ist umstritten. Nach allgemeiner Auffassung folgt aus dem Beamtenverhältnis des Staatsanwaltes zunächst die Pflicht, bei seinem Vorgesetzen oder, sofern der Vorge-setzte auf seiner Weisung beharrt, bei dessen Vorgesetzen gegen die Weisung zu remonstrieren (vgl. §§ 63 Abs. 2 BBG, 36 Abs. 2 BeamtStG).9 Bestätigt der Vorgesetzte die Weisung, muss der Staatsanwalt sie nach überwiegender Ansicht befol-

3 BVerfGE 9, 223 (228); Kindhäuser (Fn. 2), § 5 Rn. 15. 4 Beulke (Fn. 1), Rn. 85. 5 Engländer (Fn. 1), § 3 Rn. 17. 6 Engländer (Fn. 1), § 3 Rn. 17. 7 Pflieger, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommen-tar, Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, StPO § 170 Rn. 2. 8 Volk/Engländer (Fn. 1), § 12 Rn. 1. 9 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 9 Rn. 13; Kindhäuser (Fn. 2), § 5 Rn. 15.

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gen, sofern ihre Befolgung keine Straftat, Ordnungswidrigkeit oder Verletzung der Menschenwürde darstellt.10 Die Erhe-bung der Anklage entgegen der Anklagepflicht stellt jeden-falls bei Vorliegen begründeter Verdachtsmomente keine Straftat nach § 344 StGB (keine absichtliche oder wissentli-che Verfolgung eines unstreitig Unschuldigen)11, Ordnungs-widrigkeit, oder Verletzung der Menschenwürde dar, weshalb S die Weisung befolgen müsste.12 Nach anderer Ansicht ist eine solche Verpflichtung mit der Gewissensfreiheit des Staats-anwaltes unvereinbar und der Vorgesetzte in seinem Aus-wahlermessen auf das Devolutiv- und Substitutionsrecht be-schränkt.13 S könnte den Gehorsam unter Verweis auf seine persönliche Überzeugung mithin verweigern; O bliebe ledig-lich die Möglichkeit, die Strafverfolgung im Fall J selbst zu übernehmen oder einem anderen Staatsanwalt zu übertragen. Ein vermittelnder Ansatz zieht einen Vorrang des Devolutiv- oder Substitutionsrechts gegenüber dem Weisungsrecht nur dann in Betracht, wenn das Funktionieren der Strafrechts-pflege dadurch nicht beeinträchtigt wird.14 Eine Übernahme des Verfahrens durch O oder die Ersetzung des S durch einen anderen Staatsanwalt würden eine effektive Strafrechtspflege hier jedenfalls nicht beeinträchtigen, weshalb S nach dieser Ansicht ausnahmsweise zugebilligt werden kann, den Gehor-sam zu verweigern. Diesem Ergebnis ist zuzustimmen: Das Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1 StPO) ist Aus-druck des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG.15 Diesem Anliegen entspricht die streng hierarchische Organisation der Staatsanwaltschaft (vgl. §§ 144, 145 GVG), die für eine höchstpersönliche Überzeugung der einzelnen Staatsanwälte keinen Raum lässt.16 Allerdings ist der Effekti-vität der Strafrechtspflege in Konstellationen, in denen eine Ersetzung des widerwilligen Staatsanwaltes unproblematisch möglich ist, schon aus praktischen Gründen am meisten ge-dient, wenn der Vorgesetzte von seinem Substitutions- oder Devolutivrecht Gebrauch macht, statt auf seiner Weisungs-kompetenz zu beharren.

Anmerkung: Natürlich ist mit entsprechender Begründung ein anderes Ergebnis gut vertretbar.

10 Fezer, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 1995, Fall 2 Rn. 27 (S. 21); Krey/Pföhler, NStZ 1985, 145 (152). 11 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, § 7 Rn. 146. 12 Vgl. Murmann, Prüfungswissen Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 44; a.A. Beulke (Fn. 1), Rn. 85, der die Gewissens-freiheit des Staatsanwaltes dem Schutz der Menschenwürde unterstellt. 13 Beulke (Fn. 1), Rn. 85; i.E. ebenso: Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 9 Rn. 13; Volk/Engländer (Fn. 1), § 6 Rn. 11. 14 Murmann (Fn. 12), Rn. 44. 15 Satzger, Gutachten zum 65. DJT, I, 2004, C131; BVerfGE 90, 145 (190); Engländer (Fn. 1), § 3 Rn. 17. 16 Krey/Pföhler, NStZ 1985, 145 (152); a.A. Beulke (Fn. 1), Rn. 85; Volk/Engländer (Fn. 1), § 6 Rn. 11.

Frage 2: Wie kann B gegen die Einstellungsverfügungen vorgehen? I. Klageerzwingungsverfahren, §§ 172 ff. StPO In Betracht kommt zunächst die Durchführung eines Klage-erzwingungsverfahrens gem. §§ 172 ff StPO. 1. Antragssteller- und Verletzteneigenschaft des B Das Klageerzwingungsverfahren kann nur durch den Verletz-ten i.S.d. §§ 171, 172 StPO betrieben werden, der die Straf-verfolgung (zumindest konkludent) beantragt hat (vgl. § 172 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 171 StPO).17 Verletzter ist dabei, wer durch die Tat in seinen Rechtsgütern, Rechten oder rechtlich anerkannten Interessen unmittelbar verletzt ist.18 Durch das unbefugte Betreten der Villa und die unerlaubte Weiterleitung der E-Mails wurden das Hausrecht und das formelle Geheim-haltungsinteresse des B beeinträchtigt, sodass B Verletzter ist.19 Auch hat B, vertreten durch V, die nach § 123 Abs. 2 und 205 Abs. 1 S. 2 StGB erforderlichen Strafanträge (vgl. § 158 Abs. 2 StPO) gestellt und mithin zum Ausdruck ge-bracht, dass er die Taten verfolgt wissen will. B ist auch Antragssteller. 2. Kein Zulässigkeitsausschluss, § 172 Abs. 2 S. 3 StPO Das Klageerzwingungsverfahren könnte dennoch unzulässig sein. Dies ist gem. § 172 Abs. 2 S. 3 StPO bei Privatklagede-likten (§§ 374 ff. StPO) und Opportunitätseinstellungen (§§ 153 ff. StPO) der Fall, da es sich um Durchbrechungen des Legalitätsprinzips handelt, die einer Absicherung durch das Klageerzwingungsverfahren nicht bedürfen. Der Haus-friedensbruch nach § 123 StGB kann gem. § 374 Abs. 1 Nr. 1 StPO im Wege der Privatklage verfolgt werden und wurde zudem nach § 153a Abs. 1 StPO, also aus Opportunitätsgrün-den, eingestellt, weshalb das Klageerzwingungsverfahren dies-bezüglich unzulässig ist. Das Ausspähen von Daten gem. § 202a StGB ist hingegen weder ein Privatklagedelikt noch erfolgte die Einstellung aus Opportunitätsgründen, sodass § 172 Abs. 2 S. 3 StPO der Verfahrensdurchführung nicht entgegensteht. 3. Vorabbeschwerde zum Generalstaatsanwalt Gegen die Verfahrenseinstellung ist gem. § 172 Abs. 1 StPO die Vorabbeschwerde zum Generalstaatsanwalt beim OLG statthaft. 4. Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim OLG Im Falle einer negativen Bescheidung könnte B, vertreten durch V und unter Wahrung der Monatsfrist, eine gerichtliche Entscheidung des OLG beantragen, §§ 172 Abs. 2, 3, 4 StPO.

17 Rackow, JA 2011, 1 (5 f.). 18 Beulke (Fn. 1), § 17 Rn. 346. 19 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2011, § 123 Rn. 1 i.V.m. § 202a Rn. 1.

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II. Dienstaufsichtsbeschwerde B könnte die Entscheidung der StA zudem frist- und formlos mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde rügen. Da sich S und O letztlich übereinstimmend für eine Verfahrenseinstellung aus-gesprochen haben, wäre eine Dienstaufsichtsbeschwerde eben-falls an den Generalstaatsanwalt am OLG zu richten, der ihr durch Ausübung seines Weisungs-, Devolutiv- oder Substitu-tionsrechts (§§ 145, 146 GVG) abhelfen könnte. III. Privatklage B könnte auch erwägen, den Hausfriedensbruch im Wege der Privatklage gem. § 374 Abs. 1 Nr. 1 StPO zu verfolgen. S hat allerdings ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung im Rahmen des § 153a Abs. 1 StPO bejaht und die Strafverfol-gung des J selbst übernommen. Wird die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Verfolgungshoheit (vgl. §§ 376, 377 Abs. 2 StPO) tätig, so überwiegt das Allgemeininteresse an einem ökonomischen Abschluss des Verfahrens durch die Einstel-lung das Interesse des Privatklägers an einer weiteren Straf-verfolgung.20 Ein Privatklageverfahren ist infolge der Einstel-lungsverfügung nach § 153a Abs. 1 StPO daher unzulässig.

Anmerkung: Da die Privatklage kein Rechtsbehelf im ei-gentlichen Sinne gegen die Einstellungsentscheidungen darstellt, werden Ausführungen hierzu nicht erwartet.

Frage 3: Können die E-Mails und die Rechnungen gegen B verwertet werden? Die E-Mails können in einem Strafverfahren gegen B verwer-tet werden, sofern ihrer Verwertung kein Beweisverwertungs-verbot entgegensteht. Beweisverwertungsverbote stellen stets Einschränkungen des Untersuchungsgrundsatzes (§§ 244 Abs. 2, 155 Abs. 2, 160 Abs. 2 StPO) dar und bedürfen somit der gesetzlichen Anordnung oder übergeordneten Gründen im Einzelfall.21 I. Verwertbarkeit der E-Mails 1. Unselbständiges Verwertungsverbot aufgrund rechtswidri-ger Beweiserhebung Ein Beweisverwertungsverbot könnte zunächst aus einer vor-herigen, rechtswidrigen Beweiserhebung resultieren, da die Wahrheit nicht um jeden Preis ermittelt werden darf.22 Hier stellt sich das Problem, dass die E-Mails durch die Straftat einer Privatperson erlangt wurden. a) Wegen Verstoßes gegen die Vorschriften der StPO (insb. in Analogie zu § 136a StPO) Nach einer Auffassung folgt bereits aus dem Rechtsstaats-prinzip die (analoge) Anwendung der Vorschriften der StPO auf Private, um zu verhindern, dass sich der Staat durch den Einsatz privater Ermittler über die Beweiserhebungsvorschrif-

20 Rössner, in: Dölling/Duttge/Rössner (Fn. 7), StPO § 376 Rn. 4. 21 BVerfG, Urt. v. 24.2.2011 – 2 BvR 1596/10, Rn. 10. 22 BGHSt 14, 358 (365); 38, 214 (220).

ten der StPO hinwegsetzt.23 Demzufolge wäre der Zugriff auf das E-Mail-Postfach an den Beweiserhebungsvorschriften der StPO zu messen.24 Nach ganz h.M. sind Private aber nicht Adressat der StPO, da sich die Vorschriften nach ihrer Syste-matik, ihrem Wortlaut und ihrem Telos allein an den Staat richten.25 Ein Beweisverwertungsverbot aufgrund der Verlet-zung von Beweiserhebungsvorschriften scheidet mithin aus. b) Wegen Verstoßes gegen § 202a Abs. 1 StGB J hat jedoch den Straftatbestand des § 202a Abs. 1 StGB er-füllt. Die vorsätzliche Verletzung materieller Strafgesetze stellt regelmäßig eine besonders schwerwiegende Verletzung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG dar und zieht daher zumeist auch ein Beweisverwertungsverbot nach sich.26 J ist aber nicht Verpflichteter des Rechtsstaatsprinzips, son-dern der Staat, weshalb es einer Zurechnung des strafbaren Verhaltens bedarf.27 Dazu müssten die Strafverfolgungsbe-hörden aber in zurechenbarer Weise (z.B. durch Anstiftung, Unterstützung oder Instrumentalisierung des J) an der Beweis-mittelbeschaffung beteiligt gewesen sein.28 J hat das E-Mail-Postfach jedoch unabhängig vom Willen der Strafverfolgungs-behörden ausgespäht und die E-Mails an S übermittelt. Hier aus der Straftat des J ein Beweisverwertungsverbot folgern zu wollen, kann daher nicht überzeugen.

Anmerkung: Vor diesem Hintergrund sind wohl auch Über-legungen hinsichtlich der Schaffung eines Straftatbestan-des der Datenhehlerei zu verstehen, der das Problem der Zurechnung gegenüber dem Staat löst und die Verwer-tungsfrage folglich von einer Einzelfallabwägung abhän-gig macht.29 De lege lata fehlt es an einer derartigen Re-gelung.

2. Selbständiges Beweisverwertungsverbot aufgrund überge-ordneter Rechtsprinzipien Die h.M. geht mithin von einer grundsätzlichen Verwertbar-keit privatdeliktisch erlangter Beweismittel aus.30 Ausnahmen von diesem Grundsatz werden bei einer Verletzung der Men-

23 Kühne (Fn. 11), § 54 Rn. 904.1; Jahn, Gutachten zum 67. DJT, I, 2008, C102 f.; ders., JuS 2000, 441 (444 f.). 24 A.A. Jahn (Fn. 23), C102 f.; ders., JuS 2000, 441 (445), der in jeder rechtswidrigen privaten Beweisbeschaffung einen Verstoß gegen den Leitgedanken des § 136a StPO sieht. 25 Volk/Engländer (Fn. 1), § 28 Rn. 35; Beulke, Jura 2008, 653 (661); Joerden, JuS 1993, 927 (928). 26 Kölbel, NStZ 2008, 241 (242). 27 Demko, HRRS 2004, 382 (382 f.); Gaede, StV 2004, 46; a.A. Godenzi, GA 2008, 504 (505 f.). 28 BGHSt 34, 39 (52); 44, 129 (134); Kindhäuser (Fn. 2), § 23 Rn. 36; Godenzi, GA 2008, 500 (503). 29 Schünemann, NStZ 2008, 305 (308); Beulke, Jura 2008, 653 (664). 30 BVerfGE 34, 238 (245 ff.); EGMR NJW 1989, 654 (656); BGHSt 27, 355 (357); Ambos, Beweisverwertungsverbote, 2010, S. 106 ff.; Volk/Engländer (Fn.1), § 28 Rn. 35; Beulke (Fn. 1), Rn. 478.

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schenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) oder besonders menschen-rechtswidrigem Verhalten, einer Beeinträchtigung des Kern-bereichs privater Lebensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) oder aber der vorsätzlichen oder willkürlichen Umgehung von Beweiserhebungsverboten angenommen, zu-mal durch die Einführung derart erlangter Beweise in den Strafprozess eine erneute – dem Staat zurechenbare – Rechts-verletzung des Beschuldigten drohen würde.31 Das Ausspähen des E-Mail-Postfaches könnte allenfalls einen Eingriff in den Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung darstellen. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung ist wegen seiner Nähe zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und mit Blick auf die Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG einem staatli-chen Eingriff gänzlich entzogen, während Eingriffe in die Privat- oder Geheimsphäre durch ein überwiegendes Allge-meininteresse an der Strafverfolgung gerechtfertigt sein kön-nen.32 J hat hier zwar generellen Zugriff auf das E-Mail-Postfach, leitet allerdings nur geschäftliche E-Mails an S weiter, sodass die staatliche Verwertungshandlung nicht ge-eignet ist, den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu tan-gieren. Ein Verwertungsverbot scheidet demzufolge aus.

Anmerkung: Die folgenden Ausführungen werden nicht erwartet. Zieht der Bearbeiter dennoch einen oder mehrere Lösungsansätze in Betracht, ist dies positiv zu vermerken.

Teile der Literatur folgern ein Verwertungsverbot aus dem staatlichen Verwertungsakt des kontaminierten Beweismate-rials, weil der Staat als „Beweishehler“ auftrete und das Un-recht der Vortat „perpetuiere“ oder vertiefe.33 Stellt man al-lein darauf ab, dass die E-Mails überhaupt erst im Zusam-menhang mit dem Strafverfahren zum „Beweismittel“ wer-den,34 so kann man in ihrer Nutzung für den Strafprozess allenfalls einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG des B sehen, das im Rahmen der gebotenen Einzelfallabwä-gung jedoch regelmäßig hinter dem öffentlichen Interesse an einer funktionierenden Strafrechtspflege zurückstehen wird. Eine darüber hinausgehende „Unrechtsvertiefung“ ist nicht ersichtlich, denn das Unrecht der Vortat – hier das Ausspähen des E-Mail-Postfaches – ist dem Staat nicht zurechenbar und muss daher unberücksichtigt bleiben.35 Dafür spricht bereits die Anlehnung dieser Auffassung an den Charakter der An-schlussdelikte, die zwar an das Unrecht der Vortat anknüp-fen, aber gerade keine Zurechnungsgrundlage darstellen.36

31 Kölbel, NStZ 2008, 241 (242); Beulke (Fn. 1), Rn. 478 f.; ders., Jura 2008, 653 (661); Engländer (Fn. 1), § 10 Rn. 260; BGHSt 14, 358; 36, 167; 19, 325; 51, 285 (292); BVerfG NJW 2005, 1917 (1923). 32 BVerfGE 80, 367 (373 f.); 77, 65 (76); BVerfG, Beschl. v. 18.3.2009 – 2 BvR 2025/07. 33 Schmidt-Leichner, in: Verhandlungen des 47. DJT, II, F 139; Trüg/Habetha, NStZ 2008, 481 (488). 34 Kaspar, GA 2013, 206 (208). 35 Ambos (Fn. 30), S. 109; Kaspar, GA 2013, 206 (216 f.); a.A. Godenzi, GA 2008, 504 (505). 36 Kaspar, GA 2013, 206 (220).

Einer etwaigen staatlichen „Perpetuierung“ des Unrechts der Vortat wird man zusätzlich entgegnen können, dass die bloße Verwertung eines Beweismittels keine staatliche Intention im Sinne einer Billigung oder eines Gutheißens des Beweismit-tels oder dessen Herkunft beinhaltet.37 Vielmehr ist der Staat durch das Legalitätsprinzip gehalten, die Beweismittel zur Sachverhaltserforschung heranzuziehen und die Beweisauf-nahme im Interesse der materiellen Wahrheit auf alle bedeut-samen Beweismittel zu erstrecken, §§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1, 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO.38 Dieses Vorgehen als „Un-recht“ qualifizieren zu wollen, kann nur überzeugen, wenn es zu einer zusätzlichen Rechtsverletzung durch den Staat kommt.39

Allerdings könnte man – der Argumentation des V fol-gend – auf den hypothetischen Ermittlungsverlauf abstellen und sich fragen, ob die Strafverfolgungsbehörden das Beweis-mittel auch auf legalem Wege hätten erlangen können. Im Falle einer rechtswidrigen hypothetischen Beweiserhebung, ließe sich ein Verwertungsverbot damit begründen, dass die Verwertbarkeit eines zufällig erlangten Beweismittels, welches aus einer privatdeliktischen Beweiserhebung stammt, nicht über die Verwertbarkeit eines Beweismittels, das aus einer hypothetischen finalen Beweisbeschaffung des Staates stammt, hinausgehen könne.40 Aus diesem Grund nimmt das schwei-zerische Bundesgericht bei Beweismitteln, die aus strafrechts-widrigen Privatermittlungen stammen, ein generelles Verwer-tungsverbot an.41 Auch B könnte sich darauf berufen, dass die E-Mail-Korrespondenz zwischen ihm und U durch die Straf-verfolgungsbehörden nicht oder nur durch die Begehung einer Straftat (§ 202a Abs. 1 StGB) hätte ermittelt werden können, was nach den vorstehenden Überlegungen ein Be-weisverwertungsverbot zur Folge hätte. Die daraus folgende horizontale Drittwirkung der Beweiserhebungsvorschriften, sowie der Grund- und Menschenrechte, wird insbesondere damit begründet, dass sich der Staat nicht in Widerspruch zur objektiv rechtlichen Werteordnung setzen darf.42 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass auch die Zurechnungsregeln Teil der objektiven Werteordnung sind und die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes oder gar ein Verzicht auf die Verfolgung doch gerade die Geltung der verletzten Straf-norm in Frage stellen, mithin also die objektive Werteordnung konterkarieren würden.43 Die Beweishypothese allein vermag ein Beweisverwertungsverbot mithin nicht zu begründen.

Ein selbständiges Verwertungsverbot ließe sich im Ein-zelfall auch aus dem Grundsatz eines fairen und rechtsstaatli-chen Verfahrens (Art. 6 Abs. 3 EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m.

37 Kubiciel, GA 2013, 226 (235). 38 Beulke (Fn. 1), Rn. 17; Kubiciel, GA 2013, 226 (235). 39 Kaspar, GA 2013, 206 (208); Kubiciel, GA 2013, 226 (234 f.); Godenzi, GA 2008, 504 (508). 40 Godenzi, GA 2008, 500 (514 f.); Beulke, ZStW 103 (1991), 657 (660). 41 SchwBGer SJZ 77 (1981), 130 (132). 42 Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 (303 f.); Godenzi, GA 2008, 500 (514 f.); Lesch, GA 2000, 355 (371). 43 Kubiciel, GA 2013, 226 (234 f.); Kaspar, GA 2013, 206 (224).

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20 Abs. 3 GG) herleiten:44 Eine Verletzung des Fair Trial-Grundsatzes ist aber allenfalls dann anzunehmen, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht, auch in seiner Ausle-gung und Anwendung durch die Fachgerichte, ergibt, „dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wor-den ist.“45 Die bloße Verwertung der E-Mails wiegt indes nicht so schwer, dass sie das gesamte Verfahren gegen J als unfair erscheinen ließe, zumal die rechtswidrige Beweisbe-schaffung dem Staat nicht zurechenbar ist. Der Grundsatz eines fairen Verfahrens steht einer Verwertbarkeit der straf-rechtswidrig erlangten E-Mails mithin nicht entgegen.

Der Disziplinierungsgedanke, demzufolge ein Beweisver-wertungsverbot zugleich Dritte von der strafrechtswidrigen Beweiserhebung abhalten soll, kann ebenfalls nicht überzeu-gen, da nicht einzusehen ist, den Beschuldigten zu Lasten der Rechtsgemeinschaft mit einem Beweisverwertungsverbot zu „belohnen“, dessen Zweck der Schutz Dritter vor zukünftigen Verstößen sein soll.46 Auch ist eine Disziplinierung im deut-schen Strafprozess mit Blick auf die objektive Kontrollfunk-tion der Staatsanwaltschaft (§ 160 Abs. 1, 2 StPO) nicht zwingend notwendig.47

In Betracht kommt zudem die Begründung eines Beweis-verwertungsverbotes aufgrund grundgesetzlicher Schutzpflich-ten.48 Dazu müssten die getroffenen gesetzgeberischen Maß-nahmen zur Erreichung des Zwecks – hier der Gewährleis-tung des formellen Geheimhaltungsinteresses – allerdings völ-lig ungeeignet sein, wobei dem Gesetzgeber eine erhebliche Einschätzungsprärogative zusteht.49 Mit Blick auf das umfas-sende Schutzniveau §§ 202a ff., 303a ff. StGB wird sich eine derartige Schutzpflichtverletzung wohl kaum begründen las-sen.50 II. Verwertbarkeit der Rechnungen Die im Rahmen der späteren Durchsuchung beschlagnahmten Rechnungen stammen aus einer rechtmäßigen Ermittlungs-maßnahme. Ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot kommt daher nicht in Betracht. Folgt man der Argumentation des V, könnte sich ein Verwertungsverbot allenfalls aus dem Umstand ergeben, dass eine Beschlagnahme der Rechnungen ohne die vorherige (strafbare) Weiterleitung der E-Mails ver-mutlich ausgeblieben wäre. In Betracht käme daher die An-nahme einer sog. Fernwirkung nach dem amerikanischen Vorbild der „fruit of the poisenous tree doctrine“.51 Dieser 44 Ambos (Fn. 30), S. 110 m.w.N.; Kaspar, GA 2013, 206 (218). 45 BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09; Godenzi, GA 2008, 500 (501 f.). 46 Kubiciel, GA 2013, 226 (232). 47 Heghmanns, ZJS 2011, 98 (99). 48 Ambos (Fn. 30), S. 108 f. m.w.N.; Rogall, ZStW 91 (1979), 1 (41). 49 BVerfGE 92, 26 (46); 88, 203; 77, 170 f. m.w.N. 50 Kaspar, GA 2013, 206 (223 f.); Godenzi, GA 2008, 500 (512 ff.). 51 Es sei ausdrücklich auf die zahlreichen Ausnahmen dieser Doktrin (u.a. für die, aus staatlich veranlassten Privatermittlun-

Auffassung zufolge geht die Sperrwirkung eines Beweisver-wertungsverbotes über das unmittelbar erlangte Beweismittel hinaus und erstreckt sich mithin auch auf spätere (fernliegen-de) Beweismittel, die aufgrund des unverwertbaren Beweis-mittels erlangt wurden.52 Folgt man der h.M. und lehnt ein Beweisverwertungsverbot an den E-Mails ab, so scheitert die Annahme einer Fernwirkung bereits daran, dass kein Beweis-verwertungsverbot existiert, welches Fernwirkung entfalten könnte. Die Rechnungen sind mithin verwertbar.

Anmerkung: Ein Aufgreifen des Fernwirkungs-Gedankens kann vor dem Hintergrund der Argumentation des V erwar-tet werden; eine umfassende Auseinandersetzung mit der fruit of the poisenous tree doctrine dagegen nicht. Gelangt der Bearbeiter hingegen zu einem Beweisverwertungs-verbot, müssen an dieser Stelle einige weiterführende Überlegungen angestellt werden: Gegen die grundsätzli-che Annahme einer Fernwirkung lässt sich einwenden, dass der Disziplinierungsgedanke dem deutschen Straf-prozess fremd ist, zu Lasten des Allgemeininteresses an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege ginge und die Gefahr einer völligen Lahmlegung des gesamten Verfah-rens bestünde.53

Frage 4: Erläutern Sie kurz die Rolle des Verteidigers. Wie sollte V sich verhalten? Die inquisitorische Ausgestaltung des deutschen Strafverfah-rens kann in der Praxis nur einen unvollkommenen Schutz der Beschuldigtenrechte gewährleisten, wenn der Beschuldigte seine Rechte nicht kennt oder ihm die Distanz zu seinem Problem fehlt.54 Aber auch persönliche Überzeugungen der Verfahrensbeteiligten (z.B. aufgrund der „Aktenlage“) kön-nen dazu führen, dass entlastende Momente übersehen oder untergewichtet werden.55 Als vollwertiges Verfahrenssubjekt kann der Beschuldigte erst dann angesehen werden, wenn er die Möglichkeit hat, sich eines rechtskundigen Beistandes zu bedienen, der Fürsprache für ihn ergreift, Eingriffen in seine Rechte entgegenwirkt und dadurch ein Gegengewicht zu den Strafverfolgungsbehörden bildet.56 Die Verteidigung dient damit zugleich dem Allgemeininteresse an der Durchführung eines fairen und rechtsstaatlichen Strafverfahrens (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK, Art. 20 Abs. 3 i.V.m. 2 Abs. 1 GG).57

Die Rechtsstellung des Verteidigers ist umstritten. Betont man die Einseitigkeit des Verteidigerhandels, liegt es nahe, gen erlangten Beweismittel) hingewiesen, vgl. Ambos (Fn. 30), S. 145. 52 Kühne (Fn. 11), § 54 Rn. 912. 53 Heghmanns, ZJS 2011, 98 (99); Beulke (Fn. 1), Rn. 482. 54 Volk/Engländer (Fn. 1), § 11 Rn. 1; Beulke (Fn. 1), Rn. 148. 55 Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 19 Rn. 1; Beulke (Fn. 1), Rn. 148. 56 Volk/Engländer (Fn. 1), § 11 Rn. 1; Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rn. 5 ff. 57 BVerfG, Urt. v. 25.9.2001 – 2 BvR 1152/01, Rn. 31; Am-bos, in: Radtke/Hohmann (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kom-mentar, 2011, EMRK Art. 6 Rn. 44 ff.; Demko, HRRS 2006, 250; Kindhäuser (Fn. 2), § 7 Rn. 1.

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ÜBUNGSFALL Christopher Schöpe

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ihn als Interessenvertreter seines Mandanten anzusehen.58 Stellt man hier auf den Willen des B ab, so müsste man V gestatten, dass er die Fluchtpläne des B unterstützt und zu-gleich alles unterlässt, was diese gefährden könnte. § 140 StPO stellt indes klar, dass die Verteidigung keine Privat-sache des Beschuldigten und in bestimmten Fällen sogar von seinem Willen unabhängig ist.59 Dem entspricht auch die feh-lende Akzessorietät zwischen Verteidiger- und Beschuldigten-rechten: 60 So stehen dem Verteidiger nicht nur ein eigenes Akteneinsichtsrecht (§ 147 StPO), sondern auch ein eigenes Beweisantragsrecht zu. 61 Die h.M. sieht den Verteidiger da-her als ein unabhängiges Organ der Rechtspflege an (vgl. § 1 BRAO), der neben den Individualinteressen seines Mandan-ten zugleich dem öffentlichen Interesse an einem rechtsstaat-lichen Strafverfahren verpflichtet ist.62 Die Rechtsstaatlich-keit des Verfahrens kann nämlich nur dann gewahrt werden, wenn der Verteidiger die Strafrechtspflege – jedenfalls in ihrem Kernbereich63 – nicht beeinträchtigt, die (Straf-)Ge-setze beachtet und seine Wahrheitspflicht nicht verletzt.64 Hier verlangt B von V eine juristische Beurteilung dahinge-hend, ob mit bestimmten Ländern ein Auslieferungsüberein-kommen besteht oder nicht. Die Rechtsberatung ist eine der ureigenen Aufgaben des Verteidigers und daher unabhängig davon, ob man den Verteidiger als reinen Interessenvertreter oder Organ der Rechtspflege ansieht, erlaubt.65 Einer Unter-richtung des S über die Fluchtpläne des B steht die Ver-schwiegenheitspflicht (§§ 43a Abs. 2 BRAO, 2 BORA, 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB) des V entgegen, denn das Vertrauensver-hältnis Verteidiger und Mandant untersteht als Vorrausetzung einer effektiven Verteidigung besonderem strafrechtlichem Schutz.66 Es ist V mithin verboten, S zu informieren. Frage 5: Wie wird das Amtsgericht über den Antrag des J entscheiden? Das Gericht wird das Verfahren gegen J gem. § 260 Abs. 3 StPO durch Prozessurteil einstellen müssen, wenn in der Hauptverhandlung ein Verfahrenshindernis festgestellt wird. I. „Bestehen eines Verfahrenshindernisses“ Der Durchführung eines Strafverfahrens gegen J wegen Dieb-stahls (§ 242 Abs. 1 StGB) könnte hier ein beschränkter

58 Scholderer, StV 1993, 228 (229); Beulke (Fn. 1), Rn. 151 f. m.w.N. 59 Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 19 Rn. 7. 60 Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 19 Rn. 8. 61 Beulke (Fn. 1), Rn. 151 f.; Volk/Engländer (Fn.1), § 11 Rn. 3, 5. 62 BVerfG NStZ 2004, 259 (269); Volk (Fn. 1), § 11 Rn. 20; Beulke (Fn. 9), Rn. 151 f. 63 Beulke (Fn. 1), Rn. 150. 64 BGH NStZ 1999, 188 (189). 65 Dahs (Fn. 56), Rn. 62; Kindhäuser (Fn. 2), § 7 Rn. 7; Volk/ Engländer (Fn. 1), § 11 Rn. 26. 66 Beulke/Ruhmannseder, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 2. Aufl. 2010, Rn. 375; Dahs (Fn. 56), Rn. 62; zu den Aus-nahmen: ders., NJW-Spezial 2008, 158.

Strafklageverbrauch (ne bis in idem, Art. 103 Abs. 3 GG) infolge der Einstellung des früheren Verfahrens wegen Haus-friedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) nach § 153a Abs. 1 StPO entgegenstehen. Gem. § 153a Abs. 1 S. 5 StPO scheidet die erneute Verfolgung der Tat als Vergehen bei Erfüllung der Auflagen und Weisungen aus. Der Hausfriedensbruch wird gem. § 123 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet und stellt mithin ein Vergehen i.S.v. § 12 Abs. 2 StGB dar. Auch hat J die Geldauflage bereits erfüllt. Fraglich ist jedoch, ob es sich bei dem Hausfriedensbruch und dem Diebstahl um dieselbe Tat im prozessualen Sinn handelt. Unter der Tat im prozessualen Sinne versteht man einen ein-heitlichen geschichtlichen Vorgang, also das gesamte Verhal-ten des Täters, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebenssachverhalt darstellt.67 Auch wenn streng zwischen dem materiellen und prozessualen Tatbegriff zu dif-ferenzieren ist, indiziert das Vorliegen von Idealkonkurrenz (§ 52 StGB) regelmäßig eine Tat im prozessualen Sinne.68 Der Diebstahl der Uhr erfolgt hier zwar während des Haus-friedensbruchs, allerdings liegen dem Hausfriedensbruch und dem spontanen Diebstahl anlässlich des Hausfriedensbruchs zwei unabhängige Willensbetätigungen zugrunde. Der Dieb-stahl dient dabei auch weder der Ermöglichung noch der Auf-rechterhaltung des Dauerdeliktes, sodass Tatmehrheit (§ 53 StGB) vorliegt.69

Anmerkung: Ausführungen zur Konkurrenzlehre (§§ 52 ff. StGB) werden nicht erwartet, wohl aber, dass der Bear-beiter zwischen materiellem und prozessualem Tatbegriff differenzieren kann.

Das Bestehen von Tatmehrheit steht dem Vorliegen nur einer Tat im prozessualen Sinne aber nicht entgegen, sofern die getrennte Aburteilung der konkurrierenden Delikte als unna-türliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhaltes empfunden würde.70 Hier kann der Diebstahl bei lebensnaher Betrachtung nicht von dem Hausfriedensbruch getrennt wer-den, weshalb von einer Tat im prozessualen Sinne auszugehen ist. Es besteht daher ein Prozesshindernis wegen beschränk-ten Strafklageverbrauchs.

Anmerkung: In Fallkonstellationen, in denen das Gericht die Unrechtsdimension der Tat völlig verkannt hat, gibt es Bestrebungen, das Vorliegen von zwei Taten im prozes-sualen Sinn anhand der Angriffsrichtung (prozessuale Lö-sung), der Annahme von Realkonkurrenz bei Zusammen-treffen von Dauer- mit Zustandsdelikten (materiell-recht-licher Lösung) oder unter Verweis auf die begrenzte Er-kenntnismöglichkeit des Gerichts zu begründen.71 Eine

67 BGHSt 45, 211 (212 f.); BVerfGE 56, 22 (28); Volk/Englän-der (Fn. 1), § 13 Rn. 2 m.w.N. 68 Beulke (Fn. 1), Rn. 514. 69 Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2013, § 56 Rn. 61. 70 Volk/Engländer (Fn. 1), § 13 Rn. 15; Beulke (Fn. 1), Rn. 516. 71 Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl. 1968, S. 389.

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völlige Verkennung der Unrechtsdimension ist hier nicht ersichtlich. Die künstliche Aufspaltung des Tatgesche-hens begründet zudem stets die Gefahr einer Aushöhlung des Doppelbestrafungsverbots, die weder mit Art. 103 Abs. 2 GG noch mit § 153a Abs. 1 S. 5 StPO vereinbar wäre.

II. „In der Hauptverhandlung“ Aus der systematischen Stellung des § 260 Abs. 3 im 6. Ab-schnitt der StPO ergibt sich, dass die Feststellung des Verfah-renshindernisses in der Hauptverhandlung erfolgen muss.72 J stellt seinen Antrag auf Verfahrenseinstellung zu Beginn der Hauptverhandlung und damit jedenfalls nach dem Aufruf zur Sache (§ 243 Abs. 1 S. 1 StPO). Das Gericht wurde demnach erst in der Hauptverhandlung auf das Verfahrenshindernis auf-merksam gemacht. III. Ergebnis Das Verfahren gegen J wegen Diebstahls (§ 242 Abs. 1 StGB) ist gem. § 260 Abs. 3 StPO einzustellen.

Anmerkung: Ein vorrangiger Freispruch des J kommt hier schon deswegen nicht in Betracht, weil zu Beginn der Hauptverhandlung noch keinerlei Erörterungen zur Sache (insb. hinsichtlich der Schuldfrage) stattgefunden haben.73

72 Hellmann, Fallsammlung zum Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2008, S. 131. 73 Hellmann (Fn. 72), S. 131.

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

„Ausbootende“ Sanierung – Treuepflichtverletzung ein-zelner Gesellschafter eines GbR-Fonds infolge Gründung einer Neu-GbR unter Ausschluss einzelner Gesellschafter der Alt-GbR Dem von einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts erhobe-nen Zahlungsbegehren kann der in Anspruch genommene Schuldner ausnahmsweise einen ihm gegen die Gesellschaf-ter zustehenden Schadensersatzanspruch entgegenhalten, wenn die Berufung der Gesellschaft auf ihre Eigenständig-keit gegen Treu und Glauben verstößt. (Amtlicher Leitsatz) BGB §§ 242, 705 HGB §§ 128, 129 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12 (OLG München, LG München I)1 Für die Fallbearbeitung und Examensvorbereitung im Bereich des Personengesellschaftsrechts bedeutsam ist zunächst die dem Urteil zugrunde liegende Fallgestaltung – man könnte sie „ausbootende Sanierung“ nennen. Die hierbei sich stellen-den Rechtsfragen der persönlichen Haftung von Anlage-gesellschaftern eines geschlossenen Fonds, der Treuepflicht und des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Falle einer kon-kreten „Sanierungschance“ sowie die mögliche Treuwidrig-keit, sich auf die „Eigenständigkeit“ einer GbR (deren Rechts-fähigkeit bekanntlich seit BGHZ 146, 341 anerkannt ist) zu berufen, sind grundlegend für die Dogmatik des Rechts der Gesellschaft bürgerlichen Rechts. I. Einleitung 1. Einordnung der Fallgestaltung Bei der dem Urteil zugrunde liegenden Fallgestaltung geht es um die Sanierung eines in der Rechtsform der Gesellschaft bürgerlichen Rechts geführten geschlossenen Immobilien-fonds, und zwar in der besonderen Variante, dass einzelne Anlagegesellschafter besondere Sanierungskonditionen bei der das Fondsobjekt finanzierenden Bank aushandeln, eine neue GbR („Neu-GbR“) gründen und damit die übrigen Gesell-schafter der alten Fondsgesellschaft („Alt-GbR“) von der wei-teren Sanierung ausschließen, sich anschließend von der Bank die Darlehensforderung gegen die Alt-GbR abtreten lassen und sowohl die Alt-GbR selbst als auch deren Gesellschafter – soweit sie nicht mit den Gesellschaftern der Neu-GbR iden-tisch sind – aus abgetretenem Recht persönlich in Anspruch nehmen (siehe sogleich näher unter I. 2.). Es handelt sich damit um eine mögliche Folgekonstellation derjenigen Sach-verhalte, die dem BGH insbesondere bei seinen Entscheidun-

1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi¬bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=67063&pos=0&anz=1 (12.5.2014).

gen zu den Fällen „Sanieren oder Ausscheiden“ vorgelegen hatten.2 2. Problemstellung Nicht geringe Bedeutung kommt den vom BGH entschiedenen Rechtsfragen zu, die sich aus dem amtlichen Leitsatz nur un-vollkommen ablesen lassen. Nur eher am Rande stellt sich die jüngst häufiger diskutierte grundsätzliche Frage, ob und inwieweit der Anlagegesellschafter eines geschlossenen Fonds in der Form der GbR überhaupt im Außenverhältnis für die Verbindlichkeiten des Fonds direkt haftet. Ganz im Zentrum der Entscheidung des BGH steht die Frage einer Treuepflicht-verletzung derjenigen Gesellschafter der Alt-GbR, welche die neue GbR gegründet haben, um die Sanierung ohne die übri-gen Gesellschafter der Alt-GbR durchzuführen. Zumindest ähnliche Grundsätze könnten herangezogen werden, wie sie im Rahmen der sog. Geschäftschancenlehre jedenfalls bei unter-nehmenstragenden, erwerbswirtschaftlich tätigen Gesellschaf-ten bürgerlichen Rechts anerkannt sind.3 Neben der weiteren Frage, welchen Inhalt der Schadensersatzanspruch wegen Ver-letzung der Treuepflicht hat – insbesondere wie sich der be-klagte Gesellschafter der Alt-GbR verhalten hätte, wenn er von der Gründung der Neu-GbR informiert worden wäre -, beschäftigt den BGH die weitere, für die Streitentscheidung zentrale Frage, ob sich die neue GbR wegen der Treuepflicht-verletzung ihrer Gesellschafter auf ihre „Eigenständigkeit“ berufen kann, weil sich nicht sie, sondern nur ihre Gesell-schafter einem Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Geschäftschancen der Alt-GbR ausgesetzt sehen. Nur diese letztere Frage ist im amtlichen Leitsatz berücksichtigt. II. Sachverhalt Die Gesellschafter der klagenden Neu-GbR waren zusammen mit dem Beklagten Gesellschafter einer Alt-GbR, die als ge-schlossener Immobilienfonds ein Grundstück erwarb, um da-rauf ein Wohnhaus mit Tiefgarage zu bauen und zu vermie-ten. Der Grundstückserwerb wurde von einer Bank fremd-finanziert. Als die Alt-GbR das Darlehen nicht mehr bedie-nen konnte und ein Sanierungsversuch daran scheiterte, dass nicht alle Gesellschafter der Alt-GbR – der Beklagte war nicht unter den Säumigen – den erforderlichen anteiligen Be-trag auf das vorgesehene Treuhandkonto leisteten, kündigte die Bank das Darlehen. Daraufhin begann eine Gruppe von Gesellschaftern der Alt-GbR unter der Führung eines mit grö-ßerem Betrag beteiligten Gesellschafters O neue Sanierungs-bemühungen und verhandelten mit der Bank. Diese Gruppe einzelner Gesellschafter der Alt-GbR gründete hierzu – ohne die übrigen Gesellschafter zu informieren – die Neu-GbR, und zwar mit dem gemeinsamen Zweck, die Darlehensforde-rung der Bank gegen die Alt-GbR anzukaufen, sie gegen die Alt-GbR gerichtlich geltend zu machen und aufgrund des Titels dann im Wege der Zwangsvollstreckung die Immobilie der Alt-GbR zu erwerben sowie später – unter Ausschluss der übrigen Gesellschafter der Alt-GbR – zu nutzen und zu ver-walten. Nachdem die Bank ihre Darlehensforderung gegen 2 Vgl. insbesondere BGHZ 183, 1. 3 Vgl. zuletzt BGH NJW-RR 2013, 363 = NZG 2013, 216.

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BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12 Geibel _____________________________________________________________________________________

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die Alt-GbR mit einem erheblichen Preisabschlag (für etwas über 1 Mio. Euro) an die Neu-GbR verkauft hat und auch die Abtretung erklärt wurde, erstritt die Neu-GbR erfolgreich ein Zahlungsurteil gegen die Alt-GbR in Höhe der noch offenen vollen Darlehenssumme (über 2 Mio. Euro). Daneben klagte die Neu-GbR auch gegen die übrigen Gesellschafter der Alt-GbR persönlich auf Zahlung des auf sie jeweils quotal entfal-lenden Teils der vollen Darlehenssumme, unter anderem auch gegen den Beklagten. Dieses Verfahren führte zu dem be-sprochenen Urteil des BGH. III. Kernaussagen des Urteils 1. Keine volle, sondern nur quotale Haftung des Gesellschaf-ters in Höhe des geringeren Forderungskaufpreises Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Den beklagten Gesell-schafter der Alt-GbR hält der BGH nur insoweit für persön-lich haftbar analog § 128 HGB, als es um seinen Anteil an der – im Verhältnis zur noch offenen Darlehenssumme gerin-geren – Kaufpreissumme für den Erwerb der Darlehensforde-rung von der Bank geht. Der BGH will den beklagten Gesell-schafter der Alt-GbR damit im Ergebnis so stellen, wie wenn ihm die Gelegenheit gegeben und von ihm auch wahrgenom-men worden wäre, sich an der zweiten Sanierungsbemühung zu beteiligen und sich mit dem geringeren Anteil an der „Ab-lösung“ des Darlehens begnügen zu können. 2. Verletzung der gesellschafterlichen Treuepflicht Der BGH schließt sich der Beurteilung der Vorinstanz an, die Gesellschafter der Neu-GbR hätten ihre Treuepflicht gegen-über der Alt-GbR und gegenüber ihren Mitgesellschaftern in der Alt-GbR dadurch verletzt, „dass sie nach dem von ihnen verfolgten Sanierungsplan beabsichtigten, den Geschäftsge-genstand der Alt-GbR auf die Neu-GbR zu verlagern, ohne allen Mitgesellschaftern der Alt-GbR Gelegenheit zu geben, sich auf der Grundlage des von ihnen ausgehandelten, weiter reduzierten Ablösebetrags an der Sanierung der Alt-GbR und der Aufbringung des Sanierungsbeitrags zu beteiligen, um sich auf diese Weise auf Kosten der ausgeschlossenen Mitgesell-schafter und der Alt-GbR wirtschaftliche Vorteile zu verschaf-fen“.4 Mit der Geschäftschancenlehre begründet der BGH die Treuepflichtverletzung ausdrücklich nicht, weil es hier nicht um eine der Alt-GbR zugeordnete Geschäftschance, sondern „um ihr weiteres Bestehen“ gehe.5 Dem klägerischen Einwand, dass die Geschäftschancenlehre nur für den geschäftsführen-den Gesellschafter und nicht auch für Anlagegesellschafter gelte, weicht der BGH aus, indem er darauf verweist, dass das Berufungsgericht sich nicht auf die Geschäftschancenlehre gestützt habe.6

4 Zitiert nach dem besprochenen Urteil des BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 14. 5 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 14. 6 Die Ausführungen des OLG München, Urt. v. 17.4.2012 – 5 U 3526/11 = BeckRS 2012, 09548, Tz. 41 (unter II. 4. b) der Urteilsgründe), wertet der BGH offenbar als nicht tragend für die Entscheidung.

Hier sei von einer Treuepflichtverletzung deshalb auszu-gehen, weil die Gesellschafterpflicht zur Wahrnehmung der Gesellschaftsinteressen auch gegenüber den einzelnen Mit-gesellschaftern gebiete, auf deren Belange „in dem durch den Gesellschaftszweck vorgegebenen mitgliedschaftlichen Be-reich“ Rücksicht zu nehmen.7 Diese Pflicht hätten die Gesell-schafter der Neu-GbR mit ihrem Sanierungsplan und der Grün-dung der Neu-GbR unter Ausschluss der übrigen Mitgesell-schafter der Alt-GbR verletzt. Sie hätten die Mitgesellschafter vielmehr von dem Plan informieren und ihnen die Gelegen-heit geben müssen, sich an der Sanierung und der Neu-GbR zu beteiligen. Bereits die Gründung einer neuen Gesellschaft, die denselben Zweck wie die Alt-GbR verfolgt, sei in der Re-gel treuwidrig, sofern nicht alle Gesellschafter der Alt-GbR zustimmten.8 Ob dies anders zu entscheiden sei, wenn sich der beklagte Gesellschafter der Alt-GbR einer Sanierung ver-schlossen hätte, wird vom BGH offen gelassen. Im vorliegen-den Fall hatte sich der Beklagte nämlich an dem ersten Sanie-rungsversuch durchaus beteiligt. Dass andere Mitgesellschafter der Alt-GbR die bisherigen Sanierungsversuche nicht unter-stützt hätten, lasse das Vorgehen der Neu-GbR und ihrer Ge-sellschafter „nicht in einem milderen Licht erscheinen“.9 Viel-mehr habe sich gerade der Initiator der Neu-GbR, Gesellschaf-ter O, an dem ersten Sanierungsversuch nicht mit einer quota-len Zahlung beteiligt. 3. Inhalt des Schadensersatzanspruches Nur wenige Ausführungen macht der BGH zum Inhalt des Schadens, den der beklagte Gesellschafter wegen der Treue-pflichtverletzung derjenigen Mitgesellschafter der Alt-GbR geltend machen könne, welche die Neu-GbR gegründet und die anderen Mitgesellschafter der Alt-GbR von der Sanierung ausgeschlossen haben. Da die Treuepflichtverletzung darin be-stehe, dass dem Beklagten keine Gelegenheit gegeben wurde, sich an dem Ankauf der Darlehensforderung von der Bank mit dem geringeren Ablösebetrag zu beteiligen, sei er so zu stellen, wie er stünde, wenn ihm diese Gelegenheit gegeben worden sei.10 Von einer Begründung des weiteren hypothetischen Kausalverlaufs, insbesondere Ausführungen zu der Frage, ob der Beklagte diese Gelegenheit auch tatsächlich wahrgenom-men hätte, fühlt sich der BGH offenbar angesichts der tatrich-terlichen Würdigung des Berufungsgerichts enthoben.11 Jeden-falls komme es nicht darauf an, ob die Sanierung mit allen Gesellschaftern tatsächlich erfolgreich gewesen wäre.12 Eben-falls nicht erheblich für die Entscheidung sei die Frage, ob die Bank auch gegenüber der Alt-GbR zu einem ähnlichen Nachlass wie gegenüber der Neu-GbR bereit gewesen wäre.13

7 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 16, unter Hinweis auf BGH WM 1966, 511. 8 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 17. 9 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 19. 10 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 10. 11 Diese Würdigung lediglich berichtend BGH, Urt. v. 19.11. 2013 – II ZR 150/12, Tz. 8. 12 So BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 21. 13 Vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 22.

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4. Keine Hinderung der Geltendmachung des Schadens-ersatzanspruches analog § 129 Abs. 1 HGB Schon eingangs seiner Entscheidung befasst sich der BGH mit dem Einwand der klagenden Neu-GbR, der Beklagte sei in Analogie zu § 129 Abs. 1 BGB gehindert, sich auf den Schadensersatzanspruch zu berufen. Diesen Einwand stützt die Klägerin darauf, dass die Alt-GbR rechtskräftig zur Be-gleichung der vollen Darlehensforderung verurteilt worden sei und der Beklagte daher keine Einwendungen der Alt-GbR mehr geltend machen könne. Der vom Beklagten geltend ge-machte Schadensersatzanspruch beruht nach Auffassung des BGH jedoch auf einer Verletzung einer Treuepflicht, die ihm selbst gegenüber besteht, nicht etwa um eine Treuepflicht gegenüber der Alt-GbR. Mit Einwendungen, die in seiner Person begründet sind, ist der Gesellschafter nach dem Wort-laut des § 129 Abs. 1 HGB nicht ausgeschlossen. 5. Keine Hinderung der Geltendmachung des Schadens-ersatzanspruches wegen der „Eigenständigkeit“ der GbR Zwar sei die Neu-GbR „als Gesamthand“ ein „eigenes Zu-ordnungssubjekt, das rechtsfähig ist und grundsätzlich am Rechtsverkehr teilnehmen kann“.14 Die Treuepflichtverletzung ihrer Gesellschafter sei der Neu-GbR also grundsätzlich nicht „anzulasten“. Doch würden schon für eine GmbH Ausnahmen vom Trennungsgrundsatz gemacht, wenn die Berufung auf die Unterschiedlichkeit von GmbH und Gesellschaftern treuwid-rig sei. Für eine GbR, die „anders als die GmbH kein gegen-über ihren Gesellschaftern völlig verselbständigtes Rechts-subjekt ist“, gelte „nichts anderes“.15 Es sei hier deshalb ge-rechtfertigt, der Neu-GbR die Berufung auf ihre „Eigenstän-digkeit“ ausnahmsweise wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben zu nehmen, weil schon die Gründung der Neu-GbR auf einem grob treupflichtwidrigen Verhalten ihrer Gesell-schafter beruhe, die Ansprüche untrennbar zusammenhingen und der Neu-GbR ausschließlich solche Gesellschafter ange-hörten, denen eine Treuepflichtverletzung gegenüber dem Be-klagten vorzuwerfen sei. IV. Würdigung 1. Direkte Haftung von Anlagegesellschaftern einer GbR? Ausweislich des in der Entscheidung mitgeteilten Sachver-halts hatte der beklagte Gesellschafter der Alt-GbR gegen-über der finanzierenden Bank die persönliche Haftung in Höhe seiner Beteiligungsquote „für den aus der Grundschuld geschuldeten Betrag“ übernommen, der allerdings niedriger war als der Anteil an der vollen Darlehenssumme.16 Überdies sah der Gesellschaftsvertrag eine quotale Mithaftung der Ge-sellschafter für die von der Alt-GbR geschlossenen Verträge vor.17 Ob dies im Darlehensvertrag auch so vereinbart wurde,

14 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 24, unter Verweis auf BGHZ 146, 341. 15 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 25. 16 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 2. 17 Siehe den mitgeteilten Sachverhalt im vorinstanzlichen Ur-teil des OLG München v. 17.4.2012 – 5 U 3526/11 = BeckRS 2012, 09548, Tz. 9 (unter I.).

ist dem mitgeteilten Sachverhalt nicht zu entnehmen. Dass sich der beklagte Gesellschafter schon 1990, also noch vor der Rechtsprechungswende durch BGHZ 142, 315 und BGHZ 146, 341 an der Alt-GbR beteiligt hatte und deshalb aus Ver-trauensschutzgründen auf die Haftungsbeschränkung im Ge-sellschaftsvertrag auch ohne Aufnahme in den Darlehensver-trag hätte berufen können,18 wurde hier nicht relevant, weil die Neu-GbR den beklagten Gesellschafter der Alt-GbR ohne-hin nur quotal in Anspruch genommen hat. Auf die weitere – höchst umstrittene – Frage, ob im Hintergrund bleibende An-lagegesellschafter einer Fondsgesellschaft aus „institutionel-len“ Gründen, also unabhängig von einer vertraglichen Haf-tungsbeschränkung (auf deren Durchsetzung sie typischer-weise keinen Einfluss haben) von der persönlichen Haftung für Fondsverbindlichkeiten ausgenommen sind,19 geht der BGH nicht ein. Auf sie wäre es auch nur dann angekommen, wenn der Gesellschaftsvertrag der Alt-GbR nicht die Regelung enthalten hätte, dass ihre Gesellschafter gegenüber den Gläu-bigern der Gesellschaft persönlich (nur, aber immerhin) quo-tal haften. 2. Gegenanspruch wegen Treuepflichtverletzung der Gesell-schafter der Neu-GbR a) Exakte Bestimmung der Treuepflicht und des Pflichtverlet-zungstatbestandes Die „Musik“ spielt im entschiedenen Fall nicht bei der Frage einer persönlichen Haftung des beklagten Anlagegesellschaf-ters für eine Gesellschaftsverbindlichkeit analog § 128 HGB, sondern bei der Frage seines möglichen Gegenanspruchs auf Schadensersatz, und zwar wegen einer Treuepflichtverletzung nicht der klagenden Neu-GbR selbst, sondern ihrer Gesell-schafter, die sämtlich auch Gesellschafter der Alt-GbR sind. Klarzustellen ist zunächst, dass es bei der fraglichen Treue-pflicht nicht etwa um diejenige Treuepflicht geht, welche die Gesellschafter der Neu-GbR als solche in der Neu-GbR trifft, sondern um diejenige Treuepflicht, die diese Gesellschafter als personenidentische Gesellschafter der Alt-GbR gegenüber ihren übrigen Mitgesellschaftern in der Alt-GbR haben. Auf eine Erörterung des Geltungsgrundes der gesellschaftsrechtli-chen Treuepflicht – ob er in einer Ausprägung von § 242 BGB oder in der Zweckförderungspflicht oder aber ganz allgemein im Gesellschaftsvertrag zu sehen ist – soll hier aus Raum-gründen verzichtet werden.20

Nicht hinreichend genau wird vom BGH bestimmt, worin genau die Treuepflichtverletzung liegt, ob in der fehlenden Information der übrigen Mitgesellschafter der Alt-GbR über 18 Vgl. dazu BGHZ 150, 1 (5); BGH NZG 2011, 580 (581 Tz. 15). 19 Vgl. zu dieser letzteren Frage z.B. C. Schäfer, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2013, § 714 Rn. 62 ff. 20 Vgl. z.B. A. Hueck, Der Treuegedanke im modernen Privat-recht, 1947, S. 17 ff.; Zöllner, Die Schranken mitgliedschaft-licher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtlichen Personen-verbänden, 1963, S. 330 ff.; G. H. Roth/C. Schubert, in: Mün-chener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 242 Rn. 186; H.P. Westermann, in: Erman, Kommentar zum BGB, 13. Aufl. 2011, § 705 Rn. 49.

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die Sanierung, ob in der Gründung der Neu-GbR mit identi-schem Zweck wie die Alt-GbR oder weil versäumt wurde, den übrigen Mitgesellschaftern der Alt-GbR Gelegenheit zu geben, sich an dem fraglichen Sanierungsversuch mit dem geringeren „Ablösebetrag“ für die Darlehensforderung der Bank oder gar an der Neu-GbR selbst zu beteiligen. Diese letztere Pflicht setzt die Information über diese Sanierung zwingend voraus; die Informationspflicht geht daher in der Pflicht zur Gelegenheitsgewährung auf. Wenn man so weit geht, die Gründung einer Neu-GbR mit teilidentischem Gesell-schafterkreis und zumindest weitgehend identischem Zweck selbst als treuwidrig anzusehen,21 wäre der Inhalt des zu er-setzenden Schadens in diesem Fall nur schwer zu bestimmen, sofern man nicht tatsächlich auf eine „Geschäftschance“ der Alt-GbR abstellen kann.

Um den Inhalt der Treuepflicht und die Verletzungshand-lung exakter bestimmen zu können, kommt es zunächst auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Kontext an. Allein um die Immobilie zu erwerben und sie anstelle der Alt-GbR zu nutzen und zu verwalten hätte der Neu-GbR die Zwangsvoll-streckung in das Vermögen der Alt-GbR und damit ein Zah-lungstitel gegen diese genügt; ein zusätzlicher Zahlungstitel gegen die Gesellschafter der Alt-GbR wäre hierfür nicht not-wendig gewesen.22 Doch beschränkt sich die Neu-GbR nicht auf den Sanierungsversuch, sondern übernimmt das Darlehens-risiko der Bank und geriert sich insoweit wie ein Dritter, der zum Beispiel als Inkassounternehmen von der Bank die Dar-lehensforderung gegen einen Abschlag kauft. Eine solche „Geschäftschance“ aus einem Forderungskauf war der Alt-GbR nicht zugeordnet. Anders als einem solchen Drittkäufer kommt es der Neu-GbR aber darauf an, dass sie das Grund-stück der Alt-GbR später selbst ersteigert. Das Drittgeschäft dient hier als Instrument zur Sanierung des Immobilienfonds. Um die Ersteigerung des Grundstücks zu ermöglichen und um den Sanierungsbeitrag ihrer Gesellschafter möglichst gering zu halten, benötigt die Neu-GbR weitere Liquidität. Diese möchte sie sich in Gestalt der quotalen Haftungssummen derjenigen Mitgesellschafter holen, die nur an der Alt-GbR und nicht an der Neu-GbR beteiligt sind. Im Gewande des Drittgeschäfts würden diese Gesellschafter der Alt-GbR daher in die Situation gezwungen, die Abwicklung der Alt-GbR und den Verlust des Fondsvermögens zu akzeptieren und ein negatives Auseinandersetzungsguthaben zu zahlen (quotale Haftung für die Darlehensverbindlichkeit abzüglich des bei der Zwangsversteigerung erzielten, voraussichtlich geringeren Erlöses für das Fondsgrundstück).

Es liegt zwar fern, die Treuepflichtverletzung in Anlehnung an die Argumentation bei Geschäftschancen darin zu sehen, dass die Neu-GbR die hinter dem Drittgeschäft stehenden „Sanierungschance“ überhaupt wahrgenommen hat. Zweifel-los ist diese Sanierungschance aber der Alt-GbR als Gesamt-

21 In diese Richtung offenbar BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 17 (a.E.), allerdings mit der Einschränkung, dass dies „regelmäßig“ treuwidrig sei, und später dezidiert in Tz. 26 (dazu unten III. 3.). 22 Vgl. BGHZ 146, 341 (356 Tz. 23 ff., 34); BGH NJW 2004, 3632 (3634 Tz. 20).

hand zugeordnet, weil es um die Sanierung dieser Fondsge-sellschaft geht. Die Wahrnehmung und die Ausgestaltung die-ser Sanierungschance müssen daher dem Gleichbehandlungs-grundsatz auf der Ebene der Alt-GbR gerecht werden. Durch einen Sanierungsbeschluss aller Gesellschafter der Alt-GbR hätten deshalb einzelne Gesellschafter nicht ohne hinreichen-den Grund von vornherein von einer Sanierung ausgeschlos-sen werden dürfen. Wenn sich wie hier einzelne Gesellschaf-ter darüber im Wege eines ausschließlich der Sanierung die-nenden Drittgeschäfts hinwegsetzen, widerspräche dies dem Gleichbehandlungsgrundsatz beim Umgang mit der Sanie-rungschance. Hätte der Beklagte auf die Klage hin seinen Anteil an der vollen Darlehenssumme gezahlt, würde sich da-her eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung realisieren. Es nicht zu dieser Ungleichbehandlung kommen zu lassen, dem Beklagten mithin die Möglichkeit zu geben, sich zu den besseren Konditionen des an die Bank gezahlten „Ablösebe-trages“ an der Sanierung zu beteiligen, ist Inhalt der Treue-pflicht. b) Inhalt des ersatzfähigen Schadens Die Ausführungen des BGH und der Vorinstanz zum Scha-densinhalt stützen das Gesamtergebnis nur unvollkommen und bedürfen der Ergänzung. Gemäß § 249 Abs. 1 BGB muss der Zustand hergestellt werden, der bestehen würde, wenn der beklagte Gesellschafter der Alt-GbR die Möglichkeit er-halten hätte, sich an der Sanierungschance, d.h. an dem güns-tigeren Ablösebetrag für den Darlehenskauf von der Bank zu beteiligen. Das vom BGH und der Vorinstanz gefundene Er-gebnis, dass der Beklagte nur seinen Anteil an diesem Ablöse-betrag an die Neu-GbR zahlen müsse, wäre nur dann dieser herzustellende hypothetische Zustand, wenn bewiesen wäre, dass sich der Beklagte für diese Möglichkeit entschieden, die Bank auch den Beklagten als Vertragspartner des Darlehens-forderungskaufs akzeptiert hätte und der Beklagte daraufhin aus seiner persönlichen quotalen Haftung analog § 128 HGB für die volle Darlehenssumme entlassen worden wäre.

Dafür, dass sich der Beklagte für die Sanierungsmöglich-keit entschieden hätte, spricht zwar nicht eine tatsächliche oder rechtliche Vermutung, aber dafür sprechen doch gewichtige Indizien, insbesondere dass sich der Beklagte an einem frühe-ren Sanierungsversuch beteiligt hat und dass sich offenbar der Beklagte mit einer Beteiligung an dem der Bank gezahl-ten Ablösebetrag immer noch besser stellte als mit einem nega-tiven Auseinandersetzungsguthaben. Es spielt also durchaus eine Rolle, ob die Sanierung für den Beklagten erfolgverspre-chend gewesen wäre, nicht dagegen ob sie insgesamt tatsäch-lich erfolgreich war.23 Insbesondere hätte sich der Beklagte nur dann beteiligt, wenn er auch an dem Fondsvermögen nach erfolgreicher Sanierung Teilhabe gehabt hätte; das wäre nur über eine Beteiligung an der Neu-GbR gegangen.24 Vom

23 So richtig BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 21. 24 Undeutlich insoweit BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/ 12, Tz. 21: „[…] konnte die Rettung […] auch dadurch erfol-gen, dass allen sanierungswilligen Gesellschaftern Gelegen-heit gegeben wurde, sich an der Neu-GbR, zumindest aber an

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hier vertretenen Standpunkt aus wird man hierin allerdings keine unüberwindbare Hürde sehen. Denn begreift man den Beitritt zur Neu-GbR als notwendigen Bestandteil der Sanie-rungschance, so muss man den Gleichbehandlungsgrundsatz auch hierauf beziehen. Die Gesellschafter der Neu-GbR wären dann verpflichtet gewesen, dem Beklagten auch Gelegenheit zu geben, sich an der Neu-GbR zu beteiligen. In der nach § 249 Abs. 1 BGB erforderlichen hypothetischen Betrachtung und unter Berücksichtigung des oben Gesagten wäre der Be-klagte deshalb so zu stellen, wie wenn er der Neu-GbR wirk-sam beigetreten wäre.

Ferner dürfte es der Bank gleichgültig gewesen sein, wer sich an dem Darlehenskauf auf Käuferseite neben der Neu-GbR oder an dieser beteiligt hätte. Problematischer scheint zu sein, ob der Beklagte tatsächlich aus seiner Haftung analog § 128 HGB entlassen worden wäre. Jedenfalls wenn der Be-klagte Gesellschafter der Neu-GbR geworden wäre, hätte die Neu-GbR wie bei allen an ihr beteiligten Gesellschaftern von einer Durchsetzung des Anspruchs aus der abgetretenen Dar-lehensforderung analog § 128 HGB abgesehen.

Ziel des Schadensersatzanspruches des Beklagten wegen der Treuepflichtverletzung ist mithin die Freistellung von der Haftung analog § 128 HGB wegen der anteiligen Zahlung der vollständigen Darlehenssumme Zug-um-Zug gegen anteilige Zahlung des geringeren Ablösebetrages. Diesen Schadens-ersatzanspruch kann der Beklagte als Einwendung gegen die Klage geltend machen.

Abwegig hat das OLG München im vorinstanzlichen Ur-teil den Inhalt eines Schadensersatzanspruches des Beklagten wegen Verletzung Treuepflicht mit einem etwaigen Anspruch der Gesellschafter der Neu-GbR auf Aufwendungsersatz ana-log § 110 HGB vermengt.25 Abgesehen davon, dass ein solcher Anspruch nichts mit dem Inhalt des hier erörterten Schadens-ersatzanspruches zu tun hat, wäre ein solcher Aufwendungs-ersatzanspruch hier auch abzulehnen. Denn bei dem Ablöse-betrag an die Bank handelt es sich um den Kaufpreis für die Darlehensforderung gegen die Alt-GbR, also gerade nicht um die Begleichung einer Gesellschaftsverbindlichkeit der Alt-GbR analog § 128 HGB, für welche analog § 110 HGB Rückgriff bei den Mitgesellschaftern verlangt werden könn-te.26 3. Geltendmachung des Gegenanspruchs gegen die Neu-GbR Wiederum überzeugt nicht die vom BGH gegebene Begrün-dung, sondern nur das Ergebnis, dass der Beklagte seinen Schadensersatzanspruch nicht nur den Gesellschaftern der Neu-GbR, sondern auch dieser selbst entgegenhalten darf. Der Vergleich mit den Fallgruppen, in denen eine Durchbre-chung des Trennungsgrundsatzes nach § 13 Abs. 2 GmbHG anerkannt wird, hinkt nicht nur deshalb, weil die GbR keine

der Aufbringung des Ablösebetrags gegen Haftungsfreistel-lung zu beteiligen“ (Hervorhebung durch den Verf.). 25 Vgl. OLG München, Urt. v. 17.4.2012 – 5 U 3526/11 = BeckRS 2012, 09548, Tz. 50 (unter II. 4. d). 26 Vgl. das vom OLG München zitierte Urteil des BGH NJW 2011, 2045 (2048 Tz. 40).

juristische Person ist – was der BGH ausdrücklich anerkennt27 –, sondern auch weil hier Umstände, die einen „Durchgriff“ im GmbH-Recht rechtfertigen würden, offensichtlich nicht vorliegen. Dass die Wahl der Rechtsform für die Neu-GbR rechtsmissbräuchlich wäre, behaupten weder der BGH noch die Vorinstanz.28 Sie stützen sich stattdessen darauf, dass die Berufung der Neu-GbR auf ihre „Eigenständigkeit“ (womit nur die Rechtsfähigkeit gemeint sein kann) gegen Treu und Glauben verstoße, und begründen dies mit drei Argumenten: Erstens beruhe die Gründung der Neu-GbR selbst auf einem „grob treupflichtwidrigem Verhalten ihrer Gesellschafter“.29 Dies ist allerdings zweifelhaft, weil jedenfalls die Gründung einer Neu-GbR mit einer Öffnungsklausel für den Beitritt aller Alt-Gesellschafter kaum treuwidrig gewesen wäre und nicht einsichtig ist, dass dieselbe Pflichtverletzung, die den Schadensersatzanspruch des Beklagten begründet, auch den Durchgriff auf die Neu-GbR selbst rechtfertigen sollte. Zwei-tens wird argumentiert, die Forderung der Neu-GbR und der Schadensersatzanspruch (des Beklagten) stünden in einem nicht trennbaren Zusammenhang. Es bleibt unklar, worin in diesem Zusammenhang eine Treuwidrigkeit bestehen sollte. Drittens wird angeführt, die Neu-GbR bestehe ausschließlich aus solchen Gesellschaftern, denen ein Treuepflichtverstoß zur Last falle.30 Folgte man dem, fiele es für die Neu-GbR leicht, dem „Durchgriff“ dadurch zu entgehen, dass sie ande-re Gesellschafter aufnimmt, die nicht schon Gesellschafter der Alt-GbR waren.

Mit seinen Formulierungen am Ende von Tz. 25, insbe-sondere dass die GbR „kein gegenüber ihren Gesellschaftern völlig verselbständigtes Rechtssubjekt“31 sei, deutet der BGH an, dass es für den „Zurechnungsdurchgriff“ hier nicht auf die besonderen Voraussetzungen ankommt, wie sie für eine Ausnahme von § 13 Abs. 2 GmbHG gefordert werden, son-dern dass die bloße Identität (oder wesentliche Identität) der GbR als Gesamthand mit ihren Gesellschaftern jedenfalls im vorliegenden Fall genügt, dass der Beklagte seinen Schadens-ersatzanspruch auch der Neu-GbR entgegenhalten kann. Ge-nauer zu untersuchen bleibt an anderer Stelle, inwieweit sich diese scheinbar alte Sicht der Identität von Gesamthand und Gesellschaftern mit der neuen Sicht der Rechtsfähigkeit einer Außen-GbR verträgt.

Prof. Dr. Stefan J. Geibel, Heidelberg

27 Vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 24, 25. 28 So ausdrücklich OLG München Urt. v. 17.4.2012 – 5 U 3526/11 = BeckRS 2012, 09548, Tz. 48 (unter II. 4. c). 29 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 26. 30 Vgl. BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 26. 31 BGH, Urt. v. 19.11.2013 – II ZR 150/12, Tz. 25.

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BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a. Prommer

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Drei-Prozent-Klausel im Europawahlgesetz 1. Der mit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europa-wahlrecht verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleich-heit politischer Parteien ist unter den gegebenen rechtli-chen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtferti-gen. 2. Eine abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung kann sich ergeben, wenn sich die Verhältnisse wesentlich ändern. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige Entwicklungen bereits im Rahmen der ihm aufgegebenen Beobachtung und Bewer-tung der aktuellen Verhältnisse zu berücksichtigen; maß-gebliches Gewicht kann diesen jedoch nur dann zukom-men, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwär-tig verlässlich zu prognostizieren ist. (Amtliche Leitsätze) GG Art. 21 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EuWG § 2 Abs. 7 DWA Art. 3 BVerfGG § 31 Abs. 1 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13, 2 BvE 5/13, 2 BvE 6/13, 2 BvE 7/13, 2 BvE 8/13, 2 BvE 9/13, 2 BvE 10/13, 2 BvE 12/13, 2 BvR 2220/13, 2 BvR 2221/13, 2 BvR 2238/131 Das BVerfG hat mit Urteil vom 26.2.2014 die 3 %-Sperr-klausel in § 2 Abs. 7 EuWG für verfassungswidrig erklärt.2 Mit dieser Entscheidung führt das Gericht seine mittlerweile von einem geänderten Rechtsverständnis geprägte Recht-sprechung zu Sperrklauseln für Kommunal- und insbesondere Europawahlen fort. I. Rechtsprechungsentwicklung zu Sperrklauseln für Europawahlen Sperrklauseln für Wahlen zum Europäischen Parlament wa-ren bislang in drei Verfahren Gegenstand der Entscheidung des BVerfG. Noch im Jahr 1979 erklärte das Gericht die 5 %-Klausel des damaligen § 2 Abs. 6 EuWG in einer einstimmi-gen Entscheidung für verfassungsgemäß, da sie dazu beitrage, einer übermäßigen Parteienzersplitterung entgegen zu wirken und so die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments stärke.3 Rund 32 Jahre später verwarf es in seinem Urteil vom 9.11.2011 hingegen die nunmehr in § 2 Abs. 7 EuWG nor- 1 Entscheidung abrufbar unter: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20140226_2bve000213.html. 2 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a.; Zitate aus dem Urteil werden im Folgenden, soweit nicht anders gekennzeichnet, in indirekter Rede wie-dergegeben. 3 BVerfGE 51, 222.

mierte Sperrklausel, da bei ihrem Wegfall eine erhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.4

Anders als in der einstimmigen Entscheidung von 1979 erging das Urteil von 2011 mit dem für eine Normverwerfung knappest möglichen Ergebnis von 5:3 Stimmen; von einem Mitglied des erkennenden Senats wurde die Entscheidung dabei lediglich im Ergebnis, jedoch „aus abweichenden Grün-den“ mitgetragen. Diese Gründe werden im Urteil jedoch, anders als die abweichenden Meinungen Di Fabios und Mellinghoffs, nicht erläutert. Nach deren Sondervoten sei be-reits die andernfalls drohende Verringerung der Funktions-fähigkeit des Europäischen Parlaments ausreichender Recht-fertigungsgrund für die Beibehaltung der Sperrklausel.

Es war möglicherweise auch die knappe Mehrheitsent-scheidung, die den Bundestag ermutigte, den Ball wieder auf-zunehmen und noch vor der Europawahl im Mai 2014 doch wenigstens eine 3 %-Sperrklausel einzuführen. Vor allem be-zog sich die überfraktionelle Mehrheit im Bundestag – mit Ausnahme der Fraktion „Die Linke“ stimmten alle für das Gesetz – auf die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.11.2012 für die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014.5 In den Entschließungen wurden die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert „in ihrem Wahlrecht […] geeignete und angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck kommen-den Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen, bei gleich-zeitiger Wahrung der Funktionalität des Parlaments“6, mithin also dazu, ggf. Sperrklauseln einzuführen. In Folge dessen verabschiedete der Bundestag am 13.6.2013 das fünfte Gesetz zur Änderung des EuWG,7 durch das in § 2 Abs. 7 eine 3 %-Klausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament einge-fügt wurde. Das Gesetz trat am 10.10.2013 in Kraft.8

Auf mehrere Anträge in Organstreitverfahren von ver-schiedenen politischen Parteien sowie auf mehrere Verfas-sungsbeschwerden hin erklärte der erkennende Senat – wie-derum mit einer Mehrheit von 5:3 Stimmen – die dort enthal-tene Sperrklausel nun für verfassungswidrig. Einige Organ-streitverfahren, die zusammen mit anderen Verfahren zur ge-meinsamen Entscheidung verbunden wurden, waren bereits unzulässig (dazu unter II.). In den zulässigen Verfahren ur-teilte das Gericht, dass unter den gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen der mit einer Sperrklausel verbun-dene Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit nicht zu rechtfertigen sei (dazu sogleich unter III.). Richter Müller gab ein Sondervotum ab (siehe IV.).

4 BVerfGE 129, 300. 5 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.11. 2012 zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 (2012/2829 [RSP]). 6 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.11. 2012 zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 (2012/2829 [RSP]), Ziff. 4. 7 Gesetzesentwurf BT-Drs. 17/13705. 8 BGBl. I 2013, S. 3749.

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II. Zulässigkeitsprobleme der Organstreitverfahren Die erhobenen Organstreitverfahren waren unzulässig, soweit sie sich gegen den Bundesrat und den Bundespräsidenten als Antragsgegner richteten; nur soweit sie gegen den Bundestag gerichtet waren, wurden sie für zulässig erachtet.

Politische Parteien sind zwar in einem Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG als „andere Beteiligte“ gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG taugliche Antragsteller, soweit sie eine Verletzung in ihrer spezifischen, aus Art. 21 GG folgenden Rechtsstellung durch ein Verfas-sungsorgan des Bundes geltend machen. In einigen der vor-liegenden Verfahren wurde jedoch die parteiinterne, teils satzungsrechtlich geregelte Vertretungsbefugnis nicht einge-halten, weshalb nach Auffassung des Gerichts bereits keine wirksame Einleitung der Verfahren erfolgte.9

In den übrigen vom BVerfG als unzulässig verworfenen Organstreitverfahren mangelte es im Rahmen der Antragsbe-fugnis der Antragsteller an einer hinreichend schlüssigen Behauptung, dass zwischen den klagenden Parteien und dem Bundesrat oder -präsidenten, die als oberste Bundesorgane unproblematisch taugliche Antragsgegner gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 63 BVerfGG sind, durch das Gesetzge-bungsverfahren zu § 2 Abs. 7 EuWG ein verfassungsrechtli-ches Rechtsverhältnis erwuchs, in dem Rechte der Antrag-steller durch die Antragsgegner verletzt oder unmittelbar gefährdet wurden.10 III. Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab und Recht-fertigung von Eingriffen Im Zusammenhang mit der Betrachtung des Prüfungsmaß-stabes der Entscheidung ist zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung des Deutschen Bundestages über die erneute Einführung einer Sperrklausel um einen Fall der sog. „Ent-scheidung in eigener Sache“ handelt. Hierbei setzt die parla-mentarische Mehrheit Recht, das sie selbst mittelbar oder unmittelbar in ihrer Rechtstellung betrifft, machen quasi „die Spieler die Spielregeln.“11 Der Gesetzgeber unterliegt in der-artigen Konstellationen typischerweise einem Zielkonflikt; 12 es besteht die Gefahr des Missbrauchs der Gesetzgebungs-befugnis zur Eigenbegünstigung und Fremdbenachteiligung. Konkret sah das BVerfG in seinem normverwerfenden Urteil von 2011 die „Gefahr, dass der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Par-teien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte.“13 Im Urteil von 2014 wird sogar nur noch auf die „inzwischen gefestigte Rechtsprechung“14 zu Entscheidungen

9 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 32 f. 10 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 35. 11 v. Arnim, JZ 2009, 813 (814). 12 v. Arnim, JZ 2009, 813 (814). 13 BVerfGE 129, 300 (323 f.). 14 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 17. Insbesondere für den Fall von Sperr-

in eigener Sache abgestellt, um zu begründen, weshalb die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit derartiger Regelun-gen durch das BVerfG mit erhöhter Kontrollintensität vorge-nommen wird.

Auch der ausschließlich verfassungsrechtliche Prüfungs-maßstab wurde im vorliegenden Urteil nicht weiter themati-siert, da er bereits im vorausgegangenen Urteil (kurz) entwi-ckelt wurde, ist aber zum Gesamtverständnis unerlässlich, da er auch im vorliegenden Verfahren Geltung beansprucht:15

Das Wahlrecht für die Wahlen zum Europäischen Parla-ment ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschiedener rechtlicher Vorgaben. Der 1976 durch den Rat der Europäi-schen Gemeinschaften für die erste Direktwahl des Europäi-schen Parlaments im Jahr 1979 erlassene und von den Mit-gliedsstaaten ratifizierte Direktwahlakt legt dabei die Grund-züge der Wahlen zum Europäischen Parlament fest. Er be-stimmt erst seit seiner Novellierung im Jahr 200216 in Art. 1 Abs. 1, dass dessen Mitglieder in jedem Mitgliedstaat nach dem Verhältniswahlsystem bestimmt werden. Ebenfalls erst seit 2002 räumt Art. 3 DWA den Mitgliedstaaten die Mög-lichkeit ein, für die Sitzvergabe eine Sperrklausel bis zu 5 % der abgegebenen Stimmen festzulegen. Ausweislich des Art. 8 DWA bestimmt sich das Wahlverfahren jedoch nach den jeweiligen innerstaatlichen Vorschriften, in Deutschland da-mit nach dem EuWG. Das BVerfG hat im vorliegenden Fall daher nationales Recht am Maßstab nationaler Grundrechte zu prüfen, solange und soweit die Materie nicht unionsrecht-lich determiniert ist. 1. Gleichheit der Wahl, Art. 3 Abs. 1 GG Die verfassungsrechtliche Verortung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit bei Europawahlen war teilweise um-stritten, da Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG sich direkt nur auf Wahlen zum Deutschen Bundestag bzw. den Landtagen beziehen. Bereits in seinem Urteil zur 5 %-Klausel im EuWG von 2011 leitete das BVerfG jedoch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl für Europawahlen allein aus Art. 3 Abs. 1 GG her, betonte dabei aber zugleich, dass die Norm in diesem Zusammenhang nicht als allgemeiner Gleichheitssatz, sondern in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleich-heit zu verstehen ist.17 Als inhaltliche Ausprägungen gebietet der Grundsatz die Zähl- und Erfolgswertgleichheit der abge-gebenen Stimmen. Zählwertgleichheit bedeutet dabei, dass jede abgegebene Stimme als eine Stimme zählen muss. Die Zählwertgleichheit lässt keine Ausnahmen zu, d.h. jede Be-einträchtigung der Gleichheit des Zählwerts ist einer Verlet-zung gleichzusetzen. Von Sperrklauseln ist jedoch nur die klauseln sind dies BVerfGE 120, 82 (113 f.) sowie bereits BVerfGE 40, 296 (327). 15 So BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 45. 16 Beschl. des Rates v. 25.6.2002 und 23.9.2002 zur Ände-rung des Akts zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Anhang zu Beschl. 76/787/EGKS, EWG, Euratom (2002/ 722/EG, Euratom). 17 BVerfGE 129, 300 (317).

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Erfolgswertgleichheit der Stimmen betroffen. Diese ist jedoch stets abhängig vom jeweiligen Wahlsystem – bei einer Ver-hältniswahl wie der Wahl zum Europäischen Parlament folgt aus der Erfolgswertgleichheit, dass grundsätzlich jede abge-gebene Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammenset-zung der zu wählenden Vertretung haben muss. Besteht eine Sperrklausel, haben jedoch nur Stimmen für Parteien, die die Hürde der Sperrklausel überschreiten, Auswirkungen auf die Sitzverteilung; Stimmen für Parteien, die diese Hürde nicht meistern, bleiben dagegen ohne Erfolg. Das Erfordernis der Erfolgswertgleichheit kann jedoch, anders als die Zählwert-gleichheit, zugunsten wichtiger Gründe im Rahmen der Ver-hältnismäßigkeit eingeschränkt werden, wenn dies Folge der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem ist.18 2. Chancengleichheit politischer Parteien, Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG19 Die Chancengleichheit politischer Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG wird durch das Gericht „unter dem Gesichtspunkt demokratisch gleicher Wettbe-werbschancen“20 auch auf sonstige politische Vereinigungen im Sinne des § 8 Abs. 1 EuWG erstreckt; für diese Gruppe von Vereinigungen folgt sie dann jedoch allein aus Art. 3 Abs. 1 GG. Der Grundsatz der Chancengleichheit erfordert, dass Parteien und ihren Wahlbewerbern „grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze einge-räumt werden.“21 Aufgrund des engen Zusammenhanges der Chancengleichheit mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl22 ist im Ergebnis die Gleichheit auch hier in einem strengen und formalen Sinn zu verstehen. Durch Sperrklauseln nehmen nur diejenigen Parteien an der Sitzverteilung im Europäischen Parlament teil, die die erfor-derliche Mindeststimmzahl auf sich vereinen können. Dabei ist die Eingriffsintensität in die Chancengleichheit – wie in die Wahlrechtsgleichheit – zwar durch eine Sperrklausel in Höhe von 3% geringer als noch unter Geltung der 5 %-Klau-sel; hieraus folgt nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht, dass der Eingriff deshalb keiner Rechtfertigung bedürfe.23 Im Rahmen der Rechtfertigung ist der gleiche Maßstab für die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit heranzuzie-hen.24 18 Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 69. EL (Mai 2013), Art. 38 Rn. 123. Das BVerfG verweist zur Be-gründung selbst auf seine Judikatur zu Art. 38 GG (BVerfGE 129, 300 [318]), insofern kann hier auf die entsprechende Kommentierung zurückgegriffen werden. 19 BVerfGE 129, 300 (319). 20 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 50. 21 BVerfGE 129, 300 (319). 22 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 50. 23 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 83. 24 BVerfGE 82, 322 (338); 95, 408 (417); 111, 54 (105); 129, 300 (320).

3. Rechtfertigung a) Differenzierungsmaßstab Weder der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit noch derjenige der Chancengleichheit politischer Parteien unterliegt einem absoluten Differenzierungsverbot; aus dem formalen Charak-ter beider Grundsätze folgt jedoch, dass dem Gesetzgeber jeweils nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzie-rungen zur Verfügung steht. Diese bedürfen zu ihrer Recht-fertigung eines sachlich legitimierten „zwingenden Grundes.“25 Dabei muss die Differenzierung nach Ansicht des Gerichts sowohl im Urteil von 2011 als auch in dem von 2014 nicht verfassungsrechtlich notwendig sein. Es genügen vielmehr Gründe, die durch die Verfassung legitimiert sind und ein Gewicht aufweisen, das der Wahlrechts- und Chancengleich-heit die Waage hält. Als ein solcher zwingender Grund aner-kannt ist die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrati-onsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes26 sowie daraus resultierend die Sicherung einer funktionsfähi-gen Volksvertretung27 (siehe im Folgenden unter b). Was zu dieser Sicherung erforderlich ist, hängt von den Besonderhei-ten der jeweiligen Vertretungskörperschaft ab und ist anhand der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zu beurteilen (dazu sogleich unter c). b) Wahrung der Funktionsfähigkeit des Vertretungsorgans Der durch die Sperrklausel erfolgende Eingriff in die Wahl-rechtsgleichheit und Chancengleichheit ist nach Auffassung der Senatsmehrheit nur zu rechtfertigen, wenn andernfalls die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende hinreichende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments besteht. Das Gericht stellt dabei auch in seinem aktuellen Urteil einen Wirklichkeitsbezug her, indem es be-tont, dass nicht abstrakt beurteilt werden kann, welche Maß-nahmen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit einer Volks-vertretung geeignet und erforderlich sind; vielmehr ist eine Beurteilung anhand der konkreten Funktionen des Organs und unter den konkreten Verhältnissen vorzunehmen, wobei auch solche Umstände berücksichtigt werden können, die be-reits gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren sind.28 Mit einer unabhängig von konkret absehbaren Funktionsstörungen rein vorsorglich statuierten Sperrklausel würde der schwer-wiegende Eingriff in die Verfassungsgrundsätze dagegen in unverhältnismäßiger Weise vorverlagert.29

25 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 53. 26 BVerfGE 95, 408 (418); BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 54. 27 vgl. BVerfGE 1, 208 (247 f.); 4, 31 (40); 6, 84 (92 ff.); 51, 222 (236); 82, 322 (338); 95, 408 (418); 120, 82 (111), 129, 300 (320), sowie BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 54. 28 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 54 und 57. 29 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 63.

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Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung ist zu berücksich-tigen, dass das Europäische Parlament ein Parlament sui generis ist, das sich in wesentlichen Aspekten vom Deutschen Bundestag unterscheidet: Es ist weder von einem Gegensatz zwischen (Regierungs-)Mehrheit und Opposition geprägt, noch erfolgt die Wahl einer Unionsregierung, die permanent von einer Mehrheit getragen werden muss.30 Eine Mehrheits-entscheidung ist zwar künftig im Rahmen der Wahl des Kommissionspräsidenten aus einem Kreis von Spitzenkandi-daten der europäischen Parteien nötig; hierdurch wird jedoch noch keine Entwicklung angestoßen, die dazu führte, eine der Situation auf Bundesebene vergleichbare gegensätzlichen Positionierung von Regierung und Opposition herbeizufüh-ren.31 Ebenfalls anders als die Bundesregierung ist die Euro-päische Kommission im Rahmen ihrer weiteren Tätigkeit nicht mehr auf die Unterstützung durch eine Mehrheit ange-wiesen.32

Es mangelt also an einer Gefährdung der Funktionsfähig-keit des Europäischen Parlaments, die konkret genug ist, um die mit der Einführung der 3 %-Klausel verbundenen Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit politischer Parteien zu rechtfertigen. c) Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhält-nisse Insgesamt stellt das Gericht fest, dass keine verfassungsrecht-liche Neubewertung in Bezug auf Sperrklauseln des EuWG geboten ist, da auch unter Berücksichtigung bereits konkret absehbarer zukünftiger Entwicklungen keine wesentliche Veränderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse erfolgt ist.33

In rechtlicher Hinsicht sei die Entschließung des Europäi-schen Parlaments vom 22.11.2012 nur ein unverbindlicher Appell an die Mitgliedsstaaten, das Verfahren der Sitzzutei-lung zu regeln.34 In tatsächlicher Hinsicht sei nichts Substan-tiiertes für eine Beeinträchtigung des Parlaments durch die mögliche Zunahme an kooperationsunwilligen Vertretern klei-ner Parteien vorgetragen. Das Gericht gibt sogar zu beden-ken, dass Parteien, die auf nationaler Ebene Splitterparteien darstellen auf Unionsebene einer etablierten Parteienfamilie angehören können.35 Schon jetzt sorgen die Fraktionen aber maßgeblich dafür, dass das Europäische Parlament trotz sei-ner ohnehin starken Fragmentierung, die sich auf die Vielzahl an dort vertretenen Ländern und Parteien gründet, arbeitsfä-hig ist. Das BVerfG betont darüber hinaus die Irrelevanz der 30 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 72. 31 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 73. 32 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 73. 33 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 57. 34 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 67. 35 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 68 und 80.

möglichen „Politisierung“ der europäischen Institutionen durch die Nominierung von Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durch Parteien bzw. Fraktionen des Europäischen Parlaments für eine hinreichende Beeinträchti-gung seiner Funktionsfähigkeit:36 Wie sich die Zusammenar-beit der zwei großen Fraktionen in diesem Zusammenhang entwickeln werde sei zu ungewiss.37 Genauso denkbar wie eine negative Entwicklung sei es, dass die Integrationskraft der Fraktionen und ihre politische Positionierung durch die Zunahme an Abgeordneten kleiner Parteien gestärkt werde.38

Sollte jedoch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse in Zukunft eintreten, ist die Wiedereinführung einer Sperr-klausel denkbar, die dann gerechtfertigt sein kann. d) Normwiederholungsverbot Die Bindungswirkung normverwerfender Entscheidungen des BVerfG wurde unter dem Schlagwort des Normwiederho-lungsverbotes im Vorfeld der Entscheidung besonders prob-lematisiert, da ein Verstoß dazu geführt hätte, dass das Gesetz bereits aus formellen Gründen verfassungswidrig gewesen wäre. In seinem Urteil vom 26.2.2014 wurde es aber vom Verfassungsgericht selbst in wenigen Sätzen als für im vor-liegenden Fall nicht verletzt erklärt.39 Fraglich war dabei, ob aus § 31 Abs. 1 BVerfGG, der eine Bindungswirkung des normverwerfenden Urteils hinsichtlich Urteilsformel und der sie tragenden Entscheidungsgründe40 normiert, oder dem Grundsatz der Verfassungsorgantreue ein Normwiederho-lungsverbot folgt, der Gesetzgeber somit also nach dem Weg-fall der Sperrklausel im EuWG im Jahr 2011 gehindert ist, erneut eine Sperrklausel in das Gesetz einzuführen.

Dies ist letztlich eine Frage der Betrachtungsweise: Ent-weder besteht ein prinzipielles Normwiederholungsverbot, das Wiederholungen jedoch ausnahmsweise zulässt, sofern sich die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben,41 oder es ist von einer grundsätzlich immer zulässigen

36 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 77 f. 37 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 76 und 80. 38 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Rn. 79. 39 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum, Rn. 37 f. 40 So z.B. Löwer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 100 m.w.N. 41 Wie vom Zweiten Senat des BVerfG vertreten, BVerfGE 1, 14 (37); 69, 112 (115); zustimmend Benda/Klein, Verfassungs-prozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rn. 1466 ff. Eine Normwieder-holungsmöglichkeit eröffnete der Zweite Senat implizit selbst in seinem normverwerfenden Urteil von 2011: „Der mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel in § 2 Abs. 7 EuWG verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechts-gleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhält-nissen nicht zu rechtfertigen.“

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Normwiederholung auszugehen,42 die durch den Grundsatz der Verfassungsorgantreue begrenzt wird.

Für letztgenannte Ansicht sprechen im Ergebnis die bes-seren Argumente: Sie berücksichtigt, dass lediglich einfach-gesetzliche Festlegungen wie § 31 BVerfGG den Gesetzgeber nicht zu binden vermögen. Dieser ist dagegen gem. Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, aus der zwar kein Normwiederholungsverbot aber ein Rücksicht-nahmegebot zwischen Verfassungsorganen folgt. Umgekehrt darf das BVerfG Normen wie § 2 Abs. 7 EuWG nur am Maß-stab der Verfassung prüfen.43 Nur indem dem Gesetzgeber die Möglichkeit eingeräumt wird, gegebenenfalls eine in-haltsgleiche Norm erneut zu erlassen, kann einer Rechts-erstarrung begegnet werden,44 während das BVerfG gleich-zeitig die Gelegenheit erhält, seine Rechtsprechung noch einmal zu überprüfen, gegebenenfalls zu ändern45 und so an wechselnde soziale Anforderungen und veränderte Ordnungs-vorstellungen anzupassen.46 Gleichzeitig wird der erneute Er-lass einer vollständig inhaltsgleichen Norm zur Provokation und Brüskierung47 des Verfassungsgerichts verhindert.

Angewendet auf den vorliegenden Fall zeigt sich, dass die Einführung einer 3 %-Sperrklausel im EuWG keine inhalts-gleiche Wiederholung der zuvor für verfassungswidrig er-klärten Sperrklausel in Höhe von 5 % darstellt.48 Der Gesetz-geber hat vielmehr eine inhaltlich nachvollziehbare Neube-wertung vorgenommen, da er, wenn auch vom BVerfG im Ergebnis nun verneint, zum Zeitpunkt des Gesetzgebungs-prozesses von einer Veränderung der tatsächlichen wie recht-lichen Verhältnisse ausging. Daher liegt auch kein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot zwischen Verfassungsorga-nen vor. Das BVerfG lässt in seinem aktuellen Urteil zwar gerade offen, unter welchen Voraussetzungen eine inhalts-gleiche Norm erlassen werden dürfte, kommt aber zum glei-chen Ergebnis: Es liege jedenfalls weder ein Verstoß gegen das Normwiederholungsverbot noch gegen das Gebot der Organtreue vor.49

42 So die Auffassung des Ersten Senats des BVerfG, hierzu Korioth, in: Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 483, unter Verweis auf BVerfGE 77, 84 (103 f.), und die der Entscheidung zustimmenden Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsge-richtsgesetz Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, § 31 Rn. 64; Gerber, DÖV 1989, 704 ff.; Stricker, DÖV 1995, 978 ff., Bethge, in: Maunz u.a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 42. EL (Oktober 2013), § 31 Rn. 71; zurückhaltender dagegen BVerfGE 96, 260 (263); 102, 127 (141 f.). 43 Wernsmann, JZ 2011, 23 (27). 44 Bethge (Fn. 42), § 31 Rn. 196. 45 Bethge (Fn. 42), § 31 Rn. 199. 46 Heusch (Fn. 42), § 31 Rn. 64. 47 Bethge (Fn. 42), § 31 Rn. 199. 48 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13, Rn. 37. 49 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13, Rn. 37 f.

III. Sondervotum des Richters Müller In seinem Sondervotum kritisiert Richter Müller, dass der Senat zu hohe Anforderungen an die Feststellung der Beein-trächtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parla-ments stelle.50 Er betont in diesem Zusammenhang besonders die dem Gesetzgeber grundsätzlich zustehende Einschätzungs-prärogative. Aufgabe des BVerfG sei die Überprüfung der vom Bundesgesetzgeber getroffenen Prognoseentscheidung, nicht deren Ersetzung durch eigene Erwägungen.51 Die im Gesetzgebungsverfahren getroffene Prognose des Gesetzge-bers hinsichtlich der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments hält Müller aber für hinreichend plausibel.52

Weiter kritisiert er auch Begriff und Kontrollmaßstab von „Entscheidungen in eigener Sache“. Bei der Frage einer Sperr-klausel im EuWG liege keine unmittelbare Betroffenheit der auf Bundesebene rechtsetzenden Abgeordneten vor; in Be-tracht komme allenfalls eine mittelbare Betroffenheit in Be-zug auf Parteiinteressen, aus der sich jedoch nicht das struk-turelle Kontrolldefizit ergibt, auf das der Senat die erhöhte Kontrollintensität seiner Entscheidung gründet.53

Die Sonderstellung des Europäischen Parlaments macht seiner Ansicht nach eine andere Gewichtung der Bedeutung der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit nicht erforderlich; die Beibehaltung einer Sperrklausel ist für ihn zur Zielerrei-chung auch geeignet und erforderlich.54 IV. Fazit Die Verfassungsmäßigkeit von Sperrklauseln für Wahlen zum Bundestag und Landtagen wird von der vorliegenden Ent-scheidung direkt nicht berührt. Es finden sich jedoch Ansatz-punkte wie insbesondere die derzeit auf Bundesebene eben-falls nicht idealtypisch vorliegende antagonistische Positio-nierung von Regierung und Opposition, die zukünftig eine andere rechtliche Beurteilung auch dieser Sperrklauseln durch das BVerfG zumindest ermöglichen würden.

Für den europäischen Bereich liegt angesichts des Beste-hens zahlreicher unterschiedlicher faktischer wie gesetzlich festgeschriebener Sperrklauseln die Überlegung nahe, die Errichtung einer Sperrklausel für Wahlen zum Europäischen Parlament dem Unionsgesetzgeber selbst zu überantworten. Die dauerhafte Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments könnte durch verbindliche Vorga-ben für alle an der Wahl beteiligten Mitgliedsstaaten erreicht werden, mit denen ein Gesamtkonzept statt einer Vielzahl von Einzelregelungen auf Ebene der Mitgliedsstaaten ver-folgt wird. Schon im Urteil des BVerfG von 1979 wurde das 50 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum Rn. 1. 51 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum Rn. 6. 52 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum Rn. 14 f. 53 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum Rn. 10. 54 BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a., Sondervotum Rn. 27 f.

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BVerfG, Urt. v. 26.2.2014 – 2 BvE 2/13 u.a., 2 BvR 2220/13 u.a. Prommer

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EuWG daher als „Übergangsgesetz“ bezeichnet, dessen Re-gelungen nur bis zum Inkrafttreten eines für die Europäischen Gemeinschaften einheitlichen Wahlgesetzes Geltung bean-spruchen sollten.55 Die Kompetenz der Union für ein solches Vorgehen ergäbe sich aus Art. 223 Abs. 1 AEUV; der Prü-fungsmaßstab einer unionsrechtlich festgelegten Sperrklausel wäre in der Folge zukünftig entsprechend Unionsrecht. Ein Konsens in diese Richtung ist derzeit jedoch nicht zu erwar-ten.

Wiss. Mitarbeiterin Dr. Jennifer Prommer, Augsburg

55 So Hrbek, Integration 2013, 259 (263), unter Bezugnahme auf BVerfGE 51, 222.

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BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13 Heghmanns _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s b e s p r e c h u n g

Computerbetrug im automatisierten Mahnverfahren Die Beantragung eines Mahn- und Vollstreckungsbeschei-des im automatisierten Mahnverfahren auf der Grundlage einer fingierten, tatsächlich nicht bestehenden Forderung stellt eine Verwendung unrichtiger Daten im Sinne des § 263a Abs. 1, 2. Var. StGB dar. (amtlicher Leitsatz) StGB § 263a Abs. 1 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13 (LG Dortmund)1 I. Einführung Die schon lange umstrittene Frage, ob man durch Geltendma-chen eines nicht existenten Anspruchs im Mahnverfahren ei-nen Betrug begehen (oder der bearbeitende Rechtspfleger mangels Prüfungsauftrages gar nicht irren) könne, hat infolge der Einführung des automatisierten Mahnverfahrens eine wei-tere Dimension erhalten. In diesem „bearbeitet“ kein Rechts-pfleger, sondern nur noch eine elektronische Datenverarbei-tungsanlage die Anträge auf Erlass von Mahn- und Vollstre-ckungsbescheiden. Wegen der betrugsäquivalenten Auslegung von § 263a StGB setzt sich dabei der alte Streit freilich in neuem Gewande fort. Der 4. Strafsenat hat nun in seinem Beschluss § 263a StGB im automatisierten Mahnverfahren für anwendbar erachtet. II. Der Sachverhalt Die (ursprünglich mitangeklagte) Mutter der Angeklagten so-wie die R.-AG führten gemeinschaftlich die F.B. GbR mbH. Diese sollte nach dem Plan von Mutter und Angeklagter um einen höheren Geldbetrag erleichtert werden. Zu diesem Zweck hatte die Angeklagte im Februar 2007 beim zuständi-gen Amtsgericht Hagen im automatisierten Mahnverfahren einen Mahnbescheid über eine angebliche Hauptforderung in Höhe von 180.960 € gegen die F.B. GbR mbH beantragt. Als Anspruchsgrund gab sie einen „Dienstleistungsvertrag gem. Rechnung vom 02.11.06“ an. Ein solcher Vertrag existierte ebenso wenig wie Ansprüche der Angeklagten gegen die F.B. GbR mbH. Der antragsgemäß erlassene Mahnbescheid wurde, entsprechend den Angaben der Angeklagten, ihrer Mutter unter deren privater Wohnanschrift zugestellt, die – obgleich sie als Mitgeschäftsführerin der F.B. GbR mbH dazu ver-pflichtet gewesen wäre – abredegemäß keinen Widerspruch einlegte und vor allem auch die weitere Mitgeschäftsführerin bzw. deren Vorstand nicht von dem Mahnbescheid informierte. Nachdem die Angeklagte auf die gleiche Weise auch einen Vollstreckungsbescheid erwirkt hatte, beantragte sie auf des- 1 Veröffentlicht in NJW 2014, 711, und NStZ 2014, 155 (m. Anm. Trüg) ,sowie in StraFo 2014, 125; ferner abrufbar un-ter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=8eab5ea93755998a9920137a6ea0bdd0&nr=66614&pos=0&anz=1.

sen Grundlage einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss gegen die Geschäftsbank der F.B. GbR mbH. Nach dessen antragsgemäßem Erlass wurden vom dortigen Konto der F.B. GbR mbH 184.324,60 € gepfändet und auf ein privates Konto der Angeklagten überwiesen.2

Unter anderem wegen dieses Vorgehens3 hatte eine Wirt-schaftsstrafkammer des LG Dortmund die Angeklagte im ers-ten Anlauf am 29.3.2011 wegen Betruges zu einer Gesamt-freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten unter Straf-aussetzung zur Bewährung verurteilt. Als Tathandlungen (ei-nes einheitlichen Betruges) wertete die Strafkammer die Be-antragung des Mahn- und anschließenden Vollstreckungsbe-scheides. Auf die Revision der Angeklagten hin hatte der 4. Strafsenat dieses Urteil bereits Ende 2011 in einer seiner-zeit ebenfalls veröffentlichten Beschlussentscheidung aufge-hoben und an eine andere Wirtschaftsstrafkammer des LG Dortmund zurückverwiesen,4 vor allem, weil die Strafkammer keine Feststellungen dazu getroffen hatte, ob die Mahnbe-scheide im automatisierten oder im traditionellen Verfahren ergangen waren.5 In diesem Kontext hatte sich der Senat ausführlich zu der Möglichkeit geäußert, im nichtautomati-sierten Mahnverfahren den Betrugstatbestand zu verwirkli-chen.6 Die nunmehr zur Entscheidung berufene Wirtschafts-strafkammer hatte daraufhin festgestellt, dass Mahn- und Voll-streckungsbescheid im automatisierten Verfahren ergangen waren, aber offenbar Probleme gesehen, hierauf § 263a StGB anzuwenden. Als vermeintliche Lösung war sie als Tathand-lung auf die nachfolgende Beantragung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ausgewichen und hatte die Ange-klagte wegen dieses Verhaltens in ihrem Urteil vom 8.3.2013 des Betruges durch Unterlassen nach den §§ 263, 13 StGB für schuldig befunden. Vorgeworfen wurde der Angeklagten, bei der Beantragung des Pfändungs- und Überweisungsbe-schlusses ihre vorherige pflichtwidrige Erwirkung von Mahn- und Vollstreckungsbescheid verschwiegen zu haben. Dieses Mal wurde sie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von nur noch einem Jahr verurteilt, wiederum unter Strafaussetzung zur Bewährung. Auf die neuerliche Revision der Angeklagten hob der Senat nun auch diesen zweiten Schuldspruch auf, weil anlässlich der Beantragung des Pfändungs- und Überweisungs-beschlusses weder eine pflichtbegründende Garantenstellung der Angeklagten vorgelegen habe noch eine sonstige Täu-

2 Zusammenstellung des Sachverhaltes aus BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 2 f., sowie BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 3. 3 Darüber hinaus hatte die Angeklagte in vier Fällen eine Beihilfe zur Untreue, z.T. in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug begangen, u.a. durch Zurverfügungstellen eines Kon-tos für weitere gleichartige Vorgehensweisen durch den Vater der Angeklagten gegenüber der F.B. GbR mbH. Diese Vor-gehensweisen bieten aber rechtlich keine neuen Aspekte und werden zur Vereinfachung hier nicht behandelt. 4 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11 = NStZ 2012, 322 = StraFo 2012, 102 = wistra 2012, 189 = StV 2012, 406. 5 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 7. 6 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 6.

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schungshandlung von ihr begangen worden sei.7 Vielmehr ver-urteilte der Senat sie jetzt im Hinblick auf die Beantragung von Mahn- und Vollstreckungsbescheid wegen Computer-betruges, beließ es allerdings bei der ausgeurteilten Strafe und verwarf daher nach entsprechender Schuldspruchänderung die weitergehende Revision der Angeklagten. III. Die Entscheidung des Senats Bedingt durch die Entscheidung der Vorinstanz musste sich der Senat zunächst mit der Frage befassen, ob eine Täuschung anlässlich der Beantragung des Pfändungs- und Überweisungs-beschlusses stattgefunden hatte.8 Da ein für diesen Zeitpunkt konstruierter Betrug ggf. als mitbestrafte Nachtat der Kon-sumtion unterlegen hätte, wäre in der gutachterlichen Prüfung freilich logisch vorrangig die Strafbarkeit anlässlich der Be-antragung von Mahn- und Vollstreckungsbescheid zu erörtern. Und weil im automatisierten Mahnverfahren für gewöhnlich9 keine menschliche Person mehr seitens des Gerichts Ent-scheidungen über den Fortgang des Mahnverfahrens trifft, kann insoweit lediglich § 263a Abs. 1 StGB in Betracht kom-men. Allerdings bedarf es bekanntlich im Hinblick auf die Strukturähnlichkeit zum Betrug einer restriktiven Auslegung dieser Strafbestimmung,10 wobei es zunächst noch dahinste-hen kann, auf welche Weise (subjektivierend, betrugs- oder computerspezifisch) dies geschehen mag.11 Denn alle diese Auffassungen besitzen jedenfalls einen gemeinsamen Nenner: Lässt man den Täter gegenüber einem (gedachten) menschli-chen Gegenüber handeln und begeht er schon dabei keinen Betrug, so führt die Ersetzung des Menschen durch einen Computer in der entsprechenden Situation erst recht zu kei-nem Computerbetrug.12 Die Differenzen zwischen den ein-zelnen Meinungen werden erst in der Gegenprobe sichtbar: Beginge der Täter gegenüber dem an die Stelle der Datenver-arbeitung gedachten Menschen einen Betrug, so führt dessen gedankliche (Wieder-)Ersetzung durch einen Computer bei einzelnen dieser Meinungen nicht in jedem Fall gewisserma-ßen automatisch zu § 263a StGB. 7 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 7 ff., 10 ff. 8 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 4 ff. 9 Zu möglichen Ausnahmen siehe unten III. 2. 10 Tiedemann/Valerius, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiede-mann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 9/1, 12. Aufl. 2012, § 263a Rn. 16a; zu den einzelnen Methoden restriktiver Auslegung von § 263a StGB vgl. Rengier, Straf-recht, Besonderer Teil, Bd. 2, 15. Aufl. 2013, § 14 Rn. 12 ff.; Heghmanns, Strafrecht für alle Semester, Besonderer Teil, 2009, Rn. 1304 bzw. CD 36-01; Wessels/Hillenkamp, Straf-recht, Besonderer Teil 2, 36. Aufl. 2013, Rn. 613. 11 Näher zu dieser Frage unter III. 2. 12 Mit dieser Begründung wird auch regelmäßig § 263a StGB im automatisierten Mahnverfahren von denjenigen verneint, die schon § 263 StGB im traditionellen Mahnverfahren ableh-nen, vgl. etwa B. Kretschmer, GA 2004, 458 (470 f.); Trüg, NStZ 2014, 157 (158); Hilgendorf, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2014, § 263a Rn. 6; Wessels/Hillenkamp (Fn. 10), Rn. 610.

1. Betrug im traditionellen Mahnverfahren? Bei der deshalb vorrangigen Frage, ob im nichtautomatisier-ten Mahnverfahren betrügerisch getäuscht werden kann, ist zunächst zu beachten, dass ein Schaden frühestens mit Erlass des Vollstreckungsbescheides entstehen kann. Denn erst zu diesem Zeitpunkt erlangt der Antragsteller einen vollstreck-baren Titel (§ 794 Abs. 1 Nr. 4 ZPO), mit dessen Hilfe er auf das Vermögen des Antragsgegners zugreifen kann. Dieses ist nun durch einen jederzeit drohenden Vermögensverlust belas-tet und damit bei wirtschaftlicher Betrachtung bereits zu die-sem Zeitpunkt gemindert. Der zuvor erwirkte Mahnbescheid hingegen führt noch zu keiner unmittelbaren Vermögensge-fährdung; ein Widerspruch gegen ihn hindert den Erlass des Vollstreckungsbescheides (§§ 694, 696, 699 Abs. 1 ZPO). Andererseits schafft der Mahnbescheid die Voraussetzung für den Vollstreckungsbescheid, der nach Ablauf der Wider-spruchsfrist auf Antrag und auf der Basis des Mahnbeschei-des ergeht; geprüft wird zu diesem Zeitpunkt nur noch, ob ein Widerspruch vorliegt oder der Antragsteller zwischenzeitli-che Zahlungen angegeben hat (§ 699 Abs. 1 ZPO). Die in den Raum zu stellende, auf ihre Richtigkeit hin noch zu untersu-chende Konstruktion des (Dreiecks-)Betruges sähe demnach so aus: Der Antragsteller täuscht beim Antrag auf Erlass des Mahnbescheides über das Bestehen eines Anspruchs gegen den Antragsgegner. Der bearbeitende Rechtspfleger beim Amts-gericht13 könnte hierüber irren und auf der Basis dieses Irr-tums zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich nach Ablauf der Widerspruchsfrist und bei entsprechendem weiteren, aber nicht von neuem täuschenden Antrag des Antragstellers, als Vermögensverfügung den zum Vermögensschaden führenden Vollstreckungsbescheid erlassen. Diese (einheitliche) Betrugs-tat wäre also zeitlich gestreckt und umfasste das gesamte Mahnverfahren bis hin zum Erlass des Vollstreckungsbe-scheides.14

Ob die so skizzierte Konstruktion aber tatsächlich den Tat-bestand von § 263 Abs. 1 StGB erfüllt, entscheidet sich beim Merkmal des Irrtums; das Vorliegen aller übrigen Vorausset-zungen ließe sich kaum bestreiten. Einem Irrtum unterliegt der entscheidende Rechtspfleger aber nur, falls er sich über die vorgetäuschte Tatsache überhaupt Gedanken macht, weil er in Kenntnis der Wahrheit ggf. anders zu entscheiden hätte. Da sich aus den §§ 691 Abs. 1, 692 Abs. 1 Nr. 2 ZPO keine Prüfpflicht des Mahngerichts herauslesen lässt, überwiegt im strafrechtlichen Schrifttum dazu die Auffassung, hinsichtlich der Berechtigung eines geltend gemachten Anspruchs könne der Rechtspfleger auch nicht irren.15

Die Rechtsprechung weist demgegenüber auf die Stellung des Rechtspflegers als unabhängiges Rechtspflegeorgan (§ 1 13 § 3 Nr. 3 lit. a i.V.m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 RPflG. 14 Giehring, GA 1973, 1 (23 f.). 15 Wessels/Hillenkamp (Fn. 10), Rn. 511, 610; Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 263 Rn. 52; Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 65. Lfg., Stand: April 2006, § 263a Rn. 30; Rengier (Fn. 10), § 13 Rn. 48; Otto, JZ 1993, 652 (655); B. Kretschmer, GA 2004, 458 (470); Giehring, GA 1973, 1 (21 f., 25 f.); Trüg, NStZ 2014, 157 (158).

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RPflG) und auf seine Verpflichtung gegenüber der materiellen Gerechtigkeit hin, weshalb er „nicht sehenden Auges einen unrichtigen Titel schaffen“ dürfe. Erlasse er den Titel, so geschehe „dies daher regelmäßig in der allgemeinen – nicht notwendig fallbezogen aktualisierten – Vorstellung, dass die nach dem Verfahrensrecht ungeprüft zu übernehmenden tat-sächlichen Behauptungen des Antragstellers pflichtgemäß auf-gestellt wurden und wahr sind“16, weshalb er durchaus einem Irrtum über die Richtigkeit der geltend gemachten Forderung unterliegen könne.17 Tatsächlich ist in der zivilprozessualen Literatur und in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit zur Zurückweisung von Mahnanträgen anerkannt, deren Gegenstand offensichtlich unbegründete Forderungen sind.18 „Der Rechtspfleger darf nicht durch den Mahnbe-scheid die Erfüllung von Ansprüchen aufgeben, die offen-sichtlich nicht bestehen; die Durchsetzung solcher Ansprüche zu ermöglichen, kann nicht Aufgabe eines gerichtlichen Ver-fahrens sein.“19 Hätte ein Rechtspfleger also – beispielsweise auf Grund von Erkenntnissen aus anderen Verfahren – die positive (und sichere) Kenntnis von der Nichtexistenz eines im Mahnantrag geltend gemachten Anspruchs, so dürfte er den Mahn- und späteren Vollstreckungsbescheid nicht erlas-sen. Solange ihm – wie es üblicherweise der Fall sein dürfte – diese Nichtexistenz verborgen bleibt, handelt er im irrigen Bewusstsein, dem Erlass der begehrten Bescheide stünden jedenfalls keinerlei Hindernisse entgegen. Das Gegenargu-ment, der Rechtspfleger sei zu keiner Anspruchsprüfung verpflichtet, geht damit im Grunde an der Sache vorbei; der Rechtspfleger hat auch nach der zivilprozessualen Rechtspre-chung und Literatur zwar keine Pflicht, die Berechtigung jeder einzelnen Forderung zu untersuchen. Wohl aber hat er die Pflicht zu reagieren, sobald ihm eine ersichtlich unberech-tigt geltend gemachte Forderung unter die Augen gelangt. Das entspricht im Übrigen auch der gängigen Irrtumsdogma-tik: Beim gewöhnlichen Eingehungsbetrug etwa ist der Ver-käufer ebenfalls nicht verpflichtet, Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft seines Gegenübers zu prüfen, und er irrt den-

16 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 6 (beide Zitate). 17 BGHSt 24, 257 (260 f.); OLG Celle NStZ-RR 2012, 111 (112 f.); OLG Düsseldorf NStZ 1991, 586; ebenso Kindhäu-ser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kom-mentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 263 Rn. 192; Pawlik, Das unerlaubte Verhalten beim Betrug, 1999, S. 230 f., 244 f. 18 Voit, in: Musielak (Hrsg.), Zivilprozessordnung, Kommen-tar, 10. Aufl. 2013, § 691 Rn. 2; Hartmann, in: Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, Kommen-tar, 72. Aufl. 2014, § 691 Rn. 7; Vollkommer, in: Zöller, Zivilprozessordnung, 29. Aufl. 2012, § 691 Rn. 1; Holch, NJW 1991, 3177 (3181); OLG Hamburg MDR 1982, 502 (503); OLG Karlsruhe RPfl 1987, 422; ausführlich Münker, Der Computerbetrug im automatischen Mahnverfahren, 2000, S.160 ff. 19 Schüler, in: Rauscher/Wax/Wenzel (Hrsg.), Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd. 2, 4. Aufl. 2012, § 691 Rn. 15.

noch in tatbestandserfüllender Weise, wenn er wider Erwar-ten und entgegen guter Verkehrssitte an einen Käufer gerät, der nicht zu zahlen bereit oder in der Lage ist.

Wenn damit dem Senat in seiner Vorentscheidung prinzi-piell beizupflichten ist, so muss seine Argumentation dennoch an einer Stelle zurechtgerückt werden: Sicherlich handelt der Rechtspfleger nämlich nicht, wie es der Senat formuliert, „in der allgemeinen – nicht notwendig fallbezogen aktualisierten – Vorstellung, dass die nach dem Verfahrensrecht ungeprüft zu übernehmenden tatsächlichen Behauptungen des Antrag-stellers pflichtgemäß aufgestellt wurden und wahr sind“.20 Jedenfalls an ihre Wahrheit glauben zu wollen, wäre ange-sichts der gerichtsbekannten Erfahrungen aus den alltäglichen Zivilrechtsstreitigkeiten eine Illusion.21 Einer so weitreichen-den Wahrheitsvorstellung bedarf es indes auch gar nicht, denn die Bestreitbarkeit einer Forderung (z.B. wegen angeblicher Mängel der Gegenleistung) kann dem Erlass eines Mahnbe-scheides nicht entgegenstehen; es mag dem Antragsgegner überlassen bleiben, sich ihrer zu erwehren. Die kritische Grenze liegt vielmehr dort, wo in rechtsmissbräuchlicher Weise bewusst ein nichtbestehender Anspruch geltend ge-macht wird. Der (irrende) Rechtspfleger handelt deshalb in dem sachgedanklichen Mitbewusstsein, ausschließlich als Instrument zur Durchsetzung jedenfalls gutgläubig erhobener Ansprüche zu dienen. 2. Übertragung auf das automatisierte Mahnverfahren Mit der Möglichkeit, im traditionellen Mahnverfahren einen Betrug zu konstruieren, ist die Basis geschaffen, im automati-sierten Mahnverfahren einen entsprechenden Computerbetrug zu erwägen. Im automatisierten Verfahren (§ 689 Abs. 1 S. 2 ZPO)22 erfolgt die Übermittlung der Daten zwischen Antrag-steller und Mahngericht nur noch in maschinenlesbarer Form (z.B. über einen Barcode oder mit direkter Datenübermittlung). Die (maschinelle) Kontrolle überprüft dann vor allem die Voll-ständigkeit der Daten. Für den Forderungsgrund sind vom Antragsteller standardisierte Kennziffern einzutragen (z.B. eine „5“ für die durch die Angeklagte geltend gemachte „Forderung aus Dienstleistungsvertrag“) und durch Hinweise auf die Mitteilungsform (z.B. „Rechnung“) und deren Datum zu ergänzen. Bei einigen Forderungsarten sind freitextliche Ergänzungen notwendig (etwa Nr. 28 [„Schadensersatz aus ____-Vertrag“]). Der ausgefüllt eingereichte Antrag wird ma-schinell auf Vollständigkeit geprüft. Der eingetragene Forde-rungsgrund kann nur bei Freitexten wie dem angesprochenen „____-Vertrag“ mit den zugelassenen, im Programm gespei-cherten Vertragstypen abgeglichen werden. Außerdem werden 20 BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11, Rn. 6 (Her-vorhebung nur hier). 21 In diese Richtung auch Giehring, GA 1973, 1 (5 ff.). 22 Online-Zugang zum und weitere Informationen über das automatisierte Mahnverfahren unter: http://www.mahngerichte.de; ausführlicher vgl. Justizverwaltungen der Länder (Hrsg.), Die maschinelle Bearbeitung der Mahnverfahren (§§ 688 ff. ZPO), http://www.ag-hagen.nrw.de/behoerde/Zentrale_Mahnabteilung/service/Zw_txt_info/ZEMAbrosch.pdf.

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Datumsangaben auf Logikfehler hin überprüft (z.B. „34.3. 2011“). Für Forderungsbeträge schließlich sind Grenzwerte programmiert, um solche Ansprüche zu erfassen, die den Durchschnittswert deutlich übersteigen und deshalb nicht ohne weitere Prüfung durch den Rechtspfleger zugesprochen werden können.23 Durchläuft der Daten- oder Formularsatz ungehindert den so skizzierten automatisierten Prüfgang, wird der Mahnbescheid ausgedruckt und zur Post gegeben. Eine menschliche Kontrolle (oder Unterzeichnung des Mahnbe-scheides) findet nicht mehr statt (vgl. § 703b Abs. 1 ZPO).

Der Senat hat für dieses Verfahren nun § 263a Abs. 1 StGB in der 2. Variante angenommen. Der Eintrag einer fin-gierten, tatsächlich nicht bestehenden Forderung sei als Ver-wenden unrichtiger Daten zu bewerten.24 Dieses Ergebnis entspreche, so der Senat, einer betrugsäquivalenten Ausle-gung des Computerbetruges, denn das Geltendmachen einer fiktiven Forderung sei ein täuschungsäquivalentes Verhalten, da es, gegenüber einem (gedachten) Rechtspfleger vorgenom-men, diesen täusche.25 An diesem Punkt stellen sich freilich zwei Fragen: (a) Ist die so beschriebene betrugsäquivalente Auslegung des § 263a Abs. 1 StGB sachgerecht und (b) führt sie überhaupt in der hier zu entscheidenden Sachverhalts-konstellation zur Strafbarkeit?

a) Wie bereits erwähnt, werden zu der – im Grundsatz wohl inzwischen unstreitig als notwendig erachteten – re-striktiven betrugsähnlichen Auslegung (aller fünf26 Tatvarian-ten) des Computerbetruges drei Hauptlinien vertreten: Die subjektivierende Auslegung27 verlangt ein Verhalten, welches dem Willen des Betreibers der Datenverarbeitungsanlage bzw. dem vertraglichen Gegenüber widerspricht. Damit allerdings wird faktisch wenig bewirkt, denn der entgegenstehende Wille des Anlagenbetreibers wird bereits bei den üblichen Definitionen der einzelnen Manipulationshandlungen berück-sichtigt: Die Unrichtigkeit einer Programmierung (Var. 1),28 z.T. auch von Daten (Var. 2),29 deren Unvollständigkeit (Var. 4) sowie die fehlende Befugnis (Var. 4 und 5)30 ergibt

23 Justizverwaltungen der Länder (Fn. 22), S. 25; Münker (Fn. 18), S. 14 f. 24 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 16. 25 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 18 f. 26 Häufig werden nur vier Varianten genannt, wobei die Ver-wendung unrichtiger oder unvollständiger Daten zu einer ein-zigen Variante zusammengefasst wird. Angesichts der Unter-schiede zwischen unrichtigen und unvollständigen Eingaben erscheint es freilich sachgerechter, sie zu trennen und von insgesamt fünf Varianten zu sprechen. 27 Vertreten u.a. von Kindhäuser (Fn. 17), § 263a Rn. 27; Hil-gendorf (Fn. 12), § 263a Rn. 14; BayObLG NJW 1991, 438 (440). 28 Perron (Fn. 15), § 263a Rn. 5; Entwurf 2. WiKG, BT-Drs. 10/318, S. 20; Möhrenschlager, wistra 1986, 128 (132); a.A. Hilgendorf (Fn. 12), § 263a Rn. 5. 29 Heghmanns, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, Teil 6 Kap. 1 Rn. 203; Möhrenschlager, wistra 1986, 128 (132); a.A. Hoyer (Fn. 15), § 263a Rn. 26. 30 BGHSt 40, 331 (334 f.).

sich regelmäßig auch mit Blick auf das von dem Berechtigten eigentlich Gewollte, weshalb die subjektivierende Auslegung demgegenüber keine zusätzliche Reduktion zu leisten vermag. Da das Geltendmachen nichtexistenter Forderungen dem in § 138 ZPO Abs. 1 ZPO manifestierten Willen des Gesetzge-bers zuwiderläuft, den sich wiederum die Justiz als System-betreiberin zu eigen zu machen hat, wäre deshalb nach der subjektivierenden Auffassung auch ein Computerbetrug an-zunehmen. Mangels jeglicher Reduktionsleistung ist diese Auffassung aber zur Präzisierung des § 263a StGB ungeeig-net und daher abzulehnen.

Der sog. computerspezifischen Auslegung geht es darum, nur solche Tathandlungen zu erfassen, welche die spezifischen Fähigkeiten des Computers ausnutzen, wobei die Einzelhei-ten durchaus umstritten sind. Während man sich z.T. auf Zugangserschleichungen konzentriert,31 hat sich Hilgendorf auf „echte“ Datenverarbeitungsvorgänge beschränkt, bei de-nen nicht nur Eingaben reproduziert, sondern Ergebnisse erst auf Grund der Verknüpfung und dem Abgleich mit bereits gespeicherten Daten („intellektersetzend“) produziert wer-den.32 Wo die subjektivierende Auffassung zu wenig an Ein-grenzung des § 263a StGB leistet, geht – so lautet jedenfalls die zumeist geäußerte Kritik33 – die computerspezifische Aus-legung zu weit. Mit je nach Spielart unterschiedlicher Be-gründung muss sie für das automatisierte Mahnverfahren im Ergebnis einen Computerbetrug verneinen: Weder prüft das Programm die Berechtigung der konkret geltend gemachten Forderung noch verarbeitet es die Eingabe anhand gespei-cherter Informationen zu einem von den Eingabewerten in-haltlich abweichenden Output.34

Bei der betrugsäquivalenten Auslegung, wie sie auch der Senat anwendet,35 wird zumeist (nur) auf eine Täuschungs-äquivalenz geachtet: Würde ein Mensch, der fiktiv an die Stelle des Computers träte, durch das Verhalten des Täters getäuscht?36 Im Hinblick auf die im Parallelfall des nichtau-tomatisierten Mahnverfahrens erfolgende Täuschung (s.o. III. 1.) wäre eine solche Täuschungsäquivalenz an sich zu beja-hen.37 Wer so vorgeht, zieht die Parallele zu § 263 StGB

31 Achenbach, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 2002, 2002, S. 481 (494); Lenckner/Winkelbauer, CR 1986, 654 (657 f.); ähnlich LG Freiburg NJW 1990, 2635 (2636 f.). 32 Hilgendorf, JuS 1999, 542 (543 f.), der inzwischen aller-dings zur subjektivierenden Auffassung neigt, vgl. Hilgendorf (Fn. 12), § 263a Rn. 11, 14. 33 Hilgendorf (Fn. 12), § 263a Rn. 11; Perron (Fn. 15), § 263a Rn. 9; Tiedemann/Valerius (Fn. 10), § 263a Rn. 45. 34 Anders läge es bei den Forderungstypen, wo es der ange-sprochenen freitextlichen Ergänzungen bedarf, die immerhin mit dem vorhandenen Typenkatalog abgeglichen werden. 35 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 18 f. 36 Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2012, § 263a Rn. 13; Hoyer (Fn. 15), § 263a Rn. 19 f.; Schlüchter, NStZ 1988, 53 (59); Tiedemann/Valerius (Fn. 10), § 263a Rn. 44, 46 ff. 37 Daher § 263a StGB bejahend Tiedemann/Valerius (Fn. 10), § 263a Rn. 68; Münker (Fn. 18), S. 82 f., 199 f.

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allerdings nur unvollkommen. Von dessen Elementen (Täu-schung, Irrtum, Vermögensverfügung und Schaden) finden sich in § 263a StGB nämlich nur der Schaden sowie die Vermögensverfügung (beeinflusstes Ergebnis [des Datenver-arbeitungsvorgangs]) unmittelbar wieder, während neben der Täuschung auch der Irrtum durch die aufgezählten Daten-verwendungen, Einflussnahmen oder Programmierungen zu ersetzen ist. Neben der Täuschungsäquivalenz bedarf es des-halb zum einen zugleich einer Irrtumsäquivalenz (die sich im Übrigen auch aus der geforderten „Beeinflussung“ des Da-tenverarbeitungsvorgangs herauslesen ließe)! Zum anderen vergleicht man die sprichwörtlichen Äpfel mit Birnen, wenn man als fiktive Vergleichsperson den realen Sachbearbeiter heranzieht, der – anders als der Computer – nicht nur die dürren Dateneingaben, sondern genauso sämtliche konklu-denten (Mit-)Erklärungen aufnehmen, sich selbstverständlich auch über sie umfassende Gedanken machen und seine Ent-scheidung danach einrichten kann.38 Völlig zu Recht hatte deshalb der 2. Strafsenat in BGHSt 47, 160, zur – wegen Kontoüberziehung unbefugten – Geldabhebung am Geldauto-maten durch den Kontoinhaber den Vergleich auf einen Schalterangestellten bezogen, der sich nur mit denselben Fragen befasst, welche der Computer gleichfalls prüft.39 Ver-zichtete man hingegen darauf, dem Computer zumindest eine rudimentäre Prüfung von Richtigkeit (2. Var.), Vollständig-keit (3. Var.) der Daten bzw. Befugnis ihrer Nutzung (4. Var.) abzuverlangen, so gestaltete man § 263a StGB im Grunde zu einer Art Computeruntreue40 um: Bestraft würde, wer sich nicht an die Benutzungsregeln hält, und zwar unabhängig davon, welche Kontrollmechanismen der Anlagenbetreiber einer solch ungetreuen Vorgehensweise entgegengesetzt hat. Das Betrugsunrecht des § 263 StGB besteht aber zu einem wesentlichen Teil aus der Überlistung eines intelligenten Abwehrsystems, nämlich dem menschlichen Intellekt. Ein entsprechender Tatbestand des Computerbetruges muss daher genauso das Element des Besiegens eines Abwehrmechanis-mus enthalten, um zu einer Strukturgleichheit mit dem Be-trugstatbestand zu gelangen. Aus diesem Grund setzt § 263a StGB mit der Rechtsprechung des 2. Senats41 und entgegen der Auffassung des 4. Senats mindestens eine Plausibilitäts-kontrolle durch die elektronische Datenverarbeitung voraus, wie sie beispielsweise im Falle der Geldabhebung am Bank-automaten durch eine unbefugte Person mittels der Abfrage der PIN geschieht. Allein eine so verstandene betrugsäquiva-lente Auslegung, nämlich bestehend aus Täuschungs- und Irr-tumsäquivalenz, stellt eine sachgerechte, weder zu weit noch zu kurz greifende Auslegung des § 263a StGB dar.

b) Wendet man mit dieser Maßgabe § 263a StGB auf die Beantragung von Mahn- und Vollstreckungsbescheid an, so

38 Mühlbauer, wistra 2003, 244 (249). 39 BGHSt 47, 160 (163); ebenso der 1. Senat, BGHSt 58, 119, (125 f. Rn. 28); zweifelnd dagegen schon zuvor der 4. Senat, BGH NJW 2013, 1017 (1018). 40 Davor warnen auch Hoyer (Fn. 15), § 263a Rn. 15 f.; Tie-demann/Valerius (Fn. 10), § 263a Rn. 43, wenngleich sie an-dere Schlüsse ziehen. 41 BGHSt 47, 160 (163).

ist je nach Eingabe zu differenzieren. Denn angesichts der geschilderten Prüfungsroutinen darf nicht pauschal ange-nommen werden, die Datenverarbeitung prüfe schlicht über-haupt nichts. Betrachtet man zunächst den Forderungsgrund (d.h. das Einsetzen der Ziffer „5“ für „Forderung aus Dienst-leistungsvertrag“), so erfolgt hier allerdings tatsächlich kei-nerlei Kontrolle, weil das System dem Antragsteller nur die Wahl aus einem begrenzten Katalog gestattet, daraus aber jede Eingabe bedingungslos akzeptiert. Anders liegt es freilich dort, wo freitextliche Ergänzungen verlangt werden (Nr. 28: „Schadensersatz aus ____-Vertrag“), weil hier der angegebe-ne Vertragstyp mit den dem Programm bekannten Vertrags-typen abgeglichen wird. Eine solche Ergänzung war bei der hier gewählten Eingabe aber nicht erforderlich. Bei der nähe-ren Angabe der Forderungsgrundlage sieht es ähnlich aus: Das System bietet Alternativen wie „Rechnung“, „Vertrag“, „Quittung“ usw. an, ohne diese näher zu kontrollieren. Bei der entsprechenden Datumsangabe erfolgt immerhin eine Plausibilitätsprüfung; solange der Antragsteller allerdings ein real existierendes Datum aus der Vergangenheit wählt, wird dieses akzeptiert. Hier findet also keine inhaltliche Plausibili-tätskontrolle statt, sondern es wird im Grunde nur nach for-malen Tippfehlern gesucht. Eine solche Art Rechtschreibkon-trolle genügt aber nicht, um von einer irrtumsäquivalenten Fehlvorstellung sprechen zu können. Selbst beim Forderungs-betrag liegt es im Ergebnis nicht anders, wenn das System das Übersteigen bestimmter Grenzwerte prüft, um die betref-fenden Forderungen der menschlichen Kontrolle durch den Rechtspfleger zuzuführen. Zwar existiert an dieser Stelle eine Kontrolle im System, der es nicht darum geht, Schreibfehler zu entdecken, sondern inhaltlich die einer gesonderten Prü-fung bedürftigen Fälle zu identifizieren. Allerdings hat diese Prüfung nichts mit dem vergleichbaren Täuschungsgegenstand im traditionellen Mahnverfahren zu tun. Wenn es dort um die konkludente Erklärung subjektiv guten Glaubens des Antrag-stellers an den eigenen Anspruch geht, so erfolgt nämlich in dieser Hinsicht keinerlei äquivalente Prüfung seitens der Datenverarbeitung im automatisierten Mahnverfahren. Das System will vielmehr allein die wegen ihrer Höhe nicht ohne menschliche Zweitkontrolle zu bearbeitenden Anträge heraus-filtern, kümmert sich hingegen nicht im Geringsten um die Plausibilität derjenigen Ansprüche, welche die fragliche For-derungshöhe nicht übersteigen.

Selbst das Geltendmachen eines erfundenen Forderungs-betrages führt deswegen zu keiner täuschungs- und irrtums-äquivalenten Beeinflussung des Ergebnisses der Datenverar-beitung, sofern nicht wegen einer notwendigen Freitexteingabe beim Anspruchsgrund die betreffende Plausibilitätskontrolle stattfindet. Im zu entscheidenden Fall hat der Senat daher unzutreffend eine Strafbarkeit nach § 263a Abs. 1 StGB an-genommen. Die Beantragung eines Mahnbescheides im au-tomatisierten Verfahren unter bewusst falscher Angabe eines Anspruchsgrundes kann zwar im Ausnahmefall § 263a StGB erfüllen; im Regelfall hingegen wird angesichts des rudimen-tären Kontrollpotenzials der eingesetzten Datenverarbeitung kein Computerbetrug vorliegen.

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3. Betrug beim Antrag auf Erlass des Pfändungs- und Über-weisungsbeschlusses? Nach einer – wenngleich hier im Ergebnis unrichtigen – An-nahme eines Computerbetruges anlässlich der Beantragung von Mahn- und Vollstreckungsbescheid bedürfte es in einer gutachterlichen Fallbearbeitung konsequenterweise eigentlich keiner ausführlichen Betrachtung eines möglichen Betruges bei der nachfolgenden Beantragung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses mehr, weil durch einen solchen der bereits eingetretene Schaden nur noch vertieft würde und so-mit die Konstellation einer (qua Konsumtion straflosen) mit-bestraften Nachtat vorläge.42 Die revisionsrechtliche Prüfung durch den Senat musste hingegen zunächst die Annahme eines solchen Betruges im Urteil der Strafkammer hinterfra-gen (ebenso, wie man es nach zutreffender Verneinung von § 263a StGB tun müsste), indes mit negativem Ergebnis: We-der liege eine konkludente Täuschung vor43 noch könne man einen Betrug durch Unterlassen konstruieren.44 Es fehle an einer konkludenten Miterklärung über das Zustandekommen des vorgelegten Vollstreckungsbescheides, weil der Rechts-pfleger selbst bei positiver Kenntnis von dessen materieller Unrichtigkeit – im Unterschied zum Mahnverfahren – den Antrag gar nicht zurückweisen könne, sondern Einwendun-gen ausschließlich in den formalen Bahnen der Vollstre-ckungsgegenklage (§ 767 i.V.m. §§ 795, 796 ZPO) oder einer Klage auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Heraus-gabe des Titels nach § 826 BGB zu erheben seien.45 Mit dieser Auffassung setzt sich der 4. Senat allerdings in Wider-spruch zu einer früheren Entscheidung des 1. Senats, in der jener in einer fast identischen Situation einen Betrug bejaht hatte,46 wenngleich, wie der 4. Senat hervorhebt, nicht in einer die Entscheidung tragenden Erwägung (weshalb dies ihn auch nicht zu einer Vorlage gemäß § 132 Abs. 2 GVG nötigte). In der Tat mag es, vordergründig betrachtet, befrem-den, wenn man dem Rechtspfleger den Erlass eines Pfän-dungs- und Überweisungsbeschlusses trotz positiver Kennt-nis strafbarer Erlangung des zu Grunde liegenden Vollstre-ckungsbescheides abverlangt, während man ihm für dessen Erlass noch den Ausweg der Zurückweisung eröffnet hatte. Indessen stellt sich die Ausgangssituation anders dar: Mit dem einem Urteil gleichstehenden Vollstreckungsbescheid ist rechtskräftig und prinzipiell auch abschließend über den Anspruch entschieden. Die Autorität des gerichtlichen Er-kenntnisses, so falsch es auch sein mag, kann nun nicht mehr informell qua womöglich privat erlangten besseren Wissens 42 Vgl. etwa Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 12), § 52 Rn. 22 ff.; Sternberg-Lieben/Bosch, in: Schönke/ Schröder (Fn. 15), Vor §§ 52 ff. Rn. 129 ff.; Rissing-van Saan, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl. 2006, Vor § 52 Rn. 151 ff. 43 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 11 ff. 44 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 4 ff. 45 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 13. 46 BGH, Beschl. v. 25.4.2001 – 1 StR 82/01 = BGHR StGB § 263 Abs. 1 Täuschung 19; ausführliche Besprechung von B. Kretschmer, GA 2004, 458 (472 ff.).

eines nichtrichterlichen Justizangehörigen aufgehoben wer-den. Vielmehr bedarf es dazu eines ebenso förmlichen Ver-fahrens wie zur Titelerlangung. Im Mahnverfahren hingegen existiert bis dahin allein die Behauptung eines Verfahrensbe-teiligten; ihr nicht zu glauben und zu folgen, ist prozess-rechtssystematisch noch ohne weiteres möglich.

Das Entstehen des Vollstreckungstitels stellt daher keinen Aspekt dar, welchen der Rechtspfleger bei seiner Entschei-dung jetzt noch berücksichtigen dürfte, und folgerichtig kann es auch kein Gegenstand von notwendigen konkludenten (Mit-)Erklärungen der Angeklagten bei der Beantragung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses gewesen sein.47 Aus derselben Überlegung heraus musste auch die Annahme einer Täuschung durch Unterlassen scheitern. Der Senat stellt dem-gegenüber in diesem Zusammenhang auf das Nichtvorliegen einer Ingerenz ab; die Titelerlangung bilde für sich genom-men noch keine Gefahr, denn wäre die Angeklagte in der Folge untätig geblieben, hätte sich der Vermögensschaden auch nicht realisieren können.48 Diese Begründung bleibt freilich angreifbar, denn angesichts der Möglichkeit einer Zwangsvollstreckung durch einen Rechtsnachfolger der An-geklagten (vgl. § 727 i.V.m. §§ 795, 796 ZPO) war die Ge-fahr einer Inanspruchnahme des vermeintlichen Schuldners selbst bei Untätigbleiben der Angeklagten jedenfalls nicht ein für alle Mal gebannt. Im Ergebnis allerdings lag der Senat an dieser Stelle richtig. IV. Bewertung Die Entscheidung des Senats gelangt mithin an ihrer zentra-len Stelle, der Anwendbarkeit von § 263a StGB auf das auto-matisierte Mahnverfahren, zu einem jedenfalls in dieser Pau-schalität unrichtigen Resultat. Er setzt sich mit seiner Lesart der betrugsäquivalenten Auslegung des § 263a Abs. 1 StGB zudem in Widerspruch zu der in BGHSt 47, 160, zutreffend entwickelten Linie. Demgegenüber bleibt zu betonen, dass Betrugsäquivalenz sowohl Täuschungs- als auch Irrtumsäqui-valenz erfordert. Der an die Stelle des Computers fiktiv ge-setzte Mensch müsste daher durch den Täter nicht nur ge-täuscht worden sein, sondern die täuschungsäquivalente Ein-gabe hat zudem Tatsachen zu erfassen, die Gegenstand der im Datenverarbeitungsprogramm angelegten Prüfungen des Computers sind.

Das Ergebnis eines im Regelfall straflosen Erwirkens und Benutzens von Vollstreckungstiteln, die im automatisierten Mahnverfahren infolge des bewussten Geltendmachens nicht-existenter Ansprüche entstehen, mag wenig befriedigen. Es ist freilich die logische Konsequenz, wenn man die intelligen-te menschliche Sachbearbeitung durch eine billigere, aber eben auch weitaus weniger intelligente maschinelle Bearbei-tung ersetzt. Wer sich ersatzlos des Schutzes einer gedanklich flexiblen menschlichen Kontrolle begibt, kann als Kompensa-tion eben nicht in vollem Umfang einen strafrechtlichen Schutz für sich reklamieren. Vielmehr muss er seinen Beitrag dazu leisten, sich nach solchen Einsparungen menschlicher Arbeitsschritte nicht völlig schutzlos zu stellen, und seine 47 B. Kretschmer, GA 2004, 458 (473 f.). 48 BGH, Beschl. v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, Rn. 7 f.

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Datenverarbeitungsvorgänge so strukturieren, dass sie wenig-stens im Kern denselben Schutz vor missbräuchlicher Inan-spruchnahme bieten wie zuvor der menschliche Sachbearbei-ter. Nur wer so vorgeht, genießt an Stelle des in Wegfall geratenden Vermögensschutzes des § 263 StGB anschließend denjenigen des § 263a StGB.

Prof. Dr. Michael Heghmanns, Münster

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BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/12 Hartmann _____________________________________________________________________________________

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Beschreibungen von Kunstgegenständen in Auktionskata-logen in der Systematik des Sachmängelgewährleistungs-rechts 1. Einer auf einer Kunstauktion zu einem erheblichen Ausrufpreis als museal angebotene Skulptur, die entgegen einer im Auktionskatalog erfolgten Zuschreibung zu einer in früherer Zeit liegender Stilepoche eine neuzeitliche Fälschung ist, fehlt die bei derartigen Kunstgegenständen zu erwartende Eignung als Sammlerstück und Wertanlage; sie ist deshalb mangelhaft (Fortführung von BGH, Urteile vom 15. Januar 1975 – VIII ZR 80/73, BGHZ 63, 369, 371; vom 13. Februar 1980 – VIII ZR 26/79, WM 1980, 529 unter II 2). 2. Die Regelung in den Versteigerungsbedingungen eines Auktionshauses, wonach der Käufer gegen das Auktions-haus keine Einwendungen oder Ansprüche wegen Sach-mängeln erheben kann, verstößt gegen § 309 Nr. 7 Buchst. a BGB und ist deshalb insgesamt unwirksam (Bestätigung von BGH, Urteile vom 15. November 2006 – VIII ZR 3/06, BGHZ 170, 31 Rn. 21; vom 24. Februar 2010 – VIII ZR 71/09, WM 2010, 938 Rn. 18; vom 29. Mai 2013 – VIII ZR 174/12, NJW 2013, 2584 Rn. 15 f.). (amtliche Leitsätze) BGB §§ 305c, 309 Nr. 7 lit. a, 434 Abs. 1 BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/12 (OLG München, LG München I)1 I. Problemstellung Die „Buddha“-Entscheidung gab Gelegenheit drei zentrale Fragen auf dem Gebiet des Kaufrechts zu beantworten. Auf-grund des vom BGH eingeschlagenen Argumentationsweges nahm dieser jedoch nur zu einer dieser Fragen Stellung. Im Einzelnen hätte geklärt werden können – wie zu zeigen sein wird sogar müssen – wie die Angaben zu Kunstgenständen in Auktionskatalogen in der Systematik des Sachmängelgewähr-leistungsrechts zu qualifizieren sind. Darüber hinaus wäre dann zu untersuchen gewesen, ob sich der Auktionator bei Zustandekommen des Vertrags durch seine Versteigerungs-bedingungen davon freizeichnen kann, ein den Beschreibun-gen im Auktionskatalog entsprechendes Kunstobjekt abzulie-fern. Schlussendlich stellte sich die im Urteil dezidiert erör-terte Frage, inwieweit der Auktionator die Gewährleistungs-rechte eines Käufers in seinen Versteigerungsbedingungen abbedingen kann. II. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Gegenstand der Entscheidung ist das Rücktrittsbegehren eines Käufers, der im Rahmen einer öffentlichen Versteigerung den 1 Die Entscheidung ist abrufbar unter: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi¬bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=5ceb2fbb83b4bddfa984059568d9e34b&nr=65723&pos=0&anz=1 (12.05.2014).

Zuschlag für eine Buddha-Statue erhielt. Aufgrund von Zwei-feln an der Echtheit des Objekts, das im Auktionskatalog u.a. mit „[…] Sui-Dynastie, 581-681 […]“ und „Museal!“ be-schrieben wurde, ließ der Ersteigerer eine naturwissenschaft-liche Untersuchung durchführen, welche zu Tage förderte, dass es sich bei der Kaufsache tatsächlich um eine neuzeitli-che Fälschung handelte. Infolgedessen verlangte der Käufer Rückzahlung des Kaufpreises in Höhe von i.H.v. 20.295 €, sowie Erstattung der angefallenen Gutachterkosten i.H.v. 1.339,51 € nebst Zinsen sowie die Feststellung des Annahme-verzuges. Das Auktionshaus hingegen lehnte das Verlangen des Käufers unter Bezugnahme auf die zugrundeliegenden Versteigerungsbedingungen ab. Hinsichtlich der Angaben im Auktionskatalog war in den Versteigerungsbedingungen fol-gendes geregelt: „Die Katalogangaben sind nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen, sie sind aber nicht Teil der vertraglich vereinbarten Beschaffenheit der Gegenstände; das gleiche gilt für deren Bezeichnung beim Aufruf.“ Ohne zu erörtern, ob es sich bei den Beschreibungen im Auktions-katalog um konkludente Beschaffenheitsvereinbarungen han-deln könnte, wird das Vorliegen eines Sachmangels nach § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 3 BGB angenommen. Nach An-sicht des Gerichts könne die betreffende Klausel in der hier maßgeblichen kundenfreundlichsten Auslegung lediglich der Annahme einer konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung entgegenstehen. Die Wirksamkeit einer solchen Klausel könne aber offengelassen werden. Vor dem Hintergrund der Be-schreibung und der Höhe des Ausrufpreises von 3.800 € sei nämlich offensichtlich, dass eine solche Skulptur für gewöhn-lich als Sammlerstück und Wertanlage verwendet werde und dies auch der Beschaffenheit entspreche, die ein Käufer erwar-ten könne.

Die Gewährleistungsrechte der Käufer betreffend, sahen die Versteigerungsbedingungen folgende Regelung vor: „Der Käufer kann gegen das Auktionshaus keine Einwendungen oder Ansprüche wegen Sachmängeln erheben.“ Dass ein der-art umfänglicher Gewährleistungsausschluss unwirksam ist, mag kaum überraschen. Und so konstatiert der BGH in seiner Entscheidung konsequent und umgehend einen Verstoß gegen das absolute Klauselverbot des § 309 Nr. 7 lit. a BGB, da der Haftungsausschluss gerade keine Einschränkung für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder Gesundheit vorsieht und die Klausel sich darüber hinaus auch nicht in einen wirksamen und unwirksamen Teil trennen lässt. III. Bewertung Die Entscheidung beschäftigt sich nicht mit der Frage, warum Beschreibungen von Versteigerungsobjekten in Auktions-katalogen nicht als Beschaffenheitsgarantien nach § 443 Abs. 1 Var. 1 BGB, Beschaffenheitsvereinbarungen nach § 434 Abs. 1 S. 1 BGB oder aber als bloße Wissenserklärungen zu qualifizieren sind. Dabei sind im Rahmen des Sachmängel-rechts nach Umsetzung von Art. 2 der Verbrauchsgüterkauf-richtlinie und der damit einhergehenden Einführung des sub-jektiven Fehlerbegriffs objektive Kriterien nur dann heranzu-ziehen, wenn es an einer Beschaffenheitsvereinbarung der

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BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/13 Hartmann _____________________________________________________________________________________

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Parteien fehlt.2 Dieser Vorrang geht auch unmittelbar aus § 434 Abs. 1 S. 2 BGB hervor, in dem es heißt: „Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist die Sache frei von Sach-mängeln […]“.

Bei den Beschreibungen im Auktionskatalog müsste es sich dafür jedenfalls überhaupt um Angaben zur „Beschaf-fenheit“ der Buddha-Statue handeln. Der Beschaffenheits-begriff ist weit gefasst und meint alle Eigenschaften einer Sache.3 Angaben zum Alter und auch der Hinweis zur Eig-nung für museale Zwecke entspricht damit einer Beschrei-bung der Beschaffenheit der Kaufsache. Es könnte sich dabei um eine konkludent vereinbarte Beschaffenheitsgarantie, oder aber um eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung han-deln. Gegen das Vorliegen einer konkludent vereinbarten Be-schaffenheitsgarantie spricht jedoch bereits der aus der ver-schuldensunabhängigen Haftung des Verkäufers resultierende hohe Maßstab, der für eine dahingehende Einigung der Par-teien gelten muss.4 Aus Sicht des objektiven Empfängerhori-zonts müsste sich eindeutig ergeben, dass der Verkäufer sich an den Beschreibungen im Auktionskatalog festhalten lassen will und für das Nichtvorliegen der angegeben Eigenschaften verschuldensunabhängig einstehen möchte. Hiergegen spricht jedoch, dass der als Kommissionär auftretende Auktionator auch bei Durchführung eigener Nachforschungen in nicht un-erheblichem Maße auf die Informationen des Einlieferers angewiesen ist. Für die Annahme einer konkludent vereinbar-ten Beschaffenheitsgarantie müssten daher weitere Umstände hinzutreten, wie etwa mindestens der Verweis auf ein die Echt-heit bestätigendes Expertengutachten im Auktionskatalog.5 Die Angaben im Auktionskatalog könnten jedoch eine konklu-dente Beschaffenheitsvereinbarung gemäß § 434 Abs. 1 S. 1 BGB begründen. Die Beschaffenheit der Buddha-Statue müss-te daher konkludent „vereinbart“ worden sein. Dies ist anzu-nehmen, wenn der Inhalt des Vertrages, die Pflicht des Ver-käufers bestimmt, die Kaufsache in dem Zustand zu übereig-nen, wie ihre Beschaffenheit im Vertrag festgelegt ist und der Käufer von den Beschreibungen im Auktionskatalog Kenntnis hat.6 Ein darüber hinausgehender Einstandswille ist im Gegen-satz zur Garantie nicht erforderlich.7 Nach einer Ansicht des LG Freiburg8 fehlt es bei Beschreibungen in Auktionskatalo-gen an einer konkludenten Vereinbarung, wenn die Angaben unter Vorbehalt gemacht werden, die Beschreibungen kurz ausfallen und auch andere Umstände wie etwa ein niedriger Ausrufpreis vorliegen. Zwar geht aus den Versteigerungsbe-

2 BT-Drs. 14/6040, S. 212. 3 Matusche-Beckmann, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neubearbeitung 2014, § 434 Rn. 42, 54. 4 Gegen das Vorliegen einer konkludent vereinbarten Beschaf-fenheitsgarantie OLG Köln NJW 2012, 2665 (2667); Matu-sche-Beckmann (Fn. 3), § 443 Rn. 6.; Schapiro, JZ 2011, 549 (551). 5 Schapiro, JZ 2013, 549 (552). 6 Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 434 Rn. 15. 7 Schapiro, JZ 2013, 549 (552); Matusche-Beckmann (Fn. 3), § 434 Rn. 64. 8 LG Freiburg NJW-RR 2012, 426.

dingungen des Beklagten hervor, dass eine Fehlbeurteilung der Eigenschaften des Auktionsgegenstandes im Risikobereich des Ersteigerers liegen soll,9 jedoch sind die konkreten Be-schreibungen der Buddha-Statue und auch die Höhe des Aus-rufpreises so zu bewerten, dass sie nach dieser Ansicht eher für eine konkludente Beschaffenheitsvereinbarung sprechen. Überzeugend erscheint auch die von Matusche-Beckmann vor-genommene Differenzierung nach der Art der Auktion.10 Im Falle einer Auktion, bei der Fundsachen versteigert werden, handele es sich bei den Angaben im Auktionskatalog um Wissenserklärungen bzw. Beschreibungen, welche der bloßen Identifizierung der Sache dienen. Der Käufer mache hier die besondere Sachkunde des Verkäufers gerade nicht zur Grund-lage seiner Kaufentscheidung. Handelt es sich allerdings um eine Kunst-, Pferde-, oder Schmuckauktion, wo der Verkäufer überlegenes Wissen für sich beansprucht, so begründe der Verkäufer mit seinem Fachwissen erst die Grundlage für das abzuschließende Geschäft und ruft so das Kaufinteresse eines Bieters hervor. In diesen Fällen müsse sich ein Bieter auf die Angaben im Auktionskatalog verlassen können, so dass die Schwelle zur Annahme einer konkludenten Vereinbarung über-schritten sei.11 Auch nach dieser Ansicht liegt also eine kon-kludente Beschaffenheitsvereinbarung und damit auch keine bloße Wissenserklärung vor.

Aufgrund des im Gewährleistungsrecht aufgezeigten Vor-rangs individueller Beschaffenheitsvereinbarungen vor den restlichen Sachmängeltatbeständen, ist eine AGB-rechtliche Bewertung der verwendeten Beschaffenheits-Klausel zwin-gend geboten.12

Die Regelung wonach die Angaben im Auktionskatalog ohne Einfluss auf die vereinbarte Beschaffenheit bleiben sol-len, könnten nach § 305c Abs. 1 BGB überraschend und in-folgedessen nicht wirksam Vertragsbestandteil geworden sein. Voraussetzung dafür ist eine objektive Ungewöhnlichkeit der Klausel sowie subjektiv ein Überrumpelungsmoment beim Käufer. Die objektive Ungewöhnlichkeit der Klausel ist dabei nach den Gesamtumständen zu beurteilen.13 Maßgeblich sind

9 BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/12 Rn. 2: „ Die zur Versteigerung kommenden Gegenstände können vor der Auk-tion besichtigt und geprüft werden. […] Die Katalogangaben sind nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommen, sie sind aber nicht Teil der vertraglich vereinbarten Beschaffen-heit der Gegenstände; das gleich gilt für deren Bezeichnung beim Aufruf.“. 10 Matusche-Beckmann (Fn. 3), § 434 Rn. 70. 11 So auch Schapiro, JZ 2013, 549 (554 f.). 12 Vorliegend handelte es sich um eine öffentliche Versteige-rung nach § 383 Abs. 3 S. 1 BGB für welche die Vorschriften des Verbrauchsgüterkaufs gemäß § 474 Abs. 1 S. 2 BGB nicht gelten. Andernfalls folgte die Unwirksamkeit einer der-artigen „Beschaffenheits-Klausel“ unmittelbar aus § 475 Abs. 1 S. 1 BGB. A.A. Schapiro, der in der konkludenten Beschaffenheitsvereinbarung eine Individualvereinbarung nach § 305b BGB sieht und die Durchführung einer AGB-Prüfung daher für unzulässig hält, JZ 2013, 549 (555). 13 Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 73. Aufl. 2014, § 305c Rn. 3.

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BGH, Urt. v. 9.10.2013 – VIII ZR 224/12 Hartmann _____________________________________________________________________________________

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unter anderem die Üblichkeit der betreffenden Klausel sowie die Vereinbarkeit mit dem Leitbild des Vertrages.14 „Beschaf-fenheits-Klauseln“ sind in Versteigerungsbedingungen üblich15 und in der nach § 305c Abs. 2 BGB maßgeblichen kunden-freundlichsten Auslegung kann ein Sachmangel noch nach den übrigen Tatbeständen des § 434 BGB hergeleitet werden. Damit widerspricht eine solche Klausel auch nicht dem Leit-bild des Vertrages, die es dem Verkäufer etwa erlauben würde, eine gänzlich andere Kaufsache abzuliefern. Die Klausel ist für den Durchschnittskäufer wohl überraschend, jedoch ist sie weder redaktionstechnisch, noch inhaltlich geeignet, den Käu-fer zu überrumpeln. Dieser wird sich nicht vor den Interessen des Auktionators verschließen können, nicht für jede Abwei-chung von den Angaben im Auktionskatalog einstehen zu müssen.

Weiterhin ist das Vorliegen eines Klauselverbotes nach §§ 309, 308 BGB nicht ersichtlich,16 weshalb sich die allge-meine Inhaltskontrolle nach § 307 BGB anschließt.17 Damit stellt sich nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB zunächst die Frage, ob der Käufer durch eine derartige Regelung unangemessen benachteiligt wird, weil diese mit den wesentlichen gesetzli-chen Grundgedanken unvereinbar ist. Angespielt wird damit auf die Leitbildfunktion des dispositiven Rechts, das auf einen angemessenen Interessenausgleich der Vertragsparteien ab-zielt.18 Die Funktion des § 434 BGB liegt schlicht darin, zu regeln, wann der Verkäufer seine Pflicht zur sachmangelfreien Leistung verletzt hat.19 Wie oben gezeigt, soll sich dies nach der Konzeption des Gesetzes zuvorderst nach der Beschaffen-heitsvereinbarung richten. Durch die vom Auktionshaus ver-wendete Klausel soll jeglicher Einfluss einer Beschaffenheits-vereinbarung auf die Sachmangelfreiheit des Versteigerungs-objekts ausgehebelt werden. Allerdings lässt die Klausel noch Raum für die anderen Tatbestände des § 434 Abs. 1 BGB und erschwert zwar den Zugang zu den Gewährleistungsrechten des Käufers merklich, aber nicht übermäßig. Eine Unwirksam-keit nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist damit nicht gegeben.

Eine Unwirksamkeit nach § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB kommt dann in Betracht, wenn die Klausel den Zweck des Vertrages aushöhlt und der berechtigten Leistungserwartung des Käu-fers widerspricht.20 In Fortführung der angestellten Überle-gung, ob überhaupt eine Beschaffenheitsvereinbarung oder eine bloße Wissenserklärung des Auktionshauses vorliegt, schlagen sich die Besonderheiten einer Kunstauktion auch im Vertragszweck nieder. Bei Kunstauktionen mit ihren erhebli-chen Ausrufpreisen und der verkaufsfördernden Sachkunde

14 Grüneberg (Fn. 13), § 305c Rn. 3. 15 Schapiro, JZ 2013, 549 (555). 16 Allenfalls wäre an eine Analogie zum § 308 Nr. 4 BGB zu denken. 17 Zum Verhältnis der Absätze 1 und 2 siehe Wurmnest, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 307 Rn. 23; Coester, in: Staudinger, Kommentar zum BGB, Neu-bearbeitung 2013, § 307 Rn. 222 ff. 18 Coester (Fn. 17), § 307 Rn. 229. 19 H. P. Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl. 2012, § 434 Rn. 1. 20 Coester (Fn. 17), § 307 Rn. 278.

des Auktionshauses, ist dem Vertrag die Einigung über die konkret beschriebene Kaufsache geradezu immanent. Die Zu-lässigkeit einer „Beschaffenheits-Klausel“ würde den Zweck der auf Kunstauktionen geschlossenen Verträge nicht nur ge-fährden, was für den Tatbestand des § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB bereits ausreicht, sondern grundlegend unterminieren. Der vom BGH eingeschlagene Weg über die Auslassung der AGB-rechtlichen Bewertung einer „Beschaffenheits-Klausel“ und der unmittelbaren Subsumtion unter § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, S. 3 BGB ist aufgrund des aufgezeigten Vorrangs der Beschaf-fenheitsvereinbarung für den Sachmangelbegriff hingegen dogmatisch nicht vertretbar.

Schlussendlich sahen die Auktionsbedingungen vor, dass Käufer „[…] keine Einwendungen oder Ansprüche wegen Sachmängeln erheben […]“ können, was – auf den Fall bezo-gen – auch zum Ausschluss des Rücktrittsrechts des Käufers führt. Der BGH erklärte die Klausel für unvereinbar mit § 309 Nr. 7 lit. a BGB. Jedoch könnte ein vollumfänglicher Gewährleistungsausschluss bereits an der Hürde des § 305c Abs. 1 BGB scheitern und damit nicht einmal Vertragsbe-standteil geworden sein. Im Unterschied zu der „Beschaffen-heits-Klausel“, welche bei vielen Auktionshäusern verwendet wird und damit nicht objektiv ungewöhnlich ist, ist der Aus-schluss sämtlicher Gewährleistungsrechte nur selten vorzu-finden. Darüber hinaus steht die Regelung diametral zum dis-positiven Recht, wodurch die objektive Ungewöhnlichkeit der Klausel unterstrichen wird. Auch wenn die Klausel nach der äußeren Gestaltung des Vertrages nicht überraschend gewe-sen sein mag, so ist sie es inhaltlich umso mehr. Kein Käufer rechnet damit, dass ihm jegliche Gewährleistungsrechte ab-gesprochen werden. Die Klausel ist damit überraschend und nicht wirksamer Vertragsbestandteil gem. § 305c Abs. 1 BGB geworden.

Während die Unwirksamkeit des vollständigen Gewähr-leistungsausschlusses eher en passant festgestellt werden konn-te und – abgesehen von der Klausel selbst – wenig überra-schend daherkam, ergibt sich für die häufig verwendeten „Beschaffenheits-Klauseln“ ein anderer Befund: Es hat sich gezeigt, dass die Auktionshäuser, die sich auf die Versteige-rung von Kunstobjekten spezialisiert haben, zukünftig noch größeren Aufwand bei der Überprüfung ihrer Versteigerungs-objekte betreiben müssen und ihre Klauselwerke mit dem un-überwindbaren Kerngehalt des Sachmängelgewährleistungs-rechts in Einklang zu bringen haben.

Wiss. Mitarbeiter Marc Hartmann, Bielefeld

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E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g Rückwirkungsverbot und Handlungsspielraum des Ge-setzgebers 1. Den Inhalt geltenden Rechts kann der Gesetzgeber mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den verfassungs-rechtlichen Grenzen für eine rückwirkende Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren. 2. Eine nachträgliche, klärende Feststellung des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber ist grundsätzlich als kon-stitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn dadurch eine in der Fachgerichtsbarkeit offene Auslegungsfrage entschieden oder eine davon abweichende Auslegung aus-geschlossen werden soll (Amtliche Leitsätze). GG Art. 20 Abs. 2 und 3, Art. 100 Abs. 1 KAAG §§ 43 Abs. 18, 40a Abs. 1 KStG § 8b Abs. 3 a.F. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/081 I. Problemstellung 1. Zum Fall Das Bundesverfassungsgericht hat mit der vorliegenden Ent-scheidung die Dogmatik des Rückwirkungsverbots um eine neue Konstellation erweitert. Auf eine Vorlage des Finanzge-richts Münster nach Art. 100 GG (konkrete Normenkontrolle) erklärt der Erste Senat eine steuerrechtliche Vorschrift für verfassungswidrig und nichtig. Mit der nun verworfenen Bestimmung hatte der Bundesgesetzgeber die Anwendung allgemeiner Regelungen des Körperschaftssteuerrechts für Kapitalanlagegesellschaften sicherstellen wollen. Steuerrecht-lich ging es dabei um den Ausschluss von Abschreibungen als Abzugsposten im Rahmen der Ermittlung des steuer-pflichtigen Einkommens, verfassungsrechtlich um die Frage, ob eine als „Klarstellung“ ausgewiesene gesetzliche Rege-lung auch auf vergangene Sachverhalte angewendet werden kann.

Der Senat bestimmt mit seinem Beschluss, der mit 5:3 Stimmen ergangen ist, das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und (Fach-)Rechtsprechung neu: Die Veränderung einer ge-setzlichen Regelung gilt nun auch für den Fall einer „Klar-stellung“ grundsätzlich als konstitutiv. Wenn sie auf vergan-gene Sachverhalte Anwendung finden soll, unterliegt sie da-mit den hohen Anforderungen, die das Rückwirkungsverbot stellt; ein konkreter Vertrauenstatbestand des betroffenen Bürgers ist dafür nicht erforderlich. Im Ergebnis wird die Deutung geltenden Rechts in einer Art zeitlich-räumlichen Trennung alleine der Gerichtsbarkeit vorbehalten.

Gegen diese formale Zuordnung der Aufgaben von Judi-kative und Legislative wendet sich das Sondervotum des RiBVerfG Masing. Er weist auf die subjektiv-rechtliche 1 Entscheidung abrufbar unter: http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20131217_1bvl000508.html.

Schutzrichtung des Rückwirkungsverbots hin (was konkrete Vertrauenstatbestände als Ausgangspunkt von Rückwirkungs-verboten einfordert) und warnt vor einer dysfunktionalen Überhöhung getrennter Gewalten. 2. Studienrelevanz Der Beschluss des BVerfG betrifft einen zentralen Prüfungs-stoff aus dem Bereich des Staatsorganisationsrechts, der so-wohl im Grundstudium als auch in der Examensphase rele-vant werden kann.2 Da die Grundkonstruktion von Senatsent-scheidung und Sondervotum leicht vom komplexen steuer-rechtlichen Ausgangsfall abstrahiert werden kann, ist der Rechtsfrage eine baldige Verwertung in Prüfungen und wahr-scheinlich eine Karriere als „Klassiker“ vorherzusagen. II. Inhalt des Urteils 1. Ausgangslage Der einschlägige staatsrechtliche Großbereich ist das Rechts-staatsprinzip, das unter anderem die Grundsätze der Rechtssi-cherheit und des Vertrauensschutzes beinhaltet, welche auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung zielen.3 Daraus folgt u.a. ein Verbot rückwirkender Rechtsetzung: Jedenfalls be-lastenden rückwirkenden Gesetzen steht im Grundsatz das Rechtsstaatsprinzip entgegen.4 Das gilt nicht nur für rechts-kräftig abgeschlossene Verfahren, sondern auch für noch zu entscheidende Sachverhalte, die in der Vergangenheit liegen. Das BVerfG und die ihm folgende Literatur unterscheiden hier zwischen echter und unechter Rückwirkung von Normen. Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträg-lich in abgeschlossene, der Vergangenheit zugehörige Tatbe-stände eingreift; insofern ist auch von einer „Rückbewirkung von Rechtsfolgen“ die Rede. Sie ist grundsätzlich verfas-sungsrechtlich unzulässig und nur in Ausnahmefällen, in de-nen sich ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand des geltenden Rechts nicht bilden konnte, zulässig.5 Das

2 Übersichten bspw. bei Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 12 Rn. 68 ff.; Degenhart, Staats-recht I – Staatsorganistionsrecht, 29. Aufl. 2013, Rn. 393 ff.; Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 2013, Rn. 349 ff.; Fischer, JuS 2001, 861; Übungsfälle etwa bei Geis, Exa-mens-Repetitorium Staatsrecht, 2010, Rn. 70 ff. (Fall 3); Heimann/Kirchhof/Waldhoff, Beck’sches Examinatorium Ver-fassungsrecht und Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2010, S. 196 ff. (Fall 15); Degenhart, Klausurenkurs im Staatsrecht II, 6. Aufl. 2012, Rn. 315 ff., 362 ff. (Fälle 4, 5), mit zusätzli-cher Übersicht Rn. 354 ff.; zur Entwicklung der Rechtspre-chung des BVerfG vgl. auch Bumke/Voßkuhle, Casebook Ver-fassungsrecht, 6. Aufl. 2013, Rn. 1480 ff. 3 Instruktiver Überblick zu den einzelnen Elementen des Rechtsstaatsprinzips bei Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2010, 116; speziell zum Vertrauensschutz Voßkuhle/Kaufhold, JuS 2011, 794. 4 Ein absolutes Rückwirkungsverbot für strafbegründende und strafverschärfende Gesetze folgt aus Art. 103 Abs. 2 GG. 5 BVerfGE 132, 302 (318); Zippelius/Würtenberger (Fn. 2), § 12 Rn. 76 ff.; Degenhart (Fn. 2), Rn. 394, 396.

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Musterbeispiel ist insoweit das Verbot rückwirkender Straf-gesetze, das in Art. 103 GG Abs. 2 gesondert geregelt ist.

Lediglich unechte Rückwirkung ist dagegen anzunehmen, wenn eine Norm auf in der Vergangenheit wurzelnde, aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft ein-wirkt und dadurch bestehende Rechtspositionen nachträglich entwertet; man spricht auch von „tatbestandlicher Rück-anknüpfung“. Die unechte Rückwirkung von Normen ist ver-fassungsrechtlich grundsätzlich zulässig bzw. zumindest nicht grundsätzlich unzulässig; in bestimmten Fällen können ihr die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauens-schutzes entgegenstehen.6 Hierfür lässt sich als Beispiel die Verschärfung von Prüfungsanforderungen nach Beginn eines Studiums nennen.7

Die Zuordnung von Sachverhalten zu den Fallgruppen ohne Rückwirkung, mit unechter bzw. echter Rückwirkung ist – entgegen der Intuition – oftmals nicht leicht zu treffen, da sich oftmals normative und faktische Vorgaben miteinan-der vermischen. Ein Musterbeispiel dafür ist das Steuerrecht, das mit seinen Veranlagungszeiträumen (des bereits abgelau-fenen Kalenderjahres) eine von vornherein artifizielle Wirk-lichkeit schafft; aber auch in langgestreckten Genehmigungs-verfahren etc. muss die Frage der Rückwirkung jeweils sehr präzise abgehandelt werden. 2. Sachverhalt Prüfungsgegenstand war die Verfassungsmäßigkeit des § 43 Abs. 18 des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAGG). Mit dieser Vorschrift aus dem Dezember 2003 wurde in Verbindung mit dem ebenfalls neugefassten § 40a KAGG die Anwendung des § 8b Abs. 3 des Körperschafts-steuergesetzes (KStG) für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen angeordnet. Der Sache nach wurde damit ein im KStG allgemein geltender Ausschluss bestimmter Teilwertabschreibungen – also die Geltendmachung von Verlusten bei der Ermittlung der Steuerschuld – auf Kapital-anlagegesellschaften erstreckt.

An der Anwendbarkeit des § 8b Abs. 3 KStG a.F. hatten zuvor Zweifel bestanden, weil § 40a Abs. 1 KAGG in seiner ursprünglichen Fassung ausdrücklich allein auf den Gewinne betreffenden Abs. 2 des § 8b KStG Bezug nahm, nicht aber auf dessen die Gewinnminderungen betreffenden Abs. 3. Der Bundesgesetzgeber wollte diese Unklarheit beseitigen, indem er im Dezember 2003 § 40a Abs. 1 KAGG um einen zweiten Satz ergänzte, in dem nun auch eine ausdrückliche Verwei-sung auf § 8b Abs. 3 KStG ausgesprochen wurde. Er war dabei freilich der Auffassung, lediglich eine „redaktionelle Klarstellung“ vorzunehmen, also bloß deklaratorisch auf den Inhalt des bereits geltenden Rechts hinzuweisen.

Aufgrund dieser Regelung konnten die Gewinnminderun-gen, welche die Klägerin im Veranlagungszeitraum 2002 in den Börsenturbulenzen nach dem 11. September 2001 erlitten

6 Zusammenfassend m.w.N. zuletzt BVerfGE 132, 302 (318) – Erster Senat; für die strengere Auffassung BVerfGE 127, 1 (16 ff.) – Zweiter Senat; vgl. ferner Bumke/Voßkuhle (Fn. 2), Rn. 1489 ff.; Degenhart (Fn. 2), Rn. 394, 397. 7 Vgl. Zippelius/Würtenberger (Fn. 2), § 12 Rn. 72.

hatte, bei der steuerlichen Gewinnermittlung nicht berück-sichtigt werden: Die Verluste hätten wie bei anderen Gesell-schaften, die dem Körperschaftssteuergesetz unterliegen, die Gesellschaft selbst getroffen. Im Ausgangsverfahren machte die Klägerin geltend, die Regelung des § 43 Abs. 18 KAGG vom Dezember 2003 greife in verfassungsrechtlich unzuläs-siger Weise rückwirkend in einen abgeschlossenen Veranla-gungszeitraum (2002) ein. Dem schloss sich das Finanzge-richt an und legte dem BVerfG das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG vor. 3. Entscheidungsgründe a) Echte oder unechte Rückwirkung? Wegen der unterschiedlichen Rechtmäßigkeitsmaßstäbe (s.o.) muss die angegriffene Vorschrift zunächst in die Typologie rückwirkender Normen eingeordnet werden (Rn. 39 ff.). Im Steuerrecht liegt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts eine echte Rückwirkung vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert; da-gegen entfalten Änderungen steuerrechtlicher Normen ledig-lich unechte Rückwirkung, wenn sie den laufenden Veranla-gungszeitraum betreffen.8 Jedenfalls in formaler Betrachtung kann der „echte“ Rückwirkungscharakter der Regelung nicht bestritten werden: Denn die Neuregelung vom Dezember 2003 betrifft Steuerfestsetzungen der Jahre 2001 und 2002; diese Sachverhalte gelten (auch) steuerrechtlich im Jahr 2003 als abgeschlossen. Allerdings – und das ist das Ausgangs-problem des Falls – ließ das vor der Ergänzung des § 40a Abs. 1 KAGG geltende Recht ja durchaus die Auslegung zu, neben § 8b Abs. 2 KStG sei schon immer auch der Abs. 3 dieser Vorschrift anwendbar gewesen. Sollte aber das gelten-de Recht durch die Einfügung des § 40a Abs. 1 S. 2 KAGG keine materielle Änderung erfahren haben, so würde sich die Frage einer echten Rückwirkung für § 43 Abs. 18 KAGG überhaupt nicht stellen. Es kommt daher darauf an, ob die Vorschrift auch in materieller Hinsicht echte Rückwirkung entfaltet (Rn. 44 ff.).

Die Einordnung hängt davon ab, ob durch § 40a Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 43 Abs. 18 KAGG konstitutiv neues Recht begründet oder das bestehende Recht lediglich deklaratorisch klargestellt wurde: Eine konstitutive Rechtsänderung muss den strengen Anforderungen des Rückwirkungsverbots genü-gen. Die Mehrheit des Senats bemüht zur Klärung des Prob-lems den Gedanken der Gewaltenteilung. 8 Vgl. etwa BVerfGE 72, 200 (252 f.); 97, 67 (80); 127, 1 (18 f.); 127, 31 (48 f.); 127, 61 (77 f.); 132, 302 (319). Präzi-ser wäre freilich, für die zweite Gruppe gar keinen Rückwir-kungstatbestand anzunehmen, weil der Veranlagungszeitraum eben erst am Ende des Kalenderjahres endet. Steuerrechtliche Gesetzesänderungen im Laufe des Jahres sind normativ gese-hen von vornherein keine „Veränderung“; Vertrauensschutz-aspekte müssten daher in einem eigenen Modell und nicht unter dem Label der unechten Rückwirkung geprüft werden; typischer Kurzschluss dagegen in Rn. 42.

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b) Die Rolle des Gewaltenteilungsprinzips Zur Auslegung geltenden Rechts sieht die Senatsmehrheit allein die Rechtsprechung berufen. Der Gesetzgeber dürfe „die Prüfungskompetenz der Gerichte nicht durch die Be-hauptung unterlaufen, seine Norm habe klarstellenden Cha-rakter“ (Rn. 48). Eine entsprechende Auffassung des Gesetz-gebers sei daher für die Gerichte nicht verbindlich.

Der Senat gesteht dem Gesetzgeber zwar durchaus die Befugnis zu, den Inhalt einer Norm zu ändern oder klarstel-lend zu präzisieren und dabei ggf. eine Rechtsprechung zu korrigieren, mit der er nicht einverstanden ist. Dies gelte jedoch als freies demokratisches Mandat nur pro futuro. Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber wirke daher schon dann konstitutiv, wenn sie eine in der Fachgerichtsbarkeit noch nicht abschließend geklärte Ausle-gungsfrage entscheide; erst recht gelte gleiches, wenn eine höchstrichterliche Judikatur korrigiert werde (Rn. 55 f.). In diesen Fällen seien die Grenzen für die rückwirkende Recht-setzung einzuhalten. c) Folgen der Qualifizierung als Vorschrift mit echter Rück-wirkung Nachdem der Senat § 43 Abs. 18 KAGG als Vorschrift mit echter Rückwirkung qualifiziert hatte, stellte sich nur noch die Frage, ob einer der in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten Ausnahmefälle die echte Rückwirkung rechtfer-tigen kann.9 Eine echte Rückwirkung von Rechtsnormen wird insbesondere dann ausnahmsweise als verfassungsrechtlich zulässig angesehen, wenn sich bei den von der Regelung Betroffenen ein schutzwürdiges Vertrauen nicht bilden konn-te. Insofern stellt der Grundsatz des Vertrauensschutzes – wie der Senat auch in dieser Entscheidung hervorhebt – zugleich „Grund und Grenze“ des Rückwirkungsverbots dar (Rn. 64). Ein schutzwürdiges Vertrauen kann sich u.a. dann nicht bil-den, wenn die Betroffenen mit einer Änderung der Rechtsla-ge rechnen mussten, oder wenn das bisherige Recht „unklar und verworren“ oder derart systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an seiner Verfassungsmäßigkeit be-standen (Rn. 65).

Das Vorliegen einer derartigen Ausnahmesituation ver-neint der Senat: Auch wenn § 40a Abs. 1 KAGG vor der Einfügung des S. 2 für verschiedene Auslegungen offen ge-wesen sei, habe darin noch keine „verworrene Rechtslage“ gelegen. Denn nicht jede Auslegungsbedürftigkeit und -prob-lematik sei geeignet, die Entstehung schutzwürdigen Vertrau-ens zu verhindern (Rn. 67 ff.). d) Sondervotum des Richters Masing Der Richter Masing hat der Senatsmehrheit in einem ausführ-lichen Sondervotum widersprochen.10 Kernpunkt seiner Kritik ist, die Entscheidung des Senats bewirke einen Funktionswan-

9 Übersichtliche Zusammenstellung der anerkannten Ausnah-men vom Verbot echter Rückwirkung bei Degenhart (Fn. 2), Rn. 396. 10 Abw. Meinung BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, Rn. 85 ff.

del des Rückwirkungsverbots: Bisher habe das Rückwirkungs-verbot auf individuell-subjektive Freiheitssicherung gezielt, womit der konkrete Vertrauensschutz der notwendige Aus-gangspunkt jeden Rückwirkungsverbots sei (eben „Grund“, nicht nur „Grenze“). Nun aber erhalte es in der Interpretation des Senats eine vorrangig organisationsrechtliche Ausrichtung, indem es der „Absicherung eines kompetenziellen Vorbehalts-bereichs der Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber“ diene und ein „objektiv-rechtliches Reservat der Fachgerichts-barkeit“ begründe (Rn. 90, 86). Demgegenüber sieht Masing die Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers nicht bereits abs-trakt aus der Reichweite gesetzgeberischer Regelungsbefug-nisse und ihrer Zuordnung zur Aufgabe der Rechtsprechung begrenzt. Dagegen sprächen sowohl grundsätzliche wie auch funktionale Gründe: Die parlamentarische Gesetzgebung sei nach einem Gesetzesbeschluss nicht apriorisch aus dem Pro-zess der weiteren Rechtsgewinnung ausgeschlossen; auch sei bei komplexen Gesetzesvorhaben eine Nachsteuerung gerade-zu typischerweise notwendig. Grenzen ergäben sich allein aus einem spezifischen Schutzbedürfnis der Betroffenen (Rn. 94). Vorliegend habe die ursprüngliche Rechtslage den Betroffe-nen aber keinerlei Vertrauen vermittelt; indem die Senats-mehrheit das Rückwirkungsverbot zur Anwendung bringe, schütze sie das Vertrauen „in die Chance einer für die Betrof-fenen günstigen Rechtsprechung“ (Rn. 90).

Insbesondere sieht Masing einen Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG zum Rückwirkungsverbot. Die gesamte Judikatur des BVerfG sei bis in die jüngste Gegen-wart davon geprägt, ein konkret belegtes schutzwürdiges Ver-trauen der Kläger zum Ausgangspunkt von Rückwirkungs-verboten gegenüber dem Gesetzgeber zu machen. Das habe bisher für die echte Rückwirkung und erst recht für die un-echte Rückwirkung gegolten. Insoweit liege in der Umwid-mung bisheriger Judikate zu „für sich stehenden abstrakten Regeln“ eine „tiefgreifende Wende“ der Rückwirkungsrecht-sprechung (Rn. 101 f.), die ihren verfassungsrechtlichen Auf-trag verfehle. III. Bewertung und Ausblick 1. Kern der Auseinandersetzung: Argumentationslast in Sa-chen Vertrauensschutz Die Bewertung der Entscheidung kann von zwei ganz unter-schiedlichen Grundanschauungen aus erfolgen. Folgt man der Argumentation der Senatsmehrheit, handelt es sich um eine intuitiv naheliegende Weiterentwicklung der bisherigen Recht-sprechung: Wenn der Gesetzgeber eine Regelung für bereits abgeschlossene Sachverhalte treffen will, überschreitet er eine Grenze; die Behauptung, nur deklaratorisch handeln zu wol-len, ändert daran nichts. Es verbleibt durch die Verwerfung bei der ursprünglichen Gesetzesfassung; damit kann sich die Auffassung des Gesetzgebers später sogar noch durchsetzen – aber eben nur im Wege der Auslegung des ursprünglichen Gesetzes, die in den Händen der Gerichte liegt (vgl. aus-drücklich Rn. 58 der Entscheidung). In dieser Logik handelt es sich bei dem vorliegenden Beschluss lediglich um eine weitere Fallgruppe der bekannten Rückwirkungsdogmatik.

Das Sondervotum dagegen geht davon aus, dass mit der Entscheidung des Senats die Grundlagen der Rückwirkungs-

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BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08 Wißmann _____________________________________________________________________________________

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rechtsprechung ausgewechselt werden. Es basiert auf folgen-der Überlegung: Wenn die Frage des konkreten Vertrauens-tatbestands nicht am Beginn der Prüfung, sondern (wie im vorliegenden Urteil) erst an deren Ende ernsthaft bedacht wird, verändert sich die Gesamtsicht auf die Rechtsfrage. Darzulegen ist dann nicht, warum der Gesetzgeber in seinem Handeln begrenzt werden solle („wg. konkretem Vertrauens-tatbestand X“), sondern warum ausnahmsweise eine echte Rückwirkung möglich ist („weil kein Vertrauenstatbestand Y besteht“). Das verkürzt den Handlungsspielraum des Gesetz-gebers massiv, weil die Argumentationslast nun nicht mehr denjenigen trifft, der das Gesetz angreift, sondern den Ge-setzgeber selbst.

Man wird nun davon ausgehen dürfen, dass die Senats-mehrheit die bisher übliche Vorgehensweise besser trifft; die im Sondervotum behauptete notwendige subjektiv-individual-rechtliche Konnotation des Rückwirkungsverbots als dessen notwendiger Ausgangsgröße lässt sich in den kurzen Formeln der Rechtsprechung nicht hinreichend nachweisen, die eher auf den schlichten Gedanken aufbauen, dass das Normpro-gramm bei Entscheidung kein anderes sein darf als bei der Handlung des Rechtsunterworfenen. In der verfassungsge-richtlichen Praxis allerdings wurde dabei bisher nach der materiellen Maßgabe verfahren, die das Sondervotum betont: Die Frage des tatsächlichen Vertrauens hatte trotz des nach-rangigen Standorts großes Gewicht, so dass rückwirkendes Handeln des Gesetzgebers regelmäßig gerechtfertigt wurde. Im vorliegenden Fall wird – im Aufbau konsequent – diese Frage als nachrangig nur noch ganz kurz abgehandelt. Damit greift die Vermutung für die Unzulässigkeit der Rückwirkung auch praktisch durch, was das BVerfG bisher durch seine Handhabung der Regeln vermieden hatte. Und insofern darf man mit dem Sondervotum irritiert vermerken, dass „das Ver-trauen von Banken in die teilweise Abwälzbarkeit ihrer Ver-luste auf die Allgemeinheit weitergehend geschützt sein soll als das Vertrauen von Rentnern oder Beamten in eine für sie günstige Berechnung ihrer Bezüge“ (Rn. 115). 2. Rückwirkung und Verschränkung der Funktionen im Ver-fassungsstaat Die Senatsmehrheit begründet die Verlagerung der Argumen-tationslast mit einer räumlich-zeitlichen Theorie der Gewalten-teilung, die das konkrete Zusammenspiel der Funktionen unter dem Grundgesetz vernachlässigt. Die Vorstellung ge-trennter Handlungsräume von Gesetzgeber und Rechtspre-chung setzte zunächst kodifikatorische Gesetzeskonstanz vo-raus – ein charmantes, aber überholtes Leitbild, das auch faktisch nicht gilt. Die Beteiligung des Gesetzgebers an der weiteren Rechtsgewinnung ergibt sich im übrigen als Gegen-stück schon aus der Bildung allgemeiner Rechtsregeln aus Einzeljudikaten, die das deutsche Recht im Gegensatz zum case-law prägt: Die Funktionen von Gesetzgebung und Ein-zelfallentscheidung sind legitimatorisch wie praktisch andau-ernd verschränkt, von formaler Gewaltenteilung keine Spur! Eine andere Anschauung, die auf Abschottung der Rechtspre-chung als Eigenrecht setzt, würde den vielbesprochenen Juris-diktionsstaat weiter verfestigen.

Im Gesamtergebnis spricht daher mehr für die Argumen-tation des Sondervotums. Allerdings fehlt diesem bisher der Unterbau einer „lehrbuchartigen“ Prüfungsreihenfolge, die die individuellrechtliche Begründung des Vertrauenstatbestands darlegt. Es wäre an der Zeit gewesen, das Rückwirkungsver-bot für den funktionenverschränkten Staat vom Kopf auf die Füße zu stellen, also auf seine individualrechtliche Grundlage zurückzuführen. Damit ist das Sondervotum nicht durchge-drungen. Für die eine wie die andere Sichtweise wäre jeden-falls wünschenswert, dass größeres Gewicht auf eine präzise Prüfung gelegt würde, ob tatsächlich schutzwürdiges Ver-trauen bestand, bevor dem Gesetzgeber verfassungswidriges Handeln vorgeworfen wird.

Prof. Dr. Hinnerk Wißmann, Münster